"Märtyrer" und "Prophet": Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende 9783110849820, 3110098180, 9783110098181

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"Märtyrer" und "Prophet": Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende
 9783110849820, 3110098180, 9783110098181

Table of contents :
Vorwort
Lesehilfen und Abkürzungen
1 Einleitung
1.1 Aktualität und Aufbau der Arbeit
1.2 Die bisherigen Ansätze zu einer Nietzsche-Ikonographie
1.3 Einige Anmerkungen zum historischen und ikonographischen Rahmen
2 Nietzsches „feurige Pfeile“: Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret
2.0 Vorbemerkung: Das Pathos des Propheten
2.1 Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches
2.2 Apologet und Gegner der Gründerzeit
2.3 Nietzsche als Sprecher des bedrängten Bildungsbürgers
2.4 „Zarathustrastil“ als Zukunftsstil? – Zum Einfluß Nietzsches auf die Bildwelt der Stilreformer
3 Für ein „Drittes Weimar“: Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?
3.1 Elisabeth Förster-Nietzsche und die Formung des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre
3.2 Das „Neue Weimar“ an der Wende des Jahrhunderts
4 Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898–1944)
4.0 Vorbemerkung
4.1 Der ideologische Umkreis
4.2 Fritz Schumachers Entwurf für ein „Sieges- und Heldenmal“
4.3 Van de Veldes Umbau des Archivs zum Zentrum der Nietzsche-Bewegung und seine Buchausstattungen für den Insel-Verlag
4.4 Der „heroische“ Nietzsche von Klinger bis Dix
4.5 Das Projekt eines Nietzsche-Tempels und -Stadions für Weimar
4.6 Die Nietzsche-Halle für Weimar – Baugeschichte und Ausstattung
5 Ausblick
Anhang I: Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und Thematiken
Anhang II: Abbildungen
Tafeln 1–40
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von

Ernst Behler · Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 14

1984

Walter de Gruyter · Berlin · New York

„Märtyrer" und „Prophet" Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende

von

Jürgen Krause

1984

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der

Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion: Johannes Neininger Ithweg 5, D-1000 Berlin 37

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Krause, Jürgen: „Märtyrer" und „Prophet" : Studien zum Nietzsche-Kult in d. bildenden Kunst d. Jahrhundertwende / von Jürgen Krause. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 14) ISBN 3-11-009818-0 NE: GT

D 188 © Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Meinen Eltern

Vorwort Als ich durch einige Referate zur weitverzweigten Wirkungsgeschichte Nietzsches in der deutschen Literatur angeregt wurde, nach vergleichbaren Spuren des Philosophen in den bildenden Künsten zu suchen, erwies sich die auf den ersten Blick äußerst verlockende Fragestellung als kaum praktikabel. Angesichts der langen Vernachlässigung der Nietzsche-Rezeption durch die Kunstwissenschaft bestand zunächst die Gefahr, daß sich dieser erste Versuch eines Uberblicks ohne den Rat und Zuspruch meines verehrten Lehrers Tilmann Buddensieg in vage Spekulationen über „irgendwie" vermittelte universelle „Einflüsse" Nietzsches verrannt hätte. Daneben bestärkte mich die Einsicht in die überaus ergiebigen Weimarer Archivalien aus der ehemaligen Villa „Silberblick" in dem Entschluß, die Arbeit auf die dort greifbaren Zeugnisse eines virulenten Nietzsche-Kult e s zu konzentrieren. An dieser Stelle sei deshalb nochmals allen Mitarbeitern der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, insbesondere Frau Anneliese Clauss vom Goethe- und Schiller-Archiv, für ihre freundliche Unterstützung herzlich gedankt. Ebenso hat zum Abschluß der Arbeit die vielfache Ermunterung durch Wissenschaftler und Studienfreunde beigetragen, wobei ich besonders Dr. Marion Faber, Prof. Dr. Jost Hermand, Dr. Karl-Heinz Hüter, Prof. Dr. Mazzino Montinari, Frank-Manuel Peter, Prof. Dr. Dietrich Schubert, Prof. Dr. Gerhard Winkler und Dr. Susanne Heiland (beide vom Museum der bildenden Künste zu Leipzig) und Kraft-Eike Wrede M. A. erwähnen möchte. Für Anregungen und Auskünfte bin ich weiterhin Prof. Dr. Peter Bloch, Prof. Dr. Kurt Hommel, Claus K. Netuschil, Dr. Winfried Ranke und Wolfgang Siano zu Dank verpflichtet. Nicht vergessen möchte ich hier meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus dem Lesesaal und der Fernleihe der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. Bis auf einige wenige Ergänzungen — so zu Melchior Lechter und Hermann Finsterlin — ist das Manuskript im vorliegenden Umfang Ende März 1982 abgeschlossen worden und hat im Wintersemester 1982/83 dem Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation vorgelegen. Hierbei habe ich ausdrücklich Prof. Dr. Thomas W. Gaeht-

Vili

Vorwort

gens für die Übernahme des Zweitgutachtens und sein großes Engagement in der Fragestellung der Arbeit zu danken. Viele der den Nietzscheanern nahestehenden Kultwerke, die nach Maßgabe einer ersten Übersicht nur kurz gestreift werden konnten, verdienten ausführlichere Würdigungen. So hofft der Verfasser, in nächster Zeit — angeregt durch seine Tätigkeit am Kölner Kunstgewerbemuseum — auf den für dieses Haus entworfenen Pallenberg-Saal Melchior Lechters näher eingehen zu können. Eine Analyse des mit dem Anspruch eines Gesamtkunstwerkes auftretenden Kölner „Weiheraumes" dürfte neue Hinweise auf die strittige Frage liefern, wie eng verzahnt der Personenkult um Leitbilder wie Friedrich Nietzsche und Stefan George mit dem allgemeinen Pathos der StilkunstBewegung um 1900 in Wirklichkeit war. Mit der Indienstnahme von Architektur durch die Weimarer Verehrergemeinde seit der Jahrhundertwende setzt sich ein zusammenfassender Bericht des Autors auseinander, der unter dem Titel „Architecture in the service of the Weimar Nietzsche cult: Fritz Schumacher, Henry van de Velde, Paul Schultze-Naumburg. A brief overview 1898—1944" im Rahmen eines Nietzsche-Sonderheftes der Harvard School of Design voraussichtlich 1984 erscheinen wird. Köln und Berlin, im Sommer 1983.

Jürgen Krause

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Lesehilfen und Abkürzungen

XII

1 Einleitung 1.1 Aktualität und Aufbau der Arbeit 1.2 Die bisherigen Ansätze zu einer Nietzsche-Ikonographie 1.3 Einige Anmerkungen zum historischen und ikonographischen Rahmen 2 Nietzsches „feurige Pfeile" : Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret 2.0 Vorbemerkung: Das Pathos des Propheten 2.1 Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches 2.2 Apologet und Gegner der Gründerzeit 2.2.1 Nietzsches Verwurzelung in der Kunstwelt der siebziger Jahre 2.2.2 Gegen Historismus und Akademie 2.3 Nietzsche als Sprecher des bedrängten Bildungsbürgers 2.3.1 Die Krise der „Intellektuellen Zwischenschichten" 2.3.2 Nietzsches Aufstieg und die Verdrängung des Naturalismus 2.4 „Zarathustrastil" als Zukunftsstil? — Zum Einfluß Nietzsches auf die Bildwelt der Stilreformer

1 1 28 36 41 41 41 51 51 59 64 64 70 74

3 Für ein „Drittes Weimar": Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900? 89 3.1 Elisabeth Förster-Nietzsche und die Formung des NietzscheMythos der neunziger Jahre 89 3.1.1 Die „Schwester Zarathustras" 89 3.1.2 Anfänge in der Provinz: Erste Kontakte zu bildenden Künstlern 92 3.1.2.1 Curt Stoeving 96 3.1.3 Der Weg nach Weimar 101 3.1.4 Harry Graf Kessler als Mittler zur Kunstwelt — erste „Nietzscheana" im Pan — 108

χ

Inhaltsverzeichnis

3.1.5 Der „Gescheiterte Geistesaristokrat": Die Nietzsche-Formel der neunziger Jahre 3.1.5.1 Die Sitzstatuette Arnold Kramers 3.1.5.2 Hans Oldes Porträts 3.1.6 Andere Lösungen bis zur Jahrhundertwende 3.1.6.1 Reproduktionen für die Nietzsche-Gemeinde . . . 3.1.6.2 Max Kruse als Bahnbrecher des neuen NietzscheTypus 3.2 Das „Neue Weimar" an der Wende des Jahrhunderts 3.2.1 Zwischen Heimatkunst und Moderne 3.2.2 Der Ruf nach dem gesunden Nietzsche

119 119 124 131 131 138 142 142 147

4 Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944) 154 4.0 Vorbemerkung 154 4.1 Der ideologische Umkreis 155 4.1.1 Die Prediger von Macht und Schönheit: Georg Fuchs, Wilhelm Uhde, Kurt Breysig, Anthony Mario Ludovici . . . . 155 4.1.2 Krise und Wandel der Denkmalsidee 159 4.2 Fritz Schumachers Entwurf für ein „Sieges- und Heldenmal" . . . 166 4.3 Van de Veldes Umbau des Archivs zum Zentrum der NietzscheBewegung und seine Buchausstattungen für den Insel-Verlag . . . 172 4.4 Der „heroische" Nietzsche von Klinger bis Dix 180 4.4.1 Die Schlüsselrolle Max Klingers 180 4.4.2 Verwandte Bildlösungen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges: Edvard Munch — Otto Dix — Sascha Schneider . . 189 4.5 Das Projekt eines Nietzsche-Tempels und-Stadions für Weimar . . 199 4.5.1 Die Nietzsche-Säule Karl Donndorfs und der geplante ArchivGarten 210 4.6 Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung 213 4.6.1 Das Nietzsche-Archiv und die Kunstszene der Weimarer Republik 213 4.6.1.1 Im Fahrwasser der „Konservativen Revolution" . . 213 4.6.1.2 Verpaßte Gelegenheiten: Der Nietzsche-Kult zwischen künstlerischer Avantgarde und Villa „Silberblick" 215 4.6.2 Die Stilerneuerer der Jahrhundertwende und die NietzscheGedenkhalle — Paul Schultze-Naumburg und Karl Donndorf 218 4.6.3 Planung und Funktion der Halle 221 4.6.4 Baudaten und künstlerische Ausschmückung 225 4.6.4.1 Fritz Müller-Camphausens Zarathustra-Denkmal und die „Ahnengalerie" Nietzsches 226

Inhaltsverzeichnis

XI

4.6.4.2 Ein Zarathustra Georg Kolbes für Weimar 4.6.4.3 Dionysos als Scheinlösung 5 Ausblick

229 232 234

Anhang I: Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und Thematiken 236 Anhang II: Abbildungen Tafeln 1 - 4 0

267 nach Seite 271

Literaturverzeichnis

273

Personenregister

285

Lesehilfen und Abkürzungen 1. Nietzsches Schriften wurden aus wirkungsgeschichtlichen Gründen in der Redaktion durch das Nietzsche-Archiv benutzt. Zitate nach: GroßoktavAusgabe (GA), Werke und Nachlaß in XIX Bänden. Hrsg. vom NietzscheArchiv. Leipzig: Naumann-, später Kröner-Verlag 1894—1912. Die Zitate aus dem „Willen zur Macht" (GA XV, XVI) sind durch die Konkordanz in den Nietzsche-Studien 9 (1980) in der Kritischen Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin: de Gruyter-Verlag 1967ff., zu finden. 2. Archivalien und Kunstwerke aus dem Bereich der Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG) werden wie folgt unterschieden: GSA = Goethe- und Schiller-Archiv mit Bestands- und Ordnungsnummer 72 = Bestand Elisabeth Förster-Nietzsche 101 = Bestand Nietzsche-Ikonographie GNM = Goethe National-Museum mit Inventarnummer 3. INB

= International Nietzsche Bibliography

4. Bei Maßangaben von Kunstwerken gilt: Höhe vor Breite vor Tiefe.

Nietzsche hebt sich aus dem Chaos der Zeit wie ein griechischer Tempel aus moderner Architektur. . . . So müßte nach meinem Gefühl sein Pantheon sein. Karl Donndorf, Bildhauer, 1902 1 Vielleicht war ich einmal töricht genug, Nietzsche für gefährlicher zu halten als seine „Verehrer". Heute weiß ich es besser; heute würde ich mit anderen Augen vom „Silberblick" des NietzscheArchivs über Weimar hinweg nach „Buchenwald" hinüberschauen. Karl Schlechta, 19582

1 Einleitung 1.1 Aktualität

und Aufbau

der

Arbeit

Während die Euphorie der „Verehrer" auf den ersten Blick nur als amüsante oder ärgerliche Begleitmusik zur Nietzsche-Rezeption seit 1900 erscheinen mag, muß eine These wie die Schlechtas über die Folgen unkritischer Verehrung ernüchtern und betroffen machen. Unter diesem Eindruck wird begreiflich, warum in der Kontroverse um Nietzsche und Nietzscheaner zeitweilig die Gefahr bestand, die bildkünstlerische Seite eines „Cultus" um den Philosophen zu überfrachten, sie andererseits zu verharmlosen oder ganz zu verschweigen. Inzwischen hat die Aussprache der letzten Jahre 3 die Verstrickungen des Stoffes gerade soweit gelöst, daß sie sich in Vorteile für eine ausgewogene Studie verwandelt haben: der Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst ist in die Distanz gerückt, die vor Befangenheit schützt, ohne bereits Gleichgültigkeit aufkommen zu lassen. Diese Konstellation begünstigt nicht nur eine sachliche Bewertung der Kunstwerke; sie gibt der Kunstgeschichte als Fach Anlaß, über ihre Rolle und ihren Standort innerhalb der weitverzweigten Ausstrahlung des „Umwerters aller Werte" nachzudenken. 4

1

2 3 4

In einem Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 4. 8. d. J., wobei er in Zusammenhang mit van de Veldes Umbau des Nietzsche-Archivs (s. 4.3) vor den „verbogenen Linien des Modegeschmackes" warnte; Weimar, NFG (GSA) 72/234. Donndorf (1870-1941) blieb dem Archiv jahrzehntelang verbunden (sc4.5.1 und 4.6.2). „Nietzsche und kein Ende", in: Frankfurter Hefte, 13 (1958), S. 119-128, hier S. 119. Uber eine differenzierende Einschätzung Nietzsches und seiner Kommentatoren (insb. Georg Lukács) s. S. 16-19. Zur Dringlichkeit, der „nur zögernd einsetzenden Nietzsche-Rezeption" in der Kunstgeschichte Anstöße zu geben, vgl. Dietrich Schuberts Rezension von Güse, Ernst-Gerhard: Das Frühwerk Max Beckmanns, Frankfurt/M. und Bern, 1977. — In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 41 (1978), S. 342-347, hier S. 342.

Einleitung

2

Kein Zugriff auf ein solchermaßen „belastetes" Thema darf eine der zitierten Perspektiven, weder Enthusiasmus noch Ernüchterung, verdrängen. Beide sind vielmehr einzubringen und nach den Grenzen ihrer Tauglichkeit im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung zu befragen. Denn erst mit Hilfe von Sprechern beider Lager kann sich an der Brisanz des Nietzsche-Kultes und seiner Ausformung in der bildenden Kunst kritisches Engagement entzünden, läßt sich unverkrampft Aktualität herstellen. Wer indessen eine Diskussion auf dem Wege der Polemik und des Ressentiments abkürzen will, — und wir werden Proben davon kennenlernen —, der liefert im Grunde nur das Gegenstück zum Pathos um die Kunstwerke der Nietzsche-Faszination; er schafft distanzlos neue Legenden. Wagt ein Kunsthistoriker den Vergleich mit der Fülle germanistischer Analysen zur Nietzsche-Rezeption, so hat er nach dem Stellenwert der bildkünstlerischen Aneignung von Person und Werk des Philosophen zu fragen. Dabei unterstützen die Anschaulichkeit und die Breite des Materials — vom Bucheinband bis zum Festspielforum — den Anspruch eines kunsthistorischen Beitrages. Wie genau aber kann ein Bestand erkundet werden, der von der Kunstgeschichte bestenfalls auf ein dubioses Niemandsland zu Nachbardisziplinen abgeschoben wurde? Im Hinblick auf die verwirrende Vielfalt von Spuren Nietzsches im Schaffen der Intelligenz soll sich die Arbeit auf die unmittelbar panegyrische Rezeption des „Künstlerphilosophen" und seiner Bildwelt konzentrieren. Diese Perspektive zielt auf Kunstwerke im Umkreis einer Bewegung, für die Elisabeth Förster-Nietzsche als Schwester und Erbin des Denkers die Rolle einer „high priestess of the Nietzsche Cult" 5 übernahm. Es muß vorerst die Frage ausgeklammert werden, inwieweit es den bildenden Künstlern überhaupt gelingen konnte, mit Porträts und Illustrationen das Eis für die Nietzsche-Bewegung zu brechen, Akzente zu setzen, um sie den Fachinterpreten aus Philosophie und Germanistik aufzudrängen. Hier hilft nur die Analyse der einzelnen Kunstwerke weiter, wobei nach ihrer Verknüpfung mit den verschiedenen Phasen des Nietzsche-Mythos gefragt wird. Im Folgenden gilt es, die vorgeschlagene Beschränkung des Stoffes aus seiner Problematik abzuleiten und faßbar zu machen.

s

Heinz Frederick Peters, Zaratbustra's Sister. The Case of Elisabeth and Friedrich Nietzsche, New York, 1977, S. IX. — Begriffe wie „Cultus", „Mythos", „Faszination" benutzten Zeitgenossen, so Ernst Bertram in: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin, 1918. Sie umschrieben damit die spontane Identifikation vieler Künstler mit Nietzsches Schicksal. Ein straffer Apparat (Vereine, eigene Zeitschriften) fehlte bis in die 20/30er Jahre. Kap. 3 präzisiert Elisabeth Förster-Nietzsches Auftreten im Vergleich zu anderen pseudosakralen Gruppen wie dem Bayreuth Cosima Wagners oder dem Stefan-George-Kreis.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

3

Etwas verallgemeinernd kann man behaupten, daß gerade jüngere Künstler und deren Parteigänger das Profil einer Gemeinde mitbestimmten, die sich seit den frühen 90er Jahren „irgendwie" im Banne Nietzsches wähnte. Seine Maximen über Kunst und Leben erfüllten die Diskussionen der Jahrhundertwende, verdichteten sich in Manifesten zu Parolen, wurden aber auch zu bloßen Phrasen für den Tagesgebrauch verwässert. Alles geschah im Namen einer Kunst der Zukunft, die Stilreformer und Kunstschriftsteller von Henry van de Velde über Paul Schultze-Naumburg bis zu Georg Fuchs mit der Leidenschaft von Aposteln verkündeten. Als Stifter des „Aufbruch"-Pathos um 1900 geriet Nietzsche zwischen die Fronten der Kunst- und Lebensreformer, unter denen sich in der Praxis bald politische Abgründe auftun mußten. 6 Je großzügiger wir diese Widersprüche in dem Zauberwort „Nietzscheaner" auflösen, desto problematischer wird ein Abwägen echter Abhängigkeiten gegen bloße Modeströmungen des Zeitgeistes. Denn „irgendwie" — und darin spiegeln sich Tragweite und Unschärfe seines Werkes — konnten schließlich fast alle Wortführer des Bildungsbürgertums die Märtyrer- und Prophetengestalt Nietzsche akzeptieren. Neben dem Agitator der Kunstrevolte von Dada und Futurismus trifft man auf Autoritäten wie Heinrich Wölfflin, der sich nach dem Ersten Weltkrieg mit Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal im Vorstand der Münchener Nietzsche-Gesellschaft engagierte. Diese Tendenz der Nietzsche-Rezeption, ins Allgemein-Unverbindliche auszuufern, wiederholt sich in deren wissenschaftlicher Aufarbeitung. Die Reaktion auf das vorgeblich „größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte" 7 erschöpfte sich weitgehend in Bekenntnissen zum „wahren", unti in Abrechnungen mit dem „falschen" Propheten des 20. Jahrhunderts. Beim Durchblättern der bibliographischen Hilfsmittel trifft man sogleich auf beide Muster. Wo die International Nietzsche Bibliography8 mit ihren ca. 4.000 Titeln einen ersten Uberblick verschafft, vermitteln Richard Frank Krummeis detaillierte Recherchen zur „Ausbreitung und Wirkung des Nietzsche-Werkes im deutschen Sprachraum bis zu seinem Todesjahr" 9 die Atmosphäre des Für und Wider um den sogenannten „Modephilosophen" der Jahrhundertwende. 6

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Man bleibe bei den drei Genannten und denke an van de Veldes spätere Isolation in Weimar, wo „Heimatkunst" wie die Schultze-Naumburgs und ein „Kulturimperialismus" in der Art Georg Fuchs' gegen den „westlichen Internationalismus" des Belgiers ausgespielt wurden. Gottfried Benn, „Nietzsche — Nach 50 Jahren" (1950). Im Anhang zu: Monologische Kunst — ? Ein Briefwechsel zwischen Alexander Lemet-Holenia und Gottfried Benn, Wiesbaden, 1953, S. 2 7 - 4 4 , hier S. 32. Comp, and ed. by Herbert W. Reichert, Karl Schlechta, Chapel Hill, N.C./USA, 21968 (im Folgenden: INB). Nietzsche und der deutsche Geist: Ausbreitung und Wirkung des Nietzsche-Werkes im deutschen Sprachraum bis zu seinem Todesjahr. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867—1900, Berlin und New York, 1974.

4

Einleitung

Vergeblich sucht man in der Flut von Monographien, Rezensionen und Pamphleten nach einer präzisen Analyse des Nietzsche-Kultes in der bildenden Kunst; selbst eine Uberschau der auf Nietzsches Person und Werk weisenden Kunstwerke existiert nur in Ansätzen. 10 Woran es gänzlich fehlt, ist ein Abschätzen der Wirksamkeit zum Beispiel der Porträts bei der Herausbildung der spezifisch „heroischen" Nietzsche-Sicht in Deutschland. Kaum eine Publikation verzichtete bis heute darauf, uns den Philosophen in den Bildnisformeln der Jahrhundertwende nahezubringen. Die millionenfache Reproduktion des „gebrochenen Geistesaristokraten" (nach den Radierungen Hans Oldes, vgl. Abb. 9 und 10), wie die Verbreitung der Klingerschen Nietzsche-Interpretationen (vgl. Abb. 14 und 33) haben einen Typus geschaffen, der tiefer in das Bewußtsein der Gegenwart gedrungen ist als die konventionellen Atelierfotografien. 11 Bei der Allgegenwart dieser Sehweisen vom Taschenbuchumschlag bis zur Gipsbüste stimmt es bedenklich, wenn ein derart manifester Rezeptionsstrang unbeachtet blieb. Die eingangs angesprochene Belastung des Themas konzediert, muß die Arroganz erwähnt werden, mit der für die Forschung viele Jahre lang sogenannte triviale oder kitschverdächtige Kunstwerke ohne Prüfung als indiskutabel und folglich wirkungslos galten. 12 Der Ruf nach der „wirkungsgeschichtlichen Betrachtungsweise", durch den Karl Robert Mandelkow die „akademische Literaturwissenschaft" 1970 herausforderte, 13 richtet sich gleichermaßen an die Kunstgeschichte. In der aktuellen, aber schwer zugänglichen Rezeptionsproblematik 14 werden interdisziplinäre Anleihen unumgänglich. Diese sind um so eher zu rechtfertigen, da Germanistik und Kunstgeschichte ihre Fragen oft an dieselbe Person richten. Gemeint ist der Typ des „Kunstschriftstellers", der die enge Verbindung zwischen Literatur, Lebensreform und bildender Kunst dem Publikum der Jahrhundertwende vermittelte. Diese Multiplikatoren der Nietzsche-Rezeption (wie Julius Meier-Graefe oder Harry Graf Kessler) verbanden sich mit den führenden Köpfen der Künstlerschaft, wodurch beide Gruppen zusammen einen heute kaum vorstellbaren Einfluß auf die Öffentlichkeit gewannen. 15 10 11

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Zu den Bemühungen um eine Nietzsche-Ikonographie, s. 1.2. Die Frage, Porträtfotos in das kunshistorische Material einzubeziehen, wird in 1.3 anhand unterschiedlicher Ikonographie-Modelle erörtert. Vgl. als einen Versuch, Vorurteile abzubauen, die Ausstellung Le Salon Imaginaire (Akademie der Künste, Berlin-West, 1968), auf der die „Salonkunst" des späten 19. Jhs. erstmals wieder präsentiert wurde. S. insb. das Katalogvorwort von Matthias Winner. „Probleme der Wirkungsgeschichte", in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 2 (1970), S. 7 1 - 8 4 , hier S. 84. Vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart, 1976, S. 9. Der Pan als ein Forum der Nietzscheaner wird in 3.1.4 ausführlich behandelt.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

5

Innerhalb des Forschungsschwerpunktes „Wilhelminismus", „Fin de siècle", „Jahrhundertwende" 1 6 sollte der Kult um den „menschgewordenen Mythos Friedrich Nietzsche" 1 7 besonders hervorgehoben werden. Viel stärker als Richard Wagner wurde dessen Herold und späterer Widersacher für die Jugendstil-Generation zum Vorreiter und Interpreten ihres sensiblen Außenseitertums, ihrer Entfremdung von der Gesellschaft. Es mußte die Offenheit entwaffnen, mit der sich Nietzsche 1888 als „Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent"™ zum „Cagliostro der Musik" 1 9 und dem Gift seiner Bayreuther Verzauberung bekannte. Durch dieses Eingeständnis, gekoppelt mit dem Versprechen von Anfang und Umsturz, verschaffte er den Wegbereitern der „Moderne" die nötige Glaubwürdigkeit und radikalisierte sie in ihrer Ablehnung der Kulturszene des Bismarckteiches. So konnte der vor diesem Reich kapitulierende Wagner für einen Teil der Jüngeren zur Zielscheibe des Spottes werden, während Nietzsche in die eisige Luft der Zarathustra-Einsamkeit entrückt wurde. Sein Weimarer Hölderlin-Schicksal entzog ihn der Karikatur, die gerade in den Jahren um 1900 einen neuen Höhepunkt erlebte. Als Verfasser der Polemiken gegen den späten Wagner verkörpert Nietzsche seitdem für Generationen von Lesern den Unfrieden des wachen Teils der Intelligenz mit der Gründermentalität von 1870/71. Dieser kurze Vorgriff auf die Virulenz der Nietzsche-Legende mag hier genügen, um die Notwendigkeit zu illustrieren, Wirkungsgeschichte als ein „Grundsatzproblem der Interpretation" 2 0 anzuerkennen, dabei Werk und Wirkung zusammen über die herkömmliche Urteils- und Einflußgeschichte hinaus als Einheit zu begreifen. Eine so gerichtete Perspektive rückte in den letzten Jahren immer mehr in das Zentrum des literatur- und kunsthistorischen Interesses. 21 Wie tragfähig ist nun die Basis der k o n k r e t e n Vorarbeiten zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst, gemessen an den Hoffnungen auf die Rezeptionsforschung im Allgemeinen? 16

17 18 19 20 21

Seit etwa 1960 konzentriert sich das wissenschaftliche Interesse am 19. Jh. zunehmend auf die Epoche nach der Reichsgründung, in der Nietzsche zum Erfüller und Gegner des Zeitalters heranwächst. Vgl. Claude David, Zwischen Romantik und Symbolismus (1820—1885), Gütersloh, 1966, S. 25—26. Vgl. auch die Schwerpunkte im „Forschungsunternehmen 19. Jahrhundert" der Fritz-Thyssen-Stiftung oder die kulturgeschichtlich angelegte Uberschau Richard Hamanns und Jost Hermands, Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, 5 Bde., Berlin-DDR, 1959— 75. — Zur Verwendung von „Wilhelminismus", etc. als Epochenbegriffe, vgl. 1.3. Paul Friedrich, Das Dritte Reich. Die Tragödie des Individualismus, Leipzig, 1910, S. IX. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, GA VIII, S. 1 (Vorwort). Ders., Ecce Homo, GA XV, S. 108 (Der Fall Wagner 1). K. R. Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte", S. 78. Ein Beispiel nationaler Legendenbildung durch Kunst und Literatur untersuchten Friedrich Weigand, Bodo M. Baumunk und Thomas Brune, Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart, Aalen, 1978.

6

Einleitung

Bescheidener und treffender sollte statt von „Vorarbeiten" von „Annäherungen" an das Thema die Rede sein. Diese erfolgten von zwei Seiten. Das Interesse des Faches erschöpfte sich fast ausschließlich in Marginalien im Rahmen von Künstlermonographien etwa Max Klingers oder Sascha Schneiders, unverbindlichen Beschwörungen des „Künstlerphilosophen" in Standardwerken der Kunstgeschichte, oder — wie oben erwähnt — im Sammeleifer zu einer nie vollendeten Nietzsche-Ikonographie. Will man, auf diesem Fundus aufbauend, über ein kommentarloses, bloß chronologisches Aneinanderreihen der Kunstwerke hinausgelangen und sie für ein Phasenmodell zur NietzscheRezeption gewinnen, so sieht man sich wie in der Debatte um eine neuartige Wirkungsgeschichte zu Anleihen bei dem im Falle Nietzsches klassischen Feld der Literatur- und Philosophiegeschichte verwiesen. Kennzeichnend für die unbefriedigende Forschungslage ist, daß selbst hier Reichert und Schlechta wie auch Peter Pütz die 50 Jahre alte Arbeit von Gisela Deesz über Die Entwicklung des Nietzsche-Bildes in Deutschland22 als den entscheidenden Beitrag werten. Den Thesen von Deesz folgt im wesentlichen Joëlle Philippi in ihrer Dissertation über Das Nietzsche-Bild in der deutschen Zeitschriftenpresse der Jahrhundertwende.23 Im Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, an welchen Stellen das kunsthistorische Material mit dem von der Forschung aufgezeigten Rezeptionswandel um 1900 („Nietzsche als Irrer", später „Nietzsche als dionysischer Jasager zum Leben" 2 4 ) korrespondiert. Jeder Ansatz, der die bildkünstlerischen Deutungen Nietzsches losgelöst von den Tendenzen der Gesamtrezeption betrachtet, erläge der Spekulation. Andererseits darf man die Kunstwerke nicht auf bloße Belege für die Genese der Nietzsche-Rezeption reduzieren. Die relative Eigenständigkeit bildender Kunst wird an den Stellen um so deutlicher, an denen sich Widersprüche als Verzögerung oder Vorgriff zum gängigen Nietzsche-Verständnis ergeben. Diese Abweichungen lassen sich nicht allein aus dem spezifischen Charakter eines Kunstwerkes ableiten. Es sind vielmehr die im Einzelfall treibenden gesellschaftlichen Kräfte namhaft zu machen, die sich in solchen Extremen artikulieren konnten, wie dem Bedürfnis nach Porträts in Massenauflagen oder dem Millionärsprojekt eines quasi offiziellen Nietzsche-Monumentes für Weimar (vergleiche Abschnitt 4.5). Warum sollte die Kunstgeschichte auf den Vorteil verzichten, ihre Ergebnisse und den von Deesz und anderen vorgeschlagenen Leitfaden wechselseitig zu überprüfen? Die Gefahr des Abgleitens in „sachfremde" Fragestellungen 22

23

24

Würzburg, 1933 (Zgl. Diss., Bonn, 1933). Vgl. dazu die lobenden Kommentare von Reichert und Schlechta in: /NB, N r . 1621 und Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart, 1967, S. 16. Saarbrücken, 1970. Uber die hier gewählte Beschränkung auf den Zeitraum 1889—1911 vgl. 1.3. G . Deesz, Entwicklung des Nietzsche-Bildes, S. 2.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

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bleibt kalkulierbar, solange nicht die Perspektiven verzerrt werden, um mit falschem Ehrgeiz auf der Grundlage von Teilergebnissen der Kunstgeschichte ein neues Bild von Nietzsches Leben und Werk zu konstruieren. Biographische Details — etwa Nietzsches Augen- und Nervenleiden — verdienen nur soweit Aufmerksamkeit, wie sie sein Verhältnis zur bildenden Kunst prägten, oder für den Porträttypus maßgebend wurden. Mit anderen Worten: Exkurse in die Biographie und Philosophie Nietzsches erhalten ihren Sinn nur, wenn die Kunstwerke der Nietzsche-Anhänger Ausgangs- und Zielpunkt bleiben. Eine kunsthistorische Studie kann nicht durch pseudo-philosophisches Vokabular die Konkurrenz mit der kompetenten Fachliteratur suchen. 25 Die Verlegenheit der Kunstgeschichte angesichts einer Fragestellung, in der sie sich mit anderen Disziplinen überschneidet, darf nicht selbstgefällig als Überrumpelung durch die weiter fortgeschrittenen Nachbardisziplinen entschuldigt werden. Wenn sie deren Forschungsergebnisse kritisch betrachtet — wie es zum Beispiel mit denen von Deesz geschehen soll — wird die Kunstgeschichte in ihrem Hang gebremst, in der Nietzsche-Rezeption rein assoziativ zu verfahren. Nichts erscheint einfacher, als diesen Vorwurf anhand einiger Beispiele aus den Versuchen des Faches zu erhärten, die oben als „unverbindliche Beschwörungen des Künstlerphilosophen" gekennzeichnet wurden. Ihren Gipfel erreichte diese Tendenz in der hochgestimmten, ideengeschichtlich orientierten Forschung der 20er und 30er Jahre, wobei man mit großer Geste in der „Gedankenmalerei" der Jahrhundertwende, im Pathos des Expressionismus oder in Dada-Fragmenten die Gedankenblitze Nietzsches auferstehen ließ. Selbst profilierte Autoren erlagen dieser Versuchung, indem sie die Aphorismenkunst Nietzsches in ihren eigenen Handbüchern zur Kunstgeschichte einzuholen suchten. So formulierte Carl Einstein in Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Kapitel über „Die Deutschen": „Geist und Pathos des deutschen Expressionismus war schon durch Nietzsche vorbereitet, und man findet die vage Deklamation und Exotik des Zarathustra verändert auf den Leinwänden der .Brücke'-Maler wieder." 26 Dieser Hinweis steht ebenso apodiktisch und zusammenhanglos im Text, wie etwa ein Urteil Karl Jaspers über die konkreten Nietzsche-Porträts inner25

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Mit wieviel Ernst und von welchen Autoritäten die Nietzsche-Diskussion geführt wird, verdeutlicht jedes Literaturverzeichnis zu einer Einführung in das Denken des Philosophen, m. E. besonders überzeugend: Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche, Reinbek bei Hamburg, 1966 (Rowohlts Monographien). Für den Bereich der biographischen Einzelforschung setzte Erich F. Podach Maßstäbe: Nietzsches Zusammenbruch, Heidelberg, 1930; Gestalten um Nietzsche, Weimar, 1932. Kürzlich erschien eine auf 3 Bde. angelegte Arbeit des Baseler Musikwissenschaftlers Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, München, 1978 — 1979. Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. XVI, Berlin, 31931, S. 146.

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Einleitung

halb seiner Deutung des Philosophen (1936): „Alle künstlerischen Darstellungen vollends sind unglaubwürdige, der Zeit entsprechende Masken. . . . " 2 7 In einem sonst sehr verdienstvollen Aufsatz Paul Fechters „Nietzsches Bildwelt und der Jugenstil" wird der Leser aufgefordert, den Philosophen in den Kunstprodukten der Jahre um 1900 aufzuspüren, wobei er nur deren „eleganten Kurven" zu folgen braucht, „die denen seines [Nietzsches] Denkens entsprechen." 28 Das Erkenntnisinteresse der Gegenwart sollte ungeachtet der aufgeführten prominenten Namen auf der Präsentation tatsächlicher Kontakte und Vermittlungen beharren, die zum Beispiel Hans-Ulrich Simon 2 9 noch in Fechters Aufsatz vermißte. Wie geistreich dort auch die Konfrontation von NietzscheWorten mit den Werken bildender Künstler gesucht wurde, so können diese Schlaglichter heute nur als Thesen und willkommene Denkanstöße Geltung beanspruchen. Dabei steht außer Zweifel, daß hier mit dem Tadel des Oberflächlich-Assoziativen allein nicht die differenzierten Ableitungen zwischen Grundgedanken Nietzsches — „Der Olymp des Scheins", „Der Wille zur Macht" — und Stilprinzipien in der Repräsentationskunst der 70er und 80er Jahre erschüttert werden können, wie sie Hamann und Hermand entwickelt haben. 3 0 Der Verdacht gegen eine philisterhafte Besserwisserei bei der jetzt dringend notwendigen Detailforschung verblaßt, sobald nach den objektiven Schwierigkeiten gefragt wird, aus denen heraus die Verwaschenheit der Äußerungen Einsteins oder Fechters erwuchs. Grundsätzlich sollte ein zeitgemäßer Ansatz zwar mit Nietzsche die Skepsis gegen das von ihm gehaßte Alexandrinertum in der Forschung wachhalten, sein Selbstverständnis aber nicht mehr an den großen Syntheseversuchen der 20er und 30er Jahre orientieren. Abgesicherte Einzelanalysen müssen an deren Stelle treten. 3 1 Auch diese Perspektive erweist sich bei näherer Betrachtung als kompliziert genug: 27

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Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin und Leipzig, 1936, S. 29. Propyläen, 32 (1935), S. 370-372, hier zitiert nach Jost Hermand, Hrsg., Jugendstil, Darmstadt, 1971, S. 354. Fechters Anregungen werden in 2.4 aufgenommen. Vgl. Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst, Stuttgart, 1976 (Zgl. Diss., München, 1973), S. 245. Im Bd. Gründerzeit der oben schon erwähnten Reihe: Deutsche Kunst und Kultur. Als herausragendes Konzept für die Zeit nach 1871 wird dieses Werk in 2.2.1: „Nietzsches Verwurzelung in der Kunstwelt der 70er Jahre" ausführlich behandelt. Leider sind die Bausteine dazu noch rar. Wichtig ist die Studie von Gösta Svenaeus, „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", in: Henning Bock und Günter Busch, Hrsg., Edvard Munch. Probleme — Forschungen — Thesen. (Studien zur Kunst des 19. Jhs. der Fritz-Thyssen-Stiftung, Bd. 21), München, 1973, S. 2 5 - 4 6 . Daneben bietet unter der Perspektive einer Künstlermonographie die Diss, von Hildegard Gantner-Schlee, Hans Olde. 1855—1917. Leben und Werk, Tübingen, 1970, wichtige Aufschlüsse. Diese werden bei den entsprechenden Künstlern anhand neuen Materials aus den NFG Weimar behandelt.

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— Wie kann die grundsätzliche Klippe eines Medienwechsels, d. h. der Umformung von Philosophie und Literatur des „Gedankenkünstlers" Nietzsche in Architektur, Bildhauerei und Malerei umgangen werden, ohne das Problem mit Fechter und Einstein großzügig zu überspielen? — Während sich etwa die Legende um Albrecht Dürer anhand von Reproduktionen seiner eigenen Kunstwerke verankern ließ, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Signet des deutschen Nationalbewußtseins erhoben wurden, 3 2 mußten die Kultobjekte für den Heros der Jahrhundertwende erst von Fremden geschaffen werden. — Nietzsche, die Leitfigur des „Neuen Weimar", hat nicht mehr aktiv in die zeitgenössische Kunstszene eingreifen können, wie es seinem Klassiker-Vorbild Goethe bei der Formulierung des eigenen Porträttypus möglich gewesen war. Als sich Mitte der 90er Jahre die ersten Künstler in Naumburg und dann im Weimarer Nietzsche-Archiv einfanden, dämmerte der Philosoph bereits unbeteiligt und wehrlos dahin. Neben den genannten Faktoren spricht schließlich das mangelhafte methodologische Rüstzeug beim Erfassen und Bewerten der Vermittlungsschritte (— Wie gelangt der Künstler an Nietzsches Ideen; in welcher Reihenfolge verarbeitet er sie? —) für Strenge in der Auswahl der „Nietzscheana". Die Orientierung an den Problemen der Literaturwissenschaft lohnt sich auch bei der Suche nach Vorbildern für die Einzelanalyse; denn der Vorteil der Germanistik, der im direkten Vergleich von Texten liegt, läßt den Außenstehenden größere Exaktheit in der Erfassung der Nietzsche-Rezeption vermuten. Es muß jedoch enttäuschen, wenn noch 1978 eine maßgebliche Einschätzung das Niveau der germanistischen Nietzsche-Forschungen beklagt, indem sie ihnen „unverbindliche Parallelen" und „vage Analogien" anlastet. 33 Beschränkt man aufgrund der mißlichen Ausgangslage die Analysen auf die Porträts, Werk-Illustrationen und unmittelbaren Zeugnisse des Nietzsche-Kultes, wie zum Beispiel Denkmalsprojekte, so verringert sich die Gefahr vorschneller Verallgemeinerungen ohne „jede nachprüfbare Argumentation". 34 Mit diesem Verzicht auf Spekulationen über einen universellen Einfluß Nietzsches in der Kunst seit der Jahrhundertwende verliert das Thema keineswegs seine Anziehungskraft. Im Gegenteil: die Anzahl der engagierten Künstler und ihrer mehr oder weniger unter der Ägide Elisabeth Förster-Nietzsches und des Weimarer Nietzsche-Mythos entwickelten Ideen und Gestaltungen 32

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Vgl. den Ausstellungskatalog der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Dürers Gloria. Kunst - Kult — Konsum, Berlin, 1971. Gunter Martens, „Nietzsches Wirkung im Expressionismus", in: Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. II Forschungsergebnisse, Hrsg., v. Bruno Hillebrand, Tübingen, 1978, S. 3 5 - 8 2 , hier S. 49. Ebd., S. 50.

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bleibt überraschend groß. Mehr noch als ihr massives Auftreten setzt die Heterogenität dieser Nietzscheaner in Erstaunen. Was in anderen Kunstzentren kaum denkbar war, vermittelte im „Neuen Weimar" die Integrationsfigur Nietzsche. Sie ist der Ausgangspunkt, der einen Querschnitt durch die damalige Kunstszene in all ihrer Widersprüchlichkeit von Hans Thoma bis Otto Dix erlaubt. In der gemeinsamen Verehrung für den Philosophen scheint der Graben zwischen den Generationen überwunden und der Streit um starre „sezessionistische" Positionen aufgehoben. Daneben bietet sich die Chance, die Qualität der Arbeiten von Edvard Munch, Max Klinger oder Henry van de Velde mit den Resultaten apokrypher Provinzgrößen zu konfrontieren, um auf dieser Basis verläßliche Aussagen zum Nietzsche-Kult in breiten Kreisen der Künstlerschaft zu machen. Genauso töricht, wie ein Verschweigen der distanzlosen Nietzsche-Verehrung, wäre dabei ein Ausspielen des Niveaus der verschiedenen Künstlergruppen mit dem Ziel einer Ehrenrettung großer Namen der Kunstgeschichte. Deshalb wurde trotz der Entlegenheit und Verstreutheit der Objekte das vorurteilslose Erfassen möglichst vieler Künstler der Ausrichtung auf große Einzelne vorgezogen. Max Klinger, der sich dazu als der Künstler des Bildungsbürgertums nach 1900 angeboten hätte, wird erst im Vergleich mit zahlreichen Mitstreitern oder Nachläufern in seiner Bedeutung faßbar. Mit Hilfe des Materials aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten (NFG) in Weimar war es möglich, verschollenen Künstlerexistenzen auf die Spur zu kommen und die Aufmerksamkeit auch auf diese zu lenken. Obwohl selbst die Weimarer Bestände keine Vollständigkeit erreichen konnten, erweisen sie sich als solide Grundlage für ein chronologisches Gerüst; zumal das heute in den N F G aufgegangene Nietzsche-Archiv als offiziöse Sammelund Pflegestätte aller Nietzsche-Kunstwerke vom Buchumschlag bis zu Denkmalsentwürfen auftrat. 35 Das Problem der Identifikation von Künstlern der internationalen Avantgarde wie der lokalen Heimatkunst mit dem Nietzsche-Mythos des Archivs mahnt zur Vorsicht. Man kann den Vertretern der „Moderne" nicht unbesehen die vorwärtsweisenden Ideen des Philosophen zuordnen und gleichzeitig für die ältere Künstlergeneration die bedenklichen Passagen seiner Werke übrig lassen. Das Klischee von einer sauberen Trennung in emanzipatorische und affirmative Nietzsche-Spuren müßte sonst zwangsläufig die Nietzsche-Enthusiasten Munch und Dix als ressentimentbehaftete Nachbeter Elisabeth FörsterNietzsches entlarven.

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Durch die Um- bzw. Anbauten van de Veldes (1903) und Schultze-Naumburgs ( 1 9 3 7 - 1 9 4 0 ) erhielt das Archiv selbst mehr und mehr den Charakter eines Nietzsche-Monuments und Museums.

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In diesem Zusammenhang ist es fast ein Allgemeinplatz, auf das Facettenartige, den „Perspektivismus" Nietzsches hinzuweisen. Folglich konnte es niemals d e n authentischen Zugang zum Werk des Philosophen geben. Allerdings schlüge der in der Aphorismenform der Schriften Nietzsches angelegte Perspektivismus in Perspektivlosigkeit der Kunstwissenschaft um, billigte sie daraufhin jedem Künstler „seinen" Nietzsche zu und übersähe die Abfolge typischer Gestaltungsweisen in den Werken aller Nietzscheaner. Diesen Wandel gilt es als Wechselwirkung zwischen künstlerischen Strömungen und Einflüssen verschiedener Phasen der Nietzsche-Interpretation zu begreifen, denen letztlich soziale Prozesse zugrunde lagen. Ein mechanistisches Modell der Relationen zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Ablösung des Leitbildes vom „Märtyrer" Nietzsche durch den „Propheten" ist dabei unbrauchbar. In den Jahren des Aufstieges Deutschlands in den Kreis der führenden imperialistischen Mächte fällt der Akzent auf Nietzsche als Künder eines neuen Reiches — unterstützt vom neoklassizistischen oder archaisierenden Drang zum Monumentalen 36 —, ohne daß die Vorstellung vom leidenden Individualisten restlos verschwände. Die Ambivalenz in fast jeder Äußerung Nietzsches, das heißt die Fragwürdigkeit eines Philosophen ohne System, durchkreuzte stets die Versuche einer einseitigen Vereinnahmung. So verstanden umschreibt die Devise „,Märtyrer' und .Prophet'" keine sich gegenseitig ausschließenden Rezeptionsmuster, sondern konstatiert die um 1900 vorhandenen Formen der Verehrung, wobei deren Ausrichtung weg vom „Fin de siècle" zu den „völkisch" bestimmten Vorkriegsjahren natürlich keine zufällige ist. Für ein Orientieren der Nietzsche-Kultprodukte an den historischen Parametern des Deutschen Reiches sprach schon von Anfang an ein arbeitstechnischer Zwang. Wie bewältigt der Kunsthistoriker — durch die spärliche Randliteratur auf jede Äußerung angewiesen — die Lektüre der emotionsgeladenen Pamphlete von Zeitgenossen des „Dritten Weimar"? Deren oft blinde Einseitigkeit führt die gesellschaftlichen Spannungen des Hohenzollernstaates und ihr Fortwirken bis in die Gegenwart unumwunden vor Augen. Ein Ausklammern solcher Quellen würde die Arbeit auf eine Liste verkürzen, die sich im Bekanntmachen einiger bisher verborgener Kunstwerke erschöpfte. Eine Polemik wie die um das Nietzsche-Monument von Fritz Schumacher 37 zeigt die Tragweite der auf den ersten Blick nur tagesbezogenen Wort36 37

Vgl. den Abschnitt „Monumentalkunst" in: Richard Hamann und Jost Hermand, Stilkunst um 1900 (Bd. 4 der Reihe: Deutsche Kunst und Kultur), S. 395-504. Vgl. Abb. 7. Zu Schumacher (1869—1947) und seiner Rolle für die neue Denkmalsgesinnung, die er in dem bekannten, dem Nietzsche-Tempel ähnlichen Krematoriumsbau in DresdenTolkewitz von 1908 bewiesen hat, s.4.2.

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gefechte. Will sich der Kunsthistoriker etwa auf die schlichte Kohlezeichnung Schumachers für den Tempelentwurf von 1898 einsehen, so empfiehlt Gottfried Benn noch aus der Distanz von mehr als 50 Jahren die Skizze als ein „monströses Marmorkonglomerat etwa aus dem Film ,Das indische Grabmal'" oder als „Bonzenpalais eines Mormonenhäuptlings". 38 Dasselbe Projekt hatte einen Sprecher der Jahrhundertwende als „Helden- und Siegesmal für Friedrich Nietzsche" und eine „herrisch emporgestiegene Welt-Anschauung" begeistert. 39 Wenn sich die Künstler des Symbolismus und der Monumentalkunst um 1900 erklärtermaßen als Träger von Geistigem, von „Welt-Anschauung" verstanden wissen wollten, so ist dieser Anspruch erst recht allen Kunstwerken der Nietzsche-Bewegung inhärent. Es fehlt nicht an Belegen für das Einvernehmen zwischen Auftraggebern, Künstlern und Propagandisten über eine bewußt manipulative Verwendung von Person und Werk des Philosophen. 40 Die Antwort darauf mußte in Form ironischer Essays gegeben werden, mit deren Treffsicherheit eine Dissertation vergeblich wetteifert, zumal gegen Namen wie Kurt Tucholsky 4 1 und Ludwig Marcuse. 42 Hier geht es nur um die Kenntnisnahme all derjenigen Meinungen, Pamphlete, etc., die für das Thema mehr als nur Folie sind. In der Gegenwart ist es kaum vorstellbar, daß „Dionysos-Nietzsches unsterblicher Wortleib" 4 3 einen Personenkult alten Stils auslösen könnte. Dagegen haben zahlreiche Nietzsche-Kultwerke ihre ursprünglichen Produzenten und Konsumenten überdauert. Nach mehr als drei Jahrzehnten fast bedingungsloser Ablehnung erfordert eine Publikation des Materials Zurückhaltung und nicht den Eifer einer Neuentdeckung und Aufwertung um jeden Preis. Bisher bewahrte die Brisanz des Themas vor der Aufbereitung einer bunten Folge „Nietzscheana" als zeitgemäßes, „nostalgisches" Amüsement. Die weltweite Rückwendung zur Jugendstil-Bildwelt 44 darf nicht Anlaß sein, Kunstwerke der Nietzsche-Bewegung vorbehaltlos diesem Fundus einzuverleiben. Damit unterschlüge man ihren hohen sozialgeschichtlichen Erkenntniswert. 38 39

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„Nietzsche nach 50 Jahren", S. 35. Georg Fuchs, „Zeitgemäße Betrachtungen zum Hamburger Wettbewerb", in: Deutsche Kunst und Dekoration, 10 (1902), S. 3 4 7 - 3 6 2 , hier S. 360. Wie direkt dieser Einsatz betrieben werden konnte, zeigt z. B. die Montage eines ausgezehrten Nietzsche-Hauptes in der Nachfolge Oldes, kombiniert mit einem vegetarierfreundlichen Zitat des Philosophen, das Ganze als Postkarte. Weimar, NFG (GSA) 101/89. Vgl. Abb. 10. Vgl. z. B. „Fräulein Nietzsche. Vom Wesen des Tragischen", in: Die Weltbühne, 28 (1932), Nr. 2, S. 9 8 9 - 9 9 5 . Vgl. z. B. „Die Papas der Nietzscheaner", in: Das Tagebuch, 13 (1932), Vol. 1, S. 4 0 1 - 4 0 8 . Marie Grunewald, Mythos Friedrich Nietzsche, Leipzig, 1931, S. 66. Vgl. Hans Müller, Jugendstil, Leipzig, 1972, S. V.

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Seit wenigen Jahren nun erscheint die angedeutete bloß äußerliche, aber publikumswirksame Form der Reaktivierung von Nietzsche-Kultwerken nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. 45 Um so mehr drängt die Zeit zu einer sachlichen Präsentation des noch greifbaren Materials. Anders als in den romanischen Ländern war in Deutschland das Interesse an der Auseinandersetzung mit Nietzsche in den 50er Jahren nur mäßig. „Die .neonormale' Jugend ist der problematischen Geister dieser Art müde", konstatierte Karl Schlechta resigniert die Verdrängungen der Nachkriegszeit. 46 Er hat mit seiner kritischen Werkausgabe 47 nicht nur eine heftige publizistische Fehde um die Editionspraktiken des Nietzsche-Archivs ausgelöst, 48 sondern auch eine Atmosphäre des Vertrauens und der Seriosität begründet. So konnte das von Giorgio Colli und Mazzino Montinari begonnene Unternehmen einer historisch-kritischen Gesamtausgabe 49 auf breitere Resonanz rechnen. Mit den Nietzsche-Studien50 schließlich wurde der Forschung ein mehrsprachiges Forum geschaffen, dessen Beiträge in erster Linie zur Verständigung der Fachgelehrten untereinander dienen. Die Debatte um philosophische und philologische Einzelprobleme erklärt nur teilweise die intensivere Beschäftigung der Öffentlichkeit mit Schicksal und Wirken des „Umwerters aller Werte". Wer aus der Nachfrage des Publikums nach Nietzsche-Lektüre, Nietzsche-Kompositionen oder -Filmen eine Analogie zu den Jahren um 1900 konstruiert, als die „Nietzsche-Mode" den Forschern entglitt, der verkennt die Voraussetzungen beider Rezeptionswellen. Damals konnte die Gegenwart des Spektakulären und Skandalösen leicht alle differenzierten Deutungen übertönen. Einige Bedürfnisse der heutigen Leserschaft formulierte Günter Rohrmoser 1971 in seiner Schrift Nietzsche und das Ende der Emanzipation.S1 In der Sympathie vieler Intellektueller für Nietzsches Kunstphilosophie und seine Verdächtigung der Wissenschaft tritt ein — nach Rohrmoser — geschärftes 45

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Ein Indiz für die latente Aktualität z. B. lange verlachter „Übermenschen"-Bildnisse aus der Lebensreformbewegung um 1900 ist ihr Wiederauftauchen im Typus von Comics-Helden der 60er und 70er Jahre. Das Weiterwirken von Bildformen der Jahrhundertwende untersuchen u. an. Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethart Kerbs in: FIDUS 1868—1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München, 1972. Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge, München, 1958, S. 76. Nietzsche, Werke in 3 Bdn., Hrsg. von Karl Schlechta, München, 1956. Von Seiten der „alten Nietzscheaner" trat ihm besonders Rudolf Pannwitz entgegen. Vgl. auch die Titelgeschichte des Spiegel·. „Also sprach Lisbeth Förster", 12 (1958), Nr. 5, S. 32-41. Berlin, 1967ff. Eine seit 1933 von der Stiftung Nietzsche-Archiv veranlaßte Gesamtausgabe war Fragment geblieben. Vgl. P. Pütz, Friedrich Nietzsche, S. IX. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Hrsg. von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter und Heinz Wenzel, Berlin, 1972 ff. Rombach Hochschul-paperback, Bd. 21, Freiburg i. Br.

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Krisenbewußtsein zutage. Arthur Schopenhauer wird von ihm als ein weiterer Vorläufer für den erschütterten Fortschrittsglauben der Gegenwart herangezogen. Er beeindruckte durch sein Außenseitertum und die Nichtachtung der „Viel zu Vielen" schon den jungen Nietzsche, dessen Frühwerk aus dem Vorbild Schopenhauers wie dem Zuspruch Wagners Prägnanz gewann. 5 2 Daher sei es nur konsequent, wenn jeder der drei Genannten an der augenblicklichen Wertschätzung des Pessimismus teilhabe. Große Teile des Bildungsbürgertums hätten stets das Verbindende in der Haltung Schopenhauers, Wagners und Nietzsches empfunden, ungeachtet der zeitweiligen Abkehr des Jüngeren von seinen Vorbildern. Insbesondere deren Frontstellung gegen Hegel und Marx fand breite Würdigung. In diesem Punkt verstummten selbst die Parteikämpfe zwischen „Nietzscheanern" und „Wagnerianern". 5 3 Verehrer aus beiden Lagern betonten die gemeinsame Tradition und glaubten Nietzsche mit seinen Mentoren auszusöhnen, wenn sie deren Büsten einträchtig in Salons und Ateliers aufstellten. Dabei machte diese neue Generation von „Klassikern" den Repräsentanten der Goethezeit den Rang streitig: insbesondere Nietzsche rückte neben Goethe zur intellektuellen Instanz der Nation auf. Inzwischen sind die Leitbilder der Jahrhundertwende von Zeitgenossen zu fast mythischen Gestalten geworden, verstärkt durch ihre Verdächtigung als Wegbereiter des Faschismus. Vor diesem Hintergrund verdienen alle Versuche jüngerer Künstler Respekt, Nietzsches Einbindung in das deutsche Geistesleben mit den Mitteln von Theater und Film neu zu reflektieren. Hier ist nicht der Platz für eine Detailanalyse dieser Kunstwerke, wie an dieser Stelle auch keine Kritik der großaufgemachten, populären Illustrierten-Serien der letzten Zeit 5 4 geleistet werden kann. Soviel läßt aber bereits eine flüchtige U m schau erkennen: die Divergenz der Autoren in der Behandlung des Stoffes spricht gegen eine gezielte Kampagne zur Vermarktung Nietzsches in den Massenmedien, und für die Echtheit der oben skizzierten Bedürfnisse des Publikums. Ein Mißbrauch der Aufnahmebereitschaft und Toleranz der Öffentlichkeit ist in der Zukunft jedoch nicht auszuschließen. Als Beispiele für das breite Spektrum der Nietzsche-Renaissance können die Dramatisierungen Jean-Louis Barraults (1974) und Hartmut Langes (1975) gelten. Während Barrault in Zarathustra — unterstützt durch die Musik von 52

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S. dazu ausführlich 2.1. Vgl. auch Gert Mattenklott, „Nietzsches .Geburt der Tragödie' als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution", in: G. Mattenklott und Klaus Scherpe, Hrsg., Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, Kronberg/Ts., 1973, S. 103 — 120. (Zuerst als Vortrag auf der Konferenz „II Caso Nietzsche" 5 3 Vgl. S. 5. 1972 in Cremona gehalten). Vgl. z. B. „ D e r gottverdammte Nietzsche" und „Bis die Seele in Stücke flog", Text von Rolf Vollmann, Fotos von Wilfried Bauer, in: Stern, 1978, Heft 16, S. 3 8 - 5 7 und Heft 17, S. 122-132.

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Pierre Boulez — Reden des Propheten zu einer aktionsreichen NietzscheSchau montierte, läßt Lange in Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei Friedrich Nietzsche und Franz Liszt als Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts posthum mit ihren Verehrern Adolf Hitler und Joseph Goebbels zusammentreffen, ohne daraus eine bequeme Verurteilung der beiden Älteren abzuleiten. Anders als diese Ansätze erschöpft sich Liliana Cavanis Nietzsche-Spielfilm Jenseits von Gut und Böse (1977) in der Verbreitung neuer Legenden über das Privatleben des Philosophen. Der Beitrag der bildenden Kunst zur Auseinandersetzung mit Nietzsches Person und Bildwelt tritt gegenwärtig im Vergleich mit den anderen Medien stark in den Hintergrund. Das halbe Jahrhundert von 1895—1945 hatte alle Varianten einer personenkultischen Rezeption erprobt und erschöpft, so daß deren Fortsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur aus politischen, sondern auch aus künstlerischen Gründen abwegig erschien. Bei der Dominanz abstrakter Gestaltung mußten neue Porträts des Philosophen oder Illustrationen zu seinen Werken auf Unverständnis stoßen. Wenn das Bildnis Nietzsches heute Maler und Bildhauer wieder vereinzelt anzuregen beginnt, so ist damit keine Rückkehr zur Gedanken- und Formenwelt der Vorkriegszeit verbunden.55 Es wäre verfrüht, anhand der noch spärlichen Beispiele die Rolle abzuschätzen, die die bildende Kunst im Rahmen der Nietzsche-Renaissance zurückgewinnen kann. Wie für Film und Theater muß hier die Aufzählung einiger Werke genügen. Indem Johannes Grützke auf einem monumentalen Gemälde Nietzsche mit seinen Baseler Mitbürgern Arnold Böcklin, Johann Jakob Bachofen und Jacob Burckhardt zu einem fiktiven Treffen auf der Mittleren Rheinbrücke versammelt, verblüfft er den Betrachter und überläßt ihn im Anblick von Gelehrsamkeit und Künstlertum des 19. Jahrhunderts seinen hilflosen Assoziationen zwischen Respekt und Ironie.56 Mit dem Zusammentreffen der „großen Einzelnen" durchbricht der Künstler das Klischee von den einsamen Geistesheroen. Diese Nietzsche-Interpretation Grützkes paßt in kein Schema, sondern provoziert die Verehrer ebenso wie in Hartmut Langes Theaterstück der Auftritt des Philosophen in der makabren Geselligkeit des Reichskanzlei-Bunkers. Mehr der Tradition der Nietzsche-Zarathustra-Ikonographie verpflichtet zeigen sich dagegen die Porträtmedaille Esther Gorbatos57 und die Plastik 55 56 57

Zur Entscheidung, Kunstwerke der 30er und 40er Jahre in die Betrachtung einzubeziehen, und solche der Gegenwart davon auszuschließen, vgl. 1.3. „A. Böcklin, J. J. Bachofen, J. Burckhardt und F. Nietzsche auf der Mittleren Rheinbrücke in Basel", entstanden 1970; Öl/Lw.: 250 X 330 cm; Basel, Kunstmuseum. Bronze, Durchmesser ca. 7 cm; ausgestellt auf der Internationalen Medaillen-Ausstellung, Paris 1967. Vgl. Daniel M. Friedenberg, Jewish Miniers & Medalists, Philadelphia, 1976, S. 95, Abb. S. 97.

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„Also sprach Zarathustra" von Hermann Gysin. 58 Der Künder des Ubermenschen stürmt als Jüngling blitzeschleudernd von der Höhe herab (Gorbato), oder schreitet über eine Kugel mit Darstellungen aus vielen Zarathustra-Kapiteln, begleitet von seinen Tieren Adler und Schlange (Gysin). Eine isolierte Aufzählung von modernen „Nietzscheana" läuft leicht Gefahr, bei aller Unentbehrlichkeit der Einzelbeispiele der Exotik des Materials zu erliegen. Die Beobachtungen zur Aktualität Nietzsches nicht nur in der Kunstszene der Gegenwart lassen sich vertiefen, macht man sich dazu abschließend mit den provozierenden Angriffen Georg Lukács auf Nietzsche und Nietzscheaner vertraut. Dabei kann der Nutzen nicht in der pauschalen Aneignung dieser Thesen liegen, wie es noch vielerorts bis in die 70er Jahre hinein geschah.59 Man wird Lukács gerechter, wenn seine Leistungen, die er über Jahrzehnte hinweg entfaltete, 60 als Herausforderung in neue Überlegungen einfließen. Ansatzpunkte für eine ausgewogenere Analyse der NietzscheBewegung bietet die Kritik an seiner Vorstellung eines starr-reaktionären Rezeptionsverhaltens, das nach Lukács alle Nietzscheaner im Vorfeld des Faschismus vereinte. Konträre Einstellungen von Nietzsche-Anhängern der Jahrhundertwende kann die bildende Kunst und damit die Kunstwissenschaft unmittelbarer vor Augen führen als es die Werke der Philosophie und Literatur vermögen. Fast überflüssig erscheint daneben der Hinweis auf das unterschiedliche Schicksal von Nietzscheanern im öffentlichen Leben nach 1933, war deren Etablierung oder Verfehmung doch nur Ausdruck lange vollzogener Spaltungen im deutschen Kunstleben. Uber extreme Gegensätze, wie die zwischen den Nietzsche· Verehrern Schultze-Naumburg und Dix, darf keine Formel vom unentrinnbaren Niedergang des Geisteslebens in der Nachfolge Nietzsches hinwegtäuschen. Bevor weitere Argumente gegen die Modelle von Lukács vorgebracht werden, ist es angezeigt, seine Denkanstöße trotz der allgemeinen Bekanntheit noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Mit der Frage nach dem übergreifenden „sozialen Auftrag" 61 einer Philosophie wie der Schopenhauers, Nietzsches oder Oswald Spenglers, zwang Lukács seine Gegner, überraschende Interpretationen zur Kontinuität einer 58

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Schmiedeeisen, Höhe ca. 1 m, 1973. Vgl. die Erläuterungen des Künstlers in: Also sprach Zarathustra, Allschwil (Basel-Land), 1973. Z. B. in der Reihe: Deutsche Kunst und Kultur R. Hamanns und J. Hermands. Vgl. die wichtigen Äußerungen: „Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik" (1934) und „Der deutsche Faschismus und Nietzsche" (1943), im folgenden zitiert nach: Franz Mehring und Georg Lukács, Friedrich Nietzsche. Gesammelte Aufsätze, Berlin, 1957. Sein Spätwerk Die Zerstörung der Vernunft (zuerst 1954), hier zitiert nach der dreibändigen Ausgabe Darmstadt und Neuwied, 1973 — 74 (Sammlung Luchterhand), stellt Nietzsche in den Rahmen einer Gesamtanalyse des Irrationalismus in Deutschland. G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. II, S. 14.

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Denkhaltung anzuhören, die von vielen Seiten als zutiefst national und mittlerweile unanfechtbar empfunden wurde: den Siegeszug des Irrationalismus in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert. Indem Lukács diese Tradition in der Ideologie Alfred Baeumlers und Alfred Rosenbergs aufzeigte, glaubte er den Gesamtprozeß als intellektuellen Verfall von Generation zu Generation charakterisieren zu können, um gleichzeitig die „deutsche Misere" mit ihrer Verschleppung der gesellschaftlichen Entwicklung als Hort der „Zerstörung der Vernunft" zu brandmarken. Innerhalb dieses Kreuzzuges gegen den jeweils „höchsten philosophischen Fortschrittsbegriff", 62 wie er sich nacheinander in der Aufklärung, den bürgerlichen Revolutionen und der Pariser Kommune verkörperte, unterschieden sich die einzelnen Denker — nach Lukács — lediglich im beständig sinkenden Niveau ihrer Angriffe. So konnte selbst Nietzsche trotz seiner „nicht unbeträchtlichen Begabung [!]" 6 3 angesichts der Erfolge der Arbeiterbewegung nicht mehr über den „brutal ordinären Antisozialismus" 64 der „Durchschnittsintellektuellen seiner Zeit" 65 hinauswachsen. Eine Untersuchung des Nietzsche-Kultes bei bildenden Künstlern, also in geistig regsamen, mitunter auch politisch rebellischen Kreisen, wird vor den Widerspruch zwischen der Ausstrahlungskraft des Philosophen und der Beiläufigkeit seiner Ansichten zur um 1890 besonders virulenten „sozialen Frage" gestellt. Ohne einer Debatte darüber vorzugreifen, wo die Wurzeln für die besondere Empfänglichkeit von Künstlern der Jahrhundertwende für Nietzsches ästhetizistische und individualistische Ideen lagen (s. Kap. 2), darf hier ein Erklärungsversuch zur Diskussion gestellt werden, den Lukács für die vorgebliche, kaum verständliche Täuschung so vieler Intellektueller entwickelte. Außerdem präzisiert das Zitat die — nach Lukács — im Vergleich zum Irrationalismus des frühen 19. Jahrhunderts komplexeren Bedürfnisse der NietzscheVerehrer: Die Vereinigung von p s e u d o r e v o l u t i o n ä r e r Form und tief r e a k t i o n ä r e m Inhalt gibt der Philosophie von Nietzsche vom Jahre 1890 ab die Bedeutung, die die Schopenhauersche Philosophie in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte: eine Ideologie der äußersten Reaktion, die sich den Anschein einer unerschrocken revolutionären Auffassung gibt. 66

Nietzsches „hyperrevolutionäre Geste" 67 bei der Umwertung aller Werte, der nach Lukács ein „Wundererwarten" 6 8 der Intellektuellen um 1900 korresponEbd., Bd. I, S. 12. " Ebd., Bd. II, S. 12. 64 Ebd., S. 14. 65 Ebd. 6 6 G. Lukács, „Der deutsche Faschismus und Nietzsche", in: F. Mehring u. G. Lukács, Friedrich Nietzsche. Gesammelte Aufsätze, S. 92. Hervorhebungen vom Verfasser. 6 7 G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. II, S. 17. 6 8 Ebd., Bd. I, S. 80. 62

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Einleitung

dierte, zeuge wie der Massenerfolg Hitlers von einem Ausweichen vor der adäquaten begrifflichen Erarbeitung der Wirklichkeit. 69 Diese Gefahr, so räumte Lukács ein, habe sich zwar schon nach 1800 in der romantischen Flucht vor den neuen gesellschaftlichen und industriellen Strukturen angedeutet, massiv hervorgetreten sei sie als Unvernunft aber erst mit der die exakten Wissenschaften negierenden Lebensphilosophie (Henri Bergson, Ernst Mach, Richard Avenarius) und der indirekten, demagogischen Apologetik des Kapitalismus nach 1870. Von den zahlreichen Machtideologen des späten 19. Jahrhunderts sei es jedoch nur Nietzsche gelungen, seine Attacken auf den Sozialismus zu einer „Sammelideologie für alle entschieden reaktionären Tendenzen der imperialistischen Periode" 7 0 zu vereinen. In Ansätzen findet man diesen Standpunkt schon bei Nietzsches Zeitgenossen, wenn zum Beispiel Franz Mehring ihn als „Sozialphilosophen des Kapitalismus" desavouierte, 71 oder Otto Ernst 1914 auf dem Höhepunkt des Kultes die Nietzscheaner mit der Parole irritierte, ihr Vorbild sei als der „klassische Philosoph der Profitanarchisten" indiskutabel. 72 Aber erst durch die Formulierungen von Lukács erhielten diese Thesen Durchschlagskraft und allgemeine Verbreitung. Unter Lukács Kritikern gewinnen gegenwärtig zwei Positionen an Uberzeugungskraft, die Nietzsches Funktion als Mittler zwischen Romantik und Faschismus bestreiten. Einerseits wird vor einem Modell der deutschen Geistesgeschichte gewarnt, das Hitler zu einem ihrer „Erfüller" stilisiert und sich damit unfreiwillig dem Geschichtsbewußtsein des Nationalsozialismus nähert; 73 andererseits löst die Einzelforschung die laut Lukács uniforme Nietzsche-Rezeption nach 1933 in Phasen und Fraktionskämpfe auf. 7 4 Auch wenn die Grundsatzdiskussion um Nietzsche und Nietzscheaner nicht im Mittelpunkt der Untersuchung steht, war es unumgänglich, schon einleitend an die Aktualität dieser Streitfragen zu erinnern. Denn nur Lukács als zentrale Figur des Disputes konnte den unausweichlichen Ausgangspunkt einer Neuorientierung bilden. Andererseits hatte aber sein Generalangriff auf

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Diese Vergleiche entwickelt Lukács detailliert im ersten Kapitel von Die Zerstörung der Vernunft: „Uber einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands" (Bd. I, S. 3 7 - 8 3 ) . G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. II, S. 57. Kapital und Presse (1891), Kap. X I , in: F. Mehring u. G. Lukács, Friedrich Nietzsche. Ges. Aufsätze, S. 7. Nietzsche der falsche Prophet, Leipzig, 1914, S. 14. Wilhelm Emrich, „Oskar Mazerath und die deutsche Politik", in: Polemik, Streitschriften, Pressefehden und kritische Essays um Prinzipien, Methoden und Maßstäbe der Literaturkritik, Frankfurt/M, Bonn, 1968, S. 91. Vgl. Hans Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, Diss. Kiel, 1971. Zu den Spannungen um ein Nietzsche-Monument im NS-Staat, s. 4.6.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

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jede Nietzsche-Nachfolge — wie das kunsthistorische Material zunehmend zeigen wird — die Entwicklung einer von ideologiekritischen Vorgaben befreiten Perspektive eher verzögert als beschleunigt. So versteht sich die vorliegende Arbeit durchaus auch als der Versuch des Kunsthistorikers, seinen Beitrag zur Revision der von Lukács betriebenen Simplifikationen zu liefern. Für den Erfolg einer chronologischen und thematisch gegliederten Sammlung von Nietzsche-Kunstwerken ist entscheidend, ob ein Ausgleich zwischen dem gegebenen Schwerpunkt bildende Kunst und dem Erkenntnisinteresse an den Widersprüchen und der Aktualität Nietzsches gelingt. War es das Ziel der bisherigen Erörterung, diese Problemlage in ihrer unzureichenden Bewältigung darzustellen und neue Lösungsmöglichkeiten anzubieten, so soll der folgende Abschnitt über den A u f b a u der A r b e i t die Gewichtung der angesprochenen Fragen spiegeln. Wenn man die Nietzsche-Porträts und Illustrationen in die Kontinuität der Gesamtrezeption rückt, die ein Vierteljahrhundert vor den ersten Kunstwerken einsetzte75 und die Spanne des NietzscheKultes bis heute überdauert, wird der Doppelcharakter jedes Werkes offenbar: es ist „passives" Dokument der Rezeptionsgeschichte — Reflex auf Vergangenheit76 — gleichzeitig sucht es „aktiv" auf spätere Rezeptionen einzuwirken, um schließlich im Nietzsche-Bild der Gegenwart mehr oder weniger beachtet zu werden. Im Idealfall müßte jede einzelne Analyse eines Kunstwerkes der Nietzsche-Bewegung die gesamte Rezeptionsgeschichte von neuem aufarbeiten. Ständige Rückblenden in die Schaffensperiode Nietzsches oder Vorgriffe auf die Gegenwart ermüden den Leser aber nur und komplizieren den Einstieg in die Atmosphäre der Jahrhundertwende. Was kann also zum Prüfstein werden, der trotz der verwirrenden Skurrilität mancher Nietzsche-Kunstwerke das Wesentliche vom Zufall scheidet? Weder die Kunstwerke selbst noch die Aussagen ihrer Schöpfer, nicht einmal — wie zu vermuten — das hinter ihnen stehende Leitbild Nietzsche, geben über das eigentliche Motiv für den Kult um die Person des Philosophen letzten Aufschluß. Aus heutiger Sicht erscheint Nietzsches Sensibilität gegenüber dem schleichenden Wertezerfall in der Gründerzeit nur als Auftakt zu einer allseitigen Verunsicherung im Kreis der „Geistigen" seit den 90er Jahren. Die Flucht vieler Sprecher der intellektuellen Zwischenschicht (Schriftsteller, Künstler, Geisteswissenschaftler) in elitäre Gesellschaftsmodelle läßt sich als Antwort auf ihren durch das neue Großkapital und seine Technokraten be75 76

Seit Nietzsches erstem öffentlichen Auftreten im Baseler Lehramt 1869. Wie es dem Werk Nietzsches in den 70er und 80er Jahren an kongenialen Lesern fehlte, so zeigten auch die großen Künstler dieser Epoche kein Interesse an ihm und porträtierten lieber die Prominenz der Gründerzeit, beispielsweise Richard Wagner (so Franz von Lenbach mehrfach seit 1870, Auguste Renoir 1882).

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Einleitung

dingten objektiven Funktionsschwund interpretieren. Anspruch und Wirklichkeit des Bildungsbürgertums mußten im Industriestaat Deutschland immer mehr auseinanderklaffen und damit den gefährlichen Nährboden für Ängste, Ressentiments und Überheblichkeiten bereiten. In dieser Bedrängnis glaubte sich die Trägerschicht der Nietzsche-Kunstwerke eine neue Legitimation durch Nietzsches Thesen vom unverzichtbaren Rang der Kunst und des Mythos neben anderen Formen der Erkenntnis zu verschaffen. Es erspart viele Wiederholungen in den Hauptkapiteln drei und vier mit ihrer Konzentration auf einzelne „Nietzscheana", verständigt man sich bereits im Folgenden über die Stichhaltigkeit des gerade skizzierten Modells zur Soziologie der Nietzsche-Gemeinde. Das künstlerische Grundelement im Schaffen Nietzsches, sein Protest gegen den Stil des Bismarckreiches, „Europas Flachland"11, wie seine gleichzeitige Verwurzelung darin, bilden für das zweite Kapitel den gegebenen Ausgangspunkt, von dem aus die leidenschaftliche Identifikation vieler Künstler mit dem Schicksal ihres Interpreten nachvollziehbar wird. Stutzig macht in diesem Zusammenhang weniger die Tatsache einer generellen Spätwirkung Nietzsches als der Zeitpunkt und die Heftigkeit der Entdeckung des neuen „Modephilosophen" in den Jahren 1888 bis 1890. Die Rezeptionsforschung relativierte das plötzlich starke Interesse78 als Anzeichen für einen Aufschwung des kulturellen Lebens 79 , wenn sie nicht die Sensationsgier des Publikums an der geistigen Umnachtung Nietzsches seit Anfang 1889 in den Vordergrund schob. 80 Da für viele der ein Jahrzehnt später maßgeblichen Stilreformer die Lektüre Nietzsches ein zentrales Jugenderlebnis bildete, darf sich eine Studie zum Nietzsche-Kult der Jahrhundertwende nicht mit monokausalen Ableitungen zufriedengeben, sondern muß alle Voraussetzungen für den Zulauf zum „Umwerter aller Werte" prüfen. Drei Fragen sollen in den Abschnitten 2.3.2 und 2.4 dieses Phänomen klären helfen: — Ist die Gleichzeitigkeit zwischen der Wende im Ansehen Nietzsches und der politischen Neuorientierung des Deutschen Reiches von 1888 bis 1890 — die Verdrängung Bismarcks zugunsten einer Weltmachtpolitik — nur ein Zufall? — Gibt es Anhaltspunkte für ein wachsendes Interesse der Kunstszene an Nietzsche schon vor 1888? Rückblickend erscheint spätestens ab Mitte der

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F. Nietzsche, Götzendämmerung, GA VIII, S. 111 (Was den Deutschen abgeht 3). Vgl. G. Deesz, Entstehung des Nietzsche-Bildes, S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. J. Philippi, Das Nietzsche-Bild in der deutschen Zeitschriftenpresse der Jahrhundertwende, S. 8.

Aktualität und A u f b a u der Arbeit

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80er Jahre die Zeit reif, Nietzsches Aphorismen in der Diskussion über umstrittene „Ismen" zu popularisieren. — Welche Strömungen innerhalb des breiten Kunstspektrums um 1890 reklamieren den „Zarathustrastil" 81 als ihren Zukunftsstil? Wie reagieren Impressionisten, Naturalisten, Neu-Romantiker und Stil- und Lebensreformer? Je mehr Einzelpersönlichkeiten der Nietzsche-Gemeinde ins Blickfeld rücken, desto deutlicher werden die zuerst vagen Begriffe wie „Bildungsbürgertum" und „intellektuelle Zwischenschicht" für die Schöpfer und Anhänger der Nietzsche-Kunstwerke. Nur eine — zugegeben — dehnbare Arbeitshypothese, die aber nicht im Dilemma von Aussagen des „einerseits — andererseits" enden darf, kann einleitend die große Flexibilität dieser Gruppen erfassen. Präzise Zuordnungen sind durchaus möglich, wenn man die Konstituierung der Nietzsche-Gemeinde nicht jenseits, sondern inmitten eines langwierigen Wandlungsprozesses der gesellschaftlichen Führungsschicht begreift. Die zunehmende Verdrängung ihrer künstlerisch-schöngeistigen Protagonisten durch eine technisch-wissenschaftliche Funktionselite, wobei Nietzsches Schaffenszeit, die Jahrhundertwende und die Gegenwart bloß Stationen auf diesem Weg markieren, ließ die orthodoxen Nietzscheaner in eine Sackgasse geraten und die von ihnen getragenen Kunstwerke ins Epigonentum absinken. Nur wenige Außenseiter vereinten für den Weimarer Kreis die Wertvorstellungen der alten und der neuen Führungsschicht, so der jüdische Bankier Ernest Thiel, Mäzen Edvard Münchs und familiärer Vertrauter Elisabeth Förster-Nietzsches, oder Eberhard von Bodenhausen-Degener, der lange einer Laufbahn als Kunsthistoriker zuneigte, endlich aber einen Direktorenposten bei den Krupp-Werken vorzog. 8 2 Erst die Einsicht in das für den Irrationalismus eines Personenkultes zunehmend feindliche gesellschaftliche Klima (Versachlichung, Gemeinschaftskult, Mißtrauen gegen Sentimentalitäten) schärft den Blick für das Leistungsniveau vieler Künstler der Jahrhundertwende und den hohen Rang einzelner Kunstwerke aus der Umgebung des Weimarer Archivs. Mit Recht haben zahlreiche Autoren die Theatralik dieser Sammelstätte der Nietzsche-Bewegung hervorgehoben, insbesondere ihre Verantwortung für eine dem Philosophen unwürdige „Komödie des Ruhms" 8 3 angeprangert.

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Friedrich Ahlers-Hestermann führte diesen Begriff anhand des Wohnhauses von Peter Behrens auf der Dannstädter Mathildenhöhe (1901) in die Forschung ein. Vgl. Stüwende. Aufbruch der Jugend um 1900, Berlin, 1941, S. 87. Zu Thiel ( 1 8 5 9 - 1 9 4 7 ) vgl. 3.1.1 und 4.4.2. Bodenhausen ( 1 8 6 8 - 1 9 1 8 ) war nicht nur Berater des Nietzsche-Archivs in ökonomischen Fragen, er unterstützte 1913 auch das bisher kaum bekannt gewordene Projekt, Nietzsche nach Weimar zu überführen und van de Velde mit Entwürfen für einen Grabmalsbau zu betrauen. Weimar, N F G ( G S A ) 72/1608; vgl. dazu 4.5. Theodor Lessing, Nietzsche, Berlin, 1925, S. 105.

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Einleitung

Was Frau Förster-Nietzsches erste Kontakte zur künstlerischen Umwelt — mit Curt Stoeving und Siegfried Schellbach — angeht, so fällt es nicht schwer, dahinter ihre mit Raffinesse gepaarte Provinzialität zu entlarven. Warum dieselbe Frau sich später mehr oder weniger unfreiwillig im Lager der Stilerneuerer wiederfand, bliebe dem Kunsthistoriker dagegen ohne die im Kapitel zwei erörterte Faszination Nietzsches für die junge künstlerisch-literarische Intelligenz ein Rätsel. Die Formulierung des Nietzsche-Mythos in der bildenden Kunst der 90er Jahre war dem Archiv nur durch die echte Begeisterung der Künstler möglich, vermittelt durch den Elan eines „Kulturgenies" 8 4 vom Format des Grafen Kessler. Als der Pan 1895 seine Seiten mit einer Zarathustra-Allegorie Hans Thomas 8 5 eröffnete, tat er dies gewiß nicht mit Rücksicht auf Elisabeth Förster-Nietzsche. Von derartigen Triumphen des „Umwerters aller Werte" verblüfft, neigte die Forschung dazu, den „Fall Nietzsche" 8 6 durch die Zuflucht in eine romanhafte Dämonisierung seiner Schwester zu entschärfen. 87 Diese Verwechselung von Ursache und Wirkung im Nietzsche-Kult ist abzulehnen. Die Tatkraft Elisabeth Förster-Nietzsches ist nur ein Faktor innerhalb der günstigen historischen und lokalen Bedingungen für die Genese und Verbreitung der ersten „Nietzscheana". Mit sicherem Instinkt hatte Elisabeth Förster-Nietzsche den Sitz des Archivs bald nach dessen Gründung aus dem Landstädtchen Naumburg 1896 nach Weimar, ins Zentrum Thüringens verlegt. Die Autorität eines erträumten „Dritten Weimar", das sich um das Archiv auf dem „Silberblick" und seine Künstler scharen sollte, speiste sich aus widersprüchlichen Quellen. Ein Exkurs in das Weimar Goethes und Liszts reicht nicht aus, die Spannungen zwischen den Exponenten der „Moderne" und der „Heimatkunst" im „Dritten Weimar" zu ergründen. Seit der Jahrhundertwende war Thüringen als Symbol des „innersten Deutschland" 8 8 auch zum Zentrum völkisch-nationaler Reformbestrebungen geworden, wobei man in dem Dreiklang: Wartburg—Weimar—Wittenberg das ideologische Programm unverbindlich genug faßte. Das Selbstverständnis der Neu-Weimaraner, für den Stilpluralismus der Jahre um 1900 eine normative Mitte anzuzeigen, wurde nicht nur von inneren 84

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So die Beurteilung Kesslers in „Archivkreisen", mitgeteilt in einem Manuskript der Sekretärin Elisabeth Förster-Nietzsches, Johanna Volz (ca. 1935). Weimar, N F G (GSA) 72/2460. Vgl. Abb. 2. In der Sekundärliteratur war die Anspielung auf Nietzsches eigenes Pasquill: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888) stets beliebt. Vgl. z. B. Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, 1958. „Sphinx" und „Kampfwagen" nennt sie z. B. Otto Benesch in der Analyse ihres Porträts von Munch (1906). „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler'*, in: Wallraf-RichartzJahrbuch, 24 (1962), S. 349. Wilhelm Worringer, Anfänge der Tafelmalerei, Leipzig, 1924, S. 346.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

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Fraktionskämpfen in Frage gestellt. Ein Blick auf die erstarkte Anziehungskraft kleiner Residenzen und Künstlerkolonien (Darmstadt, Hagen, Worpswede, Dachau) veranschaulicht die Konkurrenz für die Ambitionen der Goethe- und Nietzschestadt. Besonders heikel mußte sich der Wettbewerb mit dem bereits etablierten Wagner-Mythos der Hüterin des Hauses Wahnfried gestalten,89 denkt man an die Fluktuation führender Persönlichkeiten zwischen beiden Kreisen. Trotz Rivalitäten und Anfeindungen — möglicherweise gerade durch sie — vervielfältigte sich seit etwa 1895 die Nachfrage nach Nietzsche-Lektüre, nach Porträts und Illustrationen. Das dritte Kapitel zeigt die Interdependenz von Text- und Bildrezeption, indem es über die den Nietzsche-Typus dieser Zeit prägenden Bildwerke90 hinaus deren Verbreitungsmechanismen innerhalb der Nietzsche-Gemeinde (über Kunstzeitschriften, Anzeigenkampagnen für Bronze- und Gipsabgüsse etc.) nachgeht. Der Tod Nietzsches im August 1900 bedeutet für die vorliegende Arbeit mehr als eine äußerliche Zäsur. Der unglückliche „Märtyrer" Nietzsche war mit einem Male nicht nur dem Zugriff der Künstler entrückt: er verblaßte auch im Bewußtsein seiner sonstigen Bewunderer. Das Leitbild eines gesunden Zarathustra—Nietzsche als Staatsphilosoph der Zukunft konnte an Uberzeugungskraft gewinnen. Natürlich waren die Ubergänge dazu — wie schon auf S. 11 — 12 angedeutet — fließend. Die neue Gesinnung hatte sich bereits in Max Kruses priesterhaftem, damals als Karikatur empfundenen „Nietzsche" von 1898 angekündigt.91 In diesen Jahren erwartete die Kunstwelt mit Spannung das Erscheinen von Nietzsches angeblichem Hauptwerk Der Wille zur Macht (1901), das sich später als tendenziöse Kompilation von Nachlaßfragmenten entpuppen sollte. Der Philosoph, der schon in der Götzendämmerung die Architektur als eine „Art Macht-Beredsamkeit in Formen"92 ausgezeichnet hatte, gab mit dieser Vorliebe das Stichwort für alle Sehnsüchte nach „großem Stil"93 und neuer Monumentalität. Nietzsche lieferte damit gleichzeitig die Devise für die posthume Verkultung seiner eigenen Person. Niemand wird es verwundern, daß sich die Monu89

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Die Pfarrerstochter Elisabeth Förster-Nietzsche bewunderte zeitlebens Cosima Wagners aristokratische Distanz und Hofhaltung. Der Wagnerianer Arthur Seidl (1863—1928) arbeitete z.B. 1898/99 als Archivar in Weimar. Zu Seidl, vgl. S. 29-31. Arnold Kramers Statuette „Nietzsche im Krankenstuhl" von 1898, vgl. Abb. 6; die Radierungen Hans Oldes von 1899, vgl. Abb. 9. Vgl. Abb. 8. GA Vili, S. 126 (Streifzüge eines Unzeitgemässen 11). Nietzsches bevorzugtes Synonym für Vollendung in der Kunst; es findet sich über das Gesamtwerk verstreut. Er sieht z. B. die „logische und geometrische Vereinfachung" als Bedingung für die „Spitze der Entwicklung: de[n] große[n] Stil". Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 227 (Aph. 800).

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Einleitung

mentalkunst in der Glorifizierung ihres Panegyrikers ein entsprechendes Thema eroberte. Das neue, bestimmende Ziel der Nietzsche-Verehrung wurde die Realisierung eines Denkmal-Tempel-Projektes für Weimar. Mit der Berufung van de Veldes als künstlerischer Berater des Großherzogs Wilhelm Ernst (1901) und der Kesslers zum Leiter der Weimarer Museen (1902) — unter anderem ein Ergebnis der Zielstrebigkeit Elisabeth Förster-Nietzsches — war der offizielle, gesellschaftliche Rahmen geschaffen, von Utopien wie denen Schumachers zur Gestaltung eines Zentrums der Nietzsche-Gemeinde überzugehen. Man kann van de Veldes Umbau des Archivs (1903) als erste Etappe auf diesem ehrgeizigen Weg ansehen. Uber ein halbes Jahrhundert hinweg erstreckten sich die Anläufe zu einem Nietzsche-Monument. All diese Unternehmungen der Jahre 1898 bis 1944 mißlangen oder blieben Fragmente, in denen eine überzeugende Fassung des Nietzsche-Mythos nicht mehr zustande kam, nicht mehr zustande kommen konnte? Die Zwiespältigkeit jeder pathetischen Reverenz vor Nietzsche am Vorabend von Kriegen, „wie es noch keine auf Erden gegeben hat" 9 4 , bildet den Hintergrund der Überlegungen im vierten Kapitel. Neben dieser inneren Problematik für alle Planungen spielen äußerliche Belastungen, etwa Finanzierungsnöte durch Krieg und Inflation, nur für das Schicksal einzelner Vorhaben eine Rolle. Der Grundwiderspruch zwischen dem subjektiven Wunsch der Nietzscheaner nach einer modernen Kultstätte und dem objektiven Versagen der Kunstmittel läßt nur den Schluß auf eine Defensivstellung der NietzscheGemeinde gegenüber den allgemeinen ästhetischen und gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen zu. Wenn Hamann und Hermand ihre Deutung der „Stilkunst um 1900" mit einem Kapitel über den „Gedankenkreis der .Fortschrittlichen Reaktion'" eröffnen, 9 5 so trifft diese scheinbare Aporie auch sehr gut die Uberlagerungen im ideologischen Umkreis eines Nietzsche-Monumentes. Um der Gefahr zu entgehen, die Kunstgeschichte mit zuvielen Exkursen in das völkisch-nationalistische Ideenkonglomerat zu überfrachten, wurden lediglich zwei Problemkreise ausgewählt. Beide Erkundungen im Abschnitt 4.1 gelten der Debatte um das adäquate Denkmal der Jahrhundertwende, wobei die Nietzscheaner mit ihren Plänen die Diskussion anfachten und Stellung bezogen. Die überspannten Erwartungen an eine neue „Tempel-Kunst" 9 6 formulierten am konsequentesten Ideologen wie Georg Fuchs und Anthony Mario Ludovici (vgl. 4.1.1). Gleichzeitig bezeugen deren Texte die Aushöhlung der 94 95 96

F. Nietzsche, Ecce homo, G A XV, S. 117 (Warum ich ein Schicksal bin 1). R. Hamann u. J . Hermand, Stilkunst um 1900, S. 2 4 - 1 6 8 . So umschreibt z. B. Daniel Greiner in „Franz Metzner — Berlin" das Ideal des bekannten Architekturplastikers. Deutsche Kunst und Dekoration, 12 (1903), S. 350-357, hier S. 350.

Aktualität und Aufbau der Arbeit

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Denkmalsidee des 19. Jahrhunderts und die Verachtung ihrer langerprobten Grundmuster. Jede Diskussion dieser sich fortschrittlich gebenden Denkmalsgesinnung sollte dagegen die von den Stilreformern allein als „Stein des Anstoßes" betrachteten Monumente der Vergangenheit ernstnehmen (vgl. 4.1.2). Nur durch einen Rückblick auf die Programmatik und den humanistischen Gehalt der konventionellen Standbilder 97 ist es möglich, die explosive Vermischung von berechtigten und beängstigenden Argumenten innerhalb der Kritik des Historismus zu durchschauen. Die Hoffnung vieler Nietzscheaner auf gewaltige, die gesamte Nation integrierende „Uber-Kunstwerke" 9 8 erscheint in einem anderen Licht, übersetzt man diese Kampfansage an die vermeintlich „liberalistische Kunstanarchie" 99 als Mobilisierung des Ordnungsfaktors Kunst gegen das Chaos der Massengesellschaft. 100 In einer Ubersicht zu Schwerpunkten der Untersuchung kann die Komplexität der ideologischen Prämissen für ein Nietzsche-Monument nur angedeutet werden. Allein die Vergegenwärtigung einer militanten Kunst- und Machtideologie in der Nachfolge Nietzsches, wie die Betrachtungen zur Krise und zum Wandel des Denkmals regen an zu einer Fülle weiterer Reflexionen. Stichpunktartig seien an dieser Stelle herausgegriffen: — Gab es zwischen Nietzsches antichristlichen Provokationen und Kaiser Wilhelms II. Gerede vom Gottesgnadentum die Chance zu einer Annäherung, zu einer neuformulierten Staatsräson, die nach Georg Fuchs die machtpolitische Zukunft Deutschlands garantieren sollte? 101 Was trieb die Nietzscheaner dazu, ihren Heros mit Leitbildern wie dem jungen Kaiser oder Bismarck auf eine Ebene zu stellen, wenn auch nur durch die Massigkeit eines Monumentes —

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Der beherrschenden Einzelfigur wurden dabei zumeist allegorische Plastiken oder Reliefs untergeordnet. Ab Mitte des 19. Jhs. galten auch zunehmend Vertreter des Bürgertums (Künstler, Unternehmer) als denkmalwürdig. Vgl. Peter Bloch und Waldemar Grzimek, Das klassische Berlin. Die Berliner Bildhauerschule im 19. Jahrhundert, Frankfurt, Berlin, Wien, 1978, darin besonders: „Vom Ende des Denkmals", Sp. 290—93. Die von Nietzsche inaugurierten Wortverbindungen mit „Uber-" sind bezeichnend für das Selbstverständnis der Jahrhundertwende. Es waren Modeworte, die aber auch selbstironisch parodiert werden konnten, wie ζ. B. im „Uberdokument" der Darmstädter Künstlerkolonie. Vgl. auch den Beitrag Brigitte Rechbergs „Das Uberdokument 1901 auf der Mathildenhöhe", in: Ein Dokument Deutscher Kunst 1901—1976, Ausst.-Kat. Darmstadt, 1976, Bd. 5, S. 175—78. Auf den Bezug zu Nietzsche geht die Autorin nicht ein. R. Hamann u. J. Hermand, Stilkunst um 1900, S. 397. Es muß der Einzelanalyse vorbehalten bleiben, festzustellen, inwieweit dieses Motiv ausschlaggebend war für den Wechsel vieler Maler und Kunstgewerbler zur Architektur. Zu Peter Behrens vgl. 2.4, zu Paul Schultze-Naumburg 4.6.2. Ζ. B. sah er Ansätze für diese Verbindung im Wettbewerb um das Hamburger Bismarckdenkmal, ein „riesenhaftes S y m b o l des neuen deutschen Geistes . . der sich zur W e l t Macht und zur W e l t - K u l t u r berufen glaubt". „Zeitgemäße Betrachtungen zum Hamburger Wettbewerb", in: Deutsche Kunst und Dekoration, 10 (1902), S. 347-362, hier S. 351. Hervorhebungen von G. Fuchs.

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etwa die Angst vor dem Zerfall eines ungeistigen, bloß durch die äußerliche Macht von Militär und Kapital zusammengehaltenen Reiches? — Ist der Hochmut gerechtfertigt, mit dem Sprecher der Nietzsche-Gemeinde ihre Distanz zu der gewöhnlichen Denkmalflut des „Wilhelminismus" hervorkehrten? Bedeuten die Formgebungen Schumachers und van de Veldes 1 0 2 eine Alternative zu den von offizieller Seite betriebenen „Nationaldenkmälern"? Besonders auffällig ist hier die Nähe zu den zahlreichen Bismarcktürmen von Wilhelm Kreis. 1 0 3 — Haben die Ideen zu Nietzsche-Monumenten über ihre Zeit hinaus Architekten wie Walter Gropius oder Erich Mendelsohn bei deren Wiederaufnahme des Denkmalgedankens beeinflußt? Welchen Platz behaupten die Beiträge der Nietzsche-Gemeinde; waren sie Vorbilder oder Nachzügler im Vergleich zu anderen eigenständigen Monumenten der Zeit? Der gut dokumentierte Streit um Fritz Klimschs Berliner Virchow-Denkmal wird hier Aufschluß geben. U m MißVerständnissen vorzubeugen: die Hervorhebung architektonischmonumentaler Formen im Nietzsche-Kult nach 1900 stellt nur eine Akzentsetzung dar, eine Grundorientierung, mit deren Hilfe man viele der zuerst extrem individuell erscheinenden Arbeiten von Nietzsche-Verehrern unter neuen Gesichtspunkten vergleichen und zusammenfassen kann. 1 0 4 Die Vorliebe für feierliche und hierarchische Darstellungen dehnte sich im Laufe der Zeit auf alle Gattungen des Nietzsche-Kultes aus. Die Abneigung gegen Naturalismus und Impressionismus ist in den Fällen einleuchtend, in denen sich der Kult wie in van de Veldes Prachtausgaben des Ecce Homo und des Zarathustra (beide 1908) selbst ein Denkmal setzte. 1 0 5 Grotesk und maniriert mutet es dagegen an, wenn Alfred Soder für das intime Genre des Exlibris Nietzsche nackt ins Hochgebirge entrückt. 1 0 6 Max Klingers Schlüsselrolle für die Festigung des „heroischen" Nietzsche-Typus verdient besondere Aufmerksamkeit (vgl. 4.4.1). Gerade an Eckpunkten des Nietzsche-Mythos ist Klingers Vorbild spürbar, so in Münchs Porträts des Zarathustra-Dichters von 1906 oder in der Klinger herausfordernden Gipsherme des jungen Dix von 1912. Den letzten Ausläufer dieses ImpulVgl. Abb. 7 und 2 7 - 2 9 . Man kann geradezu von einer Austauschbarkeit der Entwürfe von Kreis zum Hamburger Bismarckdenkmal (1902) und den Plänen van de Veldes für Weimar (1910—13) sprechen. Vgl. dazu 4.5. 1 0 4 Ein Beispiel bietet Max Klinger mit seiner Nietzsche-Herme für das umgestaltete Archiv (1903). Er, der in seiner früheren Kunst gern Improvisationen Spielraum gab, „ . . . zieht es vor, sich nach van de Velde zu richten", d. h. sich dem architektonischen Konzept der Versammlungsstätte der Nietzscheaner unterzuordnen. Harry Graf Kessler an Elisabeth FörsterNietzsche in einem Brief vom 6 . 4 . 1902; Weimar, N F G (GSA) 72/121 d. ios Vgl. zu diesen exklusiven Glanzpunkten der Buchkunst, die quasi mit dem Anspruch von Bibeln für das 20. Jh. auftraten, Abschnitt 4.3 und Abb. 2 5 - 2 6 . 1 0 6 Vgl. Abb. 24. 102 103

Aktualität und Aufbau der Arbeit

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ses der Jahrhundertwende markiert Josef Thoraks neobarocker Nietzsche von 1944, so zeitfremd wie die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Philosophen im Spätherbst desselben Jahres. Dieser Epilog zum Nietzsche-Kult der Jahrhundertwende verschafft der Untersuchung alles andere als einen besinnlichen Ausklang, läßt er doch die schon um 1900 angelegten Konflikte aus dem Abstand einer Generation um so deutlicher rekonstruieren. Denn vieles, was vor der Erschütterung des Ersten Weltkrieges durch die gemeinsame Begeisterung der Nietzscheaner übertönt wurde, trat danach in aller Schärfe als Parteienzwist nicht nur in der Künstlerschaft hervor. Jetzt — in den zwanziger und dreißiger Jahren — wurde die Sympathie für Nietzsche in weiten Kreisen der künstlerischen Avantgarde endgültig unvereinbar mit der Mythenbildung des Archivs. Die in Kunstwerken schwer faßbare Ausstrahlungskraft des Philosophen für Expressionisten, Futuristen oder Dadaisten kann im Rahmen dieser Arbeit nur anhand weniger Äußerungen von Künstlern demonstriert werden, als Kontrast zur starren Panegyrik des Kreises um Elisabeth Förster-Nietzsche. Spätestens mit dem November 1918 war der Gedanke, in der bildenden Kunst Denkmäler „zu einer Mythologie des letzten großen Deutschen" 107 aufzurichten, ein Refugium für den Umkreis der „Konservativen Revolution" 1 0 8 geworden. Nur noch wenige Künstler von internationalem Rang griffen Nietzsche-Zarathustra-Thematiken auf, zumeist als persönliches Bekenntnis ohne den autoritativen Anspruch des Archivs. 109 Die Schlußphase der Weimarer Aktivitäten manifestierte sich in den Jahren nach 1933 durch ideologische und ikonographische Programme für eine Nietzsche-Gedächtnishalle. Trotz offizieller Unterstüzung kam dieser Versammlungs- und Kultbau in der Nachbarschaft der alten Archiwilla nur schleppend in Gang. Die Unsicherheiten des Architekten Paul SchultzeNaumburg und seines Plastikers Fritz Müller-Camphausen sind für den Kunsthistoriker besonders aufschlußreich, erscheinen sie doch als symptomatisch für das Epigonale dieses letzten Anlaufs zu einem Nietzsche-Monument. Außerdem illustrieren die Fraktionskämpfe 110 bei der Auftragsvergabe für das zentrale Monument der Halle die wachsende Ratlosigkeit der NietzscheE. Bertram, Nietzsche, S. 7. ios Vgl. Armin Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918—1932. Ein Handbuch, Darmstadt, 2 1972. 1932 beklagte Harry Graf Kessler die provinzielle Kleinbürgerlichkeit der damaligen Nietzscheaner mit den Worten: „Man möchte weinen, wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv gekommen sind." Tagebücher 1918—1937, Frankfurt, 1961, S. 682. 1 0 9 Ζ. B. Alfred Kubin in seinen Porträts „Der Rebell" (ca. 1920) und „Nietzsche-Säule" (1921). Vgl. dazu 4.6.1.2. 1 1 0 So intrigierten Schultze-Naumburg und Müller-Camphausen (vgl. Abb. 40) gegen ein Zarathustra-Modell Georg Kolbes (vgl. Abb. 36), das Richard Oehler innerhalb des Vorstandes der Stiftung „Nietzsche-Archiv" favorisierte. Vgl. Weimar, NFG (GSA) 72/2613 - 2 . 107

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Einleitung

aner in der bildlichen Artikulierung ihrer Ziele. Ebenso liegt es nahe, eine Bestätigung dieser Ausgangsthese des vierten Kapitels in der Stiftung einer antiken Dionysosstatue durch Benito Mussolini zum 100. Geburtstag seines Vorbildes zu sehen. Der Rückzug auf die Autorität des Götterbildes war eine Verlegenheitslösung in letzter Minute. Zusammen mit den anderen nach 1933 auf die Spitze getriebenen Widersprüchen des Nietzsche-Kultes gibt sie Anlaß, die Deduktion der Krise und des Scheiterns der „Nietzscheana" nicht nur in der Geschichte der Kunstformen zu suchen. Wie sollte die Nietzsche-Bewegung in Kunstwerken Ideale vermitteln, die inhaltlich voller Konflikte steckten? Wie ließ sich überhaupt der extreme Individualismus Zarathustra-Nietzsches mit dem Anspruch eines Mythenstifters vereinbaren, von dem die Grundlagen für eine neue Gemeinschaft erhofft wurden? Als man schließlich die einsamen Botschaften des Philosophen statt an die kleine „Elite" der Nietzsche-Gemeinde an die „Volksgemeinschaft" adressierte, häuften sich die Schwierigkeiten, verbindliche Leitbilder in der Kunst zu gestalten. Erst nach dem Vergleich vieler Kunstwerke wird eine zusammenfassende Einschätzung der inhaltlichen und formalen Problematik des Nietzsche-Kultes in einem kurzen Abschlußkapitel möglich. Zwei Anhänge erleichtern die schnelle Orientierung über den Beitrag einzelner Künstler zum Nietzsche-Kult: — In einer Ubersicht aller ermittelten Nietzsche-Porträts und Thematiken findet man die biographischen und technischen Daten, daneben Verweise auf die im Text ausführlich behandelten Kunstwerke. — Ein Fototeil unterstreicht auch optisch den wichtigen Beitrag der bildenden Kunst bei der Popularisierung Nietzsches. Die chronologische Anordnung erlaubt es, prominente mit unveröffentlichten „Nietzscheana" der gleichen Rezeptionsphase zu konfrontieren.

1.2 Die bisherigen Ansätze zu einer

Nietzsche-Ikonographie

Eine Rückwendung zu den primären Aufgaben des Kunsthistorikers als Sammler und Ordner von Kunstwerken bedeutet nicht den Verlust der Perspektivenvielfalt, die in den einleitenden Überlegungen angestrebt wurde. Nur wäre es illusorisch, alle Aspekte der künstlerischen Repräsentanz des Nietzsche-Kultes gleichzeitig weiterverfolgen zu wollen. Gemeinsam mit den Proben von Rede und Gegenrede aus beiden Lagern der Nietzsche-Rezipienten dienten die wechselnden, teils provozierenden Fragestellungen der Einstimmung in die kämpferfüllte Atmosphäre der Jahrhundertwende.

Die bisherigen Ansätze zu einer Nietzsche-Ikonographie

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Der erste Schritt darüber hinaus verlangt eine möglichst genaue ikonographische und historische Fixierung der „Nietzscheana". Welche Anknüpfungspunkte bieten die Vorbereitungen des Archivs zu einer Gesamtikonographie? Zur Beantwortung dieser Frage werden die Chronologie und der Abbruch des Projektes detailliert nachgezeichnet, ergänzt durch einen Kommentar zu den wenigen, zusammenfassenden Berichten über Kunstwerke der Nietzsche-Bewegung. Gerade bei der Lückenhaftigkeit der Rezeptionsforschung gewinnt jede Quelle an Gewicht, die neue Kriterien für das Erkennen von „Nietzscheana" verspricht, um deren Kreis über Porträts, Denkmäler und Werk-Illustrationen hinaus auszudehnen. Dieser Vorschlag zur Abgrenzung des kunsthistorischen Materials bleibt also einstweilen ein Vorschlag. Er muß sich vom Selbstverständnis und den alten Propagandainteressen der Weimarer Nietzsche-Gemeinde distanzieren und sich gleichzeitig gegenüber anders ausgerichteten Ikonographiemodellen bewähren. Erst anhand dieser weiter- oder engergefaßten Arbeitsweisen kann die eigene Perspektive endgültig formuliert werden. 1 1 1 Schon bald nach seiner Entdeckung war der Philosoph in Akademikerkreisen als „Künstler" 1 1 2 dem „Idealismus der neuzeitlichen Strömung" zugeschlagen worden, „der sich im Werke Wagners, Nietzsches und Böcklins ausspricht. . . , " 1 1 3 Allerdings blieb es bei dem unbestimmten Gefühl einer Konvergenz von moderner Musik, Literatur und Kunst, wenn man etwa Klinger bescheinigte, „unabhängig von Nietzsche Promethidengestalten gebildet" zu haben. 114 Trotzdem werden diese typischen Assoziationen als Dokumente von Zeitgenossen wertvoll, zum Beispiel für ein Urteil über Nietzsches Vorbildfunktion in der vielzitierten „Uberwindung des Naturalismus". 115 Einen direkteren Weg von Nietzsche zu den bildenden Künsten suchte zuerst Arthur Seidl in seinem Vortrag über „Nietzsche-Bildwerke (1901/ 2 ) " . 1 1 6 Statt Berühmtheiten wie Arnold Böcklin und Fernand Khnopff in einem Atemzug mit Nietzsche zu nennen, beschränkte sich Seidl darauf, einleitend die ihm „bekannt gewordenen mechanischen Vervielfältigungen von

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Dies geschieht in Abschnitt 1.3, nachdem Projekte mit ähnlichem kunsthistorischem Ausgangsmaterial, aber anderer Zielsetzung herangezogen wurden, so ζ. B. Martin Geck, Die Bildnisse Richard Wagners. (Studien zur Kunst des 19.Jhs., Bd. 9), München, 1971. Hans Landsberg, Friedrieb Nietzsche und die deutsche Litteratur, Leipzig, 1902, S. 11. Ebd., S. 134. Ebd., S. 50. So der Titel einer Kampfschrift Hermann Bahrs, Dresden und Leipzig, 1891; vgl. dazu Abschn. 2.3.2. Abgedruckt in: ders., Kunst und Kultur. Aus derZeit — für die Zeit — wider die Zeit! Produktive Kritik in Vorträgen, Essais, Studien, Berlin u. Leipzig, 1902, S. 380—400 (INB, Nr. 2968). Eine Zusammenfassung des Vortrags im Münchener Akademischen Verein für bildende Kunst brachte die Allgemeine Zeitung, München, Beilage zu Nr. 140 (1902), S. 535.

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Einleitung

Wirklichkeits-Abnahmen" (d.h. die Nietzsche-Fotos!) zu sammeln, um auf dieser Grundlage seinem „eigentlichen Thema", „den persönlichen Kunstwerken' als solchen und deren mehr oder minder gelungener Wiedergabe des Typs" näherzukommen. 117 Kurz nach dem Tode des Philosophen war es verständlich, daß der Nietzscheaner Seidl mit dem Maßstab der Wirklichkeitstreue an Plastiken, Gemälde und Graphiken herantrat. Gleichzeitig enthält seine Sammlung und Chronologie — gut 40 Fotos einschließlich der Totenmaske als „rein mechanischer Abdruck", 1 1 8 dazu 19 Kunstwerke aus den Jahren 1894 — 1901 — kritische Anmerkungen zur Kommerzialisierung des Nietzsche-Kultes, zum Versagen einzelner Künstler und zu Vorurteilen innerhalb der Nietzsche-Gemeinde. Auf diesen Informationen wird in den Teilen der Arbeit aufgebaut, die Kunstwerke der 90er Jahre behandeln, als Nietzsche der „Märtyrer" der Weimarer Bewegung wurde. Seidl war zwar Nietzscheaner, aber kein blinder Gefolgsmann Elisabeth Förster-Nietzsches. Seine Ungebundenheit hatte „der Feuilletonredakteur und nachmalige Dramaturg und Dozent für Musikgeschichte, Literatur und Ästhetik" 1 1 9 bewiesen, indem er 1898/99 seine publizistische Tätigkeit aus dem Bannkreis des Hauses Wahnfried zur Villa „Silberblick" verlegte. Als Herausgeber des Nietzsche-Nachlasses hatte er Zugang zu wichtigen Quellen, wie zu den Kunstwerken, die die Schwester des Philosophen schon damals im noch nicht zur Kultstätte umgebauten Archiv aufgestellt hatte. Seine persönlichen Kontakte mit Künstlern der Nietzsche-Bewegung — Seidl erwähnt Max Kruse und Sascha Schneider — sprechen für die Autorität seiner Aussagen. Vorerst kann nur ein Beispiel Seidls Weitblick illustrieren. Am Ende seiner Ausführungen, in denen er nur die Bildwerke Curt Stoevings, Arnold Kramers, Max Kruses und Hans Oldes ausführlicher gewürdigt hatte, eröffnete Seidl seinen Zuhörern schon 1902 die Perspektive eines a r c h i t e k t o n i s c h e n Nietzsche-Monumentes ohne jegliche „Vorführung der körperlichen Erscheinung Nietzsches." 1 2 0 Dem Redner erschien ein Baudenkmal in der Art des Tempelentwurfs von Schumacher vielversprechend für eine Denkmalkampagne „auf eigene Faust" 1 2 1 , ohne „irgendwelche autoritative Vollmacht" (aus 117 118 119

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A. Seidl, Kunst und Kultur, S. 381. Ebd., S. 385. Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster, 1971, S. 149. 1901, während der Entstehung des Nietzsche-Vortrags, hatte Seidl als neuer Herausgeber der Gesellschaft es abgelehnt, aus seiner Zeitschrift „ein förmliches Organ des Nietzsche-Archivs und für die Nietzsche-Forschung . . . zu machen." Brief an E. FörsterNietzsche vom 2 3 . 4 . 1901. Weimar, N F G (GSA) 72/615. A. Seidl, Kunst und Kultur, Ebd., S. 400.

S. 398.

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der Villa „Silberblick"). 1 2 2 Daß Seidl gleichzeitig eine Spendenaktion für Elisabeth Förster-Nietzsche inaugurierte, um das wissenschaftliche Archiv durch ein „Nietzsche-Museum", „gleichsam als künstlerische Kultstätte" 1 2 3 , zu ergänzen, läßt Zweifel an einem Alleingang des Redners aufkommen. 124 Offenbar in Kenntnis des Seidischen Modells plante Erich Klossowski 1903 eine „kleine Nietzsche-Ikonographie für eine polnische Kunstzeitschrift", um das „Bild des Philosophen zu rekonstruieren", wobei er neben Fotos an eine Wiedergabe von Arbeiten Stoevings, Kruses und Oldes, daneben an die neue Büste Klingers dachte. 125 Es ging Klossowski also wie Seidl in erster Linie um Authentizität, zu der er Verwandte und Bekannte des Verstorbenen konsultieren wollte. Anders als die Ikonographie Seidls entstand die Schrift Paul Kühns, die zweite wichtige Äußerung über Kunstwerke der Nietzsche-Bewegung, eindeutig in Verabredung mit Elisabeth Förster-Nietzsche. 1 2 6 Es handelte sich hier um die verspätete, inoffizielle Weiheschrift der Nietzscheaner zur Eröffnung der neuen Archivräume, die am 15. Oktober 1903 — dem 59. Geburtstag des Philosophen — feierlich übergeben worden waren. Kühn verfaßte einen entsprechend aufwendigen Essay über die „Organisation der Nietzsche-Gemeinde in ihrem natürlichen Mittelpunkt" 1 2 7 und dessen künstlerisch adäquaten Stil. Dabei besaß der Autor „nur den einen Wunsch, etwas zu schreiben, was Ihnen [Elisabeth Förster-Nietzsche] als gut erscheint." 1 2 8 Für ein Manifest zur kulturellen Mission des Archivs war Kühn als Bibliothekar an der Universität Leipzig und Verfasser von Elogen auf Max Klinger geradezu prädestiniert. 129 Außerdem hatte er sich schon einige Jahre früher begeistert zum Nietzsche-Monument Schumachers geäußert. 130 Die Zuversicht, daß das „Haus auf jenem Hügel über Weimar das Wahrzeichen, das Denkmal und Symbol einer neuen Kultur werden" 1 3 1 könnte, schöpfte der Autor aus der Identität zwischen den weitgespannten Hoffnun122

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Ebd., S. 399. Allgemeine Zeitung, 1902, S. 535. Im Nachlaß E. Förster-Nietzsches fand sich allerdings kein Hinweis auf eine Absprache zwischen ihr und Seidl. - Der Gedanke an ein „Museum" hätte Nietzsche selbst entsetzt. In einem Brief an E. Förster-Nietzsche vom 13. 12. 1903. Weimar, NFG (GSA) 72/122m. Das Nietzsche-Archiv zu Weimar. (Kochs Monographien. Bd. 3), Darmstadt, 1904 ( I N B . Nr. 2281). Ebd., S. 1. Zu seinen Hoffnungen auf eine vom „Neuen Weimar" ausgehende Kultur, vgl. 3.2.1. Brief an E. Förster-Nietzsche vom 29. 5. 1903. Weimar, NFG (GSA) 72/122e. Auch in späteren Jahren sah Kühn den Gipfel der kulturellen Entwicklung Weimars im Nietzsche-Archiv. Vgl. Weimar. (Stätten der Kultur. Bd. 13), Leipzig, o. J. (1908). „Atelier-Nachrichten. Fritz Schumacher", in: Deutsche Kunst und Dekoration, 5 (1900), S. 222-227. P. Kühn, Das Nietzsche-Archiv, S. 10.

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gen Nietzsches und ihren Wegbereitern in der „Moderne": Henry van de Velde und Max Klinger. Diese Bevorzugung zweier prominenter Künstler und ihrer Werke als stilbildend für die Nietzsche-Gemeinde verlangt eine detaillierte Nachprüfung. 132 Nur beiläufig zählte Kühn die „Nietzscheana" der übrigen Künstler auf, ohne Seidls Anspruch auf Vollständigkeit. Unerwartete Schwierigkeiten verzögerten das Erscheinen der ersten Manifestation der Nietzscheaner in der Kunstwelt. Nachdem die Dekorative Kunst in München ein Sonderheft für das Nietzsche-Archiv verweigert hatte, glaubte Kühn „die Idee einer Zeitschriftenpublication aufgeben [zu] müssen." 1 3 3 Endlich brachte man den Text beim Verlag Alexander Koch in Darmstadt unter, ausgerechnet in jener Stadt, über deren konkurrierende Aktivitäten van de Velde und Graf Kessler „vollkommen degoutiert" waren. 1 3 4 Dreißig Jahre vergingen, ehe ein neuer, in mehrfacher Hinsicht erstaunlicher Beitrag über Kunstwerke der Nietzsche-Bewegung zustande kam. Die Titelseite des zweiten Oktoberheftes 1934 der Berliner Κunst der Nation nahm eine Abbildung der Nietzsche-Herme von Otto Dix ein, der man diesen Ehrenplatz in einem Artikel „ F . Pauls" — Paul Ferdinand Schmidts — über „Nietzsche-Bildnisse" anläßlich des 90. Geburtstages des Philosophen eingeräumt hatte. Neben Dix wurden darin Münchs bis dahin wenig bekannte Nietzsche-Interpretationen gefeiert, außerdem die Porträts von Olde, Kruse und Alexander Zschokke wohlwollend erwähnt. Abgesehen von einigen Ungenauigkeiten 135 beweisen Auswahl und Kritik der „Nietzscheana" durch P. F. Schmidt viel Gespür und auch Mut, bedenkt man die Zeitumstände. Die Kunst der Nation war vom Herbst 1933 bis zu ihrem Verbot 1935 das Organ einer ,,zweite[n] Oppositionswelle" 136 gegen die Kunstdoktrin aus dem „Kampfbund für deutsche Kultur", wie Alfred Rosenberg und Paul SchultzeNaumburg sie propagierten. Im Zusammenhang mit der Diskussion von Nietzsche-Tempelprojekten und ihrer sozialen Funktion nach 1933 erhält der Standpunkt dieser nach Hildegard Brenner „ausgezeichnet redigierten Zeitschrift" 1 3 7 besondere Geltung. Man wird zu Recht in der hinter ihr stehenden „antiphiliströsen" Fraktion der Nationalsozialisten auch den Teil der Nietz132

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Zumal van de Velde selbst die Festschrift nicht ausstattete und sie ablehnte, worüber Kühn in einem Brief an E. Förster-Nietzsche vom 19. 3. 1904 in Empörung geriet. Weimar, N F G (GSA) 72/123 c. Brief an van de Velde vom 1 7 . 6 . 1903. Weimar, N F G (GSA) 72/122Í. So eine Tagebucheintragung Kesslers von 1901, mitgeteilt in: Henry van de Velde, Geschichte meines Lebens, München, 1962, S. 488. Vgl. dazu 3.1.3. In der selben Reihe wie die Weimarer Festschrift erschien Ein Dokument deutscher Kunst. Die Ausstellung der Darmstädter Kiinstler-Kolonie. (Kochs Monographien. Bd. 7), o. J. Munch malte Nietzsche nicht 1899/1900, sondern erst posthum 1906; die Gipsherme von Dix wurde versehentlich auf 1919 statt 1912 datiert. Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek, 1963, S. 72. Ebd., S. 73.

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scheaner vermuten, der statt einer Wiederbelebung der Heimatkunst der Jahrhundertwende im Sinne Schultze-Naumburgs einer „Erziehung zur Stadt" und einer „Fortsetzung des Expressionismus" offenstand.138 Für unmittelbar vom Archiv betriebene Vorarbeiten zu einer NietzscheIkonographie fand sich ein erster Hinweis in einem Brief Oswald Spenglers an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 20. 8. 1925. 139 Der prominente Nietzscheaner erkundigte sich darin nach den „Arbeiten an der Ikonographie", die „Sie [Elisabeth Förster-Nietzsche] nicht hat ruhen lassen, bis Sie das Buch ebenso glücklich zu Ende gebracht haben wie das vorige über die Autobiographie Ihres Bruders." Ein Jahr später mahnte er: „Sie hatten uns für die nächste Zeit die Ikonographie versprochen."140 Offensichtlich mußte die 1926 achtzigjährige Elisabeth Förster-Nietzsche die Idee einer Gesamtikonographie aufgeben oder zugunsten dringenderer Sorgen — 1930 lief die Urheberschutzfrist für die Werke ihres Bruders ab — zurückstellen. Mit den Worten: „Es ging nie, war niemand da, der es machen konnte, Frau Förster-Nietzsche wollte nie recht ran", resümierte Richard Oehler 1941 den nahezu unveränderten Stand des Projektes, als er mit dem Vorschlag, „diese Veröffentlichung als Hauptwerk aus dem Nietzsche-Archiv zu Nietzsches 100. Geburtstag 1944 zu bringen", an den Insel-Verlag in Leipzig herantrat.141 Dessen langjährigem Leiter, Anton Kippenberg, war der Wunsch nach einer Ikonographie altbekannt, und er stimmte sofort zu, wobei ihm die Parallele zur Insel-Publikation über Goethe und seine Welt besonders glücklich erschien.142 Die Bearbeitung des Bildmaterials wollten sich Richard und Max Oehler, zwei Neffen Elisabeth Förster-Nietzsches und Vorstandsmitglieder der Stiftung Nietzsche-Archiv, teilen. Den Dessauer Schriftsteller Kurt Liebmann beauftragten sie zusätzlich mit dem Bereich der „künstlerischen Darstellungen Nietzsches in Malerei, Plastik usw." 143 Liebmann, ein exaltierter Nietzscheaner,144 war zu diesem Zeitpunkt gerade durch einen Artikel: „Wie sah Nietzsche aus?" in der Wochenzeitung Das Reich hervorgetreten.145 Ohne Hinweis auf die Bemühungen Seidls von 1902 gibt sich der Beitrag als erster Versuch „an Hand der wesentlichsten FoSo die Leitartikel der Kunst der Nation vom 15. 1. bzw. 1. 4. 1934. Weimar, N F G (GSA) 72/625. 1 4 0 Brief vom 3. 11. 1926. Ebd. 1 4 1 Brief vom 14. 10. 1941. Abschrift in Weimar, N F G (GSA) 72/2458 a. 1 4 2 Hrsg. von Hans Wahl u. A . Kippenberg, Leipzig, 1932. Vgl. Brief an R . Oehler vom 28. 10. 1941. Abschrift in Weimar, ebd. 143 Jahresbericht für 1941 der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar, 1942, S. 6, unter d) Verlagsprojekte. 144 vgl. ζ. B. „Nietzsche als Führer. Ein Lebensruf", in: Nietzsches Wirkung und Erbe, Hrsg. von Karl Rauch, Berlin, 1930, S. 7—9. „Leben und Werk Nietzsches sind nach Christus das zweite große Opfer für den Menschen." S. 7. 1 4 5 Jg. 1941, N r . 40, 5. Oktober, S. 13. 138 139

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tografien Nietzsches Wirklichkeitsbild entwicklungsmäßig und stufenweise wiederherzustellen." Von den Kunstwerken hob er die Oldes und Klingers hervor, deren Synthese das zeitgemäße Nietzsche-Bild formen sollte. Wie schon Seidl und Klossowski wollte Liebmann Nietzsche „vermenschlichen" und legte deshalb den Akzent auf die Fotografien. Ursprünglich hatte dem Verfasser ein anderes Ziel vorgeschwebt, denn im Juli 1941 wandte er sich wie folgt an Max Oehler, den Archivar und Betreuer der Weimarer Nietzsche-Kunstwerke: Mich bewegt schon seit Jahren das Thema ,Nietzsche im Bild', d.h. ich möchte einmal im Zusammenhang mit den entsprechenden Bildern über alle künstlerischen Gestaltungen [hier Anmerkung Oehlers: —? das sind 25—30!] der Persönlichkeit Nietzsches berichten. Dies wäre nicht nur ein wichtiger Beitrag für die Kunst . . . und seine [Nietzsches] Wirkung auf die jeweiligen Künstler der Zeit. . . . Ein solcher Aufsatz könnte der Auftakt zu einer späteren Buchveröffentlichung sein, die dann zweifellos eine Lücke ausfüllen würde. 1 4 6

Nach einem Besuch des Archivs war Liebmann voller Tatendrang: „Die Ikonographie, ja verehrter Herr Major [Max Oehler], das Planen muß ein Ende haben." 1 4 7 Sein Enthusiasmus wurde vermutlich der Auslöser für die Idee, das alte Vorhaben einer Ikonographie erneut dem Insel-Verlag anzutragen. Im November 1941 begann ein „Gründliches Sichten und Ordnen des gesamten Bildmaterials des Nietzsche-Archivs", und ein „Entwurf der Einteilung der Ikonographie" zeichnete sich ab. 1 4 8 Danach war eine Gliederung in Fotografien Nietzsches, seiner Angehörigen und Vorfahren, seiner Freunde, von Orten und Landschaften geplant. Den Schlußpunkt bildeten Fotografien von Kunstwerken. In einem „Verzeichnis der in Mappen geordneten Bilder" 1 4 9 finden sich vergleichsweise wenige Werke der bildenden Kunst, allerdings die Porträts von Otto Dix und Edvard Munch. Dieser Umstand wie das Fehlen von Hinweisen auf die ersten, wichtigen „Nietzscheana" des Pan oder die Arbeiten von Alfred Kubin sprechen für eine zufällige, aber im Prinzip undogmatische Sammeltätigkeit des Archivs. Für die nicht am Ort im Original vorhandenen Bildnisse Nietzsches war man auf Informationen von Künstlern und Kunstfreunden angewiesen, die Fotos ihrer „Nietzscheana" an Elisabeth Förster-Nietzsche oder später an Max Oehler schickten. Ungeachtet der schwierigen Materialbeschaffung nahm das Werk 1942 seinen Fortgang und wurde unter den „zur Zeit schwebenden Verlagsprojekten" genannt. 150 146 147 148

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Brief vom 1 8 . 7 . 1941. Weimar, N F G (GSA) 72/1792. Brief vom 31. 8. 1941. Ebd. M . Oehlers Notizen in: „Auszüge aus den Geschäftstagebüchern 1941—45", Weimar, N F G (GSA) 72/1599. Undatierte Liste, ca. 1942, Weimar, N F G (GSA) 72/2458 a. Eintragung M . Oehlers vom August 1942 in „Auszüge aus den Geschäftstagebüchern 1 9 4 1 - 4 5 " , Weimar, N F G (GSA) 72/1599.

Die bisherigen Ansätze zu einer Nietzsche-Ikonographie

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Immer mehr trat jedoch der Gedanke in den Vordergrund, im Jubiläumsjahr 1944 in Zusammenarbeit mit dem Propagandaministerium ein monumentales „Prachtwerk" 1 5 1 herauszugeben. Schließlich enthält eine Aufstellung der „in Arbeit befindlichen Veröffentlichungen" vom Juli 1944 keinerlei Mitteilungen mehr über den Stand des Ikonographieprojektes. 152 Auch ein abschließender Briefwechsel zwischen Kurt Liebmann und dem Archiv behandelt andere Probleme. 153 Unmittelbare Auswirkungen des Krieges kann man für das Scheitern des Projektes nicht verantwortlich machen, denn der Bestand an originalen Nietzsche-Kunstwerken, Fotos und Archivalien blieb mitsamt den Gebäuden vor Verlusten bewahrt. Man hatte die wissenschaftlich-nüchterne Kleinarbeit an einer Ikonographie offensichtlich dem Prestigeunternehmen einer Monumentalausgabe der Schriften Nietzsches geopfert. Das Goethe- und Schiller-Archiv folgte nach dem Krieg als neuer Betreuer der Archivalien bei der Anordnung des Bestandes „Nietzsche-Ikonographie" der vom Insel-Verlag konzipierten Einteilung des Abbildungsmaterials. Den Originalfotografien Nietzsches und seiner Umwelt schließt sich die zur Zeit rund 50 Nummern umfassende Abteilung der Reproduktionen künstlerischer Darstellungen an. In ihr wechseln Fotos nach Kunstwerken aus dem Besitz des ehemaligen Nietzsche-Archivs mit teilweise verschollenen Porträts des Philosophen, ergänzt durch einige Graphiken und Handzeichnungen. Das Archivinventar an Möbeln, Gemälden und Plastiken, sowie einen Teil der größeren graphischen Blätter bewahrt heute das Goethe-Nationalmuseum in seinem Weimarer Depot. Neuerwerbungen vervollständigen die Sammlung der Kunstwerke. Die Kenntnis dieser Bestände war vor allem in den Fällen unerläßlich, in denen unbekannte, sonst nirgendwo dokumentierte Künstler dem Archiv ihre Arbeiten verkauft oder geschenkt hatten; denn gerade diese Werke charakterisieren oft am eindringlichsten die Tendenzen des Nietzsche-Kultes. Mit den Briefen und Akten aus dem ehemaligen Nietzsche-Archiv ist im Goethe- und Schiller-Archiv eine weitere Quelle vorhanden, die größtenteils dem persönlichen Nachlaß Elisabeth Förster-Nietzsches entstammt. Allein die über 40.000 Briefe, die unter anderem so bedeutende Persönlichkeiten wie Harry Graf Kessler oder André Gide seit 1893 an das Archiv geschrieben hatten, bilden eine überwältigende Fülle von Informationen. Sie wurden der vorliegenden Untersuchung so weit wie möglich zugrunde gelegt.

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Ebd. Eintragung M. Oehlers vom Juli 1944. Ebd. Eintragung M. Oehlers vom Februar/März 1945. Ebd.

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1.3 Einige Anmerkungen zum historischen und ikonographischen Rahmen Nachdem die Fragmente zu einer Nietzsche-Gesamtikonographie als wertvolle Anregungen eingebracht wurden, aber nicht als verbindliche Modelle: — „Wie sah Nietzsche aus?", „Nietzsche und seine Welt" — übernommen werden können, bleibt die Frage nach dem Erfolg abweichender Ikonographiemuster. Die bisher erstrebte Akzentuierung des Nietzsche-Kultes, seiner Soziologie und seines Widerhalls in der Kunst, gilt dabei weiterhin als Leitlinie. Auf einige historische und ikonographische „Grenzfälle" des Materials, deren Diskussion die Einleitung in Aktualität und Aufbau der Arbeit gesprengt hätte, soll hier näher eingegangen werden. Drei Probleme und ihre unterschiedliche Beurteilung durch die Kunsthistoriker helfen, eine im Falle Nietzsches besonders strittige Abgrenzung seiner Spuren in der bildenden Kunst vorzunehmen: — Welche Rolle muß man den Fotografien des 19. Jahrhunderts beimessen, die gerade in letzter Zeit die Anerkennung des Faches gefunden haben? — Welcher Zeitraum wird hier unter „Jahrhundertwende" verstanden, und warum werden einzelne Künstler darüber hinaus bis in die 40er Jahre verfolgt? — Wie weit darf eine Arbeit, die auch Illustrationen des Nietzsche-Werkes mit einbezieht, sich in die weitverzweigte „Gedankenmalerei" der Stilkunst um 1900 verlieren? In frappierender Weise enthüllte vor einigen Jahren die Münchener Ausstellung „Malerei nach Fotografie" die Abhängigkeit vieler Porträtisten des späten 19. Jahrhunderts von ihren Fotostudien. 154 Erstmalig konfrontierte sie auch Hans Oldes Fotoserie des kranken Nietzsche mit den entsprechenden Kohlezeichnungen, Radierungen und Gemälden des Künstlers. 155 Nach dieser Neubewertung der Fotografie erhebt sich die Frage, ob ein „unbefangenes Einbeziehen der Fotos in die kunsthistorische Forschung" 156 sinnvoll ist, wie es zum Beispiel Martin Geck für die Bildnisse Richard Wagners vorgeführt hat. Dabei bestand die Intention einer strengen Chronologie, Vollständigkeit und Authentizität der Porträts. Wagner selbst hatte das neue, Nähe verschaffende Medium Fotografie für die Popularisierung seiner Person erkannt, und es der Verbreitung von Büsten und Statuen vorgezogen. 157

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Vgl. dazu den Katalog des Münchener Stadtmuseums, München, 1970. Ebd., S. 120-124; Kat. Nr. 884-920. Zur Praxis Oldes vgl. auch H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 38-39 und 3.1.5.2. Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth im Vorwort zu M. Geck, Die Bildnisse Richard Wagners, S. 8. Vgl. ebd., S. 13.

Einige Anmerkungen zum historischen und ikonographischen Rahmen

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Der Außenseiter Nietzsche war frei von solcher Berechnung, als er seine Verwandten und den kleinen Freundeskreis mit Porträts bedachte. Der mangelnde Kunstcharakter dieser Produkte ist immer wieder bedauernd hervorgehoben worden: Sein Bild lebt in unserem Gedächtnis fort, wie Klinger es in seiner Bronze uns vorgefühlt, ja vorgeschrieben hat, und nicht etwa in der Nachbildung der Wirklichkeit, die Photographen und ihnen nachstammelnde Stahlstecher von dem Lebenden mit zahmer Bürgerlichkeit genommen haben. 1 5 8

In der Umgebung Nietzsches hatte es, wie an bildenden Künstlern, so auch an prominenten Fotografen gefehlt. Schon während der 90er Jahre empfanden seine Verehrer das Peinliche der banalen Fotoposen und Kostümierungen, die dem Geltungsdrang der Gründerzeit entsprachen.159 Durch ihre Untauglichkeit für das Kultbedürfnis der Jahrhundertwende sind die Fotos nur indirekt in dreierlei Weise wirksam geworden: — Oft bildeten die veröffentlichten Aufnahmen die einzige Vorlage für Künstler, die keinen Kontakt zu Elisabeth Förster-Nietzsche fanden oder ihn vermeiden wollten. — Befreundeten Porträtisten — zum Beispiel Olde, Klinger, Munch — lieh das Archiv dagegen reichlich Fotos als Studienmaterial aus. — Schließlich besaß Frau Förster-Nietzsche bestimmte Vorstellungen vom idealen Bildnistyp auf der Grundlage von Aufnahmen aus der sogenannten „Zarathustra-Zeit" ihres Bruders. 160 Für eine wirkungsgeschichtlich orientierte Arbeit verschmelzen die drei genannten Funktionen der Fotografien zu einem Aspekt: sie waren Vorbereitung bzw. Durchgangsstufe zum Nietzsche-Kult, den unzweifelhaft erst die künstlerischen Darstellungen geprägt haben. Ohne in eine Grundsatzdiskussion über Nutzen und Nachteil von Epochenbegriffen einzutreten, 161 muß kurz die Verwendung des Ausdrucks „Jahrhundertwende" überdacht werden, denn für den Zeitraum um 1900 sind konkurrierende Formeln wie „Bismarckreich", „Kaiserreich", „Wilhelminismus" in Gebrauch. Zwei dieser Begriffsbildungen werden beispielsweise in

F. Paul (d.i. P. F. Schmidt), „Nietzsche-Bildnisse", S. 1. Hier sei nur an das oft mißverstandene Foto aus Nietzsches Militärzeit (1868) erinnert, wo er dem Betrachter mit blanker Waffe entgegentritt. Abb. ζ. B. bei P. Pütz, Friedrich Nietzsche, auf der Rückseite des Einbandes. 1 6 0 Diese Fotos werden nach wie vor gern verbreitet, ζ. B. als Postkarte des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria: „Nietzsche zur Zarathustra-Zeit 1883". Vgl. dazu 3.1.6.1. lei Vgl. dazu Jost Hermand, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft. Methodische Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart, 2 1971. Darin besonders: S. 48—50, „Zur Kritik des geistesgeschichtlichen Epochenbegriffes". 158 159

38

Einleitung

dem von Hans-Joachim Schoeps herausgegebenen Sammelband über Das wilhelminische Zeitalter162 gegeneinandergestellt. Mit dem Beitrag „Zur Philosophie des Wilhelminischen Zeitalters" 163 befragte Hermann Noack die Gültigkeit dieser vom Herrschernamen abgeleiteten Bezeichnung. Der Autor gab darin zwar zu, daß der Regierungszeit Wilhelms II. (1888—1918) einheitliche Charakteristika fehlten, dehnte dann aber die Epoche des „Wilhelminismus" auf die gesamte Dauer des Hohenzollernreiches aus: ein „typisch wilhelminischefr] Zeitgeist" hätte dieses halbe Jahrhundert durchdrungen. 164 Es bleibt dahingestellt, ob eine Wortprägung nach dem Muster des „Friederizianischen" oder „Habsburgischen" die Vielfalt Deutschlands um 1900, eines modernen, pluralistischen Industriestaates, beschreiben kann. Karl Pfannkuch faßte seine Deutung des Geisteslebens um 1900 unter der Devise „Weltanschauung um die Jahrhundertwende" 1 6 5 zusammen. Er ließ diesen Zeitraum mit 1888 beginnen und mit 1913 enden. Wie zu allen Zeiten 166 stellten — nach Pfannkuch — in diesem Vierteljahrhundert die jeweils 40jährigen die führenden Gestalter der Epoche. Um 1900 waren sie die Träger der Stilerneuerung und des Nietzsche-Kultes. Alle markanten Eckdaten des zweiten deutschen Kaiserreiches — 1870/71, 1888, 1913/14, 1918 - bedeuteten zugleich Wendepunkte im Leben Nietzsches, bzw. in der Resonanz auf sein Werk; eine Analogie, die ihn als einen Hauptexponenten des Zeitalters kennzeichnet. Nachdem sich Nietzsche im Gefolge des Sieges über Frankreich als Kulturkritiker großen Formats erwiesen hatte, 167 äußerte er sich noch kurz vor seinem Zusammenbruch um die Jahreswende 1888/89 zu den ersten Regierungsschritten Wilhelms II. Zwischen diesem Zeitpunkt und dem Ersten Weltkrieg erreichte die Verkultung Nietzsches ihren Gipfel. Die damit begrenzte Epoche unter einem Titel wie „Nietzsche-Kult im Wilhelminismus" fassen zu wollen, wäre oberflächlich, impliziert er doch zu enge Assoziationen zwischen Nietzsche und dem preußisch-deutschen Staat. Siedelt man den Nietzsche-Kult dagegen in der „Jahrhundertwende" an, so kommt man dem Selbstverständnis der Nietzscheaner als kulturelle Erneuerer entgegen. Die Nähe zu positiv wertenden Formeln wie „Stilwende" und

162 163 164 165 166 167

Stuttgart, 1967. Ebd., S. 146-172. Ebd., S. 146. Ebd., S. 6 0 - 8 6 . Ebd., S. 80. Pfannkuch bezieht sich auf eine These Ortega y Gassets. Besonders wird dies in den ersten beiden Stücken der Unzeitgemäßen Betrachtungen: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller (1873) und Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) deutlich. Vgl. auch 2.2.2.

Einige Anmerkungen zum historischen und ikonographischen Rahmen

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„Aufbruch der Jugend um 1900" 1 6 8 stört nicht, solange diese von engagierten Zeitgenossen geprägten Begriffe hinterfragt werden. Zeitübergreifend wurde der Arbeit ein Rückblick auf die Gründerjähre als Basis der Wirkung Nietzsches vorangestellt. Die Notwendigkeit eines Ausblicks bis in die 30er und 40er Jahre ergab sich aus der Tradierung künstlerischer Bestrebungen im Umkreis des Weimarer Archivs. Einige Vertreter der Stilkunst um 1900 wie Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) oder Karl Donndorf (1870—1941), mittlerweile der älteren Generation angehörend, hatten die Formensprache ihrer Anfänge nicht aufgegeben. Nach 1933 traten sie mit alten und neuen ausnahmslos konventionellen Projekten hervor, für die sie nun — nach Bauhaus und Expressionismus — auf Beifall oder zumindest auf Verständnis hofften. 1 6 9 Diese Kontinuität ist unbestreitbar, darf aber nicht überschätzt werden. Denn das Aufeinandertreffen der Vorstellungswelt dieser alten Künstler mit den Forderungen der neuen Machthaber mußte zuungunsten der älteren Generation ausgehen. Der Nietzsche-Kult der Jahrhundertwende hatte seinen Schlußpunkt erreicht. Ging es im vorhergehenden darum, die Ausweitung des historischen Rahmens zu rechtfertigen, so gilt es jetzt, den Vorwurf zu großer Zaghaftigkeit bei der Aufnahme möglicher Nietzsche-Thematiken in die Arbeit zu entkräften. Welche Kriterien konnten die Entscheidung leiten? Den wichtigsten Grundsatz bildete — wie bei der Bewertung der Fotografien — die Funktion der fraglichen Kunstwerke innerhalb der direkten Verherrlichung Nietzsches. Einleitend wurde schon auf die Gefahren einer geistesgeschichtlichen Forschung im Sinne der Vorkriegszeit hingewiesen, die allzu schnell Ideenverbindungen zwischen Nietzsche und den Kunstströmungen seit der Jahrhundertwende herstellte. Am Einzelwerk erweist sich die Zuordnung von Bildstrukturen zu Grundgedanken Nietzsches als nicht minder heikel. Zwei neuere Thesen über Gustav Klimts Fakultätsallegorien für den Festsaal der Wiener Universität (1899—1907) mögen das demonstrieren. Für Werner Hofmann stehen die drei Gemälde „Philosophie", „Jurisprudenz" und „Medizin" 1 7 0 ganz unter dem Dualismus von „Weisheit" und „Wahrheitsstreben", den Nietzsche für das 19. Jahrhundert wiederentdeckt hätte. 1 7 1 Auf die „Medizin" eingehend, deutet Hofmann den in sich kreisenden „Menschenklumpen" als Bild der von Nietzsche verkündeten ,,Ewige[n] Wiederkehr des Gleichen." 1 7 2

lee Vgl. den Titel des Buches von F. Ahlers-Hestermann. Berlin, 1941. 169 170

171 172

Diese Vorstöße werden in 4.6.2 detailliert nachgewiesen. Lwd., jeweils 430 X 300 cm, ehem. Wien, Universität. 1945 am Auslagerungsort verbrannt. Gustav Klimt und die Wiener Jahrhundertwende, Salzburg, 1970, S. 26. Ebd., S. 23.

40

Einleitung

Klimts „Medizin" spiegelt auch für Hanspeter Zürcher die „deterministischen Gedanken vom ewigen Kreislauf des Lebens", jedoch „im Geiste Maeterlincks." 173 Dasselbe Prinzip, aber in seiner Formulierung durch Nietzsche, taucht nach Zürcher auch in den berühmten Seenlandschaften Ferdinand Hodlers auf: „Nietzsche hat den Satz der ewigen Wiedergeburt aufgestellt. Zu diesem gedanklichen Bereich gehören auch Hodlers Bilder." 1 7 4 Angesichts der Berufung auf verschiedene Philosophen und Literaten mit parallelen Grundgedanken fragt man nach der Berechtigung und dem Erkenntniswert einer Personalisierung von Einflüssen. Wenn Denkhaltungen innerhalb des „Zeitgeistes" um 1900 derart austauschbar waren, mahnt das zu großer Sorgfalt bei Aussagen über die Nachfolge Nietzsches in den bildenden Künsten. Selbst eine Nietzsche-Lektüre der betreffenden Künstler — zu der die beiden Autoren nicht Stellung nehmen — ist kein untrügliches Kriterium für die Aneignung und Verarbeitung der Gedankenwelt des Philosophen, da eine äußerliche Vertrautheit mit dem Zarathustra und anderen Hauptwerken bei allen geistig interessierten Zeitgenossen vorauszusetzen ist. Die Grenze zwischen eindeutigen „Nietzscheana" und möglicherweise von Nietzsche beeinflußten Schöpfungen läßt sich erst nach und nach als Ergebnis speziell ausgerichteter Künstlerviten verschieben. Alexander Dueckers gab dazu ein Beispiel, indem er die Wirkung Schopenhauers auf Klinger in den Mittelpunkt seiner Künstlermonographie stellte. 17S Im gegenwärtigen Stadium der Forschungen zur Nietzsche-Rezeption wäre es verfrüht und unergiebig, das G e s a m t w e r k einzelner Künstler unter der Perspektive Nietzsches zu betrachten. Die zunehmend synkretistische „Welt-Anschauung" um 1900 verbietet außerdem die Festlegung der meisten Zeugnisse der „Gedankenmalerei" auf nur eine Quelle, gleichsam als Illustration eines Philosophen. Dagegen machen die Kunstwerke der Nietzsche-Bewegung die Hoffnungen vieler Künstler auf den „Umwerter aller Werte" überschaubar und erlauben Hypothesen über weiterreichende Beziehungen zwischen Philosophie und Kunst der Jahrhundertwende.

173 174

175

Stilles Wasser. Narziss und Ophelia in der Dichtung und Malerei um 1900, Bonn, 1975, S. 76. Ebd., S. 89. Vorläufer zu Hodlers Kompositionsschema der Seenlandschaften lassen sich — ohne Vermittlung Nietzsches — schon in der Kunst des frühen 19.Jhs. auffinden: vgl. z . B . Francis Danby „Alpenglühen" (um 1824). Abb. in William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Hrsg. v. Werner Hofmann, Hamburg, München, 1976, S. 330, Abb. 348. Dort wird auch auf Caspar David Friedrichs „Großes Gehege" von 1832 hingewiesen. Vgl. Max Klinger, Berlin, 1976.

2 Nietzsches „feurige Pfeile": Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret 2.0 Vorbemerkung:

Das Pathos des

Propheten

„Heilig sei Dein Name allen kommenden Geschlechtern!" forderte Nietzsches erster Jünger Peter Gast am Grabe des Philosophen. 176 Längst kündigten sich Vorboten für die Ausrufung eines sakrosankten Nietzsche an, „dessen feurige Pfeile in den Herzen der jungen Generation zu wirken begannen." 1 7 7 Wie paradox, daß viele Maler, Bildhauer und Architekten des Bürgertums ihre Sehnsucht nach einer neuen Autorität gerade auf den Verächter der Ordnungsmächte Staat und Kirche konzentrierten! Wer sollte künftig den Platz dieser traditionellen Auftraggeber der Künstlerschaft einnehmen, wer deren Existenz garantieren? Dieser Gedanke wäre den Nietzscheanern der Jahrhundertwende herabwürdigend erschienen, nachdem sie endlich einen Anwalt unter den Philosophen gefunden hatten, der als Künstler über Künstlernöte zu reden versprach.

2.1 Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk

Nietzsches

Nietzsche hat die über das Gesamtwerk verstreuten Aussprüche zu Kunst und Künstlern in keiner Lehre definiert, etwa im Gegenzug auf die systematische Ästhetik seines Widersachers Hegel. In der Skepsis vor einer letzten, gültigen Wahrheit manifestierte sich Nietzsches Selbstverständnis, die „Redlichkeit" der „freien Geister". 1 7 8 Man kann diese Prämisse seines Denkens als Mangel an Konsistenz beklagen, als Angst vor dem Festschreiben einer klaren Position entlarven oder im Gefolge Georg Lukács als intellektuelle Kapitulation verurteilen. 179 Doch deutet das Fehlen eines „Systems" keinesfalls auf ein Ausweichen Nietzsches vor den hier relevanten Fragen der Ästhetik. 176 Vgl. das „Bekenntnis Peter Gast's am Grabe Nietzsches", in: Zur Erinnerung an Friedrich Nietzsche, Weimar, 1900, S. 4 8 - 4 9 , hier S. 49. 177 178 179

Fritz Schumacher, Strömungen in der deutschen Baukunst seit 1800, Leipzig, 1935, S. 101. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, GA VII, S. 182 (Aph. 227). Vgl. Abschnitt 1.1, S. 1 6 - 1 9 .

42

Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret

Eine Rekonstruktion der Aphorismen zu einer Kunstlehre, die den Vergleich mit anderen Denkern erlaubt, begegnet grundsätzlichen Schwierigkeiten, denn Nietzsche übersprang jede traditionelle Aufgabenteilung der Fachphilosophie und verwandte Gattungsbegriffe nur mit Vorbehalt. Glaubt man mit Nietzsche an die „Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk", 180 so läßt sich eine Ästhetik im Sinne der in Hegel gipfelnden klassisch-romantischen Kunstphilosophie nicht mehr aus dem Gesamtwerk herauslösen : sie fällt vielmehr mit jedem philosophischen Ansatz zusammen. Diese Ästhetisierung der Welt sicherte Nietzsche die Sympathien des bürgerlichen Künstlertums, nachdem dieses — von seinen Philosophen vernachlässigt — an sich selbst irre zu werden begann. Die Funktion der Kunst und ihrer Protagonisten war nun nicht mehr wie „für Hegel etwas Vergangenes", 181 nur Gegenstand der Reflexion, das heißt der Kunstgeschichte, sondern die „eigentliche Aufgabe des Lebens", 182 um die viele Zukunftshoffnungen Nietzsches kreisten. Es verdient Beachtung, daß diese Perspektive im Spätwerk als „Glaubensbekenntniß" und „ArtistenEvangelium" postuliert wurde, mit ausdrücklichem Hinweis auf gleichlautende Anfänge im Zeichen Richard Wagners. 183 Hier kommt eine Kontinuität in Nietzsches Denken zum Vorschein, von der auch seine Verehrer in der Künstlerschaft ausgingen: die Uberzeugung vom Primat der künstlerischen Sphäre über die der materiellen Produktion, ökonomische Aspekte fanden nur als Voraussetzung kultureller Höchstleistungen Nietzsches Aufmerksamkeit. Er betrachtete die Kunst also nicht als abgehoben von ihrer materiellen Basis, nach der Devise des „l'art pour l'art", doch drängte ihn die Erfahrung der Kunstfeindlichkeit in der modernen Gesellschaft dazu, eine Harmonie zwischen Kunst- und Arbeits weit für alle Zeiten auszuschließen. Mit der Etablierung Bayreuths als Zentrum einer neuen Kultur in den 70er Jahren deutete sich vorübergehend die Chance zur Annäherung beider Sphären an. Nietzsches Beteiligung daran hätte ein konkretes Engagement für die mythische Überhöhung des neuen Reiches an der Seite Wagners bedeutet. Es spricht für die Aufrichtigkeit, aber auch für die Gesellschaftsferne seiner kulturellen Ideale, daß Nietzsche einen Kompromiß im Zeichen des Nationalismus ablehnte. Unbeeindruckt vom beschränkten Horizont der bloß „Reichsdeutsche[n]" suchte er seine künstlerischen Vorbilder in allen Nationen und verfocht bis zum Zusammenbruch in Turin den Maßstab des „,guten Europäer'^]". 1 8 4 180 181

182 184

F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 225 (Aph. 796). Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 4. Hochromantik, Leipzig, 1953, S. 715. 183 F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 273 (Aph. 853 IV). Ebd. F. Nietzsche, Ecce homo, GA XV, S. 13 (Warum ich so weise bin 3).

Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches

43

Obwohl Nietzsche schon als Leipziger Student seine Fachdisziplin, die Altphilologie, zum „Urväter-Hausrath" geworfen wissen wollte, 185 blieb insbesondere das Griechentum Anreger der künstlerischen Wertvorstellungen. Anders als bei Wagner förderte die Vertrautheit mit der antiken Mythologie Nietzsches europäischen Weitblick und Anspruch, hinter dem die Realität des gründerzeitlichen Kunstbetriebes zurückbleiben mußte. 186 Befreit von der Einbindung in übergeordnete metaphysische Ideale (die Religion, das Wahrheitsstreben der Wissenschaft), mutete Nietzsche der Kunst die Nachfolge dieser für ihn zerbrochenen obersten Werte zu. Der Verdacht liegt nahe, daß sein Ruhm gerade in Künstlerkreisen auf einem Mißverständnis gegenüber der Universalfunktion einer Kunst der Zukunft beruht. Wenn hinter jeder Lebensäußerung ein Wille zur Kunst waltet, 187 wie läßt sich dann die Vorzugsrolle der herkömmlichen Kunstwerke und ihrer Schöpfer aufrechterhalten? Nietzsches Erweiterung des Kunstbegriffs täuscht leicht über den Fortbestand von zwei unterschiedlich zu bewertenden Kunstkategorien hinweg. Selbst während der nüchternen Sichtung von Jugendidealen, in der Periode von Menschliches Allzumenschliches, faszinierte den Philosophen zuerst die lebenssteigernde Macht der Kunst: „Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, d i e der K u n s t w e r k e , nur ein A n h ä n g s e l . " 1 8 8 Eine derartige Respektlosigkeit gegenüber allem, was bisher als „Kunst" galt, zielte auf Wagner und sein Ringen um die Uberwindung der atomisierten Künste in einem neuen Gesamtkunstwerk. Um so mehr hätte weniger bedeutenden Künstlern die Diskrepanz zwischen Nietzsches Maximalforderungen und ihren eigenen Produkten klar werden müssen. Als man trotzdem Kunstwerke von Zeitgenossen als Erfüllung der neuen Ideale empfahl, grenzte das an Eitelkeit, vergleichbar der „Ubermenschen-Mode" in Kreisen der literarischen Bohème. 189 Ein gesunder Nietzsche hätte seinen Stammlesern, den Dichtern, Malern und Bildhauern der Jahrhundertwende, die bequeme Identifikation mit seinen Zukunftsvisionen verübelt. Die Hektik der Nietzscheaner bestätigte nur die Warnungen ihres Vorbildes hinsichtlich der Schwächen und Anpassungsängste des modernen Künstlers in der Nachfolge Richard Wagners. 185

Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, Hrsg. von E. Förster-Nietzsche u. Fritz Schöll, Leipzig, 31923, S. 94. Brief vom 16. 1. 1869. 186 Die Spannungen zwischen den kulturreformerischen Programmen Wagners und Nietzsches entziehen sich einer pauschalen Wertung. Vgl. dazu 2.2.1. 187 Vgl. F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 271 f. (Aph. 853 I). 188 Ders., Menschliches Allzumenschliches, II, GA III, S. 95 (Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 174). 189 Vgl. die späte Kritik des Nietzscheaners Georg Fuchs an diesen Auswüchsen in: Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende, München, 1936, S. 138: „In Schwabing gab es eigentlich nur noch .Ubermenschen' . . . ."

44

Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret

Bei allem Spott über einzelne Richtungen und Werke fürchtete Nietzsche den Untergang echter Künstlerschaft durch den Einbruch einer krankhaften, hysterischen Massenkultur. Deshalb kam er immer wieder auf den Typus des Künstlers zurück, der „Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Canaille" 190 sein konnte und damit eine Vielfalt von Möglichkeiten in sich barg, die dem Gegen typ des eindimensionalen Bürgers verschlossen blieben. Nietzsche reizte die gesellschaftliche Randexistenz des Künstlers, seine Kampfansage an die Normalität und Pedanterie im Leben des Durchschnittsmenschen. Das Aufrechnen negativer und positiver Wertungen von Kunst und Künstlern erlaubt jedoch keinen Zweifel, wessen Nähe der Philosoph bei seiner Tätigkeit suchte: „In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher. . . ," 1 9 1 Für eine von Nietzsche geblendete Kunstwelt war schließlich nicht ausschlaggebend, was ihr Interpret an Details über sie zu enthüllen wußte, sondern wie er den Gedanken Form gab. Während Nietzsches Fachkollegen seine Schriften als zu künstlerisch ablehnten, bemängelte er selbst deren Unbeholfenheit. 1886 verwarf er im „Versuch einer Selbstkritik" die Geburt der Tragödie — dieses höchst durchkomponierte Jugendwerk — mit dem vielzitierten Eingeständnis: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!" 192 Die Selbstkritik Nietzsches, aus dem Drang nach künstlerischer Perfektion bei gleichzeitigem Mißtrauen gegen den Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit resultierend, galt der Gelehrtenwelt des 19. Jahrhunderts als Zeichen der Schwäche. Wie sollte sie auch einem Philosophen folgen, der die Wissenschaft als Erbin des lebensfeindlichen Christentums angriff? Selbst dieses Erbe schien Nietzsche inzwischen aufgebraucht und der Fortschrittsglaube der Wissenschaftler an seine Grenzen gelangt. Das kommende Jahrhundert war zum Kampfplatz bestimmt, auf dem der unvermeidliche Nihilismus Europas in einen neuen Mythos und eine neue Blütezeit der Kunst umschlagen konnte. „Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft — Alles nur Ausgeburten seines Willens [des Menschen] zur Kunst, zur Lüge . . . zur V e r n e i n u n g der ,Wahrheit'" lautete Nietzsches Analyse des Schwebezustandes im europäischen Geistesleben.193 Bewußte Mythenbildung, wie sie sich im Offenbarungston und in der Formenstrenge des Zarathustra ankündigte, schien einen Ausweg zu bieten. Doch die verkrampfte Wiederbelebung naiv-archaischer

F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 244 (Aph. 816). Ebd., S. 246 (Aph. 820). 1 9 2 Ders., Vorwort zur 2. Aufl. von Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus (1. Aufl. unter dem Titel: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.), GA I, S. 5. ! " F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 271 (Aph. 853 I). 190

151

Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches

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Monumentalität überforderte Nietzsche wie Nietzscheaner und rückte ihre Kunstschöpfungen in die Nähe des Manierismus. Es fällt auf, wie selten der Philosoph bei der Dominanz einer ästhetischen Weitsicht auf Beispiele aus der „Kunst der Kunstwerke" 194 zurückgriff, und sei es nur als Illustrationen übergeordneter Prinzipien. Die Anschaulichkeit der bildenden Kunst blieb weitgehend ungenutzt. Dagegen findet man häufiger Kommentare zu Werken der Literatur, vor allem aber zur Musik. Ohne Vertrautheit mit Nietzsches Biographie käme der Verdacht auf, daß er hierbei seinen Forderungen nach Diesseitigkeit und Sinnlichkeit der Kunst untreu wurde, um mit Hegel die abstrakten, entwickelteren Gattungen — Musik und Literatur — der bildenden Kunst vorzuziehen. Die Musik als eine „überaus herrliche Kunst" besaß bereits für Schopenhauer die Macht, den am Chaos des Daseins Leidenden wenigstens kurzfristig seiner Isolierung zu entrücken. 195 Wagner fand darin die Bestätigung des eigenen Ansatzes und erhob als Musiker sein Gesamtkunstwerk zur Grundlage einer neuen Gemeinschaftskultur. 196 Schon vor der Lektüre Schopenhauers und Wagners entnahm Nietzsche — der Tradition der Spätromantik folgend — seinen Wertmaßstab für alle Künste der Musik. In der Welt des Bildungsbürgers war „Musik ein Leben, nicht erheiternde Begleitung des Daseins." 197 Das läßt sich auch an den Hauptwerken der Kunst in den 60er und 70er Jahren, den Gemälden Anselm Feuerbachs und Arnold Böcklins, ablesen. 198 Nietzsche hatte seit der Gymnasialzeit in Schulpforta selbst gelegentlich komponiert. Dabei entging auch er nicht der Gefahr des Dilettanten, in Fragen seiner Liebhaberei — seiner vermeintlichen Berufung — durch Unduldsamkeit das Augenmaß zu verlieren, vergleichbar Goethes Verhalten gegenüber fachlich qualifizierten Malern. Jedoch sicherte dieser Rigorismus vielen Musikkritiken eine Lebensnähe, die bildende Künstler in Nietzsches Aphorismen zu ihren Fachgebieten vermißten. Will man nicht die äußere Blindheit als ein Merkmal aller „großen Seher" voraussetzen, 199 dann bleibt zunächst nur übrig, von Nietzsches Kurzsichtigkeit bis zur Formenschwäche der Gründerzeit Anlässe für seine Bilderfremdheit zu erwägen. Vgl. S. 43. Die Welt als Wille und Vorstellung (Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe), Leipzig, o . J . , Bd. I, S. 344. Vgl. auch „Zur Metaphysik der Musik", Bd. II, S. 1222-1235. 196 Vgl. Jessen Schlüsselstellung für die „Menschheitsrevolution" bereits in Wagners Frühwerk: Die Kunst und die Revolution, Leipzig, 1849. 197 R. Hamann, Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, Berlin, 1933, S. 809. 198 Hamann erwähnt u. a. Feuerbachs „Mandolinenspieler" (1868) und Böcklins „Selbstbildnis mit fidelndem Tod" (1872). Vgl. ebd. 199 T. Lessing, Nietzsche, S. 51. 194 195

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Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret

Aus der Perspektive des Philosophen bedarf die Musikleidenschaft keiner biographischen Herleitung, sondern wäre — sich jeder Analyse entziehend — Inbegriff eines Kunst- und Weltverständnisses, das er schon in den ersten Sätzen der Geburt der Tragödie durchblicken ließ. Dort konstatierte Nietzsche den Dualismus „zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus. . . ," 2 0 0 Wenn „die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist", 2 0 1 so schließt das an sich jede Hierarchie zwischen den Gottheiten und den hinter ihnen stehenden Künsten aus. Trotzdem bekannte sich Nietzsche im Spätwerk offen als „der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos", der diesem „in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht" seine „Erstlinge dargebracht habe." 2 0 2 Der Blick auf das ungleiche Schicksal der beiden von Nietzsche postulierten kunst- und kulturstiftenden Prinzipien bis ins 19. Jahrhundert machte seine Parteinahme für die Musik des Dionysos zur Pflicht, denn: Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. 2 0 3

Deutlicher konnte niemand das gerade viele Künstler beschleichende Gefühl der Entfremdung und dessen Uberwindung „aus dem Geiste der Musik" in Worte fassen. Wer hatte diese Krise heraufbeschworen? Die Harmonie zwischen apollinischen und dionysischen Kräften, wie sie nach Nietzsche einst in der attischen Tragödie gelang, wurde durch die Freveltat des Sokrates zerstört, dem als erstem auch der Mythos einer rationalen Nachprüfung zugänglich schien. Damit leitete er den ζ weitaus endjährigen Triumph des „Sokratischen", der Aufklärung um jeden Preis, ein, bis deren Agonie einige entschlossene Propheten — Schopenhauer, Wagner, vor allem aber Nietzsche — zur Erlösung der Menschheit aufrütteln mußte. Soweit unterscheidet sich dieses im Verehrerkreis beliebte Denkmodell wenig von dem Dreitakt konventioneller Utopien: auf ein in graue Vorzeit verlegtes „Goldenes Zeitalter" (hier die Archaik Griechenlands) folgt der Niedergang bis in die Gegenwart (durch Aufklärung, Christentum, Materialismus), bis schließlich der entsprechende Führer die Rettung aus dem Chaos ermöglicht. Für den Kunsthistoriker besitzt das Selbstverständnis Nietzsches im Wechselspiel zwischen apollinischen und dionysischen Mächten unmittel200 201 202 203

F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, GA I, S. 19 (Kap. 1). Ebd. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, GA VII, S. 272 (Aph. 295). Ders., Die Geburt der Tragödie, GA I, S. 24 (Kap. 1).

Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches

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baren Erkenntniswert für sein Fach, denn das Vokabular und damit die Interpretationen der Kunstgeschichte spiegeln noch weitgehend die phänomenale Verbreitung des Begriffspaares. Martin Vogel erstellte eine lange Liste der Nietzsche analogen Gegensatzkategorien in den Werken anderer Geisteswissenschaftler. Sie enthält Namen, die für Entwicklungsphasen der Kunstgeschichte stehen, wie zum Beispiel Wilhelm Worringer („Abstraktion" gegen „Einfühlung") und Gustav René Hocke („Attizismus" und „Klassik" gegen „Asianismus" und „Manierismus"). 204 Obwohl Nietzsche seine zentralen Begriffe aus dem Musikdrama gewonnen hatte, hinderte nichts deren Anwendung auf Werke der bildenden Kunst. Mit der Rehabilitation des dionysischen Prinzips der Bewegung, der Musik und des Tanzes, glaubte man dem zum Sokratischen erstarrten Apollinischen entgegenwirken zu müssen. Klassizismus und Historismus wurden so zu Symptomen einer Gelehrsamkeit degradiert, die fälschlich Johann Joachim Winckelmanns Kenntnis spätantiker Plastik gefolgt war. Wie Vogel resümiert: „Seit Nietzsche bekennt sich der Intellektuelle paradoxerweise nicht zum Intellekt, sondern zum Instinkt." 205 Unter dem Eindruck weltweiter Erfolge des Faschismus bestätigten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diese Schlüsselstellung Nietzsches in der Dialektik der Aufklärung.206 Nach Uberzeugung des Philosophen selbst hatte sich bereits in seinen Frühschriften „etwas Furchtbares und Gefährliches . . . das Problem der Wissenschafft . . ." angekündigt. 207 Damit war der Nährboden für ein Lebensgefühl bereitet, das Sigmund Freud im Namen der bürgerlichen Intelligenz des 20. Jahrhunderts prägnanter als „Unbehagen in der Kultur" definierte. 208 Nietzsches Kontrastierung von Apollon und Dionysos fordert auch die Gegenwart zu immer neuen Interpretationen heraus, zuletzt Gert Mattenklott in seinen Thesen über die Entsprechung zwischen dem Vernichtungswillen des Dionysischen und der Herrschaft der Pariser Kommune von 1871. Nach Mattenklott mußte die „ .Geburt der Tragödie' als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution"209 die von Nietzsche halb gefürchtete, halb bewunderte dionysische Gewalt des Proletariats mit Hilfe Apollons, dem Sinnbild der Mäßigung und Formgebung, neutralisieren. Der Schluß von Nietzsches Tragödientheorie auf sein Gesellschaftsbild kann hier nur als ZeugM. Vogel, Apollinisch und Dionysisch. Die Geschichte eines genialen Irrtums. (Studien zur Musikgeschichte des 19.Jhs., Bd. 6), Regensburg, 1966, S. 208. 205 Ebd., S. 198. 206 philosophische Fragmente, Ausgabe: Frankfurt, 1971 (Fischer Taschenbuch). „Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt." S. 42. 207 F. Nietzsche, Vorwort zur 2. Aufl. von Die Geburt der Tragödie, GA I, S. 3. 208 Vgl. die gleichnamige Schrift. Wien, 1930. 209 Vgl. Anm. 52. Mattenklott weist u. a. auf die „Affinität dieser Konstruktion [des Dionysischen und Apollinischen] zur psychoanalytischen von Es und Ich" hin. S. 107—108. 204

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Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret

nis für die unverminderte Aktualität seiner ästhetischen Frühschriften dienen. 210 Der Kult der eigentlichen Nietzscheaner ist weder zu verwechseln mit der Achtung des Philosophen durch die Frankfurter Schule, noch mit seiner Bedeutung für die Psychoanalyse oder die gegenwärtige Diskussion um seine ästhetische Perspektive. Dem herkömmlichen Nietzscheaner begegnet man heute nur noch in den Reihen derjenigen Kulturkritiker, die im Gegensatz zu Freud das „Unbehagen in der Kultur" als Aufforderung zum Rückzug in Geborgenheit und Bildung mißdeuteten. Nietzsches Angriffe auf die zahme Barbarei, das heißt die Dekadenz der modernen Zivilisation, konnten andererseits auch seine dem Instinkt verfallenen Jünger ermuntern. Darf man beide Haltungen — spätbürgerliche Uberfeinerung und offen zur Schau gestellte Brutalität — als Kriterien des intellektuellen Bankrotts zusammenfassen? Vogels Verdikt über die Intelligenz in der Nachfolge Nietzsches kann aber selbst im engsten Umkreis des Nietzsche-Archivs nicht pauschal ausgesprochen werden. Schon das Frühwerk der 70er Jahre bot den Nietzscheanern ein Arsenal neuer Denkanstöße, von denen hier nur zwei für die Kunstgeschichte folgenschwere festzuhalten sind: die „Umwertung" sowohl archaischer als auch barocker Formen im Zeichen des Dionysos. Das Urteil des Philosophen über den Eigenwert antiklassischer Stile gilt es bei der Betrachtung von Kunstwerken der Nietzsche-Bewegung im Auge zu behalten. Unbestritten setzte die Geburt der Tragödie eine Zäsur im Griechenlandbild des deutschen Bildungsbürgertums. 211 Die Hinwendung zu den Vorsokratikern mit ihren — auch nach Nietzsche — dunklen und fragwürdigen Zügen belebte gleichzeitig das Interesse an der Baukunst und Plastik der Frühzeit, einschließlich des „grossen Stil[s]" Ägyptens. 212 Das Gegenstück zur Aufwertung der vorklassischen Formenwelt ist bisher kaum beachtet worden : „Der Barockstil entsteht j e d e s m a l beim Abblühen jeder grossen Kunst . . ." 2 1 3 lautete Nietzsches aphoristische Notiz dazu. Oswald Spengler, der die „Aufgabe der Kunstwissenschaft" in ,,vergleichende[n] Biographien der großen Stile" sah, erhob diese Einsicht Nietzsches zum kulturgeschichtlichen Gesetz. 214 210

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Mattenklotts Bezugnahme auf die Pariser Ereignisse und Nietzsches differenzierende Haltung dazu stützt er allein auf einen Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871. Vgl. ebd., S. 111. Nicht umsonst reagierte die Fachphilologie gereizt auf diesen Bruch der Tradition. Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Zukunftsphilologie. Eine Erwiderung auf Friedrich Nietzsches „Gehurt der Tragödie", Berlin, 1872. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, GA VII, S. 4 (Vorrede). Vgl. zur Rezeption archaisch-monumentaler Formen vor allem nach 1900 4.1.1. Ders., Menschliches Allzumenschliches, II, GA III, S. 77 (Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 144). Hervorhebung vom Verfasser. Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1. Gestalt und Wirklichkeit, München, 23"321920, S. X.

Der Vorrang von Kunst und Künstler im Lebenswerk Nietzsches

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Interessanter als die spätere Rezeption durch Spengler sind der frühe Zeitpunkt — 1878 — und die Unbefangenheit von Nietzsches Urteil: „Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaassenden werden übrigens bei diesem Wort [Barock] sogleich eine abschätzige Empfindung haben." 215 Bedenkt man, daß der sogenannte „Wilhelminische Barock" erst in den 90er Jahren zum offiziellen Stil des Kaiserreiches deklariert wurde, und außerdem Nietzsches Kenntnisse im Bereich der „Kunst der Kunstwerke" nur gering waren, so fragt man unwillkürlich nach den Quellen für seinen Weitblick. Nietzsches persönlicher Umgang mit Künstlern und Kunsthistorikern blieb zweitrangig, verglichen mit den Spuren, die er in der Kunstgeschichte hinterließ. Welcher Fachgelehrte hätte auch den Nimbus des Meisters Richard Wagner überstrahlen können, dessen Egozentrik die volle Aufmerksamkeit seiner Jünger beanspruchte? Selbst in der Negation blieb Wagner der spektakulärste „Fall" für Probleme der Kunst und des Künstlers. Man hat versucht, Nietzsches Baseler Wirken als Konsequenz europäischer Kulturgeschichte zu deuten. „Basel, die Stadt H o l b e i n s und die Stadt B ö c k l i n s , die Stadt des Erasmus und die Stadt B a c h o f e n s und B u r c k hardts . . . " ermöglichte dem jungen Philologen ungewöhnliche Begegnungen. 216 Doch abgesehen von Jacob Burckhardt, mit dem ihn eine weit über das kollegiale Maß reichende gegenseitige Hochachtung verband, kam es zu keinem dauerhaften Gedankenaustausch.217 Wie Wilhelm Stein zu bedenken gibt, war auch Burckhardts Einfluß mehr kulturgeschichtlich-philosophischer, als kunsthistorischer Natur. 218 Erst nach der Abgrenzung der entsprechenden Disziplinen konzentrierte sich der Baseler Gelehrte auf die Kunstgeschichte. In seiner Bonner Studentenzeit (1864—66) hatte Nietzsche Anton Springer verehrt, der dort eine organisch-romantische Kunstbetrachtung, entsprechend den Zielen Alexander von Humboldts in den Naturwissenschaften, vertrat. 219 Nach dem Sieg über Frankreich und der Besinnung auf die deutsche Renaissance als Zukunftsstil des Reiches erschien dann Nietzsche für kurze Zeit die Position Wilhelm Lübkes in dessen Grundriß der Kunstgeschichte richtungweisend. Zu Weihnachten 1871 schenkte er seiner Schwester „eine ganz neue Auflage: Du wirst mit dem Buche mehr zufrieden sein können, als 215

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F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, II, GA III, S. 77 (Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 144). Edgar Salin, Vom deutschen Verhängnis. Gespräch an der Zeitenwende: Burckhardt — Nietzsche, Reinbek, 1959, S. 12. So scheint z. B. Nietzsche Böcklin in Basel nicht begegnet zu sein, denn 1884 berichtet er aus Zürich: „Viele neue Menschen; man will mich durchaus mit dem Thiermaler K o l l e r bekannt machen, ebenso mit Böcklin, der sich hier a n g e k a u f t hat." Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester, Hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche, Leipzig, 3 1926, S. 357. Vgl. Nietzsche und die bildende Kunst, Berlin, 1925, S. 7. Vgl. ebd.

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Die künstlerische Intelligenz und ihr Interpret

mit dem gewünschten Springer'schen." 220 Sehr bald jedoch widersprach Nietzsche jeder Indienstnahme der Geisteswissenschaften als Surrogate für fehlende nationale Identität. Seine Wertskala deckte sich immer weniger mit dem Engagement der meisten Kunsthistoriker für eine „bodenständige" Kultur des neuen Reiches. Was Kunstwerke vergangener Epochen betraf, so zeigte Nietzsche nur bei Dürers „Ritter, Tod und Teufel" sowie den Landschaften Claude Lorrains eine stärkere Anteilnahme. 221 Ein „Dürer'scher Ritter" war ihm „unser Schopenhauer", 222 und zusammen mit Wagner hielt er das „Lieblingsblatt" in hohen Ehren. 223 Nur die Atmosphäre auf Claudes Mittelmeer- oder CampagnaLandschaften löste eine gleichstarke Identifikation aus. So stilisierte Nietzsche in seinen letzten wachen Tagen einen Turiner Spaziergang zum „Müßiggang eines Gottes am Po entlang", während sich ihm die Welt als ein „Claude Lorrain in's Unendliche gedacht" verklärte. 224 Diese Faszination durch Werke der bildenden Kunst erstreckte sich nicht auf Darstellungen, die Nietzsche — selten genug — als Stütze einer Gedankenfolge dienten. In Wagners Luzerner Villa hatte er schon 1869 Bonaventura Genellis Hauptwerk „Bacchus unter den Musen" kennengelernt. Obwohl das von Wagner gepriesene Gemälde bei der Abfassung der Geburt der Tragödie Modell gestanden hatte, erwähnte es Nietzsche nur einmal gegenüber Rohde. 225 Bei der Deutung von Raffaels „Transfiguration" im vierten Kapitel von Nietzsches Erstlingsschrift sieht sich der Leser unvermittelt einer „Umwertung" des Bildinhalts in den Kampf zwischen apollinischem Schein und dionysischem Urgrund ausgesetzt. „Ein feindseliges Schweigen über das Christenthum" hatte für Nietzsche Raffaels biblische Szene verdrängt. 226 Abschließend muß Nietzsches Besorgnis um eine stilgerechte Ausstattung seiner Werke erwähnt werden, erforderte sie doch direkte Kontakte zur zeitgenössischen Kunstszene. Die Drucklegung der Geburt der Tragödie begleiteten hochgespannte Erwartungen Wagners und Nietzsches, auch in Hinsicht auf den Schmuck des Titelblatts. Mit Hilfe Carl von Gersdorffs hatte man

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Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester, S. 147. Cornelius Gurlitt konstatierte für 1871 : „Beginnendes Übergewicht der deutschen Renaissance in Baukunst und Kunstgewerbe." Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Taten, Berlin, 31907, S. 698. Ernst Bertram Schloß aus dieser Neigung auf eine Wesensverwandtschaft des Philosophen, der er zwei Kapitel seiner Nietzsche-Deutung widmete. Vgl. Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 4 2 - 6 3 (zu Dürer) und S. 249-260 (zu Claude). F. Nietzsche, Die Gehurt der Tragödie, GA I, S. 144 (Kap. 20). Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester, S. 131. Ders., Ecce homo, GA XV, S. 107 (Götzen-Dämmerung 3). Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rhode, Brief vom 16. 7.1872, S. 247. Ders., Ecce homo, Werke, GA XV, S. 62 (Die Geburt der Tragödie 1).

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dessen Freund Leopold Rau (1847—80), einen Schüler von Reinhold Begas in Berlin, für die Zeichnung der Titelvignette „Der gefesselte Prometheus" gewonnen. 227 Um so enttäuschter war Nietzsche über deren „stümperhafte" xylographische Umsetzung durch einen Künstler des Verlegers. Ohne zu zögern, verschob er daraufhin die Veröffentlichung seines Erstlingswerks auf 1872. 2 2 8 Bei späteren Werken war Nietzsche zu Kompromissen in Fragen der künstlerischen Perfektion genötigt, bis er schließlich teilweise auf eigene Kosten drucken lassen mußte. Die Buchkunst, wie die Künste allgemein, waren in den 70er und 80er Jahren nicht in der Lage, den Abstand zu Nietzsches Form- und Stilbewußtsein in ihren Erzeugnissen einzuholen. „Nietzsche in Saffian. Nietzsche auf Bütten. Nietzsche in Pergament" 229 blieb den Lesern und Künstlern um 1900 vorbehalten, die ihn — wiederum einseitig — nur als Opfer einer Unkultur der Gründerjahre beklagten.

2.2 Apologet

und Gegner der

Gründerzeit

2.2.1 Nietzsches Verwurzelung in der Kunstwelt der siebziger Jahre Die scharfe Absage der Nietzscheaner an die Kommerzienratkultur 230 ihrer Väter suggeriert den Gedanken eines revolutionären Bruchs zwischen den Generationen. Als Trägerin künstlerischen Neubeginns konnte die NietzscheGemeinde eine Befangenheit des Philosophen in der Vorstellungswelt der Gründerjahre nicht zugeben. Ängstlich entzog man sich einem Erbe, das durch die Kulturkritik Nietzsches als radikal überwunden galt. Zeitbedingt und bruchstückhaft — wie jedes Rezeptionsverhalten — verunklärte dieser Mythos eines von der Talmikultur der Gründer unbefleckten Nietzsche seine in Wahrheit zentrale Vermittlerrolle zwischen den Prinzipien der Gründerzeit und der Stilkunst um 1900. Nachdem einmal die Souveränität des Philosophen gegenüber den Niederungen seiner Epoche festgestellt war, erschien den Stilerneuerern die Frage nach der Macht und Beharrlichkeit bürW. Stein nennt als Vermittler zwischen Rau und Nietzsche fälschlicherweise Reinhard von Seydlitz, den der Philosoph erst 1876 in Bayreuth kennenlernte. Vgl. Nietzsche und die bildende Kunst, S. 5. 228 Vgl. Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rhode, S. 203. Endlich gelang es, den „akademischen Künstler Vogel in Berlin" als Holzschneider zu beauftragen. (H. Vogel hatte auch die berühmten Illustrationen Adolf Menzels zu Franz Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen von 1840 geschnitten). 2 2 9 T. Lessing, Nietzsche, S. 113-114. 230 Vgl. Jost Hermands Beschreibung des „wechselseitigen E i n a n d e r - A n p r o t z e n s " in der „Parvenükultur" nach 1871. „Vorschein im Rückzug. Zum Sezessionscharakter des Jugendstils", in: Ein Dokument deutscher Kunst 1901—1976, Bd. 1, S. 1 2 - 2 0 , Zitate S. 14. 227

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gerlicher Kulturideale überflüssig. Als Nachfolger Nietzsches fühlten sie sich bereits jenseits der Umwertung und glaubten alle Brücken zur Vergangenheit abgebrochen zu haben. Schlagwortartig verbreitete eine unkritische Leserschaft den Ruhm eines Klassikers der „Moderne". Doch nur das Zusammenwirken von Kritik und Kompromißbereitschaft gegenüber den Denkgewohnheiten seines Publikums hatte den Werken des Philosophen schon nach ein bis zwei Jahrzehnten den Durchbruch gesichert. Im Anschluß an eine Periode strikter Trennung von Salonkunst und Avantgarde besinnt sich die kunstgeschichtliche Forschung zunehmend der gemeinsamen Wurzeln des Stilpluralismus um 1900. So machte erst kürzlich Lea Ritter-Santini auf den ungebrochenen Renaissancekult und die Italiensehnsucht der Jahrhundertwende aufmerksam, die sie schon in Nietzsches Ideal des „großen Stils" angelegt sah. 2 3 1 Richard Hamann und Jost Hermand deuteten diese Parallelen aus ihrem Verständnis der Epoche von 1871 bis 1918 als einer Einheit: Es ist kein Zufall, daß der Höhepunkt der Böcklin- und Nietzsche-Begeisterung, überhaupt der Gründerzeitrenaissance, nicht in die achtziger und neunziger Jahre fällt, sondern in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, in eine Zeit, wo man durch Jugendstil und Neuklassizismus allen formalen Reizen eine besondere Empfänglichkeit entgegenbrachte. 232

Mit der trotz aller Widersprüche, „Ismen" und Tendenzwechsel erschließbaren inneren Logik der Kunst der Jahrhundertwende begründeten Hamann und Hermand ihre Rückkehr zu einer „kulturgeschichtlich-integrierenden Betrachtungsweise." 233 Schon 1907 hatte sich Hamann zum Beispiel das Phänomen des Impressionistischen als ein gesamtkulturelles Sympton der Erschöpfung dargestellt, für dessen Ausprägungen er vorzugsweise auf den Lebensstil und das Werk Nietzsches verwies. 234 In der kritischen Gesamtanalyse spätbürgerlicher Kultur, die Hamann in seinen letzten Lebensjahren konzipierte, ist der Philosoph als Bindeglied auseinanderstrebender Stilrichtungen allgegenwärtig: Was man bei anderen erst zusammensuchen müßte, ist hier in jedem W o r t zu greifen. Man tut daher gut daran, immer wieder auf sie [die Werke Nietzsches] zurückzukommen — schon aus Gründen des geistigen und stilistischen Niveaus. 2 3 5

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„Maniera grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende", in: Fin de siècle, Hrsg. von Roger Bauer. (Studien zur Philosophie und Kultur des 19. Jhs., Bd. 35), Frankfurt, 1977, S. 170-205. Gründerzeit, S. 276-277. Impressionismus. (Reihe: Deutsche Kunst und Kultur, Bd. 3), S. 10. Vgl. Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln. Dazu auch 2.4. R. Hamann u. J. Hermand, Gründerzeit, S. 172.

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Mit dieser Hypothese gingen Hamann und Hermand daran, anhand von Leitgedanken Nietzsches die Fülle kultureller Aspekte der Epoche nach 1871 zu gliedern. Dieses Experiment konnten die Autoren nur bei kritischer Reserve Nietzsche gegenüber wagen. Wie groß war die Gefahr, mit der Übernahme brillanter Formulierungen des Philosophen auch dessen Weitungen zu folgen! Verständlicherweise dominiert Nietzsches Persönlichkeit besonders den einleitenden Band Gründerzeit der Analysen Hamanns und Hermands. Hier begegnen dem Leser Nietzsches Maximen wie „Der Wille zur Macht" oder der „Olymp des Scheins" als Uberschriften ganzer Abschnitte. Seit dem ersten Erscheinen des Buches Gründerzeit im Jahre 1965 hat Jost Hermand wiederholt die Argumente „gegen [seine] These vom GründerzeitNietzsche'" zu entkräften versucht.236 Im Vergleich mit Bismarck und Wagner, die Hermand zufolge in Politik und Kunst den Typus des „Gründers" am erfolgreichsten repräsentierten, erlangte Nietzsche kaum die Gunst der Öffentlichkeit. Sein Werk ließe sich daher nicht als direkte Apotheose der Kunst und Gesellschaft seiner Zeit interpretieren: Was in den siebziger Jahren in Deutschland politisch passierte, war ihm [Nietzsche] viel zu zahm, viel zu saturiert, das heißt nicht .gründerzeitlich' genug. Wie alle echten Parvenüs dieser Ära wollte er wesentlich höher hinaus als die offiziellen Vertreter der Macht. 237

Hinter diesem Geltungsdrang stand für die „Geistigen" der Gründerzeit das Bild von den Männern, die — wie Bismarcks Auftreten zu beweisen schien — trotz Reichstag und Parteien noch immer die Geschichte machten. Weit entfernt von der Einsicht in sozioökonomische Zusammenhänge, eröffnete sich im Kult der großen Persönlichkeit ein neuer Mythos, eine Pseudoreligion, deren wortgewaltigster — weil anfangs überhörter — Prediger Nietzsche wurde. Die schrillen Töne bei der Beschwörung einer neuen Kunstepoche kündigten sich schon in der Zeit der Geburt der Tragödie an. Nietzsches Postulat, „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre", 2 3 8 mußte selbst die Fürsprecher einer zynischen Ausbeutermentalität irritieren. Geradezu barbarisch klang die geforderte Trennung in Herren und Sklaven für ältere Liberale oder Künstler, die wie Richard Wagner mit den Ideen von 1848 den Glauben an das kulturelle Regenerationsvermögen der Volksmassen verbanden. Dagegen stellte die Rangordnung zwischen dem Recht des „großen Ein236 Vgl. ζ. B. „Der gründerzeitliche Parvenü", in: Aspekte der Gründerzeit, Ausstellungskatalog der Akademie der Künste, Berlin-West, 1974, S. 7—15, hier S. 13. Vgl. auch seinen Aufsatz „Zur Literatur der Gründerzeit", in: ders., Von Mainz nach Weimar (1793—1919). Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart, 1969, S. 211—249. 237 J. Hermand, „Der gründerzeitliche Parvenü", S. 13. 238 Nachträge aus einer „erweiterten Form der Geburt der Tragödie", GA IX, S. 151.

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zelnen" in Gestalt des Künstlers und der Emanzipation des Volkes Nietzsche vor keine Konflikte oder Skrupel: Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. Hier liegt der Quell jenes Ingrimms, den die Kommunisten und Sozialisten und auch ihre blasseren Abkömmlinge, die weiße Rasse der .Liberalen', jederzeit gegen die Künste . . . genährt haben. 2 3 9

Der Grund, warum sich Nietzsche offener und „gründerzeitlicher" als alle wirklich Prominenten und Mächtigen der Epoche gebärdete, ist — nach Hamann und Hermand — leicht zu durchschauen. Die beiden Autoren glaubten entdeckt zu haben, daß der Philosoph „nie direkt von der Macht und ihren Möglichkeiten redet, sondern nur vom Gefühl der Macht, vom Willen zur Macht, also einer Macht, die man selbst noch nicht besitzt." 2 4 0 Desto rigoroser mußte demzufolge Nietzsche als Sprecher eines schöpferischen „Geistesadels" auf dessen Führerrolle auch im Vergleich zu den „über Gelderwerb und Arbeit Erhabenen" beharren. 241 In Wahrheit hatte der reale Machtzuwachs von Militärkaste und Kapital das traditionelle Standesbewußtsein des Bildungsbürgertums längst erschüttert und ließ es unsicher zwischen Arroganz und Anpassung an das Prunkbedürfnis der gründerzeitlichen Gesellschaft schwanken. Bevor man aber mit Hamann und Hermand Nietzsche als den prominentesten Sprecher für den „Verrat der Geistigen der Gründerzeit" anzuklagen versucht, 242 ist der Blick auf die persönliche Karriere und die Kontakte des Philosophen in den siebziger Jahren unerläßlich. Als Nietzsche 1869 entgegen jeder akademischen Regel noch vor der Promotion als außerordentlicher Professor nach Basel berufen wurde, konnte ihm dort die Gefährdung einer scheinbar wohlgeordneten, patrizischen Urbanität nicht lange verborgen bleiben. Denn im selben Jahr war seine neue Heimatstadt, die Böcklin ironisch als „Nest" beschrieb, 243 Schauplatz des „Vierten Internationalen Arbeiter-Kongresses". Ebenso wie andere Aufsteiger der Zeit empfand Nietzsche das nachdrängende Proletariat als Bedrohung und reagierte ressentimentgeladen. Die Fixierung auf Normen der gesellschaftlichen Oberschicht begrenzte nicht nur sein Differenzierungsvermögen, sondern auch das vieler späterer Verehrer.

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Ebd., S. 152. Gründerzeit, S. 178. Ebd. Ebd., S. 179. So mitgeteilt durch Arnold von Salis. „Erinnerungen an Arnold Böcklin nach Tagebuchnotizen eines Studenten", in: Basler Jahrbuch, 22 (1902), S. 2 - 2 3 , hier S. 5.

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Von Nietzsches Vorliebe für die militärische Pose, seinem mitunter verkrampft offiziersmäßigen Auftreten, war schon in Zusammenhang mit dem Foto aus der „Heldenzeit" des reitenden Artilleristen die Rede. Martin Vogel hat diesen befremdenden Charakterzug als „Uberkompensation" eines höchst sensiblen Gelehrten interpretiert. 244 Viele bedeutende Künstler und Schriftsteller (zum Beispiel Anton von Werner und Heinrich von Treitschke) teilten Nietzsches Schwäche hinsichtlich des Glanzes und der Verherrlichung des Kriegerischen. Für Nietzsche, der das preußische Offizierskorps als ein Kunstwerk ohne Künstler bewunderte, 245 war es konsequent, den eigenen gesellschaftlichen Rang auch außerhalb seines Berufes durch eine militärische Attitüde unter Beweis zu stellen. Der bevorzugte Weg zur Distanz von der Masse der „Vielzuvielen" bestand jedoch im Hervorkehren aristokratischer Vornehmheit. Gelang es Künstlerfürsten wie Makart und Lenbach, souverän mit Kunden aus dem Hochadel als mit Ihresgleichen zu verhandeln, so mußten die minder Arrivierten erst Beweise ihrer Vornehmheit erbringen. Nietzsche etwa kultivierte die Legende seiner Abstammung von einem polnischen Grafengeschlecht und lieferte damit das Muster für zahlreiche Mythenbildungen der Jahrhundertwende. Durch die Frage „Was ist vornehm?" 2 4 6 glaubte der Philosoph darüberhinaus der Ursache gesellschaftlicher Konflikte näherzukommen: D e n Fabricanten und Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der h ö h e r e n R a s s e , welche erst die P e r s o n e n interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des G e burts-Adels im Blick und in der G e b ä r d e , so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der M a s s e n . 2 4 7

Den „Blick" und die „Gebärde" des geborenen Aristokraten fand Nietzsche in der Porträtkunst Alessandro Morettos und Anton van Dycks, deren „adlige Konvention der Geste" man auf einigen Fotos der „Zarathustrazeit" wiederfinden kann. 2 4 8 In Nietzsches Streben nach Nobilitierung und Absonderung mischte sich stets die Sehnsucht nach heroischen Zeitaltern und extremen Landschaften. Die Einsamkeit des Meeres, abwechselnd mit dem Eis des Hochgebirges wie der Glut der Wüste galten dem Nietzsche-Kult, und gelten bis heute, als das Sein äußerer Habitus, z. B. der „Schnurrbart à la Vercingetorix" sollte Nietzsche als „Offizier in Zivil" glaubhaft machen. Vgl. Apollinisch und Dionysisch, S. 286-288. Zitate S. 287 und 288. 2 4 5 Vgl. Der Wille zur Macht, G A XVI, S. 225 (Aph. 796). 246 Vgl. z. B. das so überschriebene neunte Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, (Aph. 257-296). 247 Die Fröhliche Wissenschaft, GA V, S. 77 (Aph. 40). 2 4 8 W. Stein, Nietzsche und die bildende Kunst, S. 12. 244

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angemessene Milieu des Philosophen. Auf Reisen sah er sich gern als Pole angesprochen. Er liebte die französische Kultur, erwog eine Auswanderung nach Japan und beschwor in der Alpenszenerie von Sils-Maria das Bild Mexikos. 249 Die Aufgeschlossenheit Nietzsches für exotische Eindrücke übte auf die Künstler der Jahrhundertwende eine besondere Anziehungskraft aus. Hamann und Hermand unterstrichen das Kulissenhafte des „bedeutungssteigernde[n] Hintergrundfes]" für die Malerei und Literatur der 70er Jahre. 250 Auch Nietzsches Ferne von der Geschäftigkeit der Großstädte und sein Wanderleben zwischen Sils-Maria und dem Mittelmeer entpuppen sich bei näherem Zusehen als gemeinsames Künstlerideal von Gründerzeit und Jahrhundertwende. Die latent „gründerzeitlichen" Züge Nietzsches und seiner Kultgemeinde treten durch deren Sympathie für andere Heroen des neuen Reiches noch deutlicher hervor. „Die große, für die Zeit repräsentative Begegnung zwischen Philosophie und Politik, Geist und Staat", das heißt zwischen Nietzsche und Bismarck, blieb zwar aus, 251 um so eifriger strebten aber die Nietzscheaner der Jahrhundertwende eine nachträgliche Versöhnung der beiden Mächte an. 252 Man kann aus diesem Verhalten eine weitere Legitimation für das NietzscheBild herauslesen, das Hamann und Hermand dem Mythos des autonomen Einsiedlers von Sils-Maria entgegenstellten. Die Vorstellung von Nietzsche als einem nicht mehr ernst genommenen Einzelgänger, wie sie Gisela Deesz und noch Joëlle Philippi für die Zeit nach Menschliches Allzumenschliches konstatierten,253 ist revisionsbedürftig. Immerhin hatte Bismarck Nietzsches erste Aphorismensammlung „in der Hand", 2 5 4 und auch eine so bedeutende Korrespondenz wie die zwischen Adolf von Hildebrand und Conrad Fiedler setzte sich weiterhin mit dem Werk des Philosophen auseinander, auch nachdem dieser auf das publikumswirksame Auftreten im Gefolge Wagners verzichtet hatte. Vermutlich trifft eine Briefstelle Hildebrands den Zwiespalt vieler Intellektueller angesichts Nietzsches Radikalität. So empfahl er im August 1888 seinem Freunde Fiedler: „Lese Nietzsches Genealogie der Moral. Ekliger Kerl, aber sehr wahre Gedanken." 2 5 5 In privaten Zirkeln konnten Nietzsches Kampfansagen also bereits in 249

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Friedrich Nietzsches Briefe an Peter Gast, Hrsg. von Peter Gast, Leipzig, 3 1924, S. 6 4 - 6 5 (Brief vom 14. 8. 1881). Gründerzeit, S. 91. Theodor Schieder, Nietzsche und Bismarck, Kölner Universitätsreden, Bd. 30, Krefeld, 1963, S. 28. Vgl. den Nachruf Otto Julius Bierbaums auf Nietzsche in der Insel, Jg. 2 (1900), Heft 1, S. 1, (Abb. 12): „Deutschland hat seinen zweiten Grossen verloren, — nach Bismarck Nietzsche." Vgl. G. Deesz, Entstehung des Nietzsche-Bildes, Kap. 1 und J . Philippi, Das Nietzsche-Bild, S. 8. R. F. Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 37. Adolf von Hüdebrand. Briefwechsel mit Conrad Fiedler, Hrsg. von Günther Jachmann, Dresden, 1927, S. 270.

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den 80er Jahren kursieren, nur scheute man damals vor dem ö f f e n t l i c h e n Bekenntnis dazu zurück, wodurch erst der Weg zu Ruhm und Verkultung des Philosophen geebnet worden wäre. Uber die Schlüsselrolle, die Böcklin bei einer frühzeitigen Popularisierung Nietzsches zugefallen wäre, läßt sich nur spekulieren. Durch die verständliche Furcht Böcklins und Nietzsches, im Bannkreis Wagners der eigenen Mission untreu zu werden, 256 schien die gemeinsame Formulierung einer neudeutschen, gegen Bayreuth gerichteten Kultur möglich. Wie schon erwähnt, kam es aber zu keiner fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beiden Wiedererweckern eines vitalen, antizivilisatorischen Mythos. Aus diesem Grunde ist es leichtfertig, wenn persönliche Assoziationen konkrete Analogien ersetzen, und Nietzsche zum Beispiel als ein „Böcklin in Worten" tituliert wird. 257 Die Einprägsamkeit derartiger Wendungen täuscht der Forschung leicht eine Austauschbarkeit der führenden Interpreten der Gründerzeit vor. Das schon für die ihnen folgende Generation Nietzsches und Böcklins Werke zu Sinnbildern eigener Protesthaltungen und Sehnsüchte verschmolzen, erhellt nur die Bewußtseinslage der Jahrhundertwende. 258 Ohne Zweifel reizt das Plakative in der Kunst Nietzsches und Böcklins zu Vergleichen: hier das Bild vom „Abenteurer", 259 der als Machtmensch über Leichen reitet, dort die Sympathie für die „prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende b l o n d e Bestie . . .". 26 ° Noch Hamann und Hermand verkürzten diese Parallele voreilig zu einer einschichtigen Entsprechung. 261 Inzwischen hat Norbert Schneider in einer detaillierten Analyse des „Abenteurers" auf das Groteske und Lächerliche der Rittergestalt hingewiesen und die politische Botschaft des Bildes auf den Kopf gestellt: „Böcklin kritisiert vom Standpunkt des humanistisch-fortschrittlichen Bürgertums aus diese [chauvinistischen] Denkstrukturen als parvenuhaft. . . ." 262 Der Spott und die Ironie, mit denen er die allgemeine Großmannssucht seiner Zeit bloßstellte, bestätigen Böcklins Engagiertheit in den Konflikten der 70er und 80er Jahre. So gelang es Wagner nicht, Böcklin als Bühnenbildner zu gewinnen. Dazu Fritz von Ostini in Arnold Böcklin. (Knackfuß-Künstlermonographien, Bd. 70), Bielefeld und Leipzig, 51907: „Böcklin, der in bezug auf Musik sehr bestimmte Ansichten hatte und ganz besonders auf die Alten schwor . . . war gegen Wagner direkt ablehnend. . . ." S. 76. „Böcklin . . . konnte für die Idee des ,Gesamtkunstwerks' nichts übrig haben." S. 78. 257 Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert, Berlin, 1911, S. 605. 258 Vgl. ζ. B. die Beschreibung von Hermann Hesses Zimmerschmuck in den späten 90er Jahren in R. F. Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 181 (bes. Anm. 193c). 259 1 882, Öl/Lw. 115 x 150,5 cm. Bremen, Kunsthalle. 260 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, GA VII, S. 322 (1. Abhandl. 11). 261 Vgl. Gründerzeit, S. 64 und 244. 262 „Ein Kunstwerk und sein Gebrauch IV. Über Arnold Böcklins ,Der Abenteurer'", in: Kunst und Unterricht, 7 (1974), Juniheft, S. 47-52, hier S. 51.

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Daß er dabei als Moralist in eine mythologische Verkleidung auswich (die Ritterwelt eines Don Quichote), irritierte zugleich Freunde und Gegner seiner Kunst. Ähnliche Mißverständnisse verursachte Nietzsches klangvoll-exotische Namensgebung für seinen Helden Zarathustra. Doch waren Böcklin und Nietzsche weder freischwebende Heroen, noch forderten ihre Werke bei aller Gesellschaftsnähe zu direkter politischer Identifikation oder gar Aktion heraus. Den Patriotismus überließen sie selbstbewußt den offiziellen Panegyrikern, die entweder die Gründungsgeschichte des Reiches oder dessen führende Repräsentanten in Szene setzten. Mit Bedauern vermerkte Arthur Seidl das Ausbleiben eines NietzschePorträts von der „Meisterhand" Lenbachs und machte dafür den Zufall verantwortlich. 263 Aus heutiger Kenntnis von Nietzsches Entwicklungsgang erscheint dagegen ein Bildnisauftrag für den Modemaler Lenbach ebenso inkonsequent wie ein Anschluß des Philosophen an Wagners Bayreuther Kreis. Dessen vergleichsweise offenes und demokratisches Angebot an die Gesellschaft — die Festspiele — mußte Nietzsches extremes Elitebewußtsein verletzen wie jede auf Massenwirkung berechnete Kunst überhaupt. Es gehört zu den Widersprüchen der Jahre nach 1870, daß typisch gründerzeitliche Ideale wie Ichkult und Prunkbedürfnis im Lebensstil zweier Außenseiter gipfelten, die von ihrem gesellschaftlichen oder geistigen Rang beflügelt, vorgaben den Zeitgeist zu verachten. Die Rede ist von Ludwig II. von Bayern und Nietzsche. Auf dem Wege zu ihrer Selbstverwirklichung erlagen beide dem Zeitgeist in seiner stärksten Ausprägung: der Musik Richard Wagners. Diese Faszination ist auch heute nachzuempfinden, erfreuten sich doch Kompositionen aus den Gründerjahren im Gegensatz zu Baukunst und Kunstgewerbe stets ungeteilter, ja wachsender Bewunderung. Als ein scharf beobachtender Nietzsche-Verehrer notierte sich Christian Morgenstern 1906 zur Abhängigkeit des Philosophen von seiner Umwelt: „Unglückselige kleine Zeit, du hast auch auf ihm, deinem Größten, gelastet." 2 6 4 Leider blieb sogar dieser wohlwollende, kompromißbereite Standpunkt für die Nietzscheaner inakzeptabel, so daß die Trennung von jahrzehntelang tradierten Mythen — mit anderen Worten die Versachlichung der Nietzsche-Forschung — besonders schmerzhaft wurde.

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„Nietzsche-Bildwerke", S. 385. Trotz dieser eindeutig negativen Aussage Seidls wird in einer „Mappe: künstlerische Darstellungen Nietzsches", die das Archiv ca. 1942 anlegte, ein „Ölgemälde (angeblich von Lenbach)" aufgeführt. Weimar, NFG (GSA) 72/2458 a. Laut Auskunft des Goethe-Nationalmuseums ist ein Nietzsche-Porträt Lenbachs im NFG-Bereich weder im Original noch als Reproduktion vorhanden. Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen, München, 1918, S. 80.

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2.2.2 Gegen Historismus und Akademie Noch vor wenigen Jahrzehnten war eine Annäherung an die bürgerliche Kunst und Kultur des späten 19. Jahrhunderts nur auf Umwegen, gleichsam unter Protest, möglich. Für die „Kinder der Gründerzeit" 2 6 S verblaßten weite Strecken der jüngsten Geistesgeschichte zum Hintergrund säkularer „AntiGestalten", die „ihren unerbittlichen Kampf gegen den herrschenden Ungeist" ausfochten. 266 Der Gedanke, daß historischer Fortschritt — wenn überhaupt realisierbar — mit individuellen Leidensgeschichten erkauft werden müsse, hatte schon Nietzsche in seiner Rolle des „Unzeitgemäßen" bestärkt. Hinzu kam ein Mangel an qualifizierter zeitgenössischer Kritik, der das Sendungsbewußtsein des Philosophen gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen und Autoritäten ins Maßlose steigerte. Der weitgehende Konsens über Nietzsche als Befreier vom Druck des Historismus und des Akademismus überrascht zuerst in der ansonsten kontroversen Einschätzung seiner Verdienste. Es bedurfte aber schon in der Vergangenheit nicht der Pathetik eines Nietzscheaners, um Sympathien für den Kampf des Philosophen gegen den deutschen „Bildungsphilister" 267 zu empfinden. Deshalb scheint das Nachzeichnen eines allseits gewürdigten Charakterzuges Nietzsches kaum zum Widerspruch herauszufordern, anders als die These von seiner Verstrickung in die Gründerzeit, für die die Belege erst Stück für Stück zusammengetragen werden mußten. Beide Ausgangspunkte der bildkünstlerischen Rezeption Nietzsches wurden nur der Übersichtlichkeit wegen getrennt. Für das Selbstverständnis und die Praxis der einzelnen Künstler waren fast immer beide Tendenzen des Vorbildes maßgebend. Bevor ein kurzer Querschnitt durch das antiphiliströse Wortarsenal gewagt wird, das Nietzsche für jeden Stilerneuerer um 1900 bereithielt, bleibt zweierlei gegenüber einem pauschalen Lob des Philosophen auf Kosten des Historismus zu bedenken. Erstens entsprangen beide angeblich unvereinbaren Ansätze bürgerlich-humanistischem Denken, und berührten sich in ihrer Grundtendenz, der hohen Wertschätzung des Individuellen im historischen Prozeß. Zweitens beanspruchen viele der historisierenden Künstler — für die ältere Generation noch „längst vergessene Akademiker" 2 6 8 — inzwischen die

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T i t e l

von Kap. 11 des Ausstellungs-Kataloges Aspekte der Gründerzeit, S.241. Hans Curjel, „Vom 19. zum 20. Jahrhundert" (1952), zitiert nach: Jugendstil, Hrsg. von Jost Hermand, Darmstadt, 1971, S. 123-144, Zitate S. 126. Zuerst auf David Strauß gezielt (vgl. David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller), ging das Schmähwort Nietzsches in den allgemeinen Sprachgebrauch über. H. Curjel, „Vom 19. zum 20. Jahrhundert", S. 126.

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Aufmerksamkeit der Kunstwissenschaftler. Die Phase einer bloß selektiven, widerstrebenden Aneignung des historistischen Erbes ist abgeschlossen. 269 Mit der Aufwertung der „Neostile" 2 7 0 werden zwangsläufig auch deren Überwinder erneuter Kritik ausgesetzt. Schon 1913 hatte Max Brod das Stilideal einer Einheit von Kunst und Leben als Dogma neuer akademischer Tyrannei diagnostiziert. 271 Verglichen mit der Pluralität und Liberalität des Historismus bedrohte das „Stilkunst-Behagen in der Kultur" 2 7 2 auch die letzten Reste von unverfälschter Wirklichkeit, weshalb sich zum Beispiel Karl Krauss und Sigmund Freud der „Faszination des Trivialen" zuwandten. 273 Bei den im Folgenden zitierten Angriffen Nietzsches gegen Historismus und Akademien stellt sich die Frage, warum ein Denker, der stets Wahrhaftigkeit verlangte, das Stil- und Bildungschaos des 19. Jahrhunderts nicht als den ehrlichsten Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche gelten ließ. Warum setzte er auf ein allmächtiges, Kunst und Leben widerspruchslos überformendes, ästhetisches Programm? Gab es eine Alternative zu dieser Scheinsynthese, mit der Nietzsche die Hoffnungen der Stilerneuerer vorwegnahm? Während zum Beispiel die meisten Zeitgenossen das Nebeneinander eklektizistischer Produkte als positive Durchdringung der Geschichte empfanden, ballte sich für Nietzsche der gesamte Historismus in Kunst und Wissenschaft zu einem „chaotischen Durcheinander" zusammen. 274 Die Verfügbarkeit von „Formen, Farben, Producte[n] und Curiositäten aller Zeiten und aller Zonen" bringe nicht nur eine unästhetische „Jahrmarkts-Buntheit" hervor, 2 7 5 für das kulturell instabile Deutschland drohe darüber hinaus durch diese Ubersättigung ein Rückfall in die Barbarei. Man muß das Gespür des jungen Nietzsche für die mangelnde Integrationsfähigkeit des Reiches bewundern, darf aber nicht vergessen, daß diese Kritik vielen Verehrern des Philosophen nach 1900 den Vorwand für ihren Haß auf Bildung und Kultur lieferte, soweit diese dem Ausland entstammten. Dabei zeugte es von Mut gegenüber seinen Landsleuten, und nicht von Hochmut gegenüber dem militärisch besiegten Feind, wenn Nietzsche 1873 schrieb: „Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen — und abhängen müssen: denn bis jetzt

269 N o c h 1936 glaubte Friedrich Meinecke seine maßvolle Würdigung des Historismus als wissenschaftliche Methode rechtfertigen zu müssen. Vgl. die Vorbemerkung zu Die Entstehung des Historismus, 2 Bde., München und Berlin, S. 1 — 10. 270 271 272

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Vgl. die gleichlautende Untersuchung Hans Müllers, Leipzig, 1979. Vgl. W. Hofmann, Gustav Klimt, S. 48. Ebd. Ebd., S. 47. Unzeitgemässe Betrachtungen I, GA I, S. 183 (Kap. 1). Ebd., S. 184.

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giebt es keine deutsche originale Kultur." 276 Wer diese ernüchternde Beobachtung mit Heinrich von Treitschke der „Reichsfeindlichkeit"277 gleichsetzte — und das war die Mehrzahl seiner akademischen Kollegen — dem konnte Nietzsche nur programmatisch antworten: „Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen." 2 7 8 Erst nachdem dieses zugleich nationale wie kosmopolitische Selbstverständnis der Goethezeit endgültig verloschen war, provozierte Nietzsche seine Gegner durch den Vorwurf des „Hornvieh-Nationalismus."279 Rückblickend hat man Nietzsches ästhetische Opposition gegen die Stillosigkeit des neuen Reiches als unpolitische und unsoziale Absage an den Staat schlechthin interpretiert.280 Indem der Philosoph jedoch eine ästhetische Forderung wie die nach Stileinheit zum Mittelpunkt seines Generalangriffes auf alle Schwächen der Nation erhob, setzte er auch hierin nur die goetheschen Traditionen fort, die das Kulturbewußtsein über das Staatsbewußtsein stellten. Schon auf der ersten Seite der ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung" war deutlich der Preis genannt worden, den Nietzsche und gerade viele der älteren Intellektuellen nicht zahlen wollten, die „ E x t i r p a t i o n des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen R e i c h e s ' " . 2 8 1 Heute käme niemand auf den Gedanken, diesen Glauben Nietzsches an die Macht der Kultur als staatsfeindlichen Kosmopolitismus zu denunzieren. Dieselbe Uberschätzung der Willenskraft einer elitären Intelligenz, in der sich schon Nietzsche und die Nietzscheaner getäuscht hatten, sprach noch aus der Angst, daß künstlerische Bewegungen wie etwa die Ablösung des Historismus durch einen Zukunftsstil Staat und Gesellschaft erschüttern könnten. Die Nöte engster Zirkel wurden in den Augen ihrer Mitglieder zu Schicksalsfragen des Zeitalters. So konnte nur für einen sehr kleinen Kreis der Gebildetsten ein Zuviel an historischer Kenntnis überhaupt problematisch werden. Nur eine Elite war in der Lage, nachzuempfinden, was Nietzsche während seiner „Unzeitgemäßen Betrachtung" Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben bedrückte: „. . . alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu." 2 8 2 Entsprechend begrenzt mußte das Auditorium sein, vor dem der Philosoph in pädagogischem Eifer zur Gesundung von historistischen Auswüchsen 276 277 278 279 280 281 282

Ebd., S. 184. Mitgeteilt in: Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen. Die Lebensgeschichte in Dokumenten, Hrsg. von Alfred Baeumler, Leipzig, 1932, S. 233. Menschliches Allzumenschliches II, GA III, S. 159 (Vermischte Meinungen und Sprüche, Titel von Aph. 323). Der mile zur Macht, GA XVI, S. 192 (Aph. 748). Vgl. Otto Westphal, Die Feinde Bismarcks, Berlin und München, 1930. Unzeitgemässe Betrachtungen I, GA I, S. 180 (Kap. 1). Unzeitgemässe Betrachtungen II, GA I, S. 311 (Kap. 4).

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aufrief. Der Widerstand, mit dem die Universitäten, Akademien und humanistischen Gymnasien als Multiplikatoren „toter" Bildung auf jeden Reformversuch reagierten, ließ Nietzsche um so stärker an seiner Lieblingsidee einer ,,klösterlich-künstlerische[n]" Gegenakademie für freie Geister festhalten. 283 In welchem Ambiente man sich diesen Rückzug „von aller officiellen Beziehung zu Staat und Universität" vorzustellen hat, deutete Nietzsche 1874 in einem Brief an Erwin Rohde an, worin er den Freund zu einem ähnlichen Schritt überreden wollte: „Einstweilen habe ich Rothenburg ob der Tauber als meine Einsiedelei und Privatburg ausgesucht. . . . Dort geht es wenigstens noch ganz altdeutsch zu; und ich hasse die charakterlos gemischten Städte, die nicht mehr ganz sind." 284 Nicht umsonst hatte Nietzsche N u t z e n und Nachteil der Historie gegeneinander abgewogen. Daß er aber ausgerechnet Rothenburg, den Hort eines deutschtümelnden Historismus, als die ihm entsprechende Atmosphäre aufsuchen wollte, muß doch verblüffen. Für die Leserschaft der Jahrhundertwende waren diese privaten Neigungen des Philosophen zur „altdeutschen" Gemütlichkeit allzu geläufig, als daß man sie neben der antihistorischen Rhetorik des Propheten Nietzsche ernstnehmen mochte. In der ersten Rezeptionsphase überlas man Zwischentöne zugunsten einzelner spektakulärer Bekenntnisse, mit denen Nietzsche sich und seinen Anhängern Mut zur Ignoranz einredete: Und wenn die Wälder immer spärlicher werden sollten, möchte es nicht irgendwann einmal an der Zeit sein, die Bibliotheken als Holz, Stroh und Gestrüpp zu behandeln?. . . Und hatten sie [die Bücher] kein Feuer in sich, so soll das Feuer sie dafür bestrafen. 2 8 5

Im Zarathustra formulierte Nietzsche schließlich das Glaubensbekenntnis jeder Stilerneuerung mit zwingend optimistischem Pathos: „Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen." 286 Die Futuristen, die zumindest verbal als die skrupellosesten Erfüller dieses Postulats auftraten, konnten dabei mit Recht auf Nietzsches Schwanken zwischen Bewahren und Vernichten der humanistischen Bildungswelt hinweisen. „Trotz seines Strebens in die Zukunft bleibt Nietzsche doch einer der hartnäkkigsten Verteidiger der Größe und Schönheit der Antike." 287 Wenn Filippo 283 284 285 286 287

Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, S. 159 (Brief vom 15. 12. 1870). Ebd., S. 332 (Brief vom 14. 5. 1874). Unzeitgemässe Betrachtungen III, GA I, S. 418 (Kap. 4). Also sprach Zarathustra II, GA VI, S. 169 („Von der Selbst-Uberwindung"). Filippo Marinetti, „Was uns von Nietzsche trennt" (1911), zitiert nach: Christa Baumgarth, Geschichte des Futurismus, Reinbek, 1966, S. 127. Auf die Gemeinsamkeiten von Nietzsches Herrenmenschen mit den futuristischen Helden kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu ebd., S. 127-129.

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Marinetti jedoch an gleicher Stelle Nietzsche auf das Niveau eines beschränkten „Passatisten" abzudrängen versuchte, so muß man das dem aggressiven Selbstbewußtsein seiner Bewegung anrechnen, als erste in Europa gegen Historismus und Akademien gekämpft zu haben. Jenseits jedes Prioritätsstreits markieren sowohl Nietzsches Absage an den Ballast historistischer Scheinbildung, als auch die tendenziell totale Verweigerung der Futuristen den Auftakt und den ersten Höhepunkt der Suche nach neuen künstlerischen Möglichkeiten zwischen 1880 und 1910. Dazwischen angesiedelt, besitzt die Generation der Stilreformer noch Nietzsches Vertrauen in eine Renaissance traditioneller Kunstübung. Als ,,allgemeine[n] Historismus ohne formale Bezüge" stufte Giulio Carlo Argan diese immer unverbindlichere Verpflichtung dem Erbe, insbesondere dem der Antike gegenüber, ein. 288 In den rund zwei Jahrzehnten, die zwischen Nietzsches antihistorischem Impuls und dessen Aufnahme durch die Künstlerschaft vergingen, erwies sich der akademisch verfestigte Historismus entgegen Nietzsches Prophezeiung als durchaus wandlungs- und integrationsfähig. Deshalb waren manche der alten Sorgen, aus denen heraus der Philosoph den „grossen Stil" herbeigesehnt hatte, inzwischen zerstreut. Neue Entwicklungen zeichneten sich ab, die den Jüngeren entsprechende Formen der Distanzierung aufzwangen. 289 Trotzdem blieb für weite Teile der Intelligenz Nietzsche die alle überragende Symbolgestalt, der man verwandte Denkansätze anderer Reformer unterordnete, so den Protest gegen die positivistische Faktenflut, den Heinrich Wölfflin schon in den späten 80er Jahren mit dem Ruf nach einer die Formen analysierenden Kunstgeschichte „ohne Namen" eröffnete. 290 Wenn aus heutiger Sicht einige Abstriche an Nietzsches tatsächlicher Führerrolle im Kampf gegen Historismus und Akademien vorgenommen werden mußten, so bleibt sein phänomenaler Erfolg in den nachfolgenden Generationen unbestritten. Diese Ausstrahlungskraft — ob berechtigt oder auf Mißverständnissen basierend — steht im Mittelpunkt des Nietzsche-Kultes. Das unorthodoxe Leben des Philosophen zwischen Wissenschaft und Künstlertum gipfelte für die Nietzscheaner in seinem Rückzug aus der akademischen Welt, dem Gottfried Benn im Namen vieler Verehrer schicksalhafte Bedeutung beimessen wollte: 288 289

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Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. 12, Berlin, 1977, S. 57. Noch Le Corbusier ist dem Ausklang dieser Bewegung zuzurechnen. Ebd. 2 . B. spielte die Opposition bürgerlich-liberaler Kreise Süddeutschlands und der Schweiz gegen eine befürchtete „Verpreußung" der deutschen Kunst nach der Reichsgründung — der Dualismus München—Berlin — um 1900 keine Rolle mehr. Der Historismus erreichte dagegen erst nach Nietzsches Zusammenbruch seinen Höhepunkt, indem europäische mit exotischen Vorlagen unbedenklich kombiniert wurden. Vgl. Renaissance und Barock, München, 21907, S. VII (Vorwort von 1888).

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schon hier trennten sich die beiden Welten: die historisch-wissenschaftliche und die Expressions- und Ausdruckswelt, deren erste Erscheinung Flammenwerfer und Grundlagendeponent Nietzsche war — diese Welt, deren Wesen und Faszination, eine sowohl tiefe wie suggestive Gruppierung, das blendende Arrangement war und das Fragment. 2 9 1

2.3 Nietzsche

als Sprecher des bedrängten

Bildungsbürgers

2.3.1 Die Krise der „Intellektuellen Zwischenschichten" Keiner aufmerksamen Nietzsche-Lektüre bleibt verborgen, wie der Philosoph oft unvermittelt die Zurückhaltung des Intellektuellen und Ästhetikers aufgab, um — ob bewußt oder unbewußt — die vitalen Interessen seiner künftigen Gemeinde zu antizipieren. Ist es verwunderlich, daß auch die Sprache dieser Apologetiken relativ matt oder hysterisch klingt, damit aber den Ressentiments durchschnittlicher Bildungsbürger um so mehr entgegenkam? Eine Probe von Nietzsches Wohlwollen gegenüber jenem Teil der Leserschaft, hinter dem schon einleitend der „gebildete Mittelstand" vermutet wurde, 2 9 2 führt zugleich in die soziale Ungewißheit dieser Kreise ein. Nachdem der Philosoph beispielsweise in Menschliches Allzumenschliches II antike wie zeitgenössisch-sozialistische Antworten auf das Problem, „ O b der B e s i t z mit der G e r e c h t i g k e i t a u s g e g l i c h e n w e r d e n k a n n " verworfen hatte, 2 9 3 resümierte er sein eigenes Vermittlungsangebot wie folgt: Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflösse und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung g r o s s e r Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften — und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen. 2 9 4

Mit seltener Klarheit ist hier die doppelte Frontstellung bezeugt, in der sich die Mittelschicht der neuen Großbourgeoisie wie dem Proletariat gegenüber wähnte. Die zunehmende Polarisierung zwischen den letztgenannten Kräften seit den 70er Jahren zwang auch den Mittelstand als Bewahrer traditioneller Geistigkeit zur Neudefinition seines Selbstverständnisses. In der Härte und Hektik der modernen Konkurrenzgesellschaft wurde Nietzsches Individualismus zu einem Vorboten der desperaten „Gemütsverfassung des modernen Bil291 292 293 294

„Nietzsche nach 50 Jahren", S. 34. Vgl. S. 1 9 - 2 0 . GA III, S. 346 (Der Wanderer und sein Schatten, Titel von Aph. 285). Ebd., S. 348.

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dungsmenschen", wie es Georg Tantzscher im Todesjahr des Philosophen formulierte. 295 Gerade der zumeist politisch und ökonomisch unorganisierte Geistesarbeiter sei den Marktmechanismen schutzlos ausgeliefert. 296 Bevor über die genaue Zusammensetzung, über Qualifikationen und Rangabzeichen der damaligen Bildungselite berichtet wird, muß vor einem naheliegenden Irrweg gewarnt werden: nämlich aufgrund der Häufung von Klagen und Anklagen aus den Reihen der Bildungsbürger nur diese allein als Opfer eines isolierten Entfremdungsprozesses zu bedauern. Vielmehr erfaßten die neuen Abhängigkeiten andere Bevölkerungsschichten schneller und härter, doch zeichnet es die intellektuellen Berufstätigkeiten aus, daß sie sich — wie im Naturalismus versucht — zum Medium gesamtgesellschaftlicher Mißstände erheben k ö n n e n . Was nun die Kulturkritiken der Nietzscheaner betrifft, so versäumten fast alle, die angeprangerte Herabwürdigung des Menschen zum Anhängsel einer anonymen Maschinerie am Ort ihrer brutalsten Umsetzung zu suchen, im Elend der modernen Produktions- und Massenquartiere. 297 Stattdessen konzentrierte die Anhängerschaft Nietzsches ihre Sensibilität auf Folgeerscheinungen der modernen Industrie, insbesondere die rapide Verstädterung, von der man resigniert und einseitig nur als Verschandelung des alten, romantischen Deutschland Kenntnis nahm. Ein öffentliches Engagement im Sinne Zolas war den deutschen Intellektuellen seit ihren Mißerfolgen in der 1848er Revolution stets verdächtig geblieben. Diese Enttäuschung leistete auf lange Sicht einem paradoxen Verhalten Vorschub, indem man sich bei zunehmend kollektiven Konflikten (Standortsuche der Intelligenz zwischen politischen Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden) bewußt in private, fluchtartige Scheinauswege hineinsteigerte. Stimulierend für diese Fehlreaktion wurde, wie schon kurz skizziert (S. 19—20), daß aus dem Blickwinkel einer literarisch geprägten Bildungselite die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Periode des Abbaus althergebrachter Privilegien zusammenschmolz. Von dieser schmerzhaften Erfahrung zur Gleichsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts mit Nivellierung und Verfall war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Jenseits jeder Tagespolitik und des Parteiengezänks schien die Prophetenstimme Nietzsches nur wohlerworbene Rechte von Individuen zu verteidigen. Damit hielt der Philosoph auch in der Zukunft einen Freiraum offen für die gewohnte, kontemplative Lebensweise des Bildungsbürgertums. Folgt man diesem Gedankengang, so Friedrich Nietzsche und die Neuromantik, Dorpat, 1900, S. 5. Ebd., S. 8. 297 Versuche, über den Horizont bürgerlicher Nietzsche-Rezeption hinaus die Erfahrungen und Nöte anderer Leserschichten zu Wort kommen zu lassen, blieben Ausnahmen. Vgl. Adolf Levenstein, Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse, Leipzig, 1914. 295

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konnten weder der Sozialismus noch der Kapitalismus mit einem gleichrangigen Elitedasein aufwarten. Ein zukünftiger Sozialismus hatte im Weltbild der meisten Intellektuellen nur den Platz einer Schreckensvision, die man sich entweder als chaotische Anarchie oder als öde Funktionärsbürokratie ausmalte. Für die Widersprüche des Kapitalismus war dagegen schon das Schlagwort parat: als „seelenloser", importierter Mammonismus würde er, sich selbst überlassen, jede Geisteskultur auslöschen. 298 Schließlich bot auch der Staat mit seiner nach 1871 über ganz Deutschland ausgedehnten preußischen Beamtenhierarchie dem Intellektuellen immer weniger eine Heimat. In diesem Klima gediehen „keine Originale mehr", wie ein Zeitgenosse resümierte. 299 Bereits Ende der zwanziger Jahre hat Hans Speyer überzeugend die Etappen nachgezeichnet, die der Verfall historischen Bewußtseins bei den Sprechern des Bildungsbürgertums während des 19. Jahrhunderts durchlief. 300 Dabei unterstrich der Verfasser die Eigenarten der deutschen Geistesgeschichte vor allem nach der Auflösung des Zusammengehens von Intelligenz und Politik im Vormärz. Ohne Augenmerk auf diese national bedingte Logik zwischen Isolierung und Sendungsbewußtsein einer „freischwebenden Intelligenz" 3 0 1 blieben viele Widersprüche gerade im Nietzsche-Kult — zum Beispiel Hang zur Einsamkeit und gesetzgeberischer Befehlston — zusammenhanglose Willkür. Mit dieser Spannung zwischen Rückzug und Führerpathos kämpften notgedrungen auch alle Phasen der Bildnis- und Illustrationskunst der Nietzscheaner, indem sie um den jeweils zeitgemäßen Akzent bemüht waren. Nicht selten aber prallte die unterschiedlichste Formensprache im einzelnen Kunstwerk hart aufeinander. 302 Während Speyer seine Analysen zur Genese moderner Intelligenzutopien auf Deutschland beschränkte und speziell die Zählebigkeit des klassischen Humanitätsideals der Goethezeit bis in seine Gegenwart verfolgte, sucht die neueDie allseitige Beliebtheit solcher Verwünschungen belegten R. Hamann und J. Hermand in Stilkunst um 1900 durch zahllose Beispiele. 2 9 9 rj. 2iegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands, S. 601. 3 0 0 „Zur Soziologie der bürgerlichen Intelligenz in Deutschland", in: Die Gesellschaft 6,2 (1929), S. 58—72. Daß dieser Text noch heute als Diskussionsgrundlage brauchbar ist, unterstreichen G. Mattenklott und K. R. Scherpe durch dessen Abdruck in ihrem Sammelband zu den Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, S. 9 - 2 4 . 3 0 1 K. R. Scherpe kritisiert in seinem „Kommentar zum Aufsatz von Hans Speyer", in: Ebd., S. 25—38 diese besonders von Karl Mannheim zum Theorem entwickelte Konstruktion. (Vgl. hier bes. S. 28—31). Dort findet man auch neuere Literatur zu Mannheims Postulat nach einem neutralen Richteramt der Intelligenz zwischen den Klassenfronten. 302 Vg] z g . Abb. 1. Der Bruch zwischen genrehafter, biedermeierlicher Idylle und kalter, neoklassizistischer Rahmung auf Curt Stoevings „Nietzsche in der Gartenlaube" von 1894 erscheint besonders symptomatisch und wird in Abschnitt 3.1.2.1 ausführlich behandelt. 298

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re, großangelegte Untersuchung Fritz Sterns Kulturpessimismus als politische Gefahr303 bewußt den europäischen Kontext. Wie Ralf Dahrendorf einleitend dazu feststellt, sei der Grundimpuls des Buches, die „tragische Spannung" zwischen Deutschland und dem „Westen" abzubauen, 304 das heißt das deutsche Geistesleben unter ein „abendländisches" Dach zurückzuführen. Wichtig ist bei Stern, daß er neben den Konservativen Paul de Lagarde, Julius Langbehn (der „Rembrandtdeutsche") und Arthur Moeller van den Bruck auch Nietzsche seiner „Pathologie der Kulturkritik" 305 unterwarf, ohne daß der Verfasser Charakteristika der Nietzsche-Gemeinde, wie deren vergleichsweise lockere Gruppierung und schwach ausgeprägten Nationalismus und Antisemitismus unterschlug. 306 Nach ihrem Auditorium befragt, hätten alle völkischen Kulturkritiker ohne Zweifel das deutsche Volk genannt. Erreicht haben ihre Gedanken, von Langbehns fast gleichzeitig mit dem Durchbruch Nietzsches in der Öffentlichkeit anonym erschienenem Rembrandt als Erzieher307 einmal abgesehen, stets nur einen „Kernbereich des Bildungsbürgertums", wie ihn Klaus Vondung für die wilhelminische Ära als relativ konstant annimmt. 308 Innerhalb dieser nach eigener Einschätzung die wahre Kulturnation verkörpernden Schicht unterscheidet Vondung eine „erste — und wichtigere — Obergruppe", zu der er die „höhere Beamtenschaft mit Universitätsprofessoren, Oberlehrern ( = Gymnasiallehrern), Richtern, höheren Verwaltungsbeamten" zählt; „Die zweite Obergruppe bilden die akademischen freien Berufe: Ärzte, Rechtsanwälte, sowie Schriftsteller, Künstler, Journalisten und Redakteure mit entsprechender Ausbildung." 309 Besonderen Einfluß schreibt Vondung der Vorbildfunktion von Berufsangehörigen zu, die nicht nur durch ihre Ausbildung dem Bildungsbürgertum angehören, sondern auch weiterhin hauptberuflich .Bildung* betreiben (im dreifachen Sinn der Ent-

Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern, Stuttgart, Wien, 1963. F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. XII. Es fragt sich, wie überlebt wertende Verallgemeinerungen dieser Art heute schon sind, und wodurch sie provoziert wurden. Alle Fronten, die z. B. Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin, 1918, beschworen hatte, existierten nie in der oben vermuteten Grundsätzlichkeit. 3 0 5 Ebd., S. 1. 3 0 6 Gut illustriert werden diese Differenzen von der materialreichen, leider unübersichtlichen Untersuchung von Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutschen Gebildeten in der Epoche des Imperialismus, Göttingen, 1969. Bezeichnenderweise lehnte Nietzsche die Mitarbeit am Kunstiiiart 1887 ab. Vgl. ebd., S. 105. 3 0 7 Von einem Deutschen, Leipzig, 1890. 308 Vgl. „Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit", in : Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen, 1976, S. 2 0 - 3 3 , hier S. 25. 3 0 9 Ebd. 303

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wicklung von Realitätsdeutungen und Ordnungsentwürfen, der Ausbildung von Menschen, der Bildung der öffentlichen Meinung). . . . 3 1 0

Wie jeder Blick auf den aktiven Kern des Weimarer Nietzsche-Kultes bestätigen muß, dominierten die von Vondung hervorgehobenen Berufsgruppen, besonders was die künstlerische Inszenierung und Propaganda betraf. Weiterhin wird man auch die anderen, vom Verfasser namhaft gemachten Eigenschaften der Bildungsbürger bei den einflußreichen Nietzscheanern vermuten dürfen wie — „Prädominanz des gesellschaftlichen Prestiges" vor materiellen Erfolgen, — Uberwiegen des protestantisch-norddeutschen Elementes, — „Gleiches Herkommen . . . gleichartige Ausbildung", die Mentalität und soziales Verhalten prägen und zu ,,,Ιη-group-Verhalten' im gesellschaftlichen Verkehr" führten. 3 1 1 Deutlich wird dieses Uberlegenheitsgefühl gegenüber zwei anderen, qualifizierten Gruppen, die als Funktionseliten in der Großindustrie unentbehrlich wurden: die neue Großbourgeoisie der Konzerne und Banken und die neu aufsteigende wissenschaftlich-technische Intelligenz. Beide sozialen Konkurrenzgruppen wurden als halbgebildet diffamiert. Während das Besitzbürgertum immer mehr humanistischen Bildungsballast abgeworfen hatte, galten die Techniker und Ingenieure nur als Produkte derjenigen Hochschulen, die um 1900 durch Kapitalzuschüsse den Charakter von Großbetrieben der Forschung angenommen hatten. 312 Vondung nennt schließlich neben der neuen Technokratie noch „zwei Randgruppen des Bildungsbürgertums" : katholische Akademiker und Volksschullehrer. 313 Im Nietzsche-Kult konnten sie auch nur eine Außenseiterrolle spielen. Nachdem versucht worden ist, die innere Zerrissenheit der bürgerlichen „Geistaristokraten" aus deren Marginalisierung für den modernen Wirtschaftsprozeß herzuleiten, ist ein abschließender Blick auf das Selbstverständnis wenigstens eines maßgeblichen Nietzscheaners angebracht. Damit können schematische Überzeichnungen korrigiert und die Stilelemente im NietzscheKult betont werden, die ihn aus dem breiten Strom der sonstigen Ideologieproduktion um 1900 hervorheben. Fritz Koegel, der in den entscheidenden Gründungsjahren des NietzscheKultes als enger Vertrauter der Schwester des Philosophen die wissenschaftli-

Ebd., S. 2 6 - 2 7 . Alle Zitate ebd., S.26. 312 Vgl. Ulrich Linse, „ D i e Jugendkulturbewegung", in: Das wilhelminische Bildungsbürgertum, S. 119-137, bes. S. 122-123. 3 1 3 „Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit", in: Ebd., S. 27. 310

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che Arbeit des Archivs leitete, fordert in doppelter Hinsicht dazu heraus, denn mit der Veröffentlichung seiner anonymen Schrift Vox humana. Auch ein Beichtbuch314 legte der junge Kunsthistoriker schon 1892 ein Bekenntnis zu Nietzsche ab, das als Musterbeispiel pathetischer Jüngerschaft gelten konnte und die Aufmerksamkeit des Archivs auf ihn lenkte. Außerdem gehörte Koegel zur Generation Harry Graf Kesslers und Henry van de Veldes, denen Nietzsche als Kronzeuge bei ihrer Selbstfindung diente. Sie waren bereit, ihre Lebensführung, Berufswünsche etc. auf Nietzsches Werk abzustimmen, wie Koegel, der eine Direktorenstelle beim Mannesmann-Konzern aufgab, und eine diplomatische Karriere zugunsten des Nietzsche-Archivs ausschlug. Neben der unfreiwillig komischen Karikatur Nietzsches, aber auch Langbehns in Stil, Wortwahl und Interpunktion fällt in Koegels „Beichtbuch" zunächst auf, daß er es mit Aphorismen zum Thema „Einsamkeit" beginnt und diese in ermüdender Weise variiert. Wer daraus auf ein weltentsagendes Einsiedlerideal des typischen Nietzscheaners schließt, wird in einem Aphorismus Koegels zu den „Parteien" eines Besseren belehrt. Hierin geht der Verfasser vom Urhaß zwischen Besitzenden und Besitzlosen aus. „In diesem großen Streit (dem Lebensstreit der heutigen Gesellschaft) können eigentlich nur die Söhne der gebildeten Mittelklasse unparteiisch bleiben . . . Sie können gerecht sein, da sie von Haus aus keiner der beiden Parteien angehören." 315 Im Kern tritt also bereits hier das Vermittlungsmodell zutage, das in der Formulierung durch Karl Mannheim zur weitverbreiteten Hoffnung der Bildungsbürger werden sollte. Schon Nietzsche hatte ihnen „gute Botschaft" verkündet: Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: — und aus ihm der U b e r m e n s c h . 3 1 6

Mit dieser Stimmungslage vieler „Geistaristokraten" aus der Nachbarschaft Koegels ist die Unsitte eng verwandt, die Höhen der „Cultur" gegen die Niederungen der „Civilisation" auszuspielen. Auch hier gab Nietzsche selbst das Stichwort, wenn er von einem „abgründlichen Antagonismus" zwischen beiden Begriffen sprach. 317 Seine Nachfolger haben fast immer die Zivilisation mit der Gegenwart, die Kultur aber mit einer glorreichen Vergangenheit

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Stuttgart, Leipzig, Berlin, 1892. Vox humana, S. 180. Also sprach Zarathustra I, GA VI, S. 114 („Von der schenkenden Tugend" 2). Ein Lieblingsbild der Jahre um 1890 war bezeichnenderweise Eugen Brachts „Gestade der Vergessenheit", eine pathetisch inszenierte Weltflucht. Abb. in: Ein Dokument deutscher Kunst. Bd. 3. Akademie — Sezession — Avantgarde um 1900, S. 23. Der Wille zur Macht, GA XV, S. 230 (Aph. 121).

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gleichgesetzt. Wie Hermann Rudolph feststellte, wurde Kultur zur „Lebensform der Entmachteten." 318 Ihre größte Durchschlagskraft entwickelte die These unter den Nietzscheanern, als sie 1914 endgültig zur Rechtfertigung des Krieges gegen eine undeutsche Zivilisation mißbraucht wurde. Doch schon für die Enttäuschung zahlreicher Intellektueller am Naturalismus und ihre Hinwendung zu Nietzsche und Langbehn ist vermerkt worden: „Das Irrationale fehlt, das unserem deutschen Begriff von Geistigkeit erst Inhalt und Wesen verleiht. . ." 3 1 9

2.3.2 Nietzsches Aufstieg und die Verdrängung des Naturalismus Wenn der Personenkult um Nietzsche nur eine Variante innerhalb der tendenziellen Anfälligkeit der Intelligenz für metaphysische Heilserwartungen darstellt, so müssen sich alle konkreten Faktoren bei der „Entdeckung" des Philosophen in den Jahren 1888 bis 1890 mit der Nebenrolle von Katalysatoren bescheiden. Mit anderen Worten: die generationsbedingten Umbrüche in Politik und Kunstleben des Kaiserreiches haben bis heute die Sicht von der langfristigen Vorbereitung und Logik des Nietzsche-Kultes abgelenkt. Die Komplexität und Unrast der äußeren Ereignisse ließ schon die Zeitgenossen in monokausalen Erklärungen des Phänomens Nietzsche Zuflucht suchen. Diese Perspektive übertrug sich auch auf seriöse Forschungen. So kam Wilhelm Lange-Eichbaum, in der Nachfolge von Cesare Lombrosos Thesen über Genie und Irrsinn stehend, zu dem Schluß, daß ohne paralytische Geisteserkrankung Nietzsche niemals berühmt geworden wäre. 3 2 0 Obwohl an dieser Stelle weder eine Chronik der Jahre um 1890 eingeblendet werden kann, noch es lohnend erscheint, Pauschalurteile nach dem Muster Lange-Eichbaums einzeln zu widerlegen, so ist die Kenntnis der spektakulären Züge bei der Entdeckung Nietzsches für die Analyse der nachfolgenden Kultf o r m e n keineswegs überflüssig; denn nicht der Ruhm des Philosophen, wohl aber die Moden der Nietzscheaner beruhen auf einer merkwürdigen Kombination von Zeit- und Lebensumständen.

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Kulturkritik und konservative Revolution. Zum kulturell-politischen Denken Hofmannsthals und seinem problemgeschichtlichen Kontext, Tübingen, 1971, S. 252. Karl Holl, „Der Wandel des deutschen Lebensgefühls im Spiegel der deutschen Kunst seit der Reichsgründung", in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 4 (1926), S. 553. Vgl. Nietzsche. Krankheit und Wirkung, Hamburg, 1947, S. 86. Unbestreitbar hat Cesare Lombrosos Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, der Kritik und zur Geschichte, Leipzig, o. J., die Toleranz Nietzsche gegenüber gefördert, gleichzeitig aber der Kampagne Nahrung gegeben, das Gesamtwerk als krankhaft lächerlich zu machen.

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Die tragische Umnachtung, in die der Philosoph Anfang 1889 versank, interessiert hier allein unter dem Gesichtspunkt der mythenstiftenden Symbolik seines Lebensweges. Annähernd zwei Jahrzehnte der Nietzsche-Verehrung überblickend, ordnete Carl Albrecht Bernoulli 1908 den geistigen Zusammenbruch folgenden „drei sinnenfälligen Situationen bei Nietzsche" zu: Bereits heutzutage legen sich die Einzelteilchen, aus denen sich Nietzsches Wirken zusammensetzt, für die populäre Auffassung ungezwungen in drei farbig leuchtende kaleidoskopische Bilder auseinander. Das erste zeigt uns den Ganymed des Olympiers (der Zwanzigjährige bei Wagner); das zweite den großen Einsamen, den bis zum Verwechseln ähnlichen Doppelgänger und Zwillingsbruder Zarathustras (der fugitivus errans der achtziger Jahre); das dritte den vor Vernichtungswonne sich selbst zerfleischenden Gott Dionysos (Ausbruch des Wahnsinns). Das sind fest vorhandene, sichere Umrisse, die sich mit Licht und Farbenglut füllen werden, sobald die erforderlichen Bedingungen zur Ausübung einer Massensuggestion erfüllt sind. 3 2 1

Selbst ein so scharfer Gegner der damaligen Archivaktivitäten wie Bernoulli bejahte also die „dekorativen Zutaten" im Bilde Nietzsches und die Möglichkeiten ihrer künstlerischen Verwertung. 322 Aus der Perspektive des Geschäftsmannes hatte Nietzsches ehemaliger Verleger Ernst Schmeitzner schon 1891 zynisch auf die sich anbahnende Konjunktur spekuliert: „Die Bücher lagen unverkäuflich wie Blei auf dem Lager. Mit Nietzsches unheilbarer Krankheit kam aber endlich Leben in die literarische Welt, und die Bücher werden jetzt so viel begehrt. . ." 3 2 3 Während der doppelte Thronwechsel im „Dreikaiserjahr" 1888 in Nietzsche noch einen aufmerksamen, ja exaltierten Kommentator gefunden hatte, trafen Bismarcks Entlassung und das Ende des Sozialistengesetzes zwei Jahre später einen apathischen, vor sich hinbrütenden Patienten. Nietzsche war nicht der einzige aus den Reihen der ästhetischen Opposition gegen den Reichsstil von 1871 gewesen, der an den Generationswechsel in der Staatsspitze große Erwartungen knüpfte. 324 Ein Gefühl gemeinsamen Außenseitertums hatte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre begonnen, weltanschauliche Feindschaften zu übertünchen, so daß selbst der einsiedlerische Nietzsche sich be-

Beide Zitate: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena, 1908, Bd. 2, S. 255. 322 Ebd., Bd. 2, S. 254. 323 Brief an die Mutter oder den Vormund Nietzsches, zitiert nach: Adalbert Oehler, Nietzsches Mutter, München, 1940, S. 147. 324 Yg] Helmut Scheuer, „Zwischen Sozialismus und Individualismus — zwischen Marx und Nietzsche", in: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement, Hrsg. von H. Scheuer, Stuttgart u. a., 1974, S. 161. Der Verf. nennt ζ. B. die anonym erschienene Broschüre Conrad Albertis: Was erwartet die deutsche Kunst von Kaiser Wilhelm.?, Leipzig, 1888. 321

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reits im März 1887 einer geheimen Koalition unter seinen Bewunderern zu rühmen wußte: Ich habe nachgerade einen ,Einfluß', sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radikalen Parteien (Sozialisten, Nihilisten, Antisemiten, christl. O r t h o d o x e n , Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriösen Ansehens.325

Die Unversöhnlichkeit der hier versammelten „radikalen Parteien" drängt den heutigen Betrachter dazu, schnelle Frontenwechsel, wie zum Beispiel den der meisten Naturalisten ins Lager der Nietzscheaner als bloßen Opportunismus abzutun. Schon 1896 karikierte Arno Holz vernichtend dieses Gebaren zwitterhafter „Socialaristokraten" in seiner gleichnamigen Komödie. 3 2 6 Doch weder die Haltlosigkeit einzelner Naturalisten, noch Nietzsches Raffinesse bei der Abwerbung der jungen Intelligenz von Marx und der Sozialdemokratie — das Lösungsmodell bei Lukács (siehe die Seiten 16—19) — erklären die Austauschbarkeit kontroverser Haltungen. Allein die annähernd gleichzeitige Entfaltung von Naturalismus und Nietzsche-Kult innerhalb derselben Gruppen spricht gegen eine Polarisierung zwischen beiden. 327 Da der Naturalismus von Anfang an keine proletarische Kulturaktion darstellte und eher einer kleinbürgerlichen Protest- und Mitleidshaltung entsprach, kann sein Ausklang zugunsten Nietzsches auch keine Kapitulation seiner Trägerschaft bedeuten. Deshalb wurde dieser Anpassungsvorgang hier unter dem Stichwort „Verdrängung" statt „Ablösung" des Naturalismus gefaßt, was eine bewußte Alternative vorausgesetzt hätte. Nietzsches Programm des individuellen Widerstands gegen Staatsmacht und Konvention mußte als Steigerung des Protestwillens, und nicht als Rückzug von der Sache des Proletariats in die Privatsphäre beeindrucken. Zudem hatte Wilhelm II. durch die Legalisierung der Sozialdemokratie ihr viel von der Anziehungskraft einer Verschwörerpartei nehmen können. Beim nun folgenden Aufbau einer Massenbasis wurde der Spielraum für bürgerliche Sympathisanten innerhalb der Parteispitze, und damit für die Formulierung ihrer Sonderinteressen, zunehmend enger. Taktisches Ungeschick mancher Parteiführer, verbunden mit Ressentiments künstlerischen Experimenten gegenüber, bestärkten wiederum die Zweifel der jungen Intellektuellen an der Wirksamkeit von Kunst als Waffe im Klassenkampf.

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Nietzsche in seinen Briefen, Hrsg. von A. Baeumler, S. 406 (Brief an Overbeck vom 24.3. 1887). Rudolstadt u. Leipzig, 1896. Vgl. dazu auch F. Mehring, „Über Nietzsche" (1899), in: F. Mehring u. G. Lukács, Friedrich Nietzsche, S. 37: „In seinem Nietzschekultus fühlt sich der moderne Naturalismus sicher wie in einer uneinnehmbaren Burg."

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Gegen eine neuerliche Indienstnahme durch „Kulturphilister" schienen der Einsiedler Zarathustra, aber auch sein Rivale in der Lesergunst, Der Einzige und sein Eigenthum328 die beste Gewähr zu bieten. Hans G. Helms hat in seiner Studie über Die Ideologie der anonymen Gesellschaft klar die folgerichtige Parallelität im Bekanntwerden der beiden Entwürfe des extremen Individualismus herausgearbeitet.329 Der kleinliche Prioritätsstreit zwischen Nietzscheanern und der Stirner-Gemeinde um die Entdeckung ihrer Vorbilder ist damit endgültig als absurd überführt worden. Zusammen mit den verunsicherten Naturalisten ergriff auch das breitere Publikum jede sich bietende Gelegenheit, seine Opposition außerhalb sozialdemokratischer Bindungen fortzusetzen oder erstmalig zu bekunden. Wie bedenkenlos man dabei zweifelhaften Modephilosophen aufsaß und sie mit Nietzsche verquickte, beweist der Siegeszug von Langbehns anonymem Rembrandtbuch. So konnte dieses schon von der Sprache her dürftige Machwerk vielen Lesern als Nietzsches Vermächtnis an das neue Jahrhundert gelten. Selbst die „Berliner Manager" 330 und Modemacher waren überfordert, was das Neben- und Durcheinander neuer Heilslehren auf dem Büchermarkt des Jahres 1890 anging. Um so verhängnisvoller erwies sich die laienhafte und spontane Aneignung der Schlagworte Langbehns, deren irrationaler Haß auf die Wissenschaften nun auf Nietzsches Warnungen vor akademischer Halbbildung vergröbernd rückprojiziert wurden. Auch ein Gelehrter von Ruf wie Wilhelm von Bode ließ sich durch Langbehns Hoffnungen auf eine nordische Renaissance im Zeichen deutscher Heimatkunst täuschen. 331 Das Rembrandtbuch nahm dabei oft bis in Einzelheiten Züge eines pangermanischen Sendungsbewußtseins voraus, wobei Langbehn ein ungewöhnliches Gespür für die zukünftige Weltmachtpolitik Wilhelms II. entwickelte. Dieser globale, kulturmissionarische Eifer — die „Vergeistigung" des Imperialismus — hat erst sehr verspätet, nach dem Tode des Philosophen, auf den Nietzsche-Kult übergegriffen, der in den 90er Jahren in dem müden, willenlosen Kranken oder dessen bunter Zarathustra-Fabelwelt seine bildwürdigen Inhalte fand. Diesen Wünschen der Nietzscheaner kamen vorerst die Produkte „völkisch" orientierter Künstler am wenigsten entgegen. Es bleibt die Frage, ob 328

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Max Stirners (d. i. Johann Caspar Schmidts) Schrift war schon in Nietzsches Geburtsjahr 1844 in Leipzig erschienen. Fanatische Nietzsche- und Stirner-Jünger nahmen dieses zufällige Zusammentreffen zum Anlaß einer neuen Zeitrechnung. Max Stirners „Einziger" und der Fortschritt des demokratischen Selhsthewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, Köln, 1966. Vgl. Kap. VII „Die Stirner-Renaissance (die 90er Jahre)" bes. S. 303—310: „Imperialismus, Liberalismus, Nietzsche-Kult". Georg Fuchs, Deutsche Form. Betrachtungen über die Berliner Jahrhundert-Ausstellung und die Münchner Retrospektive, München, Leipzig, 1907, S. 169. Vgl. F. Stern, Kulturpessimismus, S. 151, Anm. 4.

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andere Strömungen aus dem breiten Kunstspektrum der Jahre um 1900 die Chance eines großen, und besonders für Impressionisten, Symbolisten, Neuromantiker und Stilreformer reizvollen Themas nutzen, um sich eine eigene Nietzsche-Bildwelt zu schaffen.

2.4 „Zarathustrastil" als Zukunftsstil? Zum Einfluß Nietzsches auf die Bildwelt der Stilreformer Bereits in der Einleitung ist exemplarisch gezeigt worden, wie eng die Grenzen eines Vergleichs zwischen Stilelementen Nietzsches und denen der Künstleravantgarde um 1900 beim gegenwärtigen Forschungsstand noch gezogen sind. Wenn hier trotzdem Nietzsche-Fragmente aus dem Schaffen einiger richtungweisender Künstler in die Diskussion gebracht werden, so mußten diese „Nietzscheana" eine der folgenden Bedingungen erfüllen: entweder war an ihnen eine spezifische Nietzsche-Zarathustra-Ikonographie ablesbar, deren Elemente anhand der hier folgenden Kunstwerke zusammengestellt werden sollen, oder die Künstler selbst empfahlen ihre Werke in Briefen oder anderen Selbstzeugnissen als Umsetzungen der Gedankenwelt des Philosophen. Außerdem wurden nur Werke ausgewählt, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht im Dienst des Weimarer Nietzsche-Mythos entstanden. Vor diesem Panorama wird sich die dogmatische Enge des durch Elisabeth FörsterNietzsche zusammengehaltenen Rezeptionsstranges um so deutlicher abheben. Sind die eigentlichen „Nietzscheana" auch selten, so besteht nach dem Exkurs des zweiten Kapitels in die Soziologie und Psyche der Künstler kein Zweifel an deren latenter Bereitschaft zur Produktivität. Karl Hofers spontane Abneigung sogar gegen die physische Erscheinung Nietzsches sei hier nur ihrer Einmaligkeit wegen erwähnt. 332 Nicht ästhetische, sondern moralische Gründe bewahrten dagegen Max Slevogt davor, unter die eigentlichen Stifter des Weimarer Nietzsche zu geraten. Ihn hatte der Gedanke „angewidert", dieses „Gefäß eines zerbrochenen Genielebens im Bilde festhalten zu wollen". 3 3 3 Wenn auch Zurückhaltung oder Mißtrauen anderer Künstler gegen die Praktiken des Nietzsche-Archivs nicht in dieser Konsequenz dokumentiert sind, so muß zuerst verwundern, daß selbst Weimarer

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Vgl. Erinnerungen eines Malers, Berlin, 1953, S. 55. Hans-Jürgen Imiela, Max Slevogt, Karlsruhe, 1968, S. 435, Anm. 10. Der Verf. bezieht sich auf ein Gespräch Slevogts mit Johannes Guthmann, von diesem mitgeteilt in: Goldene Frucht. Begegnungen mit Menschen, Gärten und Häusern, Tübingen, 1955, S. 356 ff. Zu dieser Problematik vgl. auch 3.1.2.1.

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Künstlerfreunde Elisabeth Förster-Nietzsches sich nicht mit konkreten „Nietzscheana" hervortaten. Dies ist der Fall bei Ludwig von Hofmann. Trotz des Fehlens von Nietzsche-Porträts oder Zarathustra-Illustrationen verdient dieser 1861 in Darmstadt geborene Hauptvertreter eines neuidealistischen, arkadischen Lebenspathos in Deutschland mit an erster Stelle unter den Bahnbrechern des Philosophen genannt zu werden. Schon die Zeitgenossen empfanden dies, wenn sie in Hofmanns dionysischen Tänzern Wunschgestalten Nietzsches wieder erkannten, durch den ein „romantischer Zug in die, vom Naturalismus sich leise ablösende deutsche Malerei" vorgezeichnet worden war. 3 3 4 Hofmanns Visionen eines ins Ahistorische entrückten Paradieses mußten sich gegen alle von außen kommenden Inhalte sperren, bei dem sie zu bloßen Illustrationen, und sei es des verehrten Zarathustrabuches, herabsanken. Die entwaffnende „Naivität" der Schöpfungen Hofmanns, ihre scheinbare Unangreifbarkeit wäre durch eine dem Charakter des Künstlers fremde Plakativität zugunsten eines Personenkultes zerstört worden. Der Schwester des Philosophen gegenüber bekannte sich der Siebzigjährige, auf seine Weimarer Frühzeit zurückblickend, zu seinen künstlerischen Zielen als zu bloßen „Versuche[n], die Welt,schön* zu sehen". 3 3 5 Bezeichnend für Hofmanns Bescheidenheit ist, daß er nicht der Versuchung erlag, seinen Aufstieg durch einen distanzlosen Kult im Schatten von Nietzsches Weltruhm zu erkaufen. Offenbar hat der Künstler erst 1931 in dem zuletzt zitierten Brief an die alte Freundin Elisabeth Förster-Nietzsche „etwas spät" über die „Wohltat" Auskunft gegeben, die die Wertschätzung durch das Archiv für sein Selbstvertrauen angesichts sozial engagierten Kritikern bedeutete: War nun dem gegenüber nur die geringste Möglichkeit gegeben — bei aller gebührenden Distanz — meine künstlerische Betätigung überhaupt in Verbindung zu bringen mit Nietzsches leuchtendem Weltbild, so lag wirklich kein Grund vor, jene Angriffe und die mit ihnen bezweckte und erreichte Isolierung tragisch zu nehmen. 3 3 6

Ähnlich wie auf Hofmann muß das durch Weimar vermittelte heroische Nietzsche-Bild auf Fritz Erlers Identität als Künstler gewirkt haben, obgleich sich für diese These keine Zeugnisse in den Akten des ehemaligen NietzscheArchivs finden ließen. Sein „Einsamer Mann" von 1903, „herkulisch gebaut, schreitet durch eine unwirtliche Hochgebirgslandschaft. Gletscher und Schnee 334 335

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H. Landsberg, Friedrich Nietzsche, S. 50. Brief vom 7. 8. 1931. Weimar, NFG (GSA) 72/367. Hofmann fährt fort: „Wenn Sie sich sofort mit persönlicher Wärme für diese Anschauung aussprachen, so war es doch für mich in besonderem Maße beglückend, daß Sie darin sogar einen Anklang an die gewaltigen Verkündigungen Ihres Bruders und etwas wie eine leise Spiegelung seiner großen Lebensbejahung finden konnten." Alle Zitate: Ebd.

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liegen im Hintergrunde. . . . Neben dem Einsamen schleicht ein seltsames rotes Fabeltier hin. . . , " 3 3 7 Diese eisige und barbarische, zugleich „übermenschliche" Region, in die Erlers Heros entschlossen vordrang, war Hofmanns Festbildern eines immerwährenden „Goldenen Zeitalters" verschlossen geblieben. Dagegen lernt man bei Erler erstmals mehrere der Ingredienzen und Requisiten kennen, aus denen sich die typische Zarathustra-Umwelt zusammensetzt und die die Bausteine zu einem „Zarathustrastil" im Verständnis Ahlers-Hestermanns lieferten: 338 die Härte und magische Reinheit des Kristallinen, die Flamme und den Blitz des Ubermenschen, wie dessen exotisch-furchterregende Begleittiere Adler, Schlange und Löwe. Diese Kulisse hätte Hofmanns Harmonievorstellung sprengen müssen. Der Hauptgrund aber für sein Zögern vor einer einschichtigen, traditionellen Allegorie auf Nietzsches Weltanschauung lag tiefer. Bereits um 1900 erwies sich dieses Kunstgenre, „die nüchterne, rationale Form der Ideenmalerei", 339 für eine Wiedergabe der Lebensphilosophie in ihrer irrationalen Dynamik als veraltet. Die Fragwürdigkeit einer aufdringlichen Programmkunst verdeutlichen etwa Paul Bürcks allegorische Fresken in der Halle des Ernst-Ludwig-Hauses auf der Darmstädter Mathildenhöhe von 1901: „Wissenschaft und Kunst auf einsamer Höhe. In der Mitte der Quell des Lebens, dessen Kraft Beide nährt." 3 4 0 Schon während der Ausstellung der Künstlerkolonie im gleichen Jahr lieferten Bürcks Schwächen seinen Kollegen den Vorwand zur Kritik. Diese versteckte sich aus Anlaß des „Uberdokumentes" in ironischer Form, und der Künstler wurde „in Anspielung auf seine inhalts-überfrachteten Gemälde . . . mit A—B—C- und Nietzsche-Buch als ,Drang der Menschheit nach physischer und moralischer Schönheit' präsentiert." 3 4 1 Daß nicht alle Ansätze, die neuen philosophischen Botschaften in allegorischen Kunstformen zu propagieren, indiskutabel sind, beweisen Arbeiten Giovanni Segantinis und Melchior Lechters. Die fast sakrale, Nietzsche nacheifernde Lebensform beider Künstler prägte auch deren Gesamtwerk unverwechselbar und ließ keine Gefahr oberflächlicher Illustration oder peinlicher Modellnähe aufkommen, die man Klingers Symbolgestalten vorgeworfen hat. Fritz von Ostini, Fritz Erler, Bielefeld, Leipzig, 1921, S. 50; Abb. S. 41. Der Verf. vermutete hinter dem „Einsamen" ein Selbstporträt Erlers. Fast noch stärker drängt sich der Schluß auf, dem Künstler habe für die Einsiedlergestalt ein Idealtypus Zarathustras vorgeschwebt. 33β Vgl. S. 21, Anm. 81 und die folgenden Ausführungen zu Peter Behrens, S. 82—86. 3 3 9 Hans H. Hofstätter, Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln, 2 1973, S. 30. Eine gute Ubersicht über die „Symbolbegriffe des 19. Jahrhunderts" bietet der Verf. ebd., S. 3 0 - 4 7 . 3 4 0 Abb. mit einmontiertem, zeitgenössischem Text in: Ein Dokument Deutscher Kunst, Bd. 5, S. 113. 3 4 1 Ebd. S. 117. Zum Begriff „Überdokument" vgl. S. 25 und Anm. 98. 337

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Uberhaupt ist festzustellen, daß in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende — soweit bekannt — niemals versucht worden ist, Szenen der ZarathustraDichtung in naturalistischer Manier nachzustellen. Der Künder des Übermenschen als Berggeist oder Phantom, Nietzsche dagegen als Hotelgast in Sils-Maria — diese Bilder blieben der Literatur vorbehalten. 342 Wenn man Segantini gern „als den Nietzsche schaffensverwandtesten Künstler" pries, so bot die gemeinsame Liebe beider zur Landschaft des Engadin ein willkommenes Indiz dafür. 343 In den 80er und 90er Jahren war jedoch der Rückzug in die Bergeinsamkeit längst kein Vorrecht von Außenseitern mehr, bis schließlich wenig später die Scharen der Nietzsche- und SegantiniTouristen das „Einsamkeitserlebnis" des Engadin auf Massenbasis konsumierten. Eine Mode, von vielen geteilt, reicht nicht aus als Kriterium für die Verbundenheit zweier „Einsamer". 3 4 4 War Segantinis Kunst für eine Verständigung innerhalb der anwachsenden Gemeinde des Philosophen prädestiniert? Als der Künstler 1896 den Umschlagentwurf einer italienischen Zarathustra-Ausgabe beendet hatte, befragte er einen Freund, ob für diesen die gewählte „Allegorie eine bildliche Ergänzung der Idee von Nietzsche ist. . . , " 3 4 S Angesichts der Kohlezeichnung „Die Verkündigung des neuen Wortes", die die einzige explizite Hommage an Nietzsche im Werk des Künstlers darstellt, können am Erfolg seiner Zielsetzung Zweifel aufkommen. Allein der bewußte Anklang des Titels an Vorbilder aus der christlichen Ikonographie mußte sowohl die Nietzscheaner wie die katholische Umwelt Segantinis befremden, zumal eine Inschrift verkündete, mit welcher „Idee" der Künstler den Philosophen auszuschöpfen glaubte: die Botschaft von der Höherzüchtung des Menschen. In einer südländischen Morgenlandschaft wird dieses Weltgeheimnis offenbart, indem es ein „Geist aus der idealen Lebenssphäre der Jungfrau ins Ohr flüstert." 3 4 6 Weiter beschrieb Segantini: Auf der Mauer, die den kleinen Liebesgarten umgibt, . . . stehen diese Glückwünsche geschrieben: Mögen die Söhne deines Leibes schön für die Liebe, stark für den Kampf und verständig . . . für den Sieg sein. 3 4 7

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Aber auch hier muß man nach entsprechenden Auftritten suchen. Für Paul Friedrich ist z. B. Zarathustra „ganz in Silber und Gold gekleidet, mit goldenem Reif im blonden Haar, um die Schultern ein Leopardenfell über purpurnem Mantel . . . . " Das Dritte Reich, S. 99. Karl Dallago, „Nietzsche und die Landschaft", in: Die Freistatt, 5 (1903), S. 950. Segantini spürte diese Bedürfnisse zahlreicher Zeitgenossen sehr genau. Für die Pariser Weltausstellung 1900 plante er ursprünglich ein monströses Engadin-Gesamtkunstwerk, das dem Publikum durch technische Effekte ein Totalerlebnis vermitteln sollte. Symbolismus in Europa, Ausst.-Kat. der Staatl. Kunsthalle Baden-Baden 1976, S. 207; Abb. S. 206. Zitiert wurde ein Brief Segantinis an den Schriftsteller Guido Martelli vom 20. 1. 1896. Ebd. Ebd.

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Der kühne Versuch, traditionelle Bildinhalte der Bibel auf den UbermenschenKult zu übertragen, konnte in Italien leicht als Blasphemie verdächtigt werden und mochte mit einen Grund dafür gebildet haben, daß die Zarathustra-Ubersetzung 1899 ohne Segantinis allegorische Deutung erschien. Dem differenzierten Reflex auf die Marien-Ikonographie in Gestalt der Verkündigung an die ideale Mutter des Ubermenschen lassen sich keine gleichrangigen Leistungen an die Seite stellen. Der dornengekrönte, christusgleiche Nietzsche auf dem Exlibris für Georg Lapper — vergleiche Abbildung 13 — wirkt dagegen wie eine grobe Herausforderung. Der für die Jahrhundertwende typische Synkretismus aus christlichen, sozialutopischen und lebensreformerischen Vorstellungen erscheint bei Segantini besonders ausgeprägt. Seit 1894 hatte er sich in Soglio und Maloja schnell hintereinander viele Autoren der Moderne wie Gabriele d'Annunzio und Walt Whitman angeeignet. Daneben las er altindische Texte, deren Niederschlag die verschiedenen Fassungen der „ B ö s e n Mütter" bezeugen. Das Bemühen Segantinis um die Integration verschiedenartiger Impulse erstreckt sich bis in den relativ einschichtigen Umschlagentwurf für Also sprach Zarathustra. Neben der überraschenden Wiederaufnahme einer Verkündigungsgruppe entdeckt man im Hintergrund Adler und Schlange vor den Strahlen der aufgehenden Sonne. Allerdings hat der Künstler diese ständigen Begleiter des Philosophen sich in seinen südlichen „Liebesgarten" verfliegen lassen, unbekümmert um deren literarisches Vorbild. 3 4 8 Die meisten Fachgenossen Nietzsches bewerteten seine Fabeltiere nur als nichtssagende, exotische Staffage. Den Produzenten von Schmähschriften kamen sie als Beweise gelegen, Nietzsche für einen der „Größenwahnsinnigen" auszugeben, die sich „in ihrer Phantasie gern mit furchterweckenden Tieren" umgeben: „ I m Zarathustra verkleidet sich der Sachse Nietzsche als persischer Weiser und tritt uns in Begleitung eines Adlers und einer Schlange entgeg e n . " 3 4 9 Für den Kunsthistoriker ist die Spekulation müßig, ob Nietzsche seine Lehren nur des Werbeeffektes wegen mit dem orientalisch-bunten Titelhelden Zarathustra krönte. Dagegen stellt sich ein Exkurs in die Adler- und Schlangen-Ikonographie als reizvoll und notwendig dar, da diese Bildtradition vom Zarathustrabuch und seinen künstlerischen Verehrern keineswegs grundlos benutzt wurde. 3 5 0 348 349

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Vgl. Also sprach Zarathustra, G A VI, S. 30 (Vorrede 10). Gustav Büscher, Nietzsches wirkliches Gesicht. Eine Kritik moderner Heiligenlegenden, Zürich, 1928, S. 25. Zu Kontinuität und Variationsbreite des Adler-Schlange-Motivs vgl. : Das Giebelfeld in Curt Stoevings Prunkrahmen für sein großes Nietzsche-Porträt von 1894 (Abb. 1), Heinrich Heims „Zarathustramorgen" von 1922 (Abb. 35) und Fritz Müller-Camphausens Modell für ein Nietzsche-Zarathustra Monument von 1938 (Abb. 40).

Zum Einfluß Nietzsches auf die Bildwelt der Stilreformer

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Der Adler als Vertreter von Kühnheit und göttlicher Macht war der antiken wie der christlichen Bildwelt zu allen Zeiten wohlvertraut. Eine Begegnung des mit Sonne und Licht verbundenen Vogels mit der dem Erdreich verhafteten, „chthonischen" Schlange, die sowohl unerforschliche Weisheit wie List verkörperte, konnte nur als Kampf zwischen beiden Prinzipienträgern dargestellt werden. Wie Rudolf Wittkower aufzeigte, sind auf mittelalterlichen Kunstwerken der Sieg des Adlers über die Schlange als Triumpf Christi über den Satan zu deuten. 3 5 1 Noch im 19. Jahrhundert wurde die Tiersymbolik, beispielsweise in Karikaturen für den politischen Tageskampf, von jedermann verstanden. Gerade der Adler erfreute sich in der Denkmalskunst der Jahrhundertwende ungebrochener Beliebtheit, indem er sowohl politischen Helden assistierte (Hugo Lederers Hamburger Bismarckmonument), als auch zu Olympiern des Geistes aufschaute (Max Klingers Beethoventhron). In Nietzsches Konzept des Zarathustra als Gegenentwurf zur Bibel fügt sich widerspruchslos, daß er die vom Christentum gepredigte Feindschaft zwischen Adler und Schlange ins Gegenteil verkehrte und die beiden Gegner als Freunde dem Künder des Ubermenschen zugesellte. Es ist unverständlich, warum diese Funktion der Begleittiere Zarathustras bisher unterschätzt wurde; denn schon kurz nach Nietzsches Zusammenbruch galt er vielen als „der repräsentative Deutsche, die Zarathustragestalt mit dem Adler und der Schlange. . . , " 3 S 2 Der mutmaßlich erste bildkünstlerische Entwurf dieses neuen Mythos war wenig später — 1892 — im Atelier des Münchener Bildhauers Jean Lampel in Arbeit. 3 5 3 Leider hat sich keine Abbildung dieser Gruppe erhalten, und es bleibt unklar, ob sie jemals zur Ausführung kam. Elisabeth Förster-Nietzsche selbst griff bald nach ihrer endgültigen Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1893 den Gedanken auf, das Werk ihres Bruders mit Hilfe der in Zarathustra auftretenden Tiere zu veranschaulichen. Zu diesem Zweck überraschte sie die Besucher ihres Naumburger Hauses durch eigens angefertigte, elegante Archivalienschränke, die mit geschnitzten Tierinsignien dekoriert waren. 3 5 4 Obwohl Melchior Lechter in seinen „Nietzscheana" die Gefahren des vorgestellten ikonographischen Apparates umging, führt eine Betrachtung des

Vgl. „Eagle and Serpent", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 2 (1938), S. 2 9 3 - 3 2 5 . 3 5 2 J . Philippi, Das Nietzsche-Bild, S. 213. Die Verfasserin zitiert aus Ola Hanssons „Nietzsche und der Naturalismus", in: Die Gegenwart, Bd. 39, S. 2 7 5 - 2 7 8 u. S. 2 9 6 - 2 9 9 . 3 5 3 Vgl. Alfred Hertel, „Neudeutsche Skulptur", in: Die freie Bühne, 1892, S. 1 3 0 0 - 1 3 0 3 . 354 Vgl. H . F. Peters, Zarathustra's Sister, S. 132. Der Verbleib dieser Möbel ist unbekannt. 351

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„Nietzsche-Fensters", 3 5 5 eines Glasgemäldes für seine eigene Bibliothek, auf das Kernproblem der bildkünstlerischen Nietzsche-Rezeption zurück: die Selbstbehauptung der Künste inmitten eines überwuchernden literarischen Programms. Anders als die Möblierung des Naumburger Hauses, oder der spätere Umbau des Weimarer Archivs durch van de Velde, stützte Lechter sein Bekenntnis zu Nietzsche auf Inschriften aus dem Werk des Philosophen, die er innerhalb des „Gesamtkunstwerkes" seiner Berliner Atelierwohnung verteilte. Bis in Details sollte dabei die Symbolkraft künstlerischer Vorbildgestalten manifest werden. Albert Verwey, der Freund Stefan Georges, berichtete aufgrund eines gemeinsamen Besuches der beiden Dichter bei Lechter etwas befremdet über diese ausschweifende Programmatik: „Daß um den Kronleuchter an der Decke seines Zimmers die Namen Nietzsche, Wagner, Böcklin gemalt waren, bewies mir genügsam, daß er in einer anderen Welt lebte als der meinen." 3 5 6 Doch vermerkte der Besucher gleichzeitig: „Gerne sah ich nach dem Spruch von Nietzsche, den er [Lechter] in seinen Werkstattschrank eingeschnitten hatte: .Trachte ich denn nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke.'"357 Dem Nietzsche-Fenster, das den Arbeitsbereich des Künstlers „entsagend, sehnsuchtsschwanger und schaudernd" beherrschte, korrespondierte ein Wagner-Fenster für das Schlafzimmer Lechters mit der Darstellung Tristans und Isoldes, nach Ernst Schur „unnennbare Kraft und Wollust und machtvolle Glut" verkörpernd. 358 Um eine Charakteristik des Paares auf dem NietzscheFenster ist man verlegen, denn weder die weibliche, sich in einem Garten ergehende Idealgestalt, noch den männlichen Harfenspieler assoziiert der heutige Betrachter mit Nietzsche. Ohne Begleittext erscheint das Figurenpaar, in der Nachfolge Edward Burne-Jones gehalten, beliebig anwendbar auf die unterschiedlichsten Reformbewegungen der Jahrhundertwende. 359 Wenn Schur im Uberschwang des Zeitgenossen verkündete, Wagner und Nietzsche erlebten in den Glasgemälden „eine Art malerischer Wiedergeburt, eine Wiedergeburt in

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Abb. bei: Maximilian Rapsilber, Melchior Lechter, (3. Sonderausgabe der Berliner Architekturwelt), Berlin, 1904, S. 61. Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895-1928, Straßburg, 1936, S. 19. Ebd. Paraphrasen über das Werk Melchior Lechters, Leipzig, 1901, S. 28. Der Text in den oberen beiden Feldern des vierteiligen Fensters lautet: „SCHON-GLÜHSTDUUNDTRÄUMST SCHON-TRINKSTDU-DURSTIG· AN· ALLEN· TIEFEN KLINGENDENTROST-BRUNNEN SCHON-RUHT-DEINE SCHWERMUTH·INDER-SELIGKEIT ZUKÜNFTIGER GESÄNGE!" - Die Aquarellskizze für ein Dielenfenster (1897, Abb. bei: M. Rapsilber, Melchior Lechter, S. 67) versah er mit den Zarathustra-Sprüchen: „ D E N N ALLE LUST WILL EWIGKEIT" und „DAS LEBEN IST EIN BORN DER LUST".

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der Farbe", 3 6 0 so kann man dem die Schwäche von Kunstwerken entgegenhalten, die auf umständliche Vermittlungen durch das Wort angewiesen sind. Schon als Neunzehnjähriger hatte Lechter 1884 mit der Lektüre Nietzsches begonnen und zwei Jahre später den „Ring" in Bayreuth erlebt. Wie Pauline Lange versichert, gab es „kaum einen genaueren Kenner Dantes, Schopenhauers und Nietzsches als Melchior Lechter." 3 6 1 Die reifsten Leistungen des Künstlers liegen denn auch auf dem Gebiet der Buchausstattung, wo sich Lechter in die Gedankenwelt eines Autors versenken konnte, um das von ihm angestrebte Gesamtkunstwerk wenigstens partiell zu verwirklichen. Hinweise für eine Zusammenarbeit mit dem Nietzsche-Archiv wegen einer Prachtausgabe des Zarathustra haben sich bisher nicht ergeben, wenn auch für Lechter Elisabeth Förster-Nietzsche unbestrittene Autorität besaß. 362 Es ist denkbar, daß der Künstler als Mitglied des George-Kreises auf den Argwohn des „Meisters" gestoßen war, der Nietzsche nur als einen unter mehreren Vorläufern seines Werkes gelten ließ. Lechters Problem einer überzeugenden Koordinierung zwischen Nietzsche-Zitat und Kunstwerk verdeutlichte auch der zerstörte Pallenberg-Saal im Kölner Kunstgewerbemuseum. Gemeinsam mit dem Berliner Bildhauer Otto Stichling hatte er dort neben den Wanddekorationen auch die Bronzestatuen der „Malerei" und „Plastik" durch Nietzsche-Inschriften nobilitiert. Mit der inflationären Anrufung des Philosophen wurden aber die Inschriften zu bloßen Aufschriften und Etiketten entwertet. Ähnlich wie Segantini schöpfte Lechter aus zu vielen Quellen gleichzeitig, um die Modernität Nietzsches in einer entsprechend eigenständigen Kunstsprache durchzusetzen. Ein Ballast an Ideologie, der sich im mönchischen Habitus wie im altfränkischen Handwerkerideal des Künstlers als zwanghafte Selbststilisierung äußerte, kam erschwerend hinzu. Für die Nietzscheaner gipfelte die gestellte Aufgabe in der Abstraktion ihres Zarathustra-Erlebnisses, für das es geometrische Grundmuster zu formulieren galt, mögliche Gegenstücke zur Suggestivität des christlichen Kreuzsymbols. Wenn die neue Lehre auf die Anschaulichkeit mittels historistischer Kostümtreue — Zarathustra als altpersischer Weiser — verzichtete, mit welchem Stilelement aus seiner Umwelt konnte sich dann die notwendige Ausstrahlungskraft erzielen lassen?

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E. Schur, Paraphrasen über das Werk Melchior Lechters, S. 32. „Melchior Lechter", in: Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte, 49, (1905), S. 27. So bedankte er sich bei der „sehr geehrte[n], gnädige[n] Frau Professor [!]" für die Zusendung einer „Gedächtnis-Schrift für den grossen Todten." Brief v. 3. 11. 1900; Weimar, NFG (GSA) 72/431.

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Konsequenter noch als Henry van de Velde hat sich Peter Behrens der Problematik einer neuen Pathosformel für die Nietzsche-Rezeption gestellt. Die Pionierarbeit beider Künstler, mit der sie die Gedankenwelt Nietzsches ausschließlich ornamental abbilden wollten, läßt sich im Rahmen eines Querschnittes zur Nietzsche-Zarathustra Ikonographie nur bedingt vergleichen. Während Behrens in seiner Zeit an der Darmstädter Künstlerkolonie (1899—1903) durch eine „feierlich-stereometrische Ornamentik" 363 den Anschluß an das Strahlend-Kristalline der Zarathustrawelt suchte, hat man bei van de Velde den Eindruck, daß ein längst festgefügter Formenkanon nur leicht modifiziert an die „Nietzscheana" herangetragen wurde. 364 Bei aller emotionalen Identifikation mit dem „großen Künstler unserer Zeit" 365 war Behrens nicht mit der Blindheit manch anderer Nietzscheaner geschlagen, die ihre Gesinnung schon für die Tat — das überzeugende Kunstwerk — ausgaben. Elisabeth Förster-Nietzsche gegenüber bekannte er seine Selbstzweifel im Dezember 1902: „Ich wünschte die Kraft zu besitzen, deren ich bedürfte um meine Gefühle als Werke erstehen zu lassen." 366 Im selben Jahr hatte der Künstler mit einem Prachteinband zu Also sprach Zarathustra die Aufmerksamkeit nicht nur der Nietzscheaner auf sich gezogen. Für einen Schrein in der sogenannten „Hamburger Vorhalle", dem Vestibül der deutschen Abteilung auf der internationalen Kunstgewerbeausstellung in Turin bestimmt, erfreute sich das Hauptwerk Nietzsches unversehens der Aura eines quasi offiziellen Dokumentes. Diese Aufwertung vollzog sich ganz im Sinne der zwei Nietzscheaner, die das Schaffen von Behrens schon anläßlich der Darmstädter Ausstellung 1901 mit besonderer Sympathie begleitet hatten: Georg Fuchs und Kurt Breysig. Jener, Redakteur im tonangebenden Verlag von Alexander Koch, hatte schon 1895 „Friedrich Nietzsche und die bildende Kunst" 367 für eine monumentale Lebenssteigerung aktivieren wollen; dieser, Historiker an der Berliner Universität und Vertrauensmann des Nietzsche-Archivs, wußte am Darmstädter Wohnhaus des Künstlers das „kristalline, priesterlich-hieratische der Behrensschen' Details" zu rühmen. 368 Namentlich die „harten und zackigen Linien" 363 364

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F. Ahlers-Hestermann, Stilwende, S. 87. Van de Veldes Leistungen im Zentrum der Nietzsche-Gemeinde sind untrennbar von den übrigen Impulsen im „Neuen Weimar". Sie werden vom Abschnitt 3.2.1 an (die Berufungen van de Veldes, des Grafen Kessler u. a.) ausführlich gewürdigt. P. Behrens, Alkohol und Kunst, Flensburg, 1905, S. 3. Brief v. 6. 12. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/121 m. Vgl. Die Kunst für Alle, 11 (1895), S. 33 - 3 8 , 71-73 und 85-88. Zur Schlüsselstellung des Kulturkritikers Fuchs in der neuen Rezeptionswelle nach 1900, für die er auch das Werk von Behrens reklamierte, vgl. 4.1.1. „Das Haus Peter Behrens — mit einem Versuch über Kunst und Leben von Kurt Breysig", in: Deutsche Kunst und Dekoration, 9 (1902), S. 149.

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sowohl der Innen- als auch der Außenarchitektur entsprächen nach Breysig dem Ausdruckswillen eines ,,germanische[n] Weltalter[s]." 3 6 9 Innerhalb einer n u r ideologiekritischen Arbeit besäßen Breysigs Bekenntnisse auch Anklagewert gegen die Nietzsche-Fragmente im Frühwerk von Behrens. Wie der Künstler hier offensichtlich Beifall von der falschen Seite erhalten hatte, beweist der Blick auf sein weiteres Schaffen, das für die Ziele des Weimarer Nietzsche-Kreises eher enttäuschend verlaufen sollte: Behrens epochemachende Hinwendung zum Industriedesign und seiné gestalterische Meisterung der Großtechnik im Auftrage des AEG-Konzerns. 3 7 0 Dagegen sind die Sympathien mit „Neu-Weimar" und Nietzsche-Aposteln wie Breysig für das Leben von Behrens Episode geblieben. Folglich erscheint es nebensächlich, weiter über einen eventuellen Frontwechsel des Künstlers vom Darmstädter ins Weimarer Lager der Stilreformer nachzudenken. Seine dortigen Chancen im Austausch mit van de Veldes eigenwilliger Persönlichkeit können ebenfalls nur Stoff für reizvolle Spekulationen liefern. 3 7 1 Der Kunsthistoriker ist für eine überzogene Interpretation der Gesinnung und der „Nietzscheana" von Behrens weit weniger anfällig als dessen pathetische Zeitgenossen Fuchs und Breysig. Ohne daß damit der Mißbrauch der Nietzsche-Fragmente in der Kunst von Behrens für eine militante Machtideologie übersehen wird, 3 7 2 kommt der Kunstgeschichte bei der Umschau nach weiterführenden Aspekten die Gewohnheit zu Hilfe, mit der ikonographischen Tradition ihrer Objekte zu argumentieren. Dieser Zugang soll hier versucht werden, indem am Beispiel des fast „zimelienhaften" Prunkeinbandes

Ebd. S. 139. Zahlreiche Abb. des Hauses auf der Mathildenhöhe ζ. B. in: Ein Dokument deutscher Kunst, 1976, Bd. 5, S. 129-133. 370 Vgl. zu diesem Schwerpunkt Behrensscher Wirksamkeit: Tilmann Buddensieg u. a., Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907-1914, Berlin, 1979. 3 7 1 Das enthusiastische Bekenntnis gegenüber E. Förster-Nietzsche vom Dez. 1902 (vgl. Anm. 366), worin Behrens eine Einladung nach Weimar andeutete, kann immerhin als Niederschlag seiner Spannungen mit Joseph Maria Olbrich gewertet werden. Die Kontaktsuche zu prominenten Nietzscheanern führte auch zu konkreten Ergebnissen: ζ. B. berichtet Gertrud Breysig von ,,Peter-Behrens-Paneele[n]" in der „Ucht", dem Haus ihres Mannes in Potsdam-Rehbrücke, dessen Architekt Curt Stoeving dem Archiv ebenfalls nahestand. Vgl. Kurt Breysig. Ein Bild des Menschen, Heidelberg, 1967, S. 151. — Zur Vielseitigkeit Stoevings vgl. Abb. 1 und Abschn. 3.1.2.1. 3 7 2 Diese Vereinnahmung läßt sich präziser erst im Zusammenhang mit den Ansätzen zu einem Nietzsche-Monument fassen. Bezeichnenderweise haben Fuchs und Breysig ihr Plädoyer für Behrens auch aus einer Leistung der Monumentalarchitektur abgeleitet, dem umstrittenen deutschen Vestibül auf der Turiner Kunstgewerbeausstellung. Während Fuchs den Bau als „Die Vorhalle zum Hause der Macht und der Schönheit" mythisierte — vgl. seinen gleichlautenden Beitrag in: Deutsche Kunst und Dekoration, 11 (1902), S. 1 — 12 — belächelten ihn manche schon damals als „Erbbegräbnis eines Übermenschen" (R. Hamann u. J. Hermand, Stilkunst um 1900, S. 407). 369

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für Also sprach Zarathustra nach der Rolle des Kristallinen und Stereometrischen als althergebrachten Vermittlern von Geistigem gefragt werden soll. 373 Seitdem die Pythagoreer aus der Regelmäßigkeit mathematischer Körper auf ein Harmoniegesetz des Kosmos geschlossen hatten, fanden sich immer neue Verfechter für die Überlegenheit des Geformten, Durchgeistigten vor einer Lehre, die alles Geschehen nur aus der chaotischen Zufälligkeit der Materie ableitete. Gerade unter den Künstlern der Moderne sollten die mit dieser Denktradition verbundenen Reinheits- und Absolutheitsforderungen neue Triumphe feiern. Mit seinem Glanz und seiner Transparenz übte der Kristall, als Naturvorbild stets präsent, die alte Faszination aus. Während Goethe zeitlebens mit Leidenschaft über das Geheimnis der Mineralien und Kristalle theoretisierte, haben seit der Jahrhundertwende bedeutende Architekten auch praktisch versucht, in programmatischen Bauten diese metaphysische Botschaft der Kristallwelt durch die Exaktheit ihrer Technik mitzuteilen. Mit Bruno Tauts „Glashaus", einem Werbepavillon für die Glasindustrie auf der Kölner Werkbund-Ausstellung von 1914, gelang der überzeugendste Kultbau: ein Ausgleich zwischen der Kristall-Mystik von Tauts Freund und Förderer Paul Scheerbart und den exemplarisch vorgeführten Möglichkeiten des neuen Industriebaus.374 Daneben sei schon an dieser Stelle auf das Weimarer Denkmal der Märzgefallenen von Walter Gropius hingewiesen, das — 1922 errichtet — in seiner markanten „Blitzform" ebenfalls nach neuen Formen der Vermittlung von Transzendentem suchte. Die allgemeine Rückbesinnung auf die Qualitäten des Archaischen und Kubischen erhielt durch Behrens entscheidende Impulse. Schon im Jahre 1900 hatte er sich von „gesucht bizarren Formen" distanziert, die „äusserlich .modern' erscheinen. . . ." 3 7 S Unmißverständlich fuhr er fort: Mag man diese Erzeugnisse benennen nach Zeitschriften oder Künstlergruppen, man schmälert nicht das Verdienst der Schaffenden und adelt nicht die Bemühungen der Macher. Die Mode geht ihre lächerlichen Kurven. 3 7 6

Selbstbewußter konnte niemand den Wunsch nach Konsistenz und Klarheit, wie seine Abneigung gegen die Zerfahrenheit eines floralen „Jugendstils" an373

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Der Vorderdeckel des Buches ist z. B. abgebildet in: Peter Behrens (1868-1940). Gedenkschrift mit Katalog aus Anlaß der Ausstellung. Pfalzgalerie Kaiserslautern, 1966/67. Im Elan der Novemberrevolution nahmen die Manifeste Tauts und auch die des frühen Bauhauses manchmal utopisch-groteske Züge an. Mit ihrer schrillen Wortwahl suchten sie den Antiakademismus Nietzsches zu übertreffen: „Tod den Begriffsläusen! . . . . Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall!" (B. Taut in seiner Zeitschrift Frühlicht, 1920. Zit. nach: Heinrich Klotz, Das Pathos des Funktionalismus. Berliner Architektur 1920-1930, Berlin, 1974, S. 8). P. Behrens, Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, Leipzig, 1900, S. 7. Ebd.

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melden. Dieses Vertrauen in die unabweisbare Vernünftigkeit der eigenen kulturellen Mission hatte Behrens bereits während seiner Münchener Jahre (1890—1899) gewonnen, in denen er seine Arbeiten dem großbürgerlich-urbanen Publikum des Pan empfahl. Unter dessen jüngeren Gönnern wie dem Grafen Kessler galt die Lektüre des Zarathustra geradezu als religiöse Offenbarung. Nietzsche selbst soll das Werk als „diamanten" klassifiziert haben. 3 7 7 Ohne Zweifel inspirierte dieses sakrale Gebaren Nietzsches und seiner Gemeinde den jungen Künstler dazu, seiner Hommage an den Philosophen den Glanz eines Kultobjektes zu verleihen. Doch drängt sich sofort die Frage auf, ob auf diesem Wege die Widersprüchlichkeit und intellektuelle Brillanz Nietzsches verschüttet wurde, — und ob sich deshalb ein erstarrender „ZarathustraStil" auch für Behrens langfristig als künstlerische Sackgasse erwiesen hätte? Was nun den handvergoldeten Einband zu Also sprach Zarathustra anbetraf, so konzentrierte Behrens die Aufmerksamkeit auf den in archaisierender Groteskschrift gehaltenen Titel, indem er ihn zwischen zwei metallglänzende Strahlenbündel verspannte. Diese blitzähnlichen Strukturen nehmen ihren Ausgangspunkt in dreieckigen, kristallinen Schmuckformen an der Ober- und Unterkante des Buchdeckels, wodurch die strenge Symmetrie des Gesamtaufbaus unterstrichen wird. Umgeben ist das Mittelfeld von ebenfalls axial zentrierten Wellenlinien und Ornamentbändern. Die Eckpunkte werden — wie nach den Abbildungen zu vermuten —378 durch Metallplättchen oder Quarzkristalle plastisch markiert. Im Verweis auf die Kostbarkeit des Buchinhalts wetteiferte die Arbeit mit ihren Vorbildern aus der karolingischen und ottonischen Einbandkunst. Noch ostentativer als für das Hauptwerk Nietzsches setzte Behrens die Symbolkraft der Kristallform für sein eigenes kulturelles Reformprogramm ein, die Feste des Lebens und der Kunst. Hier beherrschen die „Architektur" des Titelblattes zwei rahmende „Karyatiden", die — selbst kristallin stilisiert — dem Betrachter und Leser geschliffene Edelsteine in pathetischer Frontalität präsentieren. 379 Als Künstler muß Behrens über alles Fragmentarische bei Nietzsche hinweg die Formvollendung der Zarathustra-Dichtung angezogen haben, mit der der Philosoph auch eine inhaltliche Quintessenz seiner Lehren zu versprechen schien. Nietzsche selbst hatte sich jedoch bereits vor der Zarathustra-Vision die Unmöglichkeit des Festschreibens auf ein System eingestanden. Seine Zu377 378

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Erich Eckertz, Nietzsche als Künstler, München, 1910, S. 133. Der Verbleib des Einbandes ist ungeklärt. Justus Brinckmann konnte dem Hamburgischen Museum für Kunst und Gewerbe nur Teile der Behrensschen Ausstattung für Turin sichern. Abb. des Titels und des Widmungsblattes an die Darmstädter Künstlerkolonie in: Ein Dokument deutscher Kunst, 1976, Bd. 5, S. 208. — Auch das Exlibris von Behrens zeigt einen aus sich selbst strahlenden Kristall.

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falls- und Pessimismusgläubigkeit entfremdete ihn zunehmend der eingangs nachgezeichneten abendländischen Denktradition: „Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme. . . . Der Gesammtcharakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos. . . , " 3 8 0 Um Behrens' Leistung bei der Suche nach einer modernen, abgeklärten Formenharmonie auf der Basis des Kristallinen und der Zarathustrawelt gerecht zu werden, muß man diese an den Sehnsüchten anderer, hochbegabter Generationsgenossen messen. Deren Wunsch nach einer Uberwindung des Historismus blieb meist in einer Reminiszenz an die Kunst Um 1800 stekken. 381 Noch deutlicher wird die geschickte Handhabung der Kristall-Mystik durch Behrens im Vergleich zur Aufdringlichkeit, mit der Hans Thoma — vergleiche Abbildung zwei — oder Siegfried Schellbach — vergleiche Abbildung fünf — die Geisteskraft des Philosophen rein additiv zu symbolisieren trachteten. Hand in Hand mit der neuerwachten Kristall-Mystik um 1900 verbreitete sich ein Licht- und Sonnenkult. 382 Das Panorama dieser Bewegung umfaßte neben ihren sublimeren Wurzeln in der Pleinair-Technik des Impressionismus auch den plakativen Ruf zur Freiluftkultur, der das „Lichtgebet" von Fidus als „Schlüsselbild und Leitmotiv" diente. 383 In ihrer Würdigung des Künstlers verfolgten Frecot, Geist und Kerbs exemplarisch die Erfolgskurve des „Lichtgebets" und assoziierten dazu Sätze aus der Vorrede Zarathustras. Den Käufern der Fidus-Reproduktionen stellten Hamann und Hermand ein vernichtendes Zeugnis aus: „Der Sonnenkult dieser Kreise entartet daher meist zu jenen Fidus-Gefühlen, in denen die von Nietzsche erhoffte ,Morgenröte' eine kaum zu unterbietende Trivialität erreicht." 384 Entstand die „Tempelkunst" des Meisters Fidus auch abseits der eigentlichen Nietzsche-Kultprodukte, so überlagern sich doch teilweise die Schichten ihrer Konsumenten. Für die Mehrzahl dieser kleinbürgerlichen Lebensreformer beschränkte sich das Nietzsche-Verständnis darauf, daß der berühmte Philosoph ihre Variante des Escapismus mit zusätzlicher Autorität ausstattete. 380 381

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F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, GA V, S. 148 (Aph. 109). Vgl. ζ. B. das so betitelte einflußreiche Werk von Paul Mebes: Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung. 2 Bde., München, 1908. Zur damaligen Rolle P. Schultze-Naumburgs, vgl. 4.6.2. Zur Beliebtheit dieser Ideen vgl. August Horneffers Symbolik der Mysterienbünde, Prien, 2 1924, darin insb. Kap. 3: „Das Licht" (S. 131-162). A. Horneffer war von 1899 bis 1903 zusammen mit seinem Bruder Ernst verantwortlich für die Herausgabe des Nietzsche-Nachlasses. J. Frecot u.a., Fidus, 1972, S. 288. Zahlreiche Fassungen des Werkes ebd. abgebildet S. 2 8 9 - 3 0 0 , S. 440 u. S. 473. Impressionismus, (Bd. 3 der Reihe: Deutsche Kunst und Kultur), S. 290.

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Uber die Zukunftschancen eines normativen „Zarathustra-Stils" um 1900 entschieden aber letztlich Künstler, die in ihrem Auftreten Nietzsches Denkund Lebensweise am nächsten standen und den 90er Jahren in Deutschland ihr Gepräge gaben: die Bahnbrecher des Impressionismus in Malerei, Musik und Literatur. Wer daraufhin ein entsprechend sichtbares Engagement der impressionistischen Maler und Bildhauer für Nietzsche erwartet, gleichsam aus Dankbarkeit gegenüber ihrem Wortführer, der muß enttäuscht werden. Paradox erscheint diese Lässigkeit im Einsatz für die gemeinsame Sache nur solange, wie man die unter der versöhnlichen Oberfläche der impressionistischen Geschmackskultur verborgenen Widersprüche verdrängt. Als Zeitgenosse hatte schon Richard Hamann beklommen den Mangel jeder überindividuellen Solidarität zwischen den „Modernen" konstatiert.385 Der angeblich unpolitische Rückzug in das Private war von Nietzsche selbst bis in Einzelheiten vorexerziert und mit dem Nimbus des Elitedaseins umgeben worden. Einige Forderungen des Philosophen lesen sich dabei wie Regieanweisungen für zukünftige Helden des literarischen Ästhetizismus, wenn Nietzsche beispielsweise den „Ausnahme-Menschen" zur Selbstvergewisserung nahelegte: „Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften."386 Für die Publizität dieses neuen Subjektivismus sorgte in erster Linie Hermann Bahr, nachdem er 1890 aus Frankreich zurückgekehrt war und in Berlin auf ein beschleunigtes Nachholen der „Decadence"- und „Fin de siècle"Stimmungen drängte.387 Die „eigentliche Wendung nach dem Westen", die etwa Paul Fechter erst mit dem Impressionismus einsetzen ließ, konnte nahtlos an die von Nietzsche selbst während der Gründerjahre aufrechterhaltene Vorliebe für alles Romanische anknüpfen.388 Innerhalb des Nietzsche-Kultes der impressionistischen Kreise glänzten, dem Profil der Strömung entsprechend, Lyriker und Essayisten, nicht Dramatiker oder Romanciers. Die bis heute populärsten Nietzsche-Nachklänge lieferten jedoch die Musiker, allen voran „frei nach Nietzsche" Richard Strauss mit seiner Symphonie Also sprach Zarathustra (1896). Möglicherweise hatte schon der Philosoph mit der Anlage seiner vierteiligen Zarathustra-Oichtang 385 Vg] g 52 u n d Anm. 234. Seine negative Bilanz des Impressionismus stützte Hamann auf angeblich universell wirkende Tendenzen zur Vereinzelung und Unverbindlichkeit. Als Beispiele berief er sich u. a. auf die Heimatlosigkeit, Ehefeindschaft und Staatsverachtung Nietzsches und seiner Nachläufer. Vgl. dazu insb.: Der Impressionismus in Leben und Kunst, S. 149-197. 386 387

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Der Wille zur Macht, GA XVI, S. 332 (Aph. 943). Sehr detailliert untersucht diesen Fragenkomplex Manfred Diersch in seiner Studie: EmpirioKritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien, Berlin, 1973. „Nietzsches Bildwelt und der Jugendstil", S. 351.

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an symphonische Vorbilder gedacht, wohingegen Strauss sein Tongemälde — nach Hamann und Hermand — auf eine kleinteilige, aphoristische „Grundstruktur" zurückstufte und der „Formlosigkeit" und freien Assoziation impressionistischer Musikkunst unterordnete. 389 Nach allem Gesagten bleibt nur die Einsicht: der zum Monument strebende Nietzsche-Kult in den bildenden Künsten konnte von der Formschwäche des Impressionismus wenig Zukunftsweisendes erwarten. Andererseits wurde erst durch die Passivität der Impressionisten das reizvolle Feld der NietzscheDeutung den Ideologen eines spröden Archaismus überlassen. Unter dieser Perspektive ist der eingangs erwähnte Protest Slevogts gegen das NietzscheArchiv auch als verpaßte Chance für die Ernüchterung „Neu-Weimars" zu bedauern. Das Risiko einer vom Archiv unabhängigen Formulierung des NietzscheZarathustra-Mythos nahmen nur wenige Außenseiter auf sich. Segantinis problematische „Verkündigungsgruppe" veranschaulicht die Widerstände, mit denen eine subjektive Verdichtung vorgefundener Zarathustra-Stilelemente um 1900 rechnen mußte. Gegen das Dilemma des 19. Jahrhunderts, neben abgelebten christlichen Metaphern neue bindende Symbole aufzurichten, bot der persönliche Zukunftsstil einzelner Nietzscheaner kein Patentrezept. O b Peter Behrens seinen gleichsam „synthetischen" Zarathustrastil als Formensprache aller Nietzscheaner durchgesetzt hätte, bleibt jedoch bedenkenswert. Auf dem Niveau dieser frühen, abstrakten „Nietzscheana" wäre — vom Archiv autorisiert — der gesamte Kult enger mit der stürmischen Entwicklung der Moderne (Kubismus, Neues Bauen) verknüpft worden. Durch das Ausbleiben dieses Experiments beschränkte sich das visuelle Selbstverständnis der Nietzscheaner in der Regel auf Initiativen Elisabeth FörsterNietzsches, die durch Geschäftigkeit und Ausstrahlung vor allem jüngere Künstler zu beeindrucken verstand.

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Impressionismus, S. 254. Für das „Nietzsche-Fieber" unter den Musikern der Jahrhundertwende bringen die Verfasser neben Strauss Frederik Delius, Gustav Mahler, Siegmund von Hausegger und Oskar Fried in Anschlag (S. 24). — Mahler hatte Nietzsche-Texte schon 1878 kennengelernt; auch Johannes Brahms las den Philosophen bereits zu Beginn der 80er Jahre.

3 Für ein „Drittes Weimar": Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900? 3.1 Elisabeth Förster-Nietzsche und die Formung des der neunziger Jahre

Nietzsche-Mythos

3.1.1 Die „Schwester Zarathustras" Der Kampf um das geistige Erbe des Philosophen verschärfte sich bald nach dem Aufbau eines provisorischen Archivs in Naumburg (1893/94) durch den monopolartigen Machtanspruch, mit dem die „Schwester Zarathustras" alle von ihr abweichenden Interpretationen — auch die aus dem ehemaligen Freundeskreis — mit Hilfe ihres natürlichen Vertrauenskredites vor der Öffentlichkeit bloßstellte. Trotzdem wurden schon um 1900 Bedenken laut gegen die wissenschaftliche Neutralität der Archivleitung, 390 bis deren Renommee durch die kriminalistische Beweisführung Karl Schlechtas zusammenbrechen mußte. Ist damit auch die künstlerische Repräsentation Nietzsches im „Dritten Weimar" als flankierendes Manöver zu den Manipulationen Elisabeth Förster-Nietzsches überführt? Ungewollt würde man das ehrgeizige Werk der Schwester Nietzsches rechtfertigen, wenn man ihre langsam verblassende Mythisierung des Bruders durch neue Legenden über die Allgewalt der Archivherrin fortsetzt. Im Kontrast zur unleugbaren Skrupellosigkeit Elisabeths kam überall ihre — menschlich sympathischere — Inkonsequenz, Stilunsicherheit und Naivität zum Vorschein. Die Frau, die einen van de Velde an Weimar zu binden wußte, brachte gleichzeitig die Geschmacklosigkeit auf, mit der vom Künstler entworfenen, an Napoleon erinnernden „N"-Initiale auf ihren Streichholzschachteln zu prunken! 391 Entschuldigt man diese und ähnliche Entgleisungen noch als harmlose Rückfälle aufs Naumburger Provinzniveau, so verraten sie doch im 390 Vgl z g. Rudolf Steiner, „Das Nietzsche-Archiv und seine Anklagen gegen den bisherigen Herausgeber. Eine Enthüllung", in: Das Magazin für Litteratur, 69 (1900), Sp. 145—158; und: Karl Otto Erdmann, „Vom Monopol auf Nietzsche", in: Der Kunstwart, 20, 2 (1907), S. 294 - 2 9 9 . 391 A. Kippenberg hatte diese im Archiv gesehen und bat um eine Vorlage für den Insel-Verlag. Vgl. Brief an E. Förster-Nietzsche vom 20.8.1907; Weimar, NFG (GSA) 72/2281. Abb. 18 zeigt das „N"-Signet über dem Ofen des Lese- und Vortragssaales.

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Kern schon Frau Förster-Nietzsches Gespaltenheit im Umgang mit neuartigen Kunst- und Gesellschaftsvorstellungen. Im sich zuspitzenden politischen Klima der 20er Jahre schließlich glaubte sie unbekümmert an eine neue Sammelbewegung unter dem Dach ihres Nietzsche-Archivs, zumindest innerhalb der pro- und antifaschistischen Kräfte des bürgerlichen Lagers. Als nobelpreisverdächtige „First Lady of Europe" 392 umschmeichelt, ernannte sie sich zur Statthalterin ihres Bruders für ein kosmopolitisches Europa der Zukunft, worin — horribile dictu — ihrem neuen Freund und Gönner Mussolini die Schlüsselrolle zufallen sollte. Daß zahlreiche Nietzscheaner von Anfang an in jede noch so törichte Kehrtwendung der Archivleitung tiefe Weisheit hineingeheimnisten, spricht mehr für einen kollektiven „Vergötterungstrieb" der Gemeinde, 393 als für eine Hypnose durch die menschlich-allzumenschliche Persönlichkeit Elisabeth Förster-Nietzsches. Sie bediente sich nur der Schwächen ihrer angeblichen Opfer, allerdings sehr geschickt unter Ausnutzung der emotionalen Betroffenheit des Publikums; denn die Nietzscheaner ehrten in der Schwester des Philosophen dessen Märtyrerschicksal, für das sie sich nachträglich mitverantwortlich wähnten. Dieses Schuldbewußtsein vieler Sprecher der deutschen Intelligenz bedurfte nur eines moralischen Appells, und die vermeintliche Wiedergutmachung in Form finanzieller Zuwendungen für die Mission Elisabeths war gesichert. Ganz im Gegensatz zu den Beteuerungen Frau Förster-Nietzsches, die sich schon durch ihr Auftreten in die Rolle der armen, verfolgten Witwe und „Auslandsdeutschen" hineinsteigerte, 394 müssen die Spenden der Gemeinde stets erheblich gewesen sein, durchaus vergleichbar den Einnahmen aus den Verlagsrechten.395 392

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Mit diesem Titel kokettierte die Archivleiterin in einem Brief an Ernest Thiel vom 26. 8. 1926. Mitgeteilt bei H. F. Peters, Zarathustra's Sister, S. 213. — Für die Verleihung eines Nobelpreises wurden drei vergebliche Anläufe — 1908, 1911 und 1923 — unternommen (vgl. ebd. S. X). Zur psychischen Disposition einer Verehrergemeinde vgl. Wilhelm Lange-Eichbaum, Genie als Problem, München, 21941, S. 32-56, insb. S. 42-44. Im Jahre 1889 — kurz nach der Erkrankung des Bruders — hatte ihr Mann, der antisemitische Lebensreformer Bernhard Förster, nach dem Zusammenbruch seines kolonialpolitischen Abenteuers in Paraguay Selbstmord begangen. Die „letztwillige Zusicherung eines Kapitals" von RM 300.000,— allein durch den schwedischen Nietzscheaner E. Thiel ermöglichte 1908 die Umwandlung des Archivs in eine Stiftung. Nach dem Ruin der Inflationsjahre übersandte seit 1928 der Hamburger Großindustrielle Philipp Reemtsma, der auch die NSDAP unterstützte, jährlich RM 20.000, — , um den „Archivbetrieb sicherzustellen." Alle Zahlenangaben und Zitate aus: „Wichtigste Daten zur Geschichte des Nietzsche-Archivs" (von Max Oehler „Ende Juli 1942" beschriftet). Weimar, N F G (GSA) 72/2460. - Die Einnahmen aus ihren und ihres Bruders Werken gab Frau FörsterNietzsche dagegen ζ. B. für die Jahre 1889-1907 mit RM 185.000,- an. Das Nietzsche-Archiv. Seine Freunde und Feinde, Berlin, 1907, S. 15. — Die Ehrenpension, die ihr Reichspräsident Hindenburg 1926 anläßlich ihres 80. Geburtstages aussetzte, fiel mit RM 450,— mtl. vergleichsweise kaum ins Gewicht.

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Die daraus gewonnene großbürgerliche Repräsentation konnte — und sollte! — der Außenwelt nicht verborgen bleiben, zumal die Archiwilla auf dem „Silberblick" auch mehr und mehr zum Treffpunkt der Weimarer Hofgesellschaft avancierte. Bevor der Nietzsche-Mythos, seine Rituale und Zeremonien, noch zu Lebzeiten des Philosophen derart nobilitiert werden konnte, bedurfte es einer flexiblen, „marktgerechten" Werbetätigkeit, für die Elisabeth Förster-Nietzsche erfolgversprechende Erfahrungen mitbrachte: — Als Mitstreiterin ihres Bruders hatte sie erlebt, wie der „Bayreuther Gedanke" aus der Sache einer Minderheit binnen weniger Jahre zur Selbstinszenierung des neuen Reiches aufgestiegen war. — Im Zeichen Wagners und eines völkisch-aggressiven Antisemitismus Schloß sie sich Bernhard Förster an, um an seiner Seite die gemeinsame Kolonialgründung „Neu-Germania" als Keimzelle wahren Deutschtums zu propagieren. Ihre unglückselige Verquickung der Namen von Bruder und Ehemann — ein gesunder Nietzsche hätte sich gegen jede auch nur äußerliche Nachbarschaft zu Förster gewehrt — dokumentierte das Programm, mit dem die zukünftige Archivleiterin zu Beginn der 90er Jahre antrat. Dabei zeigte sich Frau FörsterNietzsche keineswegs wählerisch bei der Suche nach potentiellen Mäzenen, die sie je nach ihrer Interessenlage zu engagieren gedachte. Während sie beispielsweise Kaiser Wilhelm II. gegenüber instinktsicher auf den Namen ihres imperialbegeisterten Ehemannes setzte und die Krankheit ihres damals offiziell noch verpönten Bruders verschwieg, 396 bediente sie sich wenig später wie selbstverständlich der Zukunft Maximilian Hardens, dem Sprachrohr antiwilhelminischer Rebellion. Daß dieses „meistgelesene, meistbewunderte und meistgehaßte politische Wochenblatt Deutschlands" 397 als Hauspostille Frau Förster-Nietzsches fungierte, hat nicht wenig zur Verwirrung auch in den Köpfen der kritischen Linken beigetragen. Sogar Upton Sinclair überhöhte einen Nietzsche-Essay mit dem zum Allgemeinplatz erstarrten Mythos von der ausschließlichen Märtyrerrolle Elisabeths: Nietzsches Schwester war ihm sein Leben lang treu ergeben, sie pflegte ihn und sorgte für ihn während der furchtbaren Jahre, da er knurrend wie ein wildes Tier von einem Zimmer ins andere wanderte. . . . Der Mann flieht vor der Frau, aber er beginnt sein Leben in ihren Armen und beendet es dort. 3 9 8

396 Vgl. „Konzeptfragmente Elisabeth Förster-Nietzsches an Kaiser Wilhelm II. (nach 1890)". NFG (GSA) 72/716. 3 9 7 C. A. Werner, „Um Deutschlands Zukunft", in: Berliner Zeitung, 2 (1946), Nr. 245, (S. 5). 398 Die goldene Kette oder die Sage von der Freiheit der Kunst, Berlin, 1927, S. 334 (Kap. 74: „Der Übermensch"). — Nur sehr wenige Intellektuelle hätten damals Tucholskys lapidares Verdikt: „Dieses Archiv ist ein Unglück" unterschrieben. „Fräulein Nietzsche", in: Die Weltbühne, 28 (1932), S. 989.

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So unbestreitbar die Lauterkeit von Schwester und Mutter bei der Pflege des Kranken gewesen ist, so verhängnisvoll hat sich im Umgang mit Nietzsches geistiger Hinterlassenschaft eine von frömmelndem Familiensinn diktierte Willkür erwiesen. Erst die Nachwelt — frei von der Heilserwartung der Nietzscheaner an der Jahrhundertwende — nahm die innere Korrespondenz zwischen beiden sich vorgeblich ausschließenden Handlungsweisen der Familie zur Kenntnis. Für den Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst erschien die frühe Sammeltätigkeit Frau Förster-Nietzsches im Prinzip begrüßenswert, ja als ungewöhnlicher Glücksfall, da alle Erinnerungsstücke an einem Ort zu Studienzwecken verfügbar wurden und somit ein Abglanz der großen Persönlichkeit lebendig blieb. Abgesehen von der Agitation, die Ernst Horneffer nach seinem Bruch mit dem Nietzsche-Archiv als neuzeitlicher „Wanderapostel" von Leipzig aus entfaltete, war Elisabeth Förster-Nietzsche als Mittelpunkt der sich formenden Verehrergemeinde konkurrenzlos. 399 Dabei wurde ausschlaggebend, daß die Schwester, seit dem Tode der Mutter 1897 auch alleinige Erbin, völlig ungebunden über den Zugang zum entmündigten Philosophen entscheiden konnte. Wie Curt Paul Janz kürzlich diese beklemmende Konstellation umschrieb, „wurde [Nietzsche] ein Bestandteil ihres Archivs, allerdings ein ganz besonderer, ein Kultgegenstand." 400 Auf den nächsten Seiten wird zu klären sein, inwieweit sich Frau FörsterNietzsche dieser einzigartigen Verantwortung gewachsen zeigte, die gleichermaßen künstlerische Urteilskraft wie menschliches Taktgefühl erforderte. Voll böser Vorahnungen hatte Nietzsche während der letzten Monate seiner geistigen Existenz über künftigen Ruhm nachgedacht: Ich w i l l keine „Gläubigen", ich denke, ich bin zu boshaft dazu, u m an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. . . . Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags h e i l i g spricht. . . , 4 0 1

3.1.2 Anfänge in der Provinz: erste Kontakte zu bildenden Künstlern In derselben Eilfertigkeit, in der Frau Förster-Nietzsche bei ihrem ersten Wiedersehen mit der Naumburger Verwandtschaft die finanzielle Ausbeute aus den Leistungen des Bruders an sich zu ziehen verstand, formulierte sie bald nach ihrer endgültigen Rückkehr in die Heimat den kulturellen und mäzenati-

Seine differenzierende, auch selbstkritische Haltung im Streit mit der ehemaligen Vorgesetzten erläuterte Horneffer in: Nietzsches letztes Schaffen, Jena, 1907. 400 Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bänden, Bd. 3, S. 208. 401 Ecce homo, GA XV, S. 116 (Warum ich ein Schicksal bin 1). 399

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sehen Anspruch des Archivs. Erfreulicherweise hat sich dazu eine „Erklärung, die Nietzsche-Büste von Schellbach betreffend" erhalten, die ausdrücklich „Nicht zur Veröffentlichung" bestimmt war. 4 0 2 In seiner typischen Mischung aus Stolz und Selbstgerechtigkeit verdient dieses frühe Memorandum der Archivleiterin ausführlich zitiert zu werden. Aus Enttäuschung über die Mängel der Schellbachschen Gipsbüste von 1895, des ersten plastischen NietzscheBildnisses überhaupt, zog sich Frau Förster-Nietzsche mit künstlerischen und juristischen Argumenten auf die Rolle des Archivs als „Rüstkammer für die spätere gerechte Beurtheilung" des Bruders zurück. 4 0 3 Durfte die Schwester von der Auftragsvergabe an den jungen, 1866 geborenen Naumburger Künstler das definitive Leitbild für ihren Nietzsche-Mythos erwarten? Bevor in die zweifelsohne berechtigte Kritik an Schellbach eingestimmt werden kann, muß man wissen, wie — nach Angabe Frau FörsterNietzsches — der Kontakt zwischen beiden zustande kam: „Ich habe die Büste bei Herrn Schellbach nur deshalb bestellt, weil ich mit seiner verstorbenen Mutter befreundet war. . . , " 4 0 4 Solange Schellbachs Nietzsche-Interpretation „als Versuch eines Anfängers" eine „Naumburger Privatangelegenheit" geblieben war, fand auch Frau Förster-Nietzsche angesichts des fertigen, überarbeiteten Gipses zu Weihnachten 1895 anerkennende Worte: Uberhaupt war sie [die Büste] nicht unsympathisch, niemand brauchte sich zu betrüben so auszusehen. Es ist eine sog. „hübsche Büste" mit einem schläfrigen Ausdruck (die Kritik sagt sehr euphemistisch „träumerisch") und hat eine entfernte Ähnlichkeit mit meinem Bruder, aber das, was gerade den Kopf meines Bruders so charakteristisch macht: Der Ausdruck einer prachtvollen Energie, der markante edle Knochenbau fehlt der Büste vollständig. 405

Der hier ausführlich referierte Streit um die Leistung Schellbachs verdeutlicht schlagend das Niveau, auf dem die Archivherrin ihren Nietzsche-Kult in Szene

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Weimar, N F G (GSA) 72/716; dreiseitiges Diktat, von E. Förster-Nietzsche abgezeichnet. Vom GSA auf „(1894 — 97)" datiert, kann man die Niederschrift für Frühjahr oder Sommer 1896 annehmen, da die Verfasserin die Büste von 1895 als „in diesem Winter" fertig beschreibt. Ebd. — Die Archivleiterin bezog ihre Kritik nur auf die Schellbachsche Büste (vgl. Abb. 4). A. Seidl wollte in „Nietzsche-Bildwerke", S. 386, von einer „Gypsbüste" eines „Naumburger Bildhauerfs] Namens S c h e l l b a c h " aus den „siebziger Jahren" wissen, die, obwohl in „einer durch keinerlei Sachkenntnis irgend wie getrübten, rein konventionellen Modellier-Technik" (S. 385) entstanden, „ d a s e i n z i g e K u n s t w e r k n a c h d e m g e s u n d e n , . a u f s t e i g e n d e n ' L e b e n des N a u m b u r g e r P h i l o s o p h e n " darstellen sollte. Da Siegfried Schellbach aus Altersgründen für das Werk nicht in Frage kommt, und ein anderer „Naumburger Bildhauer Namens Schellbach" nirgendwo dokumentiert ist, muß Seidl die Büste von 1895 meinen. — Ein gleichzeitig entstandenes allegorisches Gipsrelief Nietzsches — vgl. Abb. 5 — hatte der Künstler damals offensichtlich einbehalten. Weimar, N F G (GSA) 72/716. Alle Zitate: Ebd.

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setzte. Im Hinblick auf seine historischen Konsequenzen für die gesamte Nietzsche-Bewegung stimmt es bedenklich, wenn schon dieses frühe, vergleichsweise idyllische Naumburger Kapitel überschattet wird von der maßlosen Idealisierung des Philosophen. Nach dem Muster der „Erklärung" von 1896 hat Frau Förster-Nietzsche jahrzehntelang auf der Makellosigkeit des Bruders bestanden und mit diesem stereotypen Kriterium jedes ihr vorgelegte Bildnis zensiert. 406 Außerdem belegen alle Zitate, wie weit der pathetische Anspruch und der prosaische Alltag zumindest in den Gründungsjahren des Nietzsche-Mythos auseinanderklafften. Als Schellbach es im Winter 1895/96 ohne Rücksprache wagte, die Büste „mit einiger Reklame" 407 in Berlin auszustellen, war der Monopolanspruch des Archivs als einer „gewissermaßen . . . offiziellefn] Stelle" herausgefordert. 408 Nicht zu Unrecht befürchtete Frau Förster-Nietzsche, daß es „schlimm" wäre, „wenn die erste Büste, die in der Öffentlichkeit erscheint, keine gelungene ist, solch ein erster Eindruck wirkt gewissermaßen hypnotisch". 409 Aus heutiger Sicht überrascht die Einseitigkeit, mit der die Archivleiterin die Popularisierung ihres Bruders vom künstlerischen Rang einer B ü s t e abhängig machte, nachdem zahlreiche Fotos des gesunden wie des erkrankten Philosophen vorhanden und auch die beiden Gemälde Stoevings bereits 1895 durch Ausstellung oder Reproduktion im Pan in der öffentlichen Diskussion waren. Elisabeth Förster-Nietzsche, der der Hang zu aristokratischer Repräsentation tief eingewurzelt war, erschien in erster Linie die exklusive und daher gewöhnlich konservative Gattung der Plastik standesgemäß. Das Foto als Nachfolger des bloß handwerksmäßigen Kleinbürgerporträts war für das Kunstverständnis der Jahrhundertwende als Abbild des „Durchschnittsphilister[s]" diskreditiert. 410 Dieses Vorurteil der Zeitgenossen hatte Schellbachs Büste durch ihre bürgerliche, fotogerecht wirkende Kostümierung noch bestärkt. 406

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Besonders aufdringlich zeigte sich diese Schabionisierung dann in ihrem zweibändigen Hauptwerk: Das Leben Friedrich Nietzsches, Leipzig, 1895—1904. NFG (GSA) 72/716. - In Weimar, NFG (GSA) 101/UF 259, befindet sich ein Foto der Büste, das mit „Siegfried Schellbach 1896" signiert ist und die Geschäftstüchtigkeit des Künstlers u. a. durch folgende Aufdrucke illustriert: „Photogravure und Druck von O. Feising, Berlin", „Verlag von Rud. Schuster, Berlin." und „Nach dem Leben modelliert von Siegfried Schellbach". Diese Behauptung durfte E. Förster-Nietzsche mit Recht bestreiten, denkt man an die damals noch lebende Mutter des Kranken, die ihn vor störenden Künstlerbesuchen abzuschirmen trachtete. Vgl. dazu die Probleme bei der Auftragsvergabe an Stoeving; Abschnitt 3.1.2.1. Ebd. Ebd. Friedrich Naumann entwickelte diese Klassifizierung in seinem Aufsatz „Das Porträt" (1905), abgedruckt in: ders., Form und Farbe, Berlin, 1909, S. 61—64. Zit. S. 63.

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Den Künstler selbst mußte die Diskrepanz zwischen seiner emphatischen Nietzsche-Verehrung und deren Konkretion als genrehaftes Porträt eines beliebigen Gelehrten, Beamten oder Offiziers zu einer Neufassung des Themas herausfordern. Wahrscheinlich auf den Einspruch der Archivleitung hin bemühte sich Schellbach, in einem Gisprelief des Philosophen — vergleiche Abbildung fünf — dessen „schläfrigen Ausdruck" durch das Profil einer willensstarken Kämpfernatur zu korrigieren. Jedoch durchkreuzte der Künstler dieses neue Pathos mit der Einkleidung des Philosophen, die er bis ins Detail der Büste entnahm. Durch die Rahmung des Reliefs werden dagegen wieder antikheroische Assoziationen geweckt, die Schellbach in zeitgebundener, renaissancistischer Formensprache präsentierte. Eine kurze Beschreibung dieses widersprüchlichen Programms illustriert nicht nur den individuellen Nietzsche-Kult des Künstlers: die Ikonographie der Reliefrahmung läßt auch Schlüsse auf die allgemeinen Rezeptionserwartungen um die Mitte der 90er Jahre zu. Zu beiden Seiten einer rollwerkartigen Kartusche mit dem Namen des Philosophen postierte Schellbach antikisierende Dreifußkandelaber, aus denen Rauch zu einem sechseckigen Stern aufsteigt, der die obere Schmalseite der Reliefrahmung und damit zugleich das Mittelfeld beherrscht. An den Kandelaberschäften sind in Kopfhöhe des Dargestellten zwei Tafeln mit je zwei Werktiteln aufgehängt, wobei links 411 Menschliches Allzumenschliches und Die fröhliche Wissenschaft, rechts Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse erscheinen. Bei dieser Werkauswahl fällt auf, daß der Künstler unter Auslassung der sogenannten ersten, kulturkritisch-ästhetizistischen Periode Nietzsches auf einen repräsentativen Querschnitt aller Schriften verzichtete. Wie Gisela Deesz bestätigte, 412 wurden in den 90er Jahren die Geburt der Tragödie sowie die Unzeitgemäßen Betrachtungen zugunsten des moralkritischen Spätwerkes und seiner Schlagworte — „blonde Bestie" — übersehen. Erst nach der Jahrhundertwende begann man, Nietzsches Ruf nach einer Neubelebung dionysischer Kunst- und Kulturformen ernst zu nehmen. 413 Einen frühen Widerhall dieser Botschaft des Philosophen kann man in dem Motiv der wildwuchernden und abgestorbenen Schilfgewächse erkennen, mit denen Schellbach die Kandelaber paarweise und nahezu symmetrisch umwand. Dabei dient das Schilfrohr als Attribut des Dionysos verwandten Vegetationsgottes Pan gleichzeitig zu einer Anspielung auf den ewigen Kreislauf der Natur.

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Vom Betrachter aus verstanden, wie in allen folgenden Beschreibungen. Die Entstehung des Nietzsche-Bildes, S. 90. 413 Vgl. G. Deesz, Die Entstehung des Nietzsche-Bildes, Kap. 4: „Der Kulturphilosoph" (S. 23 —38) und Kap. 5: „Der dionysische Jasager zum Leben" (S. 39—62). 412

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Während von Schellbachs Arbeiten aus dem Jahre 1895 neben der Büste auch zwei sehr ähnliche Exemplare des Gispreliefs im Depot des Goethe-Nationalmuseums erhalten sind, 4 1 4 war ein undatiertes, allegorisches En-face-Relief des Philosophen in den Weimarer Beständen nur als Foto auffindbar. 415 Bei dieser Variante seiner „Nietzscheana" beschwor der Künstler die märtyrerhaften Leiden des Vorbildes. Uber einem altar- oder sarkophagartigen Block mit dem Namen des Philosophen erhebt sich dessen Kopf inmitten von Rauchwolken, die sich aus zwei an den Seiten aufgestellten Schalen entwikkeln. Die Uberformung des gesamten Reliefs durch typische „Jugendstil"Motive macht eine im Vergleich zum En-profil-Porträt — Abbildung fünf — spätere Entstehung wahrscheinlich. Damit reagierte der Künstler auf andere, erfolgreichere Kultprodukte aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre wie die Arbeiten Arnold Kramers und Hans Oldes. Den Fehler, einen nahezu Unbekannten wie Schellbach mit der Formulierung des Nietzsche-Typus und -Mythos zu betrauen, hatte die Archivleiterin bei der Wahl des ersten Malers vermieden, der schon im Oktober 1894 Zutritt zum Kranken erhielt. Curt Soeving bewies Mut, indem er die Unduldsamkeit der Naumburger Atmosphäre ignorierte und einen hilflosen, unverkennbar geistesgestörten Nietzsche für bildwürdig erachtete. Dieser Entschluß, noch abseits der Zentren liberalen Kunstkonsums gefaßt, sollte sich als richtungweisend für den Kult um den „gescheiterten Geistaristokraten" erweisen. Innerhalb der Erfolgskurve dieses Rezeptionsmusters verdienen die frühen „Nietzscheana" Stoevings deshalb besondere Beachtung. 3.1.2.1 Curt Stoeving Als Nietzsche in der Oktobersonne des Jahres 1894 seinem ersten bedeutenden Porträtisten gegenübersaß, rüstete das Archiv gerade zum 50. Geburtstag des Gefeierten, dessen Anteilnahme an der Umwelt sich jedoch zunehmend auf das Naumburger Wohnhaus mit der weinlaubumrankten Veranda beschränkte. An diesem Lieblingsplatz des Kranken, eingetaucht in die „Magie des Nachsommers", mochte Stoeving gehofft haben, Nietzsches „eingeborene[r] Herbstlichkeit der Seele", seiner ,,tiefe[n] Oktoberseligkeit" nahezukommen. 4 1 6 Dieses zunächst spekulativ erscheinende Zutrauen in die Sensibi414

41s 416

Trotz der Querelen um die Büste befand sie sich schon zwei Jahre nach ihrer Entstehung „im Besitz der Familie." Das geistige Berlin. Eine Encyklopädie des geistigen Lebens Berlins, Hrsg. v. Richard Wrede und Hans von Reinfels, Berlin, 1897, Bd. 1, S. 465. Unklar dagegen ist, seit wann das Relief im Archiv bekannt war und wann seine beiden Ausfertigungen erworben wurden. NFG (GSA) 101/76. Alle Zitate nach: E. Bertram, Nietzsche, S. 239. Indem Bertram 1918 den „Ton halkyonischen Spätglücks" zu einem Schlüssel von Werk und Person des Philosophen verklärte (ebd. S. 241),

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lität des Künstlers gewinnt an Uberzeugungskraft, betrachtet man etwa die monumentale Fassung des Porträts — Abbildung eins — mit ihrem Labyrinth von Anspielungen, das die verwirrend-überreichen Gedankensprünge des jungen Nietzscheaners verrät. Bevor dieses Kunstwerk in seiner ideologischen Uberfrachtung, seiner extremen Ambivalenz zwischen Genreszene und Klassizität — zwischen detailgetreuen Blumentöpfen und deren tempelhafter Rahmung — überprüft wird, verdient das weitgestreute Talent des 1863 in Leipzig geborenen Malers, Architekten, Bildhauers und Kunstgewerblers zumindest eine kurze Würdigung. Als Stoeving den Auftrag aus Naumburg erhielt — wahrscheinlich durch Vermittlung des Nietzsche-Archivars Fritz Koegel, zu dessen Berliner Bekanntenkreis er neben dem Grafen Kessler gehörte — hatte er sich bereits im Porträtfach hervorgetan und stand am Beginn einer langen Karriere, wie sie auch andere Stilreformer auszeichnet. 417 Eine besondere Genugtuung für den Nietzscheaner Stoeving bedeutete die goldene Medaille, die er für eine Zimmerausstattung mit der Bronzeherme des Philosophen auf der internationalen Kunstgewerbeausstellung in Turin 1902 errang. 418 Seitdem der Künstler im gleichen Jahr zum Leiter der Ausstellung moderner Wohnräume im Berliner Kaufhaus Wertheim bestellt worden war, konnte er sich an den Bau und die vollständige Einrichtung von Landhäusern heranwagen. Im „Dritten Weimar" jedoch, dem sich Stoeving auch nach der Jahrhundertwende verbunden fühlte, begnügte er sich mit weniger monumentalen Aufgaben. Da etwa beim Tode Nietzsches weder Max Klinger noch Ernst Moritz Geyger erreichbar waren, ließ man schließlich Stoeving zusammen mit Harry Graf Kessler die Totenmaske abnehmen. 419 Auf einer Bronzeplakette, die der Künstler bald darauf für die trauernde Nietzsche-Gemeinde gravierte, gab er der Wendung des Kultes ins Heroisch-Leidverachtende nach. 420

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gab er damit nur dem epigonalen Selbstverständnis vieler Nietzscheaner aus den 90er Jahren neuen Ausdruck. In Nietzsches Zusammenbruch spiegelten sich bevorzugt die Fin-de-siècleMentalität wie der ihr geistesverwandte Kulturpessimismus im Nachkriegsdeutschland („Untergang des Abendlandes"). Vgl. dazu 4.6.1.1. Stoeving starb 1939, Peter Behrens 1940, Paul Schultze-Naumburg 1949, Henry van de Velde erst 1957. Abb. der Herme in: Deutsche Kunst und Dekoration, 11 (1902/03), S. 65. Zum Einfluß der Maske bzw. ihrer Bruchstücke auf die Aussage späterer „Nietzscheana" vgl. 3.2.2. Ein Exemplar der Gedenkmedaille in Weimar, NFG (GNM) Inv.-Nr. 985. Während die Vorderseite Nietzsches Profil mit dem Namen und der Jahreszahl MCM trägt, überfliegen auf der Rückseite die Begleittiere Zarathustras eine Gebirgslandschaft mit einsamem Baum, darüber das Nietzsche-Zitat aus Also sprach Zarathustra III, GA VI, S. 334 („Die sieben Siegel" 1): „Denn ich liebe dich, o Ewigkeit." — Ein „groß aufgefaßtefs], stilisierte[s] Reliefporträt" des Philosophen, das nur P. Kühn (Das Nietzsche-Archiv, S. 5) beiläufig Stoeving zuschrieb, ließ sich weder im NFG-Bereich noch in anderem Besitz nachweisen.

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Dagegen gewinnen Stoevings Gemälde des Kranken, die eigentlichen Gründungswerke des Nietzsche-Kultes, ihre Glaubwürdigkeit aus dem Mitgefühl und der menschlichen Nähe zum Dargestellten. Uberwältigt vom Anblick des rapiden körperlichen und geistigen Verfalls vergaß der Künstler Nietzsches Maxime vom „Pathos der Distanz" und verzichtete auf den Effekt eines SilsMaria-Hintergrundes; um so theatralischer präsentiert sich Stoevings Einfall, nachträglich mit Hilfe der rahmenden Dekoration eine Weihestimmung um den Erkrankten zu inszenieren. Während sich das „Rahmenprogramm" zum abgebildeten, galeriegemäßen Querformat anhand eines späteren Auktionsfotos beschreiben läßt, ist man für die symbolträchtige Einkleidung der im Pan veröffentlichten kleinen Porträtfassung auf das Zeugnis von Zeitgenossen angewiesen. 421 Die Kritiken der Jahrhundertwende belehren darüber, daß damals der Bruch zwischen Bildnis und Rahmung noch nicht als Symptom für die unterschiedlichen Perspektiven des Nietzsche-Kults begriffen wurde. Abgesehen vom Naumburger Bekanntenkreis, der zusammen mit der Mutter Nietzsches jeden Porträtauftrag als journalistische Zudringlichkeit pauschal ablehnte, 422 mag das übrige Publikum vor allem Stoevings Maltechnik — nach Arthur Seidl — zu „mancherlei Kopfschütteln und Achselzucken" provoziert haben. 4 2 3 Der ehemalige Archivar und Vertraute Elisabeth Förster-Nietzsches fuhr fort: Ich für meinen Teil aber hege den starken Argwohn, daß es im Grunde doch nur der ungewohnt .moderne' Vortrag der Gestalt, im Sinne nämlich des Freiluft-Porträts, mit ausgeprägter Grünschimmer-Beleuchtung des ganzen Gartenausschnittes war, was jenen .Vielzuvielen' ein so groß' Befremden vor ihm verursachte. 424

Seidl bespöttelte hier die Ignoranz der Nietzscheaner namentlich gegenüber dem vom Archiv favorisierten kleinen Halbfigurenporträt, auf dem der Künstler den Philosophen zwar in pathetischer Frontalität vorstellte, die Verehrergemeinde aber gleichzeitig durch die Neigung des Impressionismus zu flüchtigen Garten- und Veranda-Motiven verunsicherte. Für die Archivleiterin jedenfalls war der allgemeine Skandal um die ersten „Nietzscheana" kein Hinderungs421 Vgl. glaubwürdigen Angaben A. Seidls in: „Nietzsche-Bildwerke", S. 387. Beide Gemälde sind erhalten. Abb. 1, in den 30er Jahren für die Bildnis-Sammlung der National-Galerie erworben, befindet sich lt. Auskunft der Staatlichen Museen zu Berlin ohne den ursprünglichen Rahmen im Depot der National-Galerie. Das hochformatige Kniestück, abgebildet in Pan 1 (1895/96) nach Seite 142, wurde dagegen sofort dank einer anonymen Spende für RM 2.000,— vom Archiv angekauft. Vgl. dazu: Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig, 1901, S. 9 5 - 9 6 . 422

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Zu den Motiven für ein Ausweichen vor der Öffentlichkeit vgl. C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 376—377; und A. Oehler, Nietzsches Mutter, Kap. „Abwärts", S. 1 6 0 - 1 7 1 . „Nietzsche-Bildwerke", S. 387. Ebd.

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grand, die beiden Arbeiten Stoevings in Leipzig, Berlin und München ausstellen zu lassen. Im Gegenteil: wenige Monate vor dem Erscheinen des ersten Bandes ihrer Nietzsche-Biographie kam der Schwester jeglicher „NietzscheRummel" 4 2 5 gelegen, sogar die Schmähungen gegen den wehrlosen Geisteskranken. Sie akzeptierte, wenn auch widerstrebend, daß sich inzwischen auf den Spuren Lombrosos auch eine Entdeckung und Tolerierung pathologischer Kunstproduktion angebahnt hatte, die den Ruhm ihres kranken Bruders verstärken mußte. 4 2 6 Gerade in den „fortschrittlichsten" Kreisen der Intelligenz genoß man Nietzsches Spätwerk neben der Kunst der Naiven, Exoten und Geisteskranken. Für diese exklusive Minderheit entwarf Stoeving ein Abbild i h r e s Nietzsche, der gleich Hölderlin in milden Formen des Wahns einsam vor sich hinbrütete. Die suggestivste Metapher zum Märtyrerschicksal Nietzsches gelang auf dem monumentalen Verandabild, wo wucherndes Weinlaub den Philosophen „like a sick bird in a cage" 4 2 7 umschloß und einen schattendunklen, negativen Nimbus formte. Von ähnlichen Eindrücken berichtete die Mutter Nietzsches im März 1895 an Overbeck: auf dem großen Gemälde käme der Patient seinem Hausarzt vor „wie ein Vögelchen . . . in einem Bauer. . . , " 4 2 8 Erneut befremdet es, daß die Umgebung Nietzsches offenbar keinen Anstoß daran nahm, wie Stoeving seine großangelegte Vision des Kranken durch kleinliche Wirklichkeitsnähe verdarb. Besonders die üppige Blumentopfgalerie im Vordergrund und das Lattenwerk der Laube banalisieren die Szene zum Kleingärtneridyll eines Biedermannes. 429 Den Höhepunkt erreicht die phantasmagorische Verschränkung beider Sphären im Putzsockel der Laube. Dort wird die Illusion erweckt, als ob einer der berühmtesten Wahlsprüche Nietzsches, den auch Melchior Lechter in seinen Werkschrank schnitzte, tatsächlich in das Fundament des Gartenhäuschens eingeritzt sei. 4 3 0 Auch im Giebelfeld der archäologisch-nüchternen Tempelfront durchdringen sich mehrere Bedeutungsschichten. Der uneingeweihte Betrachter ist verleitet, die an Stelle des dorischen Gebälks piazierte Inschrift auf einen Kampf zwischen Adler und Schlange zu beziehen: „ ALLES-STIRBT· ALLES· B L U E H T · W I E D E R - A U F E W I G · LAEUFT· DAS·J A H R D E S · SEINS". Ne425 426 427 428 429

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C . P. Janz, Nietzsche, Bd. 3, S. 175. Vgl. Anm. 320. H. F. Peters, 2arathustra's Sister, S. 143. Mitgeteilt bei C . A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 3 7 6 - 3 7 7 . Vor den Impressionisten hatten schon die Maler der Jahrhundertmitte (Ferdinand Georg Waldmüller, Carl Spitzweg u. a.) eine Vorliebe für intime Garten- und Verandamotive, deren Tradition im Neobiedermeier um 1900 wieder auflebte. Das Vorbild findet sich im Schlußkapitel von Also sprach Zarathustra, GA VI, S. 476: „Mein Leid und mein Mitleiden — was liegt daran! Trachte ich denn nach G l ü c k e ? Ich trachte nach meinem W e r k e ! — Zu M. Lechter vgl. S. 79—81.

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ben dem Zarathustra-Emblem von Adler und Schlange, das Nietzsche als Sinnbild der Versöhnung von Geist und Materie in sein Hauptwerk einführte, wirkt eine Aussage zum immerwährenden Daseinskampf recht beziehungslos. 4 3 1 Zweifelsohne wollte Stoeving mit dem Text wie mit dem Pathos der dorischen Ordnung überhaupt an Nietzsches Nähe zu den Denkern des frühen Griechenland erinnern. Von den Vorsokratikern verehrte der Philosoph vor allem Heraklit, dessen Grunderkenntnis vom steten Wandel der Erscheinungen in einem unwandelbaren „Urfeuer" die Inschrift zusammenfaßt. Darin ist Nietzsches Problematik des Ausgleichs zwischen Stillstand und Entwicklung angesprochen. Wie ließ sich der Forderung nach Höherzüchtung zum Ubermenschen in einer Welt nachkommen, deren Sein sich in der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen" erschöpft? Insgesamt dokumentiert Stoevings Programmkunst mehr die Verwirrungen bei der Exegese Nietzsches, als das sie um die Mitte der 90er Jahre schon ein in sich ausgereiftes Interpretationsmodell hätte stützen können. Die maßvolle Kritik der Porträts durch Seidl, der sich auf anatomische Kunstfehler Stoevings bei seiner insgesamt gelungenen „Erst-Schöpfung" des „Nietzsche-Typus" beschränkte, bringt keine neuen Aspekte. 432 Rückblikkend ist Stoeving — bei allem ehrlichen Mühen um Nietzsches Gedankenwelt — zweierlei vorzuwerfen: — Mit der bemalten, gipsernen Tempelfront zumindest des großen Querformats imitierte er die Muschelkalkmode parvenuhafter Erbbegräbnisse. Vom Archiv autorisiert, beging der Künstler die Taktlosigkeit, um einen noch Lebenden krampfhaft Friedhofsstimmung zu verbreiten. — Viele Nietzscheaner ergriffen deshalb instinktmäßig Partei gegen die Werbekampagne, mit der die beiden Porträts von Ort zu Ort zogen. Als etwa Fritz Rutishauser im April 1899 Weimar besuchte und den Ankauf des kleinen Porträts für das Archiv würdigte, beklagte er stellvertretend für die meisten Verehrer, daß Stoevings Werk „dem Publikum, wozu ich auch den ganzen gebildeten Pöbel rechne, je gezeigt worden ist." 4 3 3 Nicht zuletzt der Familienstreit um die Porträterlaubnis für Stoeving vertiefte die Spannungen zwischen Elisabeth Förster-Nietzsche und ihrer Mutter, bis die Archivleiterin schließlich im Sommer 1896 das stickige und klatschsüchtige Naumburg 4 3 4 mit dem Parkett Weimars vertauschte.

Vgl. dazu 78-79. „Nietzsche-Bildwerke", Zitate S. 394 u. S. 395. 433 Weimar, NFG (GSA) 72/2460; „Materialien zur Geschichte des Nietzsche-Archivs", Brief v. 24.4. 1899. 4 3 4 So Nietzsches Urteil über die Stadt seiner Jugend nach H. F. Peters, Zarathustra's Sister, S. 145. 431

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Zwar argumentierte Frau Förster-Nietzsche für den Umzug vordergründig mit Raumnot und anderen praktischen Erleichterungen, ihr Hauptmotiv aber entzog sich weitgehend rationaler Kalkulation: die Aura Weimars konnte auch den Zielen der Nietzsche-Bewegung Glanz verschaffen, deren Wurzelboden weit entfernt von der Stadt an der Ilm zu suchen ist.

3.1.3 Der Weg nach Weimar Nach dem dilettantischen Ubereifer der Archivherrin bei den Erstlingswerken Schellbachs und Stoevings hätte man ihrem Nietzsche-Mythos in den bildenden Künsten eine düstere Prognose stellen können. Die Tatsachen allerdings überzeugen vom Gegenteil. Etwas überspitzt läßt sich konstatieren: trotz der Ungeschicklichkeiten der Schwester faszinierten Nietzsches Schriften und Bildnisse, griff sein Ruhm unaufhaltsam um sich. Nach einigen Jahren war der kritische Intellekt bei den meisten Nietzscheanern bereits so weit gesunken, um die Intrigen des Archivs, wenn nicht zu übersehen, so doch als Notwehr einer mutigen Witwe zu beschönigen. Für Bernoulli schien der „deutsche Kulturaufschwung der 90er Jahre", und mit ihm die Gründung des Nietzsche-Archivs nur „psychologisch" begreifbar: „Die allgemeinen Verhältnisse lagen so verlockend wie möglich, eine rationell angelegte und energisch durchgeführte Nietzschepropaganda in Deutschland zu versuchen." 435 Die Gunst der „allgemeinen Verhältnisse" für den Nietzsche-Kult, oder genauer die Orientierungsnot der gesamten Intelligenz und die daraus resultierende Heilserwartung der Künstler im besonderen, ist im zweiten Kapitel veranschaulicht worden. Auch mangelte es bei Elisabeth Förster-Nietzsche nicht an dem Willen zu einer „energisch durchgeführte[n] Nietzschepropaganda". Die Bewegung „bedurfte nur einer festen Stätte — die Andacht, um einen Tempel zu erfüllen, war da." 4 3 6 Von Weimars nicht nur geographisch zentraler Lage aus ließ sich die Konkurrenz mit dem selbsternannten Hüter deutscher Geistigkeit — Bayreuth — wagen und gleichzeitig mit dem Aufblühen neuer Sammelpunkte der Moderne — Darmstadt — Schritt halten. Die Chronik der stufenweisen Ubersiedlung nach Weimar ist schnell mitgeteilt. Ursprünglich hatte die Archivleiterin schon 1894 einen Weggang von Naumburg erwogen, als sie für ihre Arbeiten nach einer eigenen, von der Mutter und dem Kranken getrennten Wohnung suchte. Gleichzeitig intensivierte sie ihre Kontakte zu zwei Nietzsche-Verehrern aus dem Goethe- und Schiller435 436

Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Ebd., Bd. 2, S. 358.

Bd. 2, S. 355.

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Archiv, Eduard von der Hellen und Rudolf Steiner. 437 Während von der Hellen in aller Form als Mitherausgeber der Schriften Nietzsches in die Dienste der Schwester trat, gab ihr Steiner vorübergehend Privatstunden in Philosophie. Nachdem Frau Förster-Nietzsche vom August 1896 an ihr erstes Weimarer Jahr in einer Mietwohnung hatte zubringen müssen, verhalf ihr die finanziell wie geistig unabhängige Bekannte ihres Bruders, Meta von Salis-Marschlins, zur lange entbehrten herrschaftlichen Repräsentation. Im Sommer 1897 konnte das Archiv in den Neurenaissancebau auf dem hochgelegenen, einsamen „Silberblick" einziehen, vom „Witz des Weimarer Philisters nicht so unrecht . . . ,Villa Sonnenstich'" getauft. 438 Inzwischen mußte man auch den kranken Philosophen nach dem Tode der Mutter in seinen „Palazzo" 4 3 9 bringen, wo bald die ersten Gäste, unter ihnen Curt Stoeving und Harry Graf Kessler, empfangen wurden. Zielstrebig gelang es der Archivleiterin, sich nach und nach als alleinige Besitzerin von Haus und Grundstück zu etablieren. 440 Auf die zahlreichen Berichte über eine entsprechende „Hofhaltung" auf dem „Silberblick" wird an späterer Stelle eingegangen. 441 Wendet man nun sein Augenmerk vom Archiv und dessen Alltagsprosa zu den pathetischen Kommentaren auf „Neu-Weimar", die das Gleichnishafte vom Ende und der Nachfolge Nietzsches in der Goethestadt suggerieren wollten, so muß sich der heutige Betrachter auf einen Exkurs in Gefilde gefaßt machen, in denen vor ihm auch gesetzte Wissenschaftler und Künstler den Boden unter den Füßen verloren haben. Ging es um „den eigentlichen Kern des Reiches", 4 4 2 um die gegenseitige Verklärung des Nietzsche- und des Thüringen-Mythos, schienen die gewagtesten Vergleiche erlaubt. Beispielsweise entrückte der Verfasser des verdienstvollen Handbuches über Nietzsche und die Romantik,443 Karl Joël, das Werk des Philosophen in Steiner hatte schon 1890 in einem Brief an Richard Specht von seinem Interesse an Nietzsche berichtet, allerdings hätte damals „das .klassisch-gebildete' Weimar den ganzen NietzscheRummel verschlafen . . . . " Mitgeteilt bei: R. F. Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 92, Anm. 106. - 1895 erschien in Weimar Steiners Schrift Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit. 4 3 8 C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 379. Dort wird ein Bericht Ludwig von Schefflers aus: Neue Freie Presse, (1907), N r . 15430, zitiert. 4 3 9 Mit diesem Wort soll der Kranke der Schwester gegenüber seine Begeisterung für das neue Domizil bekundet haben. „Harry Graf Kessler. Aus den Tagebüchern. Zum Gedenken seines 100. Geburtstages am 23. Mai 1968", mitgeteilt von Bernhard Zeller, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 12 (1968), S. 74. 4 4 0 Vgl. die Unterlagen in Weimar, N F G (GSA) 72/894-896. Ab 1. 7. 1897 war sie Mieterin bei Meta von Salis, ab 8. 4. 1899 Mieterin ihres Neffen Adalbert Oehler, ab 20. 4. 1902 Inhaberin. Der Kaufpreis betrug jeweils RM 40.000, — . 441 Vgl. für die Periode des „Dritten Weimar" 3.2.1, für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg 4.6.1.1. 4 4 2 Gustav Wolf, Die schöne deutsche Stadt. Mitteldeutschland, München, 1911, Vorwort. 4 4 3 Jena und Leipzig, 1905. 437

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eine gemeinsame Ahnenreihe mit Christus, Caesar und Luther: „Ja, wir könnten es tönen hören vom Sinai und ölberg, vom Helikon und Parnaß, vom Kapitol und Vatikan, von der Wartburg bis Sils-Maria, aber der Gassenklatsch von Hinz und Kunz ist uns wichtiger." 4 4 4 Inmitten eines maniriert wirkenden geistigen Höhenklimas ist es um so dringlicher, Nietzsches echte Wahlverwandtschaften mit den Größen der Vergangenheit geltend zu machen, insbesondere seinen Anschluß an die Traditionen der Heimatlandschaft Thüringen. Nietzsches Vorliebe für den weltweisen Goethe der Gespräche mit Eckermann ist vielfach belegt, und noch kurz vor seinem Zusammenbruch bekannte sich der Philosoph zu einem spezifischen Thüringertum. 445 Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts forderte dieser Kulturraum in der Mitte Deutschlands zur kritischen Aneignung heraus, wobei jede Generation mit neuen Perspektiven den überwältigenden Fundus der geistigen Uberlieferung durchmusterte. 446 Angefangen bei den Legenden um die Heilige Elisabeth, um den Sängerkrieg auf der Wartburg und den Grafen von Gleichen hat das Land zwischen Eisenach und Naumburg der Volksphantasie wie den nachempfindenden Dichtern, Musikern und Malern immer neuen Stoff geliefert. Im Erfurter Dominikanerkloster wirkte Meister Eckhart von Hochheim als bedeutender Denker und Prediger der Mystik, bevor sich in derselben Stadt zwei Jahrhunderte später der Augustinermönch Martin Luther zwischen 1505 und 1508 auf seine Mission vorbereitete. Mit der Gründung des „Palmenordens", der „Fruchtbringenden Gesellschaft" im Jahr 1617 trat die neue Residenz des Herzogtums Sachsen-Weimar erstmals in den Mittelpunkt des literarischen Interesses. Kunstsinnige adlige Mäzene hatten sich zusammen mit bürgerlichen Dichtern, unter ihnen Martin Opitz und Andreas Gryphius, das Ziel gesetzt, die deutsche Sprache in ihrer Ursprünglichkeit frei von ausländischen Einflüssen zu pflegen. Gegenüber der planvollen Tätigkeit der „Fruchtbringenden Gesellschaft" blieben die Aufenthalte des Hofmalers Lukas Cranach des Älteren (1552 — 1553) und des Hoforganisten Johann Sebastian Bach (1708—1717) in Weimar für die Kulturgeschichte der Stadt nur Zwischenspiele. Erst unter der Regierung Anna Amalias und ihres von Christoph Martin Wieland seit 1772 erzogenen Nachfolgers Carl August konnte die Emanzipa444

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„Gute Gesellschaft", abgedruckt in: ders. Antibarbarus. Vorträge und Aufsätze, Jena, 1914, S. 168. — Zu den Peinlichkeiten um den Versuch des Archivs und seines Bildhauers Fritz Müller-Camphausen, für Nietzsche eine bronzene Ahnenreihe von gleichhohem welthistorischem Niveau zu arrangieren (1937—1942), vgl. 4.6.4.1. Vgl. Ecce homo, GA XV, S. 45 (Warum ich so klug bin 9). Einen guten Überblick dazu bietet: Weimar im Urteil der Welt. Stimmen aus drei Jahrhunderten, Hrsg. von Herbert Greiner-Mai, Berlin und Weimar, 1975.

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tion des Bürgertums dauerhafte Fortschritte machen. Mit der Einladung an Goethe (1775), der Berufung Johann Gottfried Herders zum Superintendenten im folgenden Jahr und der Ubersiedlung Schillers nach Weimar (1799), gewann die Stadt schon zu Lebzeiten der vier Dichter den Ruf des Klassischen. Dieser Glanz zog auch zahlreiche andere Prominente in die Stadt an der Ilm, bis sie nach dem Tode Goethes mehr und mehr im Epigonentum versank. Als der Enkel Carl Augusts, Carl Alexander, um die Jahrhundertmitte an den alten Ruhm anzuknüpfen suchte, verzichtete man bewußt auf den Wettstreit mit der Goethezeit, indem diesmal Musik und Malerei die entscheidenden Impulse für „Neu-Weimar" geben sollten. Nur in Weimar war es möglich, daß Franz Liszt die Uraufführungen des „Tannhäuser" (1849) und des „Lohengrin" (1850) durchsetzte, während er Wagner als flüchtigem Revolutionär Asyl verschaffte. An der 1860 gegründeten Kunstschule lehrten Franz Lenbach und Arnold Böcklin zwar nur kurze Zeit, doch begründeten dort Karl Buchholz, Christian Rohlfs und Theodor Hagen die lange Tradition einer naturverbundenen Weimarer Landschaftsmalerei. Teilweise konnten diese Meister noch in die Periode des „Dritten Weimar" hinüberwirken, zu deren Begründung der Thronwechsel im Jahre 1901 den äußeren Rahmen bot und zu der Harry Graf Kessler, Elisabeth Förster-Nietzsche und einige Hofleute den jungen und unentschlossenen Großherzog Wilhelm Ernst drängen mußten. Wie die Nietzscheaner immer und überall auf der Gleichrangigkeit, wenn nicht Überlegenheit ihres Vorbildes gegenüber Goethe bestanden, 447 so suggerierte Frau Förster-Nietzsche mit der Namensgebung „Archiv" auch äußerlich die Nähe zum Goethe-Archiv, beziehungsweise zum späteren Goetheund Schiller-Archiv (seit 1889). Uberhastet und taktlos wollte sie den Abstand ihres noch lebenden Bruders zu den großen Toten von Weimar verkürzen. Solange Nietzsche die selbstgerechte Anwartschaft seiner Zeitgenossen auf das Erbe der Weimarer Klassik bekämpfen konnte, tat er dies mit Spott und Ironie: Nur für Wenige hat er [Goethe] gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläßt. . . . Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! 448

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Z. B. beschwor Eberhard von Bodenhausen den Hamburger Kunsthistoriker und Kulturreformer Alfred Lichtwark in einem Brief vom 24. 10. 1895: „Wir brauchen Nietzsche; er ist wirklich unser Goethe, und für mich ist er mehr." Eberhard von Bodenhausen. Ein Lehen für Kunst und Wissenschaft, Hrsg. von Dora Freifrau von Bodenhausen-Degener, Düsseldorf und Köln, 1955, S. 117. Menschliches Allzumenschliches II, GA III, S. 265 (Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 125).

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Viele, jedoch nicht alle Ideologen der Jahrhundertwende, die im Namen der Goethe- und Nietzsche-Stadt auftraten, sind durch dieses Urteil des Philosophen hinreichend charakterisiert. Es wäre ein Fehler, überließe man rückblikkend den um 1900 noch sehr lebendigen Goethe- und Thüringen-Mythos allein der Heimatkunstbewegung, deren Theoretiker Friedrich Lienhard dem kleinbürgerlichen Ressentiment die rechten Wege nach Weimar wies. 449 So betrachteten weder van de Velde noch Graf Kessler ihr Projekt, gerade von Weimar aus modernen Kunstformen zum Durchbruch zu verhelfen, als Verstoß gegen den genus loci oder gar als zufällige Beschäftigung. Von der kosmopolitischen Offenheit „Ilm-Athens" getragen, hofften sie auf die Mobilisierung von Gegenkräften, um den von Berlin ausgehenden imperialen Kunstgeschmack zu neutralisieren. Auf die Dauer erfolgreicher erwies sich jedoch ein synkretistisches Weimarbild, für das stellvertretend das der Stadt gewidmete Kapitel innerhalb der Nietzsche-Deutung Ernst Bertrams genannt werden darf. Bewußt komponierte der Verfasser seine Weimar-Assoziationen genau in die Mitte des „Versuchs einer Mythologie", wobei der Schlußsatz des Kapitels das resignative Bewußtsein Bertrams und vieler bürgerlicher Intellektueller zusammenfaßte: ihr Vorbild Nietzsche sei nicht so sehr der Seher einer Z u k u n f t . . ., sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit, jenes schönsten und vollkommensten Augenblicks unserer geistigen Vergangenheit, den wir mit dem N a m e n von Nietzsches Sterbestadt benennen.450

Eine andere Form der Weimar- und Thüringen-Legende wählte Edwin Redslob in seiner Kulturgeschichte über Des Reiches Straße aus dem Jahre 1940, 451 in der er den mitteldeutschen Raum einband in die Verschiebung der Reichshauptstadt vom Rhein-Main-Gebiet nach den Kolonialgründungen Berlin und Potsdam. Wo Redslob seinem Leser vor allem den unwägbaren Zauber Thüringens, der „Landschaft Nietzsches", Goethes, Bachs und des Novalis näherbringen wollte, 452 verkümmerte die innere Korrespondenz zwischen Nietzsche und dessen Heimat bei Erich Eckertz zur starren, wissenschaftlich bedenklichen Zuordnung von Einzelaspekten, indem der Verfasser etwa eine gemeinsame „Altthüringer Phantastik" in den Kunstformen Nietzsches, Wag449

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Beiträge zur Erneuerung des Idealismus. Zuerst in Heftform (Stuttgart, 1906—1908), dann als sechsbändige Ausgabe verbreitet, erreichte Lienhards Weimar-Mythos große Leserschichten; ebenso sein Thüringer Tagebuch, Stuttgart, 1903, dessen Einband für die „Deutschvölkische Bücherei" (22. Auflage, ca. 1920) bereits von fünf Hakenkreuzen geziert ist. E. Bertram, Nietzsche, S. 200. Der Weg der deutschen Kultur vom Rhein nach Osten dargestellt auf der Strecke FrankfurtBerlin, Leipzig. Ebd., S. 151.

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ners und Klingers am Werke sah. 4 5 3 Für die unsteten „Ausländereien" 4 5 4 vieler Künstler aus der ,,gefährlichste[n] Gegend in Deutschland . . . Sachsen und Thüringen" 4 5 5 machte Eckertz einen tschechisch-polnischen Einschlag verantwortlich. Diese apodiktischen Randnoten zur Kunst der Jahrhundertwende, oft inmitten treffender Einzeldiagnosen versteckt, lassen aufhorchen. Vor dem Hintergrund der Rolle, die Thüringen bald als „Hochburg der Völkischen" 4 5 6 spielen sollte, enthüllt sich der Schlagwortcharakter aller „völkischen" Nietzsche-Legenden. Das Archiv als kulturpolitische Autorität inmitten einer „Atmosphäre tödlicher Mittelmäßigkeit", 457 hatte — wollte es nicht seine Isolation riskieren — den Nietzsche-Mythos dieser Geisteshaltung anzupassen, vor der 1906 Graf Kessler, 1914 van de Velde und 1925 das Bauhaus weichen mußten. Ursprünglich war die Nietzsche-Bewegung dagegen eine Zufluchtstätte für Außenseiter gewesen, die von den Forderungen des Philosophen auf die Ziele seiner Schwester schlossen und sie zur Schutzherrin alles M o d e r n e n ausriefen. Frau Förster-Nietzsche hatte rechtzeitig erkannt, daß sich das Werk ihres Bruders einer bequemen Indienstnahme durch nationalistische und antisemitische Kreise entzog. Ein Wettbewerb mit Bayreuth um d i e s e s Publikum erschien vorerst aussichtslos. „Was lag näher, als an Nietzsches Vorliebe für französischen Geschmack und das damit verbundene Artisten- und Ästhetenwesen anzuknüpfen?", fragte Bernoulli deshalb zu Recht, um anschließend die Archivleiterin selbst in ihrer Opposition gegen die Parteigänger Cosima Wagners zu zitieren: Wir dürfen nicht vergessen, daß der geistige Geschmack der Deutschen in den siebziger und achtziger Jahren wirklich in jeder Hinsicht etwas p l u m p und schwerfällig geworden war. Ich glaube, der Sieg, das beständige Hurraschreien, Biertrinken und Selbstbewundern war den Deutschen nicht gut b e k o m m e n . 4 5 8

Die Spitze gegen das Teutonentum der Durchschnittswagnerianer gipfelte im Lob Frau Förster-Nietzsches für die e i n s t i g e n Verdienste ihrer Konkurrentin: Frau C o s i m a zeigte sich damals in vielen Dingen dem deutschen Geschmack überlegen. Wenn sie heute nicht mehr f ü r den H o r t des guten Geschmacks gelten kann, so liegt das nur daran, daß Bayreuth in seiner damaligen Geschmacksrichtung ste-

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Nietzsche als Künstler, 1910, S. 173. Ebd., S. 31. F. Nietzsche, Menschliches. Allzumenschliches II, GA III, S. 161 (Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 324). H. Brenner, Die Kulturpoltik des Nationalsozialismus, 1963, S. 24. Η. v. d. Velde, Geschichte meines Lebens, S. 345. Beide Zitate: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 363. - Frau Förster-Nietzsches Kritik entnahm Bernoulli aus: Das Leben Friedrich Nietzsches, Bd. 2, S. 889.

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hen geblieben ist und sich gegen die große artistische Weiterentwicklung Deutschlands verschlossen hat. 4 5 9

Vergleicht man den Horizont der bildenden Künstler im Umkreis des Hauses Wahnfried - Hans Thoma, Franz Stassen — mit dem der Villa Silberblick — Henry van de Velde, Edvard Munch —, so muß man Frau Förster-Nietzsche zustimmen, wenn sie sich als fortschrittliche Nachfolgerin Frau Cosimas empfahl. Hinter der Fassade übertriebener Höflichkeit blieb das Verhältnis zwischen beiden Witwen und Erbhüterinnen in den 90er Jahren gespannt, da der junge Ruhm des abtrünnigen Wagnerianers Nietzsche in Bayreuth für neue Ressentiments sorgte. 460 Die versöhnlicheren Töne, die Edwin Redslob in einem Roman Frau Cosima anschlagen ließ, verklärten nur eine längst zerbrochene Harmonie: „Die Zeit, da der Meister und Nietzsche Freunde waren, brachte den Traum Goethes und Schillers zur Vollendung." 4 6 1 Obwohl schon der nüchterne Titel „Nietzsche-Archiv" die Distanz zur Weihestimmung Bayreuths betonte, war das Vorbild der Richard-WagnerStadt im „Neuen Weimar" für den Zeitgenossen unverkennbar. Wagner hatte längst, bevor die Parole: „Los von Berlin!" 4 6 2 ihren Siegeszug antrat, seine Jünger aus dem Bannkreis der großen Städte in eine deklassierte, aber zentral gelegene kleine Residenz gelockt. Nur von der Hofhaltung eines Geistesfürsten gab es hier neuen Glanz zu erwarten. Nach der Reichsgründung waren die kleineren deutschen Bundesstaaten mehr denn je auf ihr aktives Mäzenatentum angewiesen, wollten sie sich dem Sog der Kunst- und Wirtschaftszentren Berlin, München, Dresden oder Düsseldorf entziehen. Allein Darmstadt schickte sich an, unter dem Patronat des Urbanen Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen durch die Gründung der Künstlerkolonie 1899 und deren selbstbewußter Schaustellung als „Dokument deutscher 459

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Das Leben Friedrich Nietzsches, Bd. 2. S. 889, zitiert nach: C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 363-364. In einem Brief vom 25. 2. 1891 begrüßte Cosima Wagner die eben nach Deutschland zurückgekehrte Nietzsche-Schwester zwar mit „Meine theuerste Elisabeth", blieb aber ζ. B. in ihrer Haltung zur Publikation des Briefwechsels zwischen Nietzsche und Wagner voller Animositäten. Vgl. ihre Briefe in Weimar, NFG (GSA) 72/677. Van de Velde hob die „Eiseskälte Cosimas" beim ersten Wiedersehen der beiden Frauen im Berliner Salon von Cornelia Richter hervor. Geschichte meines Lebens, 1962, S. 194. Ein Jahrhundert verklingt. Geschichte einer Jugend, Breslau, 1935, S. 225. Erst um 1900 bemächtigte sich die Heimatkunstbewegung dieser Losung, als Friedrich Lienhard die Ängste der „Völkischen" vor der Internationalität der modernen Weltstadt artikulierte. Vgl. Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Leipzig, 1911, S. 738. — In Weimar, dem verinnerlichten Pilgerziel dieser Kreise, verband sich die Beschaulichkeit des Kleinstadtlebens mit einem großstädtischen Kulturangebot. Dort blieb „jedermann vor lästiger Langeweile bewahrt" und hatte den „Hochgenuß", „im Lichte Goethescher Verehrung zu leben." ^Weimar, Werbeprospekt des Verkehrs- und Verschönerungsvereins, 16. Aufl., o. J. S. 71: „Warum ist Weimar als Wohnsitz besonders empfehlenswert?".

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Kunst" in den Kreis der tonangebenden Sammelpunkte des modernen Kulturbetriebes aufzusteigen. Weimar dagegen drohte endgültige Verödung, bis der Ruf an van de Velde im Dezember 1901 die Annahme der Darmstädter Herausforderung signalisierte. In der Konkurrenz der beiden Residenzstädte konnte sich, überlagert vom Prestigebedürfnis und massiven wirtschaftlichen Interessen, der ausgeprägte Regionalismus Deutschlands erneut bewähren. Fehlte es auch in Weimar an einem Fürsten vom Format Ernst Ludwigs, so glichen die weltweiten Kontakte Harry Graf Kesslers das mangelnde Engagement des Hofes mehr als aus. Neben Elisabeth Förster-Nietzsche hat Kessler das Gesicht „Neu-Weimars" wie kein anderer geprägt, ohne daß er sich auf eine Führerrolle als der Neu-Weimaraner oder Nietzscheaner versteift hätte, vergleichbar dem Anspruch Ernst von Wolzogens als „ D e r Bayreuther" an der Seite Cosima Wagners. 463

3.1.4 Harry Graf Kessler als Mittler zur Kunstwelt — erste „Nietzscheana" im Pan Die Wiederkehr des „guten Europäers", auf die Nietzsche in einer Epoche des „Nationalitäts-Wahnsinns" vergebens hoffen mußte, 464 schien in der Freundschaft des jungen wie selbstkritischen Kosmopoliten Kessler mit der Schwester des Philosophen nachträglich der Erfüllung nahe. Kesslers Tragik als glänzender, aber zugleich isolierter Repräsentant der Verehrergemeinde — hochwillkommen allein als deren „Aushängeschild" — ahnte am treffendsten Nietzsche selbst voraus, der einmal halb bewundernd, halb resigniert über die historische Mission seines Volkes anmerkte: die Deutschen wären von „Vorgestern und Ubermorgen", sie hätten „ n o c h kein H e u t e " und schwebten unvollendet, doch voller Möglichkeiten zwischen den Zeitaltern. 465 Analog dieser gewagten Schicksalsdeutung läßt sich das Anachronistische in der Person des Aristokraten Kessler positiv in ein Ubergreifen der Gegenwart wenden. Gerade sein Einfluß auf die bildkünstlerische Seite des Nietzsche-Kultes wird die Ergänzung epigonaler Heldenverehrung durch utopische Züge eines neuen Gemeinschaftskultes demonstrieren: Kesslers Idee eines S p o r t s t a d i o n s zum Ruhme des Philosophen. Was das „Vorgestern" der Klasse betraf, der Harry Graf Kessler entstammte, so vermitteln seine Reflexionen über Gesichter und Zeiten466 ein ein463 464 465 466

W. Schüler, Der Bayreuther Kreis, 1971, S. 86. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, GA VII, S. 228 (Aph. 256). Ebd., S. 204 (Aph. 240). Erinnerungen. 1. Völker und Vaterländer, Berlin, 1935. Den Untertitel übernahm der Verfasser anscheinend vom achten Hauptstück aus Jenseits von Gut und Böse.

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dringliches Bild von der wachsenden Sterilität der alten paneuropäischen Adelsgesellschaft vor der Jahrhundertwende. Das schnelle Verbot dieses zuerst 1935 bei S. Fischer erschienenen ersten Bandes seiner Memoiren unterstreicht, daß Kessler damals keineswegs als ein unpolitisches Überbleibsel aus den Salons der 90er Jahre, „dem müden Herbst der alten Welt" 4 6 7 verharmlost wurde. Noch 1941 glaubte ein Parteigänger Schultze-Naumburgs den Thüringer Ministerpräsidenten vor der Macht der „Reaktion" und den „alten KamarillaBestrebungen des Jugendstils" warnen zu müssen, „die auf Rathenau und Graf Kessler zurückzuführen sind und in Weimar in der Figur van de Veldes in die Erscheinung traten . . , " 4 6 8 Kesslers Feinde blendete begreiflicherweise die Fassade seiner Internationalität und relativen Offenheit als Mäzen der Avantgarde, was die Rechtskreise mißtrauisch und voll Neid in die Verschwörung von „Kulturbolschewisten" umfälschten. Schon eine oberflächliche Lektüre der Autobiographie Kesslers hätte die Legende von der Allmacht und Arroganz des späteren „roten Grafen" erschüttert, 469 wobei dessen Hinwendung zu Nietzsche inmitten nihilistischer Verzweiflung hier besonders interessiert. Wie viele in sich ungefestigte Studenten hatte Kessler kurz nach dem Zusammenbruch des Philosophen in Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse nach neuer Selbstbestätigung gesucht: In uns entstand ein geheimer Messianismus. D i e Wüste, die zu jedem Messias gehört, war in unseren H e r z e n ; und plötzlich erschien über ihr wie ein Meteor Nietzsche. . . . Ich geriet in Gefahr, jeden Halt zu verlieren. 4 7 0

Die Klage um die „namenlose Einsamkeit" des Künstlers und Kunstbegeisterten in der Gegenwart ist auch der Grundtenor einer Dankadresse für Kesslers Wirken in Weimar, die Hugo von Hofmannsthal im Namen des Freundeskreises formulierte. 471 Hinter Kesslers rastlosen Aktivitäten, seiner Reisewut und dem Ehrgeiz, immer neue Kontakte aufzubauen, erkennt eine psychologische Skizze Hans-Ulrich Simons zu Recht das Legitimationsbedürfnis eines Außenseiters, dem bei allem persönlichem Nimbus die letzten Mechanismen zu

H. G. Kessler, Gesichter und Zeiten, S. 244. Zitiert wird nach der 2. Auflage, Frankfurt/M., 1962. 468 Privatbrief eines der Schriftwalter vom Zentralblatt der Bauverwaltung, Konrad Nonn, vom 3. 1. 1941 an Willy Marschler, abgedruckt in: H. Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, S. 171-172, Zitate: S. 171. 4 6 9 H. F. Peters erwähnt die Beschimpfung Kesslers als „Red Count" schon für die Zeit der Weimarer Republik, allerdings ohne Benennung einzelner Angreifer; Zarathustra's Sister, S. 166. 470 Gesichter und Zeiten, 2 1962, S. 229 und 230. 4 7 1 Abgedruck in: Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898—1929, Hrsg. v. Hilde Burger, Frankfurt/M., 1968, S. 548. 467

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einer Synthese von Kulturpolitik und Staatsmacht verschlossen blieben. 472 Interessant und sympathisch zugleich mutet es an, wenn Kessler dabei stets die Zusammenarbeit mit Einzelgängern suchte, die wie er selbst die Unmöglichkeit eines Bündnisses von Geist und Macht im Hohenzollernreich ahnten, darunter litten und innerlich scheiterten: Eberhard von Bodenhausen und Walther Rathenau. Während Bodenhausen nie über den Abbruch seiner Karriere als Kunsthistoriker und Kulturreformer an der Seite Kesslers hinwegkam und sich auf einer Direktorenstelle bei den Krupp-Werken verbrauchte, quälte sich Rathenau mit der Hypothek seiner jüdischen Herkunft gegenüber einer Junkerund Militärkaste, an deren Überlegenheit er in einer geradezu masochistischen Haßliebe glaubte. Die immer wieder hervorgehobene Schizophrenie des AEGKonzernherrn zwischen antikapitalistischen Theorien in seiner Kulturkritik und kapitalistischer Praxis in seinen Betrieben charakterisiert zugleich, wenn auch minder kraß, die widersprüchliche Existenzgrundlage Bodenhausens und Kesslers.473 Alle drei in vieler Hinsicht „unzeitgemäßen" Männer lebten letzten Endes — ähnlich ihrem Vorbild Nietzsche — von der Illusion, „große . . . Politik" 474 im Auftrag einer kulturpädagogischen Erneuerung machen zu können; d a h e r auch ihre Sehnsucht nach diplomatischer Bewährung für Preußen-Deutschland und die dieser Fehlspekulation notwendig folgende Frustration. Mit der 1894/95 etablierten Genossenschaft „Pan", als deren Vorsitzender Eberhard von Bodenhausen, als deren eigentliche „Hauptperson" aber Harry Graf Kessler fungierte, 475 hatten sich die beiden Studienfreunde eine erste Plattform geschaffen, von der aus sie ihr Modell eines gesellschaftlichen Reformprozesses erproben konnten. Einen Geschmacks- und Gesinnungswandel bei der zahlungskräftigen Bildungselite von maximal 1600 Pan-Lesern voraussetzend, sollte die Vorbildlichkeit aller „Pan"-Produkte — neben der Zeitschrift experimentierte man im Verlagsgeschäft und im Kunsthandel — nach und nach auch breitere Schichten des Publikums durchdringen. 476 Zu dieser aus heutiger Sicht wirklichkeitsfremden Perspektive beflügelte die „Pan"-Gründer ein Erfolg, der in Deutschland unwiederholbar bleiben 472 Ygi cj as Nachwort zu: Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894-1918, Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon, Marbach a. N . , 1978, S. 2 0 2 - 2 1 7 , insb. S. 206-210. 473 Kessler faszinierte Rathenaus Problematik so sehr, daß er zum Biographen des Freundes wurde: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin, 1928. 474 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, GA VII, S. 156 (Aph. 208). 475 So nannte ihn Bodenhausen in einem Brief vom 27. 4. 1896. Bodenhausen. Kessler. Briefwechsel, S. 13; vgl. auch die Anm. H . - U . Simons zu „Hauptperson" auf S. 121 ebd. 476 Der Pan erschien von 1895—1900 in der Regel als Vierteljahresschrift in einer Künstlerausgabe (Aufl. meist 38 Expl.), einer Vorzugsausgabe (Aufl. meist 75 Expl.) und in einer Allgemeinen Ausgabe (Aufl. 1100-1500 Expl.), deren Einzelheft schon RM 2 5 , - kostete.

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sollte: vor allem Bodenhausens diplomatisches Geschick hatte eine, wenn auch befristete, Koalition zwischen den „Geheimräten" als den Exponenten offizieller Kunstpolitik und ihren Kritikern aus der nachdrängenden Bohème zustande gebracht. Zwischen beide Lager, für die hier die Namen Wilhelm von Bode und Alfred Lichtwark auf der einen, Richard Dehmel und Ludwig von Hofmann auf der anderen Seite stehen mögen, schob sich der auch für den Nietzsche-Kult maßgebende neue „Typ des Kunstpublizisten". 477 Ihn verkörperten exemplarisch die beiden Mitglieder der ersten Aira-Redaktion, Julius Meier-Graefe und Otto Julius Bierbaum. Kessler hingegen wuchs schon damals in seine spätere Rolle als verständnisvoller, aus dem Hintergrund wirkender Grandseigneur der Künste hinein, vergleichbar dem Engagement des jungen Freiherrn Alexander von Bernus für die Schwabinger Bohème und den Kreis um Stefan George nach der Jahrhundertwende. 478 Rückblickend muß man die Angriffslust der jungen Paw-Redakteure bewundern, mit der sie schon im ersten Heft der ungleich stärkeren Fraktion weniger flexibler Genossenschaftsmitglieder gegenübertraten: Weltoffenheit und Nietzsche-Kult sollten das Profil des offiziösen Organs der deutschen Kulturpolitik prägen. Auf die Geldgeber des Unternehmens, deren prominenteste Kaiser Wilhelm II. und der Prinzregent Luitpold von Bayern waren, wirkte dieser von Meier-Graefe und Bierbaum eingeschlagene Kurs als Herausforderung. Nur mit Rückendeckung der beiden Nietzscheaner Kessler und Bodenhausen hatte es die Redaktion wagen können, ihre Zeitschrift mit einer Zarathustra-Allego rie von Hans Thoma — Abbildung zwei — zu eröffnen. Verwirrend kam hinzu, daß das beigegebene programmatische Fragment Nietzsches in seinem Nuancenreichtum das Ain-Publikum von 1895 überforderte. Bei der Lektüre des „Zarathustra vor dem Koenige" blieben vor allem die ersten und die letzten Worte im Gedächtnis haften: „Es ist nicht mehr die Zeit für Könige das Volk wartete auf Zarathustra." 479 Daneben kann selbst diese kontroverse Eröffnungsseite die Kompromißbereitschaft beider Lager der ^ « - G e m e i n d e illustrieren. Aufschlußreich dafür sind Briefe der P^w-Redakteure an das Naumburger Nietzsche-Archiv zwecks Überlassung eines spektakulären Mottos aus den Manuskripten des Erkrankten. Während sich Bierbaum schon im November 1894 für die schließlich veröffentlichte „herrliche Hymne" bedanken durfte und für „eine künstlerische 477

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Karl H. Salzmann, „PAN. Geschichte einer Zeitschrift", in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 1 (1958), S. 2 1 2 - 2 2 5 , hier: S. 214. Zu den vielfältigen Münchener Aktivitäten vgl. Franz Anselm Schmitt, Alexander von Bernus. Dichter und Alchymist. Lehen und Werk in Dokumenten, Nürnberg, 1971, S. 19—64; oder die Berichte von Beteiligten wie den schon zitierten des Nietzscheaners Georg Fuchs, Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende, 1936. Pan 1, Heft 1, S. 1.

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Umrahmung" des Fragments auf Max Klinger reflektierte, 480 mußte er zusammen mit Meier-Graefe der Schwester des Philosophen im April 1895 eingestehen: „Mit dem Bildschmuck zu ,Zarathustra vor dem Koenige' waren wir nicht ganz zufrieden, doch waren wir aus mancherlei Gründen darauf angewiesen." 4 8 1 Unklar bleibt demnach, wer den ursprünglich Klinger zugedachten Auftrag an Thoma weiterleitete und ob dies etwa nur aus Arbeitsüberlastung des Leipziger Universalkünstlers geschah. Auf die heikle Frage der Auswahl eines richtunggebenden Textes und seine Illustration für das Debüt des Pan versprach die Kombination Nietzsche-Thoma eine nach beiden Seiten vertretbare Antwort. Da stets Geheimrat von Bode als Vertrauter des Kaisers sowie der junge Bodenhausen als Mentor der Bohème eine besondere Autorität im jeweiligen Freundeskreis besaßen, und die beiden Männer zudem ein Generationen übergreifendes Vertrauensverhältnis verband, wird man wohl ihr Votum als entscheidend für einen derartigen Pan-Auftakt voraussetzen dürfen. Ohne diese Kontakte wäre die erste Piira-Nummer auch die letzte geblieben, nachdem schon im September 1895 Bierbaum und Meier-Graefe von den erregten Mäzenen gestürzt worden waren. Der unverhüllte Nietzsche-Kult des Pan wurde damit jedoch nicht gebrochen, denn auch der nachfolgende Redakteur Caesar Flaischlen begrüßte im Namen der Nietzscheaner deren Vorbild im Dezemberheft 1895 als unbestrittenen Herrn und Sieger, der wie Prometheus das Feuerlicht einer neuen Weltanschauung v o m H i m m e l geholt und nun zur Strafe dafür sich an den Felsen schmieden und sein H e r z den Geiern z u m Frass lassen m u ß t e . 4 8 2

Dagegen stieß die künstlerische Form der Ehrung Nietzsches durch Thoma nicht nur auf den vorauszusehenden Protest seiner Gegner, sondern enttäuschte auch die Nietzscheaner unter den Pan-Anhängern. Leider fanden sich keine Stellungnahmen Kesslers oder Frau Förster-Nietzsches, die sich beide im Berliner Salon Cornelia Richters über die Brauchbarkeit dieser Zarathustra-Allegorie unterhalten haben dürften. 483 480

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Brief an E. Förster-Nietzsche v. 13. 11. 1894; Weimar, N F G (GSA) 72/175. Bierbaum hatte schon vor seiner Trennung von S. Fischer, mit der er einen Gründungsanstoß zum Pan gab, den Kontakt nach Naumburg gesucht; vgl. seinen Brief v. 30. 12. 1893; Weimar, N F G (GSA) 72/180. Auch als Redakteur der Insel wandte er sich später mehrfach an das Nietzsche-Archiv; vgl. ebd. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 22.4. 1895; Weimar, N F G (GSA) 72/175. „Zur modernen Dichtung. Ein Rückblick", in: Heft 4, S. 235-242, hier: S. 240. Cornelia Richter war die einzige Tochter des Komponisten Giacomo Meyerbeer und spielte im gesellschaftlichen Leben Berlins eine führende Rolle. Ihr Sohn Raoul, der Herausgeber von Nietzsches Ecce homo (Leipzig, 1908) und bekannte Nietzsche-Forscher (vgl. Essays, Leipzig, 1913), war ein Studienfreund Kesslers. Auch E. Förster-Nietzsche verkehrte in dem berühm-

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Im Werk Hans Thoraas nehmen weltanschauliche Bekenntnisbilder nur eine Randstellung ein, womit sein Biograph Fritz von Ostini beispielsweise die weniger gelungenen Dekorationsentwürfe des Künstlers zu Wagners Nibelungen entschuldigte: „Von allen Ausdrucksweisen liegt ihm [Thoma] ja die pathetische weitaus am wenigsten." 484 Der 1839 geborene Künstler war erst als reifer Mann mit den Ideenwelten Wagners und Nietzsches vertraut geworden, nachdem er 1882 „mit seinem Freunde Henry Thode, dem Freunde und Angehörigen des Hauses Wagner" im Bayreuther Kreis Aufnahme gefunden und die Wertschätzung Frau Cosimas erworben hatte. 485 Etwa zur gleichen Zeit lernte Thoma den exzentrischen „Rembrandtdeutschen" und Nietzsche-Verehrer Julius Langbehn kennen, der ihm während seiner Frankfurter Jahre (1877—1899) zum wertvollen Gesprächspartner wurde. 486 Von Langbehns Gedankenreichtum — und den Erfolgen der Symbolisten — angeregt, häuften sich bei Thoma in den 90er Jahren die allegorischen Versuche. Auf einer Federzeichnung „Kind im Kristall", radiert als „Symbol I (Leben in Stein)" bezeichnet, 487 begegnen einige der Elemente aus der Bildwelt Zarathustras. Inmitten eines gläsernen Kristalls schlägt ein Putto, dem eine Schlange zugesellt ist, in sich versunken die Laute. Umschlossen wird dieses Idyll von üppig wuchernden Löwenzahnblättern. Spontan assoziiert der Betrachter zahlreiche ähnliche „Melancholie"-Motive aus der Malerei und Zeichenkunst der deutschen Romantik. 488 Der Allegorie auf die Welt Zarathustras merkt man dagegen Thomas Mühen an, seine Neigung zu verträumter Intimität zu unterdrücken. Krampfhaft sind hier einige Bildideen aus dem „Symbol I" ins Heroisch-Aristokratische verkehrt: der Putto macht einem auf dem Kristall thronenden Adler Platz und auch der heimische Löwenzahn ist durch exotische Orchideen ersetzt, die vor der Majestät des Adlers und der über dem Erdkreis aufgehenden Sonne nach

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ten Salon; vgl. H. v. d. Velde, Geschichte meines Lebens, S. 192. Während die ersten Pan-Hefte erschienen, hatte Kessler sein Engagement für die Stärkung des Nietzsche-Archivs — nach einem Appell Fritz Koegels — u. a. durch einen Kredit von RM 6.000,— bewiesen. Thoma (Knackfuß-Künstlermonographien 46), Bielefeld und Leipzig, 21910, S. 100. Ebd., S. 99. Vgl. Benedikt Momme Nissen, Der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn, Freiburg i. Brsg., 1926, S. 69—78. Der Verf. schildert im gleichen Werk — allerdings sehr einseitig — den verwegenen „Rettungsversuch" Langbehns am erkrankten Nietzsche in Jena 1889/90; „Der Fall Nietzsche", S. 127-134. Die Federzeichnung bildet z. B. ab: Hermann Eris Busse, Hans Thoma. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Beuchten, Berlin, 1942, S. 141. Die Radierung ist z. B. abgebildet in: Sonderausstellung Hans Thoma, Katalog der Staatlichen Galerie Moritzburg, Halle, 1974, Abb. 20. Zu Thomas Vertrautheit mit dieser Seite des romantischen Escapismus vgl. Hans Ost, Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. (Bonner Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 11), Düsseldorf, 1971, S. 15, Anm. 17 u. S. 202 -204.

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den Seiten ausweichen. Die Schlange umgibt, wie schon den Putto, auch den Adler kameradschaftlich und entspricht damit ihrem Charakter als zweitem Begleittier Zarathustras. 489 Thomas Inkonsequenz bezeigt dagegen der im Hintergrund bedächtig das Sonnenlicht suchende Löwe, weil dessen Auftritt zumindest für die damaligen Nietzscheaner das Pathos der anderen Gefährten Zarathustras banalisieren mußte. Diesen zwiespältigen Eindruck verstärkt noch ein auf der gleichen Seite in den Text gezwängtes Medaillon des Künstlers, auf der ein Tigerkopf dem Leser in frontaler Archaik entgegenstarrt. Altertümelndes Beschlagwerk „verschraubt" nun diese Schlußvignette mit dem umgebenden Text, wobei Thoma nicht auf die präzise Wiedergabe von Schraubenköpfen verzichtete. Nach diesem Mißgriff mußte dem Pan daran gelegen sein, bald darauf mit möglichst überzeugenden „Nietzscheana" die künstlerische Repräsentation des Philosophen zu korrigieren. Noch bevor man auf eine Reproduktion der kleinen Fassung von Curt Stoevings „Nietzsche in der Gartenlaube" zurückgriff und damit diesen Bildnistyp zusätzlich verbreiten half, 490 erschien „Der Riese", ein weiteres Fragment des Philosophen, montiert in eine seitenfüllende Radierung Ernst Moritz Geygers. 491 Anfangs favorisierte die Zeitschrift auch für diese Illustration den Künstler, dem man schon die adäquate Eröffnung des Pan zugedacht hatte: „Die Parabel vom Riesen haben wir [die Am-Redaktion] an Max Klinger nach Paris gesandt, von dem wir eine Radierung dazu erhoffen." 492 Es ist auffallend, wie einflußreiche Nietzscheaner bereits sehr frühzeitig in Klinger den idealen Illustrator des Philosophen vermuteten, obwohl der Künstler selbst erst nach 1900 engere Kontakte zum Weimarer Kreis knüpfte. Die Meisterschaft, mit der sich in Nietzsches Zarathustra-Reden wie in den Radierfolgen Klingers Pathos und Skurrilität die Waage hielten, wollte man nur zu gern der gemeinsamen sächsisch-thüringischen Herkunft beider Autoritäten andichten. 493 Angesichts der maßstabsetzenden Balanceakte zwischen Erhabenheit und Karikatur in den Kunstwerken seiner Vorbilder zeigen sich die Grenzen von Geygers Phantasie und Integrationsvermögen. Gerechterweise hat man dem Künstler zugute zu halten, daß er mit seiner in aller Eile entstandenen Interpretation des „Riesen" der unter Zeitdruck geratenen Piiw-Redaktion aushelfen mußte, nachdem ein Beitrag Klingers wiederum ausgeblieben war.

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Zur Adler- u. Schlangen-Ikonographie vgl. 2.4, S. 78-79. Pan 1, Heft 3, vor S. 143. Zu diesem 1894 entstandenen Porträt vgl. 3.1.2.1, S. 9 6 - 1 0 1 . Pan 1, Heft 2, vor S. 95. Vgl. Abb. 3. Brief O. J. Bierbaums an E. Förster-Nietzsche v. 2. 5. 1895; Weimar, NFG (GSA) 72/180. Zur Stichhaltigkeit dieser Ableitungen, mit denen ein völkisch-bodenständig gefärbter Nietzsche-Kult argumentierte, vgl. 4.4.1.

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So nutzte Geyger die Chance und brachte seinen bis dahin nur von wenigen Kennern — darunter Wilhelm von Bode — gewürdigten „Bienenfleiß" in der ,,pikante[n] Lösung eines ihm gegebenen unglücklichen und wenig geschmackvollen Motivs" 4 9 4 vor dem ^ « - P u b l i k u m zur Geltung. Bodes Urteil deutet an, wie der große Gelehrte vor der provozierenden Botschaft des „Riesen"-Blattes reserviert zurückwich, die brillante Radiertechnik dagegen gleichsam àls Entschuldigung für Geygers Nietzsche-Kult gelten ließ. Das Wohlwollen des führenden Berliner Museumsmannes erweiterte den Kundenkreis Geygers auf die Pan-Leserschaft einschließlich des Kaiserhauses, das dem 1861 in Rixdorf geborenen, eigenbrödlerischen Anti-Akademiker ansonsten verschlossen geblieben wäre. 4 9 5 In „echt deutschem Idealismus" 496 Klinger und den alten Meistern nacheifernd, setzte Geyger seinen Ehrgeiz jahrelang in die exakte graphische Reproduktion von Hauptwerken aus den Uffizien und der Berliner Galerie. Dieses „altdeutsche" Künstlertum konnte der Sympathie eines Bode sicher sein, der mit spürbarer Wendung gegen die Impressionisten anmerkte, daß in unserer, fast nur noch auf den flüchtigen Farbeneffekt, auf skizzenhaftes Andeuten ausgehenden Kunst ein solches streng zeichnerisch und stilistisch begabtes Talent [wie Geyger] äußerst selten ist. 4 9 7

Bei aller Eigenwilligkeit seiner Kunstmittel teilte Geyger mit vielen anderen Künstlern — von Grandville über Gabriel Max bis zu Richard Müller und George Grosz — den unwiderstehlichen Drang zur antibürgerlich inszenierten Tiergroteske. Ohne daß Nietzsches Textfragment zum Kampf zwischen dem übermenschlichen „Riesen" und den untermenschlichen „Zwergen" von Geyger eine fabelähnliche Bildsprache verlangt hätte, schmeichelte er doch gerade mit dieser Kostümierung dem Selbstwertgefühl der meisten Nietzscheaner: auf ihrer Seite der „große Einzelne", der luziferische Freigeist und Entwerfer neuer Welten, vom Künstler effektvoll mit den „Vielzuvielen", den Kleingeistern einer gehässigen, alexandrinischen Gelehrtenwelt konfrontiert; oben der kos-

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Wilhelm Bode, „Künstler im Kunsthandwerk", in: Pan 3, Heft 1, S. 4 0 - 4 6 , hier: S. 43. Seine Ausführungen über „Künstler im Kunsthandwerk" im Juliheft 1897 des Pan ließ Bode u. a. durch einen silbernen Standspiegel Geygers aus dem Besitz der Kaiserin illustrieren. An gleicher Stelle bildete der Autor die überlebensgroße Figur von Geygers „Bogenschützen" ab, der 1902 in Bronzeabguß für den Park von Sanssouci angekauft wurde. - Nicht zufällig wurde Geyger zum am häufigsten vertretenen Künstler im Pan·. 10 Originalgraphiken, 3 Reproduktionen; vgl. Georg Ramseger, Literarische Zeitschriften um die Jahrhundertwende unter besonderer Berücksichtigung der „Insel", Berlin, 1941 (Zgl. Diss., Hamburg, 1939), S. 118. Maximilian Rapsilber, Ernst Moritz Geyger. Berlin — Florenz, (Kochs Monographien, Bd. 5), Darmstadt, o. J . , S. 5. „Künstler im Kunsthandwerk", S. 46.

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mische Weiten bannende Einsame, unten eine gestaltlose Masse von „Schollenklebern", die der „Geist der Schwere" an den flachen Erdboden fesselt. 498 Bei näherer Betrachtung dieser absonderlichen Szene entpuppt sie sich als Fundgrube für die unterschiedlichsten Bilder Nietzsches, gleichzeitig als Beleg für Geygers breit gestreute Werkkenntnis. Innerhalb des mit Assoziationen überfrachteten Blattes widmete sich der Künstler mit besonderem Ingrimm s e i n e n — und des Genius — Gegnern, den drei Tiergruppen zu Füßen des „Großen". Diese kleidet Geyger boshaft in Talare und Amtsroben und gibt sie als Affen und Aasgeier dem Gespött der Nietzscheaner preis. Die bunte Menagerie der Kleingeister vervollständigt ein Fuchs, der — frech und wagemutig zugleich — dem „Großen" eine Geistesschwinge stutzen will, ein Nilpferd, das das Kommando über eine Gruppe wahnwitziger Bilderstürmer führt, schließlich ein Schwein, das genüßlich Folianten — offenbar Werke des „Großen" — dem Feuer übergibt. Während ein Affe ebenso beharrlich am Ruhmeskranz des „Großen" rupft und dadurch ostentativ das Künstlermonogramm „ E . M. G. 95" freilegt, zerredet im Vordergrund eine Dreiergruppe aus Affe, Aasgeier und Fuchs die Werke des Geistesriesen, quasi als intellektuelle Anstifter zur Bücherverbrennung durch das Schwein. Der Ausgang des Kampfes bleibt im Text wie in der Illustration offen; denn scheinen die Attacken der „Vielzuvielen" einstweilen auch aussichtslos, so fehlt es daneben nicht an Vorboten für die aufziehende Tragik des „Großen". Vor verdüstertem Himmel dem Ansturm einer ameisenartigen Masse preisgegeben, hält der Genius dem Anblick der Sonne stand: aber statt dieses lebenspendende Gestirn, einen anderen Stern, einen Kristall oder eine mathematische Formel als Abbild seiner Geistessphäre festzuhalten, zeichnet er den Planeten Saturn in sein Skizzenbuch. Da Geygers Belesenheit und Ambition Zufälligkeiten an dieser für die Symbolik des „Riesen" zentralen Stelle ausschließen, kann der Einsatz gerade dieses Planetenbildes nur als Hinweis auf eine schicksalsbedingte Resignation des „großen Einzelnen" verstanden werden. 4 9 9 498

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Fast wörtlich bediente sich ζ. B. Michael Georg Conrad dieser Metaphern, als er nach dem Tode Nietzsches die Anklagen gegen die Feinde des Philosophen formulierte: „Siehe da, wie sie kommen in Scharen, die Flachlandmenschen, die Schollenkleber, die Geister der Ebene . . . um den Großen und Hohen für sich einzufangen, ihn zu bemäkeln und zu bekritteln!"; „Was dünket Euch um Nietzsche?", in: Die Insel, 2 (1900), Heft 2, S. 201-207, hier: S. 204. — Damals schnitt Geyger die Titelblätter zu Heft 1, 2 und 3 des 2 . J g s . der Insel. Seit der spätantiken Astrologie „gehören zum Charakter der .Kinder' des Saturn . . . Apathie und Melancholie; ihnen begegnen Verbrechen, Unglück, Krankheit und Gebrechlichkeit im hohen Alter." Hannelore Sachs, Ernst Badstübner u. Helga Neumann, Christliche Ikonographie in Stichworten, Leipzig, 2 1980, S. 289. Die komplexen Beziehungen zwischen Planetenbild und Menschenschicksal untersuchen Raymond Kubansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl in ihrem Standardwerk: Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art, London u. New York, 1964. Als „klassischen" Typ des Melancholikers

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Neben dem inhaltlichen Reichtum der Radierung fallen ihre kompositorischen Mängel besonders kraß ins Auge. Durch sein Ungeschick beim Einfügen des Textspiegels zwingt Geyger die Rauchsäule des Scheiterhaufens zu absurden Ausweichmanövern und verunklärt damit zugleich die Wirkung der Brandpfeile des Geistes, die vom Nimbus des „Großen" ausstrahlen. Auch die obere Umrahmung des Textfragmentes durch einen unmotiviert abbrechenden Riesenflügel überzeugt nicht. Schließlich staucht der Künstler den Denkmalssockel des „Großen" zu einem unproportionierten, spielzeugartigen Postament zusammen. All diese Disharmonien stützen die schon eingangs angesprochene Vermutung, daß der Künstler sein Labyrinth von Nietzsche-Zarathustra Assoziationen überhastet in ein Motiv zusammendrängen mußte. Vielleicht hatte Geyger ursprünglich auf ein episches Panorama der Zarathustrawelt abgezielt, was aber damals für den Großteil der Pan-Leser aufgrund mangelnder Detailvertrautheit reizlos geblieben wäre. Dagegen durfte die kurze Parabel von der Isolation des verzweifelt Schaffenden mit breiterem Einverständnis rechnen. Durch das Beschwören einer gemeinsam empfundenen Not — man erinnere sich der Freundesworte Hofmannsthals für Kessler —500 lud die Aira-Redaktion auch die Teile der Intelligenz zur Identifikation mit Nietzsche ein, die dem 1895 noch engen Kreis um das Archiv abwartend gegenüberstanden. Als Otto Julius Bierbaum fünf Jahre später, inzwischen Redakteur der Insel, den zweiten Jahrgang dieser Zeitschrift mit seinem schon zitierten Nachruf auf Nietzsche eröffnen mußte, markierte er deutlich das wachsende Machtbewußtsein der Nietzsche-Gemeinde an der Jahrhundertwende: „ D e u t s c h l a n d hat seinen zweiten Grossen verloren, — nach Bismarck Nietzsche. Es wäre nicht in seinem Sinne, zu klagen." 501 Diese neue Diktion zeigt an, wie man den „Propheten" Nietzsche für seine künftige Gemeinde — das deutsche Volk — vereinnahmen wollte, um gleichzeitig der individualistisch-wehleidigen Verkultung des „Märtyrers" entgegenzutreten. 502

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stellen Rudolf u. Margot Wittkower den Künstler in den Mittelpunkt ihrer Studie Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists: A Documented History from Antiquity to the French Revolution, London, 1963. - Obwohl z.B. Dürers Meisterstich der „Melencolia I" von 1514 Geyger als handwerkliches Vorbild gedient haben mag, verzichtete der Künstler auf tradierte Planetensymbole, die Personifikation des Gottes Saturn oder typische Kennzeichen des Melancholikers (verdüstertes Antlitz, Meditationsgestus, Schlüsselbund). Deren Stelle nimmt bei Geyger in Anpassung an moderne Sehgewohnheiten die astronomisch korrekte 500 Darstellung des Planeten selbst ein. Vgl. Anm.471. Die Insel, 2 (1900), Heft 1, S. 1. Hervorhebung vom Verf., (vgl. Abb. 12). Zur Parallele Bismarck-Nietzsche vgl.: Anm. 252. Zur ideologischen Fundierung dieser Strömung, die nach dem Tode Nietzsches bestimmend wurde, vgl. 4.1.1. Die erste künstlerische Fassung eines prophetischen, priesterhaften Nietzsche gelang Max Kruse: vgl. dazu 3.1.6.2 und Abb. 8.

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Nur wenige Wochen vor diesem Appell Bierbaums war d a s autoritative Porträt aus Nietzsches Leidenszeit erstmals publiziert worden. In seinem letzten Heft hatte der Pan mit Hans Oldes Radierung des kranken Philosophen — vergleiche Abbildung neun — noch einmal für großes Aufsehen gesorgt. Kessler bestätigte dem Künstler, daß das Bildnis „eines der bedeutendsten Kunstwerke der Jetztzeit [wäre], das Beste, was der Pan seit seinem Bestehen gebracht . . . [hätte]." 5 0 3 An dieser Stelle, wo es nur um eine Chronik der frühen „Nietzscheana" des Pan geht, kann eine Aufzählung der Vorstudien und Varianten zum veröffentlichten Blatt unterbleiben. Oldes Nietzsche-Porträts sind durch seine Biographin Hildegard Gantner-Schlee wie durch den bahnbrechenden Münchener Katalog zur Malerei nach Fotografie bereits weitgehend erschlossen und abgebildet. 504 Andererseits fehlt für das Blatt aus dem Pan, bis heute neben Max Klingers Hermen das werbewirksamste Kultprodukt überhaupt, ein Ansatz, der nach den Gründen für diese erstaunliche Kontinuität fragt. Als Inbegriff des Nietzsche-Kultes der 90er Jahre überragt Oldes Radierung alle vorigen „Nietzscheana" des Pan und verdient deshalb, getrennt von den übrigen Zeitschriftenillustrationen behandelt zu werden. 5 0 5 Da sich Fusionspläne zwischen Pan und Insel im Frühjahr 1900 endgültig zerschlagen hatten, bildete das Porträt des Philosophen im letzten Am-Heft, sekundiert von einem Artikel Elisabeth Förster-Nietzsches, das Gegenstück zum Zarathustra-Auftakt von 1895. 506 Fast könnte man von einem Vermächtnis der Nietzscheaner unter den Ρλ«-Verantwortlichen sprechen. Dieses Erbe trat, wenn auch nur auf zwei Jahre, der Kreis um die bibliophile Insel an. 5 0 7 Neben Bierbaum als Redakteur sorgten ehemals dem Pan nahestehende Künstler für ein Weiterleben der alten Maximen. So verwundert es nicht, daß die Redaktion für die künstlerische Rahmung ihres Nietzsche-Nachrufs auf

So Hans Olde in einem Brief an seine Frau vom 21.4. 1900, zit. nach: H . Gantner-Schlee, Hans Olde, 1970, S. 86. 5 0 4 Vgl. Anm. 154 u. 155. 5 0 5 Abb. 10 veranschaulicht beispielhaft die Suggestionskraft von Oldes Porträttypus. Dazu ausführlicher: 3.1.5.2. 5 0 6 Oldes Radierung erschien in Pan 5, Heft 4, vor S. 233. Der begleitende Artikel „Einiges über unsere Vorfahren" Schloß sich auf den S. 233—235 an. Zwischen 1895 und 1900 fanden nur relativ wenige Nietzsche-Beiträge Aufnahme im Pan, wobei man sich fast nie um erläuternde Kunstbeilagen bemühte. Eine Ausnahme bildete lediglich die Fragmentsammlung „Aus den Sprüchen Zarathustras" (Pan 2, Heft 2, S. 85—88), der man Max Klingers Radierung „Erinnerung" und als Lichtdruckreproduktion dessen „Prometheus" beigab. 507 w i e der Pan in Deutschland ohne direkte Vorbilder aufgetreten war, so blieb das Programm des Unternehmens strenggenommen ohne Nachfolge. Die Insel und die Münchener Luxuszeitschriften Hyperion und Genius auf der einen, die populären Kunstzeitschriften Die Rheinlande und Kunst und Künstler auf der anderen Seite konnten nur in Teilbereichen dem Anspruch des Pan gerecht werden. 503

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Geyger zurückgriff, der sich durch seine schnelle und einfallsreiche Illustration zum „Riesen" bewährt hatte. Ungezwungener als 1895 gelingt Geyger diesmal der Ausgleich zwischen rahmender Illustration und dem Textspiegel, den er nun in der Bildmitte anordnet. Durch ein ionisches Kyma gefaßt, gemahnt Bierbaums Nachruf an die Inschrift eines Grabsteins. Dem ernsten Anlaß entsprechend, arbeitet der Künstler mit den Mitteln des Flächenholzschnittes aus dem Dunklen ins Helle. So bleiben die Attribute der Trauer — ein Todesgenius zur Linken, ein immergrüner Baum des Lebens und des Nachruhms zur Rechten des fiktiven Grabes — in ihrer Bildwirkung gedämpft. Maniriert erscheint dagegen die betont lässige Haltung, mit der der Genius am Grabstein lehnt, ein Tintenfaß balanciert und mit der Feder auf den Namenszug des Toten weist. Ebenso störend macht sich der übergroße, den Grabstein dominierende Titel der Insel bemerkbar. Durch ihre Reproduktion in weitverbreiteten Handbüchern fanden Geygers Arbeiten für Insel und Pan auch den Weg zu den weniger begüterten Nietzscheanern. 508 Wie Geygers Pathos, etwa sein Motiv des alle überragenden Genius der Nietzsche-Gemeinde imponiert haben muß, veranschaulicht Abbildung 34: noch nach dem Ersten Weltkrieg folgte Leo Wiese, ein nur in Weimar dokumentierter Verehrer des Philosophen, in Bildaufbau und Anspruch seiner Zarathustra-Allegorie dem Vorbild Geygers. Wieses Gigant bewacht, gleich einem Todesgenius mit gesenkter Fackel, die sterile „Geldschrankarchitektur" eines Zarathustra-Tempels, während zwei schüttere Bäumchen als symmetrische Bildrahmung fungieren müssen. Mehr noch als diese formale Dürftigkeit enttäuscht bei der Federzeichnung aus dem Bestand des ehemaligen Nietzsche-Archivs die intellektuelle Ausdünnung der Weimarer Verehrergemeinde nach 1918. Es muß erlaubt sein, diesen Verfallsprozeß, den Kessler als einer der ersten empfand und aussprach, auch als Resultat einer überzogenen Pathetik der Paw-Enthusiasten vor der Jahrhundertwende zu betrachten. 3.1.5 Der „Gescheiterte Geistesaristokrat": Die Nietzsche-Formel der neunziger Jahre 3.1.5.1 Die Sitzstatuette Arnold Kramers Wer für diese heute völlig vergessene Bronze aus dem Jahre 1898 — Abbildung sechs — die Lobeshymnen von Zeitgenossen zusammenstellt, wird ver508

Z. B. nahm Albert Soergels Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig, zuerst 1911, neben den fast obligatorischen Porträts Klingers und Oldes nur die zwei „Nietzscheana" Geygers auf (in der 5. Aufl. 1916 vgl. S. 441 u. 443).

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

blüfft fragen, warum die kleine Genreplastik für die Weimarer Archivräume in der Gunst der Nietzscheaner dicht hinter der berühmten Radierung Oldes rangierte. Offensichtlich bestand während der letzten Krankenjahre Nietzsches ein starkes Bedürfnis, sich das Bild des noch Lebenden und stellvertretend für seine Gemeinde leidenden „Märtyrers" nach Kramers Modell zu vergegenwärtigen. Indem der Dresdener Künstler eine in fast jeder Preislage zu reproduzierende Kleinplastik auf den Markt brachte, 509 kam er gleich in mehrfacher Hinsicht dem zumeist nicht eingestandenen Wunsch des Publikums nach „Vermenschlichung" — das heißt auch Verharmlosung — des Genies entgegen. Niemand anderes als Arthur Seidl machte sich zum Anwalt eines Philosophenbildes nach menschlich-bürgerlichem Maß: U n d wir danken es ihm [Kramer] heute aufrichtigst. . ., daß er hier, sogar in dem gewichtigen .Fall Nietzsche', allen Verlockungen zu einer Aufsehen erregenden Monumentalisierung zunächst selbstkritisch-streng und tapfer aus dem Wege gegangen ist und uns dafür ,Nietzsche intime' geschaffen, das gut belauschte Meisterstück des großen Philosophen gleichsam ,en famille', in Statuettenform geschenkt hat. So entstand denn jenes unvergeßlich rührende Bild des einsam-stillen Kranken im Lehnstuhle, ganz aus dem häuslichen ,Milieu' der beschaulichen Wohnstube heraus empfunden, darinnen jener Welt umfassende Geist in enger Umschlossenheit die letzten Jahre seines Daseins, mild vor sich hin sinnend, unter der edlen Schwesterpflege noch verbrachte. 5 1 0

Dieses längere Zitat eines führenden Nietzscheaners verrät durch seinen Tonfall überraschend die Fortdauer auch altfränkisch-beschaulicher Leitbilder im Kult um den Künder des Ubermenschen. Kramers Statuette bezog ihren Erfolg nicht zuletzt aus dem Nachglanz eines eingebürgerten und beliebten Genres, dessen Blüte in der Kleinkunst der Biedermeierzeit lag, dessen formale Vorbilder aber bis in die Antike zurückreichen. Bevor ein Exkurs in die Ikonographie der Sitzstatue unternommen wird, soll kurz die Entstehungsgeschichte von Kramers sympathischer Einfühlung in Nietzsches Lebenskatastrophe skizziert werden. Wie taktvoll sich der Künstler in seinem Menschenbild um die Wahrung humaner Würde bemühte, verdeutlicht die Konfrontation seines schlichten, auf jedes Attribut von Geistesmacht verzichtenden Kranken mit einem Torso Zarathustra-Nietzsches auf einer Andenkenvitrine im Weimarer Archiv. Das von der Archivleitung kunstvoll arrangierte Foto — Abbildung sechs — bedarf in seiner Aussagekraft keines Kommentars.

509 vgl. z g ¿¡g Anzeige am Ende des 2. Bandes von E. Förster-Nietzsches Das Leben Friedrich Nietzsches, 1904, wo nicht weniger als 3 Ausführungen der Statuette nebst 2 Reduktionen in Büstenform zum Kauf empfohlen wurden. Zu diesen Anzeigenkampagnen und anderen Verbreitungspraktiken vgl. 3.1.6.1. S 1 ° A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", in: ders. Kunst und Kultur, 1902, S. 391-392.

D i e F o r m u n g des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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Seidl deutet in einer verklausulierten Notiz seiner „Nietzsche-Bildwerke" an, daß Kramer schon sehr frühzeitig — etwa 1894 — „Mangels jeder persönlichen Beziehung zum Nietzsche-Hause" ein Flachrelief des Philosophen „gleichsam als die ,Resultante' aus den bis dahin gerade zugänglichen Bildnissen [das heißt den Fotos des gesunden Nietzsche]" konzipiert hatte. 511 Als der Künstler im Frühjahr 1895 Elisabeth Förster-Nietzsche um Studienmaterial für eine Büste „Ihres verehrten Herrn Bruders" bat, 5 1 2 hatten sich die Polemiken der Nietzsche-Gegner bereits auf ein angeblich von Jugend an krankhaftes „System" des Philosophen zurückgezogen, denn dessen Persönlichkeit war schon Mitte der 90er Jahre „gar nicht tot zu machen." 5 1 3 In dieser Rezeptionsphase konnte Kramers Beschwörung eines schaffensfrohen Nietzsche der Verehrergemeinde als Argument dienen. Abgesehen davon fand es der Künstler dem Archivar Fritz Koegel gegenüber „nur zu begreiflich, wenn Frau Pastor Nietzsche" nicht wünschte, daß „zur Zeit irgend welche künstlerischen und photographischen Aufnahmen ihres Herrn Sohnes nach dem Leben" gemacht wurden. 5 1 4 Solange Nietzsche in der Obhut der Mutter verblieb, war nach deren zwiespältigen Erfahrungen mit Schellbachs und Stoevings Modellsitzungen kein Künstler mehr an das Krankenbett vorgedrungen. Diese aus Sorge um den Patienten auferlegte Zurückhaltung vergaß man im Frühherbst 1898, als Kramer zu einem Besuch in Frau Förster-Nietzsches neuer Villa auf dem „Silberblick" anreisen durfte. 5 1 5 Inzwischen hatte auch der Künstler seine Meinung geändert und war bereit, „den Mann in der Auflösung zu sehen", den er ursprünglich „auf dem Höhepunkt seiner geistigen Kraft" darstellen wollte. 516 Auf die Dauer verbot es sich für einen aufstrebenden, 35jährigen Bildnisplastiker, der kurz vor seiner Anerkennung stand, ein so spektakuläres Angebot wie das aus Weimar abzulehnen. Die Reihe der bis auf Olde noch jungen Nietzsche-Porträtisten in den 90er Jahren legt den Verdacht nahe, daß die Archivleiterin die verständliche Anpassungsbereitschaft von Nachwuchskräften stets in ihrem Sinne zu lenken verstand. Zudem begegnete Frau Förster-Nietzsche in Kramer kein fanatischer Exeget ihres Bruders, der für seine Arbeit den Rang einer letztgültigen Interpretation verlangte. Während der Künstler von 511

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A . Seidl, „ N i e t z s c h e - B i l d w e r k e " , S. 386—387. O b w o h l der Verf. an gleicher Stelle Kramers Relief zum Bestand des Archivs zählte und Abgüsse davon „ z u Dresden im H a n d e l " erwähnte, ist heute kein Exemplar mehr im N F G - B e r e i c h nachweisbar. Brief v o m 1 6 . 4 . 1895; Weimar, N F G ( G S A ) 72/416. Karl Ernst K n o d t , „ N i e t z s c h e und seine Bedeutung", in: Der Kunstwart, J g . 8 (1895), H e f t 12, S. 181. Brief A . Kramers v o m 2. 6. 1895; Weimar, N F G ( G S A ) 72/1717. Unter dem 6. 10. 1898 vermerkte A . Seidl als Archivar das E n d e von Kramers Studienaufenthalt. „Journal des Nietzsche-Archives", Weimar, N F G ( G S A ) 72/1594. Brief A . Kramers an F . Koegel vom 2. 6. 1895; Weimar, N F G ( G S A ) 72/1717.

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Anfang an das Bildnis Nietzsches als ein „Problem" mit vielen Lösungsmöglichkeiten gelten ließ, 517 formte er gleichzeitig mit der Weimarer Statuette im Auftrag des Klerus Propheten- und Evangelistenköpfe für die Dresdener Kreuzkirche. Daneben entwickelte sich Kramers Begabung in zahlreichen Büsten und Statuetten von Persönlichkeiten, die wie der von ihm porträtierte Maler Robert Steri abseits der Nietzsche-Bewegung wirkten. Dieser Unbefangenheit Kramers verdankt man es, wenn in Haltung und Physiognomik des Kranken jedes „Zuviel" an Pathos vermieden ist und sich auch die Kleidung nicht als barocke, bedeutungsschwangere Dekoration hervordrängt. Max Kleins spätere Sitzstatue des Nietzsche der „Ecce-homo-Zeit" — Abbildung sechzehn — illustriert die Gefahr dieser Alternativen. Nach Oldes Fotos aus dem letzten Lebensjahr des Philosophen trug der Kranke damals — in den bezeichnenden Worten der Schwester — „ein langes Gewand . . .in der Art des Priesterkleides katholischer Orden." 5 1 8 Wie leicht ein solcher Wink zur Steigerung ins Monumentale auffordern konnte, sollte sich schon kurz nach Kramers Abreise aus Weimar bestätigen. Ebenfalls 1898 datiert, sucht Max Kruses streng symmetrische Marmorbüste des Philosophen — Abbildung acht — bewußt den Anschluß an Herrscherdarstellungen aus der Spätantike und Renaissance. Kramers direkte Vorbilder für die Präsentation eines „Geistesaristokraten" reichen dagegen, wie schon angedeutet, in eine Epoche zurück, die neben dem Monumentalen das Private kultivierte. Im Biedermeier hatte die Statuette als Schmuck für Wohn- und Arbeitszimmer den Rang einer autonomen Kunstgattung erhalten: als intimes Genrestück wuchs sie über ihre traditionellen Aufgaben (Hilfsmodell für den Künstler, Verkleinerung eines öffentlichen Denkmals) hinaus. Dabei bot sich insbesondere die Tradition der Sitzstatue — im Gegensatz zum Herrscherbild zu Pferde — zur Darstellung unkriegerischer, bürgerlicher Tugenden an. Peter Bloch zählt in diesem Zusammenhang antike Philosophenbildnisse, den lehrenden und thronenden Christus sowie die Papstgrabmäler zu den Mustern für eine Ikonographie geisterfüllter Macht. 5 1 9 In seinen Höhepunkten erreichte auch das moderne Genie-Denkmal seit der Aufklärung das Ziel, das Visionäre großer Geister lebendig und ohne Ironie mit der Anekdote des Augenblicks zu verschmelzen. Niemand wird beispielsweise Jean-Antoine Houdons Sitzstatue Voltaires für die Comédie française den Vorwurf einer philisterhaften Verniedlichung machen. Die Büste, die

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Vgl. A. Kramers Brief an E. Förster-Nietzsche vom 16. 4. 1895; Weimar, N F G (GSA) 72/ 416. Der einsame Nietzsche, Leipzig, 1914, S. 548, Anm. Vgl. Das klassische Berlin, 1978, Sp. 98.

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diesem berühmten Werk zugrunde lag, entstand merkwürdigerweise unter ähnlichen Umständen wie die Nietzsche-Kultwerke der 90er Jahre. In seiner letzten Lebensphase war der kranke Voltaire zum „Gegenstand einer kultähnlichen Verehrung" geworden. 520 „In dieser eigentümlichen Atmosphäre von apotheosengleicher Entrückung und leibhafter Gegenwart" 5 2 1 formte sich ein Abbild sprühender Geistigkeit, das für die Nachwelt zum „schlechthin gültigen Porträt" eines großen Freigeistes aufstieg. 522 Allerdings überwucherten im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr humoristische oder resignative Züge das hohe Bild vom „Geistesaristokraten". Auch die Grenzen zum traditionellen Habitus eines Herrschers wurden fließend und es entstanden Mischformen, denen auch Kramers Nietzsche im Krankensessel verpflichtet ist. Verblüffend erscheint hierbei dessen Ähnlichkeit mit Vincenzo Velas Sitzstatue des sterbenden, in Schlafrock und Decken gehüllten Napoleon auf St. Helena, mit der der Künstler 1867 auf der Pariser Weltausstellung großes Aufsehen erregte. 523 Als zeitgenössisches Seitenstück zu Kramers Arbeit muß daneben auf Harro Magnussens „Philosoph von Sanssouci in seinen letzten Stunden" hingewiesen werden, eine Sitzstatue, die Kaiser Wilhelm II. 1899 für das Sterbezimmer Friedrichs II. ankaufte. 524 Die große Nachfrage nach Darstellungen dieses Genres trug dazu bei, daß ihre industriemäßig hergestellten Repliken zu Ende des Jahrhunderts immer mehr verflachten. Als selbständig konzipiertes Kunstwerk wurde die Sitzstatuette wieder zur Ausnahme. Innerhalb dieser überschaubaren Gruppe zeitgenössischer Kleinplastiken stellt Kramers Arbeit eine ansehnliche Leistung dar. Daneben hält sie den Vergleich mit Statuetten aus, die schon frühzeitig in der Nachfolge Houdons entstanden waren. 5 2 5 520 Willibald Sauerländer, Jean-Antoine Houdon. Voltaire (Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Univeral-Bibliothek, Nr. 89), Stuttgart, 1963, S. 4. - Die Sitzstatue entstand erst nach dem Tode des Philosophen im Auftrage seiner Nichte und Haupterbin, Madame Denis; vgl. ebd. S. 14. 521 522 523 524

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Ebd. S. 4. Ebd. S. 5. — Nietzsche selbst widmete sein erstes freigeistiges Hauptwerk Menschliches. Allzumenschliches 1878 dem 100. Todestag seines Vorbildes Voltaire. Abg. z. B. in: Courbet und Deutschland, Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle und des Städelschen Kunstinstituts Frankfurt/M., Köln, 1978, S. 44. Abb. in·. Zeitschrift für bildende Kunst, Neue Folge, Jg. 11 (1899-1900), Heft 1, vor S. 1. Das Werk hatte 1892 auf der Akademischen Kunstausstellung in Berlin eine Goldmedaille errungen. Für den Bereich des späten 19. Jhs. vgl. Theodor von Gosens Sitzstatuette des jungen Heinrich Heine, abg. bei Wilhelm Radenberg, Moderne Plastik. Einige deutsche und ausländische Bildhauer und Medailleure unserer Zeit, Düsseldorf u. Leipzig, 1912, S. 22. — Als überzeugendes Beispiel einer genrehaften Sitzstatuette aus dem späten 18. Jh. darf Johann Valentin Sonnenscheins „Pfarrer Samuel Hopf" gelten. Abb. in: Gert von der Osten, Plastik des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Königstein /Ts., 1961, S. 19.

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So begleiteten die allgemeine Anerkennung Kramers im Kreis um das Nietzsche-Archiv — von August Horneffer bis zu Richard Oehler —526 nur wenige kritische Stimmen. Aus dem alten Freundeskreis Nietzsches meldete sich Reinhard von Seydlitz zu Wort, im Zweifel, ob an die Statuette „die kommenden Jahrhunderte ehrfürchtig herantreten werden". 5 2 7 Indem aber Seydlitz seinen Ewigkeitsanspruch nur an zeitgebundenen Merkmalen: „den Nietzsche, den wir kannten" maß, 5 2 8 ignorierte er die Eigenwüchsigkeit bei der Mythenbildung durch die Nachwelt. Kramers persönliche Kontakte zur Schwester Nietzsches jedenfalls blieben trotz dieser Kritik an der Verbreitung seiner Plastik allem Anschein nach ungetrübt. 5 2 9 Einige Kollegen des Künstlers, darunter Olde, sollten dagegen auch die Starrköpfigkeit ihrer liebenswürdigen Gastgeberin auf dem „Silberblick" kennenlernen, sobald es um die Verklärung ihres kranken Bruders für die Öffentlichkeit ging. 3.1.5.2 Hans Oldes Porträts Für alle Freunde des großen Dulders, der als ein moderner Erlöser die Leiden der neuen Gedankenwelt auf sich nahm . . . bedeutet dieses Blatt [das Nietzsche-Bildnis des Pan] einen Schatz, der allein Oldes Namen noch lange vor der Vergessenheit schützen wird. 5 3 0

Diese Prognose zu Oldes Nachruhm aus dem Jahre 1910 hat der Verlauf der tatsächlichen Rezeptionsgeschichte bestätigt: heute muß das für den Pan und gegen die Einsprüche Frau Förster-Nietzsches radierte Porträt des Philosophen die Erinnerung an einen profilierten Künstler der Jahrhundertwende wachhalten. Zu Unrecht steht Oldes Anteil an den ersten Erfolgen des deutschen Impressionismus wie seine spätere Rolle im „Neuen Weimar" im Schatten prominenterer Namen. Hildegard Gantner-Schlee bemühte sich 1970 in ihrer Tübinger Dissertation über Leben und Werk Hans Oldes insbesondere um die Korrektur von abschätzigen Urteilen über den Künstler als Direktor der Weimarer Kunstschule (1902 — 1911). Andeutungsweise machte die Verfasserin dabei auf die Rivalität zwischen Oldes und van de Veldes Reformideen aufmerksam, die

526 Vgl. A. Horneffer, „Gedenkblatt für Friedrich Nietzsche", in: Der unsichtbare Tempel, 19 (1920), S. 372 - 378, hier: S. 373; R. Oehler, „Das Nietzsche-Archiv als Stiftung", in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 76 (1909), Nr. 156, S. 8140-8142, hier: S. 8141. 327 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 6. 5. 1899; Weimar, NFG (GSA) 72/619. 528 Ebd. 529 Vgl. die zahlreiche und freundschaftliche Korrespondenz mit dem Künstler in späterer Zeit; Weimar, NFG (GSA) z.B. 72/121 d. 530 Wilhelm Schäfer, „Hans Olde", in: Die Rheinlande, Jg. 10 (1910), Heft 7, S. 213-223, hier: S. 216.

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aber erst als Symptom für umfassendere Fraktionskämpfe zwischen kosmopolitisch und völkisch gesinnten Stilerneuerern ihr Gewicht erhielt. Gemeint sind hier die latenten Spannungen im antiakademischen Lager, wie sie anfangs von dem gemeinsamen Impuls gegen den Historismus überdeckt wurden, mit der zunehmenden Etablierung der Jugendstilgeneration aber fast zwangsläufig zum Ausbruch kommen mußten. 5 3 1 Oldes Berufung, gleichzeitig mit der van de Veldes vom Freundeskreis um Elisabeth Förster-Nietzsche und Harry Graf Kessler am Weimarer Hof durchgesetzt, machte die alte Kunstschule auch für Lehrer wie Sascha Schneider und Paul Schultze-Naumburg attraktiv. Mit diesen beiden Nietzscheanern trat dem „Neu-Weimar" Kesslers und van de Veldes erstmals ein konkurrierendes Programm zur künstlerischen Aneignung des Philosophen entgegen. Während Schneider die „Nietzscheana" aber lediglich um ein altarartiges Riesengemälde — vergleiche Abbildung fünfzehn — bereicherte, auf dem der Philosoph als König des Geistes vor dem umwölkten Standbild der „Wahrheit" niederkniet, sollte Schultze-Naumburg für Jahrzehnte mit dem Schicksal der Weimarer Kunstanstalten verbunden bleiben und zu einer zentralen Figur im NietzscheKult nach 1933 aufsteigen. 532 Ohne diese Perspektiven verkürzen zu wollen, drängt sich im Rückblick die merkwürdige Tatsache auf, daß es schon im Weimar der Jahrhundertwende zwischen späteren Anhängern und Gegnern des Nationalsozialismus zu ideologisch bedingten persönlichen Feindschaften kam. In diesem Spannungsfeld bemühte sich Olde um Zurückhaltung und Ausgleich. Diplomatisches Geschick hatte der Künstler schon beim Studienaufenthalt in der Villa „Silberblick" im Sommer 1899 bewiesen. Mit Hilfe der Gastgeberin knüpfte man die ersten Kontakte zu den Spitzen der Weimarer Gesellschaft, den Fürsprechern und Kunden des späteren Kunstschuldirektors. Wie Gantner-Schlee zusammenfassend einschätzte, wurde deshalb das Nietzsche-Porträt — einer von drei „ehrenvollen Aufträge[n] des Pan" an den Künstler — zum Schlüsselbild für Oldes weitere Karriere. 533 Abgesehen davon setzte die Zusammenarbeit zwischen dem profunden Bildnismaler und dem 531

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Einen Höhepunkt erreichte diese Polarisierung auf der Kölner Werkbund-Tagung im Juli 1914, auf der Hermann Muthesius seine Leitsätze für eine nationale Stilreform zur Abstimmung stellte und damit den Kreis um van de Velde zur Gegenreaktion herausforderte. Vgl. v. d. Velde, Geschichte meines Lehens, Abschn. „Werkbund-Diskussion", S. 360—370. Zu Schneiders Weimarer Aufenthalt (1904—1908) vgl. Felix Zimmermann, Sascha Schneider, (Kunstgabe 5 der Schönheit), Dresden, o. J. (um 1925), S. 26. Vgl. dazu auch 4.4.2. Zu Schultze-Naumburgs Wandlung vom Mitbegründer der thüringischen Heimatschutz-Bewegung zum Architekten der „Gauhauptstadt" Weimar und ihrer Nietzsche-Halle vgl. 4.6.2. Hans Olde, S. 84. Für den Pan hatte der Künstler damals schon ein Bildnis Klaus Groths radiert, sowie eine Porträtlithographie Detlev von Liliencrons geliefert; vgl. ebd. S. 164, Anm. 255.

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Archiv auch neue Maßstäbe hinsichtlich des Niveaus zukünftiger Kultwerke. Von 1903 an sorgte dann Kesslers Präsenz in Weimar für ein entsprechend anregendes Arbeitsklima. Doch wäre es ungerecht gewesen, mit GantnerSchlee alle vor Oldes Radierung entstandenen Porträts als nur „unbedeutende Bildnisse" zu ignorieren. 534 Zumindest Kramers Statuette von 1898 entzieht sich jeder pauschalen Aburteilung. Der Rang der Nietzsche-Interpretationen Oldes wie auch Kramers beruht hauptsächlich darauf, daß beide Künstler nicht einer distanzlosen Verehrergemeinde entstammten oder aus Rücksicht auf diese in provinzielles Sektierertum zurückfielen. Gleichzeitig war Olde flexibel genug, um dem Wunsch der Schwester Nietzsches nach idealistischer Überhöhung des Porträtierten entgegenzukommen, zumal die Λιη-Redaktion bereits bei der ersten Kontaktnahme mit dem Künstler im August 1897 auf ähnlichen Maximen bestanden hatte. 535 Für die hier folgende Skizze zur Genese der „Nietzscheana" Oldes bot Gantner-Schlees Monographie, gestützt auf Mitteilungen des Künstlers an seine Frau, eine zuverlässige Grundlage. 536 Dazu wird ergänzend aus einigen unveröffentlichten Briefen Oldes an die Archivleiterin zitiert und — ebenfalls mit Hilfe der Weimarer Bestände — die Liste der bei Gantner-Schlee sowie durch den Katalog Malerei nach Fotografie gesammelten Nietzsche-Bildnisse im Anhang I vervollständigt. Auf die Ausgangsfrage, warum der Pan gerade Olde mit dem repräsentativen Nietzsche-Bildnis betraute, geht Gantner-Schlee nur indirekt ein. Nach der von ihr als sehr produktiv beschriebenen Freundschaft Oldes mit Alfred Lichtwark zu urteilen, verdankte der Künstler die Zusage des Pan diesem einflußreichen Mitglied des Redaktionsausschusses. Das dortige Kräfteverhältnis zwischen Freunden und Gegnern des „Modephilosophen" machte — wie schon anläßlich der frühen „Nietzscheana" Thomas und Geygers — Kompromisse unvermeidlich. Zwar entsprach Lichtwarks Skepsis gegenüber dem Nietzsche-Kult der Jungen durchaus der seines Kollegen Bode und der übrigen Fraktion der „Geheimräte", 537 doch muß bei ihm schließlich die Zuversicht überwogen haben, mit der Auftragsvermittlung an Olde diesem Freund und Landsmann breitere Resonanz zu verschaffen. Kessler, der eigentliche Initiator aller Nietzsche-Kultwerke des Pan, griff erst zugunsten Oldes ein, nachdem Caesar Flaischlen das Angebot der „Redaktions-Commission" unter wenig überzeugenden Ausflüchten plötzlich 534

Ebd. S. 85 u. S. 165, Anm. 261. Die Verf. ging irrtümlich davon aus, daß die Archivleitung keine Künstler an das Krankenlager vorlassen wollte; vgl. dazu 3.1.5.1. 535 Vgl. den Brief Caesar Flaischlens an den Künstler v. 11. 8. 1897, zit. bei H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 85. 536 Vgl. ebd. S. 84 - 87 u. S. 164-166, Anm. 255-270. 537 Vgl. Anm. 447 u. 494.

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wieder zurückzog. 538 Die schließliche Verschleppung von Oldes Porträtstudien bis Mitte 1899 lag nicht an einem prinzipiellen Widerstand des Weimarer Archivs, da dort Kesslers Stimme stets Gehör fand und auch Arnold Kramer und Max Kruse inzwischen ihre Plastiken „nach dem Leben" modellieren durften. Oldes Biographin hat mit Recht darauf verzichtet, das an Umfang geringe graphische Werk aus einem „notwendigen Zusammenhang" mit der Malerei heraus zu bewerten. 539 Als Kolorist bevorzugte Olde die Farbskizze auch bei den Weimarer, Studien, obwohl das Ziel beim Nietzsche-Porträt auftragsgemäß eine Schwarz-Weiß-Wiedergabe war. Keine der farbig angelegten Bildnisfassungen, von denen sich laut Gantner-Schlee mindestens acht erhalten haben, konnte es mit der Popularität der Paw-Radierung aufnehmen, auch wenn die Münchener Nietzsche-Gesellschaft später Farbreproduktionen bei der Bruckmann A. G. drucken ließ und in ihrem Mitgliederkreis vertrieb. 540 Die Ungeduld der Nietzscheaner auf ein mehrfarbiges Galeriebild aus der Hand Oldes hatte Seidl schon 1902 kundgetan, wobei er zum Ausgangspunkt „eine geradezu ergreifend großzügige Kohlenzeichnung des im weißen Hemde stumm und ernst auf seiner Lagerstatt ruhenden Kranken" vorschlug. 541 Dieses querformatige Blatt erweitert den Bildausschnitt, den Olde für den Pan ganz auf den Kopf und den „Adlerblick" 542 Nietzsches konzentrierte, zu einem die Hände einschließenden Halbfigurenporträt. Auch van de Velde erinnerte sich in seinen Memoiren mit beredten Worten der ,,gewaltige[n] Zeichnung", die den Hauptraum des Nietzsche-Archivs beherrschte.543 Oldes Einfühlungsgabe — beispielsweise sind Vorhang und Fenster im Hintergrund nur angedeutet und lenken nicht vom Gesicht des Kranken ab — hat bewirkt, daß neben der Radierung allein diese Kohlezeichnung nicht in Vergessenheit geriet und noch heute etwa als Postkarte im Nietzsche-Haus in Sils-Maria angeboten wird. 538

«9 540

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Vgl. dessen Brief an Olde v. 23. 8. 1897, zit. bei H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 85. Hinter Flaischlens Vorwänden darf man erneut hervorgebrochene Fraktionskämpfe vermuten. H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 82. Diese Öldrucke - der Münchener Katalog zu Malerei nach Fotografie (S. 120, Kat.-Nr. 884) datierte sie zögernd „um 1905 (?)" — müssen aus den 20er oder 30er Jahren stammen, da die Nietzsche-Gesellschaft erst nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Ein Restposten von ca. 46 Drucken ging vermutlich nach Auflösung der Gesellschaft durch die Gestapo am 19. 3. 1943 in den Bestand des ehem. Nietzsche-Archivs über: NFG (GSA) 101/UF 258. Als Archivar vermerkte Max Oehler im Mai 1943 den Eingang einer „der Nietzsche-Gesellschaft l e i h w e i s e überlassene[n] farbige[n] Nietzsche-Skizze von O l d e . " „Auszüge aus den Geschäftstagebüchern 1941-45"; Weimar, NFG (GSA) 72/1599. „Nietzsche-Bildwerke", S. 393. Ebd. Geschichte meines Lebens, S. 189. — Abb. ζ. B. in: Friedrich Würzbach, Nietzsche. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten, Berlin, 1942, nach S. 428.

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Aus unbekannten Gründen verzichtete Olde auf das für ihn naheliegende Projekt, gleichsam als „Synthese" aus dem Fundus von Skizzen, von persönlichen Eindrücken und Erzählungen der Schwester ein monumentales Ölgemälde des Philosophen zu komponieren. Während der sechs Wochen, in denen sich der Künstler in die Atmosphäre auf dem „Silberblick" einlebte und das Vertrauen der Archivleiterin gewann, durfte er als einziger Gast den Kranken studienhalber fotografieren. Diese damals zwar unter Bildnismalern weit verbreitete, aber vom bürgerlichen Publikum verpönte Praxis wurde deshalb von Seidl in seiner Laudatio auf die Pan-Radierung verschwiegen, obwohl er täglicher Augenzeuge der Porträtsitzungen war und sich dabei mit Olde anfreundete. 544 Um 1900 wurden Originalfotos des gesunden und des kranken Nietzsche nur den vom Archiv ausgewählten Porträtisten wie Max Klinger und Edvard Munch anvertraut. Alle übrigen Künstler mußten auf die kleine Gruppe der veröffentlichten „Standard-Fotografien" zurückgreifen, die Frau FörsterNietzsche ihrer Leserschaft als stilbildend verordnete. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß ein frühzeitiges Bekanntwerden von Oldes erschütternden Fotodokumenten den Nietzsche-Kult in andere Bahnen gelenkt hätte: vor dem trostlosen, ungeschminkten Anblick des Kranken wären die meisten Nietzscheaner zurückgeschreckt. Nur aus dem Pathos idealisierender Kunstwerke konnten sie Selbstbestätigung erhoffen. Diese schon in Abschnitt 1.3 allgemein umrissene These von der Verdrängung der fotografischen Nietzsche-Bildnisse wird im Folgenden durch den Standpunkt gestützt, der im Ausstellungskatalog Malerei nach Fotografie angesichts der erstmaligen Präsentation von 21 Fotostudien Oldes eingenommen wurde: O l d e s Nietzsche-Fotografien sind uns heute psychologisch wertvollere D o k u mente als die gemalten, radierten und modellierten Bildnisse des Philosophen. U n d doch bleibt die Tatsache bestehen, daß erst O l d e s Radierung die Vorstellung von Nietzsches Erscheinung f ü r Zeitgenossen und Nachwelt wirklich geprägt hat.545

Damit wird einem Werk der bildenden Kunst die Aussagekraft einer historischen Quelle zugestanden, die sich gleichberechtigt neben den Textzeugnissen der Nietzsche-Literatur um 1900 behauptet. Seidls an sich richtungweisende Uberzeugung, „daß dieses Bild [Oldes Radierung im Pan] sicher in der Nietzsche-Forschung noch einmal seine große Rolle zu spielen haben wird", 5 4 6 muß

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Vgl. „Nietzsche-Bildwerke", S. 394. Seidl war vom 1. Okt. 1898 bis zum 15. April 1900 im Archiv angestellt, Olde dort vom 5. Juni bis 27. Juli 1899 zu Gast. „Journal des NietzscheArchives"; Weimar, N F G (GSA) 72/1594. S. 124. - Ebd. S. 123 sind die Fotos unter den Kat.-Nr. 897-917 aufgelistet. „Nietzsche-Bildwerke", S. 392.

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jedoch nach der Veröffentlichung der Fotoserie präzisiert werden. Heute sollte vor allem die R e z e p t i o n s f o r s c h u n g Oldes Porträttyp analysieren und mit dem sachlichen „Befund" seiner Aufnahmen vom Kranken vergleichen. Für die Biographie des Philosophen — und damit für eine „Nietzsche-Forschung" im herkömmlichen Sinne — bildet naturgemäß die Fotoserie den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. Die mehr oder minder davon abweichenden Kunstwerke sind dagegen Produkte des Nietzsche-Kultes, dazu ohne aktives Eingreifen oder zumindest Billigung des Philosophen entstanden. Ein wirkungsgeschichtlich orientierter Ansatz bewundert an Oldes Radierung namentlich die Sensibilität, mit der dem Rezeptionsmuster vom „Gebrochenen Geistesaristokraten" seit der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart gültige Form gegeben wurde. Diese Leistung wäre als Vorstoß in künstlerisches Neuland unmöglich gewesen. 1899 konnte Olde bereits die Irrwege seiner Vorgänger überblicken und zugleich die Summe aus ihren Teilerfolgen ziehen. Die zweite Wurzel für die Qualitäten der Paw-Radierung lag im Verzicht auf genrehaftes oder symbolbefrachtetes Beiwerk nach dem Muster Schellbachs und Stoevings. Ein etwa gleichzeitig mit Oldes Arbeiten entstandenes anonymes Exlibris — Abbildung dreizehn — demonstriert, wie groß damals die Versuchung gewesen sein muß, sich Nietzsches Martyrium durch das Blut und die Leidenswerkzeuge Christi zu vergegenwärtigen: die dem Philosophen ungeschickt aufgezwängte Dornenkrone entrückt ihn in die Nachfolge der biblischen Ecce homo-Szene, das Zitat am unteren Bildrand dagegen entstammt Nietzsches Hauptwerk. 5 4 7 Das Ergebnis dieser Klitterung ist eine Karikatur auf Oldes „Geistesaristokraten", wobei besonders der aufdringliche Hinweis auf Nietzsches Blutzeugenschaft stört. Die formale wie inhaltliche Selbstbeschränkung hat Oldes Blatt nicht davor geschützt, als Lieferant für propagandistische Entgleisungen zu dienen. Hier steht die werbewirksame Postkarte einer Vegetariergruppe — Abbildung zehn — für viele modernere Nachschöpfungen. 548 Schließlich begünstigte Oldes undogmatischer, auch fremde Sehweisen integrierender Arbeitsstil die weltweite Verbreitung seines Porträts. Es war dem 547

Also sprach Zarathustra I, GA VI, S. 56 (erster Satz der Rede „Vom Lesen und Schreiben"). — Das Vorbild für die Krone Nietzsches hat der Künstler offenbar barocken Darstellungen des „Dornengekrönten" entnommen, wie der Guido Renis in der Dresdener Galerie; Abb. z. B. in: Hans Preuß, Das Bild Christi im Wandel der Zeiten, Leipzig, 1915, S. 162. 54β Vgl. z. B. den Schutzumschlag und das Frontispiz von My Sister and I, New York, 15. Aufl. 1965, einer unter Nietzsches Namen gefälschten Schrift von David Georg Plotkin, angeblich aus der Leidenszeit im Jenaer Irrenhaus. Hierbei ist auch die zugkräftige Kombination mit Buchschmuck aus dem Jugendstil bezeichnend. — Seidl spricht in „Nietzsche-Bildwerke", S. 393, von „einem guten Holzschnitte" nach Oldes Radierung im Pan, womit er aber kaum das vegetarierfreundliche Nietzsche-Porträt gemeint haben kann.

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

Künstler gelungen, nach den überreichen Weimarer Tagen vom Sommer 1899 Distanz zu den dortigen Eindrücken zu wahren. Im November des gleichen Jahres, als Olde in Berlin „endlich . . . vor [s]einem Kupfer" saß, erbat er sich deshalb — offenbar zu Korrekturzwecken — von der Archivleiterin Fotografien, „die Max Kruse benutzt" hatte. 549 Daraufhin konnte Olde bereits zwei Monate später „eine Radierung" als „ziemlich fertig" zur Begutachtung nach Weimar senden, 550 womit allerdings die Querelen um die Veröffentlichung des Blattes erst beginnen sollten; denn nun pochte die Schwester Nietzsches auf das ihr vorher zugestandene Einspruchsrecht. Unnötigerweise hielt sie dabei mit konkreten Forderungen solange zurück, bis eine „Änderung nicht mehr möglich" schien, „da die Platte verstählt" worden war. 5 5 1 Olde, den die Archivleiterin somit in eine unmögliche Situation dem Pan gegenüber gebracht hatte, blieb nichts weiter übrig, als in der bei ihm gewohnten höflichen Form um Nachsicht für seine „Unvollkommenheit" zu bitten. 552 Immerhin muß diese Konzilianz, gepaart mit Harry Graf Kesslers Uberredungsgabe, die Archivleiterin soweit beeindruckt haben, daß sie dem Künstler umgehend mit einem „lieben freundlichen Brief" antwortete und nur noch auf einer Korrektur der Kinnpartie bestand; was Olde sofort erfüllte und erleichtert nach Weimar meldete. 553 In Wahrheit hatte den Künstler das inkompetente Dreingerede Frau Förster-Nietzsches schwer getroffen. Seiner Frau gegenüber charakterisierte er im Dezember 1900 die ihm zugemutete Zensur rückblickend als „Verhunzung" des Pan-Auftrages.554 Andererseits wurde ein offener Bruch zwischen Olde und der Archivleitung vermieden. Schon wenige Monate nach dem einhelligen Erfolg seines Nietzsche-Porträts berichtete der Künstler in freundlichem Plauderton der Schwester des Philosophen über neue Berliner „Nietzscheana" Curt Stoevings und Max Kruses. 555 Als Olde dann ab 1902 - nicht zuletzt dank Elisabeth Förster-Nietzsche — für fast ein Jahrzehnt die Kunstszene des „Dritten Weimar" mitbestimmte, waren die Spannungen um die Druckerlaubnis für den Pan längst vergessen. 549 550 551 552 553 554

555

Brief V. 24. 11. 1899; am 10. 12. 1899 bedankte sich Olde aus Seekamp für die überlassenen Fotos. Beide Briefe in Weimar, NFG (GSA) 72/507. Brief Oldes an E. Förster-Nietzsche v. 25. 1. 1900; ebd. Brief Oldes an E. Förster-Nietzsche v. 7. 4. 1900; ebd. Ebd. Brief vom 28. 4. 1900; ebd. — Ein Brief der Schwester Nietzsches mit neuen Einwänden vom darauffolgenden Tage blieb lt. H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 86, ohne Konsequenzen. Brief vom 13. 12. 1900, zit. bei H. Gantner-Schlee, ebd. - Bei genauem Betrachten der für den Pan verstählten Radierung — Abb. 9 — erkennt man Reste der ursprünglich weiter vorgeschobenen Kinnfläche. Brief v. 13. 11. 1900; Weimar, NFG (GSA) 72/507. - Zu Stoevings Büste vgl. 3.1.2.1; zum Schicksal von Kruses Nietzsche-Plastik nach 1900 vgl. 3.1.6.2.

Die Formung des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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Zum 60. Geburtstag der Archivleiterin im Juli 1906 durfte Olde sie porträtieren. Dieses Bildnis dokumentiert gleichermaßen einen Höhepunkt in der Laufbahn der Jubilarin wie in der Anerkennung für Oldes Weimarer Engagement. Die Initiative dazu war von einem Spendenaufruf prominenter Freunde des Hauses „Silberblick" ausgegangen.556 Auf den ersten Blick bleibt es unverständlich, warum die Nietzscheaner Olde nicht stattdessen zu einer Neufassung seines Philosophenporträts aufforderten und die Geldsumme dazu verwandten. Inzwischen aber orientierte sich das Nietzsche-Bild der Verehrergemeinde immer mehr an einem denkmalhaften Monumentalismus. Oldes Kunstverständnis lag es fern, seine zurückhaltende Interpretation des Kranken in Konkurrenz mit den neuartigen Bildnissen Max Klingers (1902 — 1904) oder Edvard Münchs (1906) deren Pathos anzupassen. 3.1.6 Andere Lösungen bis zur Jahrhundertwende 3.1.6.1 Reproduktionen

für die

Nietzsche-Gemeinde

Im Gefolge der Gründungswerke und ersten Höhepunkte des NietzscheKultes florierte seit Mitte der 90er Jahre das Geschäft mit beiläufigen, meist für den Durchschnitt der Nietzscheaner erschwinglichen Kultprodukten. Ließe man hierbei nur den Maßstab künstlerischer Qualität gelten, wäre die gleichberechtigte Behandlung dieser in erster Linie für den Markt produzierten Massenartikel eine unerlaubte Abschweifung, die das chronologische Fortschreiten zu weitaus prominenteren Zeugnissen des Nietzsche-Kultes nur verwirrt. Ein Kunsthistoriker, der selbstgefällig auf die Konjunktur ephemerer „Nietzscheana" herabblickt, findet sich damit nach einiger Umschau in der Zeitschriftenpresse der Jahrhundertwende unvermutet auf den Horizont der Gartenlaube und ähnlich konfessionell-konservativer Familienblätter zurückgeworfen. Nur diese unduldsamen Nachzügler inmitten des Aufbruchs der Publizistik um 1900 verweigerten Nietzsche ihre Reverenz in Form von Abdruck oder Empfehlung seiner Bildnisse.557 Dagegen profilierten sich die exklusiven Revuen des Großbürgertums — Pan und Insel — als Anwälte der Interessen „Neu-Weimars", wo man trotz aller Bemühung über kein selbständiges Hausorgan verfügte. 558 556 Vgl. dazu ausführlicher H. Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 133. Den Appell unterzeichneten u. a. Harry Graf Kessler und Ludwig von Hofmann. 557 Vgl. J. Philippi, Das Nietzsche-Bild, in der deutschen Zeitschriftenpresse der Jahrhundertwende, S. 251. 5 5 8 Pläne hierzu hatte insb. Max von Münchhausen, ein Vertrauter der Archivleiterin, verfolgt; vgl. 3.2.1 u. 3.2.2.

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

Ergänzend zur Pionierrolle der Luxusblätter im Kult um den Philosophen dürfen andere Werbemöglichkeiten für den Kauf von „Nietzscheana" nicht unterschätzt werden. Auf einer ganzseitigen Anzeige zum Abschluß von Frau Förster-Nietzsches Lebensbeschreibung ihres Bruders stellte beispielsweise die Verlagsbuchhandlung C. G. Naumann 1904 aufgrund „fortwährend eingehendefr] Anfragen . . . die hervorragendsten dieser Schöpfungen unter Angabe der Originalpreise" zusammen. 559 Sicher erst nach Rücksprache mit der Verfasserin hatte man sich auf drei authentische Porträts des Philosophen geeinigt: neben der Restauflage sowie Neudrucken von Oldes Radierung genossen nur Kramers Statuette und ein Nietzsche-Relief Julius Drexlers die besondere Gunst quasi offizieller Protektion. Demgegenüber wurden an gleicher Stelle zwei sehr bescheidene „Kabinett-Photographien" — eine davon aus der sogenannten „Zarathustrazeit" 1882 — nur am Rande und ohne Abbildung vermerkt. Welche Kapitalbeträge etwa bei der Verwertung von Oldes P^w-Radierung zur Diskussion standen, illustriert nicht nur der enorme Preis einiger — allerdings laut Annonce 1904 bereits verkaufter — „Drucke von der unverstählten Platte . . . à M 1000.—", sondern auch, daß der Künstler nach der Auflösung des Pan ungewöhnlich energisch vor dem Mißbrauch seines Nietzsche-Porträts als „,Reklamebildnis' für irgend etwas" warnte. 560 Dank der großen Nachfrage konnte der renommierte Berliner Kunstverlag Fritz Gurlitt, der den Vertrieb der Radierung übernommen hatte, auch für spätere Abzüge immerhin RM 18,— verlangen. Es bleibt dahingestellt, ob man mit GantnerSchlee dieses Graphikangebot noch „erschwinglich" für breitere Leserschichten nennen darf. 561 Für nur wenige Mark mehr empfahl sich der Verehrergemeinde die Standardausführung von Drexlers Nietzsche-Relief, eine Bronzeimitation in „Hartgussmasse ohne Holzrahmen". 562 Der beim Kauf einer aufwendigeren Variante mitgelieferte allegorische Rahmen paßte sich dem Zeitgeschmack durch modische Stilkunstformen an. Soweit auf der kleinen Werbeannonce erkennbar, kam Drexlers Schnitzwerk mit bewährten Adler- und SchlangeMotiven durchaus dem Bedarf der Nietzscheaner nach dekorativem Wandschmuck entgegen. 563 Dieser Verwendungszweck und nicht die für den Ab-

559 560 561 562 563

Das Leben Friedrich Nietzsches, nach Bd. 2, Abt. 2. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 1 1 . 7 . 1900; Weimar, NFG (GSA) 72/507. Hans Olde, S. 85. Vgl. dazu auch ebd. S. 165, Anm. 258. Anzeige in E. Förster-Nietzsche, Das Lehen Friedrich Nietzsches, nach Bd. 2, Abt. 2. Obwohl A. Seidl in „Nietzsche-Bildwerke", S. 386, ein Relief Drexlers zum Archivbestand zählte, ist heute im NFG-Bereich kein Exemplar der insgesamt in 4 Preisklassen lieferbaren Arbeit mehr vorhanden; auch Fotos fehlen.

Die Formung des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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nehmerkreis Drexlers akademischen Fragen nach Materialechtheit und Individualität des Dargestellten entschieden über den Erfolg des Reliefs. Vor dem Forum der Nietzsche-Gemeinde hatte Arthur Seidl grundsätzlich bezweifelt, daß der „gewissenhafte Künstler" im Fall des kranken Philosophen nur nach Fotovorlagen arbeiten könne und Drexlers Kunstschaffen abgelehnt, da dieser sein Porträt „ausgesprochener Maßen ,nach dem Lichtdruckbilde in Bd. I V . . . (der Gesammt-Ausgabe von Nietzsche's Schriften) modelliert'" habe. 5 6 4 Wie dazu aus einem Brief des Künstlers an die Archivleiterin hervorgeht, war schon Anfang 1899 eine erste Fassung des Reliefs in Weimar auf Kritik gestoßen. 565 Gleichzeitig bat Drexler um einen Besuch beim Kranken, wobei er sein Schaffen ganz der Aufsicht Frau Förster-Nietzsches unterstellen wollte. Mit seltener Offenheit enthüllt sich hier der Nebengedanke fast aller Nietzsche-Porträtisten, die ihr Bildnis mit Hilfe des Archivs als maßgeblich zu verbreiten trachteten. Wie die oben schon zitierte Annonce im Hauptwerk Frau Förster-Nietzsches beweist, muß Drexlers Arbeit nach dem Frühjahr 1899 im Sinne der Archivleitung korrigiert worden sein. 566 Diese letzte Entscheidungsgewalt der Schwester Nietzsches im Hinblick auf die Autorisierung von Porträts hatte neben Drexler und Olde vermutlich auch der dritte von ihr mit der Annonce von 1904 favorisierte Künstler, Arnold Kramer, zu spüren bekommen. Für dessen Statuette eröffnete sich ein Markt zwischen den relativ erschwinglichen Produkten Drexlers und den exklusiven Spitzenblättern Oldes, wobei Kramers Preisskala sechs Jahre nach den ersten Abgüssen (1898) zwischen RM 40,— für einen Gips und RM 450,— für eine versilberte Bronze schwankte. Für den weitaus größten Teil der Nietzsche-Verehrer blieb der Erwerb dieser Kultwerke jedoch ein Wunschtraum. Zeitlebens mußten sie sich mit dem Ausschneiden und Aufstellen von billigen Reproduktionen begnügen, wie sie sie zufällig in Zeitungen oder Illustrierten vorfanden. In seinen Jugendjahren hatte auch Hermann Hesse mit manchen seiner Altersgenossen dieselbe Praxis geübt, „denn unter den vielen Bildnissen, die die Wände seines Zimmers in der Tübinger Zeit (Okt. 1895—Sept. 1898) geziert haben, sollen zwei Bilder des Denkers gewesen sein." 5 6 7 Die Materialauswahl für diese an-

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567

„Nietzsche-Bildwerke", S. 386. Vgl. seinen Brief an E. Förster-Nietzsche v. 1.2. 1899; Weimar, N F G (GSA) 72/235. Ob dies noch angesichts des Kranken geschehen konnte, ist zweifelhaft. Bisher fand sich kein Beleg für einen Besuch Drexlers, auch nicht in Seidls „Journal des Nietzsche-Archives"; Weimar, N F G (GSA) 72/1594. R. F. Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 181. Der Verf. bezog sich auf Bernhard Zellers Schilderung in Hermann Hesse in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlts Monographien Nr. 85), Reinbek, 1963, S. 32.

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spruchslose Form der Idolverehrung blieb bis Mitte der 90er Jahre dürftig: selbst eine ambitionierte Artikelserie wie die von Georg Fuchs über „Friedrich Nietzsche und die bildende Kunst" lieferte noch 1895 keine solchermaßen verwertbaren Illustrationen.568 Den Jugenderinnerungen Hermann Uhde-Bernays zufolge potenzierte sich jedoch im gleichen Jahr das Lektüre- und Verehrungsbedürfnis besonders innerhalb der jüngsten, Anfang der 70er Jahre geborenen Leserschaft Nietzsches. 569 Die Polemik gegen den „Umwerter aller Werte" erweckte Neugier auf jede beliebige Abbildung des Philosophen, dessen Anblick rückwirkend neue Diskussionen förderte. Für die zweite Hälfte der 90er Jahre hat Arthur Seidl eine ermüdende Liste von Sekundärliteratur zusammengestellt, die sich nun recht phantasielos stets eines einzigen Nietzsche-Fotos zur Illustration bediente: dieser „wohl geläufigste . . . Typ [aus der ,Zarathustrazeit' 1882]" war daneben „durch den buchhändlerischen Prospekt des Verlegers [C. G. Naumann] . . . viel und weit . . . in der Welt herum gekommen." 570 Die Redakteure der Kunstzeitschriften wie deren Illustratoren orientierten sich bequemerweise an dem Bildvorrat, der ihnen von der Archivleiterin und anderen Nietzsche-Enthusiasten in Büchern und Werbeanzeigen unterbreitet wurde. Spuren der „Zarathustrazeit"-Vorlage trifft man demnach auf allen publizistischen Niveaus, angefangen bei einer anonymen Xylographie aus dem Jahre 1893 für die Leipziger Illustrierte Zeitung571 bis zu dem markanten Nietzsche-Holzschnittporträt Felix Vallottons, das die Insel im November 1900 ihrem zweiten Nekrolog für den Philosophen voranstellte.572 In den anspruchsvolleren Kunstgenres haben sich nach Meinung Arthur Seidls neben Julius Drexler insbesonders der Plastiker Karl Donndorf und der Maler Rudolf Köselitz dazu verleiten lassen, allzu pedantisch der Standardfotografie von 1882 zu folgen; zumindest bedachte der Verfasser der „Nietzsche-Bildwerke" diese beiden Porträtisten mit exemplarischer Kritik. 573 Vor Vgl. Die Kunst für Alle, 11 (1895), S. 3 3 - 3 8 , 7 1 - 7 3 und 8 5 - 8 8 . Vgl. Im Lichte der Freiheit. Erinnerungen aus den Jahren 1880-1914, Wiesbaden, 1947, S. 89. — 1895 war auch das Jahr des finanziellen Durchbruchs für das Nietzsche-Archiv; vgl. dazu H. F. Peters, Zarathustra's Sister, S. 140. 5 7 0 „Nietzsche-Bildwerke", S. 383. 571 Vgl. Bd. 102 (1893), S. 292. 5 7 2 Vgl. Jg. 2 (1900), S. 200. 573 Vgl. S. 394—395. — Leider äußerte sich Seidl in diesem Zusammenhang nicht zu einem anonymen Gipsrelief (Siegfried Schellbach?), von dem in Weimar — NFG (GSA) 101/90 — heute nur eine mangelhafte Abbildung erhalten ist. Der mit „Stand der Arbeit am 2. 1. 96" auf dem Fotokarton datierte Entwurf hätte Seidls Argumentation beflügeln müssen: die laienhafte plastische Umsetzung des „Zarathustra"-Fototyps steht dort nämlich in scharfem Kontrast zur eigenschöpferischen Rahmung des Gipsreliefs (Allegorie der Mutterschaft, ein aufstrebendes und vorbildliches Menschenpaar u. a.). Diese Disharmonie zwischen beiden Teilen des Kunstwerkes belehrt über den Schaden, den jede schablonenhafte Nachahmung von Fotovorlagen verursacht. 568 569

Die Formung des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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dem Hintergrund dieser Rezeptionswelle beklagte Seidl mit Recht das künstlerische Schattendasein eines zweiten, „ungleich charakteristischere^]" Fotovorbildes aus der „,Zarathustra'-Schaffensperiode". S74 Erst nach 1900 haben Karl Bauer und Edvard Munch mit der von Seidl bevorzugten Fotovariante gearbeitet und eine Vergeistigung ihrer Nietzsche-Porträts angestrebt, indem sie den Philosophen im klassischen Meditationsgestus mit aufgestütztem rechten Arm festhielten. 575 Die härteste Kritik am Schematismus eines Nietzsche-Porträts hat Seidl gegenüber dem Gemälde des Münchener Malers und Illustrators Rudolf Köselitz, einem Bruder von Nietzsches erstem „Jünger" Peter Gast, formuliert. Der Mißbrauch von Fotovorlagen fabriziere bei Köselitz — laut Seidl — ein ganz merkwürdig zusammen gelesenes — um nicht zu sagen: theoretisch ,konstruiertes' — ölbildnis des Philosophen . . .daß man h i e r — wenn irgend wo — von einer .Karikatur Nietzsche's' nachgerade schon reden könnte. 5 7 6

Gewiß war Seidl der Ankauf dieser „Karikatur" für die Villa „Silberblick" im Frühjahr 1901 entgangen, als er gerade in der Vorbereitung seines „Nietzscheana"-Aufsatzes steckte! 577 Nach dem öffentlichen Verriß des Gemäldes durch einen führenden Nietzscheaner bekam Köselitz keine Chance mehr, von Weimar aus den Markt der Verehrergemeinde mit Reproduktionen zu beliefern. Dagegen war dem Rezensenten im Fall der Nietzsche-Herme Karl Donndorfs die Geschäftstüchtigkeit ihres vielseitigen, 1870 in Weimar geborenen Schöpfers zuvorgekommen: als goldgetöntes Titelblatt der Jugend hatte das Porträt bereits im Herbst 1901 beträchtliches Aufsehen erregt. 578 Donndorfs Verbundenheit mit dem Nietzsche-Archiv und den Traditionen der Kunststadt Weimar dokumentiert sich in seiner aufschlußreichen Korrespondenz mit der Schwester des Philosophen, in der auch die hier relevanten Fragen einer Verkaufsstrategie für „Nietzscheana" unverhohlen zur Sprache kamen.

Ebd. S. 384. Seidl lobt an gleicher Stelle Arnold Kramer, weil dieser das Nietzsche-Archiv zur Verbreitung der Porträtvariante anregte. 5 7 5 Vgl. Abb. 21 und 4.4.2. 5 7 6 „Nietzsche-Bildwerke", S. 394—395. - Vielleicht hatte Gustav Büscher, einer der rabiatesten Widersacher des Nietzsche-Kultes, dieses Bild einer „zusammen getragenen Unnatur" (A. Seidl, ebd., S. 395) vor Augen, als er sich rückblickend zu der Behauptung verstieg, daß „Nietzsches Photographie in jedes Verbrecheralbum eingeklebt werden [könne], ohne vermuten zu lassen, daß sie einem Philosophen und nicht einem Zuchthäusler gehört." Nietzsches wirkliches Gesicht. Eine Kritik moderner Heiligenlegenden, 1928, S. 10. 5 7 7 Vgl. die Briefe von R. Köselitz an E. Förster-Nietzsche v. 15. 2.und 4. 4. 1901 in Weimar, NFG (GSA) 72/412, worin der Künstler sich für sein Bildhonorar bedankte und gleichzeitig eine Auftragsvergabe für ein zweites Porträt des jugendlichen Nietzsche, „nur in anderer Pose", anklang. 578 Vgl. die Farbabb. im Jg. 1901, 2, Nr. 41, S. 669, dazu den Brief A. Donndorfs an E. FörsterNietzsche v. 29. 11. 1901; Weimar, NFG (GSA) 72/234. 574

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

Anhand der die Jahrzehnte überdauernden Kontakte zwischen Donndorf und der Nietzsche-Bewegung eröffnet sich die zusätzliche Chance, in den nachfolgenden Abschnitten wenigstens einen von den Malern und Plastikern im Auge zu behalten, die der Weimarer Verehrergemeinde seit ihren Anfängen nahestanden. 579 Schon der Vater des Künstlers, Adolf von Donndorf, durfte sich als gebürtiger Weimarer der besonderen Gunst seiner Vaterstadt und ihres Fürstenhauses erfreuen: im Jahre 1910 setzte man dem Bildhauer, der als Schüler und späterer Mitarbeiter Ernst Rietschels zu Ruhm gelangt war, noch zu seinen Lebzeiten durch die Eröffnung des „Donndorf-Museums" ein Denkmal. So verwundert es nicht, wenn auch unter der Kundschaft des jüngeren Donndorf Namen des europäischen Hochadels auftauchen. Da Frau Förster-Nietzsche ihre Ranggleichheit mit dieser traditionellen Führungsschicht stets herauszustellen suchte, fand Donndorf im Gegensatz zu den meisten seiner jungen Kollegen von Anfang an die Wege zur Villa „Silberblick" geebnet. Im Frühjahr 1901 konnte der Künstler seine erste Nietzsche-Herme bei einem Aufenthalt an der Weimarer Kunstschule modellieren. 580 Dies geschah auf Wunsch Frau Förster-Nietzsches, die einen Vorrat von gefälligen Gipsabgüssen als Geschenke für ihren Freundeskreis parat haben wollte. Daneben war eine Ausführung in Marmor für die Veranda der Archiwilla vorgesehen, während ein Freund Donndorfs ein „Bronzeexemplar" der Herme bestellte. 5 8 1 Unter dieser künstlerisch fragwürdigen Austauschbarkeit zwischen Steinund Metallversion mußte die einheitliche Konzeption des Porträts leiden. Donndorf selbst hielt damit „das Problem der Nietzsche-Darstellung keineswegs für gelöst", sondern ließ seine erste Herme selbstkritisch nur als „Vorarbeit" gelten. 582 Im Widerspruch dazu hatte der Künstler jedoch die Archivleiterin zuvor um das Einverständnis gebeten, mehr Exemplare als ursprünglich geplant „in den Handel zu bringen." 5 8 3 Auch bei der Neufassung der Plastik im Sommer 1902 spielte der Aspekt ihrer ökonomischen Verwertbarkeit eine wichtige Rolle. Diesmal war die Her579

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Karl Donndorfs Wandlungen können als typisch für einen Großteil der um 1900 jungen Nietzscheaner gelten; vgl. dazu Abschn. 4.5.1, zu seiner Haltung nach 1933 Abschn. 4.6.2. A. Seidl irrte in „Nietzsche-Bildwerke", S. 394, als er seine Ablehnung von Donndorfs Arbeit damit zu untermauern strebte, daß diese angeblich „fern vom Orte der Handlung selbst entstanden" wäre. Brief K. Donndorfs an E. Förster-Nietzsche v. 6. 6. 1901 ; Weimar, NFG (GSA) 72/234. Dem Verf. ist die Porträtfassung von 1901 nur durch Fotos bekannt. Erst von einer wahrscheinlich 1902 geschaffenen weiteren Herme ist im Depot des G N M in Weimar ein Gipsmodell vorhanden. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 16. 8. 1901; Weimar, NFG (GSA) 72/234. Brief K. Donndorfs an E. Förster-Nietzsche v. 6. 6. 1901; ebd.

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me — mit Donndorfs Worten — so „modelliert, daß sie im Handel mehr Absatz finden wird." 5 8 4 An gleicher Stelle drängte der Künstler seine Auftraggeberin dazu, die Verehrergemeinde „mit etwas Ungedrucktem von Nietzsche" auf das neue Porträt aufmerksam zu machen. 585 Wenige Tage später wurde dieser Vorschlag konkretisiert, indem Donndorf für den Werbefeldzug entweder Velhagen und Klasings Monatshefte oder den Kunstwart empfahl: Erstere ist . . . die am meisten gelesene Zeitschrift ohne jede Tendenz, in den besten Kreisen verbreitet, der Kunstwart hat eine kleinere Gemeinde, aber gerade die Nietzsche-Gemeinde. 5 8 6

Da die Herme noch zum Weihnachtsgeschäft 1902 als Neuheit auf den Markt kommen sollte, war für den Verkaufserfolg Donndorf zufolge schließlich die „richtige Größe für den Schreibtisch" ausschlaggebend.587 Dermaßen bedarfsgerecht produziert, konnten Donndorfs Gipshermen ihre Wirkung auf den potentiellen Interessentenkreis nicht verfehlen. Zu den ersten Empfängern eines Abgusses gehörte offenbar auch Thomas Mann, da er sich im März 1903 bei der Schriftstellerin Gabriele Reuter für eine ihm gerade geschenkte Nietzsche-Plastik bedankte. 588 Die Herstellung und damit der Konsum von „Nietzscheana" erschöpfte sich — nach der bisherigen Kenntnis des Verfassers — in altbekannten Artikeln der Kunstindustrie: Andenkenbildchen, Öldrucke, Gipsbüsten. Im Vergleich zu den verschiedenen Bismarck-Moden fehlte es im Kult um den führenden bürgerlichen Philosophen des späten 19. Jahrhunderts an extremen Entgleisungen, aber auch an erfrischender Volkstümlichkeit. 589 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 8. 10. 1902; ebd. Hier soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, daß Donndorfs Engagement für ein zeitgemäßes Nietzsche-Porträt nur finanzielle Beweggründe hatte. In Abschn. 3.2.2 wird deshalb auf die beiden Hermen von 1901 und 1902 als Muster für die Ablösung des sog. „kranken" Nietzsche durch einen „gesünderen" Porträttyp eingegangen. 5 8 5 Ebd. 5 8 6 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 19. 10. 1902; ebd. Auf die Jugend als Publikationsorgan wollte Donndorf diesmal verzichten, „denn das Blatt hat in keiner Weise seine [dem Verf. unbekannten] Versprechungen gehalten." Ebd. 5 8 7 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 19. 10. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/234. 5 8 8 „Die Nietzsche-Büste steht gut und wirksam in meinem Zimmer, und oftmals beim Lesen und Schreiben blicke ich, froh ihres Besitzes, zu ihr hinüber." Brief v. 28. 3. 1903, teilweise abgedruckt in: Auktionskatalog 36 der Galerie Gerda Bassenge, Berlin, 1980, Teil 1, S. 353, Nr. 2136. — Leider war nicht zu ermitteln, ob sich Thomas Mann damals von Donndorfs Nietzsche-Porträt, oder — was jedoch unwahrscheinlich ist — von einer Reproduktion nach Max Kruses Bildnis des Philosophen inspirieren ließ; Anfang 1903 waren erst diese beiden Arbeiten auf dem Markt. see Vgl. ζ. B. George Hesekiel, Das Buch vom Grafen Bismarck, Bielefeld und Leipzig, 2 1869, S. 380: „Die Gärtner haben eine Bismarck-Rose und eine riesenhafte Bismarck-Erdbeere, die Modewelt aber kleidet sich in Bismarck-Braun. . . . es gibt indesssen noch eine . . . halbstarke Bismarck-Cigarre." 584

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

Heute steht die Kunstgeschichte, zu einer Aufwertung von Zeugnissen dieses grundlegenden Kultursektors gezwungen, vor einem selbstverschuldeten Trümmerhaufen: aufgrund systematischer Vernachlässigung durch das Fach ist das strittige Material oft gar nicht mehr vorhanden. Die nun überhastet einsetzenden Recherchen kommen meist zu spät. Zukünftig sollte die Massenproduktion von „Nietzscheana" möglichst nüchtern als eine von mehreren Formen der Aneignung des Philosophen ihren gleichberechtigten Platz in der Rezeptionsforschung erhalten. Moralische Empörung über die Nutznießer Nietzsches setzt nur Pauschalurteile und neue Legenden in Umlauf, vor denen abschließend ein Beispiel aus Theodor Lessings — ansonsten seiner Zeit weit vorausgeeiltem — Nietzsche von 1925 warnen soll: Eine ganze Generation hat von ihm gelebt, schamlos genug, den Zeitlosen für die Zeit zu nutzen. . . . das Herzblut, das er blindwütig verspritzte, seine Brust aufreißend, ganze Scharen Doktoren, Literaten, Professoren füllten das nun ab auf Flaschen des Begriffs und bestritten damit so manchen Kulturausschank und so manches Symposion freier Geister. 590

3.1.6.2 Max Kruse als Bahnbrecher

des neuen

Nietzsche-Typus

Mit einigem Unbehagen registriert der Kunsthistoriker die 1898 in Weimar entstandene marmorne Nietzsche-Plastik Max Kruses, weil die Fremdartigkeit seiner „höchst apart geformten Bildnisbüste" 591 den mühsam erarbeiteten Leitfaden für „Nietzscheana" wieder fragwürdig erscheinen läßt. Es wäre selbstgerecht, als Ausweg aus dieser Ratlosigkeit die Popularität Oldes und Kramers zum alleinigen Maßstab für alle Nietzsche-Kunstwerke zu erheben, um danach Kruses Werk unter die künstlerisch folgenlosen Kultprodukte einreihen zu können. Gerade die Unsicherheiten und Utopien des Künstlers bei der Formung eines neuen Nietzsche-Bildes — mit der Schwester des Philosophen zusammen hatten ihm neben dem Porträtauftrag „wunderschöne Pläne" zu einem „feierlichen Aufstieg von der Stadt" zum Archivhügel vorgeschwebt 592 — machten Kruses Weimarer Anregungen zur Keimzelle monumentaler Kultbauprojekte durch die Verehrergemeinde seit der Jahrhundertwende. Um so enttäuschter mußte der Künstler später feststellen, wie wenig Frau Förster-Nietzsche, Graf Kessler und der größte Teil „Neu-Weimars" seine undankbare Avantgardistenrolle zu belohnen wußten. 593 590 591 592 593

S. 114. A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 390; vgl. Abb. 8. Brief E. Förster-Nietzsches an R. Oehler v. 16. 9. 1935; Weimar, N F G (GSA) 72/2597. Vgl. dazu ein 1918 datiertes, allgemein von ungetrübter Einsicht in die Schwächen des Nietzsche-Kultes zeugendes Manuskript des alternden Künstlers, vom Archivar M . Oehler betitelt: „Aus den Erinnerungen des Bildhauers Max Kruse"; Weimar, N F G (GSA) 72/2460.

D i e F o r m u n g des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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Bis heute umgibt Max Kruse die Aura eines kuriosen Außenseiters, dessen Hommage an die priesterhafte Doppelgestalt Zarathustra—Nietzsche im Vergleich zu den Bronze- und Marmorhermen Max Klingers nur selten erwähnt oder abgebildet wird. Kann diese Erstarrung in bequemen Sehgewohnheiten durch den Hinweis auf Kruses ideengeschichtliche Schlüsselstellung innerhalb des Nietzsche-Kultes korrigiert werden? Oder allgemein gefaßt: Wie weit lassen sich tradierte Ressentiments gegen bestimmte Kunstwerke durch historische und ikonographische Gegenargumente abbauen? Unbestreitbar haften Kruses Plastik — wie fast jeder künstlerischen Pionierleistung — eine Reihe von Halbheiten an: beispielsweise drängte der Widerspruch zwischen der gleich einer Sphinx gelagerten, um altägyptisches Pathos bemühten Steinskulptur und den träumerisch nach oben gerichteten Augen des Philosophen die meisten Nietzscheaner dazu, Kruses Interpretation als „Karikatur" ihres Vorbildes zu mißbilligen. 594 Gegen den Strom emotionaler Proteste sogar aus dem Kollegenkreis des Künstlers S9S bewies Arthur Seidl selbständiges Urteilsvermögen, als er in „Nietzsche-Bildwerke" dem Angegriffenen indirekt das Wort erteilte: Kruse seinerseits erklärte mir [A. Seidl] gelegentlich, daß er sich in diesem viel angefochtenen Werke weniger Nietzsche selbst als vielmehr seine gesammte Philosophie, wie sie eben auf ihn persönlich gewirkt, zu einem Monumentaleindrucke gleichsam verkörpert hätte. 5 9 6

Ein Vierteljahrhundert später präzisierte Kruses Biograph Fritz Stahl diesen Fingerzeig, schwerlich ohne vorher das Imprimatur des Porträtisten und aufrichtigen Nietzsche-Verehrers eingeholt zu haben: Er [Kruse] wollte den auf den eisigen Höhen des kühnsten Denkens vereinsamten Propheten ausdrücken und das hohe Pathos seiner Sprache. Deshalb setzte er das schmerzensreiche Haupt auf eine Basis, die an einen reich geschmückten und doch strengen Priesterornat denken läßt. 5 9 7

Jedoch gipfelten Stahls Bemerkungen über den als unzeitgemäß, altdeutsch und antiakademisch charakterisierten Bildhauer nicht — wie zu erwarten — in

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Auch Harry Graf Kessler half diese Fehleinschätzung z. B . in einem Brief an E . FörsterNietzsche v o m 6. 5. 1902 verbreiten; Weimar, N F G ( G S A ) 72/121 e. Der Künstler vermutete deshalb nicht zu Unrecht, „ d a s s Kessler sie [die Archivleiterin] überredet hat, eine Büste von Klinger machen zu lassen. . . . " , um diese an Stelle von Kruses Plastik im Hauptraum der Villa „Silberblick" aufzustellen. „ A u s den Erinnerungen des Bildhauers Max K r u s e " ; Weimar, N F G ( G S A ) 72/2460. Curt Stoeving etwa war Kruses Büste „ i m m e r ein Schrecken", Karl Donndorf fand sie gleichfalls „ g a n z m o n s t r ö s " . Briefe an E . Förster-Nietzsche v. 7. 10. 1901 b z w . 7. 7. 1902; Weimar, N F G ( G S A ) 72/120k b z w . 72/234. S. 390. Max Kruse, Berlin, 1924, S. 22.

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

einer Laudatio auf Kruses Büste des großen „Unzeitgemäßen", sondern im Lob für die früher entstandenen Holzskulpturen, „die sein Eigentliches sind." 5 9 8 Warum der Künstler für die Porträtbüsten Max Liebermanns und Walter Leistikows schon 1893 dieses wiederentdeckte „Material der deutschen Meister" bevorzugt hatte, in Weimar aber auf eine konventionelle Marmorausführung zurückgriff, erklärte Stahl dabei nicht. 5 9 9 Vermutlich befürchtete Frau Förster-Nietzsche den Skandal, den eine eventuell sogar polychrom gefaßte Holzskulptur in ihrem Freundeskreis ausgelöst hätte. In der Frühphase der Nietzsche-Bewegung durfte kein Kunstwerk auf dem „Silberblick" Einlaß finden, das den Repräsentationsanspruch der Archivherrin ins Lächerliche zu ziehen drohte. Für die Mentalität und Belastbarkeit einer Verehrergemeinde besaß die Schwester des Philosophen seit der Bekanntschaft mit dem Hause Wagner ein weitaus feineres Gespür als ihr Archivar und Verfasser der „Nietzsche-Bildwerke". Seidl überschätzte die Chance seiner Vermittlerrolle, indem er die eigene Begeisterung für Kruses schroffen Symbolismus in einem Leserkreis entzünden wollte, der sich jederzeit von der Virtuosität neobarocker Porträtbüsten — man denke an das hohe Niveau eines Reinhold Begas — verwöhnen lassen konnte. Nur wenige Persönlichkeiten brachten den Elan auf, sich kurzerhand von den Leitbildern wilhelminischer Hofkunst loszusagen und wie Detlev von Liliencron schon 1903 Sympathie für exotische Stilvarianten zu bekunden. 6 0 0 Darüberhinaus verdient an dieser Stelle Fritz Stahls These Beachtung, nach der sich in der kubischen Geschlossenheit wie der „seelischen" Intensität von Kruses Nietzsche-Büste Vorformen expressionistischer Porträtkunst verbergen. 601 Hingegen bedeuteten weitreichende ästhetische Spekulationen für die Zusammenarbeit zwischen Kruse und Frau Förster-Nietzsche eher ein Risiko: hier standen handfeste ökonomische Interessen von Seiten der Archivleitung auf dem Spiel. Diese Motive sind aus den späten Aufzeichnungen des Künstlers erschließbar. Ohne vorwurfsvollen Unterton erinnerte sich Kruse darin an gemeinsame Pläne zu einer Ubersiedlung nach Weimar, die immerhin auf Ministerebene erörtert wurden. 6 0 2 Das Nietzsche-Archiv bereits 1898 als „geisti598 599 600

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Ebd. Ebd., S. 21. So schrieb der Dichter am 2. 4. 1903 an seine Gönnerin E. Förster-Nietzsche: „Uber meinem Schreibtisch steht auf einer Empire-Console eine ausgezeichnete Nietzsche-Büste. Es ist die von Kruse. Die altägyptischen Priesterbänder über den Schultern kommen mir immer wie zu Zarathustra gehörend vor. Es können ja auch persische sein." Weimar, N F G (GSA) 72/440. — Nach A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 391, wurden Gipsabgüsse des Werkes von der Berliner Kunsthandlung Keller und Reiner vertrieben. Max Kruse, S. 22. — Zu stützen wäre die Einbindung Kruses in diese Traditionslinie etwa durch William Wauers (1866—1962) bekannte Bronzeherme des Starm-Herausgebers Herwarth Waiden von 1915 (Berlin-West, Neue Nationalgalerie). Vgl. „Aus den Erinnerungen des Bildhauers Max Kruse"; Weimar, N F G (GSA) 72/2460.

Die Formung des Nietzsche-Mythos der neunziger Jahre

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ges Zentrum" zu etablieren und entsprechend auszustatten, scheiterte jedoch; denn — wie Kruse lakonisch feststellte — „Geld war nicht d a " . 6 0 3 Bei dieser Lage der Dinge erhebt sich die Frage, welche guten Dienste gerade Max Kruse den Unternehmungen Frau Förster-Nietzsches leisten konnte. Der 1854 in Berlin geborene Bildhauer, Maler und Graphiker hatte seit seinem spektakulären Debüt mit dem „Siegesboten von Marathon" für Überraschungen in der hauptstädtischen Kunstszene der 80er Jahre gesorgt. Damals wurde auch der Grund gelegt zu einer fast familiären Vertrautheit zwischen Kruse und dem Weimarer Großherzog Carl Alexander, dem Nestor unter den regierenden deutschen Fürsten. Da der vielseitige Künstler zudem ein Architekturstudium absolviert hatte und auch kunsttheoretische Fragen überblickte, eilte ihm bei aller Exzentrik der Ruf eines faszinierenden Gesprächspartners voraus. Später, als Kruse schließlich nach den Porträtsitzungen in der Villa „Silberblick" die vollendete Skulptur vorstellen konnte, überwand Carl Alexander seine aristokratische Reserve gegen den Kult um einen noch lebenden „Modephilosophen" und betrat erstmals die Archivräume, um vor der Nietzsche-Büste seines Freundes „gerührt" zu verharren; auch die Schwester des Philosophen „war überglücklich und hat lange geweint vor der fertigen Arbeit." 6 0 4 Von diesem Zusammentreffen mußte eine nicht zu überschätzende Signalwirkung ausgehen. 605 Damit ist schon einer der Beweggründe für das pseudohöfische Zeremoniell aufgedeckt, das die Schwester Nietzsches auf dem „Silberblick" zu entfalten begann und dessen Kritik einen Schwerpunkt in den beiden restlichen Abschnitten des dritten Kapitels bilden wird. Zunächst ist allerdings das weitere Schicksal von Kruses umstrittener Nietzsche-Interpretation zu referieren. Ein nachträglicher Verkauf an die Schwester des Philosophen oder gar eine demonstrative Aufstellung in Nietzsches Sterbehaus blieb zwar aus, 6 0 6 gleichwohl gelangte die Büste zur Genugtuung Kruses in die Kunstschau des Deutschen Reiches auf der Brüsseler Weltausstellung von 1910. Innerhalb eines Jahrzehnts war Nietzsche, wenn nicht zum offiziellen Staatsphilosophen, so doch zum würdigen Nachbarn der Bismarck-Büsten und -Gemälde von Reinhold Begas und Franz von Lenbach aufgestiegen. Neben Leistungen von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Max Liebermann gehörte Kruses Büste — dem Katalogvorwort Paul Clemens gemäß — Ebd. Ebd. eos Vielleicht überzeichnete Kruse in seinen „Erinnerungen" die eigene Rolle bei dem Vorhaben, Nietzsche salonfähig zu machen, wenn er rückblickend einschätzte: „Im Jahre 98 war Nietzsche noch verfehmt und geächtet bei allen staatserhaltenden Gesellschaftskreisen. . . . " Ebd. 6 0 6 Noch 3 Jahre nach der Entstehung der Büste fand sich kein Kaufinteressent, obwohl der Künstler in einer finanziellen „Krisis" steckte. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 13. 8. 1901; Weimar, N F G (GSA) 72/422. 603

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900?

zur „Auswahl des Besten, was die deutsche Kunst [in den Jahren 1890 bis 1910] hervorgebracht hat." 6 0 7 In das Erstaunen über Kruses Originalität mischte sich selbst bei gutwilligen Kritikern wie Ludwig Hevesi die Skepsis, ob Nietzsches ,,tragische[r] Persönlichkeit" nicht in anderer Formensprache, etwa ,,in der nervig-nervösen Weise Rodins" besser beizukommen wäre. 6 0 8 So beruhigte sich zunehmend die Diskussion um Kruse und seine Nietzsche-Büste, die über Jahrzehnte hinweg im Besitz des Künstlers verblieb, bis sie 1939 erneut dem Archiv zur Ausschmückung der im Bau befindlichen Weimarer Gedächtnishalle angeboten wurde. 6 0 9 Nachdem das Werk lange verschollen war, hat es endlich — 80 Jahre nach seiner Fertigstellung — verdiente Aufnahme in einer Nietzsche-Gedenkstätte gefunden. 610

3.2 Das „Neue Weimar" an der Wende des

Jahrhunderts

3.2.1 Zwischen Heimatkunst und Moderne Durch Max Kruses Fernbleiben von den künstlerischen Aktivitäten auf dem „Silberblick" schloß die Bilanz des Weimarer Nietzsche-Kultes zu Ende der 90er Jahre mit überwiegend negativen Akzenten ab. Sobald aber die Frage nach dem Format des Kreises um Elisabeth Förster-Nietzsche auf den Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg ausgedehnt wird, muß man der Archivleiterin einen unerwartet raschen Zuwachs ihres gesellschaftlichen Einflusses bescheinigen. Einer weitverbreiteten Meinung folgend, ging auch der Verfasser dieser Studien anfangs davon aus, daß der kulturelle Aufschwung „Neu-Weimars" seit 1902 allein auf die zielstrebigen Initiativen van de Veldes wie des Grafen Kessler zurückzuführen wäre. Nach diesem Modell bliebe für die Schwester des Philosophen und ihre auf dem „Silberblick" verkehrende Anhängerschaft nur die passive Rolle von Nutznießern übrig, die durch die weltweiten Kontakte der Stilreformer mehr oder weniger zufällig der provinziellen Enge Weimars entrissen wurden. Dagegen dokumentieren zahlreiche unveröffentlichte Briefe von Max Freiherr von Münchhausen (1868—1920), einem engen Vertrauten der Archiv-

Sammlung Deutscher Kunstwerke Brüssel 1910, Siegburg, 1910, S. IX. Acht Jahre Secession. Kritik — Polemik — Chronik, Wien, 1906, S. 363 (Kritik zur Ausstellung in der Sezession v. 1.2. 1902). 609 Vgl. den im Namen Kruses verfaßten Brief Odo Krohmanns an die Archivleitung v. 20. 3. 1939; Weimar, NFG (GSA) 72/2613. - Der Archivar M. Oehler lehnte das Angebot wegen zu hoher Preisforderung ab und schlug in einer Marginalie einen Ankauf der Büste durch die Reichskulturkammer vor. 6 1 0 Im Nietzsche-Haus in Sils-Maria. Vgl. dazu C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 3, S. 363. 607 608

Das „Neue Weimar" an der Wende des Jahrhunderts

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leiterin, wie konsequent man bereits 1902 auf dem „Silberblick" den eigenen Entscheidungsspielraum nutzte und über das Risiko einer Parteinahme für van de Velde und gegen einen konservierenden Dogmatismus im Sinne SchultzeNaumburgs unterrichtet war. Diese Alternative zwischen „Heimatkunst" und „Moderne" bestätigt eine empörte Zuschrift Max von Münchhausens, in der er seine mütterliche Freundin Elisabeth Förster-Nietzsche über in Berlin umlaufende gegnerische Propagandaparolen verständigte: Weimar wäre danach zum „Mittelpunkte der Heimatkunst" ausersehen. 611 Die Schärfe von Münchhausens Kommentar zu dieser Herausforderung — „Das werden Sie sich doch nicht bieten lassen!!" — sowie der nachfolgende Appell an die Archivleiterin — „Aber, das , n e u e W e i m a r ' s o l l s e i n e n S t e m p e l v o m N i e t z s c h e - A r c h i v aus e r h a l t e n ! " — sind beredte Zeugnisse einer von Anfang an unfruchtbaren Spaltung zwischen den beiden Oppositionsgruppen, die sich in der Goethe-Stadt gegen die Kunsthegemonie des wilhelminischen Berlin sammeln wollten. 6 1 2 Daß man im Kreis um van de Velde und Kessler ausgerechnet eine fast noch biedermeierliche thüringische Residenzstadt als Nährboden einer „fröhlichen, f r e i e n , nicht imperialistischen Kunsttätigkeit" erträumte, 613 mußte selbst vielen Beteiligten schon nach wenigen Jahren als paradoxe Kräfteverschwendung am falschen Ort erscheinen. Nur das Pathos, mit dem neuen Jahrhundert und der Nietzsche-Bewegung im Rücken zugleich am Morgen einer neuen Renaissance zu stehen, konnte anfangs über eine nüchterne Bestandsaufnahme der Kräfteverhältnisse am Weimarer Hof und in dem ihm ergebenen Bürgertum hinwegtäuschen. Zweifellos haben in d i e s e r Hinsicht Adolf Bartels und Friedrich Lienhard mehr Realitätssinn bewiesen, indem sie als führende Ideologen der Heimatkunstbewegung Weimar zum Wohnort bestimmten, um vom klassischen Boden Thüringens aus ihre völkische Agitation in den großen Industriezentren vorzubereiten. Neben der langfristig erfolgreichen Strategie der „Völkischen" wirkt die Ansiedlung der beiden Kosmopoliten van de Velde und Kessler wie ein Zwischenspiel, geradezu wie ein tollkühner Handstreich gegen die Kamarilla um den allgewaltigen Oberhofmarschall General Aimé von Palézieux-Falconnet.

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Brief v. 22. 9. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/121 i. Vier Tage später, am 26. 9., behauptete Münchhausen außerdem, daß der neue Kunstschuldirektor Olde „auf Seiten der ,Heimatkunstbewegung'" stehen würde. Ebd. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 22.9. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/121 i. - Auf diese Spannungen wurde schon in den Abschnitten 3.1.3 (S. 106—108) und 3.1.5.2 (S. 125—126) hingewiesen. Brief Paul Kuhns an Henry van de Velde v. 17. 6. 1903, worin der Verfasser der Festschrift für Das Nietzsche-Archiv über ein Gespräch mit dem für die Neu-Weimarer Kunstpolitik gewonnenen Max Klinger berichtete. Weimar, NFG (GSA) 72/122 f.

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Uber Einzelheiten des Intrigenspiels zwischen der zopfig anmutenden Hofelite um Palézieux und ihrer agileren Konkurrenz, dem sich im Zeichen Nietzsches treffenden „Weimarer Kreis" von Intellektuellen, Künstlern und Diplomaten, vermitteln Kesslers Briefe an seine Freunde Bodenhausen und Hofmannsthal teilweise amüsante Einblicke. 614 „Uberhaupt ragt hier schon das Komische deutlicher in die Gesellschaft herein als in Berlin", notierte sich Kessler anläßlich eines Hofballs im Januar 1902, um das dortige Publikum etwas zu selbstbewußt als „Reinkulturen des menschlichen Schimmelpilzes" zu klassifizieren.615 Da sich Kessler in verständlichem Zorn oder aus Enttäuschung über die Mediokrität seiner Umgebung gelegentlich zu Pauschalurteilen hinreißen ließ, kann dieses hoffnungslose Bild der Hofgesellschaft nicht ohne einige Anmerkungen übernommen werden. Hierbei verdient der bürgerlich-liberale Staatsminister Karl Rothe als verläßliche Stütze der kulturpolitischen Erziehungsarbeit Kesslers und van de Veldes besondere Erwähnung. Die Sympathien des — selbst nach dem Urteil seiner aristokratischen Widersacher — „talentvollen Emporkömmlings und Hofdemokraten" 616 galten auch der Mission Elisabeth Förster-Nietzsches, zu deren Gesellschaften sich der Minister oft und gern auf dem „Silberblick" einfand. Uber das Mäzenatentum des amusischen, den preußischen Offizier herauskehrenden jungen Großherzogs Wilhelm Ernst hat die Nachwelt unter dem Eindruck von Kesslers Sturz und den späteren Schikanen gegen van de Velde ein vernichtendes Urteil gefällt. 617 Die Kampagne gegen die beiden exemplarischen Verkünder der „Moderne" in Deutschland scheint aber nicht von Wilhelm Ernst, sondern von seinem stets in Kunstangelegenheiten hineinredenden Onkel Kaiser Wilhelm II. forciert worden zu sein. Dessen Vertrauen genoß in Weimar vor allen anderen Palézieux, der sich wie sein kaiserliches Vorbild als künstlerische Autorität wähnte. Uberrasch enderweise gerieten noch kurz vor Kesslers Niederlage gegen Palézieux im Sommer 1906 der Großherzog und sein Hofmarschall anläßlich der Dritten Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden über die Qualität zeitgemäßer Kunstproduktion in Streit. 614

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Vgl. hierzu insb. Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898-1929, S. 111-112, 114—115 u. 117—123; Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894-1918, S. 6 1 - 7 0 u. 8 2 - 8 3 . Tagebuchnotizen, heute im Bestand des Deutschen Literaturarchivs, Marbach a. N . (Bd. III, 21. 7. 1897 - 24. 3. 1902), zit. nach H . Gantner-Schlee, Hans Olde, S. 127 u. 128. Hermann Freiherr von Egloffstein, Das Weimar von Carl Alexander und Wilhelm Emst. Erinnerungen, Berlin, 1934, S. 113. Vgl. ζ. B. die Einführung von Karl-Heinz Hüter zu: Henry van de Velde Weimar 1902—1915. Gedächtnisausstellung zu seinem 100. Geburtstag am 3. April 1963, Weimar, 1963, S. 8. — Kessler bezeichnete Wilhelm Ernst 1906 sogar als „pathologisches Objekt". Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894—1918, S. 83.

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Diese Szene mußte Fritz Schumacher, der bekannte Nietzscheaner und Organisator der Kunstgewerbeschau, miterleben, als er seinen beiden Gästen die Exponate erläuterte: Einem unerwarteten Interesse begegnete ich . . . beim Großherzog von SachsenWeimar. Er hatte seinen notorisch allem Modernen grimmig verfeindeten Oberhofmarschall, Herrn von Palézieux, m i t g e b r a c h t . . . Er [Palézieux] suchte verschiedentlich . . . die Funken zu ersticken, indem er auf den Mangel an Zeit hinwies, bis schließlich der Großherzog ihn patzig ansah . . , 6 1 8

Um Fehlschlüssen vorzubeugen: dieses erstaunliche Zeugnis Schumachers soll hier nicht als Alibi dienen, um den Souverän und große Teile der Adelskaste auf Kosten eines senilen Oberhofmarschalls von der Schuld freizusprechen, daß die weltoffene Kunstpolitik Kesslers schon nach wenigen Jahren erstickt wurde. Angesichts der vom Kaiserhaus ausgeübten Pression bleiben jedoch die Spannungen zwischen dem Großherzog und dem Kreis um seinen engsten Berater Palézieux bemerkenswert und zeigen deutlich den Zwiespalt des offiziellen Weimar im Hinblick auf Kesslers Erfolge. Dabei hatte sich anfangs selbst der Oberhofmarschall nicht dem Elan einer neuen Weimarer Kunstblüte entziehen wollen und Anschluß an junge Künstler gesucht. 619 Mit der Etablierung des sezessionistischen „Deutschen Künstlerbundes" in Weimar 1903 empfanden sich jedoch die Konsumenten des alten akademischen Kunstbetriebes herausgefordert. Deren Ressentiments fanden nun in Palézieux einen im Namen von Tradition und Sittlichkeit auftretenden Anwalt. Offenbar bildeten von Seiten der Hofbeamten aber Neid und Unterlegenheitsgefühle die Hauptmotive im Intrigenspiel gegen das „Neue Weimar". So brachte es der Geheimsekretär des Großherzogs, Hermann Freiherr von Egloffstein, selbst aus dem Abstand von 30 Jahren nicht über sich, in seinen prätentiösen Memoiren zur Regierungszeit Wilhelm Emsts den „Weimarer Kreis" um Kessler und van de Velde auch nur mit einem Wort zu erwähnen. 620 Von den meisten Weimarer Lokalgrößen in Politik und Kunst als fremdländische Verschwörung beargwöhnt, waren die Zusammenkünfte auf dem „Silberblick" oder bei Kessler und van de Velde ihrer Anlage nach für konspirative Absichten denkbar ungeeignet. In Wahrheit handelte es sich dabei nämlich um ständig fluktuierende, avantgardistische Diskussionsforen, die da-

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Fritz Schumacher, Stufen des Lebens. Erinnerungen eines Baumeisters, Stuttgart u. Berlin, 1935, S. 259-260. Vgl. H. van de Velde, Geschichte meines Lehens, S. 222. Vgl. Das Weimarvon Carl Alexander und Wilhelm Ernst, 1934, 4. Abschn., „Unter Wilhelm Ernst. 1901/08" (S. 110—132). Gleichzeitig aber schmückte Egloffstein seine „Erinnerungen" mit einem Nietzsche-Motto!

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durch auch viele ausländische Anhänger der „Moderne" in dem zentral gelegenen Weimar Station machen ließen. 6 2 1 Neben den drei genannten Häusern bildete die Gastlichkeit des hochkultivierten Dresdener Gesandten und Sächsischen Staatsministers Alfred von Nostitz-Wallwitz einen besonderen Anziehungspunkt für die Mitglieder des „Weimarer Kreises". 6 2 2 Während der fast vier Jahre vom Herbst 1902 bis zum Sommer 1906, in denen Kessler für die Ausstellungspolitik des Museums für Kunst und Kunstgewerbe verantwortlich war, wurden auch die dortigen Vernissagen zu glanzvollen Treffpunkten der künstlerischen Avantgarde Europas erhoben. Dieses Niveau versuchte Kessler nach seiner Entlassung als Privatmann durch Reisen und neue Projekte für Weimar aufrechtzuerhalten, wobei ihm sein Trotz gegen die reaktionäre Strömung am Hof zusätzliche Kräfte verlieh. 6 2 3 So gelang es, seine auswärtigen Freunde Hofmannsthal und Bodenhausen weiterhin an den „Weimarer Kreis" zu binden und prominente Besucher wie Gerhart Hauptmann, André Gide, Rainer Maria Rilke und Richard Dehmel für die Pflege des Nietzsche-Erbes auf dem „Silberblick" zu engagieren. Ungeachtet der durch Max Kruse vermittelten Kontakte zwischen der Archivleiterin und dem Fürstenhaus 624 blieb das Klima zwischen beiden Institutionen durch latente Rivalitäten gekennzeichnet: von der kunstsinnigen Großherzoginmutter Pauline, die allerdings schon 1904 verstarb und nur die Anfänge eines „Dritten Weimar" miterlebte, ist ein negatives Urteil über Elisabeth Förster-Nietzsche bezeugt. 6 2 5 Vermutlich störte die geborene Aristokratin — zusammen mit vielen anderen Besuchern der Villa „Silberblick" — die bis in Details gehende Nachahmung höfischen Lebensstils durch die Archivherrin. Kesslers Notizen über seinen ersten Besuch Weimars im August 1897 sind noch von deutlicher Reserve gegen das Verkrampft-Unorganische dieser Selbstdarstellung gekennzeichnet :

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Ludwig von Hofmann, zum engeren Freundeskreis gehörend, charakterisierte diese Mittlerrolle der Goethestadt in einem Brief an die Archivleiterin vom 17. 2. 1910: „. . . in Weimar lebt man wie in einer Zentrifugalmaschine. . . ." Weimar, NFG (GSA) 72/367. Die Ehefrau des Diplomaten, Helene von Nostitz-Wallwitz, hat in ihrem Rückblick Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, Leipzig, 2 1925, ein liebevolles Bild der schon etwas überfeinerten Atmosphäre dieser Weimarer Salons nachgezeichnet: vgl. ebd. S. 134—155. Karl Scheffler dagegen betonte in seinen Memoiren Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeitsund Lehensbericht, Leipzig u. München, 2 1948, das dekadente Moment in der Geselligkeit des „Weimarer Kreises": vgl. ebd. S. 31—32. Anfang 1907 gipfelten diese Spannungen zur Hofkamarilla in Duellforderungen Kesslers an Palézieux und Egloffstein; der Oberhofmarschall beging Selbstmord. Vgl. S. 141. Vgl. Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894—1918, S. 166 (Brief Bodenhausens v. 10. 11. 1903; er war damals als Hofmarschall der Großherzoginmutter im Gespräch).

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Nietzsches' Diener am Bahnhof; in Livrée; auf den Knöpfen fünfzackige Krone. Das Haus . . . wohlhabend aber ohne Rücksicht auf die raffinierteren Kulturbedürfnisse eingerichtet. . . . In den Empfangsräumen zu ebener Erde sind hier rote Sammetmöbel und eingerahmte Familienphotographien mit Erinnerungen aus Paraguay untermischt, Spitzenschleiern, Stickereien, Indianer Majoliken; Alles in erster Linie des stofflichen Interesses wegen, nicht um einen ästhetischen Gesamteindruck hervorzurufen, aufgestellt. . . . 6 2 6 1

Aus den Erinnerungen des Weimarer Dichters Wilhelm von Scholz an Elisabeth Förster-Nietzsche und ihren „Hof auf dem Silberblick" spricht dagegen fast Mitleid mit der Verstellung, zu der die Archivleiterin auf dem Parkett des hochgestimmten „Weimarer Kreises" gezwungen war; denn im „Kaffee- und Kuchen-Zirkel" ihrer Naumburger Jugendfreundinnen fühlte sie sich insgeheim auch im Alter noch wohler. 6 2 7 Jede Analyse des Nietzsche-Kultes kann nur gewinnen, wenn sie dessen Deformationen vor allem als Ausdruck sozialer Spannungen betrachtet, statt sich mit einer weiteren Karikatur der Archivleiterin als mißratene „reine Hofdame" über die Kleinbürgerlichkeit der Bewegung zu belustigen. 628 Unter dieser Prämisse setzt es in Erstaunen, wie lange sich die Schwester Nietzsches — ihrer inneren Natur zuwider — der Führung der internationalen „Moderne" anvertraute. Das Fluidum der Villa „Silberblick" mußte allerdings in dem Maße wieder verlorengehen, in dem Kessler, van de Velde und andere aus Weimar vertrieben wurden oder sich nach dem Vordringen nationalistischer Kräfte vom Nietzsche-Kult zurückzogen.

3.2.2 Der Ruf nach dem gesunden Nietzsche Während Kessler und van de Velde mit viel Optimismus nach einer neuen Aufgabe für Weimar suchten, belebte sich auch die Diskussion innerhalb der Nietzsche-Gemeinde, ob die aus dem Anblick des leidenden Philosophen geschaffenen Bildnisse ihren Platz inmitten einer zukunftsfrohen Kunst des 20. 626

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„Harry Graf Kessler. Aus den Tagebüchern", S. 72 - 73. - Fritz Rutishauser dagegen beeindruckten die „sozusagen luxuriös eingerichteten] . . . vier Zimmer des Parterres. . . . in den Räumen herrscht ein angenehmes Halb-Licht, fast allenthalben stehen Blumen." Brief an einen Unbekannten v. 24. 4. 1899, „Materialien zur Geschichte des Nietzsche-Archivs"; Weimar, NFG (GSA) 72/2460. Für zahlreiche unvorbereitete Nietzsche-Verehrer mußte der Umbau dieses gründerzeitlich anmutenden Interieurs durch van de Velde in helle und klar gegliederte Räume (1903) eine Enttäuschung bedeuten. Vgl. zur neuen Archiveinrichtung 4.3. An Ilm und Isar. Lebenserinnerungen, Leipzig, 1939, S. 97 u. 104. Das ganze dem NietzscheArchiv gewidmete 18. Kap. (S. 97-104) bezeugt eine bei diesem Thema seltene Unbefangenheit des Verfassers. So Peter Gast in einem Brief an Franz Overbeck v. 4. 8. 1900, zit. nach: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 380 (ursprünglich geschwärzte Textstelle).

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Jahrhunderts würden behaupten können. Zu Lebzeiten Nietzsches hatte dessen tragisches Dahindämmern in der Villa „Silberblick" jeden Versuch überschattet, die Verehrergemeinde auf das Gegenbild eines ungebrochenen Heroen oder weltentrückten Klassikers zu orientieren. Als sich Ende August 1900 die Trauergäste im Heimatdorf des Philosophen versammelten, war dagegen die künstlerische Formung eines „DenkmalNietzsche der Nietzscheaner" 629 zum Gebot der Stunde geworden: das enttäuschende Röckener Erbbegräbnis — wie die dem christlichen Ritus nachempfundene Totenfeier — mußte höchst peinlich gegen das Pathos der Trauerreden abfallen. 630 Wiederum vertraute Kessler seine Sorgen um die Stilsicherheit des Nietzsche-Kultes dem Tagebuch an, indem er sich das mangelnde Format der ihn umgebenden Jüngerschaft eingestand: Stoeving, Heinze, Gersdorff, Gast usw. lauter ganz gute aber ganz mittelmässige Menschen; Nichts an Geist oder Charakter, das hervorragt, auch nicht die kräftige Einheit einer jungen Saat; vorläufig weder so noch so Z u k u n f t . 6 3 1

Für die Nietzsche-Bewegung kam erschwerend hinzu, daß es in Weimar keine „Verständigungsstelle der engeren Gesinnungsgenossen" gab, wie sie die Bayreuther Blätter für den Kreis um die Villa „Wahnfried" darstellten. 632 Die Anregungen Max von Münchhausens zu einer fortschrittlichen „Revue", die „in ihrem H a u p t t e i l nur in seinem [Nietzsches] Geiste geleitet sein" sollte und in ihrem „ N e b e n t e i l : ,Das neue W e i m a r ' . . . die Interessen des Weimarer Kulturkreises" durchzusetzen hätte, blieb 1902 im ersten Anlauf stekken. 6 3 3 Trotz Zeichen äußerer Konsolidierung — Auflagenrekorde, Besucherstrom und Veranstaltungen auf dem „Silberblick" — fehlte es deshalb nach dem Tode Nietzsches in seiner Anhängerschaft an intellektuellem Zusammenhalt: ohne offizielles Organ konnte kein Programm formuliert werden. Um so mehr kam es jetzt auf die Integrationskraft visueller Leitbilder für eine über-

C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 433. 630 Vgl di e v o m Nietzsche-Archiv herausgegebene Gedenkschrift Zur Erinnerung an Friedrich Nietzsche, Weimar, 1900, mit den Beiträgen von Ernst Horneffer, Curt Breysig, Adalbert Oehler und Peter Gast. — Abschiedsworte am Grabe sprachen u. a. Arthur Seidl, Curt Stoeving und Raoul Richter: „Die Kirchglocken läuteten, ein Chor sang in geistlichem Ton, auf dem Sargdeckel war sogar ein silbernes Kreuz geblieben." „Harry Graf Kessler. Aus den Tagebüchern", S. 80. 6 3 1 Ebd., S. 81. - Auch Fritz Schumacher war rückblickend über die Diskrepanz zwischen dem großen Toten und seiner Trauerfeier verärgert: „Ach, wie anders hatte mir sein Stil vorgeschwebt, als ich mein Nietzsche-Denkmal zeichnete." Stufen des Lebens, S. 201; vgl. dazu 4.2. 6 3 2 W. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 69. 6 3 3 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 1 . 9 . 1902; Weimar, N F G (GSA) 72/121 i. 629

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wiegend jugendliche Gemeinde an, die sich im Namen der kulturreformerischen Schriften Nietzsches um das Archiv zu sammeln begann. Diese Leserschichten entdeckten in den Forderungen der Geburt der Tragödie wie der Unzeitgemäßen Betrachtungen eine selbstbewußte, praxisnahe Philosophie, die ihrem Lebensgefühl entsprach. 634 Der angekränkelte, nur mit sich beschäftigte „ D a n d y " sollte als Salonidol der 90er Jahre entlarvt und durch den von Nietzsches Enthusiasmus erfüllten „Volkserzieher" verdrängt werden. 635 Die fundamentale Bedeutung dieser Gemeinschaftsideologie junger bürgerlicher Intellektueller für den Wandel des Nietzsche-Bildes nach 1900 ist evident. Aus diesem Grunde müssen dessen einflußreichste Wegbereiter wie etwa Georg Fuchs — bei aller Dubiosität ihrer Lehren — zu Beginn des vierten Kapitels zu Wort kommen. Vorerst erscheint es aber sinnvoller, von der Unzufriedenheit der Künstler mit ihren bisherigen Kultwerken auszugehen und auf die begleitenden, noch planlos artikulierten Wünsche der Verehrergemeinde nach Monumentalität ihrer „Nietzscheana" hinzuweisen. Beispielhaft sei im Folgenden auf Karl Donndorfs Gedanken zu seiner überarbeiteten Nietzsche-Herme von 1902, daneben auf die große Sitzstatue Max Kleins von 1903 — Abbildung sechzehn — verwiesen, beides Werke einer Umbruchszeit. Schließlich dokumentieren die Praktiken Rudolph Saudeks bei seiner Korrektur der nur fragmentarisch gelungenen Totenmaske des Philosophen — Abbildung elf — die Krise der „Nietzscheanea", zugleich die Suche nach neuen, authentischen Vorbildern in den Jahren nach 1900. Die besondere Intuition Karl Donndorfs für die Kultbedürfnisse der Verehrergemeinde ist schon im Abschnitt über die ökonomische Verwertbarkeit von „Nietzscheana" zur Sprache gekommen. 636 Der Künstler hatte sich eher als die meisten seiner Konkurrenten damit abgefunden, daß nach dem Tode Nietzsches die Autorität der Leistungen Oldes und Kramers nicht mehr zu übertreffen sein würde, und nur die bewußte Abkehr von dieser Bildtradition neue Aufträge und lohnende Geschäfte versprach. Den Verkaufserfolg seiner ersten, 1901 durch die Jugend popularisierten Nietzsche-Herme, glaubte Donndorf im folgenden Jahr durch eine verbesserte Bildnisvariante noch zu steigern, indem er sich alle M ü h e [gab], das Melancholische der früheren Büste in einen lebensfreundlicheren A u s d r u c k zu verändern. . . . E s ist eine viel gesündere Version eines 634 Vgl. G. Deesz, Die Entstehung des Nietzsche-Bildes in Deutschland, 4. Kap. „Der Kulturphilosoph" (S. 23—38) sowie die Erläuterungen zu einem Relief Siegfried Schellbachs — Abb. 5 in Abschnitt 3.1.2 (S. 95-96). 6 3 5 Dolf Sternberger, „Panorama des Jugendstils", in: Ein Dokument Deutscher Kunst, Ausst.Kat., 1976, Bd. 1, S. 8. 6 3 6 Vgl. 3.1.6.1.

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Das Nietzsche-Archiv als künstlerischer Knotenpunkt um 1900? Nietzsche-Porträts geworden, in der nichts Krankes mehr anklingt, die vielmehr . . . [ausdrückt]: ,Ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel!' 6 3 7

Wie Donndorf empfanden auch andere Künstler die Verbildlichung einer neuen Nietzsche-Legende als immer drängenderes Desiderat. Carl Weinhold, der 1904 eine „Nietzsche-Zarathustra-Statue" des „königlichen Philosophen in seiner besten Schaffenskraft" konzipierte, 638 empörte sich über die Haltung seiner Kollegen, weil diese ihr Vorbild „krank und zusammengesunken" wiedergegeben hatten: „Der Zyklop Nietzsche darf n u r im Geiste seiner Lehre k r a f t v o l l und ü b e r m e n s c h l i c h dargestellt werden." 6 3 9 Die aktuellste Zielscheibe für diesen Angriff bildete wahrscheinlich Max Kleins im Herbst 1903 bekanntgewordene neobarocke Sitzstatue, die Nietzsches letzten Turiner Aufenthalt beschwört, als sich seiner schon „die Dämonen des Gespenstischen, Unfassbaren und der Verzweiflung" bemächtigen wollten. 6 4 0 Im Kreis der Nietzsche durch Kultwerke feiernden Künstler fiel Klein gleich in mehrfacher Hinsicht eine Außenseiter- und Nachzüglerrolle zu: der 1847 in Ungarn geborene und sich anfangs unter schwierigsten Verhältnissen behauptende jüdische „Selfmademan" 641 entdeckte den Philosophen erst am Ende seiner Laufbahn, vielleicht angeregt durch den Berliner Nietzsche-Forscher Richard M. Meyer. 6 4 2 Nichts lag demnach näher, als daß Max Klein mit dem am römischen Barock und den Arbeiten von Reinhold Begas geschulten Pathos auch seine Hommage an Nietzsche überformte. Stilsicher wählte der Künstler dazu den dramatischen Höhepunkt aus dem Lebensweg des Philosophen, an dem dieser „von der Gipfelhöhe gewaltiger Wahrheiten in völlige geistige Umnachtung zu stürzen drohte." 6 4 3 Obwohl niemand Kleins Tiefsinnigkeit bestreiten konnte — man beachte nur das Vanitas-Motiv der in malerischer Unordnung am Boden verstreuten Bücher — fand das Werk in der zeitgenössischen Kunstkritik nur geteilte Anerkennung. Besonders aufschlußreich ist dabei eine Stellungnahme des Berli-

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Brief an E. Förster-Nietzsche v. 8. 10. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/234. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 28. 2. 1904; Weimar, NFG (GSA) 72/123b. - Bisher blieb unklar, ob diese Statue jemals in Angriff genommen wurde und der Künstler mit Karl Weinhold (1867-1925) identisch ist, von dem in Weimar - NFG (GSA) 101/84 - die Abb. einer konventionellen Nietzsche-Radierung aufbewahrt wird. Hierauf erscheint der Philosoph noch nach dem Muster einer bekannten Fotografie von 1882 im Meditationsgestus. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 23.3. 1904; Weimar, NFG (GSA) 72/123b. Adolph Kohut, „Professor Max Klein - Berlin", in: Deutsche Kunst und Dekoration, 14 (1904), S. 637-641, hier S. 641. Ebd., S. 637. Dieser bemühte sich in einem Brief an E. Förster-Nietzsche vom 31. 5. 1902 u. a. um die Überlassung der Totenmaske des Philosophen an Klein; Weimar, NFG (GSA) 72/121 e. Adolph Kohut, „Professor Max Klein - Berlin", S. 641.

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ner Tag, der die volkserzieherische Funktion eines jeden Nietzsche-Porträts über dessen virtuose Effekte eingestuft wissen wollte. 644 Die Archivleiterin begrüßte derartige Regungen: nur ein gesunder, auch die Volksmehrheit beeindruckender Nietzsche legitimierte sie, als Erbin eines zukünftigen „Nationalhelden" aufzutreten und ihre Bewegung von dem Verdacht des Sektierertums freizusprechen. Mit den kurz nach dem Tode des Philosophen überhastet und verfälschend herausgegebenen Nachlaßfragmenten Der Wille zur Macht hatte sich Frau Förster-Nietzsche schon 1901 eine entsprechende Argumentationsbasis verschafft. Der suggestive Titel von Nietzsches „Hauptwerk" lieferte ihr das Schlagwort, mit dessen Hilfe sich die lange erhoffte Aussöhnung mit der Staatsautorität beschleunigen ließ. Im Rahmen dieses mehr oder weniger systematisch entfalteten Programms, das der Nietzsche-Gemeinde erstmals breitere, „staatserhaltende" Leserschichten zuführte und den zweiten Höhepunkt der Kultbewegung einleitete, konnte auch das Vorweisen einer im Sinne der Archivleiterin makellosen Totenmaske des Philosophen nützlich werden. Außerdem hatten zahlreiche Anfragen aus Künstlerkreisen die Bereitschaft verraten, sich einem von der Villa „Silberblick" privilegierten Leitbild für neue „Nietzscheana" unterzuordnen. Nun war die Totenmaske durch die mangelhafte Praxis Curt Stoevings verunglückt und kaum benutzbar. Selbst Max Klinger hatte erst nach komplizierten Umgußverfahren ein anschauliches Modell der Bruchstücke Stoevings in Händen. 645 Es bedurfte also „der großen Liebe der Schwester Nietzsches, um sie [die Totenmaske] uns neu wiederzugeben," wie Eduard Einschlag schönfärberisch formulierte. 646 Zum Interpreten ihrer Änderungswünsche hatte die Archivleiterin den jungen Leipziger Bildhauer Rudolph Saudek (1880—1965) bestimmt, der Anfang 1910 „ergeben in die Aufgabe, und nach dem besten Material von Bildnissen die Maske rekonstruierte." 647 Ein Vergleich von Saudeks Version der Totenmaske — Abbildung elf — mit dem ursprünglichen, 1900 abgenommenen und ebenfalls im Weimarer Goethe-Natio-

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Der anonyme Rezensent fragte sich dort, „ob es richtig ist, die Gestalt eines der wirkungsstärksten Geister unserer Zeit der Welt so darzustellen. . . . Nietzsche im Bilde zu verewigen, sollte doch heißen: den gewaltigen Denker verewigen, nicht das pathologische Krankheitsbild seiner letzten zerrütteten Jahre." Der Tag, Jg. 1903, Nr. 475 v. 10. 10. 1903 (Ausgabe A, Illustrierte Unterhaltungs-Beilage). — Auch die Illustrierte Zeitung, Leipzig, Jg. 1903, Nr. 3152 v. 26. 11. 1903, S. 794, war etwas verunsichert und schätzte die Statue mehr als „Abbild von der Menschheit ganzem Jammer", denn als zukunftsträchtiges Denkmal ein. 645 Vgl., Max Klinger, „Nietzsches Totenmaske", in: Berliner Tageblatt, Jg. 38, Nr. 610 v. 1.12. 1909 (Abend-Ausgabe). 646 „Nietzsches Totenmaske", in: Illustrierte Zeitung, Leipzig, Jg. 1910, Nr. 3506 v. 8. 9. 1910, S. 397-398. 647 Ebd., S. 398.

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nalmuseum befindlichen Gips hat bestätigt, worauf es dem Künstler bei seinen Eingriffen ankam: das definitive Totenbildnis Nietzsches sollte ohne Rücksicht auf den überlieferten Bestand den Idealvorstellungen der Nachwelt entsprechen. 648 Wahrscheinlich hatte Saudek schon im Jahre 1906 mit einer originellen Marmorbüste Nietzsches das besondere Vertrauen der Archivleiterin gewonnen. Auf dem „ S T U R M W I N D , D U W O L K E N J Ä G E R " betitelten Bildnis ist Nietzsche nicht „wie s o n s t . . . als der Deuter dunkler Gedanken, als Umwerter dargestellt, sondern als der Optimist, der Dichter, der sagen durfte, wieviel vom Kinde noch in jedem Manne steckt." 6 4 9 Soweit nach einer alten, unzureichenden Fotografie zu urteilen, 650 hat Saudek den Philosophen als einen von seinen Visionen getriebenen Kämpfer verlebendigen wollen: den Kopf emporgereckt, stemmt sich Nietzsche dem „Sturmwind" entgegen; ein an seine linke Schulter gepreßtes antikisierendes Gewandstück unterstreicht die elementare Naturgewalt. In Kenntnis der Totenmaske wie des anderen Weimarer Materials soll Saudek die Büste 1910 überarbeitet haben. 651 Gleichzeitig hat den Künstler die „Rekonstruktion" der Totenmaske zu gänzlich neuen und aufwendigen Nietzsche-Porträts angeregt. In einem 1912 datierten Mamorrelief gelang es Saudek, dem Bild des toten Nietzsche sakrale Würde zu verleihen: konzentrische Meißelschläge umgeben den halbplastisch hervortretenden Kopf und lassen den Betrachter unwillkürlich an einen aus Lichtstrahlen gebildeten Nimbus denken, ohne daß sich dieses Motiv hierbei als peinliche Nachahmung der Christus-Ikonographie hervordrängt. 652 Eine im Leipziger Museum der bildenden Künste aufbewahrte Variante „Friedrich Nietzsche im Sterben" erscheint dagegen weniger durchdacht. Saudek ließ in diesem Fall die ungegliederte Marmorplatte des Reliefs als formloses Fragment abbrechen, statt sie — wie im vorigen Beispiel — der bedeutungssteigernden Dreiecksform anzunähern. Im Ersten Weltkrieg schließlich glaubte Saudek wie so viele andere Nietzscheaner, daß er dem „Zeitgeist" seinen Tribut zahlen müsse: 1916 entstand eine markige Marmorherme des Philosophen, in deren klischeehaften PorträtBeispielsweise lobte ein anonymer Kommentar — offenbar aus den 30er Jahren — die Arbeit Saudeks: „Die Nase, die bei der Totenmaske eine falsche Hakenform zeigt, ist hier leicht korrigiert." Rückseitige Notiz auf einem Foto in Weimar, NFG (GSA) 101/74. 6 4 9 Undatierter Zeitungsausschnitt, gez. „Dr. R. C . " ; Weimar, NFG (GSA) 101/74. — Die Anregung zu der ungewöhnlichen Inschrift dürfte Saudek Nietzsches Gedicht „An den Mistral. Ein Tanzlied" entnommen haben: „Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, / Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, / Brausender, wie lieb' ich dich! / . . ." Die fröhliche Wissenschaft, GA V, S. 380. 6 5 0 Uberraschenderweise waren im NFG-Bereich außer einem „rekonstruierten" Exemplar der Totenmaske — GNM Best.-Nr. 525 - keine weiteren Originalarbeiten Saudeks aufzufinden. 6 5 1 E. Einschlag, „Nietzsches Totenmaske", S. 398. 652 Vgl. dagegen das zu Abb. 13 auf S. 129 u. in der Anm. 547 Gesagte.

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zügen sich der damals aufkommende Kult um die neue nationale Symbolfigur Hindenburg unangenehm bemerkbar macht. 653 Ideologischer Mißbrauch und Erlahmen der Gestaltungskraft werden symptomatisch für zahlreiche der im vierten Kapitel zu behandelnden späten „Nietzscheana".

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Vgl. als ein Beispiel dieser Mythenbildung die Hindenburg-Herme Ludwig Manzels, abg. in: Hindenburg-Denkmal für das deutsche Volk. Eine Ehrengabe zum 7i. Geburtstage des Generalfeldmarschalls, Hrsg. v. Paul Lindenberg, Berlin, 1923, S. 399.

Wir werden ihm ein gewaltiges Totenmal, Ein aufgetürmtes Grab Errichten, wo die Küsten Abschüssiger sind, . . . Gabriele d'Annunzio654 Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage! Friedrich Nietzsche655

4 Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944) 4.0

Vorbemerkung

Die Zukunftsvision eines geisttötenden Personenkultes, vor der Nietzsche seine führerlose Jüngerschaft so eindrucksvoll durch Zarathustra warnen ließ, nahm gleichwohl noch vor dem Tode des Philosophen konkrete Formen an: „Immerhin war Nietzsche um 1900 schon mausoleumsreif." 656 Dieser lakonische Befund Benns charakterisiert neben vielen Kultprodukten von Architekten, Bildhauern und Malern auch „Nietzscheana" wie d'Annunzios Ode auf den Philosophen und dessen treusorgende „Antigone", die Schwester Elisabeth. Mit dem Verlangen nach Monumentalität und Öffentlichkeit begann sich im Kreis um die Villa „Silberblick" ein gesteigerter Geltungsdrang auszubreiten, den Hans Kaufmann als „aktivistische Stufe der Nietzsche-Rezeption" einschätzte 657 und — an anderer Stelle auf einen entsprechenden Wandel im George-Kult nach 1900 hinweisend — die „Umstilisierung der Not der Isolation in die Tugend des Führertums, der ,Krankheit' in vorgebliche .Gesundheit'" genannt hatte. 658 Demnach erscheint der Ruf nach einem machtvollen Nietzsche eingebettet in ein umfassenderes Krisenbewußtsein intellektuell-elitärer Randgruppen nach der Jahrhundertwende. Für eine aufrichtige Widerspiegelung dieser Konstellation mußten alle sichtbaren, monumentalen Sammelpunkte der Verehrergemeinde denkbar ungeeignet sein. Nietzsche-Monu-

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„Schlußverse der Ode ,In memoriam Friedrich Nietzsche'", in: Insel-Almanach auf das Jahr 1908, Leipzig, o . J . (1907), S. 4 1 - 4 4 , hier: S. 43. Also sprach Zarathustra I, GA VI, S. 114 („Von der schenkenden Tugend" 3). G. Benn, „Nietzsche - Nach 50 Jahren", S. 35. Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 9), Berlin-DDR, 1974, S. 69. Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger. Fünfzehn Vorlesungen, Berlin u. Weimar, 2 1969, S. 38. — Zu George vgl. Hansjürgen Linke, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, München u. Düsseldorf, 1960, darin insb. den 4. Teil: „Der George-Kult", S. 141-151.

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mente konnten deshalb ihrem Publikum bestenfalls Scheinlösungen anbieten, indem sie Schwäche und Selbstzweifel mit Pathos und Gigantomanie übertönten. 4.1 Der ideologische Umkreis 4.1.1 Die Prediger von Macht und Schönheit: Georg Fuchs, Wilhelm Uhde, Kurt Breysig, Anthony Mario Ludovici Alle vier genannten Autoren zeichnet es aus, daß sie noch während der Hochkonjunktur der Nietzsche-Panegyrik um 1900 in einigen ihrer Schriften das Schema des Individuell-Bekenntnishaften durchbrachen, um den Weltruhm des Philosophen für eine mehr oder weniger militante Kunst- und Kulturpolitik zu aktivieren. Begeistert über Nietzsches gelegentliches Lob für archaische sowie archaisierende Bauformen, sollte nach dem Willen dieser Eiferer ein neuer Geistesadel wieder „.Heiligtümer' türmen" (Fuchs), 659 desgleichen die bisherige Kunstgeschichte von der Warte einer am Pharaonenreich orientierten „Ruler Art" radikal umwerten, „which will establish order at all costs. . . (Ludovici). 660 Im Vorfeld dieser extremen, provozierenden Positionen bemühten sich Kulturkritiker wie Breysig und Uhde im Zeichen Nietzsches um die schon damals vieldiskutierte Versöhnung zwischen „Kunst und Leben", Geist und Macht, Einzelwillen und Staatsautorität. Viele der um 1870 geborenen jüngeren Intellektuellen erblickten ihre Aufgabe darin, das mit neuer deutscher Innerlichkeit zu erfüllen, „was Bismarcks eiserne Hand zu einem Gebilde äuß e r l i c h zusammen fügte. . . ," 6 6 1 Unter den Nietzscheanern, die ihre Stimme gegen das geistige Vakuum des Kaiserreiches erhoben, hat Georg Fuchs (1868—1949) die konsequenteste, einflußreichste, aber auch zwielichtigste Rolle gespielt. Durch seine Darmstädter Schülerfreundschaft mit Stefan George und Karl Wolfskehl früh auf ein Außenseiter- und Elitebewußtsein vorbereitet, bekannte sich Fuchs schon Mitte der 90er Jahre zur Identität von aristokratischer Kunst, Macht und Schönheit; ein „Reformmodell", zu dem offensichtlich statt Nietzsches Zarathustra mehr Georges Autokrat Algabal Pate gestanden hatte. 662 659

„Zeitgemäße Betrachtungen zum Hamburger Wettbewerb", 1902, S. 360. Nietzsche and Art, London, 1911, S. VIII. Wilhelm Uhde, Am Grabe der Mediceer. Florentiner Briefe über deutsche Kultur, Dresden u. Leipzig, 1899, S. 3. 662 Vgl. d¡ e inhumane Grundtendenz in Georges gleichnamiger Gedichtsammlung, Paris, 1892. — 1936 nannte Fuchs rückblickend George einen „Bringer und Ehrenhold deutschen Führermenschentums". Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende, S. 123. 660

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Uberhaupt korrumpierte das leichtfertige Operieren mit Scheinsynthesen die Denkweise vieler Nietzscheaner, wenn namentlich die Kultur — in der fragwürdigen Formulierung von Fuchs — „Vom Systematischen zum Organischen" geläutert werden sollte, 663 um dabei den Philosophen des „Willens zur Macht" mit dem Hohenzollernreich auszusöhnen. Die Gewaltsamkeit dieses Unternehmens mußte auf die Dauer aber selbst der ansonsten alle Kunstgrifte der Publizistik souverän beherrschende Georg Fuchs einsehen und sich zwischen Nietzsche-Kult und offen imperialistischer Reichsapologetik entscheiden. Mit dem 1904 zuerst anonym verbreiteten Manifest Der Kaiser*64 zog Fuchs einen Trennungsstrich zum bisher angebeteten Dreigestirn „WagnerBöcklin-Nietzsche", in denen er wenig später „das grandiose Ende der letzten deutsch-romantischen Krankheitsperiode" zu erkennen glaubte. 665 Trotzdem darf nicht unterschätzt werden, wie nachhaltig Fuchs Nietzsches Ästhetik für viele Stilerneuerer zu einem leeren Macht- und Uberwältigungsmechanismus vergröberte. Als erster Schriftleiter der Deutseben Kunst und Dekoration, Mitorganisator der Darmstädter Selbstdarstellung „Ein Dokument deutscher Kunst", Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten und Berater des dortigen Oberbürgermeisters (ab 1904) konnte Fuchs stets mit breiter Resonanz für seine jeweils aktuellsten Reformideen rechnen. 666 Mehr und mehr wurde dabei die Nähe zur Heimatkunstbewegung spürbar, da Fuchs bei aller Begeisterung für die Hohenzollern eine völkische Wiedergeburt Deutschlands nicht von Berlin, sondern von München und vorzüglich von Hamburg aus erwartete. Mit einem noch dem Zarathustra entlehnten Wortschwall hatte er 1902 den Raum der Hansestadt auf der Turiner Kunstgewerbeausstellung — die „Hamburger Vorhalle" von Peter Behrens — vor den Beiträgen aller anderen deutschen Bundesstaaten ausgezeichnet. 667 Hamburg galt nicht wenigen Nietzscheanern im Sinne von Fuchs als „Ausfalls-Pforte

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„Friedrich Nietzsche und die bildende Kunst", 1895, S. 35. Die Kultur und die Kunst. Betrachtungen über die Zukunft des deutschen Volkes. Aus den Papieren eines Unverantwortlichen, München u. Leipzig. Die Stoßrichtung dieser Schrift illustrieren Uberschriften wie: „Weltmachtstellung und Kultur", „Alter und neuer Adel", „Das deutsche Heer als moderne Kulturform", „Die Kultur der Arbeit und die soziale Frage". Deutsche Form. Betrachtungen über die Berliner Jahrhundert-Ausstellung und die Münchener Retrospektive, München u. Leipzig, 1907, S. 168-169. Später — 1910 u. 1911 — organisierte er beispielsweise mit Max Reinhardt massenwirksame „Volksfestspiele". 1923 als bayerischer Separatist und Hochverräter inhaftiert, versuchte Fuchs nach 1933, vom Kunstschaffen der Jahrhundertwende soviel als möglich in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus hinüberzuretten. Sein Rechenschaftsbericht Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende endet mit dem Fazit: „das n e u e D e u t s c h l a n d ließ seine Sturmboten schon vor sich her brausen" (S. 260). Vgl. Anm. 372.

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deutscher kultureller Macht", 668 wobei Wilhelm Uhde — den Kaiser paraphrasierend — von den jungen Künstlern verlangte, „eine neue Renaissance über ein Geschlecht heraufzuführ en, das sehnend die Hände nach Glück und Sonnenschein ausstreckt." 669 Innerhalb dieser Zukunftsvision sollte die größte deutsche See- und Handelsstadt in den Rang eines zweiten Florenz hineinwachsen: 670 hier versuchte der weitverbreitete, etablierte Renaissancismus der Jahrhundertwende ein bemerkenswertes Bündnis mit dem noch ungefestigten Nietzsche-Kult einzugehen, aktualisiert und bekrönt durch ein neu-germanisches Sendungsbewußtsein, was „Weltpolitik" anbetraf. Wenn Uhde 1899 mit Bedacht seine Florentiner Briefe über deutsche Kultur Am Grabe der Mediceer formulierte, wird darin — wie in der gleichzeitigen Kunstphilosophie des jungen Breysig — ein bisher ganz übersehener Uberlieferungsstrang der Moderne angedeutet, der mit Böcklin auf Fiedler, Hildebrandt und die ausgeprägte Vorliebe für Florenz seit den neunziger Jahren verweist. 671

So widerlegt die kürzlich von Tilmann Buddensieg aufgezeigte Freundschaft zwischen Peter Behrens und Kurt Breysig das zählebige Klischee, wonach die Stilerneuerer der Jahrhundertwende nur als Revolutionäre gegen den „Ungeist" der Vergangenheit zu begreifen seien: das Bekenntnis beider Männer zu einer „Moderne" in der Nachfolge Nietzsches Schloß nämlich keineswegs aus, daß sie als ihre Wegbreiter auch ältere Künstler — Breysig nannte im Hinblick auf Behrens Böcklin und Puvis de Chavannes — anerkannten. 672 Jedoch hat es der Polyhistor und „Oberpriester" 673 des Weimarer Nietzsche-Kultes wohlweislich vermieden, einen Bildvorrat aus der Kunstgeschichte aller Länder und Völker den befreundeten Stilreformern an die Hand zu geben, damit sie daraus eine machtvolle Kultur der Zukunft gleichsam „rekonstruierten". Breysig

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„Zeitgemäße Betrachtungen zum Hamburger Wettbewerb", S. 350. Am Grabe der Mediceer, S. 146. 670 Nach Uhde wäre Hamburg ebenso „gesund" und deshalb entwicklungsfähig wie Florenz; vgl. ebd. S. 143. — Schon 1890 hatte der „Rembrandtdeutsche" Julius Langbehn Hamburg als zukünftigen Hort deutscher Kultur im Auge gehabt; vgl. Rembrandt als Erzieher, S. 199-200. 671 Tilmann Buddensieg, „Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens", in: Peter Behrens und Nürnberg. Geschmackswandel in Deutschland: Vom Historismus zum Jugendstil. Katalog zur Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg und des Centrums Industriekultur der Stadt Nürnberg, München, 1980, S. 38. 672 Vgl. T. Buddensieg, „Das Wohnhaus als Kultbau", S. 38. Zur Verbundenheit Breysigs mit den Darmstädter Arbeiten von Behrens, wie zu seinen weitverzweigten Kontakten mit anderen Künstlern und Kunstkritikern vgl. ebd. S. 37—40. — Auf Breysigs Mittlerrolle zum Nietzsche-Archiv ist schon in Abschn. 2.4 (S. 82-83) hingewiesen worden. 673 So nannte ihn Max Frhr. v. Münchhausen in einem Brief an E. Förster-Nietzsche v. 21.9. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/121 i. 669

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konnte die Fruchtlosigkeit eines derart widersprüchlichen Traktates voraussehen. Wahrscheinlich war ihm der Spott nicht verborgen geblieben, mit dem seine weitausholende, akademische „Gedenkrede an Friedrich Nietzsche's Bahre" in den Reihen der Verehrergemeinde bedacht worden war. 6 7 4 Auch Wilhelm Uhde begnügte sich bei seiner Suche nach möglichen historischen Vorbildern für den Nietzsche-Kult mit vagen Assoziationen: „Die Bilder der sixtinischen Kapelle muten mich an wie eine gewaltige Illustration des ,Zarathustra'." 6 7 5 Somit blieb es Anthony Mario Ludovici vorbehalten, 1911 in Nietzsche and Art den ersten — und nach Kenntnis des Verfassers bis heute einzigen — Versuch zu unternehmen, die Kunstgeschichte nach dem vermeintlichen Wunsch des Philosophen in aufsteigend-aristokratische und dakadentdemokratische Stilepochen zu sondern. Wie eingangs angedeutet, pries Ludovici die zyklopenhafte Bauplastik des alten Ägypten als überzeitliches Ideal. Innerhalb dieser Theorie wurden deshalb weite Strecken der „Moderne", vor allem Naturalismus und Impressionismus, fast zwangsläufig mit einem Stigma belegt; 676 womit sich auch die Frage erübrigte, welche Stilformen für die Praxis der Nietzsche-Bewegung — namentlich ihre Selbstdarstellung in Kultbauten — angemessen wären. Hinter der Vielfalt im künstlerischen Ausdruck der Jahrhundertwende, die liberale Kritiker als Befreiung vom Historismus begrüßten, sah Ludovici nur Chaos und Zerfall heraufziehen. In seiner Analyse verflechten sich — wie so oft bei konservativen Kulturphilosophen — richtige Einsichten in den Anachronismus der „l'art pour l'art"-Mentalität mit biologistisch gefärbten Parolen: „Nothing can be done, however, until our type is purified, until we have at least become a people." 6 7 7 Dieser völkische Grundtenor in Nietzsche and Art entsprach offensichtlich auch zunehmend den Wünschen der angelsächsischen Verehrergemeinde des Philosophen nach 1900. Ludovicis Buch entstand auf der Grundlage von Vorlesungen, die er 1910 mit Erfolg im Londoner University College gehalten hatte. Außerdem durfte er damals für Oscar Levys maßgebliche Nietzsche-

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Die Rede ist abgedruckt in der Gedenkschrift des Nietzsche-Archivs Zur Erinnerung an Friedrich Nietzsche, S. 19—37. Als Augenzeuge der „,Festrede' " berichtete später Fritz Schumacher: „ . . . und nun las er [Breysig] uns erbarmungslos eine kulturhistorische Zergliederung Nietzsches. . . . Wäre er [Nietzsche] jetzt aufgestanden, er hätte den Redner längst zum Fenster hinausgeworfen und uns aus dem Tempel gejagt. . . . " Stufen des Lehens, S. 201. Am Grabe der Mediceer, S. 93. Zu Michelangelo-Motiven im Denkmalsentwurf Fritz Schumachers von 1898 (Abb. 7) vgl. 4.2. In seiner Ablehnung des „formlosen" Impressionismus berief sich Ludovici in Nietzsche and Art, S. 14, ausdrücklich auf Richard Hamann; vgl. dazu auch Abschn. 2.4, S. 87. Uberhaupt betonte der Verf. seine Nähe zu zeitgenössischen deutschen Kunsthistorikern wie Alois Riegl und Wilhelm Worringer, mit deren Begriff vom „Kunstwollen" er gegen Gottfried Sempers Ästhetik argumentierte. Ebd., S. 234.

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Ausgabe den Willen zur Macht, das Ecce homo und einige weniger spektakuläre Schriften übersetzen.678 Leider war nicht zu ermitteln, ob der 1882 geborene Schüler Matthew Arnolds aktiv auf die verschiedenen Weimarer Denkmalprojekte Einfluß nehmen konnte. Zeitweilig als Sekretär für Rodin tätig, dürfte Ludovici aber aufs engste mit der kontinentalen Kunstszene vertraut gewesen sein. Dort erschien vielerorts — und besonders bei den Nietzscheanern — die Rückbesinnung auf archaisch-maßstablose Kultbauten als einzige Alternative zum „Ende des historischen Denkmals", 679 wie es in der Schablone der Berliner Siegesallee schon um 1900 zur Zielscheibe von Karikaturisten verkümmert war. 680

4.1.2 Krise und Wandel der Denkmalsidee Obwohl die Zahl der jährlichen Denkmalsenthüllungen im letzten Vorkriegsjahrzehnt noch lawinenartig zunahm, hatte der mangelnde Konsens über die Form dieser Monumente längst auch deren inhaltliche Aussage erschüttert. Je geringer man den pädagogischen Effekt konventioneller Standbilder veranschlagte, desto nebuloser wurden seither die Heilserwartungen, die sich mit dem Bau neuer nationaler Weihestätten wie dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal von 1913 verknüpften. Das Wiederaufleben des Kultbaugedankens in der Frühphase der Weimarer Republik spricht darüberhinaus für ein unterschwellig bis heute fortwirkendes Bedürfnis, Gemeinschaft inmitten einer fast ausschließlich am „Ethos der Produktivität" orientierten „Sachkultur" erlebbar zu machen. 681 Wer aber sollte die von den Weimarer Nietzscheanern ins Auge gefaßten Wallfahrten zu ihren Tempelbauten frequentieren, eine „Volksgemeinschaft" aus tendenziell antisozialen „Geistesaristokraten"? An dieser Problematik wäre noch um 1885 kein Denkmalprojekt gescheitert: eine Verehrergemeinde — an ihrer Spitze etwa Nietzsches Schulfreunde und Kollegen — hätte Spendenaufrufe erlassen, ein Honoratiorenkomitee konstituiert, schließlich Bildhauer zu einem Wettbewerb aufgerufen. Nach einigen Debatten, ob der Gefei678

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Uber den Nietzsche-Kult in England, wo sich allerdings nie eine so zahlreiche Anhängerschaft wie im romanischen Ausland formierte, unterrichten David S. Thachter, Nietzsche in England, Toronto, 1970, und Patrick Bridgwater, Nietische in Anglosaxony, Leicester, 1972. Hermann Beenken, Das neunzehnte Jahrhundert in der deutschen Kunst. Aufgaben und Gehalte. Versuch einer Rechenschaft, München, 1944, S. 479. Vgl. etwa die mit „Brinkmann" unterzeichnete Bildgeschichte „ D a s Nietzsche-Denkmal für Berlin" in der Jugend, 1903, Nr. 31, S. 559. Dort wird ein von „Begasschüler Müller X V " errichtetes Standbild des Philosophen in Gummischuhen, flankiert von zwei mißgebildeten „blonden Bestien", lächerlich gemacht. Vgl. dazu R. Hamann u. J . Hermand, Expressionismus, 1975, S. 184—223, Zitate: S. 184.

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erte in seiner Eigenschaft als berühmtester Absolvent Schulpfortas vor dieser Anstalt, oder besser als prominentester Kurgast auf seinem Lieblingsplatz am Silser Seeufer zu verewigen sei, hätte man Nietzsche nach bewährtem Muster unweigerlich in Stein oder Bronze auf den Sockel gehoben, Adler und Schlange zu seinen Füßen. Für die obligaten allegorischen Reliefs — bei prunkvollerer Ausstattung durch vollplastische Assistenzfiguren ergänzt — bot sich Also sprach Zarathustra geradezu als eine Fundgrube künstlerischer Vorlagen an. Der hier ironisch skizzierte verbürgerlichte Denkmälerbetrieb bildete die Kehrseite einer sprunghaft anwachsenden „Demokratisierung" des Standbildes im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Das Monopol des Souveräns, einen öffentlichen Platz stellvertretend durch sein Bildnis zu beherrschen, war zuerst in Preußen durch Friedrich II. durchbrochen worden, indem er selbst ab 1769 Statuen verdienter Feldherren auf dem Berliner Wilhemsplatz errichten ließ. Auch nach 1813 bildete noch jedes, nun für einen Bezwinger Napoleons (Blücher, Scharnhorst und Bülow) oder nationalen Heros (Luther, Dürer) zu errichtende Denkmal ein Ereignis, das die hervorragendsten Künstler anzog und landesweit die Gemüter bewegte. Der hohe sittliche Ernst des Menschenbildes, wie es vor allem von Wilhelm von Humboldt formuliert wurde, zudem die Armut der Kommunen setzte einer Inflation des modernen Denkmalkultes in den Provinzen und damit einem Abgleiten ins Provinzielle enge Grenzen. Bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein war überall der mäßigende Einfluß der Berliner Bildhauerschule wirksam: von Gottfried Schadow über Friedrich Tieck bis zu Christian Daniel Rauch und seinen zahlreichen Bewunderern blieb die Sparsamkeit im Einsatz pathetischer und malerischer Effekte gewahrt, bevor die Älteren durch die Wendung ins Neobarocke und Kunstgewerblich-Genrehafte übertrumpft wurden. 6 8 2 Dieser Wettlauf um die Publikumsgunst verschärfte sich zusätzlich dadurch, daß neben den Herrscherhäusern die ökonomisch bereits dominierende Finanzoligarchie eigene Denkmalskampagnen in Angriff nehmen konnte, die sich als Gradmesser, aber auch als Surrogat für deren gesellschaftliche Emanzipation interpretieren lassen. Die neuen Auftraggeber bevorzugten als Musterbilder bürgerlicher Tugenden und Erfolge zuerst die aus ihren Reihen hervorgegangenen Dichter, Denker, Künstler und Naturforscher. Unverhüllte Selbstapotheosen, wie sie mit den Monumenten der „Wirtschaftsführer" Friedrich Harkort (1884), Alfred Krupp (1889—1892) und Werner von Siemens (1899) beabsichtigt waren, setzten demnach erst relativ spät ein und blieben Ausnahmen.

682

Das außerordentliche Leistungsniveau Berliner Bildhauer vom späten 18. Jh. bis ins frühe 20. Jh. verdeutlicht das schon in Anm. 97 erwähnte, detaillierte Handbuch P. Blochs und W. Grzimeks Das klassische Berlin, 1978.

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Was die von privater Seite — teilweise sogar aus Spenden der Arbeiterschaft — finanzierten Unternehmerdenkmäler verfehlten, gelang einer anderen Gruppe von Monumenten dafür um so erfolgreicher: den von Staats wegen zu „Nationaldenkmälern" verklärten Huldigungen an die Dynastie wird niemand ihre große Popularität absprechen können. Für diese Selbstdarstellungen des Hohenzollernreiches reservierte man geschichtsträchtige oder die Landschaft weithin beherrschende Standorte, so daß sie sich ungeachtet sofort einsetzender Kunstkritik zu volkstümlichen Wahrzeichen entwickelten. Mit dem „Nationaldenkmal Wilhelms des Großen" auf der Berliner Schloßfreiheit hatte Reinhold Begas noch einmal kurz vor der Jahrhundertwende ein Non plus ultra an Theatralik inszeniert. Damals werden viele Nietzscheaner im Anschluß an Alfred Gotthold Meyer die „volle Instrumentierung" des Hofbildhauers „mit Orgelklang und Posaunenschall" insgeheim noch bewundert haben, 683 nur mußte ihnen eine Rivalität mit den Monumenten der Staatsmacht schon aus Kostengründen ausgeschlossen erscheinen. Die eigentliche Ursache aber, warum der im Werk von Begas verkörperte offizielle Denkmaltypus im Weimarer Kreis nicht mehr aufgegriffen wurde, ist woanders zu suchen: diese Monumente waren als beeindruckende Kulisse, nicht als benutzbare Architektur konzipiert. Auf die bauliche Fassung für eine „neue ,Tempelkunst'" mußte es jedoch den Nietzscheanern wie den übrigen mit ihnen rivalisierenden ,,halbreligiöse[n] Kreisbildungen" in erster Linie ankommen. 684 Wenn alle diese Gruppen ihren Uberdruß an Begas und der Denkmälerflut des Wilhelminismus zur Schau stellten, so dürften dabei Ressentiments gegen die finanzgewaltigen Berliner „Kunstmacher" eine nur untergeordnete Rolle gespielt haben. Zumindest bei den Nietzscheanern sprach man gelassen über die Geldnöte der eigenen Kultbewegung und versuchte nicht, über den vorerst utopischen Charakter der ersehnten Monumente hinwegzutäuschen . 6 8 5 Wie eine Verheißung für zukünftige eigene Erfolge mußte es daher der Nietzsche-Gemeinde erscheinen, daß bereits ab 1897 — dem Jahr der Enthüllung des kaiserlichen Berliner „Nationaldenkmals" — der kleinbürgerliche „Deutsche Patriotenbund" das wegweisende Kultbauprojekt der Jahrhundertwende, Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, das Ehrenmal seiner Befreiung und nationalen Wiedergeburt,686 durchsetzen konnte. Bis zum VorReinbold Begas, Bielefeld u. Leipzig, 1901, S. 105; ebd. zahlreiche gute Abb. 684 Vgl. J . Hermand, „Gralsmotive um die Jahrhundertwende", in: ders., Von Mainz nach Weimar (1793-1919). Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart, 1969, S. 2 6 9 - 2 9 7 , Zitate: S. 274. 6 8 5 Vgl. dazu A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 399. 6 8 6 So der Haupttitel der aufwendigen Weiheschrift des Deutschen Patriotenhundes, o. O. u. J. (Leipzig, 1913). 683

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abend des Ersten Weltkrieges bildete der zügig voranschreitende Riesenbau eine stete Mahnung an die Nietzscheaner, einen dem Leipziger Vorbild entsprechenden Tempelbezirk — einschließlich einer „Kampfspielstätte" 687 — in Angriff zu nehmen. Fast gleichzeitig mit dem Arbeitsbeginn am Monument der Befreiungskriege durch Bruno Schmitz und Christian Behrens bekam das Weimarer Projekt noch von anderer Seite Material zur Anregung und Selbstkontrolle: „1898, im Todesjahre Bismarcks, erließ . . . die deutsche Studentenschaft einen Aufruf zur allgemeinen Errichtung von Bismarcktürmen." 688 Bevor über Sinn oder Unsinn dieser forcierten Wiederbelebung lange verschütteter Traditionslinien diskutiert werden kann, ist ein abschließender Blick auf die immer desolatere Rückzugsposition des Figurendenkmals nach 1900 geboten. Schon die zeitgenössische Kunstkritik hatte nicht die Gelegenheit versäumt, seit 1901 auf den Anachronismus des gerade vollendeten Berliner Bismarck-Denkmals von Begas anzuspielen, indem sie die gleichzeitige Hamburger Preisvergabe an Hugo Lederers Monument des Reichsgründers als erstes Signal für den Sieg der modernen Denkmalsgesinnung feierte. 689 Fast jeder überregional interessante Skulpturen-Wettbewerb wurde von nun an zum Schauplatz selbstbewußter Polemiken gegen die veraltete „Sorte von Gehrockdenkmälern", wie es Franz von Stuck in seiner Parteinahme für Fritz Klimschs 1906 preisgekrönten Vorschlag zu einem Virchow-Monument formulierte. 690 Diese Kontroverse, in der führende Männer der Kunstwelt wie Reinhold Begas, Richard Muther und Lovis Corinth das Wort ergriffen, erinnert aus heutiger Sicht an eine Karikatur des großen „Kostümstreits" anläßlich Goethes antikisierenden Forderungen und Schadows naturalistisch-zeitnaher Denkmalspraxis um 1800. Wie Stuck und Corinth zeigte sich überraschenderweise auch Begas an Klimschs „stark angefochtene[m] Entwurf" interessiert, wobei ihm besonders „der gänzliche Bruch . . . mit der Schneiderakademie"

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Ebd., S. 107; vgl. dazu ausführlicher: 4.5. Hubert Schrade, Das deutsche Nationaldenkmal. Idee, Geschichte, Aufgabe, München, 1934, S. 93. An gleicher Stelle zitiert der Verf. einen Ausschnitt dieses Manifestes. Vgl. dazu den schon in den Abschn. 1.1 und 4.1.1 zitierten aggressiven Aufsatz von Georg Fuchs „Zeitgemäße Betrachtungen zum Hamburger Wettbewerb", 1902. Auch ein weniger militanter Nietzscheaner wie Fritz Schumacher konnte befriedigt feststellen: „Gegenüber den malerisch-plastischen Statuen-Denkmälern beginnt der Sinn für strengere architektonische Gebundenheit sich deutlich auszubreiten, vom bescheidenen Brunnen an bis zum Bismarckdenkmal . . .". „Die Denkmäler des Jahres", in: Jahrbuch der bildenden Kunst 1903, Hrsg. von Max Martersteig, Jg. 2, Berlin, o. J. (1903), S. 39. Abgedruckt unter: „Zum Kampf um das Virchow-Denkmal" in: Das Leben. Illustrierte Wochenschrift, Jg. 2, 1906, S. 484. Ebd. ist der umstrittene Konkurrenzentwurf Gustav Eberleins abgebildet. Sechs weitere Einsendungen, darunter die Klimschs, illustrieren Robert Saudeks Aufsatz „Das Virchow-Denkmal", in: Das Leben, Jg. 2, S. 440—443.

Der ideologische Umkreis

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gefiel. 691 Schlagender war die tiefe Krise des Historismus im Denkmalskult nach 1900 kaum zu dokumentieren: hier wurde er von einem seiner glänzendsten Protagonisten noch während der letzten Lebensjahre verworfen. Diese Verunsicherung des gefeierten Hofbildhauers erscheint plausibler, betrachtet man das künstlerische Niveau des von Klimschs Gegnern favorisierten Denkmalsvorschlags. Gustav Eberlein, Kollege und Rivale von Begas, läßt Virchow im Hausrock zwischen einem Totenschädel und einem Neugeborenen thronen, das ihm die Allegorie der Caritas zu seinem Sitzplatz hinaufreicht, während sich auf den Sockelstufen zur Linken des Forschers eine eifrig mikroskopierende „Wissenschaft" niedergelassen hat. Eine von Eberlein am Richard-Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten erprobte Inszenierung des Figurenschmucks ist hier mechanisch auf die andersartige Aufgabe eines Monumentes für Virchow übertragen worden. Von der um eine würdige Ehrung besorgten Ärzteschaft hätte deshalb Eberlein — und nicht Klimsch — den Vorwurf eines unpersönlichen, einfallslosen Schematismus verdient gehabt. Der Künstler aber schmeichelte breiten Kreisen des Publikums, indem er sich deren Schwäche für das anekdotische Detail zu eigen machte, um damit das Bild der großen Persönlichkeit, wie sie das frühe 19. Jahrhundert gestaltet hatte, zu überwuchern und zu verniedlichen. Eine Gegenreaktion darauf, von der Architektur und Malerei ausgehend und nach 1900 die Plastik erfassend, konnte nicht ausbleiben. Etwas verallgemeinernd ist dabei festzustellen: der Drang zum Monumentalen und Symbolischen bemächtigte sich des individualisierenden Menschenbildes, indem der Gefeierte entweder nur noch zyklopenhaft verfremdet auf dem Denkmalssockel geduldet wurde (Hugo Lederers Hamburger BismarckDenkmal von 1906), oder zugunsten stellvertretender Personifikationen von Charakter und Verdienst ganz auf seinen Ehrenplatz verzichten mußte; der Namenszug, eine Widmung, höchstens ein Reliefporträt verkörpert den Anspruch des konventionellen Standbildes (Fritz Klimschs Berliner VirchowDenkmal von 1910, Georg Kolbes Frankfurter Heine-Denkmal von 1913). Es wäre jedoch verfehlt, diese neue Denkmalsästhetik, derzufolge Standbild und allegorische Rahmung ihre Plätze tauschten, unter kulturpessimistischen Vorzeichen in eine Herabwürdigung des Individuums umzudeuten. Vom „Verlust des Menschenbildes" im Sinne Hans Sedlmayrs 692 konnte in der Denkmalsbewegung solange keine Rede sein, wie das Bedürfnis nach Verehrung großer Persönlichkeiten lebendig war und als künstlerisches Problem

Abgedruckt unter: „Zum Kampf um das Virchow-Denkmal", S. 482. 692 vgl. Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts ais Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg, 3o. J., insb. die Abschn. „Verlust des Menschenbildes" und „Gegen den Menschen und seine Welt" (S. 156-159).

691

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ernst genommen wurde. Leider erschien den „Denkmalsreformern" der Jahrhundertwende die Aussagekraft des individualisierenden Standbildes durch Begas derart kompromittiert, daß sie pauschal jeder Anknüpfung an die wegweisenden Schöpfungen Schadows und Rauchs mißtrauten. Bei der Suche nach dem adäquaten Ausdruck für individuelle oder kollektive Leistungen war man deshalb um 1900 wie schon ein Jahrhundert zuvor beim Architekturdenkmal angelangt. In beiden Umbruchszeiten glaubten viele Künstler, dieser sich als Monument und Kultbau gleichermaßen empfehlenden Aufgabe den Rang eines neuen Gesamtkunstwerks zusprechen zu können. Warum jedoch entpuppte sich fast das ganze 19. Jahrhundert in Sachen des Architekturdenkmals als eine Epoche des Stillstands und der enttäuschten Hoffnungen? Von Ausnahmen abgesehen, 693 wußte die bald nach 1815 einsetzende Reaktion alle Wünsche nach nationalen Monumenten, Gedenkstätten oder Feierplätzen zu ersticken, zumindest aber zu verschleppen: der Fall des Leipziger Völkerschlachtdenkmals. Instinktsicher beargwöhnten die meisten deutschen Monarchen das erwachende Nationalbewußtsein ihrer Untertanen, weil dabei das Konglomerat patriotischer und religiöser Gefühle — wie die Erfahrungen der Französischen Revolution lehrten — leicht in die Forderung nach einer volkstümlichen Kultbewegung umschlagen konnte. Uberall hatte das Pathos der Revolutionsarchitektur eines Etienne-Louis Boullée Bewunderung erregt und Spuren hinterlassen: von den ersten Ideen zu einem Berliner Nationalmonument für Friedrich II. in Form einer Pyramide bis zu Vorschlägen, das Leipziger Schlachtfeld in einen heiligen Hain umzuweihen, trifft man trotz der betont „vaterländischen" Gesinnung ihrer Urheber auf französische Vorbilder. Ernst Moritz Arndt dachte sich 1814 außerdem den Schauplatz der Völkerschlacht durch eine Erdaufschüttung bekrönt, ehrfurchtgebietend „ w i e ein K o l o ß , eine P y r a m i d e , ein D o m in Köln."694 Nach dem Zurückdrängen der Leipziger Monumentalpläne konzentrierten sich die romantisch-revolutionären Träume von einer Feierstätte der Nation auf die Vollendung des Kölner Dombaus. Je mehr sich aber Klerus und Obrigkeit dieses Jahrhundertwerks bemächtigen konnten, wurde der ursprünglich von Joseph Görres formulierten Idee eines deutschen Freiheitsdoms die Spitze genommen und im Sinne einer restaurativen Apologie des Feudalstaates vereinnahmt.

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Leo v. Klenzes Walhalla bei Regensburg (1830-1842), wie seine Kelheimer Befreiungshalle (1842 — 1863) — beide für Ludwig I. errichtet — sind vor allem Zeugnisse einer individuellen, romantischen Geschichtsverklärung. Der König war Bauherr, nicht eine Spenden sammelnde Volksgemeinschaft. Zit. nach: Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, S. 42.

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Bei der neuentflammten Denkmalsdebatte der Jahre um 1900 darf nicht übersehen werden, daß nur noch die vom Kaiserhaus überwachten Kampagnen die antiquierte Vision von Mittelalter und Gottesgnadentum weiterverfochten (das Nationaldenkmal für die Kaiser Friedrich Barbarossa und Wilhelm I. auf dem Kyffhäuser 1896, die Restaurierung und ideologische Indienstnahme der Goslarer Kaiserpfalz für das Hohenzollernreich 1867—1897). Ungeachtet aller Imperialbegeisterung legte sogar der „Deutsche Patriotenbund" im Vorfeld des Weltkrieges Wert darauf, sein Leipziger Denkmal als Erfüllung eines Kultbauprojekts zu propagieren, das Friedrich Weinbrenner ein Jahrhundert zuvor „durchaus im G e i s t e A r n d t s " — und der Revolutionsarchitektur — entwickelt hatte. 6 9 5 Mit der Rückbesinnung auf das Architekturdenkmal ging stets eine mehr oder weniger versteckte Opposition gegen die wilhelminische Hofkultur Hand in Hand. 6 9 6 Die Widersprüche und Halbheiten dieser neuen Denkmalsgesinnung blieben ungeklärt, wenn man sie mit Hamann und Hermand nur der Machtverfallenheit kleinbürgerlicher Verehrergemeinden zuschieben wollte, die Monumentalität mit Primitivismus verwechselten. 697 Ebenso einseitig erscheint der Angriff, mit dem Karl Scheffler schon 1904 das Architekturdenkmal als bloßes „Stimmungsprodukt" abqualifizierte, weil es kein „Erzeugnis präzisierter, sozialer Bedürfnisse" wäre. 6 9 8 Aus heutiger Sicht muß die Suche nach einer absoluten, kollektiv erlebbaren Denkmalsform zumindest aber als ein Erzeugnis sozialer Angst und Isolation interpretiert werden, was sich besonders kraß bei den lebensreformerischen Tempelbauphantasien eines Fidus aufdrängt. 699 Die Hilflosigkeit all dieser Versuche macht sie rückblickend fast wieder sympathisch. Auch Nietzsche wäre bei wachem Bewußtsein der Sehnsucht nach dem Monumentalen — zumal unter seinen Anhängern — mit Ironie begegnet und hätte die Krise des Denkmals als ein besonders augenfälliges Symptom der umfassenderen Krise gesellschaftlicher Wertsetzungen kommentiert. Nach dem Exkurs in das wechselvolle Gegeneinander von Architekturdenkmal und Figurenstandbild im 19. Jahrhundert dürfte unstrittig sein, daß Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, S. 48—49; Abb. von Weinbrenners Entwurf ebd. S. 65. 6 9 6 H. Beenken hat im Hinblick auf die Volkstümlichkeit der Bismarcktürme auf deren Anleihen bei der Architektur um 1800 hingewiesen; vgl. Das neunzehnte Jahrhundert in der deutschen Kunst, S. 37. 6 9 7 Vgl. Stilkunst um 1900, Kap. „Monumentalkunst", S. 395-504, insb. S. 400-405. 6 9 8 „Die moderne Malerei und Plastik", in: Die neue Kunst, Hrsg. v. Hans Landsberg, Berlin, 1904, S. 47. 699 Vgl j a z u vielschichtige Deutung der Entwürfe bei J . Frecot u. a., Fidus 1868—1948, Abschn. 4.2.1. „Tempel und Siedlung" (S. 232—252). Hamann und Hermand bezeichneten diese Kultbauprojekte als „wahnwitzig" und „vorzeitlich". Stilkunst um 1900, S. 403. 695

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

die Vorgeschichte monumentaler Feierstätten der Nietzscheaner keineswegs nur auf der Seite reaktionär-chauvinistischer Baugesinnung angesiedelt ist. Im Folgenden sollen deshalb besonders d i e Züge bei der Monumentalisierung Nietzsches beachtet werden, die seiner geistigen Ausstrahlung Form zu geben versuchten, damit auf Ideen wie Boullées Kenotaph für Newton (1784) zurückverwiesen und wo „Der Kultbaugedanke in der neuen Architektur" der 20er Jahre wieder anknüpfen konnte. 7 0 0

4.2 Fritz Schumachers Entwurf für ein „Sieges- und

Heldenmal"

Unter den zwanzig Architekturphantasien, die der junge Stadtbaumeister und Kunstschriftsteller Fritz Schumacher nach einer erfolgreichen Wanderausstellung im Jahre 1900 für ein Mappenwerk auswählte, befand sich auch ein N i e t z s c h e - D e n k m a l : ein stiller Rundtempel in einsamer H o c h e b e n e ; oben breitet ein Menschheitsgenius die A r m e sehnend in die H ö h e , unten recken sich finstere Giganten in ihren F e s s e l n . 7 0 1

Losgelöst aus ihrem Zusammenhang, erweckt diese Stelle aus Schumachers 1935 veröffentlichtem Rückblick Stufen des Lebens den Eindruck verkrampfter Melodramatik. Das Zitat konnte deshalb von Gottfried Benn leicht zum Angelpunkt einer Polemik gegen die Nietzscheaner der Jahrhundertwende und ihr „Sieges- und Heldenmal" im Sinne von Georg Fuchs gemacht werden. 7 0 2 Andererseits hat sich der Nietzscheaner Schumacher mehrfach als kritischer Augenzeuge des Kultgebahrens auf dem Weimarer „Silberblick" ausgewiesen — vergleiche die Anmerkungen 631 und 674 — und diese Mißklänge in der Umgebung des Philosophen sogar nach 1933 offen zur Sprache gebracht. Die ersten Kontakte zur Archivleiterin verdankte der damals — 1899 — in Leipzig erst am Anfang seiner Karriere stehende Baukünstler seiner effektvollen Tempelskizze: Im Kreise der intimen Nietzsche-Freunde war dieser Entwurf beachtet worden, und eines Tages lud mich Nietzsches Schwester ein, sie in Weimar zu besuchen. Man dachte daran, den Entwurf a u s z u f ü h r e n . 7 0 3

700 Vgl. dazu den gleichlautenden Aufsatz Paul Fechters und Wenzel A. Habliks in: Schöpfung. Ein Buch für religiöse Ausdruckskunst, Hrsg. v. Oskar Beyer, Berlin, 1923, S. 57—65. Ebd. sind neben Ideenskizzen Habliks auch einige Kultbauphantasien Erich Mendelsohns abgebildet. — Boullées Entwurf veröffentlicht u. a. H . Sedlmayr in Verlust der Mitte, vor S. 33. 701

702

703

F. Schumacher, Stufen des Lehens, S. 199. - Vgl. Abb. 7. Die Foliomappe mit den 20 Kohlezeichnungen — darunter Entwürfe für Bismarck- und Wagner-Denkmäler - erschien unter dem Titel Studien, Leipzig, 1900. Vgl. dazu 1.1, S. 11-12. Stufen des Lebens, S. 199.

Fritz Schuhmachers Entwurf für ein „Sieges- und Heldenmal"

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Bevor die Kohlezeichnung Arthur Seidl überlassen werden soll, um anhand seiner Deutung des Blattes den Enthusiasmus vieler Nietzscheaner für das Projekt zu verlebendigen, erhebt sich zunächst die Frage, warum gerade dieser Denkmalsentwurf dem Künstler überzeugender gelang als seine anderen Phantasieprodukte (wie ein Festspielhaus, ein Krematorium, eine „Idealburg Montsalvat"). Zu Beginn der 90er Jahre hatte Schumacher während seiner Münchener und Berliner Studentenzeit in Künstlerkreisen verkehrt, in denen Nietzsche nicht nur zuerst entdeckt, sondern auch bald mit der Aura eines modernen Heiligen geschmückt wurde. Hierin gaben Michael Georg Conrad und Otto Julius Bierbaum den Ton an. Zugleich beherbergten die gerade aufblühenden Spiritisten- und Lebensreformzirkel der Bohème eine zahlreiche Jüngerschaft Nietzsches. Schumacher genoß auf seinen Streifzügen den Vorteil, sowohl im ärmlichen Milieu des zukünftigen „Tempelbaukünstlers" Fidus willkommen zu sein, als auch aufgrund seines Elternhauses in die renaissancistische Villenkultur eines Paul Heyse oder Franz von Lenbach Eingang zu finden. Bei Diskussionen mit dem fast gleichaltrigen Philosophen August Endeil (1871 —1925) dürfte Schumacher noch in München über Kunstwerke und Kultbauten zu Ehren Nietzsches nachgedacht haben. Endell seinerseits konnte im Herbst 1897, als er gerade mit dem skandalumwitterten Fassadenaufriß für das Fotoatelier „Elvira" den Sprung zur Architektur wagte, das Archiv auf dem „Silberblick" für einen Titelblattentwurf zu Nietzsches „Sprüchen und Liedern" interessieren. 704 Was dagegen Fritz Schumacher anbetraf, so war Weimar für ihn durch seine Assistenz im Leipziger Stadtbauamt ab 1895 auch räumlich näher gerückt. Zudem hatte Max Klingers Nietzsche-Verehrung auch den ganzen, ihn umgebenden Künstlerkreis der Messestadt erfaßt, aus dem Elsa Assenieff, Otto Greiner und Sascha Schneider hervorragten. 705 Uberhaupt war in der Leipziger Gesellschaft die Erinnerung an Nietzsches dortige Studienjahre bei Friedrich Ritsehl nie ganz verblaßt. Für die Schwester des Philosophen ergaben sich seit Anfang der 90er Jahre von Naumburg und dann von Weimar aus zahlreiche neue Kontakte in die nahegelegene Großstadt, dem Sitz ihres Verlegers Carl Gustav Naumann. Schließlich sollte Frau Förster-Nietzsche in dem Leipziger Bibliotheksrat Paul Kühn einen bereitwilligen Panegyriker für ihre durch die Kunstwerke Klingers und van de Veldes geadelte Archivgründung finden. 706 704

705

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Frdl. Hinweis von T. Buddensieg. Die Einführung des Künstlers in den Archivkreis übernahm — wie auch im Fall Behrens (vgl. Anm. 672) — K. Breysig, ein Vetter Endells. — Der Verbleib des Blattes ist unbekannt. Vgl. F. Schumacher, Stufen des Lebens, 3. Teil, Kap. 1 „Leipzig 1895-1899" (S. 164-215, insb. S. 172-178). Zu Kühns Festschrift Das Nietzsche-Archiv, 1904, vgl. 1.2, S. 3 1 - 3 2 .

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

Hatte sich Kühn in einer Rezension der Studien Schumachers noch auf das allgemeine L o b für dessen „starke, selbständige, phantasiebegabte KünstlerPersönlichkeit" beschränkt, 7 0 7 so widmeten Seidls „ N i e t z s c h e - B i l d w e r k e " 1902 allein dem Denkmalsprojekt für den Philosophen fast zwei Seiten. N a c h der Einstimmung auf den „dichterisch-prophetischen Zarathustra-Ton" der ganzen Anlage „ m i t parsischem U r s p r ü n g e " , von der man „ i m konkreten Ausführungs-Falle" etwa nur die „boecklinisierend gedachte landschaftliche U m g e b u n g . . . auch in A b z u g zu bringen" hätte, lud Seidl die Nietzscheaner zu einem imaginären Spaziergang in ihren Tempelbau: Wir finden da vor Allem einen hoch gelegenen, massiven, offenen Hallen-Steinbau, auf dessen nicht zu hohen Säulen eine starke, doch mehr flach gehaltene Kuppelkrönung ruht; zu beiden Seiten dieser Kuppel . . . ruht flugbereit je ein Adler, und vorne, genau an der Hauptfront (wohlweislich nicht in der herkömmlich-symmetrischen Art hübsch inmitten, etwa auf der höchsten Kuppelhöhe droben) angebracht, steht aufrecht eine . . . hervorragend beredte Menschenfigur, die — in griechischer Weise anbetend — . . . der ,Sonne ihren Uberfluß abnehmen' zu wollen oder aber — je nach Witterung — ,auf den ersten Blitz zu warten' scheint. . . . Die weihevoll-andächtige Sammlung des Geistes aber auf solch eigentümliche Kunstwirkung hin wird beim Besucher in geradezu zwingender Weise erzielt durch den ,heiligen' Treppenaufgang innerhalb eines sehr würdig gedachten Mauer-Defilée's bis zum eigentlichen Denkmal hinan: vorne, beim Eintritt, scheint uns noch einmal eine Reminiszenz an den ,Sklavenmenschen' der gebundenen Moral zu grüßen; beim weiteren Hinanstiege passiert unser Blick eine der Säulenhalle vorgelagerte mysteriöse Sphinx, bis sich uns aus der eigentlichen Andachthalle herab alsdann der freie Ausblick des .Höhenmenschen', in vornehmster Vereinsamung gleichsam, auf die ganze, weite Umgebung hinaus entzückend darbieten muß. 708 Z u m Abschluß seiner Laudatio versuchte Seidl, die Nietzscheaner behutsam für die avantgardistische Formgebung Schumachers zu erwärmen, der „recht daran gethan hat[te], von einer Vorführung der körperlichen Erscheinung Nietzsche's in der Sprache jenes Stiles vollkommen abzusehen. . . , " 7 0 9 Wie lange sich der Widerstand gegen diese neue Denkmalsästhetik gehalten hat, wird deutlich, wenn man bei Schumacher erfährt, daß sogar Walther Rathenau noch 1911 anläßlich der Preisvergabe im Wettbewerb um das Binger BismarckNationaldenkmal „ d a s gesamte architektonische Streben der Zeit durch beißenden Spott zu diskreditieren" trachtete. 7 1 0

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„Atelier-Nachrichten. Fritz Schumacher", in: Deutsche Kunst und Dekoration, S. 227. „Nietzsche-Bildwerke", S. 397-398. Ebd., S. 398. Stufen des Lebens, S. 295.

5 (1900),

Fritz Schuhmachers Entwurf für ein „Sieges- und Heldenmal"

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Rathenaus Scheu vor den „trotzig gefügten Massen" 7 1 1 der neudeutschen Monumentalarchitektur nach 1900 genießt inzwischen längst die Autorität einer kunstgeschichtlichen Lehrmeinung. Da die Riesenpläne Fritz Schumachers und seines Gesinnungsfreundes Wilhelm Kreis meist unausgeführt blieben, konnten sie leicht als peinliche Randerscheinungen abgetan werden. Es ist deshalb geboten, einem überschaubaren Objekt wie Schumachers NietzscheTempel möglichst unbefangen möglichst viele kontroverse Beobachtungen abzugewinnen. Zunächst muß es erschrecken, wenn eine unter dem Banner der Zukunft und des Lebens angetretene Baugesinnung ihren künstlerischen Elan für Aufgaben verschwendete, die dem Kult des Todes geweiht wurden: Mausoleen, Erinnerungsmale und Krematorien. Ein ähnlicher Widerspruch verrät sich in dem unmäßigen Eifer, mit dem Claude-Nicolas Ledoux im späten 18. Jahrhundert den Friedhofsbau und die Totenverbrennung propagierte und als geistigen Mittelpunkt seiner Idealstadt Chaux plante. 7 1 2 Die am Nietzsche-Monument erprobte zyklopenhaft-ägyptisierende Formensprache hat Schumacher später nicht zufällig in die „klassische" Lösung eines Krematoriumbaus einbringen können, wie man sich an seiner wohlerhaltenen, 1908 errichteten Verbrennungsanlage in Dresden-Tolkewitz überzeugen kann. Selbst Hamann und Hermand nahmen diesen „Nachfolgebau" des Nietzsche-Tempels von ihrer pauschalen Kritik des Monumentalismus aus und billigten ihm „trotz aller historisierenden Einzelzüge ein[en] wahrhaft monumentale[n] Gesamteindruck" zu, „der sich wohltuend von den vielen Manieriertheiten dieser Zeit abhebt." 7 1 3 Mit Rücksicht auf die Erwartungen der Nietzsche-Kultgemeinde glaubte Schumacher im Monument für deren Messias den Ewigkeitsanspruch eines Religionsstifters verkörpern zu müssen. Dabei störte insonderheit jedes an den historisierenden Zeitgeschmack erinnernde Beiwerk. Während von der Kunstkritik der Jahrhundertwende deshalb „die oft seltsam-strenge — um nicht zu sagen: starrsinnig-fremdartige Formenwelt dieses ,Meisters in Stein'" mit Verblüffung und Begeisterung herausgestellt wurde, 7 1 4 drängen sich dagegen heute Schumachers konventionelle Stilzitate in den Vordergrund, denen auch der Tempelbauentwurf in seinen Details verhaftet blieb. 711

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F. Schumacher, „Denkmalskunst" (1901), in: ders., Streifzüge eines Architekten, Jena, 1907, S. 110. Zur Vorliebe der französischen Revolutionsarchitekten für die „chthonischen Urmächte" vgl.: H. Sedlmayr, Verlust der Mitte, Abschn. „Das architektonische Denkmal" (S. 25—31); dort weitere Literaturangaben. Stilkunst um 1900, S. 405. Ebd. S. 401 ist — wie leider fast immer — die R ü c k s e i t e der Anlage abgebildet, wogegen die Schauseite weit stärker vom Nietzsche-Tempel inspiriert erscheint (massiger Rundtempel, vorgelagerte exotische Tiere). A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 397.

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Dieser Tatbestand rechtfertigt allerdings keine nachträgliche Besserwisserei, im Gegenteil setzt er in Erstaunen, wie weit der Nietzsche-Kult den Künstler von der Bildungswelt seiner verehrten Lehrer — immerhin dem kultivierten süddeutschen Historismus eines Gabriel von Seidl und Friedrich von Thiersch — zugunsten eines antiakademischen „Zarathustrastils" entfremden konnte. So kennzeichnete Schumacher das Äußere seiner Gedenkhalle mit den kämpferischen Emblemen Nietzsche-Zarathustras (die „flugbereiten" Adler, das Relief der aufgehenden Sonne) gegen jede Verwechselung mit christlichen Kultbauten. Anders als später bei van de Velde suchte das Figurenprogramm dieses frühen Nietzsche-Denkmals noch die humanistische Halbbildung seiner potentiellen Besucher zu aktivieren. Indem die Abbilder der Sphinx und des betenden Jünglings als gängige Metaphern antiken Weltverständnisses wiedererkannt werden konnten, erleichterten sie dem Publikum den Einstieg in Nietzsches Gedankenwelt. Wie bereits aus Seidls Beschreibung hervorging, zielte Schumachers Monument vor allem auf die Vermittlung eines individuellen Bildungserlebnisses: der Künstler ließ folgerichtig auf seiner Kohlezeichnung auch nur einen einzigen, priesterähnlich gekleideten Nietzsche-Jünger den „,heiligen' Treppenaufgang innerhalb eines sehr würdig gedachten Mauer-Defilée's" emporschreiten. 7 1 5 Der Gedanke an massenhafte Wallfahrten und Festversammlungen, ohne die etwa van de Veldes weiträumig geplante Sportstadion-Anlage leblos wirkt, 7 1 6 lag Schumacher offenbar noch fern. Der Erlebniswert seines Tempelbaus war vielmehr auf einen Grundtenor abgestimmt, den Seidl schon treffend und mit leiser Kritik als „boecklinisierend" definiert hat. Böcklins Gemälde wie die „Toteninsel" und die „Villa am Meer" erreichten erst Ende der 90er Jahre den Zenit ihres Ruhms, so daß der Schweizer Maler von den meisten Ideologen der Stilreform zusammen mit Nietzsche zu den Ahnherren der Moderne gerechnet wurde. 7 1 7 Wie Böcklin verwendet Schumacher Zypressen und Pyramidenpappeln als romantische Stimmungsträger, um seinen Tempelbezirk — zu „stillem Kultus an geweihtem Orte" in Weimar, Röcken oder Sils-Maria bestimmt — 7 1 8 von der profanen Umwelt abzugrenzen. Dieselbe Pathosformel ist noch konsequenter in einem anderen möglichen Leitbild Schumachers, dem Grabmal Jean Jacques Rousseaus im Park von Ermenonville bei Paris ausgesprochen: auf einer Insel umstehen hier Pappeln gleich Totenwächtern die Urne des Verstorbenen. 7 1 9 715 716 718 719

Ebd., S. 398. 7 1 7 Vgl. S. 157 u. Anm. 672. Vgl. Abb. 28 u. 29. A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 396. Ins Gigantische gesteigert, verwendet auch Boullée das Motiv der kreisförmigen Pappelanpflanzung um seinen Newton-Kenotaph (vgl. Anm. 700).

Fritz Schuhmachers Entwurf für ein „Sieges- und Heldenmal"

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Uberhaupt darf man die Keimzelle des Nietzsche-Tempels trotz archaisierender Verkleidung im naturverbundenen Monopteros spätbarocker Parkanlagen erblicken. Von den Zeitgenossen Schumachers hatte schon der ältere Bruno Schmitz in seinem Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica (1896) an Kultbauideen des 18. Jahrhunderts angeknüpft. Der offene Rundtempel wirkt bei diesem Monument der Staatsmacht jedoch nur wie ein zu groß geratener Schutzbaldachin für das zentrale Standbild des Verehrten, auf das Schumacher bei seinem Projekt klugerweise verzichtete. 720 War aber damit das „Sieges- und Heldenmal" der Nietzscheaner schon der künstlerischen Sackgasse herkömmlicher Nationaldenkmäler entronnen? Reichte es dazu aus, daß der junge Schumacher die gröbsten Ungeschicklichkeiten seiner vom Kaiserhaus favorisierten Kollegen nicht wiederholte? Vor übereilten Schlüssen auf die Modernität des Nietzsche-Tempels ist zu warnen; denn beispielsweise feierte ein Zeitgenosse wie selbstverständlich Schumacher in einem Atemzug mit Schmitz und ernannte beide zu Reformatoren der deutschen Monumentalkunst. 721 Was Schumacher in seinen Anfängen mit den Akademisten verband — und deshalb vor der Radikalität eines van de Velde noch zurückschrecken ließ — war sein Glaube an die Ubertragbarkeit längst historisch gewordener Bilderfindungen. Auf dem Feld der Architekturplastik hatte Michelangelo schon Generationen von Akademiezöglingen als unerschöpfliche Fundgrube gedient, bevor sich neben Schumacher auch andere junge Nietzscheaner für die Monumentalkunst des Meisters begeisterten, weil diese der Forderung Nietzsches nach „großem Stil" offenbar am weitesten entgegenkam. 722 In den „finsteren Giganten", die den Aufstieg zum Tempelrundbau flankieren, findet die Verklammerung der beiden Geistesgrößen ihren sichtbaren Ausdruck. Das Zitieren der ursprünglich für das Grabmal Julius II. bestimmten gefesselten Sklaven Michelangelos am Tempeleingang der Nietzscheaner ist deshalb mehr als eine kunsthistorische Reminiszenz: das Pathos der neuen, „heidnischen" Lehre Zarathustras verlangte im Verständnis ihrer jungen An-

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Ein Vorbild für die maßvolle Kombination von Figurenstandbild und Rundtempel hätte der Denkmalsbau für Friedrich II. werden können, den Karl Gotthard Langhans d. Ä. 1797 für Berlin entwarf. Vgl. die Abb. in: Werner Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt (Bauwelt Fundamente 3), Braunschweig, 2 1976, S. 157. Vgl. P. Kühn, „Atelier-Nachrichten. Fritz Schumacher", S. 223. Vgl. dazu die in Abschn. 4.1.1 (S. 158) erwähnte Mutmaßung W. Uhdes. Auch P. Kühn rückte in Das Nietzsche-Archiv, S. 2, den Philosophen in die Nähe des großen Renaissancekünstlers: „Nietzsches Schriften sind Fragmente eines gewaltigen Gesamtkunstwerkes, wie es die Skulpturen Michelangelos sind. Und wie uns der Entwurf zu Julius' II. Grabmal erst Michelangelos Genius ganz enthüllt, so müssen wir in die überreiche Werkstatt Nietzsches eindringen, um seine letzten Absichten und seine reichsten und tiefsten Gedanken zu begreifen".

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hänger nach einer Formgewalt, wie sie nur das gigantische, die christliche Ikonographie sprengende Papstgrab der Hochrenaissance bei seiner Vollendung ausgestrahlt hätte. Vermutlich hat nur der stets wache Realitätssinn der Archivleiterin die Nietzsche-Gemeinde vor finanziellen Abenteuern in Form hochfliegender Kultbauprojekte bewahrt. Bei allem Sinn für das Exzentrische verstand es die Schwester des Philosophen, die Tatkraft der Nietzscheaner auf das jeweils Naheliegende zu lenken, selbst nachdem sie in den letzten Lebensjahren am Ziel ihrer Träume angelangt schien und ihr „angebeteter Führer seine Anteilnahme [am langersehnten Bau einer monumentalen Nietzsche-Gedenkhalle] so großartig ausgedrückt" hatte. 723 Für Ernüchterung auf dem „Silberblick" sorgten die stets zahlreichen Querelen und der tägliche Arbeitsaufwand einer Kultbewegung, die sich neben vielen anderen um Präsenz in der Öffentlichkeit bemühen mußte. So erreichte die Archivleitung beispielsweise im Juni 1903 aus Naumburg die bescheidene Anfrage, wann endlich am ehemaligen Wohnhaus der Familie Nietzsche eine Gedenktafel angebracht werden würde. 724 Zu diesem Zeitpunkt, als an ein Nietzsche-Denkmal, geschweige denn an ein monumentales Bauwerk zu Ehren des Philosophen noch nicht zu denken war, ging man statt dessen konsequent — und im Rückblick durchaus werbewirksam — an die Modernisierung und das Nutzbarmachen der schon etwas verstaubten, gründerzeitlichen Archivräume.

4.3 Van de Veldes Umbau des Archivs zum Zentrum der Nietzsche-Bewegung und seine Buchausstattungen für den Insel-Verlag Von allen „Nietzscheana", die im Auftrag oder mit Hilfe der Archivleiterin zustande kamen, erregten die Beiträge van de Veldes von Anfang an das größte Interesse. Hierfür gab es mehrere, sich ergänzende Ursachen: — Uber die um 1900 erst locker formierte Nietzsche-Gemeinde hinaus beobachtete das gesamte liberale Kunstpublikum Deutschlands mit Spannung jeden Schritt des zugewanderten Stilreformers, seitdem dieser das „Neue Weimar" — quasi von Staats wegen — zum Experimentierfeld seiner Ideale machen durfte. 723

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Brief E. Förster-Nietzsches an P. Schultze-Naumburg v. 21. 7. 1935; masch. Abschrift in Weimar, N F G (GSA) 72/2597. Auf dieses widerspruchsvolle Selbstzeugnis der Archivleiterin, kurz vor ihrem Tode an einen alten Gesinnungsgenossen gerichtet, wird in Abschn. 4.6.3 eingegangen. Vgl. den Brief Max Edlers, eines Bewohners des Hauses Weingarten 18, an E. Förster-Nietzsche; Weimar, N F G (GSA) 72/122Í.

Van de Veldes Umbau des Archivs und seine Buchausstattungen

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— Indem Frau Förster-Nietzsche dem Künstler die Umwandlung ihres belanglosen Wohnmilieus in eine „rechte Stätte der Heldenverehrung" anvertraute, 7 2 5 verlangte sie von van de Velde nichts Geringeres, als das im Haus verstreute Sammelsurium von Erinnerungsstücken und Kulterzeugnissen durch ein verbindliches „Design" zu überformen. — Vielleicht noch weittragender war die Schlüsselrolle des Künstlers bei der Ausstattung monumentaler Nietzsche-Ausgaben. Handwerklich und ästhetisch von höchster Raffinesse, sind die in Zusammenarbeit mit dem Leipziger Insel-Verlag geschaffenen Luxusdrucke — 1908 erschienen Also sprach Zarathustra (Abbildung 25) und Ecce homo (Abbildung 26), 1914 arbeitete man an den Dionysos-Dithyramben — vor allem als Zeugnisse für das soziale Selbstverständnis ihrer zahlungskräftigen Käuferschicht von Bedeutung. Van de Velde, dem ohne Zweifel die Problematik eines derartigen Umgangs mit der geistigen Hinterlassenschaft Nietzsches bewußt war, hat sich andererseits nie von seinen Aktivitäten im Dienste der Villa „Silberblick" losgesagt und auch nach 1945 souverän, ausführlich und leicht zugänglich darüber berichtet. 726 Da außerdem materialreiche, profunde Untersuchungen über die Weimarer Periode van de Veldes (1902 — 1915) vorliegen, 727 darf der folgende Abschnitt auf zahlreiche Details und Nachweise verzichten, wie sie bei der Präsentation von bisher weniger beachteten „Nietzscheana" unvermeidlich waren. Innerhalb eines rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes bot sich an, zuerst den in der Öffentlichkeit manifesten Nietzsche-Fragmenten van de Veldes nachzugehen und von einem seiner Entwürfe zu trennen, der nicht über das Stadium ergebnisloser Debatten des inneren Zirkels um die Villa „Silberblick" hinausgelangt ist. Das Scheitern der hauptsächlich von Harry Graf Kessler vertretenen Konzeption eines Nietzsche-Festspielforums führt auf die grundsätzliche Fragestellung im Schlußteil des vierten Kapitels zurück, welche Formen der Heldenverehrung in der Epoche seit dem Ersten Weltkrieg überhaupt denkbar waren und gegenwärtig noch denkbar erscheinen. 728

P. Kühn, Weimar, S. 202. In den großangelegten, schon mehrfach zitierten Memoiren Geschichte meines Lehens, 1962 nach dem Tode van de Veldes von Hans Curjel herausgegeben, kommt der Künstler an vielen Stellen mit Stolz auf seine frühe Begeisterung für Nietzsche und auf seine lebenslange Freundschaft mit dessen Schwester zu sprechen. 727 vgl. insb. Karl-Heinz Hüter, Henry van de Velde. Sein Werk his zum Ende seiner Tätigkeit in Deutschland, Berlin-DDR, 1967; sowie die Diss. Günther Stamms Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes, Göttingen, 1969. 7 2 8 Dazu wird in Abschn. 4.5 die Position referiert, die van de Velde — nach seinem Weggang aus Weimar — im Zusammenhang mit Denkmalsprojekten für den Museumspark Anton und Helene Kröller-Müllers in den Niederlanden vertrat. 725 726

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Was van de Veldes Hommage an Nietzsche in Gestalt seiner Raum- und Buchausstattungen betrifft, so wäre es anmaßend, sie wie viele der in Abschnitt 3.1.6.1 vorgestellten ephemeren Kultprodukte als Spekulation auf die vom „Silberblick" aus entfachte Konjunktur um den Philosophen zu belächeln. Als der Künstler Ende der 90er Jahre in Berlin erstmals mit führenden Nietzscheanern zusammentraf, hatten ihn längst — seit ungefähr 1887 — „Jahre der Einsamkeit" 7 2 9 durch weltanschauliche Krisen geführt, an deren Ende sich trotz der Lektüre sozialistischer und anarchistischer Schriften das Vorbild des leidenden Zarathustra-Autors um so deutlicher hervorhob. Dieses schon bei der Identitätssuche seines nur wenig jüngeren Geistesverwandten Kessler bemerkte Hin und Her kann jedoch nicht die Aufrichtigkeit in Zweifel ziehen, mit der einige nachdenkliche Nietzscheaner wie van de Velde nach einem Hebel zur „Auflehnung gegen den Egoismus der sozialen Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts, gegen die von der herrschenden Klasse heftig verteidigten Vorrechte" suchten. 730 Ohne dieses moralische Engagement für ein neues Menschentum, das den Künstler seit seinen Jugendjahren beflügelte und das ihm später etwas voreilig in den Maximen des „Umwerters aller Werte" verbürgt schien, ließe sich kaum die herausragende Qualität gerade der „Nietzscheana" van de Veldes begreifen. Während fast alle anderen Spitzenleistungen der Jahrhundertwende spätestens vom Bauhaus als überwundener „Jugendstil" gebrandmarkt wurden, blieben die Nietzsche-Kultwerke des Belgiers — soweit bekannt — von pauschaler Mißachtung verschont. Nicht das formalästhetische Niveau dieser „Nietzscheana", wohl aber deren Luxuscharakter bot genügend Angriffsfläche für jene Kritiker, die eine behutsame und deshalb bildkünstlerisch unprätentiöse Aneignung des Philosophen vorzogen. 7 3 1 Nicht alle Einwände gegen die von van de Velde gleichsam offiziell betriebene Nietzsche-Interpretation lassen sich als Ressentiments kleinmütiger oder von Neid erfüllter Außenseiter bagatellisieren. Schon Günther Stamm mußte bei einer Ubersicht der philosophischen Gewährsleute des Künstlers gelegent729 Vgl. den bezeichnenderweise so betitelten Abschn. in van de Veldes Geschichte meines bens, S. 3 2 - 3 9 . 730 731

Le-

H. van de Velde, Geschichte meines Lehens, S. 54. So stieß sich z. B. C. A. Bernoulli noch vor der Auslieferung des Ecce homo zur Jahreswende 1908/09 an der Idee einer wie auch immer gearteten „Connoisseurausgabe". Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 446. — Ganzlederexemplare dieser Edition kosteten RM 5 0 , - , waren aber trotzdem lt. Insel-Almanach auf das Jahr 1909, Leipzig, o. J. (1908), S. 154, sofort „vergriffen". Der vom Insel-Verlag ebd. S. 155 als „Monumentalausgabe" empfohlene Luxusdruck von Also sprach Zarathustra wurde mit RM 120,— ausgepreist. — Zur Zielscheibe einer Minderheit von „puritanischen" Nietzsche-Verehrern gestaltete sich auch van de Veldes Umbau der Villa „Silberblick", für den die Schwester des Philosophen RM 50.000,— der fortlaufenden wissenschaftlichen Arbeit des Archivs entzogen hatte.

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lieh von dessen Schopenhauer-Lektüre feststellen, „wie leicht van de Velde geneigt war, ausschließlich die ihm behagenden Passagen eines Autors auszuwählen und dann die gesamte geistige Haltung des Denkers zu seinem Zeugen aufzurufen." 7 3 2 Besonders krasse Verzeichnungen mußte eine derartige Praxis gegenüber der perspektivischen Denkungsart Nietzsches ergeben, zumal auch die van de Velde umgebende Schar von Bewunderern — an ihrer Spitze die Archivleiterin — keine Gelegenheit ausließ, um das Werk des Meisters als erfülltes Vermächtnis des toten Philosophen zu rühmen. 7 3 3 Vor allem darf nicht unwidersprochen bleiben, wenn der berufene Monograph der Villa „Silberblick" das neue, im Herbst 1903 fertiggestellte Archivdekor — vergleiche die Abbildungen siebzehn bis zwanzig — ohne Zögern mit einer in Architektur umgesetzten Ästhetik Nietzsches identifizierte. 734 Den Kernpunkt dieser angeblichen Richtlinien des Philosophen für eine zeitgemäße Formgebung sollte der Festschrift Das Nietzsche-Archiv zufolge eine optimistische, Ruhe und Harmonie ausstrahlende „Klassizität" bilden. 735 Demgegenüber gab Nietzsche in einem wenig beachteten, „ D a s G r i e c h i s c h e uns s e h r f r e m d " überschriebenen Aphorismus aus der Morgenröte einen selbstkritischen Wink über das hoffnungslos Illusorische jeder Neubelebung klassischer Architekturprinzipien in der bürgerlichen Gesellschaft: Wollten und wagten wir eine Architektur nach u n s e r e r Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) — so müßte das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik läßt es schon errathen! 736

Nimmt man diesen später auch von den Nietzscheanern immer wieder beschworenen Maßstab der Wahrhaftigkeit ernst, um daran die Uberfülle kontroverser Kunstströmungen um 1900 zu entwirren, müssen die herkömmlichen Zensuren neu überdacht werden: das Labyrinthische an der Musik Wagners oder an einem Interieur im Makart-Stil, wie es Kessler in den Archivräumen v o r dem Umbau mißbilligend angetroffen hatte, 7 3 7 offenbart das Wesen Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes, S. 252. In seinen Memoiren Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht, Leipzig u. München, 2 1948, S. 32—33, berichtet Karl Scheffler amüsant über ein mit der „Unbefangenheit glücklicher Kritiklosigkeit" vorgetragenes Gedicht Frau Förster-Nietzsches zu Ehren des Künstlers, das „mit der Aussicht auf eine Apotheose: van de Velde Arm in Arm mit Friedrich Nietzsche in die Unsterblichkeit eingehend" Schloß. — Für M. Frhr. v. Münchhausen schien der Bund zwischen den beiden Geistesgrößen schon durch die analoge „Reinlichkeit Nietzsche'scher Schriften und . . . van de Velde'schen Styls" besiegelt. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 3. 10. 1902; Weimar, N F G (GSA) 72/121 i. 734 Vgl. P. Kühn, Das Nietzsche-Archiv, insb. S. 1 3 - 1 4 , S. 26 u. S. 3 6 - 3 7 . - O b der in Abschn. 1.2 (S. 32, Anm. 132) schon erwähnte Streit zwischen Kühn und van de Velde auf dieses theoretische Konzept zurückzuführen ist, konnte nicht ermittelt werden. 732

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Ebd., S. 37. G A IV, S. 167 (Aph. 169). Vgl. S. 146 u. Anm. 626.

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spätbürgerlicher Kultur umfassender als jede Rebellion dagegen unter dem Banner des Klassischen und Ursprünglichen. Nach dieser notwendigen Warnung vor einem Architekturverständnis, das Nietzsches Weltanschauung aus der Baukunst van de Veldes ablesen wollte wie etwa die absolutistische Staatsidee aus einer barocken Schloßanlage, bleibt dennoch genügend Anlaß, Schönheit und Funktionalität dieser Sammelstätte der Nietzscheaner zu bewundern. Garantiert hat den Erfolg nicht zuletzt das ungewöhnlich enge Vertrauensverhältnis zwischen der Bauherrin und ihrem Architekten, wobei van de Velde offenbar in Detailfragen wie der Farbabstimmung freie Hand bekam: Frau Förster-Nietzsche hielt sich während der Umbauzeit 1902 und 1903 größtenteils im Ausland auf. Dank jahrelanger Bekanntschaft mit Kessler und weiteren Auftraggebern der Stilreformer war sie vorbereitet, bei ihrer Rückkehr auf den „Silberblick" nicht das sonst im Villenbau der Jahrhundertwende fast unerläßliche Pathos aufwendiger Säulenordnungen, Stukkaturen oder Treppenanlagen anzutreffen. In den relativ kleinen und niedrigen Räumen — schon für den „Lese- und Vortragssaal" mußte eine Zwischenwand weichen — konnte nach Meinung Kühns „Monumentalität leicht lächerlich werden; jedenfalls ist sie eine Lüge, der moderne Mensch ist in seinem Privatleben nicht gravitätisch und monumental." 7 3 8 Hier wird daran erinnert, daß der Neuausbau zwar in erster Linie als Geschäftsstelle der Nietzsche-Bewegung, als Konferenz- und Festraum für immerhin 60 bis 100 Personen dienen sollte, gleichzeitig aber Privatwohnung der Archivleiterin blieb. In der zurückhaltenden Farbgebung von Möbeln und Stoffen bemühte sich van de Velde, den scheinbar unaufhebbaren Konflikt zwischen intimer Wohnlichkeit und musealer Aura zu überbrücken: Mit dem zart rötlichgelben Ton des Naturholzes sind der lachsfarbene Plüschbezug, die Messingbeschläge an den Türen und am Kamin, das [goldglänzende] Napoleonische Nietzsche-N darüber, der silbergraue Bodenbelag und die vollkommen weiß gehaltene Decke und obere Wandfläche zu einem vornehmen, hellen Akkord gestimmt, in dem jede Erinnerung an dumpfe Schwere ausgelöscht ist. 7 3 9

Weiterhin kam dem Werk zugute, daß der Künstler als häufiger Gast auf dem „Silberblick" das dort gepflegte Zeremoniell aus eigenem Erleben kannte. Margarethe Gräfin von Bünau, eine Vertraute der Archivleiterin, wußte etwa noch im Kriegsjahr 1918 darüber zu berichten: In dem lichten Archivsaal versammeln sich an jedem Sonnabendnachmittag zahlreiche Gäste. Eine Fülle geistiger Anregung, künstlerischer Genüsse bietet das

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Das Nietzsche-Archiv, S. 30. Ebd., S. 14. - Vgl. Anhang II, Abb. 18 bis 20.

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gastliche Haus der Weimarer Gesellschaft. Gelehrte halten Vorträge. Oft singt und schluchzt der Flügel unter Künstlerhänden. 740

Der unfreiwillig komische Plauderton der Gräfin Biinau darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie bedenkenlos auf dem „Silberblick" am Ritus der Exklusivität festgehalten wurde, während man nach außen längst die massenwirksamere und profitablere Mobilisierung eines kriegerischen Volksheros Nietzsche vorantrieb. Zur Rechtfertigung dieser elitären Rangordnung mußten Nietzsches vage Hoffnungen auf einen neuen Typ von Jüngerschaft herhalten. Als Ausweis der Zugehörigkeit zum engeren Kreis der Berufenen galt neben einer Einladung durch die selbsternannte Hüterin von Nietzsches Erbe auch der Besitz limitierter Vorzugsausgaben von Werken des Philosophen. Von Nietzsches Fehlschlägen, nach der sorgfältigen Erstpublikation der Geburt der Tragödie seine Geistesprodukte weiterhin in einer würdigen Form auf den Markt zu bringen, hat das Archiv aus der Perspektive künftigen Weltruhms ein übertrieben düsteres Bild rekonstruiert. Andererseits war der Nietzsche bereits sehr früh umgebende Zirkel von Bewunderern zu verschiedenartig und über ganz Europa verstreut, als daß ein Verleger das Risiko einer Edition für nur wenige, zahlungskräftige Bibliophile hätte übernehmen wollen. Erst Ende der 90er Jahre begannen sich unversehens mehrere Projekte für eine Z¿raf/>«ííra-Monumentalausgabe zu überschlagen. Obwohl Harry Graf Kesslers Elan und Beziehungen baldigen Erfolg versprachen und das Wiederaufleben der Handpressen wie der Buchkultur überhaupt sein Vorhaben realistisch erscheinen ließ, sollte noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bevor es mit Hilfe des Insel-Verlages zur Drucklegung von Also sprach Zarathustra und Ecce homo kam: — Schon von seinen ersten Besuchen im neueröffneten Nietzsche-Archiv während des Sommers 1897 konnte Kessler mit einer Überraschung zurückkehren: Frau Förster-Nietzsche und ihr damaliger Verlag C . G. Naumann akzeptierten offenbar seinen Vorschlag für eine Zarathustra-Ausstattung durch den jungen Charles Ricketts (1866—1931), einen Londoner Buchkünstler aus dem Schülerkreis von William Morris, wobei das Werk in einer noch vom Meister selbst entworfenen Type gesetzt werden sollte. 7 4 1 — Im Dezember 1898 erhielten die Planungen Kesslers eine andere Wendung, als sich Samuel Fischer — vermutlich unter dem Eindruck der flexibleren Kon740 741

„Eine Stätte des Friedens. Im Nietzsche-Archiv", in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Jg. 47, Nr. 322 v. 26. 6. 1918 (Abend-Ausgabe). Vgl. dazu die Anm. H.-U. Simons in: Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894-1918, S. 150. - Während Kessler die Engländer favorisierte, hoffte auch A. Endeil - in einem Brief an K. Breysig vor dem 15. 10. 1897 — auf seine Beteiligung an einer Zdrdt¿»rtrd-Prachtausgabe (frdl. Hinweis von T. Buddensieg; vgl. S. 167 u. Anm. 704).

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kurrenz von Eugen Diederichs und Albert Langen — entschloß, sein einseitig auf die Naturalisten orientiertes Verlagsprogramm um bibliophile Editionen zu erweitern. Den spektakulären Auftakt sollte Also sprach Zarathustra bilden. 7 4 2 An Stelle von Ricketts und Morris kamen jetzt erstmals Henry van de Velde und Georges Lemmen als Vertragspartner ins Gespräch. Mit beiden hatte Kessler schon im März 1898 bei einem Besuch in Belgien seine Ansichten über die buchkünstlerische Präsentation des Zarathustra ausgetauscht. 7 4 3 Der endgültige Abschluß mit Fischer scheiterte wohl letztlich an antisemitischen Ressentiments der Archivleiterin. 7 4 4 — Aber auch die Zusammenarbeit mit dem Insel-Verlag, der sich Frau FörsterNietzsche seit der Auflösung des Pan im Frühjahr 1900 als einziger Garant niveauvoller Druckkunst empfehlen mußte, blieb trotz gegenseitiger Sympathien zwischen der Villa „Silberblick" und dem Leipziger Unternehmen problematisch und spannungsgeladen. Bis zuletzt verzögerten unterschiedliche Honorar- und Preisvorstellungen das Erscheinen der Prachtausgaben. Als zu Weihnachten 1908 endlich die Auslieferung von Also sprach Zarathustra begann, war der Verleger Anton Kippenberg „tatsächlich am E n d e " : 7 4 5 rückblickend nannte er das imposanteste Erzeugnis der deutschen Buchkunst der Jahrhundertwende gegenüber der Archivleiterin überraschend nüchtern „unser altes Sorgenkind". 7 4 6 Wie Hammacher andeutet, litt auch der formalästhetische Werdegang der Zarathustra-Έ,άλΰοη an Unstimmigkeiten zwischen den Beteiligten Lemmen, Kessler, van de Velde und dessen Mitarbeiterin Erica von Scheel, was den Querelen zwischen Archiv und Verlag zusätzliche Nahrung geben mußte. 7 4 7 Van de Velde selbst klammerte diese Differenzen in seinen Memoiren aus und ging nur kurz auf die insgesamt drei bibliophilen „Nietzscheana" des InselVerlags ein, wobei er auf dessen „fruchtbare Zusammenarbeit" mit der Weimarer Kunstgewerbeschule verwies sowie s e i n e ,,enge[n] freundschaftliche[n] Beziehungen" mit dem Ehepaar Anton und Katharina Kippenberg, den 742 Vgl. dazu die Anm. H . - U . Simons in: Eberhard von Bodenhausen. Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894-1918, S. 155. 743 Vgl. die Angaben in Abraham Maria Hammacher, Die Welt Henry van de Veldes, Köln, 1967, S. 154-157. Die Behauptung, daß Kessler „den Insel-Verlag 1898 [!] für seine Pläne gewann" (ebd. S. 154), beruht auf einer Verwechselung mit S. Fischer. 744

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Zumindest legt dies eine Anspielung E. v. Bodenhausens gegenüber H . G . Kessler nahe, abgedruckt in: Ein Briefwechsel 1894-1918, S. 55 (Brief v. 6.4.1900). - Auch bei P. Gast machten sich Reserven gegen das Projekt geltend: „ S . Fischer in Berlin veranstaltet nur eine Prachtausgabe des Zarathustra in 500 Exemplaren; — wahrscheinlich ist sie im Stile der allermodernsten Faxenzieraterei. . . . " Brief an F. Overbeck v. 15. 11. 1899, zit. nach: C . P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 218-219. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 17. 10. 1908; Weimar, N F G (GSA) 72/2282. Brief v. 19. 12. 1908; ebd. Vgl. Die Welt Henry van de Veldes, S. 157.

Van de Veldes Umbau des Archivs und seine Buchausstattungen

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Hauptverlegern des Künstlers, hervorhob: 1907 hatten sie Vom Neuen Stil. Der Laienpredigten II. Teil herausbringen helfen, 1909 Schloß sich Amo an, 1910 sollten die Essays des Belgiers folgen.748 Trotz ihrer sparsameren Ornamentik unterscheiden sich diese Titel kaum von den reicher ausgestatteten „Nietzscheana" van de Veldes. Handwerkliche Sorgfalt wie ein relativ konstanter Formenschatz sind kennzeichnend für alle Buchausstattungen des Künstlers, so daß Karl-Heinz Hüter mit Recht vor übereilten Schlüssen auf eine „bewußte Beziehung" zwischen der Zarathustraund Ecce homo-Ornamentik und philosophischen Maximen Nietzsches warnen durfte.749 Auch der an sich naheliegende Hinweis auf die stereometrischkristalline Symbolik des ZzrtfíA»stra-Prachteinbandes von Peter Behrens — vergleiche die Seiten 82 bis 86 — bestätigt nur den Standpunkt Hüters: während sich Behrens bei aller Reduktion auf geometrische Grundmuster unverkennbar auf die Ikonographie der Zarathustra-Dichtung einließ, bleibt der Betrachter vor van de Veldes Buchschmuck zuerst etwas hilflos auf vage Assoziationen angewiesen. Hat vielleicht der Künstler gerade diesen Reiz des Spielerischen beabsichtigt, um den Perspektivenreichtum von Nietzsches Weltverständnis zu bewahren und die Offenheit seiner Buchausstattungen den Lesern des Philosophen als einzig adäquate „Illustration" anzubieten? So erschien Hüter beispielsweise die Deckelvignette zu Also sprach Zarathustra „labil, dynamisch und erregt", wobei er sich an „eine gewisse Ähnlichkeit mit germanischer Ornamentik, besonders des Tierstils I I " erinnert fühlte.750 Bedenkt man van de Veldes Detailkenntnis vieler archaisch-unverfälschter Kunstepochen, wird man Schmuckmotive wie die bei ihm überall anzutreffenden Spiralmuster — vergleiche Abbildung 25 — auch in die frühe irische Buchmalerei zurückverfolgen können. Besonders das berühmte, im Dubliner Trinity College aufbewahrte „Book of Durrow" aus dem 7. Jahrhundert mag den Künstler die Suggestivkraft einer teppichartigen Flächenteilung vor Augen geführt haben. Die doppelblattgroßen Vortitel von Also sprach Zarathustra751 und Ecce homo (Abbildung 26) knüpfen eng an die üppigen Zierseiten des Evangeliars aus Durrow an. Neben van de Velde scheinen auch andere wegweisende Künstler der Jahrhundertwende wie Gustav Klimt und Carl Strathmann von der Prachtentfaltung frühmittelalterlicher Buchkunst fasziniert gewesen zu sein.

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Geschichte meines Lebens, S. 306. Seine buchkünstlerischen Arbeiten für die Nietzsche-Gemeinde illustrierte van de Velde lediglich durch den bekannten Doppeltitel zu Ecce homo (S. 312—313) und einen Ledereinband zu Also sprach Zarathustra (Abb. 100). Henry van de Velde, 1967, S. 77. Ebd. Farbabb. in: Ein Dokument Deutscher Kunst, Bd. 5, S. 203.

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Bei dem erst 1914 entworfenen Titelblatt zu den Dionysos-Dithyramben verzichtete van de Velde auf die starke Flächenwirkung seiner früheren „Nietzscheana" zugunsten eines grazilen Ornaments, das - Kurt Bauch zufolge — „nichts nachahmt, nichts darstellt und an nichts anklingt." 752 Aber selbst angesichts dieses fast marginal wirkenden Schmuckgebildes ließe sich das von van de Velde kunstvoll evozierte Spiel mit Assoziationen fortsetzen: bestärkt durch den Titel der späten Gedichtsammlung Nietzsches, glaubt man schließlich in der Vignette die Schemen einer antiken Kultmaske aufleuchten zu sehen. Indem alle „Nietzscheana" van de Veldes intellektuellen Beziehungsreichtum mit ungebrochener Integrationskraft für die junge Verehrergemeinde vereinten, behaupten seine Werke einen Rang, wie er daneben nur noch den Radierungen Oldes und — in zunehmendem Maß — den Plastiken Klingers zugesprochen wurde.

4.4 Der „heroische"

Nietzsche von Klinger bis Dix

4.4.1 Die Schlüsselrolle Max Klingers Inmitten des von van de Velde auf dem „Silberblick" entworfenen „Gesamtkunstwerks" blieb es dennoch einem konventionell placierten NietzschePorträt vorbehalten, den kultischen Mittelpunkt der Raumfolge nach den Regeln der Bühnendekoration zu verklären. Von Lorbeer- oder Gummibäumen gerahmt und durch eine orangefarbene Verglasung effektvoll hinterfangen, beherrschte Max Klingers überlebensgroße Marmorstele des Philosophen — vergleiche Abbildung neunzehn — von einer Estrade aus jede Zusammenkunft der Verehrergemeinde. Diese Auszeichnung Klingers galt den meisten Nietzscheanern als selbstverständlicher, längst überfälliger Tribut an ihren „Kulturkünstler" schlechthin. 753 Für ein ans Mystische grenzendes Vertrauen in die Geistesverwandtschaft Klingers mit den Großen seiner Zeit lassen sich aus der Kunstkritik der Jahrhundertwende zahllose Beispiele namhaft machen. So begann etwa Franz Servaes 1902 seine Monographie über den Leipziger Graphiker, Bildhauer, Maler und Kunsttheoretiker mit der unerwartet suggestiven Feststellung: „In

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Einleitung zu: Jungendstil. Der Weg ins 20. Jahrhundert, Hrsg. v. Helmut Seling, München u. Heidelberg, 1959, zit. nach: Jugendstil, Hrsg. v. J. Hermand, 1971, S. 280; Abb. der Titelvignette ebd. So charakterisierte Karl Scheffler den Künstler 1904 in „Die moderne Malerei und Plastik", in: Die neue Kunst, S. 61.

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der Stadt Richard Wagners wurde Klinger als Zeitgenosse und Landsmann Friedrich Nietzsches geboren." 7 5 4 Rückblickend muß es zunächst überraschen, wie zögernd Klinger in den 90er Jahren auf das Drängen der Nietzscheaner nach Veranschaulichung ihres gemeinsamen Bildungserlebnisses reagierte und anderen Illustratoren scheinbar ohne Not die ehrenhaften Aufträge des Pan überließ. 755 Der Künstler selbst sah sich später gezwungen, in der Öffentlichkeit den Verdacht zu zerstreuen, nur aus Trägheit die unwiederbringliche Chance eines kongenialen Nietzsche-Porträts versäumt zu haben und vor dem Gebot zur Popularisierung des Zarathustra mit Hilfe der Graphik ausgewichen zu sein. Da Klingers wenig bekannte Entgegnung auch die Problematik seines Verhältnisses zu anderen Vorbildgestalten wie vor allem Schopenhauer tangiert, darüberhinaus das Selbstverständnis des bildenden Künstlers gegenüber der Philosophie allgemein erhellen kann, verdient dieses 1909 im Berliner Tageblatt erschienene Selbstzeugnis eine ausführliche Würdigung: noch vor der Jahrhundertwende trat der damalige Nietzsche-Verleger [ C . G . N a u m a n n ] mit der A u f f o r d e r u n g , den „ Z a r a t h u s t r a " z u i l l u s t r i e r e n und mit Buchschmuck zu versehen, an mich heran. Ich lehnte dies Ansinnen sofort ab, weil mir dieser Vorschlag ein Herabziehen des Werkes schien, das in poetischer Hülle stets P h i l o s o p h i e bleibt, und das durch bildliche Beigaben nur auf ein falsches Niveau gezogen werden kann. Diese Weigerung wurde damals viel diskutiert. Ist aber auch heute noch meine M e i n u n g . 7 5 6

Im Gegensatz zu der erfrischend undogmatischen Wortwahl des Nietzscheaners Klinger fällt sogleich sein — für einen Sprecher der bildenden Kunst — fast beängstigender Respekt vor dem Dichter des Zarathustra auf, der als Repräsentant eines literarischen Olympiertums offenbar niemals dem zeitgebundenen Medium der Graphik ausgeliefert werden sollte. Hinter dieser Angst vor der Vermischung verschiedener Kunstgenres stand das von Klinger in Malerei und Zeichnung entwickelte Modell einer hierarchischen Aufgabenteilung zwischen den Künsten. 7 5 7 Aus eigener Praxis waren dem Künstler nur zu gut die Gefahren vertraut, denen die Produkte eines bildungsbesessenen, großbürgerlich-liberalen Einzelgängers im Dickicht der zeitgenössischen Ideologiekonjunktur ausgesetzt waren. Diese im Werk Klingers offen ablesbare Ratlosigkeit kann beim heutigen Betrachter neue Sympathien für dessen widerspruchsvolle Persönlichkeit 754 755 756

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Max Klinger (Die Kunst. Sammlung illustrierter Monographien, Bd. 3), Berlin o. J. (1902). Vgl. dazu Abschn. 3.1.4, S. 111-112 u. S. 114. „Nietzsches Totenmaske", in: Berliner Tageblatt v. 1. 12. 1909 (Abend-Ausgabe). Klinger bezog sich auf Vorhaltungen des einflußreichen Naturalisten und frühen Nietzscheaners M. G. Conrad. Vgl. die zuerst 1891 in Leipzig erschienene Schrift des Künstlers.

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erwecken. Wie seinem Vorbild Nietzsche mißlangen ihm endgültige, sich selbst genügende Kunstwerke. Niemals erstarrte Klinger zum selbstgefälligen „Klassiker", sondern blieb bis an sein Lebensende ein stets lernbegieriger Rebell, der sich — ökonomisch abgesichert — auf die unterschiedlichsten antiwilhelminischen Oppositionswellen einlassen durfte. Damit entzog er gleichzeitig sein Werk weitgehend einer Indienstnahme durch die offizielle Kunstpolitik. Am ehesten begreift man Klingers weltanschaulichen Standpunkt als den eines Skeptikers nach allen Seiten, der sich zu belesen wähnte, als daß er mit seinen Kunstwerken distanzlos für das Programm einer auf einen einzigen Philosophen fixierten Verehrergemeinde hätte werben wollen. Deshalb soll hier nicht eine nach Meinung des Verfassers fruchtlose Gegenposition zu der Perspektive der großen Klinger-Monographie von Alexander Dueckers aufgebaut werden, um den Künstler aus einem Jünger Schopenhauers jetzt in einen Panegyriker des seit den 90er Jahren zeitgemäßeren „Modephilosophen" Nietzsche umzutaufen. 758 Es bleibt auch sehr zweifelhaft, ob der sich damals — nach 1890 — ankündigende Wandel Klingers zu einer optimistischeren Lebensauffassung — man denke an das unterschiedliche Todesverständnis zwischen dem ersten und dem zweiten Teil seiner berühmten Folge „Vom Tode" 7 5 9 — aus der Aneignung der Schriften Nietzsches hergeleitet werden kann. In diesem Zusammenhang muß dem Wunschdenken der Nietzscheaner widersprochen werden, insbesondere wenn sie rückblickend den Beethoven-Thron Klingers als „die herrlichste, jubelvolle, künstlerische Bejahung des Nietzscheschen Zarathustrismus" massiv für ihre Propagandainteressen benutzten. 760 Dieses plastische Hauptwerk des Künstlers nahm seine Arbeitskraft seit Mitte der 80er Jahre bis über die Jahrhundertwende hinaus in Anspruch, so daß ihm auch bei näherem Kontakt mit dem Weimarer Archiv kaum Zeit verblieben wäre, die Botschaft des „Ubermenschen" ohne Umschweife durch eine Statue Zarathustras oder gar Nietzsches selbst zu verkünden. Das weitverzweigte ikonographische Programm von Klingers BeethovenGruppe, auf das hier nicht weiter eingegangen werden kann, 7 6 1 wirkt in seinem gesuchten Synkretismus wie ein Abgesang auf die Blüte bürgerlich-humaVgl. dazu Dueckers Gewißheit, daß „Sein [Klingers] Weltverständnis . . . auf Schopenhauer [gründet], nicht auf Nietzsche, bei welchem er nicht finden konnte, was ihm nicht schon durch jenen vermittelt worden war." Max Klinger, 1976, S. 132. 759 Vgl. Jen s e h r detaillierten Ausstellungs-Katalog des Museums der bildenden Künste zu Leipzig Max Klinger 1857-1920, Kat.-Nr. 130 u. 132, S. 119-122; zum 50. Todestag des Künstlers 1970 erschienen, bildet er seither eine unentbehrliche Grundlage aller weiteren KlingerForschung. 760 P. Kühn, Das Nietzsche-Archiv, S. 10. 761 Vgl. dazu vor allem den von Gerhard Winkler anläßlich der Neuaufstellung der Gruppe 1977 erarbeiteten Museumsprospekt Max Klingers Beethoven, Leipzig, o. J. (1977). 758

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nistischer Geisteskultur des f r ü h e n 19. Jahrhunderts. Der an die Stelle des Göttervaters Zeus getretene Künstler-Gott Beethoven ist gleichzeitig Chiffre für die unterschwellige „Reichsverdrossenheit" vieler Intellektueller — man denke an den Nietzsche der Unzeitgemäßen Betrachtungen —, die alle vor der lauten Selbstfeier einer verpreußten Staatskunst Rückhalt im Erbe der Klassik suchten. Ähnlich dem „Einsiedler von Sils-Maria" genoß Klinger das Privileg, auf langen Reisen das Deutschland der Gründerjahre aus der Distanz kulturkritisch in Frage stellen zu können. Bezeichnenderweise suchte er dabei die Nähe von Arnold Böcklin und Johannes Brahms, nicht von Hans Makart oder Anton von Werner. Schließlich hatte zuerst der einflußreiche dänische Kunstkritiker Georg Brandes die internationale Bildungselite auf den jungen Klinger hingewiesen, indem er 1882 einen seiner Essays über Moderne Geister dem Künstler widmete. 762 Nur wenige Jahre später sollte sich Brandes in ähnlicher Weise für Nietzsche einsetzen, 763 so daß eine von ihm vermittelte Kontaktaufnahme zwischen den beiden Außenseitern der Kulturszene durchaus denkbar erscheint. Offenbar kam es aber unglücklicher Zufälle wegen nicht zu einem Besuch Klingers, weder beim gesunden Nietzsche in Leipzig, Rom oder an einem der sonst von beiden frequentierten Erholungsorte, noch beim erkrankten Philosophen in Jena, Naumburg oder Weimar. 7 6 4 Zu einer intensiven Auseinandersetzung Klingers mit Also sprach "Zarathustra ist es allem Anschein nach erst im Herbst 1894 gekommen, 765 als unter jüngeren Intellektuellen der Nietzsche-Kult längst zum Prüfstein moderner Gesinnung stilisiert worden war und seinem ersten Höhepunkt zustrebte. Der Archivleiterin gegenüber legte Klinger Wert darauf, seine Verehrung des Philosophen von der Geschäftigkeit oberflächlicher Panegyriker abzugrenzen: „Nietzsche kann man nicht als Lektüre betrachten, sondern man muß ihn l e s e n . " 7 6 6 Daß diese Zurückhaltung nicht aus Gleichgültigkeit resultierte, verdeutlichen viele emotionale Bekenntnisse des Künstlers in seiner Privatkorrespondenz mit dem Nietzsche-Archiv. Insbesondere die extreme Bildwelt des 762 Vgl. „Max Klinger", in: ders., Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem Neunzehnten Jahrhundert, Frankfurt, 4 1901, S. 5 7 - 72. 763 Vgl. „Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radicalismus (1888)", in: ders., Menschen und Werke. Essays, Frankfurt, 2 1895, S. 137-224. 764

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Max Kruses Hinweis, daß Klinger „ihn [Nietzsche] nie gesehen hat oder doch nur ganz flüchtig, wie er [Klinger] behauptet, in Leipzig", erscheint nicht stichhaltig, sondern in Ressentiments gegen den erfolgreicheren Rivalen um die Gunst des Nietzsche-Archivs begründet zu sein. „Aus den Erinnerungen des Bildhauers Max Kruse"; Weimar, NFG (GSA) 72/2460 (Tagebucheintragung v. 6. 4. 1918). - Klinger selbst hat nach Kenntnis des Verf. nie mit einer persönlichen Visite Nietzsches renommiert. Vgl. Max Klinger 18Í7-1920, Ausstellungs-Katalog, Leipzig, 1970, S. 20. Brief v. 7. 3. 1902; Weimar, NFG (GSA) 72/402.

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Zarathustra mußte Klinger bei seinen zahlreichen Reisen in den Süden zu Vergleichen mit dortigen Landschaften herausfordern. So erfuhr die Archivleiterin beispielsweise im November 1899 aus Paros, wie oft der Künstler in Griechenland „an den Mann dachte, der solche Bilder durch das Wort erweckt, wie sie Berg, See und Einsamkeit oft, sehr oft mir hier vor das leibliche Auge brachten. . . ." 7 6 7 Im Gegensatz zu den Programmatikern der Freilichtmalerei — und später der Abstraktion — war Klinger demnach von der Austauschbarkeit aller Umwelteindrücke überzeugt und ließ souverän Naturstudium und Literaturquellen nebeneinander als Substrate seiner symbolistischen Kunstwelt gelten. Gemäß dieser Grundeinstellung hatte der Künstler auch keine Bedenken, ein Idealbildnis des gesunden Nietzsche, „der so tief auf unser aller Geistesleben eingewirkt hat", 768 nur gestützt auf die Totenmaske Stoevings, persönliche Erinnerungen der Schwester des Philosophen und eigene Mutmaßungen stufenweise zu rekonstruieren. Für Klingers Begriff von Künstlertum ist es bezeichnend, daß er allein als Bildhauer dem Ewigkeitsanspruch seines Vorbildes nacheifern wollte und ihm dazu die kostbarsten, dauerhaftesten Materialien vonnöten erschienen. Die zahlreichen, teilweise kaum vergleichbaren Porträtvarianten in Bronze oder Marmor, an deren Vervollkommnung Klinger bis zuletzt interessiert blieb, lassen sich dennoch alle auf erste Bemühungen des Künstlers um eine Korrektur der ihm im September 1901 ausgehändigten Totenmaske zurückführen. Sofort versprach Klinger damals der Archivleiterin, aufgrund „der so erhaltenen Form . . . an weiteren Wachsausgüssen Versuche derart [zu] machen, wie Sie [Elisabeth Förster-Nietzsche] mir nahelegten." 769 Angesichts der später endgültig von Harry Graf Kessler bestellten und dem Archiv leihweise anvertrauten Marmorherme — Abbildung neunzehn — kann über das Programm von Klingers „Versuchen" kein Zweifel bestehen: Auftraggeber, Künstler und Archivleiterin begriffen von vornherein das zentrale Denkmal der Nietzscheaner als sichtbarsten Ausdruck ihres kulturellen Missionsanspruchs. Kessler, der im September 1901 gegenüber der Schwester des Philosophen das „letzte Ziel" der Bewegung definierte, nämlich „Menschen in größter innerer und äußerer Vollendung hervorzubringen", hoffte

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Brief V. 17. 11. 1899; ebd. Brief M. Klingers an E. Förster-Nietzsche v. 24. 8. 1899; Weimar, NFG (GSA) 72/402. An gleicher Stelle ließ Klinger seinen Wunsch nach Porträtsitzungen auf dem „Silberblick" durchblicken, zu denen es aber wegen mehrfacher Terminschwierigkeiteh nicht mehr gekommen ist; vgl. dazu die Angaben des Künstlers im Berliner Tageblatt v. 1. 12. 1909: „Nietzsches Totenmaske". Brief v. 26. 9. 1901; Weimar, NFG (GSA) 72/402.

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gerade „diese Seite [Nietzsches] . . . durch Klinger ausgedrückt zu sehen." 770 Wie aus einem „März 1906" datierten Vertragsentwurf zwischen dem Mäzen und der Villa „Silberblick" als Nutznießerin der Herme hervorgeht, hatte das Kunstwerk inzwischen seine starke pädagogische Ausstrahlungskraft bei den Feierlichkeiten der Verehrergemeinde tatsächlich erwiesen. 771 Mehr als ein Jahrzehnt sollte dann die im Herbst 1903 anfangs auf provisorischem Sockel errichtete Denkmalsherme das repräsentativste Nietzsche-Bildnis bleiben, bis Klinger selbst sein Glanzstück durch eine fast 2,50 m hohe und über zwei Tonnen schwere, um Reliefs bereicherte Neufassung des Porträts für die Geschäftsräume des Leipziger Nietzsche-Verlegers Alfred Kröner — Abbildung 33 — zu übertreffen suchte. An den ersten, bereits 1902 in verlorener Form gegossenen Bronzekopf — Abbildung vierzehn — hatten dagegen der Künstler und sein Kreis nur bescheidene Erwartungen geknüpft: Klinger kündigte der Archivleiterin den Guß lediglich „als Grundlage für die fernere etwaige Arbeit" an, 772 während Kessler ihn kurzerhand eine „Vorskizze" nannte. 773 Offenbar rechnete man schon zwei Jahre nach dem Tode des Philosophen fest damit, daß die meisten Nietzscheaner das ungeschminkt Pathologische in den Gesichtszügen ihres Vorbildes verdrängt wissen wollten. 774 Inmitten dieser Strömung schien für die sensible, der Totenmaske Stoevings verpflichteten Bronze kein Bedarf vorhanden. Ihr an Rodin geschulter Nuancenreichtum, in dem Klinger alle Vorzüge des Wachsausschmelz-Verfahrens glänzend zur Geltung gebracht hatte, wurde daneben zumeist übersehen. Bei allen Privilegien, die Klinger und seine „Nietzscheana" in der Publikumsgunst genossen, hätten Reproduktionen seiner genialen Studie des vom Wahn Gezeichneten nach 1902 nur noch wenige Interessenten gefunden. Der Künstler entsprach diesem schon im dritten Kapitel ausführlich begründeten Wandel im Rezeptionsverhalten 775 und brachte deshalb Anfang 1904 mit Hilfe der bekannten Berliner Gießerei Gladenbeck zwei verkleinerte Varianten der „heroischen" Weimarer Marmorherme auf den Markt. 776

" » Brief V. 29. 9. 1901; ebd. 72/120Ì. 771 Vgl. den „Vertragsentwurf zwischen Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche"; Weimar, NFG (GSA) 72/930. 772 Brief v. 20. 9. 1902; ebd. 72/402. 773 Brief an E. Förster-Nietzsche v. 6.4. 1902; ebd. 72/121 d. 774 Der ehemalige Nietzsche-Archivar E. Horneffer, der 1909 seine Zeitschrift Die Tat. Wege zu freiem Menschentum mit einer Abb. der Bronze eröffnete, vermerkte doch zugleich das Qualvoll-Unvollendete eines solchen Bildnisses: „Darum konnte ihn auch am treffendsten der .ringende' Künstler [Klinger] verkörpern. . . ." Ebd. Heft 1, S. 41 „Nietzsche von Klinger". 775 Yg] j a 2 u ¡nsb. Abschn. 3.2.2 „Der Ruf nach dem gesunden Nietzsche", S. 149—151. 776 Vgl d e n Brief M. Klingers an E. Förster-Nietzsche v. 16. 11. 1903; Weimar, NFG (GSA) 72/ 402. In einer Broschüre zur Klinger-Ausstellung des Frankfurter Kunstvereins, Frankfurt,

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Sowohl die außerordentliche Popularität dieser kunstgewerblichen Kultobjekte als auch die einseitigen Werbekampagnen, die bereits seit Ende 1903 um die Porträtherme des Archivs entfacht wurden, 7 7 7 mußten fast zwangsläufig alle „Nietzscheana" Klingers in den Augen der künstlerischen Avantgarde kompromittieren. Schon zu seinen Lebzeiten sah sich der „Titanide aus Leipzig an der Pleiße" 7 7 8 von den Wortführern der „Moderne" zum bloßen Erfüllungsgehilfen eines verkrampften Heroenkults degradiert. Für die künstlerischen Qualitäten von Klingers „inoffiziellen" Bildnisvarianten blieb man wie die Nietzscheaner der Jahrhundertwende blind. Neben der heute offenbar verschollenen Bronzeausschmelzung von 1 9 0 2 , 7 7 9 läßt eine nur wenig später entstandene Gipsstudie zur großen Marmorherme ahnen, wie Klinger unverfälschtes Pathos festhalten konnte, wenn er spontan und ohne ängstlichen Seitenblick auf den Durchschnittsgeschmack der Nietzsche-Gemeinde arbeitete. Im Nachlaß des Künstlers aufgefunden und erst 1923 in Bronze gegossen, zwingt dieses Modell — zusammen mit der schon wiederholt beachteten Porträtstudie des Leipziger Psychologen Wilhelm Wundt (1907) — zu einer differenzierteren Einschätzung seines plastischen Oeuvres. 7 8 0 Unter diesem Blickwinkel müssen deshalb heute alle Klischees vom plötzlichen Durchbruch zur „Moderne" fragwürdig erscheinen. Aufgrund derartiger Thesen konnte der Kunsthistoriker etwa die mitreißende Dynamik einer zutiefst bekenntnishaften Nietzsche-Plastik des jungen Dix aus dem Jahre 1912 — Abbildung 31 — gegen den kalten Akademismus der Marmorhermen

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o. J. (1908), wurden dementsprechend 2 „Reduktionen " (38 cm Bronzeguß für RM 300,— und 22 cm Bronzeguß für RM 120,—) angeboten. Klingers Freund und Biograph Julius Vogel kritisierte diese Praxis bereits anläßlich verunglückter „Beethoven"-Reproduktionen und nannte dabei „Verkleinerungen in einem anderen Material . . . eine stilistische Unmöglichkeit." Max Klinger und seine Vaterstadt Leipzig, Leipzig, 1923, S. 67. Kurz nach der Einweihung der neuen Archivräume glaubte sich Klinger bei Frau FörsterNietzsche „in Sachen der Überlassung der Büste" für sein „etwas amerikanisches Vorgehen" entschuldigen zu müssen, betonte aber gleichzeitig sein Verfügungsrecht als Eigentümer. Brief v. 16. 11. 1903; Weimar, N F G (GSA) 72/402. Ebenfalls am 16. 11. 1903 erreichte die Archivleiterin ein Schreiben Max Liebermanns, in dem sich dieser als Präsident der Berliner Secession für die Ausleihe des Kunstwerks bedankte. Vgl. ebd. 72/437. Karl Scheffler, „Max Klinger", in: ders., Deutsche Maler und Zeichner im Neunzehnten Jahrhundert, Leipzig, 2 1919, S. 6 1 - 7 1 , hier: S. 64. Allem Anschein nach ist diese Bronze nur kurzfristig im Archiv ausgestellt gewesen. Vielleicht hat sie „ein Nietzsche-Bewunderer in Moskau. . . . Herr Fischer" gekauft, den Klinger Frau Förster-Nietzsche gegenüber beiläufig als Kunden einer seiner „Büsten" erwähnte. Brief v. 16. 11. 1903; Weimar, N F G (GSA) 72/402. Den Guß des Nietzsche-Studienkopfes hatte Julius Vogel, der damalige Direktor des Leipziger Museums der bildenden Künste, für seine Sammlung veranlaßt. Zumindest ein weiteres Exemplar gelangte in Leipziger Privatbesitz. Vgl. die Abb. in: Große Deutsche in Bildnissen ihrer Zeit, Ausstellungs-Katalog der National-Galerie, Berlin, 1936, S. 203. Abb. der Bronzeherme Wundts ebd., S. 202.

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Klingers ausspielen, ohne dabei die von ihrer Intention her einzig vergleichbare, schon auf Dix weisende Atelierstudie des Älteren heranzuziehen. 781 Bevor im nächsten Abschnitt weiter der formalen Verwandtschaft beider in Gips angelegten Nietzsche-Bildnisse nachgegangen werden soll — man denke nur an die sofort ins Auge springende, großzügige Zusammenballung der Haar- und Bartmassen des Philosophen —, ist hier der Platz, Klingers spätesten und von der Kunstgeschichte fast vergessenen Porträtauftrag für den Kroner· Verlag wenigstens kurz vorzustellen. Als Julie Kröner, die Witwe des Verlegers, Ende der 30er Jahre ihre repräsentative Nietzsche-Herme dem Archiv für die im Bau befindliche Gedächtnishalle — vergleiche die Modellabbildungen 37 bis 39 — zum Kauf anbot, betonte sie das große Engagement des alternden Künstlers bei dessen letzter Würdigung des Philosophen. 782 Danach hatte Klinger 1914 das eigendiche Porträt in Anlehnung an seine frühere Weimarer Herme zügig fertiggestellt, später jedoch das Postament mit den beiden antikisierenden Flachreliefs — durch Krieg und Krankheiten behindert — nicht mehr in gewohnter Weise überarbeiten können. Trotz dieses Mangels darf ausgeschlossen werden, daß der Künstler — wie von Frau Kröner vermutet — in den beiden, die Reliefs schmückenden Menschenpaaren „allegorische Figuren" aus Nietzsches Werken verkörpern wollte. 783 Gemäß seiner offen bekundeten Abneigung gegen jede Form naturalistischer Nietzsche-Zarathustra-Szenerien — vergleiche die Seiten 180 bis 181 —, beschränkte sich Klinger bei der Motivauswahl für die Seitenflächen des Postaments auf die Idealisierung zweier vermeintlicher Grundmuster menschlichen Zusammenlebens: während zur Linken der Philosophenherme die Frau als vom Mann bestimmte Gefährtin erscheint — Abbildung 33 —, zeigt das korrespondierende Relief das gleiche Paar, wobei der Frau diesmal die Rolle zugedacht ist, als inspirierende Muse den männlichen Idealismus zu erwecken. Indem Klinger diese Botschaften allein auf eine intensive Gestik der Figurenpaare stützte und keine Belehrung der Nietzscheaner durch allegorisches Beiwerk mehr beabsichtigte, suchte er Anschluß an zeitgemäßere Sinnbilder für deren Weltanschauung. Wenige Jahre zuvor hatte der Künstler in seinem vom

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Dieses Wertungsschema benutzte selbst P. F. Schmidt ( „ F . Paul") in seinem ansonsten treffsicheren Artikel über „Nietzsche-Bildnisse" in der Kunst der Nation, Jg. 2 (1934), N r . 20, S. 2. Vgl. dazu auch Abschn. 1.2, S. 32—33. Vgl. ihren Brief an M. Oehler v. 16. 9. 1938; im Dezember des gleichen Jahres war der Kauf perfekt, wobei der Preis mit RM 10.000,— bezeichnenderweise nur einen Bruchteil des ursprünglichen Künstlerhonorars betrug. Alle Unterlagen dazu in Weimar, N F G (GSA) 72/ 2614 „Nietzsche-Gedächtnishalle: Ankauf der Nietzsche-Büste von Max Klinger aus dem Besitz der Krönerschen Erben 1938-1939". Brief an M. Oehler v. 16. 9. 1938; ebd.

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Aufbau und der Funktion her entsprechenden Jenaer Monument für Ernst Abbe noch einmal den Versuch unternommen, die geistigen Errungenschaften des Mitbegründers der Zeiss-Werke in zwei Sockelreliefs mit Personifikationen der „Optik" zu fassen. 784 Andererseits bedeutet der Verlust des traditionellen allegorischen Formenschatzes, wie er bei der Nietzsche-Herme für den Kröner-Verlag manifest wird, auch das Ende aller verbindlichen, aus den Konventionen zwischen Künstler und Publikum erwachsenen Interpretationsmuster. Wo ein ikonographisches Programm kaum mehr in Ansätzen zu rekonstruieren ist, verselbständigen sich die Assistenzfiguren des gefeierten Geistesheroen, werden austauschbar und verschwimmen schließlich im Dunstkreis des „Allgemein-Menschlichen". So könnten die Nietzsche gewidmeten Schmuckreliefs mühelos auch in andere Denkmalsanlagen, etwa für Goethe, Beethoven oder Wagner eingefügt werden, da sie in erster Linie Klingers persönliches Bekenntnis zur Höherentwicklung der Menschheit — und nicht nach Zaratbustra-Lektürc geformte Prototypen dionysisch oder apollinisch gestimmter „Ubermenschen" — vor Augen führen. Mit dem Tode des Künstlers 1920 wurde sein Werk — in auffälliger Parallele zur Nietzsche-Rezeption dieser Jahre — immer mehr dubiosen völkischen Propheten überlassen und für die Fiktion einer nationalen Gesundung vereinnahmt, die in der „faschistisch-ideologischen Germanisierung Klingerscher Kunst" 785 anläßlich der großen Leipziger Gesamtschau 1937 ihren radikalen Gipfelpunkt erreichte. Rückblickend muß es betroffen machen, wie übereilt und hilflos der großbürgerlich-liberale Kulturbetrieb nach dem Ersten Weltkrieg einen seiner begabtesten Repräsentanten zugunsten attraktiverer Modeströmungen verabschiedete. Während um 1900 gerade der Kosmopolitismus Klingers, das in ihm verdichtete „Ringen aller Zeiten und Zonen" seine Gemeinde zur Identifikation herausforderte, 786 verkümmerte die Persönlichkeit des nach Luther, Nietzsche und Wagner ,,letzte[n] grosse[n] Thüringer[s]" 787 scheinbar unaufhaltsam zum Objekt einer landsmannschaftlich-provinziellen Kunstbegeisterung. Innerhalb dieser neuen, insgesamt unersprießlichen Re784

Das Denkmal, f ü r das van de Velde den architektonischen Rahmen in Form eines streng symmetrischen, tempelartigen Pavillons schuf, ist abgebildet in: Max Schmid, Klinger, Bielefeld u. Leipzig, 4 1913, S. 142-143. Text dazu ebd. S. 136: „. . . zur Rechten die Optik, durch eine Linse den Himmel beobachtend, zur Linken dieselbe, durch das Vergrößerungsglas die Kleinlebewelt betrachtend. Man soll an die Dienste denken, die Abbe der Photographie, Astronomie, Mikroskopie leistete." Van de Velde, der mit Klinger beim Ausbau des Nietzsche-Archivs offenbar gut zusammengearbeitet hatte, „ärgerte" sich in Jena über die Aufdringlichkeit des großen Hermenpostaments; Geschichte meines Lehens, S. 318. Bei dem wenig später auftauchenden Großprojekt Kesslers und van de Veldes für ein Weimarer Nietzsche-Forum (vgl. 4.5) sollte den Arbeiten Klingers nur noch eine Nebenrolle zufallen.

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G. Winkler in: Max Klinger 1837-1920, Ausstellungs-Katalog, 1970, S. 3. Lothar Brieger-Wasservogel, Max Klinger, Leipzig, 1902, S. 14. E. Eckertz, Nietzsche als Künstler, 1910, S. 30.

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zeptionswelle ernannte man die prominenten „Nietzscheana", mit denen Klinger einen schon von Max Kruses Büste seit 1898 vorbereiteten Monumentalismus zum Siege verhalf, zu Kronzeugen ,,art- und stammverwandten" Künstlertums. 788 Die zunehmende Beliebtheit dieses — im Hinblick auf Klinger wie auf Nietzsche — irreführenden Vokabulars im Umkreis der Villa „Silberblick" ist ein deutliches Vorzeichen auf die gesellschaftspolitische Abwehrhaltung, in der sich später der Weimarer Nietzsche-Kult der Zwischenkriegszeit ohne den Zustrom junger, übernational beachteter Reformkräfte erschöpfen sollte.

4.4.2 Verwandte Bildlösungen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges: Edvard Munch — Otto Dix — Sascha Schneider In den zehn Jahren zwischen der richtungweisenden Aufstellung von Klingers Marmorherme im Nietzsche-Archiv 1903 und der Vereitelung des großen Forumprojekts auf dem Weimarer „Silberblick" am Vorabend des Ersten Weltkrieges konnte sich in fast allen Kultwerken der Leitgedanke durchsetzen, den Philosophen — wie es beispielsweise Edvard Munch formulierte — „monumental und dekorativ" als Gesetzgeber eines neuen Menschentyps seiner Verehrergemeinde näherzubringen. 789 Um 1910, während sich in ganz Europa die Hoffnungen auf eine künstlerische Erneuerung aus dem Monumentalen und Dekorativen konzentrierten, 790 erschien jedes Recherchieren in Nietzsches tatsächlichem Lebenswandel oder in den genrehaften, auf Mitleid gestimmten Bildnisvorlagen der 90er Jahre dubios, wenn nicht gar als Sakrileg an der neuen Gesinnung. Der unlösbare Zusammenhang zwischen den Sympathien für einen sozial deklassierten Hotelzimmerbewohner und Anstaltsinsassen und den welthistorischen Perspektiven, in die sich viele Künstler als vermeintliche Nachfolger ihres Ahnherrn Nietzsche hineinsteigerten, wurde nach der Jahrhundertwende immer seltener thematisiert. Statt dessen zogen sich jetzt viele „Nietzscheana" in mitunter erschreckender Weise auf lautes Pathos zurück — vergleiche die Abbildungen 21, 24 und 35 —, oder stellten die plakative Verkündigung der wahren Lehre — vergleiche besonders die Abbildung 22 — in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Insofern muß im Folgenden über Ders., „Nietzsche und Klinger", in: Kölnische Zeitung, Jg. 1908, Nr. 878 v. 19. 8. 1908 (Mittags-Ausgabe). 7 8 9 Brief des Künstlers an E. Thiel v. 29. 12. 1905; zit. nach: Peter Krieger, Edvard Munch. Der Lebensfries für Max Reinhardts Kammerspiele, Ausstellungs-Katalog der Nationalgalerie, Berlin-West, 1978, S. 69. 790 Vgl. O. Benesch, „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler" in: Wallraf-RichartzJahrhuch, 1962, S. 333-358, insb. S.333. 788

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eine nicht nur für den Kunsthistoriker ärgerliche „Verwandtschaft" zahlreicher Nietzsche-Kultwerke an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg diskutiert werden. Bevor dieser Zugriff als ausschlaggebend für die zweite „Nietzscheana"-Konjunktur um 1910 akzeptiert werden kann, muß er sich angesichts sehr heterogener künstlerischer Temperamente und Techniken bewähren, ganz abgesehen vom Qualitätsgefälle, das der — innerhalb eines wirkungsgeschichtlichen Ansatzes unvermeidliche — Zusammenprall etwa Alfred Soders und Sascha Schneiders mit den Horizonten von Edvard Munch oder Otto Dix verursacht. Der von der Villa „Silberblick" angefeuerte Wettlauf um immer neue, sich gegenseitig überbietende Kultwerke sprengte die Grenzen der Weimarer Nietzsche-Bewegung und erfaßte auch Außenstehende wie den jungen, noch ganz unbekannten Dresdener Kunstgewerbeschüler Dix. 1912 versuchte er sich nebenher als Plastiker, um sogleich „mit der Geste des Eroberers" seine Vision des verehrten Philosophen zu modellieren, „die Klinger belehren konnte, wie Zarathustras Ubermensch erzeugt wurde. . . . " 7 9 1 Trotz — oder gerade wegen — der von Paul Ferdinand Schmidt beklagten „Zaghaftigkeit des berühmten Meisters" galt Klinger seit seiner Weimarer Marmorherme in den Augen typischer Kunstwart-Leser als der klassische Nietzsche-Porträtist, ein aus Bequemlichkeit verliehener Nimbus, der den Kunstrebellen Dix zur „Steigerung ins Dämonische", 7 9 2 zur Bloßlegung des Abgründig-Antibürgerlichen in der Prophetennatur des „Einsiedlers von Sils-Maria" reizen mußte. Bei allem Ungestüm in der Materialbehandlung — man betrachte die klumpigen Haarsträhnen, das abrupte Verkanten von Hinterkopf und Nacken — zielt dieser grüngetönte, exotische Sonderling im Oeuvre des Malers und Zeichners Dix keineswegs auf eine in Gips übersetzte Karikatur Nietzsches. Von der ersten Lektüre namentlich des Zarathustra und der Fröhlichen Wissenschaft an (1911) blieb für den Künstler die „Entlarvungs-Philosophie und -Psychologie Friedrich Nietzsches" ein entscheidender Orientierungspunkt, zu dem er, wie erst kürzlich Dietrich Schubert detailliert aufgezeigt hat, 7 9 3

791

7.2

7.3

P. F. Schmidt, Otto Dix, Köln, 1923 (Prospekt); vgl. dazu Abb. 31 mit Bildnisfassungen Klingers (Abb. 14, 19 u. 33). Beide Zitate: ders. ( „ F . Paul"), „Nietzsche-Bildnisse", in: Kunst der Nation, Jg. 2 (1934), N r . 20, S. 2. — Wie dagegen ein „dämonischer" Nietzsche unter den Händen eines Josef Thorak in äußerliche Theatralik abglitt, zeigt dessen später, jedoch ebenfalls eng an Klinger anknüpfender Porträtkopf des Philosophen (1944); Lit.-Ang. dazu in: Otto Thomae, Die Propaganda-Maschinerie: bildende Kunst und Öffentlichkeitsarbeit im Dritten Reich, Berlin, 1978, S. 384. Otto Dix in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien, Bd. 287), Reinbek, 1980, S. 7; zur Nietzsche-Plastik vgl. S. 13 — 14; zum demonstrativ antifaschistischen Einsatz des Zaratbustra-Zitzts: „ D i e Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt" auf dem Bekenntnisbild „ D i e sieben Todsünden" von 1933 vgl. ebd. S. 107—109.

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unbeirrt von der Mobilisierung des Philosophen durch seine nazistischen Gegenspieler immer wieder zurückkehrte. Klinger, für den Nietzsche niemals zu dieser existentiellen Bedeutung gelangt war, hatte die gewagteste seiner Porträtstudien — vergleiche Seite 187 — zu Lebzeiten im Atelier zurückbehalten, wohl aus Furcht, die Arbeit als Karikatur des Philosophen mißverstanden zu sehen. Dix dagegen konnte es als einen ersten Durchbruch zur Anerkennung empfinden, daß seine Plastik durch Paul Ferdinand Schmidt, den Direktor des Dresdener Stadtmuseums, früh in öffentlichen Besitz gelangte. Nachdem Schmidt sein schon mehrfach zitiertes mutiges Plädoyer für alle wahrhaft modernen „Nietzsche-Bildnisse" in der Kunst der Nation noch 1934 mit seinem Dix-Ankauf illustrieren durfte, wurde die Plastik 1937 beschlagnahmt und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von einem Luzerner Auktionshaus angeboten. Danach verliert sich ihre Spur. 794 Die Einbettung der gemalten, gezeichneten oder lithographierten „Nietzscheana" Edvard Münchs in die von Klingers Plastiken begründete Kulttradition läßt sich zwar nicht wie bei Dix bis in formale Details verfolgen, doch hat fraglos der enge Anschluß an den Weimarer Kreis um Harry Graf Kessler den großen Norweger in seinem Entschluß bestärkt, sich nach einigem Schwanken für das zeitgemäße Leitbild des gesunden, schaffensmächtigen ZaratbustraBotschafters zu entscheiden. Als der Künstler zwischen 1904 und 1906 häufiger Gast der — in seinen Augen — ,,freundliche[n] Priesterin des NietzscheTempels" war, 795 stand die Villa „Silberblick" nach der gerade erfolgten Umgestaltung durch van de Velde und Klinger im Blickpunkt aller künstlerischen Neuerer. Es ist primär ein Verdienst des schwedischen Philosophen Gösta Svenaeus, die Kunstwissenschaft auf die Tragweite dieser um das „Dritte Weimar" und seinen Nietzsche-Kult gruppierten Deutschland-Aufenthalte Münchs hingewiesen zu haben. 796 Nachdem bis in die 60er Jahre hinein Münchs tiefverwurzelte Sympathien mit Nietzsche und Wagner, Böcklin, Klinger und Thoma 797 als peinlich oder marginal verdrängt worden waren, 794 Vg] Gemälde und Plastiken moderner Meister aus deutschen Museen, Auktion der Galerie Fischer am 30. 6. 1939, Luzern, 1939, Nr. 35. Lt. handschriftlicher Ergebnisnotizen in einer Schätzpreisliste, die sich bei einem Exemplar des seltenen Kataloges fand (vgl. Auktionskatalog 29 der Galerie Gerda Bassenge, Teil 2, Berlin-West, 1977, S. 267, Nr. 4272), war die Plastik mit Sfr. 8.400,— angesetzt und wurde wahrscheinlich für Sfr. 3.600,— zugeschlagen. 795 796

797

Brief an E. Förster-Nietzsche v. 14. 12. 1905; Weimar, NFG (GSA) 72/480. Vgl. die schon in Abschn. 1.1 (S. 8, Anm. 31) hervorgehobene Studie „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs" in: Edvard Munch. Probleme — Forschungen - Thesen, 1973, S. 2 5 - 4 6 ; insb. S. 2 6 - 3 2 u. S. 41. Bereits 1893 hatte sich Munch in einem aufschlußreichen Selbstzeugnis zu diesen 5 Künstlern bekannt, die für die Nachwelt zum Inbegriff einer spezifisch deutschen, spekulativ-metaphy-

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zeichnete sich seitdem im Einklang mit der Rückbesinnung auf das 19. Jahrhundert, insbesondere auf dessen spätromantische Kunstblüte auch eine Wiederentdeckung aller markanten Bildnisse des Zarathustra-Autors ab. Neben der schon einleitend zitierten Arbeit von Otto Benesch, die Münchs Ringen um ein gültiges Nietzsche-Porträt als Schlüssel für den latenten Drang des Künstlers zur Monumentalmalerei interpretierte, 798 befestigte die teilweise erstmalige Präsentation vieler seiner „Nietzscheana" die neue Wertschätzung dieser Kultobjekte. Für ein mittlerweile aufnahmebereites Kunstpublikum bedeuteten die beiden Ausstellungen im Münchener Stadtmuseum 1970 und in der Westberliner Nationalgalerie 1978 eine Bereicherung des vorher nur im Zeichen der „Moderne" propagierten Munch-Bildes, zumal die „Nietzscheana" ausführlich und ohne jede Reserve kommentiert wurden. 799 Schließlich hat Heinz Frederick Peters 1977 ein Kapitel seiner Biographie der Archivleiterin deren Kontakten mit dem schwedischen Nietzscheaner und Kunstmäzen Ernest Thiel gewidmet und dabei einige bisher vorhandene Unklarheiten über die Auftragsvergabe an Munch und den Verbleib der ersten, größeren Gemäldefassung — Abbildung 23 — aufgeklärt, 800 so daß sich der folgende Text auf die Verknüpfungen der Kunst des Norwegers mit den verschiedenen Phasen der Nietzsche-Rezeption konzentrieren kann. Von Georg Brandes vermittelt, war der Gedankenaustausch zwischen den traditionellen europäischen Kunstzentren und einigen aufgeschlossenen skandinavischen Künstlerkreisen wie der Christiania-Bohème um Hans Jaeger und Edvard Munch schon vor 1890 außerordentlich rege. Die „Entdeckungen" des dänischen Literaturhistorikers auf der kontinentalen Kulturszene bildeten damals den gemeinsamen Gesprächsstoff der jungen nordeuropäischen Intelligenz in Christiania, Kopenhagen oder Stockholm, bald darauf auch in den entsprechenden Zirkeln von Berlin und München. Als Brandes 1888 „Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche" mit der verblüffenden, aber einprägsa-

sisch orientierten Kulturtradition verschmolzen; vgl. O. Benesch „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler" in: Wallraf-Ricbartz-Jahrbuch, 1962, S. 3 4 5 - 3 4 6 . G. Svenaeus bestätigte diese Wesensverwandtschaft: „Vom innersten Kern seiner Persönlichkeit her besaß er [Munch] seltene Voraussetzungen dafür, sich in Nietzsches Welt einzuleben." „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 25. 798 Vgl. „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", S. 348—349. 799 Vgl. den schon in Abschn. 1.3 (S. 36, Anm. 154) gewürdigten Münchener Ausstellungs-Katalog, S. 125—129, Kat.-Nr. 925—932, bzw. den von P. Krieger erarbeiteten materialreichen und gut bebilderten Westberliner Katalog (vgl. Anm. 789), S. 6 4 - 7 3 , Kat.-Nr. 1 5 - 1 6 u. 46-48. 8 0 0 Vgl. Zarathustra's Sister, Kap. 21 „ A Swedish Angel", S. 1 8 8 - 1 9 7 . Danach war das große, heute in der Thielska Galleriet in Stockholm aufbewahrte Porträt von Anfang an für Thiel bestimmt und nicht, wie noch Benesch annahm, für das Nietzsche-Archiv. Vgl. „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", 1962, S. 346.

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men Parole „Aristokratischer Radicalismus" überschrieb, 801 hatte er damit den Lebensnerv einer ganzen Generation spätbürgerlicher „Geistesaristokraten" getroffen. Im Berlin der frühen 90er Jahre traf Munch zahlreiche Gleichgesinnte, die ihn in seiner Identifikation mit einem vom „Stigma des Unterganges" 802 gezeichneten Nietzsche bestärken konnten: da war August Strindberg, der mit dem Philosophen noch kurz vor dessen Zusammenbruch korrespondiert hatte, oder Stanislaw Przybyszewski, der gerade mit zwei Essays über die Werke Nietzsches und Münchs debütierte, in denen er beide Künstler als dionysische Opfer an die Zukunft der Menschheit rauschhaft feierte. 803 Entscheidend für Münchs dauernde Verbundenheit mit dem deutschen Kunstleben der Jahrhundertwende wurde aber seine Begegnung mit Harry Graf Kessler. Die im Umkreis der /^«-Gründung gewonnenen Kontakte hat Kessler sorgsam weiter gepflegt. Um so leichter fiel es dem geschmackssicheren Mäzen deshalb später, die von ihm seit jener Zeit besonders geschätzten Künstler wie Henry van de Velde, Ludwig von Hofmann oder auch Edvard Munch nach Weimar zu ziehen. So betrachtet, darf Kessler als der eigentliche, hinter der Archivleiterin und deren Bewunderer Thiel stehende Inspirator der großen Nietzsche-Porträts des Norwegers gelten. Warum aber nahm Kessler den befreundeten Künstler nicht schon ab 1897 gelegentlich seiner zahllosen Ausflüge nach Weimar mit, um ihn in den sich auf dem „Silberblick" formierenden Verehrerkreis einzuführen? Munch hatte sich damals, wie sein Gemälde „Der Gekreuzigte über der Menge" (1896) und die Lithographie „Trauermarsch" (1897) vermuten lassen, 804 „vor allem . . . durch seine eigenen Angstzustände und Depressionen [in Nietzsche] hineingelebt." 8 0 5 Bei der extremen Sensibilität des Künstlers scheint es nur natürlich, daß er vor der physischen Nähe seines im Wahnsinn dahinsiechenden Geistesverwandten Nietzsche zurückschreckte. In diesem Zusammenhang ist Münchs posthume Beschwörung des gesunden Philosophen auch als eine Art Selbstthe-

Vgl. Die neue Rundschau, Jg. 1 (1890), Heft 2, S. 5 2 - 8 9 ; die Abhandlung war bereits im Jahr zuvor in dänisch erschienen. 802 G. Svenaeus, „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 30. 803 Vgl d¡ e beiden in Berlin erschienenen Bde. : Das Werk des Edvard Munch. "Vier Beiträge von Stanislaw Przybyszewski, Franz Servaes, Willy Pastor, Julius Meier-Graefe, Hrsg. v. Stanislaw Przybyszewski, 1894, und Zur Psychologie des Individuums. 1. Chopin und Nietzsche, 1892. 8 0 4 Zur Rolle des Gemäldes vgl. O. Benesch, „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", 1962, S. 350; auf die Lithographie geht G. Svenaeus ein, vgl. „Der heilige Weg. NietzscheFermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 27 u. 44, Abb. S. 35. 8 0 5 Ebd. S. 27. 801

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rapie zu verstehen, als eine Befreiung vom Bild des Gequälten, wie sie durch die überall platzgreifende Tendenz ins Heroisch-Monumentale genährt wurde. Nachdem der Künstler von Thiel in der Porträtgestaltung völlig freie Hand erhalten hatte und Ende November 1905 durch die Archivleiterin mit den besten Fotostudien versorgt worden war, 806 begann für ihn in seinem thüringischen Refugium Bad Elgersburg die kritische Phase der Bildformulierung. Erschwerend kam hinzu, daß Munch während der Arbeit an den NietzschePorträts eine sich steigernde Nervenkrise durchlebte, von der er auch in seinen Briefen an die Villa „Silberblick" freimütig berichtete. Die erste Dezemberhälfte 1905 muß von fieberhafter Aktivität erfüllt gewesen sein: aufgrund der gerade zugesandten Fotos entschloß sich Munch zu einer ersten, querformatigen Halbfigurenstudie, die einen augenscheinlich noch g e s u n d e n Nietzsche im professoralen Habitus seiner „ZarathustraZeit" darstellt. 807 Mit dem aufgestützten rechten Arm tiefe Meditation suggerierend, sitzt der Philosoph abgeschlossen wie ein Eremit in seinem bescheidenen Arbeitszimmer. Dieser Rückgriff auf eine der bei der Schwester Nietzsches beliebten Standard-Fotografien aus den frühen 80er Jahren erscheint gleichermaßen einfallslos wie marktgängig für die anspruchslosesten Kultprodukte — vergleiche Abbildung 21 —, daß Munch selber nach wenigen Tagen die Skizze verwarf und schon am 18. Dezember aus Bad Elgersburg von einem Bildnisentwurf „in Ubergröße" berichten konnte, auf der Nietzsche „in seinem langen Überzieher auf einer Veranda [steht]. . . . Es ist Gebirgslandschaft — unten ein Thal, eine Stadt und über die Gebirge geht eine strahlende Sonne auf." 808 Den Detailangaben Münchs zufolge handelt es sich hierbei bereits um seinen letztgültigen, in Kohle, Pastell und Tempera farbig angelegten Entwurf im Maßstab der überlebensgroßen Ölgemälde. Zusammen mit zwei anderen Vorskizzen bildete Peter Krieger das als Kniestück konzipierte und bildmäßig durchgeführte Blatt 1978 im Munch-Katalog der Westberliner Nationalgalerie ab, datierte es aber noch auf 1906.809 Die markanteste Änderung auf den beiden Porträtvarianten in Stockholm und Oslo vom Frühjahr 1906 — Munch malte wie bei allen ihm besonders nahestehenden Werken ein zweites Exemplar für sein Atelier — betraf den

806

Vgl. Münchs Briefe an E. Förster-Nietzsche v. 9. u. 30. 11. 1905; Weimar, N F G (GSA) 72/ 480. 807 G. Svenaeus konfrontiert mit Recht diese erste Bildidee Münchs mit einer Kitschpostkarte des Archivs; vgl. „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 34, Abb. 2 u. 3. 808 Brief an E. Förster-Nietzsche; Weimar, N F G (GSA) 72/480. eoe Vgl. Edvard Munch. Der Lebensfries für Max Reinhardts Kammerspiele, S. 69, Abb. 72; die anderen Skizzen ebd. S. 68 u. 69, Abb. 70 u. 71.

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Wegfall der aufgehenden Sonne zugunsten einer verstärkten Betonung des Prophetenkopfes. Keineswegs darf aus dieser Konzentration der Bildstruktur auf eine Abkehr Münchs von seiner überwiegend optimistischen Deutung des Zarathustra-Verkünders geschlossen werden, um damit die ganze Szenerie als apokalyptische Abendlandschaft vor dem Hereinbrechen von Verhängnis und Wahnsinn zu beschreiben. 810 Auch Gösta Svenaeus vertrat die These, daß Munch trotz seiner um Pathos bemühten Präsentation Nietzsches auf den Gemälden nie vom Schreckbild eines gescheiterten Einsamen losgekommen wäre, wie er es spontan in der ersten Bildnisformel festgehalten hätte. 811 Demgegenüber glaubte der Verfasser dieser Studie den naheliegenden Anschluß Münchs an den nach 1900 einsetzenden Stimmungswandel in der Nietzsche-Gemeinde unterstreichen zu müssen. Schon der querformatige Entwurf mit dem am Tisch sitzenden Philosophen beschwor durchaus nicht das Bild eines hoffnungslos Erkrankten. Der Mangel an Monumentalität, der diesem Interieurstück notwendig anhaftete, führte den Künstler folgerichtig zu einem Szenenwechsel in die freie Natur, wo der machtvoll aufrecht stehende Zarathustra-Schöpier alle Linien der Landschaft beherrschen konnte. Kunsthistoriker haben versucht, den Bildhintergrund als wenig bedeutungsträchtige „frei erfundene Landschaft" abzutun. 812 Andererseits rekonstruierte Otto Benesch aus der kargen Szenerie kurzerhand „symbolisch die deutsche Mittelgebirgslandschaft", gipfelnd in einer ruinösen Burganlage, „umgeben von kleineren giftgrünen, rosigen und gelben Gebäuden." 813 Vielleicht dachte Benesch an die Verwurzelung Nietzsches in seiner thüringischen Heimat, dem Saale-Tal und den umliegenden Waldbergen, Orte, an denen sich auch Munch gern aufgehalten hat. Mit gleichem Recht ließe sich die Landschaft als Silhouette von Sils am Inn lokalisieren, wollte Munch doch ausdrücklich den „Dichter des Zarathustra" 814 — in der von ihm im Engadin bevorzugten Reisekleidung — vergegen810

811

812 813

814

Dieser Meinung war noch Otto Benesch; vgl. „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", 1962, S. 347. Vgl. „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 27. An gleicher Stelle muß er aber angesichts der endgültigen Bildnisfassug einräumen: „Münchs [ursprüngliche] Idee, Nietzsche in seinem Zimmer in Weimar abzubilden, hätte eigentlich eine Darstellung des kranken Nietzsche erfordert. Diese Konsequenz zu ziehen, war Munch jedoch nicht bereit." P. F. Schmidt, „Nietzsche-Bildnisse", 1934, S. 1. „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", 1962, S. 347. — In der herausfordernd grellen Farbgebung der Bauten spiegelt sich wahrscheinlich das ambivalente Verhältnis zur Stadt, zur „bunten Kuh" der Zarathustra-Dichtung; vgl. I, GA VI, S. 109 („Von der schenkenden Tugend" 1) u. den Abschn. „Vom Vorübergehen" im III. Teil ebd. S. 258 —262. Munch teilte diesen Zwiespalt: vgl. z. B. seine Briefe an E. Förster-Nietzsche vom Herbst 1906; Weimar, NFG (GSA) 72/480. Brief an E. Thiel v. 29. 12. 1905, zit. nach: P. Krieger, Der Lebensfries für Max Reinhardts Kammerspiele, 1978, S. 69.

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wärtigen. Diese Spannung zwischen dem Zeitkostüm eines europäischen Bildungstouristen der 19. Jahrhunderts und dem Pathos eines „Umwerters aller Werte" glaubte Ernest Thiel ins Positive wenden zu können, als er sich im Juli 1906 für das nach Stockholm übersandte Nietzsche-Bildnis bedankte, auf dem seiner Meinung nach „der Prophet und der Mensch zusammenschmelzen." 815 Heute dagegen neigt die Kritik eher dazu, Münchs posthumen Versuch einer gültigen Synthese Zarathustra-Nietzsches als gescheitert anzusehen, da er in der „vertrakten Situation zwischen Nietzschekult und ikonographischem Dilemma nicht recht geraten" konnte. 816 Trotz aller Schwächen, die beim Vergleich der Nietzsche-Bildnisse mit anderen gleichzeitigen Porträtaufträgen unverkennbar sind — man denke nur an das wie aus einem Guß wirkende Gemälde Walther Rathenaus (1907) — wäre es übertrieben, „daß uns die Vision Münchs [neben Oldes realistischer Bestandsaufnahme] fremd erscheint." 817 Dem Künstler war die Problematik eines ohne lebendes Modell gleichsam „rekonstruierten" Porträts von Anfang an bewußt. Es bezeugt Münchs nachhaltiges Engagement für den Dargestellten, daß er sich nicht mit dem Abliefern des Gemäldes begnügte. Statt dessen wagte er mit der graphischen Umsetzung des Motivs eine noch großzügigere „Vision", um dadurch aus dem engsten Kreis der Villa „Silberblick" heraus ein Gegengewicht gegen das Geschäft mit meist belanglosen Reproduktionsdrucken zu bilden. Leider hat die rot und grauviolett getönte, plakathaft stilisierende Lithographie offenbar keine größere Verbreitung in der Verehrergemeinde gefunden, obwohl die Autorität der Archivleiterin sowie Kesslers und Thiels Einfluß hinter Munch standen. 818 Inwieweit der große Norweger durch sein späteres Werk, vor allem mit Hilfe der repräsentativen Bilderfolge für die Aula der Osloer Universität Nietzsches Botschaften verbreiten wollte, bleibt trotz der ernsthaften Forschungsansätze von Svenaeus und Benesch eine offene Frage. 819 Der Verfasser sieht sich in seinem Vorbehalt gegen eine zu großzügig mit „Einflüssen" argumentierende Kunstwissenschaft — vergleiche Abschnitt 1.3 — durch einen Hinweis von Werner Timm bestärkt, der 1979 Münchs Kunst gegenüber vor dem Isolieren „einer einzelnen Beeinflussung" warnte, „pflegte doch [der 815 816

Brief an E. Munch ν. 13. 7. 1906, zit. nach ebd. S. 71. Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, „Münchs fotografische Studien", in: Edvard

Probleme

8,7

eis

819

— Forschungen

- Thesen, 1973, S. 194.

Muncü.

Ebd. Kessler, van de Velde und Thiel ließ sich auch E. Förster-Nietzsche — sogar mehrfach — von Munch porträtieren, vermittelte freundschaftlich Kontakte zu maßgeblichen Nietzscheanern und kaufte Arbeiten des Künstlers. — Im Bereich der NFG Weimar hat der Verf. keine „Nietzscheana" Münchs auffinden können. Vgl. G. Svenaeus, „Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs", 1973, S. 4 1 - 4 4 ; O. Benesch, „Hodler, Klimt und Munch als Monumentalmaler", 1962, S. 350-355.

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Künstler] sich souverän das anzueignen, was seinen eigenen Vorstellungen entgegenkam; die Aneignung war spontan und unsystematisch." 820 Letztlich entstammten alle vom Archiv herangezogenen Künstler — ob Klinger, van de Velde oder Munch — derselben spätbürgerlichen Bildungssphäre, innerhalb derer sich Elitedenken und Weltverbrüderungsideen zu einem oft merkwürdigen Konglomerat gesellten. Auf der Ebene vordergründiger „Gedanken-Malerei", wie sie Sascha Schneider (1870—1927) im Umkreis der Villa „Silberblick" mit großem Erfolg propagierte, mußten sich die Nietzscheaner extreme Manipulationen gefallen lassen. Der an Klinger geschulte „kleine Mann mit den großen Gedanken" gehörte während seiner Lehrtätigkeit an der Weimarer Kunstakademie von 1904 bis 1908 zu den schillerndsten Gästen des Nietzsche-Archivs. 821 Kurz vor der Berufung hatte der Künstler — seinem Panegyriker Felix Zimmermann zufolge — „ein mächtiges Altarbild in der freien Menschheitskirche" (Abbildung fünfzehn) vollendet, auf dem Nietzsche der Ehrenplatz eines Geistesfürsten eingeräumt worden war. 8 2 2 Die Phantasmagorie von Fetischdienern, Priestern und „Vertretern] der Lehren vom Heil der Massen" beherschend, hat Nietzsche im vollen Krönungsornat seinen Thron — ein Zitat aus Klingers Beethovengruppe — verlassen, um sich vor dem Götterbild der „Wahrheit" zu verneigen, während auf dem anderen „Altarflügel" „das Weib, Sinnbild naturhafter Sinnlichkeit, sich umgaukeln läßt vom bakchischen Reigen nackter Menschen, denen Genuß als Wahrheit gilt." 8 2 3 Bei Schneider entartete der weitverbreitete Synkretismus der Jahrhundertwende zur Manie, alles und jedes in den Dienst ressentimentgeladener Massenfeindlichkeit zu stellen, bis seine Bildkonsumenten schließlich auch Nietzsche in der dubiosen Nachbarschaft von Staatsphilosophen des Hohenzollernreiches wie Julius Langbehn und Houston Steward Chamberlain wiederfinden konnten. In der Verkürzung der Idee vom Übermenschen zu einem aggressiven Kraftathletentum erblickte der Künstler ein Anzeichen für die Gesundung der deutschen Nation, „die seiner Meinung nach vor allem anderen berufen scheint, der Welt Licht und Klarheit zu bringen." 8 2 4

820 821

822

823 824

Edvard Munch Graphik, Berlin, 3 1979, S. 36. „Meine Erinnerungen an das Nietzsche-Archiv 1905—06", Manuskript von Johanna Volz, einer Sekretärin E. Förster-Nietzsches (ca. 1935); Weimar, N F G (GSA) 72/2460. Vgl. auch S. 125, Anm. 532. Sascha Schneider, o. J. (ca. 1925), S. 21 ; vgl. dazu auch einen Brief des Künstlers an A. Seidl, von diesem zit. in „Nietzsche-Bildwerke", S. 395. Seidl hatte sich schon früh — unter antisemitischem Vorzeichen — für Schneider eingesetzt; vgl. „Moderne Künstler-Charaktere. 1. Ein Ideen-Maler (1894/95)" in: ders. Kunst und Kultur, S. 192 - 2 0 2 . Beide Zit.: F. Zimmermann, Sascha Schneider, S. 22. Ludwig Volkmann, „Sascha Schneider als Maler", in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 5 ( 1 8 9 9 - 1 9 0 0 ) , S. 56.

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Noch verquälter wirken diese Botschaften, wenn sie nicht wie bei Schneider in monumentaler Pose verkündet wurden, sondern wenn andere Künstler ihre Kleinkunst- und Genremotive durch die gesetzgeberische Autorität Nietzsche-Zarathustras zu nobilitieren versuchten. Abschließend müssen deshalb zwei graphische Gelegenheitsarbeiten von Fidus — vergleiche Abbildung 22 — und Soder — vergleiche Abbildung 24 — vorgestellt werden, die von ihrer ideologischen Stoßrichtung her als zeittypisch gelten dürfen. Beide Blätter — 1906 und 1907 entstanden — illustrierten ein Menschenbild, wie es noch wenige Jahre zuvor nur unter sektiererischen, kleinbürgerlichen Lebensreformern Anklang gefunden hatte. Solange die Nietzscheaner ihr Vorbild in erster Linie als wehrloses Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung begriffen, war eine Umstilisierung des Philosophen zum Aktivisten von Nacktkultur und Rassenhygiene ohne Chance. In Stilkunst um 1900 haben Hamann und Hermand aufgezeigt, daß die scheinbar seit der Jahrhundertwende im Gefolge der Lebensreform einsetzende sexuelle Befreiung in Wahrheit nur die Basis für eine massenwirksame Mobilisierung im Sinne der „Völkischen" verbreiterte.825 Aller Effekte sicher, präsentierte Fidus auf seiner „Am Traualtar" betitelten Federzeichnung für die Jugend826 ein ganz in die heilige Mission der Höherzüchtung ergebenes Menschenpaar. In starrer Frontalität ordnen sich Mann und Frau um den „Altar" der Ehe und akzentuieren gleichzeitig eine für den Künstler typische bedeutungsschwangere „Tempel-Architektur". 827 Während Ludwig Habichs sinnverwandte Monumentalplastiken „Mann und Weib" vor dem Ernst-Ludwig-Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe (1901) immerhin das Pathos zukünftiger „Tempel-Kunst" ahnen ließen, 828 blieb Fidus auf die Uberredungskraft von Bild und Text angewiesen. Durch die Montage des Zarathustra-Zitats829 offenbart der Künstler sein latentes Anlehnungsbedürfnis gegenüber Autoritäten der nationalen Kulturszene wie Wagner, Böcklin oder Nietzsche. 830 Bewußt ersetzte Fidus auch in der floralen Rahmung der Szene die sonst üblichen exotischen Seerosen, Orchideen oder Palmwedel durch eine bodenständige Eichenblattranke. Der junge, 1880 in Basel geborene Radierer Alfred Soder wagte noch einen Schritt über Fidus hinaus, indem er Nietzsche in Person — ohne Umweg über werbewirksame Zarathustra-^arolen — als Vorkämpfer einer lebensreformerischen Freikörperkultur vereinnahmte. Anfangs als Exlibris für Fried825

Vgl. den Abschn. „Das neue Lebensgefühl", S. 168-202, insb. S. 175-178; ebd. S. 176-177 sind 2 lebensreformerische Fidus-Werke abgebildet: „Ehe" (1899) und „Glück" (1898).

826

Vgl. Jg. 1906, 1, Nr. 18, S. 369. Zu diesen Phantasieentwürfen vgl. S. 165, Anm. 699. Abb. z. B. in R. Hamann u. J. Hermand, Stilkunst um 1900, S. 174. Vgl. I, GA VI, S. 102-103, aus der Rede „Von Kind und Ehe". Vgl. S. 86, Anm. 383-384.

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Das Projekt eines Nietzsche-Tempels und -Stadions für Weimar

rieh Berthold Sutter entworfen, verbreitete es dieser wahrscheinlich seit 1910 auch durch seine eigene Verlagsgesellschaft innerhalb der wohl etwas konsternierten Verehrergemeinde des Philosophen. 8 3 1 Die schon von Nietzsche selbst gepflegte Legende seines Lebens in Eis und Gefahren entbehrt — von eifernden Jüngern wörtlich genommen und ins Bild gesetzt — nicht des Komischen. Einen Zeitgenossen unvermittelt in die ikonographische Tradition nackter Heroen und Feldherren der Antike zu entrücken, blieb in der neueren Kunstgeschichte seit einigen halbherzigen Anläufen im Kaiserkult um Napoleon I. fast ohne Beispiel. 8 3 2 Zudem ist der muskelstarke Philosoph bei Soder fern jeder menschlichen Zivilisation beziehungslos über die Sphäre des Irdischen hinausgehoben: mit Ferdinand Hodlers berühmter Jünglingsgestalt teilt er den „Blick ins Unendliche". 8 3 3 Weniger radikal als Soder, doch mit gleich unerfreulichem Resultat, hat Heinrich Heim nach dem Ersten Weltkrieg mit seinem „Zarathustramorgen" — vergleiche Abbildung 35 — versucht, den Mythos vom göttergleichen nackten Nietzsche wiederzubeleben. 4.5 Das Projekt eines Nietzsche-Tempels

und -Stadions für

Weimar

In der Beharrlichkeit, mit der Graf Kessler und Henry van de Velde während der Jahre vor 1914 ihrem Wunschbild eines gigantischen Nietzsche-Festspielforums — Abbildungen 27 bis 29 — anhingen, bekundete sich der gesamtgesellschaftliche Führungsanspruch des Kreises um die Villa „Silberblick" in singulärer Weise: weder Fritz Schumacher vor 1900 noch Paul SchultzeNaumburg nach 1933 haben entfernt darauf hoffen dürfen, daß deren jeweilige Tempelbauvariante — vergleiche die Abbildungen sieben und 37 bis 39 — sich als „Wallfahrtsort" 8 3 4 von Hunderttausenden durchsetzen würde. Nichts Ge831

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Obwohl dem Verf. bisher nur das Exlibris bekanntgeworden ist, muß noch eine zweite Fassung existieren, auf die sich das folgende Gedicht des Nietzscheaners Gustav Pieckert bezieht: „ D e r Gedankeneinsiedler / Zu dem Nietzschebild von Alfred Soder / Einsam und nackt auf der Klippe des Lebens, / starr' ich in den unendlichen Raum, / ruf in der Not meinen Schöpfer vergebens — / ja, ich kenne und ahne ihn kaum. / Tausend Welten hab' ich durchwandert / und war schließlich immer allein, / und, wenn mich das Leben vernichtet, / werd' im All verloren ich sein." Diese in Weimar — N F G (GSA) 72/2932 — als eigenhändiges Manuskript und in einigen „Sonderdrucken" (lose Blätter) erhaltene Interpretation Pieckerts verdeutlicht, wie bei vielen Nietzscheanem das tradierte Bild vom hoffnungslosen Einsiedler aus Sils-Maria noch das neue Pathos des nackten Lebensreformers überlagerte. Vgl. Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts. (Studien zur Kunst des 19. Jhs. der Fritz-Thyssen-Stiftung, Bd. 23), München, 1975, S. 86. 1 9 1 6 gemalt, im Kunsthaus Zürich. Abb. z. B. bei R. Hamann u. J. Hermand, Stilkunst um 1900, S. 156. So E. Förster-Nietzsches zumindest zeitweilige Erwartung an das Projekt, mitgeteilt in einem Brief an H . van de Velde v. 3. 11. 1911, zit. nach: G. Stamm, Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes, Diss., 1969, S. 123.

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ringeres aber bezweckte das zuerst von Kessler seit April 1911 erwogene Gesamtkonzept eines Festspielareals, für das er den Höhenzug im Südwesten Weimars unweit der bestehenden Archiwilla ins Gespräch brachte. 8 3 5 Danach sollte der Zusammenklang von bildender Kunst mit sportlichen Wettkämpfen, Musik, Tanz und Theater inmitten einer ideologisch aufgeladenen Kulturlandschaft — dem „heiligen" Boden „Ilm-Athens" — Menschenmassen im Zeichen Nietzsches vereinen und den Wandel seines Kultes von einer halbprivaten Gemeindeangelegenheit zur Sache der öffendichkeit dokumentieren. Auf eine zentrale Feierhalle und eine Jünglingsstatue Aristide Maillols ausgerichtet, wäre das weiträumige Aufmarschgelände mit der abschließenden Sportarena nur im Massenbetrieb weniger Festtage aus seinem Kulissenschlaf erwacht. So sinnlos auch aus heutiger Sicht diese aufwendige Inszenierung erscheinen mag, besaß der Gedanke an eine Verknüpfung zwischen „totem" Kultbau und „lebendiger" Kampfspielstätte für die Zeitgenossen Kesslers die Faszination einer befreienden Tat. Bereits Ende der 90er Jahre hatte der nationalistische Deutsche Patrioten-Bund beschlossen, seinem Leipziger Völkerschlachtsdenkmal eine „deutsche Kampfbahn" anzugliedern, um „ u n s e r V o l k d u r c h die F o r t b i l d u n g d e u t s c h e r K ö r p e r z u c h t im R a h m e n v a t e r l ä n d i s c h e r K u n s t zu s t ä r k e n . " 8 3 6 Gleichzeitig, aber unabhängig von Kesslers Ideen zur Belebung des Weimarer Nietzsche-Forums wollte Hans Poelzig 1911 seinem Wettbewerbsentwurf für ein Bismarck-Monument bei Bingen „einen sozialen Zweck geben", indem er „das Nationaldenkmal . . . als K a m p f s p i e l h a u s " plante. 837 Schließlich darf man Werner Marchs Berliner „Reichssportfeld" von 1936 in seiner gesuchten Kombination von Sportstadion, Mai-Aufmarschfeld, Langemarck-Feierhalle und Freilichtbühne zu den Nachzüglern der überdimensionalen Festspielplatz-Visionen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zählen. Angesichts dieser unleugbaren Traditionslinie in der Formgebung aller großen Feierstätten bis in die 30er Jahre hinein wird die Frage erlaubt sein, mit welchen künstlerischen Mitteln die Nietzscheaner um Kessler und van de Velde ihre kosmopolitischen Botschaften gegen die Konkurrenz übermächtiger Ideologien abgrenzen wollten — ab 1909 veranstaltete beispielsweise der „Deutsche Schillerbund" in Weimar alljährlich „Nationalfestspiele für die 835 Yg] z g seine schon sehr ins Einzelne gehenden Erläuterungen für Hofmannsthal v. 16.4.1911, abgedruckt in: Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898—1929, S. 323—325. Ebenso müssen der Archivleiterin von Anfang an Kesslers weitreichende Ambitionen klar gewesen sein; vgl. seinen Brief mit 2 Skizzen von Tempelbau und Festspielforum vom 15.4. 1911; Weimar, NFG (GSA) 72/393. 836

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Beide Zit. aus: Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, S. 40; Grundriß und Vogelschau der Gesamtanlage mit Aufmarschallee, Kampfbahn, Denkmalsvorplatz, Wasserbecken und Denkmal ebd. S. 9 4 - 9 5 . Theodor Heuss, Hans Poelzig. Lebensbild eines Baumeisters, Tübingen, 3 1955, S. 52.

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deutsche Jugend" im Zeichen der Heimatkunst und des Chauvinismus. War eine Abbildung von Grundgedanken Nietzsches, wie sie van de Velde noch in den grazilen Interieurs für die Villa „Silberblick" vorgeschwebt hatte, auf die ganz anders geartete Bauaufgabe eines monumentalen, erdgebundenen Festspielforums übertragbar? Welche Architektursprache sollte den aristokratischen Außenseiter Nietzsche mit den Volksmassen zusammenführen? Ohne Nietzscheaner sein zu müssen, empfanden aufmerksame Zeitgenossen die modernen Sportarenen längst als letzte Hoffnung auf eine echte, gemeinschaftsbildende Nachfolge im Sinne der gotischen Kathedrale. Allgemein hatte der Sport, wie es Paul Fechter 1923 formulierte, „einen Teil der zusammenfassenden Funktion des Religiösen übernommen." 838 Es spricht für die soziale Tragweite dieser Ersatzreligion, daß sie sogar den ursprünglich im Ästhetizismus der 90er Jahre verwurzelten NietzscheKult erfaßte und Kessler in ihr ein legitimes Werbemittel für seine Sammelstätte des „Neuen Weimar" erblicken durfte. Wenn der folgende Text hier die Tempelbauidee der Nietzscheaner trotz ihres Scheiterns als das herausragende Zeugnis für die Widersprüche aller Kultwerke am Vorabend des Ersten Weltkrieges zitieren kann, so verdankt er dies der gründlichen Aufarbeitung des Projekts durch die schon in Abschnitt 4.3 — Anmerkung 727 — aufgeführten Beiträge Karl-Heinz Hüters und insbesondere Günter Stamms. Nachdem Stamm schon 1969 in seinen Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes die komplizierte Reihenfolge der Bauplanungsphasen zwischen Anfang 1911 und Mitte 1912 größtenteils entwirrt hatte, 839 vertiefte der neuere Aufsatz über „Monumental Architecture and Ideology: Henry van de Velde's and Harry Graf Kessler's Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910—1914" seine zentrale These von der Schlüsselrolle des Weimarer Monumentalauftrags für das spätere Oeuvre des Belgiers.840 Insbesondere aber hat der Autor aufgrund seiner Recherchen in Brüsseler Archiven bisher unbekannte, weil schnell wieder verworfene Tempelbauentwürfe van de Veldes aus dem Jahre 1911 — beispielsweise Abbildung 27 — zutage gefördert, die eine im ersten Augenblick höchst verblüffende Anpassung des Künstlers an den um 1910 in Deutschland marktgängigen, akademisch-imperialen Neoklassizismus belegen. 841 Weniger verwunderlich erscheint diese Kompromißbereitschaft van de Veldes, vergegenwärtigt man sich mit Karl Scheffler die „gefährliche Isolie838 839

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„Der Kultbaugedanke in der neuen Architektur", S. 59. Vgl. ebd. den Abschn. IV 5.: „Ein Nietzsche-Denkmal für Weimar. Projekt. 1911-1914", S. 101-130. Vgl. Gentse Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis, Bd. 23 (1973-1975), S. 303-342. Vgl. ebd. S. 315 u. 317, Abb. 6 u. 7 (April-August 1911); S. 319, Abb. 9 (August-Dezember 1911).

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rung", in die „dieser seltene Mann . . . durch die Vernachlässigung, die er in Weimar erlebt [hatte]" gegen 1910 geraten war. 8 4 2 Während der Belgier nach einem Jahrzehnt Arbeit für Weimar noch immer auf den ersten wirklichen Großauftrag hoffte, glaubte Scheffler als Chefredakteur von Kunst und Künstler und damit als einer der einflußreichsten Essayisten Deutschlands seine Landsleute fast verzweifelt an die guten heimischen Traditionen eines fairen Kosmopolitismus erinnern zu müssen. 8 4 3 Wenn Scheffler an gleicher Stelle an seine Lesergemeinde appellierte, daß sie endlich van de Velde zu ,,Aufträge[n] für rein darstellende . . .Repräsentationsarchitekturen" verhelfen möge, 8 4 4 so trug er damit einen schon lange von Kessler gehegten Wunsch in die Öffentlichkeit. Spätestens seit seinen deprimierenden Weimarer Erfahrungen als beamteter Kulturpolitiker gehörte es zu den erklärten Lebenszielen Kesslers, durch privates Mäzenatentum „Vandevelde irgendwie und irgendwo einen größeren monumentalen Auftrag zu verschaffen." 8 4 5 Warum Kessler ab 1911 diesen Markstein der „Moderne" gerade in der Stadt errichtet wissen wollte, in der seine Kunstpolitik schon einmal durch lokale Intrigen — vergleiche die Seiten 143 bis 147 — zu Fall gebracht worden war, entzieht sich jeder nüchternen Abwägung der Kräfteverhältnisse am Ort. Ein Nietzsche-Forum als neue Stadtkrone Weimars, zudem von den „artfremden" Künstlern Maillol und van de Velde errichtet, mußte für die meisten Bewohner der kleinen Residenz zur Provokation werden. Die ideologische Kampagne zur Vorbereitung des Jubeljahres 1913 bot den Rechtskräften willkommenen Anlaß, aus dem historischen Sieg über Napoleon ein deutsches Sonderbewußtsein gegenüber seinen westlichen Nachbarn auch auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu konstruieren. Angesichts dieser feindseligen Grundströmung war auch ein geistig und finanziell unabhängiger „guter Europäer" wie Kessler zum Taktieren gezwungen. In drei langen Briefen an die Archivleiterin aus den ersten Februartagen 1911 versuchte er beispielsweise, deren Furcht vor einer maßlosen Modernität der zukünftigen Gedächtnisstätte für ihren Bruder zu zerstreuen: „ . . . ein Denkmal ganz ohne [herkömmliche allegorische] Plastik ist doch wohl nicht denkbar." 8 4 6 Weiterhin sollte Klingers Beteiligung „durch zwei an den SeitenVgl. Henry van de Velde. Vier Essays, Leipzig, 1913, III (vom Nov. 1911), S. 5 3 - 7 8 ; Zitate: S. 6 0 - 6 1 . 843 Vgl. ebd. insb. S. 53—55. — In Schefflers Festrede zu van de Veldes 50. Geburtstag im Nietzsche-Archiv am 3. April 1913 ist schließlich die alte liberal-weltbürgerliche Grundhaltung auf problematische Weise mit imperial-machtpolitischen Argumenten für die Zukunft der deutschen Kunst verknüpft; vgl. ebd., Essay IV, S. 79—100. 8 4 4 Ebd., Essay III (Nov. 1911), S. 74. 8 4 5 Brief Kesslers v. 14. 7. 1906, zit. nach: Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898-1929, 1968, S. 121. 8 4 6 Brief v. 5 . 2 . 1911; Weimar, N F G (GSA) 72/393. 842

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wangen [von Maillols Jünglingsmonument] angebrachte große Reliefs" die Seriosität des Projekts untermauern. 847 Frau Förster-Nietzsche hatte wohl zuerst gehofft, entweder den durch seine große Porträtherme bewährten Leipziger Nietzscheaner oder den jungen Georg Kolbe mit einem Standbild des Philosophen betrauen zu können. Während also die Nationalität der angesprochenen Künstler von Anfang an Zündstoff für Fraktionsbildungen unter den Nietzscheanern lieferte, schienen Umfang und Finanzierbarkeit der neben dem Archivgarten vorgesehenen, relativ bescheidenen Gedächtnisstätte zwischen Kessler, van de Velde und Frau Förster-Nietzsche bis Mitte April 1911 unstrittig. 848 Bereits am 12. März hatte sich ein „Arbeitsausschuß für die Errichtung des Nietzsche-Denkmals in Weimar" konstituiert, in dem Kessler neben anderen Walther Rathenau und Paul von Schwabach als Vertreter des Großkapitals mit Anton Kippenberg, dem Chef des Insel-Verlages und Adalbert Oehler als dem Sprecher der Angehörigen Nietzsches an einen Tisch brachte. Darüberhinaus vermochte Kesslers Autorität, binnen weniger Tage zahlreiche Prominente, darunter André Gide, Gustav Mahler und Richard Strauss, für das Komitee und damit für die Stärkung Weimars als Sammelstätte der Nietzsche-Bewegung zu engagieren. Kessler zufolge sollte möglichst „Alles . . ., was einen g r o ß e n N a m e n oder ein g r o ß e s Vermögen h a t " , 8 4 9 für einen Nietzsche-Festspielhügel über Weimar werben oder zahlen. Mit diesem schon einleitend skizzierten Gedankenflug Kesslers, der letztlich eine Metamorphose des Bayreuther Mythos vom Gesamtkunstwerk unter Einschluß der Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts ansteuerte, 850 konnte van de Veldes Einbildungskraft bei der Formung des zentralen Tempelbaus nicht Schritt halten. Wie manch anderer Architekt der „Jugendstil-Generation" — man denke nur an Peter Behrens — suchte van de Velde nach Jahren sich überstürzender 847 848

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Brief Nr. 2 v. 3.2. 1911; ebd. Z. B. war Kessler Anfang Februar überzeugt, daß allein Ernest Thiel „die Hälfte der Summe . . . 23.000,- M" überweisen könne. Brief Nr. 1 v. 3.2. 1911; ebd. Brief v. 16.4. 1911, zit. nach: Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898-1929, S. 323. G. Stamm hat mit Recht auf die weiterbestehenden Klassenschranken bei den geplanten Nietzsche-Festspielen hingewiesen: „The essence of the intended ideology becomes transparent: Nietzsche replaced Christ as spiritual center, the initiated elite underwent a constant and emotional renewal in the inside of the temple while masses of young people performed in the name of Nietzsche in the stadium and celebrated the 'beauty of vigour and force'. A more intimate relation between monumental architecture and ideological manipulation on a mass scale level is difficult to imagine in European societies prior to 1914." „Monumental Architecture and Ideology: Henry van de Velde's and Harry Graf Kessler's Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910-1914", S. 314-315. Andererseits dokumentiert die Einbeziehung der Volksmassen, wenn auch vorerst nur als Hintergrundstaffage, deren wachsendes gesellschaftliches Gewicht. — Schon Wagner hatte seine Festspielpläne an ein — allerdings erst durch den Künstler zu formendes — Volk adressiert, nicht an ein zahlendes Bürgerpublikum.

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Experimente zumindest zeitweise Rückhalt in der Wiederbelebung des klassischen Formenkanons. Eine Reise ins östliche Mittelmeer, nach Griechenland, Ägypten und Palästina am Anfang seiner Weimarer Tätigkeit 1903 unternommen, ließ den Künstler geradezu ins Schwärmen geraten: neben Nietzsches Kampf gegen den „Geist der Schwere" rief er nun insbesondere den dorischen Tempel als historischen Zeugen seiner Sehnsucht nach Entmaterialisierung der Materie, nach Durchgeistigung der Werkstoffe auf. 8 5 1 Leider vermitteln die von Stamm entdeckten Tempelbauentwürfe aus dem Jahre 1911 — so die Abbildung 27 — das genaue Gegenteil von Grazie und Heiterkeit im Sinne Nietzsche-Zarathustras. Vielmehr macht sich das Imponiergehabe eines düsteren Werkstein-Klassizismus, wie ihn Alfred Messel richtungweisend beim Ausbau des Berliner Museen-Forums am Kupfergraben verwendete, 852 unangenehm bemerkbar. Nach fast einjähriger Planungszeit verständigten sich Kessler und van de Velde gegen Ende 1911 darüber, daß der Weg zu wahrer Monumentalität und Unverwechselbarkeit eines Tempels der Nietzsche-Bewegung nicht über akademische Stilzitate führen könne. Zudem sollte der von Kessler mit „20 bis 25 Meter" Seitenfront recht bescheiden dimensionierte Tempelbau 853 ein Festspielareal beherrschen, dessen Längsachse nach und nach auf rund einen Kilometer angewachsen war. Konsequent betonte van de Velde deshalb in einer neuen Entwurfsreihe vom Frühjahr 1912 — vergleiche Abbildung 28 — zyklopenhafte, auf Fernwirkung berechnete Architekturformen. Außerdem ließ der Künstler die vorerst noch „kirchenschiffartig" auf eine „Altar"-Schmalseite orientierte Kultstätte 854 über ihre Umgebung emporwachsen, indem er die Außenfassade durch vertikale Bauglieder (Pfeilervorlagen am geschoßhohen Sockel, lanzettförmige Fensterreihen im Obergeschoß) auftürmte. Schließlich näherte sich van de Velde in seinem letzten, vom Denkmalskomitee im Juni 1912 offiziell zur Ausführung bestimmten Entwurf der reinen Turmform (Abbildung 29). 8 5 5

Vgl. van de Veldes Notizen von einer Reise nach Griechenland, Weimar, 1905. Die nachgelassenen Pläne des Architekten hatte Wilhelm von Bode 1910 veröffentlicht. Vgl. Berlin und die Antike. Architektur. Kunstgewerbe. Malerei. Skulptur. Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, Ausst.-Kat., Berlin-West, 1979, S. 373-374, Kat.-Nr. u. Abb. 800-802. 853 Ygi Profilskizze des Festspielhügels, die Kessler seinem Brief an E. Förster-Nietzsche v. 15.4. 1911 beigab; Weimar, NFG (GSA) 72/393. 8 5 4 Abb. einer Schrägansicht bei G. Stamm, „Monumental Architecture and Ideology", S. 323, ebd. auf „April-May 1912" datiert. Irrtümlich hatte Karl-Ernst Osthaus in: Van de Velde. Leben und Schaffen des Künstlers, Hagen, 1920, S. 138, dieselbe Entwurfsvariante als letztgültigen Bauplan veröffentlicht; ebd. S. 139 bildet der Verf. den „Grundriß des Tempels in Emporenhöhe" mit „Orgel" und „Sänger-Platz" ab. 8 5 5 Vgl. auch die 4 Abb. bei G. Stamm, ebd., S. 328-329.

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Als blockhafter, kuppelbekrönter Zentralbau erinnert der Versammlungsort der Nietzscheaner an orientalische Grabanlagen. Er scheint dem Totenkult geweiht und wenig geeignet für die dort von Kessler geplante Pflege von Tanz, Musik und Gesang im Zeichen des Dionysos. 8 5 6 Der bei Stamm veröffentlichte quadratische Grundrißplan 857 läßt keine Schlüsse auf ein spezifisches Zeremoniell der Nietzsche-Jünger, auf rituelle Handlungen oder den späteren Einbau von Kultobjekten zu. Unklar bleibt auch, ob der Kreis um die Villa „Silberblick" zu diesem Zeitpunkt — Juni 1912 — an eine Beisetzung Nietzsches auf dem Festspielareal dachte. Nach Kenntnis des Verfassers ist von einer „Grabstätte" des Philosophen in Weimar, die „in noch zu erörternder Form und Umfang ihre künstlerische Ausgestaltung durch van de Velde" erhalten sollte, erstmals Ende 1913 die Rede: „Frau Förster-Nietzsche wird sich mit genanntem Künstler wegen Anfertigung beiderseits unverbindlicher und kostenloser Vorschläge . . . in Verbindung setzen." 8 5 8 Damals hatte sich auf Anregung van de Veldes Frau Förster-Nietzsche mit Graf Kessler und Eberhard von Bodenhausen getroffen, um angesichts der chronischen Finanznot der Villa „Silberblick" den laufenden Archivbetrieb vor allen Kultbauprojekten sicherzustellen. Inzwischen erreichten die Anfeindungen nationalistischer Künstler gegen Kesslers Idee eines weltoffenen Festspielforums ein Ausmaß, 8 5 9 das es aus taktischen Gründen ratsam erscheinen ließ, die A u s f ü h r u n g dieses Gedankens sowie eines mit solchem Stadion in Verbindung zu bringenden grösseren Nietzsche-Denkmals . . . bis zur Klärung und erfolgten Realisierung der beiden A u f g a b e n ad I [Sanierung der Archivfinanzen] und II [Bau eines Grabmals in Weimar]

vorläufig zurückzustellen. 860 Kesslers spektakuläres Unternehmen durfte also zum Jahreswechsel 1913/14 nicht „als erledigt" betrachtet werden, wie van de Velde nachträglich in seinen Memoiren einschätzte. 861 Vielmehr trennte man

856 Vg] z β die Angaben Kesslers in seinem Brief an Hofmannsthal v. 14. 4. 1911, in: Hugo von Hofmannsthal. Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898-1929, S. 324. 857 Vgl. „Monumental Architecture and Ideology", S. 329. 8 5 8 „Protokoll über: Besprechung betreffs Stiftung und Nietzsche-Denkmal" zwischen E. Förster-Nietzsche, Graf Kessler und E. von Bodenhausen-Degener in Haus Orplid in Breitbrunn am Ammersee v. 21. 12. 1913; masch. Durchschlag in "Weimar, N F G (GSA) 72/1608. 8 5 9 Bereits im Sommer 1911 präsentierten diese Kreise Frau Förster-Nietzsche einen Brief ihres Bruders, in dem eine — in den 80er Jahren! — diskutierte Wiederbelebung antiker Festspielideen lächerlich gemacht wurde: „Die Nachäfferei des Griechentums durch dieses reiche, müßiggängerische Gesindel aus ganz Europa ist mir ein Greuel". Zit. nach: H . van de Velde, Geschichte meines Lebens, S. 351. 8 6 0 „Protokoll über: Besprechung betreffs Stiftung und Nietzsche-Denkmal" v. 21. 12. 1913; Weimar, N F G (GSA) 72/1608. 861 Geschichte meines Lebens, S. 353.

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nur das Festspielprojekt von der brennenderen Forderung nach einer würdigen Grabstätte für Nietzsche, wohl im Hinblick auf die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des Philosophen am 15. Oktober 1914. Die „grausame Enttäuschung" van de Veldes, sich auf dem Dorffriedhof von Röcken „nicht vor einer eindrucksvollen Gedenkstätte oder einem Nietzsches würdigen Denkmal verneigen zu können", 8 6 2 war allgemein. Noch zu Lebzeiten Nietzsches hatte Kessler die Archivleiterin gedrängt, „an der Beisetzung im Engadin festzuhalten" 863 und ihren Bruder nicht in der Familiengruft oder im Garten des Weimarer Archivs — der Stätte seines Siechtums — beerdigen zu lassen. Den Anstoß für Kesslers schließliches Ja zur Uberführung des Philosophen in die Goethe-Stadt bildete vermutlich seine Sorge vor einem Zersplittern des Nietzsche-Kultes auf die beiden Zentren Weimar und Sils-Maria. O b van de Velde in den wenigen hektischen Monaten bis zu seinem Entlassungsgesuch am 15. Juli 1914 noch Kraft zur Ausformung der n e u e n Bauidee eines Nietzsche-Grabmales fand, ist sehr zweifelhaft. Allerdings hatte sich die öffentliche Kontroverse um das Festspielforum aufgrund der taktischen Zurückhaltung Kesslers beruhigt. Die unschlüssige Haltung sogar des Weimarer Hofes erklärte sich nicht zuletzt aus ökonomischen Spekulationen: „Eine neue Goldader — der Kult Friedrich Nietzsches — war in dem Augenblick entdeckt worden, als die Mediokrität der ,Goethe-Priester' den GoetheKult zu entwerten drohte." 8 6 4 Die Fronten des Ersten Weltkrieges zersprengten wie mit einem Schlage die von Kessler in zwei Jahrzehnten Reisetätigkeit weltweit aufgebaute Internationale der Nietzsche-Verehrer und deren Tempelbaukampagne. Aber selbst ein untergeordnetes Denkmalprojekt, dem die Archivleiterin im Vorfeld des Nietzsche-Jubiläums Chancen eingeräumt hatte, war seit dem Kriegsausbruch blockiert: so kam es nie zur Aufstellung der von Karl Donndorf 1914 für den „Park" der Villa „Silberblick" erdachten Nietzsche-Säule (vergleiche den folgenden Abschnitt 4.5.1 und die Abbildung 32). Für den Nietzscheaner van de Velde bewirkten die Schikanen und die Hetze, denen er wie seine Familie als feindliche Ausländer in Deutschland ausgesetzt waren, keinen Bruch mit seinem philosophischen Vorbild. Im Gegenteil fand sich in Weimar ein aufschlußreicher Brief des Künstlers aus dem Schweizer Exil vom 25. August 1918, worin er der ihm weiterhin menschlich verbundenen Archivleiterin über einen Besuch Sils-Marias berichtet: auf der Halbinsel Chasté

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Ebd., S. 191 u. 192. „Harry Graf Kessler. Aus den Tagebüchern", 1968, S. 74, Eintragung v. 7. 8. 1897. H. van de Velde, Geschichte meines Lehens, S. 352.

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empfand ich [van de Velde] einen Chauer als ob ich plötzlich vor einem Tempel, einem Mausoleum stehen würde, wo ich mit Nietzsche selbst in Berührung kommen werde. . . . Dort erschien mir mein Entwurf des Tempels, welchen ich für Weimar entwarf und auf der Chasté habe ich ihn nun, in Gedanken, vollendet. 8 6 5

An gleicher Stelle beschwor der Belgier mit fast expressionistischem Pathos die ,,unheimliche[n] Farbenklänge" im Lichttempel der Natur, der die „ganze Sehnsucht der Menschheit nach ,Ewigkeit' verwirklichen sollte." 866 1918, auf dem ersten Höhepunkt expressionistischer „Kristallomanie" und „alpiner" Tempelbauvisionen,867 verschmolz für van de Velde die Idee einer NietzscheKultstätte mit den heiligsten Zielen des vom Krieg erschütterten Europa. Der heranwachsenden Architektengeneration der Bruno Taut (1880-1938), Walter Gropius (1883-1969) und Erich Mendelsohn (1887—1953) begegnete in van de Velde eine ihrer großen, aber zugleich schwierigen „Vaterfiguren", da der Ältere nicht — zumindest in seinen Bauten — den „mystischen Uberschwang der Jungen" teilen wollte. 868 Wie das Bekenntnis des Belgiers aus Sils-Maria unterstreicht, gab es jedoch Ansatzpunkte zu einem Gedankenaustausch, vielleicht sogar zu einer Koalition zwischen einigen Stilerneuerern der Jahrhundertwende und den jungen Pathetikern von 1920 gegen die etablierten Pragmatiker aus dem „Deutschen Werkbund". Der Kult um den in Eis und Hochgebirge erprobten Menschheitsapostel Nietzsche beflügelte Alte wie Junge. Also sprach Zarathustra „war auch für Expressionisten noch ein kanonisches Buch." 8 6 9 Es ist deshalb kein Zufall, wenn bald nach Kriegsende bei zwei so unterschiedlichen Temperamenten wie Henry van de Velde und Bruno Taut die Idee auftauchte, Gleichgesinnten mittels monumentaler Schrifttafeln Kernsätze Zarathustras ins Gedächtnis zu rufen. Auch die analoge Textauswahl überrascht nicht: während Taut 1919 sein „Monument des neuen Gesetzes" mit der Zarathustra-Rede „Vom neuen Götzen" bestückte, 870 entschied sich der Belgier nach jahrelangen Überlegungen zu einem Nietzsche-Gedenkstein im Landschaftspark „De Höge Veluwe" (1919-1925, Abbildung 30) für den Ab-

Vgl. Weimar, NFG (GSA) 72/653. Ebd. 867 Vgl. Wolfgang Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart, 1973, insb. die Abschn. „Schrein aus leuchtendem Kristall" (S. 37—41) u. „Der Schatten Friedrich Nietzsches" (S. 4 2 - 4 3 ) ; Zitate S. 38 u. 42. 8 6 8 Ebd., S. 55. 8 6 9 Ebd., S. 42. 8 7 0 Text: vgl. GA VI, S. 6 9 - 72; Abb. des Monuments u. a. in: Bruno Taut 1880-1938, Ausst.Kat. der Akademie der Künste, Berlin-West, 1980, S. 93. Taut nahm Nietzsche-Zarathustras Pathos wörtlich und hängte die neuen gläsernen Gesetzestafeln — darunter Aussprüche Martin Luthers, Karl Liebknechts und Paul Scheerbarts — hoch über die Volksmassen an ein turmartiges kristallines Monument. 865 866

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schnitt „ V o m Wege des Schaffenden". 8 7 1 Beide Monumente hätten dem Besucher mit Nietzsches Wortgewalt von der Einsamkeit der schöpferischen Menschen, von der gesellschaftlichen Isolation der modernen Künstler im bürgerlichen Staat, dem ,,kälteste[n] aller kalten Ungeheuer", 8 7 2 berichtet. Die Rückgriffe Tauts und van de Veldes auf die ureigenste Materie des Philosophen, seine Satz für Satz überprüfbaren Reden, erwecken den Anschein wiedergewonnener Authentizität. Statt die Vielfalt Nietzsches weiterhin unter eine Architekturchiffre zwingen zu wollen, oder gar seine — mehr oder weniger zufällige — äußere Erscheinung auf einem Denkmalssockel abzubilden, verzichtete der neue Typ des Monuments weitgehend auf formale Effekte. Die sparsame Ornamentierung der Schrifttafeln, ihre landschaftliche Einbettung oder künstliche Beleuchtung sollten nur noch die in Worten festgeschriebene Lehre Nietzsches illustrieren. So widerstand van de Velde der Verlockung, die weiträumige „heroische" Heidelandschaft der „ H ö g e Veluwe" als Kulisse zu einem monumentalen Denkmalsbau auszunutzen. Der Künstler mußte offenbar erst seine Auftraggeberin, die Nietzsche-Verehrerin Frau Helene Kröller-Müller, von der U n brauchbarkeit der seiner Meinung nach überholten Weimarer Tempelbaupläne aus der Vorkriegszeit überzeugen. 8 7 3 Statt dessen wollte sich der Belgier mit einem urtümlichen Denkzeichen ohne jeden Skulpturenschmuck begnügen. Der schmale, etwa fünf Meter hohe und leicht abgerundete Monolith bedient sich dabei bewußt der Faszination rätselhafter Menhire und Runensteine. Die ganze Anlage, von einer Terrasse mit Sitzbänken hinterfangen, erinnert vage an steinzeitliche Kultplätze, andererseits sind Parallelen zu den überall nach 1918 entstehenden Gefallenen-Gedenkstätten unverkennbar. Das für Massen berechnete Weimarer Festspielforum schrumpfte in van de Veldes Plänen für die „ H ö g e Veluwe" zu einem „kargen Meditationsort" 8 7 4 für einzelne Nietzsche-Pilger zusammen, wo sie inmitten der abgeschiedenen Landschaft das im Zarathustra-Text beschriebene Schicksal der „Schaffenden" beklagen konnten. Darf man diese Verfahrensweise des Belgiers mit Stamm 8 7 5 überwiegend positiv als Ausweg aus der Sackgasse werten, in die das klassische Figurenstandbild und auch das Architekturdenkmal geraten war? Gab es Alternativen, um den im Weimarer Nietzsche-Monument schon erreichten Abstraktions871

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Text: vgl. G A VI, S. 91—94; Abb. des Denkmalprojekts bei G. Stamm, „Monumental Architecture and Ideology", S. 334 u. 335. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, G A VI, S. 69 („Vom neuen Götzen"). Das opulent ausgestattete, in Details aber widersprüchliche Werk A. M. Hammachers Die Welt Henry van de Veldes bleibt in diesem Punkt unklar; vgl. ebd. S. 154. G. Stamm, Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes, S. 133. Vgl. ebd., Abschn. IV 8.: „Ein Nietzsche-Denkmal für Holland. Projekt. 1925", S. 132-135, insb. S. 134.

Das Projekt eines Nietzsche-Tempels und -Stadions für Weimar

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grad — das „Sprachvermögen" der Architektur — weiter zu entwickeln, ohne sich auf die Autorität der Schrift zurückzuziehen? Mit seiner notgedrungen willkürlichen Textauswahl teilte van de Veldes „literarischer" Nietzsche-Gedenkstein prinzipiell eine Schwäche vieler plakativer Kultprodukte: unter Anrufung des Philosophen riß man einzelne Sentenzen aus dem Zusammenhang — vergleiche die Abbildungen zehn, dreizehn, 21 oder 22 — und konnte sie danach zu Propagandaparolen für alles und jedes degradieren. In Weimar, wo weder vor noch nach der Novemberrevolution ein avantgardistisches Nietzsche-Monument zustande kam, bewies Walter Gropius 1922 mit der Errichtung seiner Architekturplastik für die Opfer des Kapp-Putsches, 8 7 6 daß diese bislang konservativste Kunstgattung — die Bildhauerei — Anschluß an die abstrakte Formenwelt der Malerei und Architektur gefunden hatte. Von der Weimarer Arbeiterschaft getragen, wurde, das Totenmal in seiner dynamischen Blitzform sogleich auch als Symbol für den ungebrochenen revolutionären Elan des Proletariats interpretiert. Hierbei drängt sich die Frage auf, ob die von Gropius erdachte kristalline Betonskulptur nicht ebenso zwingend den Blitz des Ubermenschen und damit die Umwertung aller Werte im Sinne Nietzsche-Zarathustras hätte veranschaulichen können? Es war enttäuschend, mußte aber bei der Provinzialisierung des Kreises um die Villa „Silberblick" in den 20er Jahren — vergleiche Abschnitt 4.6.1 — erwartet werden, daß die Nietzscheaner nicht mehr den Mut fanden, sich mit dem benachbarten Bauhaus auf künstlerische Experimente einzulassen. So blieb Kesslers Festspielforum der letzte und zugleich ernsthafteste Versuch, mit Rückendeckung der Archivleiterin den Urbanen Qualitäten innerhalb der Nietzsche-Bewegung eine Plattform zu eröffnen. Dieser Standpunkt behält auch angesichts der einleitend festgestellten architektonischen Verwandtschaft des Weimarer Areals mit dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal und anderen Sammelplätzen der Rechtskräfte seine Gültigkeit. Andernfalls müßte eine starr formalistische Betrachtungsweise Henry van de Velde die Gesinnung eines Wilhelm Kreis unterstellen, weil erst dessen Entwurf zum Hamburger Bismarck-Denkmal (1902) 8 7 7 nachweislich das latent Zyklopenhafte und Turmartige in den Tempelbauentwürfen des Belgiers zur Ausprägung gebracht hatte. Bedenklicher erscheint schon, wenn van de Velde, nachdem er von Kessler im Dezember 1911 auf Kreis und dessen Gabe zur Verdichtung einer gro-

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5 Abb. ζ. B. in: Wem gehört die Welt — Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik, Ausst.-Kat., Berlin-West, 1977, S. 289-291. Abb. in: Carl Meissner, Wilhelm Kreis (Charakterbilder der neuen Kunst, Bd. 6), Essen, 1925, Tafel V.

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

ßen Persönlichkeit in einer „grande formule architectonique" hingewiesen worden war, 8 7 8 nach Anleihen beim späten Nietzsche über den Macht- und Einschüchterungscharakter von Architektur zu suchen begann. 879 Hier drohte des Künstlers Vorliebe für die Monumentalkunst Ägyptens und deren „Motive der Eternität" 880 in die Nähe von Ideologien zu geraten, wie sie gerade 1911 Α. M. Ludovici in seiner Konzeption der „Ruler Art" den Nietzscheanern für deren Tempelbauideen nahegelegt hatte. 881 Letztlich aber dominierte das Leitbild vom weltoffenen „guten Europäer" ein Festspielforum, von dem aus André Gide oder Bernard Shaw die Nietzscheaner zur Völkerverständigung hätten aufrufen können. So utopisch dies auch am Vorabend des Ersten Weltkrieges erscheinen mußte: die erschreckend erfolgreiche Propagandaarbeit der Militaristen an ihren Aufmarschplätzen in Leipzig oder am Kyffhäuser zeigte, wie vordringlich ein Abwerben ihrer vielen Mitläufer durch die Konkurrenz von Massenveranstaltungen in Kesslers Nietzsche-Stadion gewesen wäre.

4.5.1 Die Nietzsche-Säule Karl Donndorfs und der geplante Archiv-Garten Im Frühjahr 1914 ließ die Archivleiterin ein ausdrücklich „Nicht für die Öffentlichkeit" bestimmtes Rundschreiben „An die Freunde und Verehrer Friedrich Nietzsches" drucken. 882 Der von Hofmannsthal und van de Velde, nicht aber von Kessler 883 unterzeichnete exklusive Aufruf zum 70. Geburtstag des Philosophen kündigte zum 15. Oktober 1914 eine „große [im Entwurf folgte hier noch das Wort,internationale'!] Ehrung" an, deren Kernstück ein „Nietzsche-Fonds" zur ,,dauernde[n] materielle[n] Sicherstellung" der Villa „Silberblick" bilden sollte. 884

Brief v. 12. 11. 1911, erstmals veröffentlicht bei G. Stamm, Studien zur Architektur und Architekturthoerie Henry van de Veldes, S. 124 bzw. „Monumental Architecture and Ideology", S. 322. 879 Vgl., Geschichte meines Lebens, S. 351—352. ββο Vgl ¿¡g Ausführungen R. Hamanns in seiner Theorie der bildenden Künste, Berlin-DDR, 1980, Abschn. V. 2. „Das Wesen der Monumentalkunst"; Zit.: S. 32. 8 8 1 Vgl. Abschn. 4.1.1, S. 155 u. 1 5 8 - 1 5 9 . 882 Vierseitiger Prospekt, Weimar, NFG (GSA) 72/1608; ebd. einige masch.-schriftliche Entwürfe. 8 8 3 Am 21. 2. 1914 hatte R. Oehler in einem Brief an seine Tante E. Förster-Nietzsche u. a. Klinger und van de Velde als Unterzeichner vorgeschlagen, den Namen Kesslers aber mit einem Fragezeichen versehen. Oehler Schloß: „Weißt Du noch andere Namen, die ziehen?" Weimar, NFG (GSA) 72/1608. — Den endgültigen Text unterschrieben dann neben anderen Prominenten M. Liebermann, R . Strauss und Th. Mann. 8 8 4 „An die Freunde und Verehrer Friedrich Nietzsches", 1914, Weimar, NFG (GSA) 72/1608. 878

Das Projekt eines Nietzsche-Tempels und -Stadions für Weimar

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D e s weiteren ist die Errichtung eines N i e t z s c h e - D e n k m a l s in der N ä h e des Nietzsche-Archivs in Aussicht g e n o m m e n ; dieses D e n k m a l ist gedacht als eine zugleich architektonische und bildhauerische Schöpfung, die, an das Archiv auf der freien H ö h e über Weimar sich anschließend, mit der Innenausstattung desselben stilistisch im Einklang steht und mit dem Archiv zusammen eine künstlerische einheitliche Wirkung erzielt. 8 8 5

Diesem Text nach zu urteilen, wollten die Nietzscheaner ihre Kräfte auf ein überschaubares, sich harmonisch dem Villenbau anpassendes Denkmal konzentrieren, nicht mehr — oder noch nicht wieder — auf das große Tempel- und Stadion-Projekt Kesslers. 886 In Weimar hat sich dazu ein „1914" datierter „Alter Entwurf für den Garten des Nietzsche-Archives" erhalten, worin die Erweiterung des Grundstücks zu einem kleinen Park vorgeschlagen wird : auf dem Steilhang unweit der Villa „Silberblick" war danach ein Denkmal mit kreisförmigem Grundriß geplant, zu dem vom tieferliegenden Stadtteil eine ungefähr 100 Meter lange „Allee" mit abschließender, zweiarmig gekrümmter Treppenanlage emporführen sollte. 887 Während van de Veldes Lage im Frühsommer 1914 immer bedrohlicher wurde und der Künstler die Aufgabe seiner Weimarer Position vorbereitete, überraschte Karl Donndorf Frau Förster-Nietzsche Ende Juni 1914 mit der Zusendung eines Modellfotos seines „Nietzsche Stylites". 8 8 8 Als altbewährter Nietzscheaner und Schöpfer populärer Bildnisse des Philosophen genoß er das besondere Vertrauen der Archivleiterin und war selbstverständlich über deren laufende Weimarer Aktivitäten unterrichtet. 889 Die seltsame Verwandlung Nietzsches in einen frühchristlichen „Säulenheiligen" — vergleiche Abbildung 32 — begründete Donndorf viele Jahre später, als er sein Denkmalprojekt vergeblich wiederzubeleben hoffte, 8 9 0 wie folgt: Ich glaube, Nietzsche schreibt einmal, dass er sich wünsche, als Säulenheiliger bei Nervi in der B r a n d u n g des Meeres zu stehen. . . . Ich dachte mir, die Säule über Weimar beim Archiv aufzustellen, mit dem Blick über die Stadt, w o der grosse Geist verlosch. 8 9 1

Das priesterähnliche Gewand des Philosophen, das bis auf die Abakusplatte der ungefähr sechs Meter hohen dorischen Säule herabfällt, hatte Donndorf

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Ebd. H. F. Peters ging noch irrtümlich davon aus, daß am 15. Okt. 1914 der Grundstein zum Tempel- und Stadionbau gelegt werden sollte; vgl., Zarathustra's Sister, S. 201. Vgl. den Grundrißplan in Weimar, N F G (GSA) 72/899-4077. Vgl. den Brief des Künstlers v. 26.6. 1914; Weimar, N F G (GSA) 72/2458a. Vgl. Abschn. 3.1.6.1, S. 135-137 (insb. S. 136, Anm. 579) u. Abschn. 3.2.2, S. 149-150. Vgl. dazu Abschn. 4.6.2. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 30. 6. 1933; Weimar, N F G (GSA) 72/234.

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

gewählt, „um das Prophetische und Zeitlose seiner [Nietzsches] Erscheinung zu steigern." 8 9 2 Zu Füßen der Bildsäule plante der Künstler einen dreistufig ausladenden Sockel für die Aufnahme eines ,,Spruchband[es] mit Bank, auf den Postamenten Adler mit Schlange oder irgend etwas." 8 9 3 Wenn auch auf Donndorfs Atelierfoto seines „Nietzsche Stylites" Einzelheiten der Ornamentik nicht zur Geltung kommen, 8 9 4 so ist doch insgesamt der repräsentative Anspruch des Denkmals unverkennbar. Die hoch über die Menge entrückte Statue des Geistesaristokraten wird bewußt in die Tradition imperialer Ehrensäulen gestellt, was dem Kultbedürfnis vieler Nietzscheaner nach 1900 entgegenkam, die ihren Helden zu den „heimlichen Kaisern Deutschlands" gezählt wissen wollten. 895 Die enttäuschende Resonanz auf Donndorfs Denkmalsidee in der Zwischenkriegszeit illustriert ein Brief der Witwe des Künstlers an den NietzscheArchivar Max Oehler vom September 1942: Mit Sils-Maria verhandelte er [ D o n n d o r f ] selbst einmal deswegen und die Herren der Kurverwaltung wollten dies sehr gern tun [die Säule aufstellen lassen]. A u c h die K o s t e n machten keine Schwierigkeiten, aber der katholische Pfarrer legte ein Veto ein, damit dieser .Gottesleugner' kein D e n k m a l in seiner Gemeinde b e k o m me.896

Die Machinationen, die den Plan einer Ehrensäule für den „Einsiedler von Sils-Maria" zu Fall brachten, mögen unbedarft erscheinen und unter die Kuriosa gerechnet werden. Fest steht jedoch, daß nach dem Ersten Weltkrieg der von Weimar gelenkte Nietzsche-Kult aus sich heraus die bildenden Künste zu keinen neuen, mitreißenden Ideen mehr angespornt hat. Auch den seit 1933 schleppend einsetzenden Bemühungen um eine Nietzsche-Gedenkhalle fehlte es am Enthusiasmus der ursprünglichen Jüngerschaft des Philosophen, ganz abgesehen von der intellektuellen Ausstrahlung eines Kessler oder der künstlerischen Originalität eines van de Velde.

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Brief des Künstlers an einen ungenannten Weimarer Staatsminister (Leutheusser?) v. 21.5. 1936; Weimar, N F G (GSA) 72/2613. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 26. 6. 1914; Weimar, N F G (GSA) 72/2458a. Das einzige Gipsmodell der Säule befand sich noch im Sept. 1942 im Stuttgarter Atelier des im Vorjahr verstorbenen Künstlers. Ein Transport nach Weimar mußte aus Kriegsgründen unterbleiben. Vgl. den Brief Anna Donndorfs, der Witwe des Künstlers, an Max Oehler v. 2. 9. 1942; Weimar, N F G (GSA) 72/2458a. Rede K. Breysigs am Sarge Nietzsches, zit. nach: Zur Erinnerung an Friedrich Nietzsche, 1900, S. 27. Brief Anna Donndorfs v. 2 . 9 . 1942; Weimar, N F G (GSA) 72/2458a.

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

4.6 Die Nietzsche-Halle

für Weimar — Baugeschichte

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und Ausstattung

4.6.1 Das Nietzsche-Archiv und die Kunstszene der Weimarer Republik 4.6.1.1 Im Fahrwasser der „Konservativen

Revolution"

Unter Aufsicht der Archivleiterin hatte sich während der Kriegsjahre ein Propagandafeldzug entfaltet, deren chauvinistische Wortführer „Nietzsche als Kulturprophet des deutschen Weltreiches" bei den Herrschenden anzudienen suchten, sich am „Ubermenschentempo im eisernen Willensschritt" der Marschkolonnen berauschten und den mörderischen Grabenkrieg zynisch in die „Feuertaufe von Millionen zur Lehre und zum Leben Zarathustras" umfälschten. 897 Max Kruse, einer der glühendsten Pioniere des „Dritten Weimar" aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, resignierte nach einem Besuch der Villa „Silberblick" im April 1918: „Was Nietzsches Schriften am meisten hassten und bekämpften, die nationale Uberhebung, . . . hier feierte sie alldeutsche Orgien." 8 9 8 Noch vor der Novemberrevolution ausgesprochen, kündigt Kruses Abfall von Elisabeth Förster-Nietzsche beispielhaft eine endgültige Spaltung der Verehrergemeinde an, wie sie aufgrund der hemmungslosen Indienstnahme des Philosophen durch die Rechtskräfte schon latent in den Fraktionsbildungen der Vorkriegszeit geschwelt hatte und wie sie in den 20er Jahren zwischen den beiden Protagonisten Graf Kessler einerseits und dessen von der Archivleiterin umworbenen „Nachfolger" Oswald Spengler andererseits voll zum Ausbruch kommen sollte. Die demütigende Agonie des Hohenzollernreiches im November 1918 ließ die von vielen bürgerlichen Intellektuellen lange gehegte Krisen- und Untergangsstimmung in akute Existenzangst umschlagen. Insbesondere das Nietzsche-Archiv sah sich plötzlich durch seine offene Parteinahme für den Krieg auf Seiten der Verlierer stehen und mußte den neuen Staat als Kampfansage an sein Elitedenken empfinden. Die trotzige Verachtung für das „heutige Deutschland der Proletarier" 899 und für alle Nietzscheaner, die innerhalb der bürgerlich-demokratischen Ordnung mitarbeiten wollten, macht die hilflose Rückzugsposition der Villa „Silberblick" während der Weimarer Republik

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Paul Schulze-Berghof, „Nietzsche als Kulturprophet des deutschen Weltreiches", in: Der Vortrupp, Jg. 5 (1916), S. 270. „Aus den Erinnerungen des Bildhauers Max Kruse"; Weimar, N F G (GSA) 72/2460 (Tagebucheintragung v. 6 . 4 . 1918). Brief Paul Emsts an E. Förster-Nietzsche v. 20. 3. 1929, worin er dem Kulturpessimismus beider Ausdruck zu geben versuchte: „Unser Vaterland ist ja nur eine Idee, die nur in den Köpfen von einigen Leuten lebt, welche bald aussterben werden." Weimar, N F G (GSA) 72/ 252.

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898-1944)

überdeutlich, oder wie es Kessler bereits 1919 schonungslos der Archivleiterin vorhielt: „Aus dem gewaltigen Vulkan ist ein wärmendes Feuerchen geworden." 900 Rechtzeitig im Revolutions)ahr 1918 waren auf dem deutschen Büchermarkt zwei Werke erschienen, deren Verfasser offen das eigene Epigonentum zum Ausgangspunkt ihrer kulturpessimistischen Botschaften erklärten und damit gerade die Bewußtseinslage vieler orientierungsloser Nietzscheaner trafen. Sowohl der imponierende Erfolg von Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie als auch der von Oswald Spenglers erstem Band zu seinem Untergang des Abendlandes war deshalb nicht zufällig. Während es für Bertram angesichts des deutschen Zusammenbruchs auf eine Rückbesinnung und Bestandsaufnahme des klassischen Bildungsgutes im Sinne von Nietzsches „gutem Europäer" ankam, 901 dominierte bei Spengler trotz pessimistischer Attitüde der Appell an die „inneren Potenzen der ,deutschen Rassen', des deutschen Geistes', der ,deutschen Idee' usw." 902 Zwar erhielt Bertrams geistvolle Studie noch im Jahr ihrer Erstausgabe den Weimarer Nietzsche-Preis, 903 doch erwiesen sich auf Dauer die Kontakte der Archivleiterin mit Spengler als folgenschwerer. Durch ihn wurde Frau Förster-Nietzsche beispielsweise frühzeitig über die Hintergründe des HitlerPutsches von 1923 unterrichtet. 904 Auf der bedeutenden Weimarer NietzscheTagung im Herbst 1927 durfte Spengler das zentrale Referat halten und avancierte damit gleichsam zum „Hausphilosophen" der Villa „Silberblick"; nicht nur in Kesslers Augen war es „eine bedauerliche Blamage, diesen halbgebildeten Scharlatan haben sprechen zu lassen." 905 Es kam hinzu, daß die Archivleiterin ihre Sympathien für Spengler — sowie für Mussolini und seine faschistische Staatsidee — offen zur Schau stellte und damit gerade einige der prominentesten Nietzscheaner herausforderte, die sich inzwischen in der 1922 gegründeten, an „Paneuropa" und dem Individualismus der „Freien Geister" orientierten Münchener Nietzsche-Gesellschaft organisiert hatten. Der Wunsch der Archivleiterin nach dem Aufgehen der unerbetenen Münchener Konkurrenz in ihrer eigenen, 1926 ins Leben gerufenen „Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs" sollte sich erst sehr viel später — und zugege-

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Brief an E. Förster-Nietzsche v. 13. 10. 1919; Weimar, N F G (GSA) 72/2515. Vgl. Abschn. 3.1.3, S. 105. S. F. Oduev, Auf den Spuren Zarathustras. Der Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche deutsche Philosophie, Berlin-DDR, 1977, S. 145. Zusammen mit Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen; beide Werke entstanden in engem Gedankenaustausch, fast in Arbeitsgemeinschaft. Vgl. die Briefe O . Spenglers an E. Förster-Nietzsche v. 5. und 18.3. 1924; Weimar, N F G (GSA) 72/625. Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, S. 546 (Eintragung v. 15. 10. 1927).

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

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ben anders als erhofft — erfüllen: 1943 löste die Gestapo den Zusammenschluß der „guten Europäer" in der Nachfolge Nietzsches gewaltsam auf. An der Spitze dieser großbürgerlichen Vereinigung, die zusätzlich über einen eigenen Verlag Luxusdrucke von Nietzsches Werken auflegen ließ, standen in den 20er Jahren neben anderen Prominenten Ernst Bertram, Thomas Mann und Heinrich Wölfflin. Die etwa 500 Mitglieder verteilten sich weltweit, wobei allerdings ihre Zahl gegen Ende der 30er Jahre auf weniger als die Hälfte zurückging. Wie ihr Weimarer Gegenstück haben die Münchener Nietzscheaner — soweit bekannt — kaum etwas zu einer fruchtbaren Begegnung zwischen bildenden Künstlern und dem Werk Nietzsches beigetragen. Auch Kesslers private Cranach-Presse blieb inaktiv. Am Ende der Weimarer Republik verkümmerte die geistige Atmosphäre der Villa „Silberblick" zum bloßen Sammelbecken reaktionärer Strömungen, die sich insbesondere im Thüringer Raum seit Mitte der 20er Jahre verdichtet hatten: 1925 war das Bauhaus nach Dessau vertrieben worden, 1926 fand der erste Reichsparteitag der NSDAP in Weimar statt und schon vier Jahre später konnte in der gleichen Stadt der erste NS-Minister Deutschlands sein Amt antreten. Mit dessen Rückendeckung eröffnete Paul Schultze-Naumburg als neuer Direktor der „Vereinigten Kunstlehranstalten" seine Tätigkeit mit einem spektakulären Bildersturm, dem Oskar Schlemmers Wandfresken im Treppenhaus der alten Kunstschule zum Opfer fielen. 906 Das Archiv war zu diesem Zeitpunkt, wie Frau Förster-Nietzsche dem Besucher Kessler anvertraute, ,mitten in der Politik'. . . . [Kessler faßte zusammen:] Im Archiv ist alles . . . bis zum Major [dem Archivar Max Oehler] hinauf Nazi. . . . Kurz, diese ganze Schicht des intellektuellen Deutschlands, das in der mehr goethischen, romantischen Periode seine Wurzeln hat, ist ganz Nazi-verseucht, ohne zu wissen warum. . . . Geheimnisvolles, undurchsichtiges Deutschland. 907

4.6.1.2 Verpaßte Gelegenheiten: Der Nietzsche-Kult Avantgarde und Villa „Silberblick"

zwischen

künstlerischer

Nach der vorläufigen Konsolidierung der äußeren Lebensverhältnisse durch die Weimarer Nationalversammlung konnte auch Frau Förster-Nietzsche ihre durch Kriegsende und Revolution unterbrochene Gewohnheit wiederaufnehmen und als Gastgeberin für ortsansässige und durchreisende Künstler auftreten: zur Gedächtnisfeier für den 75. Geburtstag ihres Bruders im Oktober 1919 lud sie neben altvertrauter Lokalprominenz auch Walter Gro906 Vgl. H. Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 1963, Abschn. „Die ersten .Säuberungen'", S. 32—34. 9 0 7 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, S. 681-682 (Eintragung v. 7. 8. 1932).

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

pius ein. 908 Im Gründer des Staatlichen Bauhauses muß die Archivleiterin damals den legitimen Nachfolger van de Veldes erblickt haben, nachdem sie auf die Rückkehr des Belgiers auf seinen Weimarer Posten vergeblich gehofft hatte. Jedoch sind auf dieses erste Treffen hin keine weiterführenden Kontakte zustande gekommen, 909 wie sie in der Vorkriegszeit Kessler und van de Velde beispielsweise zu Edvard Munch angebahnt hatten. Die zahlreichen Nietzsche-Verehrer unter den Bauhäuslern — man denke nur an Lyonel Feininger oder Oskar Schlemmer910 — sahen sich von der Villa „Silberblick" allein gelassen. Ihre Vorliebe für den überall zitierten „Bahnbrecher der Moderne" blieb auch in Nachbarschaft der Archivleiterin, deren zahlreiche „Nietzscheana" ideale Anregungen zum künstlerischen Wettstreit geboten hätten, eine Privatangelegenheit ohne Gewinn für die Masse der Nietzsche-Anhängerschaft. Kessler, der schon während der Kriegsjahre auf die expressionistische Bewegung aufmerksam geworden war und junge Talente wie Johannes R. Becher und George Grosz fördern wollte, kam seit seinem Bruch mit den Rechtstendenzen der Archivleitung für eine Vermittlerrolle nicht mehr in Frage. Aber selbst bei Kesslers engsten Freunden Hofmannsthal und Bodenhausen, mit denen er wenige Jahre zuvor dem umstrittenen Nietzsche-Kult in der Öffentlichkeit Respekt verschafft hatte, stieß jetzt die Modernität des „Roten Grafen" auf Unverständnis. 911 Dabei wäre bei einem rechtzeitigen, energischen Mäzenatentum von Seiten Kesslers über epigonale Fehlentscheidungen der Archivleiterin hinweg der Nietzsche-Kult in Malerei und Plastik vermutlich aus seiner Sackgasse zu führen gewesen. Der Elan wie das tiefe Verständnis für Nietzsche-Zarathustras Menschenbild im Kreis um die Dresdener „Brücke" — Karl Schmidt-Rottluff galt hierbei allgemein als Autorität 912 — fanden aber in der um 1910 noch relativ unorthodoxen Nietzsche-Bewegung keine Verbündeten. 908

Vgl. dessen Zusage an E. Förster-Nietzsche v. 13. 10. 1919; Weimar, NFG (GSA) 72/2515. Briefl. Auskunft von Dr. Karl-Heinz Hüter an den Verf. v. 8. 10. 1978. 910 Vgl. z. B. Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher, Hrsg. v. Tut Schlemmer, München, 1958, S. 35: „. . . Nietzsche. Der Philosoph meiner Jugend." (Tagebucheintragung v. 13. 4. 1915); es ist bezeichnend, daß im umfangreichen Weimarer „Nietzscheana"-Bestand nur ein expressionistischer Flächenholzschnitt mit dem Porträt des Philosophen aufzufinden war, den der 1899 geborene Bauhausschüler Hans Troschel 1922 dem Nietzsche-Archiv gewidmet hatte. Vgl. Weimar, NFG (GSA) 101/83 a. 911 Vgl. z. B. einen Brief Bodenhausens an Hofmannsthal v. 14. 4. 1916: „Er [Kessler] hat einen neuen Dichter entdeckt, der Becher heißt. . . . Er spricht von zwei Menschen, die Werfel und Däubler heißen, so etwa wie wir von Tizian und Rembrandt sprechen. . . ." Ebenso Hofmannsthals Antwort an Bodenhausen, Brief v. 28. 4. 1916: „Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ungerecht, aber er [Kessler] setzt auf jedes Pferd, das im Rennen läuft. . . ." Beide Briefe abgedruckt in: Hugo von Hofmannsthal. Eberhard von Bodenhausen. Briefe der Freundschaft, Hrsg. v. Dora Frfr. v. Bodenhausen, Düsseldorf, 1953, S. 211 bzw. 214. 912 Vgl. Lothar-Günther Buchheim, Die Künstlergemeinschaft „Brücke". Gemälde, Zeichnungen, Graphik, Plastik, Dokumente, Feldafing, 1956, S. 39; ebd. S. 262 zitiert der Autor Ivo 909

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

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Aus der nach Kriegsbeginn von Franz Pfemfert in seiner Aktion gerügten Weimarer „Deutschsprechung Nietzsches" 913 einerseits wie aus dem leidenschaftlichen Pazifismus der meisten Expressionisten andererseits mußte nach 1918 tiefes gegenseitiges Mißtrauen zurückbleiben, wenn nicht gar politische Unversöhnlichkeit erwachsen. Die Kluft zwischen Künstlergruppen der „Moderne" und dem Nietzsche-Archiv in den 20er Jahren scheint im Rückblick am ehesten gegenüber den etablierten italienischen Futuristen um Marinetti überbrückbar gewesen zu sein. Unter ihnen hatten sich schon in der „heroischen" Gründungsphase des Futurismus um 1910 einige der eifrigsten Leser und aggressivsten Verkünder Nietzsches befunden. 914 Nachdem die skandalumwitterte Bewegung kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Berlin überzugreifen begann und besonders unter den hiesigen Nietzscheanern auf Sympathien stieß, unterbrach der Kriegseintritt Italiens zugunsten der Alliierten alle weiteren Kontakte mit Deutschland. Das persönliche Engagement Mussolinis für das Werk Nietzsches — er galt vor 1933 als der mächtigste Gönner der Villa „Silberblick" — und die teilweise Verschmelzung der Ziele von Futurismus und Faschismus eröffnete die Chance einer Wiederannäherung italienischer Künstler an die Weimarer Kultbewegung. Es ist jedoch nicht bekannt, ob Mussolini etwa ein futuristisches Porträt des Philosophen für sich oder das Nietzsche-Archiv in Auftrag gegeben hat: selbst anläßlich der jahrelang vorbereiteten Feiern zu Nietzsches 100. Geburtstag im Oktober 1944 stiftete er kein zeitgenössisches Werk, sondern — offensichtlich in Verlegenheit — eine antike Dionysos-Statue. 915 Demzufolge mußte sich das Experiment einer Begegnung zwischen der „Moderne" und den Erzeugnissen des Nietzsche-Kultes auf einige gutgemeinte, aber laienhafte Arbeiten von Außenseitern beschränken. So kann der in überspitzt kubistischer Manier gehaltene Zementguß einer Nietzsche-Herme, von dem Luzerner Autodidakten Jean-Willy de Boé Ende der 20er Jahre angefertigt, hier nur als Kuriosum und schwaches Surrogat für nicht zustande gekommene Beiträge eines Alexander Archipenko oder Rudolf Belling interessieren. Der bei den Nietzscheanern beliebteste Porträttyp gar, wie ihn Heinrich Heims „Zarathustramorgen" von 1922 — vergleiche Abbildung 35 — ver-

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Hauptmann zum Nietzsche-Enthusiasmus Otto Muellers: „Er war ein Verehrer von Friedrich Nietzsche und glaubte, man werde ihm einst Kirchen bauen." Vgl. Jg. 5 (1915) Sp. 320—323; teilweise zit. bei Gunter Martens, „Nietzsches Wirkung im Expressionismus", in: Nietzsche und die deutsche Literatur, 1978, Bd. 2, S. 46. Vgl. dazu Abschn. 2.2.2 „Gegen Historismus und Akademie", S. 6 2 - 6 3 . Vgl. dazu Abschn. 4.6.4.3. — Innerhalb der NSDAP war es bald nach deren „Machtergreifung" zu Fraktionskämpfen zwischen Befürwortern und Gegnern futuristischer Kunst gekommen, die mit einem Sieg Alfred Rosenbergs über die zeitweilig von Goebbels unterstützte Aufwertung moderner italienischer Kunst endeten; vgl. dazu H. Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 1963, Abschn. „Italienische Futuristen in Berlin", S. 74 — 77.

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Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

körpert, zeigte sich von den Kunstkämpfen der Zeit völlig unberührt und blieb hoffnungslos im Epigonentum stecken. Als bemerkenswerte Ausnahme vom Durchschnittsniveau der späten, symbolüberfrachteten Bildnisse des Philosophen präsentiert sich Alfred Kubins 1921 entstandene Federzeichnung einer „Nietzschesäule". Das auch in Postkartenform verbreitete Porträt mutet an wie ein Nachzügler aus dem Nietzsche-Kult der 90er Jahre. 9 1 6 Kubin hatte den „Einsiedler von Sils-Maria" bereits in den Kreisen der Münchener Bohème um 1900 schätzen gelernt, darunter Auszüge aus Nietzsches schmerzvoller Autobiographie Ecce homo·917 Von den Kriegsereignissen in eine tiefe Nervenkrise gestürzt, scheint sich der Künstler in seiner „Nietzschesäule" mit dem Opfergang des Philosophen identifizieren zu wollen: in unheilverkündender düsterer Landschaft steckt der gesenkte Kopf Nietzsches wie der eines Exekutierten auf einem Pfahl. Es bedarf keiner Erklärung, daß für derart persönliche Bekenntnisse im lauten Nietzsche-Kult der 30er Jahre, dessen Inbegriff die Gedächtnishalle auf dem „Silberblick" werden sollte, kein Platz mehr vorhanden war.

4.6.2 Die Stilerneuerer der Jahrhundertwende und die Nietzsche-Gedenkhalle Paul Schultze-Naumburg und Karl Donndorf Schon ein flüchtiger Blick auf den Maßstab der seit 1934 für Weimar geplanten Nietzsche-Halle Paul Schultze-Naumburgs — vergleiche die Abbildungen 37 bis 39 — läßt vermuten, daß innerhalb der Selbstdarstellung des NSRegimes einem Kultbau für den „Umwerter aller Werte" etwa gegenüber den Münchener und Nürnberger Aufmarschforen nur eine zweitrangige Rolle zufiel. Weder Albert Speer noch Hermann Giesler, Hitlers Favoriten für die Planung zentraler Monumentalbauten in Berlin und Nürnberg, München und Linz, haben sich für die baukünstlerische Repräsentation der Nietzsche-Bewegung engagiert. Welche geringe Wertschätzung dem Architekten der Nietzsche-Halle offiziell entgegengebracht wurde, zeigt sich beispielsweise in der Schroffheit Hitlers, mit der er sogar an Schultze-Naumburgs Wirkungsstätte Weimar dessen Entwurf zu einem Parteiforum zugunsten Gieslers unterdrückte:

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Möglicherweise geht die „Nietzschesäule" auch auf ein Frühwerk des Künstlers, „Der Rebell", zurück; Abb. in: Ernst-Willy Bredt, Alfred Kubin, München, 1922. Vgl. Alfred Kubin, Die andere Seite. Phantastischer Roman, München, 2 1923, Vorwort „Aus meinem Leben", S. LV: „Er [Nietzsche] ist wirklich — u n s e r Christus!"

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Die Formung der Gebäude sei zwar [so Hitler] kultiviert, doch stark traditionsgebunden. So sehe das Ganze mehr nach der Residenz eines Großherzogs als nach einem Forum der Partei aus. 9 1 8

Von Spott und Ironie begleitet, bekamen schon bald nach 1933 SchultzeNaumburg und mit ihm zahlreiche der seit der Jahrhundertwende „völkisch" orientierten Bildungsbürger zu spüren, daß die neuen Machthaber keineswegs an die Idylle eines abgeklärten Neo-Biedermeier aus der Vorkriegszeit anzuknüpfen gedachten. Gleichermaßen frustriert von der „Nationalen Revolution" zeigten sich die kleinbürgerlichen Kreise von NS-Lebensreformern, die um den „Tempelkünstler" Fidus geschart, in den Jahren des „Baubolschewismus" mit ihren Monumentalplänen überwintert hatten und sich nun als Vorkämpfer von „Blut und Boden" in der Reichskanzlei anbiederten. 919 Beide Fraktionen erhielten keine Chance, ihre seit Jahrzehnten konservierten Reformprogramme dem Geltungsdrang Hitlers anzupassen, der seinen „Führerbauten" einen harten, steril ausgedünnten Klassizismus verordnete. Was dagegen die Hoffnungen der Villa „Silberblick" auf eine Verschmelzung ihrer Gemeindeinteressen mit denen des NS-Regimes anbetraf, schienen bereits vor 1933 die Weichen gestellt. Neben Alfred Baeumler 920 hatte Alfred Rosenberg, der „als der eigentliche Schirmherr der Nietzsche-Bewegung im ,Dritten Reich' angesehen werden [darf]," 9 2 1 eindeutig Partei ergriffen und den Philosophen zusammen mit Wagner, Lagarde und Chamberlain zu den Vorkämpfern der „Bewegung" erklärt. Die Besuche Hitlers auf dem „Silberblick" taten ein Übriges, um selbst ältere Nietzscheaner wie den über 60jährigen Karl Donndorf in Euphorie zu versetzen. Wenige Monate nach der „Machtergreifung" wandte sich der Künstler an seine Vertraute Elisabeth Förster-Nietzsche: Nietzsche muß ein Denkmal haben! Meine Arbeit [den in Abschn. 4.5.1 behandelten Säulenentwurf von 1914 — Abbildung 32 —] mache ich u m s o n s t , es handelt sich nur um die Steinausführung. . . . Ich weiss nicht, wie sich das offizielle Deutschland heutzutage dazu stellt. Ich denke, das Rauschen von Nietzsches Adlerfittichen ist die richtige Begleitmusik zur Auferstehung des neuen Reiches! 922

Nach dem Tode der Archivleiterin unternahm Donndorf einen letzten Vorstoß, mit dem er sein Vorkriegsprojekt in Schultze-Naumburgs Nietzsche918

919 920 921 922

Mitgeteilt bei Hermann Giesler, Ein anderer Hitler. Bericht seines Architekten. Erlebnisse, Gespräche, Reflexionen, Leoni, 3 1978, S. 121; vgl. ebd. den Abschn. „Weimar. Der Platz Adolf Hitlers", S. 119—124; vgl. dazu ergänzend Albert Speer, Erinnerungen, Berlin, 1969, S. 7 7 - 7 8 . Vgl. dazu J. Frecot u. a., Fidus 1868-1948, S. 1 9 9 - 2 1 0 . Vgl. dessen umstrittene Untersuchung Nietzsche. Der Philosoph und Politiker, Leipzig, 1931. H . Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, Diss., 1971, S. 59. Brief Κ. Donndorfs ν. 8. 7. 1933; Weimar, N F G (GSA) 72/234.

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Halle einfügen wollte; er wurde jedoch vertröstet, da angeblich die „Entscheidung beim Führer und seinen künstlerischen Beratern" läge. 9 2 3 Es stimmt nachdenklich, wie bedingungslos viele führende Nietzscheaner der ersten Generation sich Hitlers Kunstdoktrin zu eigen machten und sogleich gegen alte Gesinnungsgenossen vom Format Donndorfs und SchultzeNaumburgs intrigierten. Der Architekt der Nietzsche-Halle, mit der Archivleiterin seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden, war schon 1935 in den Augen ihres Cousins und Beraters Adalbert Oehler zu einem lästigen Vertragspartner herabgesunken: Professor Schultze-Naumburg war einmal, ist aber heute nicht mehr der Mann, der eine solche Aufgabe [die Nietzsche-Halle] aus dem Geist der neuen Zeit, aus dem Kunstideal des National-Sozialismus schaffen kann. . . .

Oehler Schloß seinen Brief unmißverständlich: Ich kenne die ungeheure Macht der Partei: m i t ihr läßt sich heute alles erreichen, gegen sie oder ohne sie nichts. 9 2 4

Dabei hatte Schultze-Naumburg selbst schon ab 1929 — als Reichstagsabgeordneter der N S D A P ! — auf den Sieg dieser Partei gesetzt und sie auf dem Umweg über Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur" in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums erst gesellschaftsfähig gemacht. Was bewog den späteren Architekten von Hitlers Nietzsche-Halle, schon früh die gemeinsame Front der Stilreformer gegen Historismus und Akademie zu verlassen und nicht mit den meisten seiner Werkbund-Kollegen die internationale „Moderne" weiterzuentwickeln? Paul Schultze, 1869 als Sohn eines Künstlers in Nietzsches Heimatstadt Naumburg geboren, hatte wie die etwa gleichaltrigen Stilerneuerer Peter Behrens und Henry van de Velde als akademisch ausgebildeter Maler begonnen, bevor er in den späten 90er Jahren Anschluß an die Kunstgewerbebewegung fand und sich Fragen der Alltagskultur — vom Tapetenmuster bis zur Reformkleidung — zuwandte. Wenig später gründete Schultze-Naumburg, auch hier dem Zug der Zeit folgend, seine „Saalecker Werkstätten", um einheitlich den Bau und die Ausstattung ganzer Häuser übernehmen zu können. Obwohl Schultze-Naumburg mit seinen gleichzeitig beim Kunstwart erscheinenden Kulturarbeiten auch „den kleinen Bürger, die Bauern, die Arbeiter" 9 2 5 erreichen wollte, bestand sein Kundenkreis fast ausschließlich aus Bankiers, Rittergutsbesitzern und Aristokraten, an

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„ A n t w o r t [der Stiftung Nietzsche-Archiv] auf D o n n d o r f s Anerbieten v o m 21. 5. 3 6 " , masch. Entwurf v. 3. 6. 1936; Weimar, N F G ( G S A ) 72/2613. Brief an E . Förster-Nietzsche v. 9. 8. 1935; Weimar, N F G ( G S A ) 72/2597. P. Schultze-Naumburg, Kulturarbeiten. Bandi: Hausbau, München, 4 1912, Vorwort.

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ihrer Spitze das Kaiserhaus. Arbeitersiedlungen — etwa im Auftrage von Genossenschaften oder Sparvereinen — hat der Künstler nicht errichtet. Hier soll weder der Massenerfolg der neunbändigen Kulturarbeiten (1901 — 1917) noch das volkspädagogische Engagement ihres Verfassers und Bildautors bestritten werden, doch brachte Schultze-Naumburg selbst diese frühe und bis heute vorbildliche Kampfansage gegen die Verschandelung der Umwelt 926 durch seine perspektivlose, weil ressentimentgeladene Abwehrhaltung als Heimatschützer und Volkstumsideologe in Mißkredit. Ab 1902 zum Dozenten für Farbenlehre an der Weimarer Kunstschule bestellt, fand Schultze-Naumburgs Kreuzzug gegen eine vermeintliche Überfremdung der heimatlichen Kulturszene in van de Velde ein konkretes Angriffsziel. 1914 gehörte er, vom Großherzog seines gefälligen Neo-Biedermeiers wegen besonders geschätzt, zu den Kandidaten für die Nachfolge des Belgiers.927 Der verlorene Krieg führte bei Schultze-Naumburg — wie auch auf dem „Silberblick" — zu keiner Revision des einmal eingeschlagenen Weges. Die nach der Novemberrevolution von anderen Architekten genutzte Chance einer Öffnung nach Westen oder Osten wurde als hereinbrechendes Chaos fehlgedeutet und mit verschärftem Missionseifer für einen Kult der nordischen Rasse beantwortet. Hinsichtlich seiner Baupraxis blieb Schultze-Naumburgs Wendung ins „Nordische" ohne Konsequenzen. Hier forderte er, zumal bei Weimarer Projekten, eine Anpassungsarchitektur nach dem Muster nobler Landhäuser und Pavillons der Goethezeit. Ohne Hitlers Eingreifen, das zu unsicheren Kompromißlösungen nötigte, wäre dieses zwischen der Archivleiterin und ihrem Architekten unstrittige Stilideal auch für die neue Nietzsche-Halle verbindlich geworden. 928

4.6.3 Planung und Funktion der Halle In einer überraschend selbstkritischen Stellungnahme der 89jährigen Archivleiterin, kurz vor ihrem Tode 1935 an Paul Schultze-Naumburg gerichtet, werden die kontroversen Ansprüche an eine von Hitler zu finanzierende Erweiterung der Villa „Silberblick" unverhohlen gegenübergestellt: danach for926

Schultze-Naumburg stellte als erster Fotos von „guten" (biedermeierlichen) und „schlechten" (historistischen oder mißverstandenen modernen) Lösungen derselben Bauaufgabe suggestiv gegenüber. Diese durch polemische Texte ergänzte Methode ist gerade heute zu Recht von großer Aktualität; vgl. z. B. Dieter Wieland, Bauen und Bewahren auf dem Lande, Hrsg. vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz, Bonn, 1978. 927 Vgl. H. van de Velde, Geschichte meines Lehens, S. 373. 928 Vgl. die in Weimar, NFG (GSA) 72/2599 aufbewahrten Entwürfe aus dem Büro SchultzeNaumburgs im Neo-Biedermeier (1935).

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derte Frau Förster-Nietzsche, von der Raumnot im überfüllten Altbau ausgehend, eine Art vergrößerte Geschäftsstelle der Nietzsche-Bewegung mit nutzbaren Büro- und Konferenzzimmern, ohne jeden repräsentativen Tempel- und Weihecharakter, da dieser den ganzen Stil der Gegend ruinieren [würde] und dieser einfache Stil — leider etwas spiessbürgerlich . . . muß aufrecht erhalten bleiben, weil er der Zeit entspricht, in welcher mein Bruder hier gewohnt h a t ! 9 2 9

Damit hätte weiterhin die belanglose Fassade einer Gründerzeit-Villa, in erster Linie aber van de Veldes Innendekoration, den Hintergrund für alle Feierlichkeiten gebildet. Dieses Ambiente muß te den Teil der Nietzscheaner provozieren, der wie Adalbert Oehler die Kultstätte zeitgemäß auf „nordisch germanische Baukunst" und „die neuen großen Bauten der NSDAP . . . in München" ausrichten wollte. 9 3 0 Der Konflikt zwischen Nutzbau und Schauarchitektur verstärkte nur die ohnehin zahlreichen Hypotheken, denen sich jedes ernstzunehmende Nietzsche-Heiligtum inmitten von Wohnblocks, Autobahnen und Massensiedlungen ausgesetzt sah, ganz abgesehen von seiner Nachbarschaft zum KZ Buchenwald, das seit 1937 auf dem der Villa „Silberblick" gegenüberliegenden Hang des Weimarer Tales errichtet wurde. Letztlich sind hier die Wurzeln für das Verquält-Zwitterhafte der ganzen Anlage zu suchen. Nietzscheaner, die angesichts der Pläne Schultze-Naumburgs sofort Unbehagen verspürten, trösteten sich mit dem Hinweis auf die Willensschwäche des Architekten. 9 3 1 Tatsächlich war Schultze-Naumburg zu Lebzeiten der Archivleiterin bemüht gewesen, sowohl deren praxisnahen Vorschlägen zu folgen, als sich auch dem persönlichen Geschmack seines obersten Bauherrn Hitler unterzuordnen. Daneben litt das Projekt — entgegen landläufiger Vermutung — an chronischem Geldmangel. Auch die durch die Kriegsvorbereitungen schon Mitte der 30er Jahre einsetzende Rohstoffknappheit zwang zu Kompromissen. 932 Fast zwei Jahre waren seit seiner „Machtergreifung" vergangen, bevor Hitler am 2. Oktober 1934 bei einem Besuch des Nietzsche-Archivs den Anstoß für konkrete Bauplanungen gab, indem er „hochherzigerweise aus per-

Brief v. 21. 7. 1935; masch. Abschrift in Weimar, N F G (GSA) 72/2597. Brief an E. Förster-Nietzsche v. 4. 8. 1935; an gleicher Stelle präzisierte Oehler: „Die Symbolik der Architektur eines Henri van de Felde [!] darf hier gewiß nicht zur Anwendung kommen. . . . " Weimar, N F G (GSA) 72/2597. 931 Vgl. ζ. B. den Brief E. Förster-Nietzsches an R. Oehler v. 16. 9. 1935, in dem sie auf eine Kritik ihres Gönners Philipp Reemtsma eingeht; Weimar, N F G (GSA) 72/2597. 932 Vgl. masch. Manuskript P. Schultze-Naumburgs „Die Neubauten der Nietzsche-Stiftung" (ca. 1937); Weimar, N F G (GSA) 72/2598: „Der Bau soll gemäß dem Vierjahresplan ganz aus Stein (Putzbau und Werkstein) mit Vermeidung aller Eisenkonstruktionen errichtet werden." Das Dach sollte „mit dem heimischen Thüringer Schiefer gedeckt [werden]". 929

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sönlichen Mitteln" RM 50.000,— als Grundlage eines „Nietzsche-Gedächtnisfonds" stiftete. 933 Wie sich später herausstellen sollte, war damit nur ein verschwindender Bruchteil der Baukosten abgedeckt. 934 Die ersten, vom Büro Schultze-Naumburgs im Laufe des Jahres 1935 entwickelten Fassadenentwürfe konnten noch wenige Wochen vor dem Tode der Archivleiterin von allen Beteiligten in der Villa „Silberblick" diskutiert werden, wobei der „Reichsstatthalter" Fritz Sauckel die biedermeierliche Schlichtheit des Anbaues als „zu dürftig" ablehnte und die Pläne zur Überarbeitung an den Architekten zurückgab. 935 Sauckels Eifer erklärt sich am ehesten aus dem Wunsch, die Nietzsche-Halle als Prestigeprojekt der „Gauhauptstadt" Weimar in die Rivalität mit anderen NS-Kultzentren (Bayreuth, Nürnberg, München) einzubringen. Vorübergehend tauchte im Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv sogar der Gedanke auf, Schultze-Naumburg zu entlassen und einen neuen Wettbewerb für die Gedenkhalle auszuschreiben. Wie der Architekt rückblickend selbst einschätzte, war nach dem Tode der Archivleiterin die Initiative weitgehend deren Verwandten zugefallen und das „Bauprogramm im Wesentlichen das Werk von Prof. Dr. Oehler in Frankfurt und von Major Oehler (beides Vettern des Philosophen und Vorstandsmitglieder der Stiftung). . . . " 9 3 6 Im Mai 1936 lagen solchermaßen revidierte Pläne Schultze-Naumburgs vor, nach denen im darauffolgenden Jahr mit dem Bau begonnen wurde — vergleiche Abbildung 37 — und die eine strenge Axialität aller Haupträume von Osten nach Westen vorsahen: vom „Ehrenhof" — Abbildung 39 — führt der feierliche Weg der Nietzscheaner in einen Empfangsraum, dann durch den 23 Meter langen Wandelgang mit den Büsten der „geistigen Ahnen" des Philosophen nach dem 200 Personen fassenden kleinen Saal und schließlich in die für 300 bis 400 Festteilnehmer konzipierte große Feierhalle (Abbildung 38). Deren Abschluß und einziger Schmuck sollte ein „gewaltiges Nietzsche-Zarathustra-Monument [bilden],

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Bericht über die zehnte ordentliche Mitgliederversammlung der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs am 14. Dezember 193S, Weimar, 1936, S. 10. - Hitler hatte das Nietzsche-Archiv erstmals am 31. 1. 1932, u. a. in Begleitung Schultze-Naumburgs, besucht. Ob damals schon Pläne für einen Ausbau erörtert werden konnten, geht aus den Aufzeichnungen M. Oehlers nicht hervor; vgl. „Stiftung Nietzsche-Archiv — Tagebuch Nr. 2 — 2 1 . 9 . 1922 bis Ende Juni 1935"; Weimar, NFG (GSA) 72/1596. 1938 verzeichnete M. Oehler fast eine halbe Million Reichsmark an Spenden, die neben Privatleuten der Reichsinnenminister, das Land Thüringen, die Stadt Weimar, die Carl-Zeiss-Werke Jena, vor allem aber die Wilhelm-Gustloff-Stiftung (Berlin-Suhler Waffenwerke und die Fritz Sauckel-Werke in Weimar) aufbrachten; vgl. „Stiftung Nietzsche-Archiv — Tagebuch Nr. 3 — Juli 1935 - Dezember 1943"; Weimar, NFG (GSA) 72/1597. „Stand der Vorarbeiten Anfang Februar 1937", Manuskript, wahrscheinlich von M. Oehler; Weimar, NFG (GSA) 72/2598. Diese entscheidende Sitzung fand am 14. 10. 1935 statt. P. Schultze-Naumburg, „Die Neubauten der Nietzsche-Stiftung" (ca. 1937); Weimar, NFG (GSA) 72/2598.

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wie es noch nicht vorhanden ist. . . . " 9 3 7 Die von der Archivleiterin noch als Hauptsache angesehenen Nutzräume sind jetzt unauffällig um einen kleinen, südlich anschließenden Innenhof gruppiert. Bevor in den nächsten Abschnitten auf die am Ausbau beteiligten oder zumindest vorgeschlagenen Künstler eingegangen wird, muß hier kurz das ideologische Programm der Nietzsche-Halle, ihre propagandistische Funktion, referiert werden. Die konsequenteste Anpassung der Nietzscheaner an die NS-Propaganda von Rassenkult und Volksgemeinschaft fand sich in dem bereits zitierten Brief Adalbert Oehlers an die Archivleiterin vom 9. August 1935: danach träumte man von der Nietzsche-Halle als einem „Heiligtum des deutschen Volkes, zu dem es wallfahren soll", wobei im Gegensatz zum Hitler· Kult nicht die Persönlichkeit Nietzsches, wohl aber einige willkürlich ausgewählte Maximen des Philosophen „für die große Masse des Volkes zum Gegenstand der Verehrung gemacht werden [könnten]". 9 3 8 Für jeden Nietzscheaner und Nationalsozialisten gipfele — nach Oehler — das Werk des Philosophen in der „Idee der Höherzüchtung": Diese Idee ließe sich auch durch Werke der bildenden Kunst vortrefflich . . . für alle Besucher der Nietzsche-Halle darstellen: es könnte ζ. B. ein junges Menschenpaar von nordisch-germanischem Charakter . . ., das die Ehe eingehen will, dargestellt werden: vor ihm die Gruft [!] Nietzsches: darüber Nietzsche-Zarathustra mit der Gesetzestafel über die Ehe, oder ein Adler, der auf mächtigen Schwingen kommt und die Gesetzestafel hält. . . . 9 3 9

Die demagogische Öffnung des Nietzsche-Kultes auch für die Arbeitermassen im NS-Staat konnte sich auf Utopien berufen, wie sie kurz nach der „Machtergreifung" im Ruf nach einem lebendigen „Festhaus des Volkes" bei einzelnen Fraktionen der NSDAP, so um die Zeitschrift Kunst der Nation, laut wurden. 9 4 0 In deformierter Weise schienen hier expressionistische Visionen aus der Zeit unmittelbar nach der Novemberrevolution wiederzukehren. 941 R. Oehler, „Gedanken über die Nietzsche Gedenk-Halle", Manuskript-Abschrift, am 6. 9. 1935 der Archivleiterin vorgelesen (handschriftl. Notiz M. Oehlers); Weimar, N F G (GSA) 72/2597. 9 3 8 Weimar, N F G (GSA) 72/2597. 9 3 9 Ebd. Weitere Hinweise zu einer geplanten „Gruft" Nietzsches auf dem „Silberblick", mit der eine Idee aus der Vorkriegszeit wieder belebt wurde (vgl. Abschn. 4.5, S. 205—206) und wodurch die Gedenkhalle zum Mausoleum aufgewertet worden wäre, haben sich in den NFG-Beständen nicht gefunden. 940 Vgl. ζ. B. Georg Gustav Wießners Leitartikel „Monumentalmalerei", in: Kunst der Nation, Jg. 2, Nr. 9 v. 1 . 5 . 1934, S. 2: „So steht das Festhaus des Volkes im Leben: Das Volk kommt aus abertausend Arbeitsstätten in Tropfen, Bächen, Strömen heran. Alle münden in der Feststraße. Es wird ein Platz der eigentlichen Festhalle vorgelagert sein, bei dessen Oberquerung der Alltag zurückbleibt." Zur wichtigen Rolle der Kunst der Nation vgl. Abschn. 1.2, S. 3 2 - 3 3 . 9 4 1 Vgl. W. Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, Abschn. „Die verdorbene Utopie", S. 2 0 6 - 2 0 8 . 937

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4.6.4 Baudaten und künstlerische Ausschmückung Nachdem Hitler im April 1937 die im vorigen Abschnitt beschriebene Entwurfsvariante Schultze-Naumburgs genehmigt hatte, begannen wenige Monate später die Bauarbeiten auf dem „Silberblick". Das Richtfest der Nietzsche-Gedenkhalle im August 1938 bestärkte die Archivleitung in ihren Hoffnungen auf eine zügige Ubergabe des Gebäudekomplexes während des darauffolgenden Jahres. Nur der „Reichsstatthalter" Sauckel rechnete schon im Frühjahr 1938 — aus welchen Gründen auch immer — mit dem endgültigen Abschluß der Arbeiten nicht vor den Jubiläumsfeiern zu Nietzsches 100. Geburtstag im Oktober 1944. 9 4 2 Im Gegensatz zu anderen Bauprojekten, die Hitler auch während der ersten Kriegsjahre noch forcierte, erlahmte sein Interesse an der Nietzsche-Gedenkhalle seit September 1939. Die bereits im Rohbau vollendete Feierstätte mußte daher unbenutzbar liegen bleiben, ein weiterer Hinweis für ihren geringen Stellenwert innerhalb der NS-Ideologie. 9 4 3 Lediglich die Inschriftentafel über dem Portal — vergleiche Abbildung 39 — wurde „im Kriegssommer 1940" etwas vorschnell angebracht. 944 Innen dagegen blieb die Halle schmucklos und leer. Bei den jahrelangen Querelen um die zentrale Nietzsche-Zarathustra-Gruppe der Feierstätte fällt auf, daß Hitler nicht die beiden ansonsten mit Staatsaufträgen überhäuften Bildhauer Arno Breker und Josef Thorak zu einem Beitrag gedrängt hat. Hier bestätigt sich — wie im Fall der Architekten Speer und Giesler — die Distanz der gleichsam offiziellen Künstlerprominenz zu den Aktivitäten auf dem „Silberblick". 9 4 5 Bei Vollendung des Rohbaus im Sommer 1938 hatte sich im Hinblick auf die weitere bildhauerische Ausschmückung der Halle ein Ausschuß konstituiert, in dem drei Vorstandsmitgliedern der Stiftung Nietzsche-Archiv zwei NS-Kulturfunktionäre und der Architekt Schultze-Naumburg gegenübersaßen. Da diesem Gremium weder Hitler, Goebbels noch Rosenberg persönlich angehörten, war ein Spielraum für die Fraktionsbildung zwischen SchultzeNaumburg und seinem Favoriten Fritz Müller-Camphausen einerseits und dem Vorstandsmitglied Richard Oehler andererseits eröffnet, der hartnäckig, aber letztlich erfolglos eine Arbeit Georg Kolbes für das Nietzsche-Zarathustra-Monument durchsetzen wollte. 942 943

944 945

Vgl. Aktenkonvolut in Weimar, NFG (GSA) 72/2598 (Notiz Max Oehlers?). Zur kontroversen Einschätzung Nietzsches durch verschiedene NS-Ideologen vgl. die Diss, von H. Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, 1971, S. 11. Jahresbericht der Stiftung Nietzsche-Archiv 1940, Weimar, 1941, S. 6. Nachdem Hitler im Sept. 1940 eine Zarathustra-Plastik Georg Kolbes (vgl. Abschn. 4.6.4.2) schroff abgelehnt hatte, wandte sich der Archivleiter Max Oehler u. a. auch an Breker; ein konkreter Erfolg blieb offensichtlich aus. Vgl. Oehlers Briefentwurf v. 7. 11. 1940 u. die Antwort Brekers v. 25. 11. 1940; beide in Weimar, NFG (GSA) 72/2613 - 4 .

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4.6.4.1 Fritz Müller-Camphausens und die „Ahnengalerie" Nietzsches

Zarathustra-Denkmal

Den Namen des Münchener Architekturplastikers und Porträtisten Fritz Müller-Camphausen (1901 — 1955) findet man in den Weimarer Archivalien erstmals im Juni 1938 erwähnt, als Max Oehler seine Enttäuschung über die bis dahin eingegangenen Vorschläge zum Zarathustra-Monument bekannte und sich dabei besonders über die „zahmen Vögel [die Zarathustra-Adler] der Herren Hipp und Müller-Camphausen" belustigte; auch der zur Gruppe MüllerCamphausens — vergleiche Abbildung 40 — gehörende Löwe sei „mit einem dummen Gesicht" behaftet und deshalb indiskutabel.946 Ein halbes Jahr zuvor hatten Max und Richard Oehler mit SchultzeNaumburg eine erste, provisorische Liste von Plastiken für die Nietzsche-Halle zusammengestellt, wobei dem Architekten begreiflicherweise die Initiative bei der Auswahl der einzelnen Bildhauer zufallen sollte. Dem Protokoll vom 30. Januar 1938 zufolge bestand Einigkeit, einstweilen Emil Hipp (geb. 1893) um Skizzen für eine „größere Nietzsche-Plastik . . . in der Apsis des Hauptsaales" zu bitten. 947 Außerdem erwartete man von diesem Künstler Entwürfe für die zwei Begleittiere Zarathustras — Adler und Schlange — „auf den beiden Säulen am Eingangstor". 948 Das übrige Figurenprogramm, das aus einer Hitler-Büste und dem Statuenpaar von Dionysos und Apollon für die Eingangshalle sowie aus „16 Büsten bedeutender Denker, Dichter und Musiker" für den Wandelgang bestand, wollte man namhaften anderen Bronze-Plastikern anvertrauen.949 Obwohl nicht im Protokoll vermerkt, hoffte die Archivleitung, das Inventar der Gedenkhalle durch Ankäufe älterer, repräsentativer Nietzsche-Kultwerke wie der großen Herme aus dem Besitz des Verlegers Alfred Kröner — vergleiche Abbildung 33 — ergänzen zu können. 950 Warum Schultze-Naumburg im Juli 1938 den Mitgliedern der neugegründeten Kommission für den Schmuck der Nietzsche-Gedächtnisstätte plötzlich den jungen Müller-Camphausen als den idealen Plastiker sowohl für die Zarathustra-Gruppe als auch für die 16 Porträtbüsten der „Ahnengalerie" empfahl, erscheint rückblickend schwer verständlich. Emil Hipp, der eigentliche „Protégé von Schultze-Naumburg", 951 beschränkte dagegen seinen Beitrag auf zwei Modelle von Dionysos und Apollon für den „Ehrenhof" vor der Nietz946 947

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Briefentwurf „an einen Professor" v. 18. 6. 1938; Weimar, N F G (GSA) 72/2612. „Niederschrift über die Besprechung am 30. 1. 38 über die Ausstattung der Nietzsche-Halle mit Kunstwerken" (Durchschlag v. M. Oehler abgezeichnet). Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. dazu Abschn. 4.4.1, S. 187. Brief R. Oehlers an M. Oehler v. 26. 1. 1940; Weimar, N F G (GSA) 72/2612.

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sche-Halle. Unter Zeitdruck modelliert, waren die Gipsstudien beider Künstler sogleich scharfer Kritik ausgesetzt. Der „Reichsstatthalter" Sauckel brachte daraufhin neben Thorak und Breker auch Fritz Klimsch als einen der Nietzsche-Halle angemessenen prominenten Plastiker ins Gespräch. 952 Nachdem Richard Oehler beispielsweise die Götterfiguren Hipps als „tanzende Derwische" abqualifiziert hatte, resümierte er im Januar 1940 dem Archivleiter gegenüber die bisherigen Fehlschläge bei der Auftragsvergabe für den Innenausbau der Halle: „Es geht also genau wie mit dem Nietzsche-Monument, er [Schultze-Naumburg] muß diesen unglücklichen Versuch aufgeben." 953 Lediglich Müller-Camphausen blieb durch seine kontinuierliche Arbeit an den 16 Porträtbüsten von historischen Geistesverwandten Nietzsches über Jahre hinaus in Kontakt mit der Archivleitung. Bevor dieses Projekt einer „Ahnengalerie", das im Gegensatz zu den Monumentalplastiken der Gedenkhalle keine langwierigen Fraktionskämpfe auslöste, näher befragt wird, ist abschließend kurz auf die Ikonographie von Müller-Camphausens ambitioniertem Nietzsche-Zarathustra Modell einzugehen. Die bereits von anderen symbolträchtigen Porträts des Philosophen her vertrauten Begleittiere Adler und Schlange — vergleiche Abbildung 35 — ergänzte Müller-Camphausen durch einen Löwen. Damit spielte er auf die Schlußszene des Zarathustra an, worin der Weise im Abschnitt „Das Zeichen" im Augenblick der tiefsten Erkenntnis alle seine Tiere um sich versammelt. Der überlebensgroß in einer „Apsis" thronende Nietzsche stellt sich bewußt in die Nachfolge der aufwendigen, von jeher im Kreis um die Villa „Silberblick" bewunderten Beethoven-Gruppe Max Klingers (vollendet 1902).954 Soweit der Arbeitsstand von Müller-Camphausens Modell ein Qualitätsurteil erlaubt, ist den bis auf Schultze-Naumburg einhelligen Kritiken der Zeitgenossen zuzustimmen, die neben der Gedankenarmut der Gruppe auf deren rein handwerkliche Mängel hinwiesen; ein Vorwurf, der Klinger bei aller sonstigen Problematik seines Beethoven-Thrones nicht trifft. Wie schon angedeutet, schritt Müller-Camphausens Produktion von sechzehn Büsten für den Wandelgang zur Feierhalle nach der Auftragsvergabe Ende Juli 1938 zügig voran. 955 Die Idee, mit Hilfe von Bildnissen geistiger Autoritäten „eine vorbereitende Einbannung in die Nietzsche-Welt" zu inszenieren, hatte Richard Oehler der Archivleiterin gegenüber noch kurz vor ihrem 952 953 954

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Aktenvermerk M. Oehlers (?) v. 30. 7. 1938; ebd. Brief R. Oehlers an M. Oehler v. 26. 1. 1940; ebd. Vgl. Abschn. 4.4.1, S. 182-183. Dazu auch den Brief R. Oehlers an M. Oehler v. 8.10. 1940: „Ich habe immer davon gesprochen, man solle irgend etwas ähnliches schaffen wie das Klingersche Beethovendenkmal." Weimar, NFG (GSA) 72/2613 - 2 . Der Vertrag über zunächst 4 Büsten (Sokrates, Caesar, Mozart u. Schopenhauer) datiert v. 30. 7. 1938; vgl. Aktenkonvolut in Weimar, NFG (GSA) 72/2613.

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Tode im Herbst 1935 persönlich erläutern können. 9S6 Zwei Jahre später ergriff er erneut die Initiative und verschickte eine Namensliste mit 40 möglichen Kandidaten für die Porträts der Wandelhalle an Schultze-Naumburg und den Archivleiter Max Oehler. 9 5 7 An dieser ersten Auswahl fällt auf, daß darin neben unstrittigen Berühmtheiten aus der Antike und der deutschen Geistesgeschichte auch Charles Baudelaire, Fedor Dostojewski und Paul Rèe Platz finden sollten. Kurz darauf schränkte Richard Oehler — wohl auf den Einspruch Schultze-Naumburgs hin — die geistige Ahnenreihe Nietzsches auf sechzehn absolut unverdächtige Porträts ein: Aischylos und Heraklit, Sokrates und Plato, Horaz und Epikur illustrierten Nietzsches Vorliebe für die antike Bildungswelt, während Caesar und Macchiavelli zu Montaigne und Pascal, Stendhal und Mozart, Goethe und Napoleon als den Stationen auf der neueren Traditionslinie des Philosophen überleiteten; Schopenhauer und Wagner beschlossen chronologisch wie räumlich den „Prozessionsweg" zur eigentlichen Feierstätte, die allein dem symbolisch überhöhten Bildnis Nietzsche-Zarathustras vorbehalten bleiben sollte. 958 Nach ihrer Vollendung hätte die Galerie des „Geistesfürsten" Nietzsche ein sonderbares Gegenstück zu den idealen Ahnenreihen von Herrschern der Barockzeit dargestellt, wo die Bildnisbüsten römischer Caesaren — wie beispielsweise noch vor der Gartenseite des Schlosses Charlottenburg erhalten — der Verklärung des eigenen Machtanspruchs dienten. Als letzter Versuch, in Deutschland an diese feudale Repräsentation anzuknüpfen, darf die Berliner „Siegesallee" mit den 32 Skulpturengruppen der Herrscher Brandenburg-Preußens gelten. Dieses Unternehmen war schon um 1900 von der liberalen Kunstkritik zu Recht als epigonenhaft angegriffen worden. Obwohl ohne die neobarocke Theatralik der Denkmäler Kaiser Wilhelms II. vorgetragen, übertraf der Anspruch der Nietzsche-Galerie die pädagogische Zielsetzung des Hohenzollern-Kultes bei weitem. In welthistorische Perspektiven entrückt, sollte Nietzsche-Zarathustra von den Besuchern der Gedenkhalle als der große Vollender der abendländischen Kultur begriffen werden, der bisherige Gegensätze wie apollinisch und dionysisch, Klassik und Romantik oder Geist und Macht in seiner Persönlichkeit verschmolz. Auch eine stärkere Begabung als die Müller-Camphausens hätte sich vergeblich mühen müssen, dieses Pathos in der Reihe der Bildnisbüsten und der krönenden Nietzsche-Zarathustra-Gruppe den Jüngern des Philosophen erfahrbar zu machen. Zweifellos war die bildende Kunst im Einflußbereich der Weimarer

956 957 958

„Gedanken über die Nietzsche Gedenk-Halle", Weimar, N F G (GSA) 72/2597. Vgl. die beiden Briefe v. 30. 11. 1937; Weimar, N F G (GSA) 72/2612. Vgl. den Brief R. Oehlers an P. Schultze-Naumburg v. 11. 12. 1937; Weimar, N F G (GSA) 72/ 2612.

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

229

Kultbewegung bei der beschriebenen, intellektuell vielschichtigen Programmatik überfordert. Nur in der Literatur — wie in den Kapiteln „Sokrates", „Napoleon" oder „Claude Lorrain" von Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) — finden sich Ansätze, der Verwurzelung des Philosophen in der Geistesgeschichte auf hohem künstlerischem Niveau Form zu geben. 4.6.4.2 Ein Zarathustra Georg Kolbes für Weimar Bereits 1901 muß der 24jährige Georg Kolbe in Leipzig, wo ihm „Max Klinger als väterlicher Freund und Meister zur Seite stand", 959 auf den sich um die Villa „Silberblick" bildenden Künstlerkreis aufmerksam geworden sein. Seine Mitarbeit im „Neuen Weimar" scheiterte damals wahrscheinlich nur am Einspruch Graf Kesslers, der Kolbes Begabung im Vergleich zu der Maillols als äußerst bescheiden klassifizierte. 960 Van de Velde hingegen hatte Kolbe in Berlin schätzen gelernt und noch vor seiner Berufung nach Weimar mit dem Bildhauer Freundschaft geschlossen: 1913 schließlich, zum 50. Geburtstag des Belgiers, durfte Kolbe im Auftrage einer Gruppe von Verehrern van de Veldes dessen Porträt modellieren. 961 Solange sich Kolbe aber bis in die Mitte der 20er Jahre hinein größtenteils auf Kleinplastiken — zumeist weibliche Akte — beschränkte, ließ sich sein Menschenbild nur schwer für die Ziele des Weimarer Nietzsche-Kultes aktivieren. Statt eine Kunst für die private Umgebung von Kennern und Sammlern weiterzupflegen, hätte Kolbe mit einem Nietzsche-Zarathustra-Monument für die Villa „Silberblick" auf deren Drang zur öffentlichen Selbstdarstellung Rücksicht nehmen müssen. Mit der Suche nach einer zeitgemäßen, monumentalen Beethoven-Ehrung, die Kolbe ab 1926 über zwei Jahrzehnte lang bis an sein Lebensende beschäftigte, erweiterte — oder beschränkte — er seine bisherigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Tänzerische und Grazile von Kolbes Plastiken hatte diese früher nach allen Seiten in den Raum vermittelt. In der schließlich 1947 als Bronze-Unikat gegossenen Beethoven-Gruppe 962 begann der Künstler, auf eine um Pathos bemühte Frontalität zurückzugreifen. Während das 1913 in den Frankfurter Taunusanlagen errichtete Heine-Denkmal die Intimität von Kolbes Statuetten auch am großen Maßstab bewahrt hatte und es somit als Alternative zum öden Heroenkult anderer Bild959

Georg Kolbe, Auf Wegen der Kunst. Schriften. Skizzen. Plastiken, Berlin, 1949, S. 128. 960 Gegenüber van de Velde nannte Kessler Georg Kolbe einen „sculpteur de quinzième ordre"; Brief v. 8. 2. 1911, zit. nach: G. Stamm, Studien zur Architektur und Architekturtheorie Henry van de Veldes, S. 106. 961 Vgl. H. van de Velde, Geschichte meines Lebens, S.347. 962 2 Abb. z. B. in G. Kolbe, Auf Wegen der Kunst, S. 122-123.

230

Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898-1944)

hauer bis heute Gültigkeit besitzt, näherte sich die Konzeption des nackten Beethoven mit den zwei begleitenden weiblichen Genien bereits den stereotypen Athletenfiguren der Staatskunst nach 1933. Diese Wendung ins Monumentale ließ die Kolbe-Gemeinde auf eine gesteigerte Gegenwartsnähe im Spätwerk des Meisters hoffen; 1933 machte sich Rudolf G . Binding zum Sprecher dieser Wünsche: Was wird k o m m e n ? K o l b e s Werk ist noch nicht erfüllt. N o c h fehlt — nach dem Genius höchsten Wollens, höchster Stoßkraft (Beethoven), nach dem Geist, der von den Bergen als Verkünder und Befehler niedersteigt (Zarathustra) — der Mann der T a t . 9 6 3

Mit leiser Kritik kommentierte Binding damals die Ausdruckskraft des großen Nietzsche-Zarathustra-Gipsentwurfs — vergleiche Abbildung 36 —, der ihm „ a u s der letzten Anwandlung fast zu übermächtigen Gesichts" geformt schien. 9 6 4 Kolbe selbst räumte der 1933 gefundenen Vision von „Zarathustra's Erheb u n g " große Tragweite für sein Werk ein und sprach in seinen „Gedanken und Notizen 1931 — 1935" von der „Befreiung, daß diese Gestalt endlich ihre Form gewann. . . . Eine Hochebene ist damit betreten." 9 6 5 An gleicher Stelle unterstrich der Künstler die optimistische Botschaft von Nietzsches Also sprach Zarathustra, dessen Schlußszene der „große, kraftvolle M a n n " als das „allgemeinverständliche S y m b o l " der Dichtung für die Öffentlichkeit vergegenwärtigen sollte. 9 6 6 Durch die Abbildungen von „Zarathustra's Erhebung" in den weitverbreiteten Kolbe-Monographien Rudolf G . Bindings und Wilhelm Pinders 9 6 7 war das Engagement des Künstlers für ein Nietzsche-Monument allgemein publik geworden. Aus den frühen 30er Jahren haben sich darüberhinaus im Georg-Kolbe-Museum einige Kohle- und Bleistiftskizzen zu einer optimalen Aufstellung der Plastik in einem tempelartigen Innenraum erhalten (vergleiche Anhang I, Katalog-Nr. 51). Es ist kaum vorstellbar, daß Kolbe dabei ernsthaft an einen Gegen en twurf zum Tempelbau Schultze-Naumburgs dachte. Nach 963

964

965 966

967

Vom Leben der Plastik. Inhalt und Schönheit des Werkes von Georg Kolbe, Berlin, 1933, S. 20; Abb. der ganzen Zarathustra-Plastik ebd. S. 92. Ebd., S. 39; besonders im Gips von 1933 hat sich Kolbe offenbar von einigen charakteristischen Zügen Mussolinis anregen lassen. Auf Wegen der Kunst, S. 31. Ebd.; Nietzsches Also sprach Zarathustra endet mit den Sätzen: „.Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, h e r a u f , du großer M i t t a g ! ' Also sprach Zarathustra und verließ seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt." (GA VI, S. 475). In Georg Kolbe. Werke der letzten Jahre, Berlin, 1937, veröffentlichte Pinder eine neue, 1937 entstandene „Zarathustra"-Variante (vgl. ebd. Abb. 76 — 77); Bindings Werk lag 1935 bereits in 8. Aufl. vor (31.-35. Tausend!).

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

231

dem Baubeginn auf dem „Silberblick" 1937 konnte bei Kolbes Kontakten mit der Archivleitung ohnedies nur noch vom Ankauf der Zarathustra-Statue die Rede sein. Unzufrieden mit den künstlerischen Bemühungen Müller-Camphausens — vergleiche Abschnitt 4.6.4.1 — schlug Richard Oehler im März 1939 seinen Kollegen im Ausschuß für den Bildschmuck der Nietzsche-Halle vor, Georg Kolbe aufgrund seiner dem Archiv ,,bekannte[n] innere[n] Verbundenheit mit dem Werk Friedrich Nietzsches" nach Weimar einzuladen. 968 Wie zu erwarten, äußerte Schultze-Naumburg kurz darauf im April 1939 Bedenken vorgeblich „finanzieller Art. Doch wurde beschlossen, die Verbindung mit Kolbe unverbindlich aufzunehmen." 969 Der Künstler antwortete noch im gleichen Monat begeistert, daß er „mit aller Passion . . . dabei sein [würde], dem Gedanken Nietzsche's zu dienen — einem tiefen inneren Ruf folgend." 970 Nach einem Atelierbesuch im Juli 1939 bestätigte Richard Oehler dem Archivleiter gegenüber Kolbes Eifer und nannte dessen „neuen 2,50 m großen Zarathustra, vom März des Jahres . . . ganz gewaltig, überwältigend!" 971 Eine definitive Entscheidung Hitlers verzögerte sich wohl wegen des Kriegsbeginns über ein Jahr lang bis gegen Ende September 1940, als Richard Oehler aus der Reichskanzlei mitgeteilt wurde, daß man dort „die von Ihnen vorgeschlagene Statue für völlig ungeeignet" ansah. 972 Bereits wenige Tage später hatte Oehler seine Enttäuschung überwunden und bestärkte den Archivleiter in einem Brief, das Projekt den Wünschen Hitlers gemäß voranzutreiben: „Ich habe das Gefühl, dass Hitler eben nicht einen symbolischen Zarathustra haben will, sondern ein wirkliches Nietzschedenkmal. Das ist ja auch mein ursprünglicher Gedanke gewesen." 973 Die Sympathien des selbsternannten obersten Kunstrichters für Kolbe beschränkten sich auf dessen noch dem Stilideal der Jahrhundertwende verpflichteten Frühwerke wie der berühmten „Tänzerin" von 1912. Alle vom Zeitgeschmack diktierten Athletenfiguren der 30er Jahre — „Großer Dionysos" 1932, „Zarathustra's Erhebung" 1933 oder den „Gottesstreiter" 1934 - lehnte Hitler wider Erwarten ab. Deshalb darf die von Werner Hofmann vorgeschlagene Brandmarkung von „Zarathustra's Erhebung" als „ein durchaus exemplarisches Werk" 974 für das chauvinistische Menschenbild Hitlers zumindest 968

969 970 971 972 973 974

Brief der Stiftung Nietzsche-Archiv an G. Kolbe v. April 1939 (masch. Durchschrift); Weimar, NFG (GSA) 72/2613 - 2 . Akten-Notiz des Archivars M. Oehler v. 16.4. 1939; Weimar, NFG (GSA) 72/2613-2. Brief G. Kolbes an R. Oehler v. 24. 4. 1939 (Abschrift); Weimar, NFG (GSA) 72/2613 - 2 . Brief an M. Oehler v. 22. 7. 1939; Weimar, NFG (GSA) 72/2612. Brief v. 30. 9. 1940 (Abschrift); Weimar, NFG (GSA) 72/2613-2. Brief R. Oehlers an M. Oehler v. 8. 10. 1940; ebd. Die Plastik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., 1958, S. 73.

232

Anläufe zu einem Nietzsche-Monument (1898—1944)

angezweifelt werden. Wie immer wieder betont werden muß, zerfiel der auf den ersten Blick monolithische Block der Nietzsche-Gemeinde nach 1933 in sich bekämpfende Fraktionen, die — Richard Oehlers gescheiterte Initiative zugunsten Kolbes zeigt dies deutlich — auch in der bildenden Kunst kein offizielles Leitbild des Philosophen durchsetzen konnten. 4.6.4.3 Dionysos als Scheinlösung Als sich im Frühjahr 1939 die Aussichtslosigkeit der Bemühungen MüllerCamphausens um eine Nietzsche-Denkmalgruppe abzuzeichnen begann, gab Richard Oehler den Diskussionen auf dem „Silberblick" eine interessante Wendung, indem er neben der Einschaltung Kolbes den Gedanken an eine grundsätzliche Neuorientierung der Kultgemeinde aufwarf: Wir schaffen ein S y m b o l , das u n s e r Z e i c h e n ist. Für das Christentum ist es das Kreuz. Schaffen wir uns also ein G e g e n s y m b o l gegen das Kreuz. Dabei könnte man denken an das F e u e r , die Flamme. . . , 9 7 5

Hier wurde versucht, an Vorbilder aus der Zeit der Jahrhundertwende anzuknüpfen, wo Peter Behrens um die Vergeistigung seines Zarathustra-Erlebnisses in stereometrisch-kristallinen Grundmustern bemüht gewesen war 976 und Henry van de Velde die Nietzsche-Ausgaben des Insel-Verlages unter Verzicht auf jede naturalistische Illustration in seine eigenwillige Ornamentik gekleidet hatte. 977 Bedenkt man Hitlers zeitfremde Ausrichtung auf die Salonkunst des späten 19. Jahrhunderts, derzufolge ihm schon Kolbes „Zarathustra" als zu modernistisch-abstrakt erscheinen mußte, so hatte Richard Oehlers Denkanstoß zum Wegfall eines konventionellen Nietzsche-Denkmals in der Feierhalle von Anfang an keine Chance. Bis zum April 1942 — zweieinhalb Jahre vor der geplanten Weimarer „Reichsfeier" zu Ehren des 100. Geburtstags Nietzsches — war man in Sachen einer würdigen Statue des Philosophen nicht vorangekommen. Zu diesem Zeitpunkt trat Georg Lüttke, ein Verleger Schultze-Naumburgs, mit dem Plan hervor, in die noch leere Nische der Feierhalle eine echte Antike einzustellen. 978 Durch Lüttke auf die Ratlosigkeit der Weimarer Verehrergemeinde angesprochen, beschloß Mussolini aufgrund „seiner großen Verehrung für Nietzsche, dem er die stärksten Anregungen seines Lebens verdanke", die Stiftung einer beschädigten römischen Replik nach einer Dionysos-Statue des Pra975 976 977 978

Brief R. Oehlers an M. Oehler v. 27. 3. 1939; Weimar, NFG (GSA) 72/2613. Vgl. dazu Abschn. 2.4, S. 81-86. Vgl. dazu Abschn. 4.3, S. 179-180. Vgl. Akten-Notiz P. Schultze-Naumburgs v. 10. 11. 1942, „Betr. Plastik für die NietzscheGedächtnishalle"; Weimar, NFG (GSA) 72/2612.

Die Nietzsche-Halle für Weimar — Baugeschichte und Ausstattung

233

xiteles. 979 Da sich der Transport des Götterbildes durch den faschistischen Zusammenbruch in Süd- und Mittelitalien im Sommer 1943 verzögert hatte, traf es erst Ende Januar 1944 in Weimar ein und wurde provisorisch auf dem „Silberblick" untergebracht; für seine Funktion als kultischer Mittelpunkt der Feierstätte sollte das Bildnis erst „nach dem Kriege" präpariert werden. 9 8 0 Der Festakt für Nietzsche konnte deshalb auch nicht im halbfertigen Neubautrakt auf dem „Silberblick" stattfinden, sondern wurde in das Weimarer Nationaltheater verlegt. Nachdem dort vielleicht einige der älteren Nietzscheaner unter den Klängen von Beethovens 5. Symphonie über das trostlose Schicksal ihrer Kultbewegung ins Nachsinnen gekommen waren, legten im einst weltweit beachteten Zentrum des „Dritten Weimar" auf dem „Silberblick" lediglich Rosenberg und Sauckel Kränze vor der Nietzsche-Stele Klingers nieder.

979 980

Ebd. ; ein Foto der Statue (1944) liegt dem Weimarer Aktenkonvolut NFG (GSA) 72/2611 bei. „Stiftung Nietzsche-Archiv an die Herren Mitglieder des Vorstandes und des wissenschaftlichen Ausschusses", Mitteilung v. 18. 2. 1944 (Durchschrift); Weimar, NFG (GSA) 72/2611.

5 Ausblick Ihrer Anlage nach muß die vorliegende Arbeit mehr Fragen aufwerfen als beantworten und weit stärker über sich hinausweisen, als etwa eine auf ein festumrissenes Oeuvre hin ausgerichtete Künstlermonographie. Die Suche nach den überindividuellen Antriebskräften für den Nietzsche-Kult in den bildenden Künsten verklammert die Ansätze der Kunstgeschichte unweigerlich mit denen einer Sozialgeschichte im weitesten Sinne. Denn geradezu verblüffend hat sich am Weimarer Material die Wechselwirkung zwischen allen Spielarten einer unkritischen Aneignung Nietzsches als heilsspendender Märtyrer oder Prophet und den Katastrophen der ersten Jahrhunderthälfte bestätigt, die besonders in Deutschland eine auch heute kaum erst faßbare geistige Lähmung zurückließen. Das Jahr 1945 markierte deshalb mit aller Schärfe den Endpunkt eines langwährenden und — trotz überzeugender Einzelleistungen — deprimierenden intellektuellen Verfallsprozesses innerhalb der Nietzsche-Gemeinde: im Ganzen betrachtet, hatte spätestens seit dem Rückzug Harry Graf Kesslers aus dem Kreis um die Villa „Silberblick" in den 20er Jahren ein epigonenhafter Dogmatismus die Weimarer Kultbewegung zum Erstarren gebracht. Nach dem Mißbrauch Nietzsches für den militanten Heroenkult zweier Weltkriege erschien jahrzehntelang jeder Rückfall in die Mentalität einer distanzlosen Verehrergemeinde unvorstellbar. Andererseits kann gerade die seit dem Zusammenbruch des NS-Systems aufgestaute Scheu, die unterirdisch fortwirkende Nietzsche-Legende mitsamt ihren Kultprodukten zur Kenntnis zu nehmen, einer unkontrollierbaren Gegenreaktion Vorschub leisten. Mit anderen Worten: es besteht die Gefahr, daß aus den zunehmenden Bedrängnissen der letzten Jahre heraus erneut ein Teil der Nietzsche-Leser ihren „Krisenphilosophen" zur aktuellen Lebenshilfe umstilisieren will. Wie im Laufe der Untersuchung immer klarer zutage treten mußte, ist zumindest der für eine erfolgreiche Renaissance des Nietzsche-Kultes notwendige Bildvorrat in dem halben Jahrhundert zwischen 1895 und 1945 restlos erschöpft worden. Wenn künftig eine Aufbereitung der Bildwelt Nietzsche-Zarathustras für aktuelle Problemlagen versucht werden sollte, um aus ihr gleichsam wie aus einer Erbauungslektüre Trost oder Rettung zu erhoffen, so könnten sich nur die Enttäuschungen der frühen Weimarer Verehrergemeinde in anderer Form wiederholen. Diese ernüchternde Einsicht, die die oftmals skurrilen Kultprodukte

Ausblick

235

jedem unparteiischen Betrachter aufdrängen, macht aber eine weiterführende Beschäftigung mit dieser wichtigen Traditionslinie innerhalb der NietzscheRezeption keineswegs überflüssig. Dabei kann das Ziel nicht darin bestehen, die Kultprodukte der Vergangenheit selbstgerecht als Karikaturen anzuprangern oder lächerlich zu machen. Wie das Beispiel von Kesslers und van de Veldes Weimarer Planungen beweist, fehlte es wenigstens in Teilen der Nietzsche-Gemeinde nicht am Gespür für deren widersprüchliche Position zwischen bildungsbürgerlichem Elitedenken und dem Wunsch nach Integration neuer Massenbewegungen. Als besonders sinnfällige Gradmesser für die umfassendere Krise in den gesellschaftlichen Wertsetzungen fordern die Wege und Irrwege der Nietzscheaner gerade heute zur Stellungnahme heraus. Die breitgestreuten Bestände der ehemaligen Villa „Silberblick" — zudem lückenlos über den Zweiten Weltkrieg gerettet — eröffnen die vorteilhafte Gelegenheit, dieses reiche und voller Widersprüche steckende Erbe weiter systematisch von einem Ort aus zu erschließen.

Anhang I: Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken Teil A: Alphabetisches Künstlerverzeichnis Teil B: Datierte, bzw. datierbare Anonyma Teil C : Undatierte, bzw. schwer datierbare Anonyma

Vorbemerkungen Maßangaben: Höhe vor Breite vor Tiefe. Wenn Maße und Standorte nicht bekannt sind, ist die Bild- oder literarische Quelle angegeben. Innerhalb des Werkes eines Künstlers sowie in Teil B: chronologische Abfolge. Für Teil C gilt: Plastik vor Malerei und Graphik.

Katalogschema KÜNSTLER, VORNAME(N)

(Lebensdaten)

„Titel" (Hilfstitel, bzw. kurze Erläuterungen), Entstehungsjahr oder -zeitraum. Wenn bekannt: Material, Technik (Maße). Derzeitiger oder ehemaliger Aufbewahrungsort, auch bei graphischen Einzelblättern. Ggf. Hinweise auf Textstellen, von wo aus in der Regel die weiterführende Literatur erschlossen werden kann. Ggf. Hinweis auf Abbildung(en) im Anhang II.

Teil A: Alphabetisches 1 ALTMANN,

Künstlerverzeichnis

( ? — ?)

„Friedrich Nietzsche", 1937. Öl/Lwd. Ein Foto (13,8 X 8,8 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/44.

Alphabetisches Künstlerverzeichnis 2 BAUER, K A R L

237

(1868-1942)

„Friedrich Nietzsche" (im Meditationsgestus, Profil nach links, vor Sonnenscheibe und Adler), 1902. Lithographie (ca. 35 X 38,5 cm). 8 Abzüge in Braun, Grün und Schwarz in Weimar, N F G (GSA) 101/UF 253. 3 BAUER, K A R L

(1868-1942)

„Friedrich Nietzsche" (Halbprofil nach rechts, an Fotovorlagen angelehnt), um 1902. Reproduktionsdruck vom Kunstverlag Werckmeister, Berlin W 8. Ein Expl. in Weimar, N F G (GSA) 101/46. 4 BAUER, K A R L

(1868-1942)

„Der Unzeitgemäße" (Friedrich Nietzsche im Halbprofil nach rechts, mit Notizheft und Feder in der Rechten nachsinnend; im oberen Viertel der Darstellung ein nackter Mann, der mit einem Schwert ein Dornengestrüpp zerteilt), um 1903. Lithographie (53 X 45 cm). Ein Abzug in Weimar, N F G (GSA) 101/UF 252. 5 BAUER, K A R L

(1868-1942)

„Friedrich Nietzsche" (im Meditationsgestus, Profil nach links vor leerem Hintergrund; Exlibris mit typographischem Text: „Mein Buch · V · R. Ich hasse die lesenden Müssiggänger." Ansonsten der großen Lithographie von 1902 entsprechend), um 1905. Lithographie. Ein Foto in Weimar, N F G (GSA) 101/48. Vgl. S. 135, 189 u. 194. Abb. 21. 6 BAUER, K A R L

(1868-1942)

„Friedrich Nietzsche" (im Meditationsgestus, Profil nach links vor leerem Hintergrund, ansonsten der großen Lithographie von 1902 entsprechend), um 1905. Lithographie (18,5 X 14 cm). Ein Abzug mit Widmung an E. Förster-Nietzsche: „Wintersonnenwende 1918" in Weimar, N F G (GSA) 101/47. 7 BEHRENS, PETER

(1868-1940)

Prachteinband mit Handvergoldung zu Also sprach Zarathustra (ausgeführt von Wilhelm Rauch, Hamburg; ausgestellt in einem Schrein der

238

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

„Hamburger Vorhalle" auf der Internationalen Kunstgewerbeausstellung Turin), 1902. Leder, Metall. Vgl. S. 8 3 - 8 6 . 8 B O É , J E A N - W I L L Y DE

(1885-?)

„Friedrich Nietzsche" (hermenartiges Porträt in gesucht kubistischer Formgebung), um 1928. Zementguß, Höhe 60 cm. Sils-Maria, Oberengadin, Nietzsche-Haus. Vgl. S. 217. 9 BOGER, MARGOT

(?-?)

„Nietzsches Grab in Röcken", 1905. Aquarell (14 X 9 cm). Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr. 10 BRANDT, GERHARD

(?—?)

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links; in der abgedunkelten rechten Kopfseite ein vorwärts schreitender nackter Mann). Bleistift (Blattgr. : 41,5 X 29 cm). Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 881. 11 BRANDT, GERHARD

(?—?)

„Nietzsche betrachtet die sinkende (?) Sonne über hügliger Landschaft". Lithographie (19 X 15 cm). Ein Abzug (Probedruck) in Weimar, NFG (GSA) 101/ÜF 254. 12 CHARLEMONT, T H E O D O R

(1859-1938)

„Friedrich Nietzsche" (Kopfrelief nach rechts mit Nietzsche-Zitat: „Die größten Ereignisse . . ."). Gips? Ein Foto in Weimar, NFG (GSA) 101/49. 13 COTTA, EMMA

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Büste), 1922. Gips? Ein Foto in Weimar, NFG (GSA) 101/50. 14

(1845-1919) „Friedrich Nietzsche", 1887. Federzeichnung, angeblich bei einem Treffen der beiden Jugendfreunde in Sils-Maria (Sept. 1887) entstanden. Vgl. Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche, S. 116.

DEUSSEN, PAUL

Alphabetisches Künstlerverzeichnis 15 D i x , O T T O

239

(1891-1969)

„Friedrich Nietzsche" (hermenartige Studie), 1912. Gips, dunkelgrün bemalt, Höhe 58 cm. 1937 aus dem Stadtmuseum Dresden beschlagnahmt; 1939 im Luzerner Kunsthandel, Verbleib unbekannt. Vgl. S. 190-191. Abb. 31. 16 D O N N D O R F , K A R L

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtherme), 1901. Bronze. Vgl. S. 136. 17 DONNDORF, KARL

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtherme), 1901. Gips. Farbabb. in: Jugend, 1901, Bd. 2, Nr. 41, S. 669. Vgl. S. 135-136. 18 D O N N D O R F , K A R L

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtherme; mit Lorbeerkranz und kreisendem Adler auf dem Sockel?), 1902. Gips, Höhe 42 cm. Vgl. S. 136-137 u. 149-150. 19 DONNDORF, KARL

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtherme, deren flüchtig modellierter Sockel in zwei Adlerkrallen und eine Schlange ausläuft), 1902?. Gips, getönt, Höhe 67 cm. Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 513 (ex Nietzsche-Archiv); 2 Fotos (22 X 13,3 cm) ebd. im GSA 101/91 g (dort als anonymes Werk aufgeführt). 20 DONNDORF, KARL

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche"(Porträtherme), 1902-1903. Marmor. Für die Veranda der Villa „Silberblick" bestellt, vgl. die Briefe des Künstlers an E. Förster-Nietzsche v. 6. 6. und 16. 8. 1901, sowie v. 23. 3. 1903; Weimar, N F G (GSA) 72/234. Vgl. S. 136. 21 DONNDORF, KARL

(1870-1941)

„Friedrich Nietzsche" (Modell eines für den Garten des Archivs geplanten Denkmals: „Nietzsche Stylites"), um 1914.

240

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Gips, Höhe 125 cm. 7 Fotos in Weimar, N F G (GSA) 101/51. Vgl. S. 210-212 u. 219-220. Abb. 32. 2 2 D R E X L E R , JULIUS ( ? — ? )

„Friedrich Nietzsche" (Relief nach links, in allegorischem Holzrahmen mit Adler-Schlange-Motiv), um 1899. Bronze, Höhe 45 cm, mit Rahmen 55 cm. Drexler bot seine Arbeit auch in Hartgußmasse (Bronzeimitat) an. Vgl. S. 132-133. 2 3 DYSSER, A L F VON

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach rechts vor nächtlicher Berglandschaft mit Adler am Himmel), 1933. Holzschnitt auf Japan (12,7 Χ 11 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/52. 2 4 DYSSER, A L F VON ( ? — ?)

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links vor nächtlicher Berglandschaft mit Adler am Himmel), 1938. Holzschnitt auf Japan (15,5 X 12,2 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/52. 2 5 EDELHOFF, ALBIN

(1887-?)

„Friedrich Nietzsche". Holzschnitt (49 X 32 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr. 2 6 E N D E L L , AUGUST

(1871-1925)

Titelblattentwurf für ein Werk Nietzsches (von Elisabeth Förster-Nietzsche für „Sprüche und Lieder" bestimmt), 1897. Von Endell in einem Brief vor dem 15. 10. 1897 an Kurt Breysig erwähnt. (Frdl. Hinweis von Prof. Buddensieg). Vgl. S. 167-177 (Anm. 741). 27

(d. i. H U G O H Ö P P E N E R ) (1868-1948) „Am Traualtar" (Im Innenraum eines „Tempels" reicht sich ein nacktes Paar die Hand über einem „Altar" mit der Inschrift „Ehe"; Darstellung von Eichenblattranke umschlossen), 1906. Federzeichnung, für die Veröffentlichung in der Jugend, 1906, Bd. 1, Nr. 18, S. 369, (ca. 24,5 X 18 cm), mit Zitat aus Also sprach Zarathustra, I, GA VI, S. 103, Abschn. „Von Kind und Ehe", kombiniert. FIDUS

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

241

Erschien ohne den typographischen Text als Blatt 4 in der Mappe Lebenszeichen. 12 Federzeichnungen, Berlin-Zehlendorf, o . J . (1908). Vgl. S. 86 u. 198. Abb. 22. 28

(1887-1973) „Zarathustra und sein Adler", um 1918. Bleistift und Aquarell (39,5 X 29 cm). Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung. Ausgestellt in: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800", Düsseldorf, Kunsthalle, Mai-Juli 1983. FÇNSTERLIN, H E R M A N N

2 9 GEYGER, ERNST M O R I T Z

(1861-1941)

„Der Riese" (Illustration zum gleichnamigen Fragment Nietzsches von 1888), 1895. Radierung (Plattengr.: 29,6 X 22,8 cm). Als Beigabe zu Pan 1 (1895-1896), Heft 2, vor S. 95 erschienen. Vgl. S. 114-117. Abb. 3. 3 0 GEYGER, ERNST M O R I T Z

(1861-1941)

„Illustration, Rahmung zum Nachruf der Insel auf Friedrich Nietzsche", 1900. Holzschnitt (ca. 22,2 X 16,5 cm). Als Reproduktion in Die Insel, 2 (1900), Heft 1, S. 1 erschienen. Vgl. S. 117-119. Abb. 12. 31

G I O V A N O L I , SAMUELE

(1877-1941)

„Friedrich Nietzsche, am Silser See rastend". Öl/Lwd. Abb. in: Der Spiegel, Jg. 35, Nr. 27 v. 29. 6. 1981, S. 7. 3 2 G O D R O N , J O H A N N BENJAMIN

(1902—?)

„Zarathustra" (Einsiedlergestalt mit den Porträtzügen Leonardo da Vincis am Meer vor aufgehender Sonne, zu seinen Füßen Adler und Schlange), um 1938. Öl/Lwd. Ausgestellt auf der Großen Deutschen Kunst-Ausstellung im Haus der deutschen Kunst München, 1938, (Kat.-Nr. 248, Abb. 42). 3 3 GRATH, ANTON

(1881-?)

„Friedrich Nietzsche" (Bildnisplakette). Erwähnt in U. Thieme und F. Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd. 14, S. 544.

242

U b e r s i c h t z u d e n ermittelten N i e t z s c h e - B i l d n i s s e n u n d - T h e m a t i k e n

33a

34

(1883-1970) „Bildnis Fr. N . " (Porträtkopf Nietzsches nach rechts, seitenverkehrt angelehnt an Hans Oldes Radierung für den Pan, 1900; entstanden während oder kurz nach Heckeis Architekturstudium, als der Mitbegründer der Dresdener „Brücke" Schüler des Nietzscheaners Fritz Schumacher war), 1905. Flächenholzschnitt (15,7 X 11,2 cm). Monogrammiert re. unten auf dem Stock „ H " . Abb. in: Annemarie und Wolf-Dieter Dube, Erich Heckel. Das graphische Werk, Bd. 1 Holzschnitte. New York: Rathenau o.J. (1964), S. 15, Kat.-Nr. 54. — Wahrscheinlich für eine nicht erschienene Holzschnittfolge „Bildnisse" gedacht. HECKEL, ERICH

HEIM, HEINRICH

(1850-?)

„Zarathustramorgen" (Nietzsche als Zarathustra mit Adler und Schlange vor griechischem Tempel, hinter dem die Sonne aufgeht), 1922. Öl/Lwd. 2 Fotos (das größere 26,3 X 21 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/53. Vgl. S. 199. Abb. 35. 35

HIPP, EMIL

(1893-?)

„Apollon und Dionysos" (Modellfiguren, für den Vorhof der NietzscheHalle Weimar vorgesehen), 1938. Gips, bronziert. Vgl.: Rudolf Pfister, Bauten Schultze-Naumhurgs, o . J . (1940), Abb. 171 u. 172. Vgl. S. 226-227. Abb. 37 u. 39. 36

HUBACHER, HERMANN

(1885—?)

„Der Adler von Marmorè" (Sinnbildhafte Darstellung der Geisteskraft Zarathustra-Nietzsches, dessen einer Lieblingsplatz die Marmorè-Hôhe über Sils-Maria war). Bronze, Höhe ca. 100 cm. Sils-Maria, Oberengadin, vor dem Nietzsche-Haus. 37

KATH, C .

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Nietzsches Kopf im Halbprofil nach links auf einem Buch, wahrscheinlich Also sprach Zarathustra, umrankt von Lorbeer). Öl/Lwd. (25 X 19 cm). Weimar, NFG (GNM), vorläufige Bestandsnr. 775 (ex Nietzsche-Archiv).

Alphabetisches Künstlerverzeichnis 3 8 KLEIN, MAX

243

(1847-1908)

„Friedrich Nietzsche" (neobarocke Sitzstatue des Philosophen, zu dessen Füßen einige Bücher in malerischer Unordnung verstreut liegen), 1903. Gips? Abb. in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 14 (1904), nach S. 638. V € l. S. 150-151. Abb. 16. 3 9 KLINGER, MAX

(1857-1920)

„Friedrich Nietzsche" (Guß nach der von Curt Stoeving abgenommenen Totenmaske), 1901. Bronze (ca. 26 X 17 cm). Von Klinger in einem Brief an Alexander Hummel v. 29. 9. 1901 erwähnt; vgl. Max Klinger 1857-1920, Ausstellungskatalog, Leipzig, 1970, S. 58 (zu Kat.-Nr. 11). Vgl. S. 151 u. Anm. 645. 4 0 KLINGER, M A X

(1857-1920)

„Friedrich Nietzsche" (Profilskizze nach links), ca. 1901. Federzeichnung. Leipzig, Museum der bildenden Künste, Graphische Sammlung, Bestandsnr. 1955-51. Vgl. Max Klinger 1857-1920, Ausstellungskatalog, Leipzig, 1970, S. 59 (zu Kat.-Nr. 11). 4 1 KLINGER, M A X

(1857-1920)

„Friedrich Nietzsche" (Vorstudie, noch auf dem Umguß der Totenmaske Stoevings basierend), 1902. Bronzeguß in verlorener Form. Verschollen (?). Vgl. S. 185-186 u. Anm. 779. Abb. 14. 4 2 KLINGER, MAX

(1857-1920)

„Friedrich Nietzsche" (Studienkopf für die 1903 geschaffene Marmorherme in der Villa „Silberblick"), um 1902, Guß 1923. Bronze, Höhe 53 cm. Ein Exemplar in Leipzig, Museum der bildenden Künste, Bestandsnr. 155; 1936 befand sich ein weiterer Abguß in Leipziger Privatbesitz (Slg. Prof. Johannes Hartmann). Vgl. S. 186 u. Anm. 780.

244

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

4 3 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (Marmorherme für den Vortrags- und Lesesaal der Villa „Silberblick", auf kubischem Sockel), 1903. Marmor, Höhe ca. 80 cm; Sockel: Höhe ca. 150 cm. Weimar, N F G (GNM). Vgl. S. 180, 184-186, Anm. 771 u. 777. Abb. 19 (noch auf provisorischem Sockel). 4 4 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (Hermenform), 1904. Bronze, Höhe 64 cm. Frankfurt/M., Städelsches Kunstinstitut. Abg. u. a. in: Max Klinger. Leben und Werk in Daten und Bildern, Hrsg. v. Stella Wega Mathieu, Frankfurt/M., 1976, S. 78. 4 5 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (Hermenform), ca. 1904. Gips, Höhe 64 cm. Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 515. 4 6 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (verkleinerte Reproduktion der Archivherme auf Marmorsockel), 1904. Bronze (22 X 14 X 9 cm); Marmorsockel, Höhe 3 cm. Von Klinger autorisiert, durch die Gießerei Gladenbeck AG (BerlinFriedrichshagen) in den Handel gebracht. Ein Exemplar wurde 1973 auf der 21. Auktion der Galerie Gerda Bassenge, Berlin-West, verkauft. Vgl. Verst.-Kat. Teil 1, Nr. 912. Vgl. S. 185-186 u. Anm. 776. 4 7 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (verkleinerte Reproduktion der Archivherme auf Marmorsockel), 1904. Bronze, Höhe 38 cm; Marmorsockel, Höhe 4 cm. Von Klinger autorisiert, durch die Gießerei Gladenbeck AG (BerlinFriedrichshagen) in den Handel gebracht. Vgl. S. 185-186 u. Anm. 776. 4 8 KLINGER, MAX ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (Marmorherme für die Geschäftsräume des Alfred-Kröner-Verlages in Leipzig, mit 2 Reliefs geschmückt, auf hermenartigem Postament), 1914-1919. Marmor. Herme (85 X 55 cm); Sockel (160 X 58 cm).

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

245

Leipzig, Museum der bildenden Künste (Leihgabe). Vgl. S. 187-188. Abb. 33. 4 9 KÖSELITZ, RUDOLF ( 1 8 6 1 - ? )

„Friedrich Nietzsche" (nach einer Fotografie aus dem Jahre 1882), 1900-1901. Öl/Lwd. (75 X 61 cm). Weimar, NFG (GNM) Depot, NE 269/1958. Vgl. S. 134-135. 5 0 KOLBE, GEORG ( 1 8 7 7 - 1 9 4 7 )

„Zarathustras Erhebung" (als zentrales Denkmal für die Apsis des großen Festsaals der Weimarer Nietzsche-Halle 1939—1940 in der Diskussion), Gips 1932 — 1933, Guß in leicht veränderter Form nach Kolbes Tod 1947. Bronze (Unikat). Berlin-West, im Garten des Georg-Kolbe-Museums. Vgl. S. 229-232. Abb. 36 (als Gipsmodell 1933). 51 KOLBE, GEORG ( 1 8 7 7 - 1 9 4 7 )

„Zarathustra-Tempel" (Ideenskizzen von Zentral- und basilikaähnlichen Langhausbauten, zur Aufnahme von Kolbes großer Plastik des emporsteigenden Zarathustra bestimmt), um 1933. Kohle, Bleistift. Berlin-West, Georg-Kolbe-Museum. Vgl. S. 230. 52 KOLBE, GEORG ( 1 8 7 7 - 1 9 4 7 )

„Zarathustra" (Entwurf einer Statue für ein Nietzsche-Denkmal, Variante zur ersten Bildidee von 1932-1933), 1937. Gips, Höhe 270 cm. Abg. in: Wilhelm Pinder, Georg-Kolbe. Werke der letzten Jahre, Berlin, 1937, Abb. 7 6 - 7 7 . 53 KRAMER, ARNOLD ( 1 8 6 3 - 1 9 1 8 )

„Friedrich Nietzsche" (Flachrelief, Bruststück), um 1894? Von Arthur Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", in: ders. Kunst und Kultur, S. 386, erwähnt. Vgl. S. 121. 54 KRAMER, ARNOLD ( 1 8 6 3 - 1 9 1 8 )

„Friedrich Nietzsche im Krankenstuhl" (Statuette, ganze Gestalt), 1898. Bronze, Höhe 36 cm.

246

Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Ein Exemplar in Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 505. Vgl. S. 119-124. Abb. 6. 55 KRAMER, ARNOLD

(1863-1918)

„Friedrich Nietzsche im Krankenstuhl" (Statuette, ganze Gestalt), 1898. Gips, Höhe 37 cm. Ein Exemplar in Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 504. Vgl. S. 119-124. 56 KRAMER, ARNOLD

(1863-1918)

„Friedrich Nietzsche" (auf Büstenform reduzierter Teilguß nach Kat.Nr. 53: „Friedrich Nietzsche im Krankenstuhl"), um 1898. Bronze, auf rechteckigem Marmorsockel, Höhe 22 cm. Ein Exemplar in Weimar, N F G (GNM) N E 710/1959/506. Vgl. S. 120. 57 KRÖCK,

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Büste, auf archaisierende Frontalität hin gearbeitet), um 1938? Holzplastik. 2 Fotos (je 17 X 12 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/59. 58 KRUSE, MAX ( 1 8 5 4 - 1 9 4 2 )

„Friedrich Nietzsche" (Büste mit archaisierender Formgebung), 1898. Marmor. Sils-Maria, Oberengadin, Nietzsche-Haus. Vgl. S. 138-142. Abb. 8. 59 KRUSE, MAX ( 1 8 5 4 - 1 9 4 2 )

„Friedrich Nietzsche" (Modell zur Marmorbüste), 1898. Ton. 3 Fotos (je 19 X 12,5 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/60. 60 KRUSE, MAX

(1854-1942)

„Friedrich Nietzsche" (Abguß der Marmorbüste, für den Handel bestimmt), nach 1898. Gips. Vgl. S. 140, Anm. 600. 61 KRUSE, MAX ( 1 8 5 4 - 1 9 4 2 )

„Nietzsche-Denkmal" (Projekt), um 1900. A. Seidl erwähnt in „Nietzsche-Bildwerke", S. 396, entsprechende Pläne Kruses in einem Brief des Künstlers an das Nietzsche-Archiv. Dabei

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

247

bleibt unklar, ob jemals ausgereifte Entwürfe oder auch nur Skizzen nach Weimar gelangten (1977 nicht aufgefunden). Vgl. S. 138. 62 KUBIN, ALFRED ( 1 8 7 7 - 1 9 5 9 )

„Der Rebell" (Nietzsche-Säule), vor 1921? Frühere Fassung der Nietzsche-Säule von 1921 (Kat.-Nr. 63)? Abg. in Ernst Willy Bredt, Alfred Kubin, München, 1922. Vgl. S. 27 u. 218. 63 KUBIN, ALFRED ( 1 8 7 7 - 1 9 5 9 )

„Nietzsche-Säule" (in düsterer, stürmischer Landschaft ist der Kopf des Philosophen auf einen Pfahl gesteckt), 1921. Federzeichnung. Vgl. Paul Raabe, Alfred Kubin. Leben, Werk, Wirkung, Hamburg, 1957, Werkverzeichnis Nr. 156. Erschien mit 14 anderen Reproduktionen nach Federzeichnungen in einem Kubin-Heft des Ararat, Jg. 2, Nr. 2, Febr. 1921. Ebenso als Postkarte (13,8 X 10 cm) in den Handel gebracht; vgl. P. Raabe, Alfred Kubin, Werkverzeichnis Nr. 163 c. Vgl. S. 27 u. 218. 64 LAMPEL, JEAN ( 1 8 5 9 - ? )

„Zarathustra mit Schlange und Adler", 1892. Plastischer Entwurf. Vgl. Alfred Hertel: „Neudeutsche Skulptur" in: Die freie Bühne, 1892, S. 1300-1303. Vgl. S. 79. 6 5 LECHTER, MELCHIOR ( 1 8 6 5 - 1 9 3 7 )

„Nietzsche-Fenster" (Entwurf für das vierteilige Glasgemälde in Lechters Bibliothekszimmer), 1895. Aquarell, gewachst (21,7 X 12,6 cm). Münster, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Vgl. S. 7 9 - 8 1 . 66 LECHTER, MELCHIOR ( 1 8 6 5 - 1 9 3 7 )

„Nietzsche-Fenster" (vierteiliges Glasgemälde für Lechters Bibliothekszimmer), 1895. 180 X 90 cm. Ehem. Berlin W, Kleiststr. 3. Jetzt: Münster, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Vgl. S. 7 9 - 8 1 .

248

Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

6 7 LECHTER, MELCHIOR

(1865-1937)

„Werkstattschrank im Atelier des Künstlers mit geschnitztem Sinnspruch aus Also sprach Zarathustra", 1895—1896. Eichenholz. Abg. in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 1 (1897-1898), S. 177. Vgl. S. 80. 6 8 LECHTER, MELCHIOR ( 1 8 6 5 - 1 9 3 7 )

„Fenster wurf für Aquarell Münster, Abg. in:

mit Spruch aus Also sprach Zarathustra (Das Tanzlied)" (Entein Glasgemälde im Romanischen Haus, Berlin), 1896. (23,3 X 11 cm). Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 1 (1897-1898), S. 167.

6 9 LECHTER, MELCHIOR ( 1 8 6 5 — 1 9 3 7 )

„Dielenfenster mit Sprüchen aus Also sprach Zarathustra" (Entwurf für die Villa Messel in Bernburg am Harz). Aquarell und Tusche (45 X 32,5 cm). Münster, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Vgl. S. 80, Anm. 359. 70 LECHTER, MELCHIOR ( 1 8 6 5 - 1 9 3 7 )

„Pallenberg-Saal im ehem. Bau des Kölner Kunstgewerbemuseums" (Gesamtentwurf und Ausstattung), 1898—1900, zerstört 1943-1944. Wand- und Deckenvertäfelung, Mosaiken, Glasgemälde, Samt- und Leder· Applikationen, Majoliken und Tempera-Triptychon „Die Weihe am mystischen Quell"; Raumgröße ca. 9 X 17 m. Ehem. Köln, Kunstgewerbemuseum am Hansaring. Erhalten und restauriert ein Glasgemälde (197 X 139,5 cm). Abg. in: Das Kunstgewerbemuseum der Stadt Köln, Köln, 1971, Tafel 99. Vgl. S. 81. 71 LINDLOFF, HANS ( 1 8 7 8 - 1 9 6 0 )

„Schmuckblatt mit Text des,Trunkenen Liedes' aus Also sprach Zarathustra" (zwei weibliche Rückenfiguren sind in den Anblick einer fernen Burg versunken), um 1905. Reproduktion (14,5 X 11,5 cm) in: My Sister and I, New York, 15 1965, S. 6, eine unter Nietzsches Namen gefälschte Schrift von David Georg Plotkin, angeblich aus der Leidenszeit im Jenaer Irrenhaus. 72 MEYN, GEORG ( 1 8 5 9 - 1 9 2 0 )

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links). Kohlezeichnung?

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

249

Eine Reproduktion als „Correspondenz-Postkarte" des Kunstverlages A. Hildebrandt, Berlin W 9 (Darstellung: 8 X 5,8 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/62. 73 MÜLLER, (HEINZ ?) ( 1 8 7 2 - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Herme), 1926. Weißer Gips, Höhe 51 cm. Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr., ex Nietzsche-Archiv. 74 MÜLLER-CAMPHAUSEN, FRITZ ( 1 9 0 1 - 1 9 5 5 )

„Nietzsche-Zarathustra im Meditationsgestus, umgeben von Adler, Schlange und Löwe" (Modell für die Apsis im großen Festsaal der Weimarer Nietzsche-Halle), 1938. Gips, Höhe 65 cm. Ein Foto (33,5 X 50 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/ÜF 249. Außerdem arbeitete der Künstler um 1940 an 16 Büsten von „geistigen Ahnen" Nietzsches; diese sollten die auf die Feierhalle zuführende Galerie flankieren. Vgl. S. 226-229. Abb. 40. 75 M U N C H , EDVARD ( 1 8 6 3 - 1 9 4 4 )

„Friedrich Nietzsche, am Fenster sitzend" (erste Skizze zur verworfenen Bildidee des Philosophen im Meditationsgestus), 1905. Bleistift (21,3 X 28 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. Τ 593. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 194. 76 M U N C H , EDVARD ( 1 8 6 3 - 1 9 4 4 )

„Friedrich Nietzsche, am Tisch sitzend" (Profil nach links, ausgereifte Studie zur verworfenen Bildidee), 1905. Pastellkreide/Pappe (71 X 91,3 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. M 254. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 194. 7 7 M U N C H , EDVARD ( 1 8 6 3 - 1 9 4 4 )

„Friedrich Nietzsche, aufrecht stehend vor Bergkulisse" (erste flüchtige Skizze zur großen Porträtfassung für Ernest Thiel), 1905. Bleistift (22,3 X 13,8 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. Τ 132—16. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 194. 78 MUNCH, EDVARD ( 1 8 6 3 - 1 9 4 4 )

„Friedrich Nietzsche, aufrecht stehend vor Bergkulisse mit Sonnenaufgang" (Skizze zur großen Porträtfassung für Ernest Thiel), 1905.

250

Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Tuschfederzeichnung, beschädigt: Fehlstellen, Knicke, Einrisse (27,8 X 21,3 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. Τ 1657. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 194. 79 M U N C H , EDVARD

(1863-1944)

„Friedrich Nietzsche, aufrecht stehend vor Bergkulisse mit Stadt bei Sonnenaufgang" (bildmäßig durchgeführter Entwurf zur großen Porträtfassung für Ernest Thiel), 1905. Kohle, Pastell und Tempera/graues Papier (200 X 130 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. Τ 2555. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 194-196. 8 0 M U N C H , EDVARD

(1863-1944)

„Friedrich Nietzsche, aufrecht stehend vor Bergkulisse mit Stadt bei Sonnenaufgang" (große Porträtfassung für Ernest Thiel), 1906. Ol/Lwd. (201 X 160 cm). Stockholm, Thielska Galleriet. Vgl. S. 189-197. Abb. 23. 81 M U N C H , EDVARD

(1863-1944)

„Friedrich Nietzsche, aufrecht stehend vor Bergkulisse bei Sonnenaufgang" (spätere Porträtvariante mit übermalter Stadt, verblieb beim Künstler), 1906. öl/weiß grundierte Lwd. (200 X 130,5 cm). Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. M 724. Vgl. S. 189-197. 82 M U N C H , EDVARD

(1863-1944)

„Friedrich Nietzsche" (Brustbild, auf der im gleichen Jahr entstandenen Gemäldefassung für Münchs eigene Sammlung basierend), 1906. Zweifarbige Lithographie in rot und grauviolett (ca. 61,5 X 46,2 cm). Ein Abzug in Oslo, Munch-Museum, Bestandsnr. Bo. 263—2. Vgl. Gustav Schiefler, Verzeichnis der graphischen Werke Edvard Münchs bis 1906, Berlin, 1907, S. 147, Nr. 247. Vgl. S. 192, Anm. 799 u. S. 196. 83 O L D E , H A N S

(1855-1917)

„Nietzsche auf dem Krankenbett" (2 Kompositionsskizzen mit Landschaftsausschnitt in großem Fenster bzw. mit Kopf der Schwester, auf einem Blatt), 1899. Bleistift (29 X 22,5 cm).

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

251

Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 892 u. 893. 84 O L D E , HANS (1855-1917) „Nietzsche auf dem Krankenbett" (Skizze), 1899. Bleistift (28,5 Χ 22,5 cm). Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 895. 85 O L D E , HANS (1855-1917) „Nietzsche auf dem Krankenbett", 1899. Bleistift auf einem Zeichenblockblatt (32,5 X 23,5 cm). Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 891. 86 O L D E , HANS (1855-1917) „Nietzsche auf dem Krankenbett" (Halbprofil nach rechts, zurückgezogener Vorhang und Balkonbrüstung), 1899. Bleistift ? (28,5 x 22,5 cm). Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 894. 87 O L D E , HANS (1855-1917) „Nietzsche-Kopf" (Profil nach rechts), 1899. Kreide u. Bleistift (31,5 X 24,7 cm). Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 920. 88 O L D E , HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenbett", 1899. Kohle (85 X 110 cm). Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 603; im GSA 101/67 befinden sich dazu 5 Fotos, 2 Drucke und 3 Postkarten, teilweise beschriftet: „Friedrich Nietzsche in seinem letzten Lebensjahr auf seiner Veranda der sinkenden Sonne nachschauend." Vgl. S. 127. 89 O L D E , HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenbett", 1899. Kreide (84,5 Χ 109 cm). Weimar, NFG (GNM) NE 127/1978. 90 O L D E , HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenlager" (Skizze), 1899. Öl/Pappe (45 X 63 cm).

252

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Weimar, NFG (GNM) NE 278/1958, Bestandsnr. 643. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 99 oder 101. 91 OLDE, HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenlager" (Skizze), 1899. Öl/Pappe (45 X 63 cm). Weimar, NFG (GNM) NE 279/1958, Bestandsnr. 644. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 99 oder 101. 92 OLDE, HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenlager" (Studie, rückseitig Kohlezeichnung), 1899. ö l (47 X 63 cm). Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 645. Entspricht H. Gantner-Schlee,

Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 98. 93 OLDE, HANS (1855-1917) „Bildnis Friedrich Nietzsche", 1899. Öl/Pappe (47 X 64 cm). Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Bestandsnr. 1969/ 303. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 97. 94 OLDE, HANS (1855-1917) „Bildnis Friedrich Nietzsche", 1899. Öl/Pappe (47 X 63,5 cm). Heilbronn, Privatbesitz. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 96.

Olde,

95 OLDE, HANS (1855-1917) „Bildnis Friedrich Nietzsche", 1899. Öl/Lwd. (75 X 87 cm). Bonn, Privatbesitz. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 102. 96 OLDE, HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche auf dem Krankenlager", 1899. Öl/Lwd. (56 X 70 cm). Weimar, NFG (GNM) NE 271/1958, Bestandsnr. 612. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 100.

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

253

97 O L D E , HANS (1855-1917) „Bildnis Friedrich Nietzsche", 1899. Öl/Lwd. (85 X 110 cm). Halle/S., Staatliche Galerie Moritzburg (Nachlaß Prof. Hermann Gocht). Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Werkverzeichnis der Gemälde, Nr. 95. 98 O L D E , HANS (1855-1917) „Nietzsche-Kopf" (Skizze, Vorentwurf zu einer Radierung), 1899. Bräunliche Kreide auf Zeichenblockkarton (32,5 X 23,5 cm). Gauting b. München, Hans Olde-Sohn. Ausgestellt bei Malerei nach Fotografie, München, 1970, unter Kat.Nr. 919. 99 O L D E , HANS (1855-1917) „Friedrich Nietzsche", 1899. Radierung (25,8 X 19,5 cm, unterer Rand beschnitten). Gauting b. München, Privatbesitz. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Verzeichnis der Druckgraphik, Nr. 14. 100 O L D E , HANS (1855-1917) „Sog. ,Großer Nietzsche-Kopf'", 1899. Radierung (19,5 X 16,5 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 618. Entspricht H . Gantner-Schlee, Hans Olde, Verzeichnis der Druckgraphik, Nr. 10, und Malerei nach Fotografie, 1970, Ausst.-Kat.-Nr. 887 mit Abb. 101 O L D E , HANS (1855-1917) „Sog. ,Großer Nietzsche-Kopf'" (Variante), 1899. Radierung (Plattengr. 20 X 15,5 cm, Darst. 19 X 15 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/64, als „Zustand 5" bezeichnet. 102 O L D E , HANS (1855-1917) „Sog. .Kleiner Nietzsche-Kopf'" (auf noch unverkürzter Platte), 1899. Radierung (20 X 13 cm). Gauting b. München, Privatbesitz. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Verzeichnis der Druckgraphik, Nr. 13 und Malerei nach Fotografie, 1970, Ausst.-Kat.-Nr. 885. 103 O L D E , HANS (1855-1917) „Sog; .Kleiner Nietzsche-Kopf'" (auf kürzerer Platte), 1899. Radierung (Plattengr. ca. 19,5 X 13 cm, Darst. 17 X 12,2 cm).

254

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

2 Abzüge in Weimar, NFG (GSA) 101/64; ein Abzug im GNM, Bestandsnr. 620. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Verzeichnis der Druckgraphik, Nr. 12 und Malerei nach Fotografie, 1970, Ausst.Kat.-Nr. 886. 104 OLDE, HANS ( 1 8 5 5 - 1 9 1 7 )

„Sog. ,Kleiner Nietzsche-Kopf' für den Pan", 1899. Radierung (Plattengr. 17,8 X 13 cm, Darst. 16,8 X 12,4 cm). Als Beigabe zu Pan 5 (1899-1900), Heft 4, vor S. 233 erschienen. Entspricht H. Gantner-Schlee, Hans Olde, Verzeichnis der Druckgraphik, Nr. 11. Vgl. S. 118 u. S. 124-131. Abb. 9. 105 OLDE, HANS ( 1 8 5 5 - 1 9 1 7 )

„Der kranke Nietzsche auf dem Ruhebett", 1899. Öldruck der F. Bruckmann A. G. nach einer der 8 Gemäldefassungen, für die Münchener Nietzsche-Gesellschaft veranstaltet; aus den 20er oder 30er Jahren (ca. 54 X 35 cm). Von der Auflage ca. 46 Druckexemplare in Weimar, NFG (GSA) 101/ÜF 258. Vgl. S. 127. 106

(1864-?) „Tod und Ubermensch" (nackter Athlet wälzt einen Felsblock in einen Abgrund, aus dem der Tod und zahlreiche Frauen emporzuklimmen versuchen), um 1898. Algraphie (Kreidezeichnung auf Aluminium). Reproduktion (16 X 22,5 cm) in: Die Kunst für Alle, Jg. 14 (1898-1899), zwischen S. 100 u. 101. PACZKA-WAGNER, CORNELIA

1 0 7 PAULY, (CHARLOTTE ?) ( 1 8 8 6 ? - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Kopf des Philosophen, an Klingers Vorbild angelehnt). Gips? 2 Fotos (je 22,5 X 16,5 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/68; rückseitig beschriftet: „Pauly. Bildhauerin. Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste. Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 108". 1 0 8 PFEIFFER, RICHARD

(1878-?)

„Heil uns, wehe uns, der Thauwind weht!" (Illustration zu Also sprach Zarathustra, „Von alten und neuen Tafeln", Abschnitt 8), um 1902. Farblithographie ? Abb. in Jugend, 1902, Bd. 1, Nr. 9, S. 138-139.

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

255

1 0 9 PHILIPP, JOHN ( 1 8 7 2 - 1 9 3 8 )

„Friedrich Nietzsche" (Viertelfigur nach links, im Meditationsgestus, nach dem entsprechenden Fotovorbild aus dem Jahre 1882), 1908? Fotogravüre auf Bütten, nach einer Kohle(?)-Zeichnung (46 X 33 cm). Ein» Druck in London, British Museum, Department of Prints & Drawings, Bestandsnr. 1908-4-14-353. 110 PÖRSCHMANN,

„Friedrich Nietzsche" (Relief). Wird ca. 1942 in einer Ubersicht von Nietzsche-Bildwerken des Archivs aufgeführt; Weimar, NFG (GSA) 72/2458 a. 111 RAU, LEOPOLD ( 1 8 4 7 - 1 8 8 0 )

„Der gefesselte Prometheus" (Titelvignette zu Nietzsches Geburt Tragödie, in Holz geschnitten von H. Vogel), 1872. Xylographie, Durchmesser ca. 5 cm. Vgl. S. 51 u. Anm. 227-228. 112 REICH, HEINRICH WILHELM

der

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Halbprofil des greisenhaften Philosophen nach rechts vor Winterlandschaft mit kahlem Baum), um 1943? Ein Foto (Postkarte) in Weimar, NFG (GSA) 101/69; vom Künstler am 27. 1. 1944 dem Archiv zur „Jahrhundertfeier" 1944 zugeschickt; vgl. NFG (GSA) 72/2458 a. 113 Riss, K. ( ? - ? ) „Allegorie auf Nietzsches Leben: ,Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag' ". Vignette zum Nachruf Georg Hirths in der Jugend, Jg. 1900, Bd. 2, Nr. 37. 114 RIST, W .

(?-?)

„Friedrich Nietzsche im Tode" (Haut-Relief). Zementguß (37 X 27 cm). Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr., ex Nietzsche-Archiv. 1 1 5 RÖLL, FRITZ ( 1 8 7 9 - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Büste). 3 Fotos in Weimar, NFG (GSA) 101/70. Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd. XXVIII, S. 489 zufolge befand sich die Arbeit 1934 im Nietzsche-Archiv; 1978 im NFG-Bereich nicht aufgefunden. 1 1 6 ROGGE, JOHANNES FRIEDRICH ( 1 8 9 8 - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Kopfstück auf quadratischem Marmorsockel), 1944.

256

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Bronze, Höhe 66 cm. Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 519. Ausgestellt auf der Großen Deutschen Kunstausstellung 1944 im Haus der Deutschen Kunst zu München, München, 1944, Kat.-Nr. 759; gelangte noch im Januar 1945 als Spende der „Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs" auf den „Silberblick". 1 1 7 SAUDEK, RUDOLPH

(1880-1965)

„STURMWIND, DU WOLKENJÄGER" (Büste Nietzsches mit Inschrift, die auf dessen Gedicht: „An den Mistral" verweist), 1906. Marmor. Ein Foto (16,2 X 11,3 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/71. Vgl. S. 152. 1 1 8 SAUDEK, RUDOLPH

(1880-1965)

„Friedrich Nietzsche" (Totenmaske, nach Bruchstücken des ursprünglich von Curt Stoeving abgenommenen Gipses „rekonstruiert"), 1910. Gips (27,5 X 17,6 cm). Ein Exemplar in Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 525; unter der Bestandsnr. 524 befinden sich ebd. 2 Gipse (26 X 17 cm) einer offenbar nicht von Saudek „rekonstruierten" Totenmaske. Vgl. S. 151-152. Abb. 11. 1 1 9 SAUDEK, RUDOLPH

(1880-1965)

„Friedrich Nietzsche" (halbplastisch aus dem Relief hervortretender Kopf, konzentrische Meißelschläge auf der Plinthe deuten einen Strahlenkranz an; nach dem Vorbild der 1910 überarbeiteten Totenmaske), 1912. Marmor. Ein Foto (12,5 X 9 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/73. Vgl. S. 152. 1 2 0 SAUDEK, RUDOLPH

(1880-1965)

„Friedrich Nietzsche im Sterben" (halbplastisch aus dem Relief hervortretender Kopf, nach dem Vorbild der 1910 vom Künstler überarbeiteten Totenmaske, Variante zur vorhergehenden Kat.-Nr.), um 1912? Griechischer Marmor (47,5 X 37,5 cm). Leipzig, Museum der bildenden Künste, Bestandsnr. 134. Vgl. S. 152. 1 2 1 SAUDEK, RUDOLPH

(1880-1965)

„Friedrich Nietzsche" (Herme, für die Deutsche Bücherei in Leipzig?), 1916.

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

257

Marmor. Ein Foto (20,5 X 14,8 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/72. Vgl. S. 152-153. 122

(1866—?) „Friedrich Nietzsche" (Büste, in zeitgenössischer Gewandung), 1895. Gips, Höhe 63 cm. Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 511 ; ex Nietzsche-Archiv. Vgl. S. 93-95. Abb. 4.

123

(1866—?) „Friedrich Nietzsche" (Relief in „Renaissance"-Umrahmung, Profil nach links), 1895. Gips, 57 X 42 cm. Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr.; ex Nietzsche-Archiv. Vgl. S. 95-96. Abb. 5.

124

SCHELLBACH, SIEGFRIED

125

SCHELLBACH, SIEGFRIED

SCHELLBACH, SIEGFRIED

SCHELLBACH, SIEGFRIED

(1866-?) „Friedrich Nietzsche" (Relief, Profil nach links, unsigniert), 1895? Gips, getönt, 58 X 42,5 cm. Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr. Schellbachs Autorschaft an diesem Exemplar ist laut Inventar des GNM zweifelhaft.

(1866—?) „Friedrich Nietzsche" (En-face-Relief). Gips? Ein Foto (ca. 12,2 X 10,7 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/76. Vgl. S. 96.

1 2 6 S C H M I T T , FRANZ

(?-?)

„Friedrich Nietzsche", 1923. Holz- oder Linolschnitt (ca. 20,5 X 16,5 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/78. 1 2 7 SCHNEIDER, O T T Y ( ? — ? )

„Friedrich Nietzsche" (Maske; wird ca. 1942 in einer Ubersicht von Nietzsche-Bildwerken des Archivs aufgeführt; vgl. NFG (GSA) 72/ 2458 a). 128

(1870-1927) „Um die Wahrheit" (altarblattartiges Monumentalgemälde: auf dem Oberteil des rechten „Flügels" hat Nietzsche-Zarathustra seinen Dichter-

SCHNEIDER, SASCHA

258

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

thron verlassen und kniet vor dem umwölkten Standbild der „Wahrheit"), 1902. Öl/Lwd. Um 1925 im Besitz von Consul H. Mühlberg, Dresden. Abb. in: Felix Zimmermann, Sascha Schneider, Dresden, o. J. (ca. 1925), Ausklapptafel zwischen S. 68 u. 69. Vgl. S. 125, Anm. 532 u. S. 197-198. Abb. 15. 1 2 9 SCHRAMMETZ,

(?—?)

„Der ekstatische Nietzsche" (Rückenfigur Nietzsche-Zarathustras am Abgrund, Tauben umschwärmen ihn). Aquarell? Ein Foto (8 X 5,2 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/77. 130

(1869-1949) „Nietzsche-Gedächtnishalle Weimar" (Raumprogramm mit Vorhalle, Wandelgang, Empfangsraum 9 X 17 m, großem Festsaal 12 X 32 m und südlich anschließenden Nutzraumtrakten; Mittelachse fast 90 m), Pläne für einen Anbau seit Okt. 1934, Baubeginn Juli 1937, Richtfest Aug. 1938, Ausbau seit 1940 nur schleppend, bald darauf eingestellt. Weimar, Humboldtstraße, oberhalb des alten Archivgebäudes (die Halle dient heute dem Sender Weimar, die ehemalige Villa „Silberblick" als Gästehaus den NFG). Grund- und Aufrisse der Halle, Entwurfsvarianten, Briefwechsel zum ikonographischen und ideologischen Programm der Feierstätte in Weimar, NFG (GSA) 72/1597 u. 2597-2599. Vgl. S. 218-225. Abb. 37, 38 u. 39. SCHULTZE-NAUMBURG, PAUL

1 3 1 SCHUMACHER, F R I T Z

(1869-1947)

„Nietzsche-Denkmal" (Entwurf eines Monopteros in archaisierender Formgebung, von einer betenden Jünglingsgestalt bekrönt), 1898. Kohle. Reproduktion in: F. Schumacher, Studien. 20 Kohlezeichnungen, Leipzig, 1900 (Blatt Nr. 1, 35,5 X 24,6 cm). Vgl. S. 1 1 - 1 2 u. 166-172. Abb. 7. 1 3 2 SCHWEIGARDT, F R I E D R I C H ( 1 8 8 5 — ?)

„Friedrich Nietzsche" (Büste). 2 Fotos (je 11 X 8,2 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/79.

Alphabetisches Künstlerverzeichnis 133 SEGANTINI, GIOVANNI

259

(1858-1899)

„Die Verkündigung des neuen Wortes" (Umschlagentwurf für Also sprach Zarathustra), 1896. Kohle und Pastellkreide (44,5 X 32,5 cm). St. Moritz, Oberengadin, Segantini-Museum. Vgl. S. 77-78. 134

(1850—?) „Friedrich Nietzsche", um 1880. ölskizze? Von A. Seidl, „Nietzsche-Bildwerke", S. 385, als Verlust erwähnt. SEYDLITZ, R E I N H A R T FRHR. VON

135 SODER, ALFRED

(1880—?)

„Friedrich Nietzsche" (der nackte Philosoph im Hochgebirge, zurückgelehnt auf eine Felsklippe, im Hintergrund eisbedeckte Felsgipfel), 1907. Radierung mit Aquatinta (Plattengr. 19 X 12,5 cm). 2 Abzüge in Weimar, N F G (GSA) 101/80. Vgl. S. 26 u. S. 198-199. Abb. 24. 1 3 6 STOEVING, C U R T

(1863-1939)

„Friedrich Nietzsche in der Gartenlaube des Hauses Weingarten 18 zu Naumburg" (große Fassung, Querformat), 1894. Öl/Lwd. (181 X 243 cm). Allegorische Rahmung: verloren; getönter Gips? Berlin, National-Galerie der Staatlichen Museen, Depot. Vgl. S. 96-100. Abb. 1. 1 3 7 STOEVING, C U R T

(1863-1939)

„Friedrich Nietzsche in der Gartenlaube des Hauses Weingarten 18 zu Naumburg" (kleine Fassung, Hochformat), 1894. Öl/Lwd. (105 X 77 cm). Allegorische Rahmung: verloren. Weimar, N F G (GNM) N E 268/1958. Vgl. S. 96-100. 1 3 8 STOEVING, C U R T

(1863-1939)

„Zur Erinnerung an Nietzsches T o d " (Plakette mit recto: Porträt, verso: Zarathustra-Symbolik und Zitat), 1900. Schwärzliche Bronze (Durchmesser ca. 10,3 cm). Ein Exemplar in Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 985. Vgl. S. 97.

260

U b e r s i c h t zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen u n d - T h e m a t i k e n

1 3 9 STOEVING, C U R T

(1863-1939)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtherme), um 1902. Bronze. Abb. in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 11 (1902-1903), S. 65. Vgl. S. 97. 1 4 0 STOEVING, C U R T

(1863-1939)

„Friedrich Nietzsche" (Reliefporträt). Von A. Seidl in: „Nietzsche-Bildwerke", S. 399 und P. Kühn in: Das Nietzsche-Archiv, S. 5 erwähnt. Zur Mitwirkung C U R T STOEVINGS an der Totenmaske Nietzsches (1900/ 1910) vgl.: R U D O L P H SAUDEK, Kat.-Nr. 118, Abb. 11. 141

STRUCK, HERMANN

(1876-1944)

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links, nach dem bekannten StandardFoto des Philosophen aus seiner „Zarathustrazeit" 1882), 1910. Kaltnadelradierung/Bütten (Plattengr. 31,1 X 24,8 cm). 2 Abzüge von der unverstählten Platte, einer mit handschriftlicher Widmung des Künstlers an E. Förster-Nietzsche vom 13. 11. 1911, in Weimar, N F G (GSA) 101/UF 261. 142

(1839-1924) „Allegorie zu einem Nietzsche-Fragment: .Zarathustra vor dem Koenige'", 1895. Strichätzung (ca. 10 X 20 cm), monogrammiert: HTh (ligiert) 95. In Pan 1 (1895-1896), Heft 1, S. 1 erschienen. (Auf der gleichen Seite ein Tigerkopf Thomas als Schlußvignette). Vgl. S. 111-114. Abb. 2.

THOMA, HANS

143 THORAK, JOSEF

(1889-1952)

„Friedrich Nietzsche" (Hermenform), 1944. Marmor? Ausgestellt auf der Großen Deutschen Kunstausstellung 1944 im Haus der Deutschen Kunst zu München, München, 1944, Kat.-Nr. 967, Abb. 51; war ursprünglich für die Universität Halle/S. bestimmt; Verbleib unbekannt. Vgl. S. 190. Anm. 792. 144

(1859-1923) „Nietzsche-Porträt". Holzschnitt? Von Maximilian August Mügge, Friedrich Nietzsche. His Life and Work, London, 3 1911, S. 434, erwähnt. TINAYRE, JULIEN

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

261

1 4 5 TROSCHEL, HANS ( 1 8 9 9 - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach rechts), 1922. Holzschnitt (14,1 X 9,6 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/83 a. Vgl. S. 216, Anm. 910. 1 4 6 VALLOTTON, FELIX ( 1 8 6 5 - 1 9 2 5 )

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links, in Anlehnung an das StandardFoto aus der „Zarathustrazeit" 1882), 1900. Holzschnitt (ca. 15 X 10 cm). Als Reproduktion in Die Insel, 2 (1900), Heft 2, S. 200 erschienen. Vgl. S. 134. 1 4 7 VELDE, HENRY VAN DE ( 1 8 6 3 - 1 9 5 7 )

„Neuausbau der Villa ,Silberblick' (Nietzsche-Archiv) in Weimar" (ehem. Luisenstraße, heute Humboldtstr. 34), 1902-1903. An die in typischen Neorenaissanceformen errichtete Gründerzeitvilla aus den frühen 90er Jahren wurde ein Portal angebaut, das Vestibül, der Lese- und Vortragssaal sowie zwei kleinere Räume völlig umgestaltet und einheitlich von van de Velde möbliert. Materialien der Inneneinrichtung: Buchenholz, Messing. Weimar, NFG (die gut erhaltenen Möbel teilweise noch im ehem. Nietzsche· Archiv, das den NFG als Gästehaus dient, sonst magaziniert). Vgl. S. 172-177. Abb. 17, 18, 19 u. 20. 1 4 8 VELDE, HENRY VAN DE ( 1 8 6 3 - 1 9 5 7 )

„Druckanordnung, doppelter Vortitel, Füllornamente und Einband für Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra" (in Schwarz, Purpur und Gold gedruckt; die Schrifttype von Georges Lemmen, Harry Graf Kessler und Erica von Scheel entwickelt; Gesamtwerk in Zusammenarbeit zwischen der Weimarer Kunstgewerbeschule und dem Insel-Verlag, Leipzig, entstanden), 1908. 500 num. Expl., davon Nr. 1—50 in Maroquin, Nr. 51—500 in Pergament gebunden. Vgl. S. 173-174 u. 177-179. Abb. 25. 1 4 9 VELDE, HENRY VAN DE ( 1 8 6 3 - 1 9 5 7 )

„Doppeltitel, Textornamente und Einband für Friedrich Nietzsches Ecce homo" (in Zusammenarbeit zwischen der Weimarer Kunstgewerbeschule und dem Insel-Verlag, Leipzig, entstanden), 1908.

262

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

1250 num. Expl., davon Nr. 1 — 150 auf Japanpapier gedruckt und in Leder gebunden, Nr. 151 — 1250 auf Bütten gedruckt und in Halbpergament gebunden. Vgl. S. 173-174 u. 177-179. Abb. 26. 1 5 0 V E L D E , H E N R Y VAN DE

(1863-1957)

„Buchschmuck und Einband zu Friedrich Nietzsches Dionysos-Dithyramben" (in Zusammenarbeit zwischen der Weimarer Kunsgewerbeschule und dem Insel-Verlag, Leipzig, entstanden), 1914. 150 num. Expl., davon nur wenige erhalten, vgl. H. van de Velde, Geschichte meines Lebens, S. 306—307. Vgl. S. 173-174 u. 180. 1 5 1 V E L D E , H E N R Y VAN DE

(1863-1957)

„Nietzsche-Tempel und -Stadion" (Projekt eines weiträumigen Festspielforums im Südwesten Weimars, auf dem Höhenzug nahe der Villa „Silberblick"; in enger Zusammenarbeit mit Harry Graf Kessler entwickelt), 1910-1914. Grund- und Aufrisse, Entwurfsvarianten, Ideenskizzen und umfangreiches Briefmaterial in Brüssel, Bibliothèque Royale, Les Archives Henry van de Velde; ζ. T. erstmals veröffentlicht bei G. Stamm, „Monumental Architecture and Ideology: Henry van de Velde's and Harry Graf Kesslers Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910—1914", in: Gentse Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis; (mit 21 Abb.). Ergänzendes Material, hauptsächlich Briefe an E. Förster-Nietzsche, in Weimar, NFG (GSA) ζ. B. 72/393 u. 1608. Von A R I S T I D E M A I L L O L (1861-1944) und M A X K L I N G E R (1857-1920), die als Plastiker am Projekt beteiligt werden sollten, haben sich zumindest im Bereich der NFG Weimar keine Entwürfe erhalten. Vgl. S. 199-207 u. 209-210. Abb. 27, 28 u. 29. 152

(1863-1957) „Nietzsche-Gedenkstein für den Landschaftspark ,De Höge Veluwe' bei Otterlo in den Niederlanden" (Projekt eines ca. 5 m hohen Monolithen, der Maximen Nietzsches über die Einsamkeit aus Also sprach Zarathustra, „Vom Wege des Schaffenden" tragen sollte; hinterfangen von einer Terrasse mit Ruhebänken; die ganze Anlage ohne Skulpturenschmuck), 1925. 2 perspektivische Ansichten (Umrißzeichnungen) van de Veldes abgebildet bei G. Stamm, „Monumental Architecture and Ideology: Henry van V E L D E , H E N R Y VAN DE

Alphabetisches Künstlerverzeichnis

263

de Velde's and Harry Graf Kessler's Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910-1914", S. 334 u. 335. Vgl. S. 207-209. Abb. 30. 153 V o r p r e c h t , P a u l

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (nach Donndorfs Büste von 1901). Bleistift/Kreide (Blattgr. ca. 40 X 28 cm). Weimar, NFG (GNM), Bestandsnr. 880. 154 W e i n h o l d , K a r l

(1867-1925)

„Friedrich Nietzsche" (Profil nach links, im Meditationsgestus, nach dem entsprechenden Fotovorbild von 1882), 1901? Radierung. Ein Foto (11,4 X 8,8 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/84. Vgl. S. 150, Anm. 638. 155 W i e s e , L e o

(?-?)

„Allegorie auf Nietzsches Philosophie" (rechts im Mittelgrund ein Zarathustra-Tempel, zu dem Pilger wallfahren; Nietzsches Kopf erscheint in den Wolken), 1920. Federzeichnung (65 X 50,5 cm). Weimar, NFG (GNM) ohne Bestandsnr. Vgl. S. 119. Abb. 34. 156 W i e s e , L e o

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (Porträtkopf auf hohem kubischem Sockel mit Inschrift: „Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann!" Also sprach Zarathustra, I, GA VI, S. 55, „Vom bleichen Verbrecher"), 1933. Gips, getönt, Höhe 21 cm. Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 501 (als anonymes Werk bezeichnet); unter GSA 101/85 aber 4 Fotos, die die Büste als Arbeit Leo Wieses abbilden. 157 W i e s e , L e o

(?-?)

„Friedrich Nietzsche" (En-face-Porträt), 1919. Pastell (ca. 60 Χ 45 cm). Weimar, NFG (GNM) vorläufige Bestandsnr. 903. 158 Z i l k e n , L o r e n z

(1901-?)

„Nietzsche-Maske" (offenbar nach dem Vorbild Stoevings und Saudeks - Abb. 11 - geformt).

264

Übersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Abb. in: Also sprach Zarathustra, Hrsg. v. Friedrich Würzbach, Berlin, o. J., nach S. 64. 1 5 9 ZILZ, LOTHAR ( ? - ? )

„Friedrich Nietzsche" (Büste), um 1938? 2 Fotos (je 17,3 X 12,2 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/86. 160

(1894-?) „Der junge Friedrich Nietzsche" (Büste), 1926. Basel, Universität.

ZSCHOKKE, ALEXANDER

Teil B: Datierte, bzw. datierbare

Anonyma

161 „Friedrich Nietzsche" (Profil nach links), vor bzw. 1893. Xylographie in Leipziger Illustrierte Zeitung 101 (1893), S. 292. 162 „Friedrich Nietzsche" (Profil nach links, umrahmt von Allegorien: Adler, Schlange, aufwärtsstrebendes Menschenpaar u. a.), um 1896. Gipsrelief. Ein Foto (10 X 6,8 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/90. Auf dem Untersatzkarton beschriftet: „Stand der Arbeit am 2. 1. 96". Vgl. S. 134, Anm. 573. 163 „Friedrich Nietzsche" (Halbprofil nach links), vermutlich um 1900. Holzschnitt nach Hans Oldes Radierung im Pan (14 X 9,3 cm). Eine Reproduktion als Postkarte mit Nietzsche-Zitat über den Vegetarismus in Weimar, NFG (GSA) 101/89. Vgl. S. 12, Anm. 40, u. S. 129. Abb. 10. 164 „Ex-Libris für Georg Lapper" (Nietzsches Kopf en face mit Dornenkrone), vermutlich um 1900. Lithographie. Ein Foto (12 X 6,7 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/87. Vgl. S. 129. Abb. 13. 165 „Nietzsche als Zarathustra" (Büste, auf den Schultern des Philosophen erhebt sich sein Adler, umwunden von der Schlange Zarathustras), vermutlich um 1900. Gips? Höhe: ca. 25—30 cm. Ein Foto in Weimar, NFG (GSA) 101/58. Vgl. S. 120. Abb. 6 Arnold Kramer (Hintergrund).

Undatierte, bzw. schwer datierbare Anonyma

265

166 „Friedrich Nietzsche" (Büstenform, zeitgenössische Kleidung), um 1905. Gips. Zwei Fotos (je 16,7 X 11,7 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/91 c. 167 „Friedrich Nietzsche" (Kopf mit Lorbeerkranz), vermutlich um 1905. Bronze oder Gips patiniert. Ein Foto in Weimar, N F G (GSA) 101/91 a. 168 „Friedrich Nietzsche" (auf rundem Sockel), vermutlich um 1910. Marmor? Ein Foto (17,5 X 12,3 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/91 d. 169 „Friedrich Nietzsche", 1920. Holzschnitt (24,6 X 16 cm). Ein Abzug in Weimar, N F G (GSA) 101/89. Bez. re. unten: „Rein . . . (unleserlich) 1920 Nr. 20". 170 „Friedrich Nietzsche" (Halbprofil nach rechts), 1926. Radierung mit Aquatinta auf kräftigem Bütten (Plattengr. 21,2 X 15,5 cm). Ein Abzug in Weimar, N F G (GSA) 101/88. Braun/schwarz gedruckt. Bez. re. unten: „Hommage à la mémoire de F. Nietzsche . . . (unleserliche Signatur) 1926". 171 „Friedrich Nietzsche" (Herme), vermutlich 30er Jahre. Hellgrauer Marmor, Höhe 45,5 cm. Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 514. Teil C: Undatierte, bzw. schwer datierbare Anonyma 172 „Friedrich Nietzsche" (Hermenform, Aufschrift: „Nietzsche"). Schwedischer Muschelkalk, Höhe 41,5 cm. Weimar, N F G (GNM) ohne Bestandsnr. 173 „Friedrich Nietzsche" (Hermenform, Aufschrift vorn: „Nietzsche"). Keramik, Höhe 38 cm. Weimar, N F G (GNM) Bestandsnr. 503. 174 „Friedrich Nietzsche" (Büstenform). Gips. Zwei Fotos (Postkarten, je 13,8 X 8,9 cm) in Weimar, N F G (GSA) 101/ 91 f. 175 „Friedrich Nietzsche" (in Klinger-Nachfolge). Marmor oder Gips.

266

Ubersicht zu den ermittelten Nietzsche-Bildnissen und -Thematiken

Zwei Fotos (11,3 x 8,3 und 10 X 7,3 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/ 91h. 176 „Friedrich Nietzsche" (Relief, auf dem Sockel beschriftet: „ELLE IERRAE FILIVS" und undeutliche Signatur). Zwei Fotos (12 X 9 und 16 x 12 cm) in Weimar, NFG (GSA) 101/90. 177 „Friedrich Nietzsche". Öl/Lwd. (75 X 61 cm). Weimar, NFG (Depot des GNM) NE 270/1958. 178 „Friedrich Nietzsche" (auf einem Felsen stehend, nach den Sternen greifend). Rohrfeder, schwarze Tusche, Blattgröße 23,7 X 15,5 cm. Weimar, NFG (GNM) Bestandsnr. 404. Unten Schriftband: „in die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele, F. N . 1844-1900". 179 „Friedrich Nietzsche" (Profil nach rechts). Radierung (Plattengröße 12,4 X 7,4 cm). Ein Abzug in Weimar, NFG (GSA) 101/86 a.

Anhang II: Abbildungen Verzeichnis und Nachweis Abb. 1

CURT

STOEVING

Friedrich Nietzsche in der Gartenlaube des Hauses Weingarten 18, Naumburg (1894). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/82. Abb. 2

HANS

THOMA

Allegorie zu Nietzsches Gedichtfragment: „Zarathustra vor dem Könige" (1895). Foto aus: Pan 1, 1895/96, Heft 1, S. 1. Abb. 3

ERNST M O R I T Z

GEYGER

Illustration zu Nietzsches Parabel: „Der Riese" (1895). Foto aus: Pan 1, 1895/96, Heft 2, S. 91. Abb. 4

SIEGFRIED

SCHELLBACH

Friedrich Nietzsche, Gipsbüste (1895). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/75. Abb. 5

SIEGFRIED

SCHELLBACH

Friedrich Nietzsche, Gipsrelief in (1895). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/76. Abb. 6

ARNOLD

„Renaissance"-Umrahmung

KRAMER

Friedrich Nietzsche im Krankenstuhl, Statuette (1898). Aufstellung im umgebauten Nietzsche-Archiv, im Hintergrund unbekannte Kleinplastik (Zarathustra-Nietzsche mit Adler und Schlange)· Foto: NFG Weimar (GSA) 101/58. Abb. 7

FRITZ

SCHUMACHER

Entwurf zu einem Nietzsche-Monument (1898). Foto aus: Fritz Schumacher, Studien, Leipzig, 1900, Tafel 1.

268 Abb. 8

Abbildungen M A X KRUSE

Friedrich Nietzsche, Marmorbüste (1898). Foto aus: Sammlung Deutscher Kunstwerke Brüssel 1910. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Clemen, Siegburg, 1910, Tafel 65. Abb. 9

HANS OLDE

Friedrich Nietzsche, Radierung (1899). Foto aus: Pan 5, 1899/1900, Heft 4, vor S. 233. A b b . 10 ANONYM

Friedrich Nietzsche, Holzschnitt nach Hans Olde (Postkarte mit Zitat über den Vegetarismus, um 1900). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/89. A b b . 1 1 C U R T STOEVING UND RUDOLPH SAUDEK

Totenmaske Nietzsches (1900 unter Stoevings Aufsicht abgenommen; 1910 von Saudek überarbeitet). Foto aus: Illustrierte Zeitung, Leipzig, Jg. 1910, Nr. 3506 v. 8. 9. 1910, S. 397. A b b . 12 ERNST MORITZ GEYGER

Illustration zum Nachruf Otto Julius Bierbaums in der Insel (1900). Foto aus: Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig, 1911, S. 443. A b b . 13 ANONYM

Nietzsche mit der Dornenkrone, Exlibris für Georg Lapper (um 1900). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/89. A b b . 14 M A X KLINGER

Friedrich Nietzsche, Bronzeherme (1902). Foto aus: Ferdinand Avenarius, Max Klinger 51921, S. 146.

als Poet, München,

A b b . 15 SASCHA SCHNEIDER

„Um die Wahrheit" (1902): auf dem oberen Mittelfeld des rechten Flügels hat Nietzsche-Zarathustra seinen Dichterthron verlassen und kniet vor dem umwölkten Standbild der „Wahrheit". Foto aus: Felix Zimmermann, Sascha Schneider, Dresden, o. J. (ca. 1925), Ausklapptafel zwischen S. 68 u. 69. A b b . 1 6 MAX KLEIN

Friedrich Nietzsche, Sitzstatue (1903). Foto aus: Deutsche Kunst und Dekoration,

14, 1904, S. 639.

Verzeichnis und Nachweis

269

A b b . 1 7 HENRY VAN DE VELDE

Umbau und Erweiterung des Nietzsche-Archivs Weimar (1903): neuerbautes Portal. Foto aus: Paul Kühn, Das Nietzsche-Archiv zu Weimar, Darmstadt, 1904, S. 12. A b b . 1 8 HENRY VAN DE VELDE

Umbau und Erweiterung des Nietzsche-Archivs Weimar (1903): Ofen im Lese- und Vortragsraum, darüber das Signet Nietzsches. Foto aus: Paul Kühn, Das Nietzsche-Archiv zu Weimar, Darmstadt, 1904, S. 25. A b b . 1 9 HENRY VAN DE VELDE

Umbau und Erweiterung des Nietzsche-Archivs Weimar (1903): Ausstattung des Lese- und Vortragsraumes; im Hintergrund die Nietzsche-Stele Klingers (1903). Foto aus: Karl-Ernst Osthaus, Van de Velde — Leben und Schaffen des Künstlers, Hagen, 1920, S. 39. A b b . 2 0 HENRY VAN DE VELDE

Umbau und Erweiterung des Nietzsche-Archivs Weimar (1903): Blick von der Estrade im Lese- und Vortragsraum auf Sitzgruppen und Sammlungsschränke. Foto aus: Paul Kühn, Das Nietzsche-Archiv zu Weimar, Darmstadt, 1904, S. 29. A b b . 2 1 K A R L BAUER

Friedrich Nietzsche im Nachdenker-Gestus, Exlibris V. R. (um 1905). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/48. A b b . 2 2 FIDUS ( d . i . H U G O HÖPPENER)

„Am Traualtar", Federzeichnung, als Zeitschriften-Illustration mit Zarathustra-Zitat kombiniert (1906). Foto aus: Jugend, 11, 1906, S. 369. A b b . 2 3 EDVARD M U N C H

Friedrich Nietzsche, in der Fassung für Ernest Thiel (1906). Foto aus: Peter Krieger, Edvard Munch. Der Lebensfries für Max Reinhardts Kammerspiele, Berlin-West, 1978, S. 70. A b b . 2 4 ALFRED SODER

Der nackte Nietzsche im Hochgebirge, Exlibris für Friedrich Berthold Sutter (1907). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/80.

270 Abb. 25

Abbildungen H E N R Y VAN D E

VELDE

Haupttitel zu Also sprach Zarathustra (1908). Foto: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Leipzig, 1908. Abb. 26

H E N R Y VAN D E V E L D E

Doppelseitiger Vortitel zu Ecce homo (1908). Foto: Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Leipzig, 1908. Abb. 27

H E N R Y VAN D E

VELDE

Entwurf zu einem Nietzsche-Tempel für Weimar, Variante 1911; im Vordergrund der Frontalansicht ist eine Jünglingsstatue angedeutet, die von Aristide Maillol geschaffen werden sollte. Foto aus: Günther Stamm, „Monumental Architecture and Ideology: Henry van de Velde's and Harry Graf Kessler's Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910—1914", in: Gentse Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis, Jg. 23 (1973-1975), S. 317. Abb. 28

H E N R Y VAN D E

VELDE

Entwurf zu einem Nietzsche-Tempel für Weimar, Variante 1912; im Hintergrund einer der beiden Aufgänge zu den Tribünen des Sportstadions. Foto aus: Karl-Ernst Osthaus, Van de Velde — Leben und Schaffen des Künstlers, Hagen, 1920, S. 138. Abb. 29

H E N R Y VAN D E

VELDE

Nietzsche-Tempel und Stadion für Weimar, Modell (um 1912). Foto aus: Karl-Ernst Osthaus, Van de Velde — Leben und Schaffen des Künstlers, Hagen, 1920, S. 136. Abb. 30

H E N R Y VAN D E V E L D E

Nietzsche-Gedenkstein für den Landschaftspark „De Höge Veluwe" bei Otterlo in den Niederlanden (1925). Foto aus: Günther Stamm, „Monumental Architecture and Ideology: Henry van de Velde's and Harry Graf Kessler's Project for a Nietzsche Monument at Weimar, 1910—1914", in: Gentse Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis, Jg. 23 (1973-1975), S. 335. A b b . 31

OTTO

DIX

Friedrich Nietzsche, Gipsplastik, grün bemalt (1912). Foto aus: Otto Dix. Ausstellungskatalog der Galerie der Stadt Stuttgart zum 80. Geburtstag. Bearbeitet von Eugen Keuerleber, Stuttgart, 1971, S. 24.

Verzeichnis und Nachweis

271

A b b . 3 2 K A R L DONNDORF

Modell einer Nietzsche-Säule für den Garten des Weimarer Archivs (1914). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/51. A b b . 3 3 M A X KLINGER

Friedrich Nietzsche, Marmorherme für die Geschäftsräume des Alfred-Kröner-Verlages, Leipzig (1914). An den Seiten des Postaments zwei allegorische Reliefs (1920). Foto: Museum der bildenden Künste zu Leipzig. A b b . 34 LEO WIESE

Allegorie auf Nietzsches Zarathustra (1920). Foto: NFG Weimar (GNM) z. Zt. ohne Bestandsnummer. A b b . 3 5 HEINRICH

HEIM

„Zarathustramorgen". Nietzsche als Zarathustra (1922). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/53. A b b . 36 GEORG

KOLBE

„Zarathustra", Teilansicht (1933). Foto aus: Rudolf G. Binding, Vom Leben der Plastik. Inhalt Schönheit des Werkes von Georg Kolbe, Berlin, 1933, S. 38.

und

A b b . 3 7 PAUL SCHULTZE-NAUMBURG

Modell der Nietzsche-Gedächtnishalle für Weimar, Gesamtansicht (um 1938). Foto aus: Rudolf Pfister, Bauten Schultze-Naumburgs, Weimar, O.J., Abb. 171. A b b . 3 8 PAUL SCHULTZE-NAUMBURG

Nietzsche-Gedächtnishalle für Weimar (Bauzustand um 1940); Empfangsraum und großer Festsaal mit vorgelagerter Terrasse von Norden. Foto aus: Rudolf Pfister, Bauten Schultze-Naumburgs, Weimar, o. J . , Abb. 170. A b b . 3 9 PAUL SCHULTZE-NAUMBURG UND E M I L H I P P

Modell der Nietzsche-Gedächtnishalle für Weimar, Portal (um 1938). Statuenmodelle: Dionysos und Apollon von Hipp (1939). Foto aus: Rudolf Pfister, Bauten Schultze-Naumburgs, Weimar, o. J . , Abb. 172. A b b . 4 0 FRITZ

MÜLLER-CAMPHAUSEN

Modell für ein Nietzsche-Zarathustra-Denkmal im großen Saal der Nietzsche-Gedächtnishalle (1938). Foto: NFG Weimar (GSA) 101/ÜF 249.

Abb. 1

Abb. 2

CURT STOEVING. Friedrich Nietzsche in der Gartenlaube des Hauses Weingarten 18, Naumburg (1894)

HANS THOMA. Allegorie zu Nietzsches Gedichtfragment: „Zarathustra vor dem Könige" (1895)

* Meine Brüder», sagte der älteste Zwerg, wir sind in Gefahr. Ich verstehe die Attitüde dieses Riesen. Er ist im Begriff, uns anzurieseln. Wenn ein Riese rieselt, giebt es eine Sandßuth. Wir sind verloren, wenn er rieselt. Ich rede nicht davon, m welch affreusem Elemente wir da ertrinkt».a «Problem», sagte der zweite Zwerg. «wie verhindert man einen Riesen am Rieseln ?» * Problem*, sagte der dritte Zwerg, «wie verhindert man einen Grossen, dass er etwas Grosses gross thut-f» «Ich danke», antwortete der älteste Ziverg mit Würde. « Hiermit ist das Problem philosophischer genommen, sein Interesse verdoppelt, seine Lösung vorbereitet.·» «Man muss ihn erschrecken», sagte der vierte Zwerg. «Man muss ihn kitzeln», sagte der fünfte Zwerg. «Man muss ihn in die Fusszehe betssen», sagte der sechste Zwerg. « Thun wir Alles zugleich·», entschied der Alteste. «Ich sehe, wir sind dieser Lage gewachsen. Dieser Riese wird nicht rieseln.» Turin, 3¡. April

Abb. 3

1888

ERNST MORITZ GEYGER. Illustration zu Nietzsches Parabel: „ D e r Riese" (1895)

Abb. 6 ARNOLD KRAMER. Friedrich Nietzsche im Krankenstuhl, Statuette (1898). Aufstellung im umgebauten Nietzsche-Archiv, im Hintergrund unbekannte Kleinplastik Zarathustra-Nietzsche mit Adler und Schlange)

Abb. 7

FRITZ SCHUMACHER. Entwurf zu einem Nietzsche-Monument (1898)

Abb. 8

MAX KRUSE. Friedrich Nietzsche, Marmorbüste (1898)

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