"Ja, Luise, die Kreatur": Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen 9783110943337, 9783484320604

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"Ja, Luise, die Kreatur": Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen
 9783110943337, 9783484320604

Table of contents :
I. Natur, das Natürliche und Natürlichkeit
II. Der Hund in Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts
III. Hektor
IV. Uncas und Boncœur
V. Rollo
VI. Epilog
Literaturverzeichnis

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 60

Rolf Zuberbühler

»Ja, Luise, die Kreatur.« Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zuberbühler, Rolf: »Ja, Luise, die Kreatur« : zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen / Rolf Zuberbühler. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 60) NE: GT ISBN 3-484-32060-5

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren

Inhalt

I.

Natur, das Natürliche und Natürlichkeit

1

Π.

Der Hund in Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts

15

m.

Hektor

33

IV.

Uncas und Boncoeur

43

V.

Rollo

57

VI.

Epilog

79

Literaturverzeichnis

83

V

Die Studie entstand in den Jahren 1987-1991. Viel verdankt sie dem Gespräch unter Kolleginnen und Kollegen; den Teilnehmern an unserem Winterthurer Fontane-Kolloquium - Katharina Furrer, Esther Schelling, Elisabeth Wiesmann, Matthias Gutknecht, Verena und Erwin Kobel, Anton Weilenmann und Felix Poggiolini - sage ich Dank für mannigfache Anregungen und Kritik; dankbar bin ich Erwin Kobel auch für seine gründliche Durchsicht des Manuskripts. Dem »Schweizerischen Nationalfonds« gebührt Dank für ein Urlaubsjahr, der »Winterthurer Jubiläumsstiftung 1963« für einen Druckkostenzuschuß. Ich widme das Buch meiner Frau. R.Z.

Hier ruht, was Körper war eines Wesens, das Schönheit besaß ohne Eitelkeit, Kraft ohne Überheblichkeit, Mut ohne Grausamkeit, und alle Tugenden des Mannes, keines seiner Laster. Solches Lob, nichtssagende Schmeichelei als Inschrift über Menschenasche, ist nur gerechte Dankesschuld an Boatswain, einen Hund, geboren in Neufundland, Mai 1803, gestorben in Newstead Abbey, 18. Nov. 1808 (Lord Byron, Grabschrift auf seinen Hund)

I.

Natur, das Natürliche und Natürlichkeit

Natur an sich, als Selbstzweck, als Schöpfung und Offenbarung Gottes, spielt bei Fontane, wie bekannt, keine Rolle. Die Natur ist bei ihm auf den Menschen bezogen. Am nächsten ist der Mensch dem Leben der Natur wohl dann, wenn er, wie Effi, lernt, »still und entzückt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus aus dem noch halb winterlichen Rondell aufblühten - das tat ihr wohl«.1 Mit dem Begriff »Natur« bezeichnet Fontane aber auch sehr oft die menschliche Natur, die naturgegebene und weitgehend unveränderliche individuelle Anlage eines Menschen, den er, wenn diese ausgeprägt hervortritt, »eine Natur« nennt; und eine ebenso grundlegende anthropologische Kategorie ist für ihn »Natur« als das Natürliche im Bereich der menschlichen Gesellschaft, als Gegenbegriff zu Konvention, Sitte, Kultur, und zwar in zweierlei Bedeutung: einerseits als die maßgebende Stimme des »Natürlichen« im Menschen, andererseits als seine die Gebote der Moral gefährdende sinnen- und triebhafte »Natürlichkeit«.2 »Das Natürliche« hat Fontane immer wieder als einen höchsten Wert gepriesen. Seine Briefe sind voll von solchen Bekenntnissen. »Die Vollendung im Schlichten und Naiven bedeutet mir das Höchste.«3 Das »Natürliche« ist das Maß auch für den politischen Bereich; die folgenden Worte sind angesichts der bombastischen Massenkundgebungen beim Tod des einundneunzigjährigen Kaisers geschrieben: »Wir [...] haben als Bestes die Natur. Alles andre ist Mumpitz, und 1

2

3

Effi Briest, HF I, 4, 279. - Ich zitiere nach der »Hanser-Ausgabe«: Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1962ff. (HF) Orthographie und Interpunktion sind behutsam modernisiert. Vgl. Werner Hollmann: The Meaning of >Natürlichkeit< in the Novels of Fontane. In: Helen-Adolf-Festschrift, New York 1968, S. 236-251. An Moritz Lazarus, 16. Jan. 1889, Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler, 2., verbesserte Auflage Berlin und Weimar 1980/ München 1980, Bd. 2, S. 214.

1

je mehr Lärm und patriotischer Radau, desto mehr. Es hat alles gar keinen Wert.«4 »Die Menschheit hat zu natürlichen Zuständen zurückzukehren. Das aber, womit am ehesten (weil unerträglich geworden) gebrochen werden muß, ist der Militarismus.«5 An einem Ibsenschen Stück kritisiert Fontane, daß es auf fix und fertige Rezepte statt auf die Verherrlichung des Einfachen und Natürlichen hinauslaufe. »Konnte er sich entschließen, ohne zu seinen Zauberformeln zu greifen, einfach auf dem alten hausbackenen Wege herzlicher Liebe, die zuletzt mächtiger ist als aller Natur- und Höllenspuk und besonders auch mächtiger als Freiwilligkeit, freie Wahl und >unter Verantwortungaltenschönen Seele< schon vorwegnehmend, sagt der junge Wieland: >Die Naivetät ist allemal mit einer gewissen äußerlichen, sichtbaren Anmuth verknüpft, die man nicht definiren, aber vermittelst eines feinen Geschmaks ganz klar empfinden kann. In der poetischen Sprache könnte man von diesem je ne sais quoi sagen, es sey der Widerschein eines schönen Herzens.< - Rousseauistisch argumentierend, fährt Wieland fort >Je näher einer dem Stand der schönen Natur ist, desto mehr hat er von dieser liebenswürdigen Naivetät^« Der Stechlin, a.a.O., S. 9. Ebda., S. 377. Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Die Grafschaft Ruppin, Andreas Fromm, HF II, 1, 80.

6

liehe« ist zugleich das »Christliche« (freilich nicht das »Kirchliche«!); wo das »Natürliche« und das »Christliche« zur Deckung gelangen, da zeigt sich Humanität. Daß das »Christliche« so zum NatürlichMenschlichen wird, gehört zum Prozeß der Säkularisation christlicher Glaubensinhalte, der auch für Fontane kennzeichnend ist. Das »Herz« ist das Zentrum, das die genannten Bereiche vereinigt. Das belegt beispielsweise eine Figur wie Lorenzen, der, als christlich-sozialer Pastor, freilich »von der freieren, ja beinah freisten Richtung«,28 die Menschen »mit dem Einfachsten und Natürlichsten« heilen will.29 Das zeigt sich ebenso an einer Forderung wie »Treue bis in den Tod«, die einerseits von der Bibel erhoben,30 andererseits, wie es scheint, von der »Kreatur« exemplarisch vorgelebt wird; »Treue« gehört für Fontane seit seiner frühesten Balladendichtung zu den fundamentalen Werten.31 Und es ist wiederum ein Pastor, Niemeyer, der Effi versichert: »auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere Gewalt über uns.«32 Daß Fontane das »Christliche« nicht als eine transzendente Offenbarung versteht, vielmehr als etwas, was in die Herzen der Menschen geschrieben ist, machen, unter anderem, gewisse Betrachtungen zu »Vor dem Sturm« deutlich, in denen sich der Autor selber als eine »anima naturaliter Christiana« entdeckt, Betrachtungen freilich, die auch in der Absicht niedergeschrieben sind, einen Aspekt des Buches hervorzuheben, der ihm eine möglichst große Verbreitung sichern soll (der Brief ist an Fontanes Verleger gerichtet): Der große Zug der Zeit ist Abfall; aber man hat es nachgerade satt; die Welt sehnt sich aus dem Haeckelismus wieder heraus, sie dürstet nach Wiederherstellung des Idealen. Jeder kann es jeden Tag hören. Und es ist

28 29 30 31

32

Der Stechlin, HF I, 5, 435. Ebda., S. 31. Off. 2, 10. Schon die Moral der zweiteiligen Ballade »Graf Hohenstein« (1846) lautet, in deutlichem Anklang an den Schlüsselvers von Schillers »Bürgschaft«, nachdem im ersten Teil der Ballade die Gegenthese aufgestellt worden war: »Die Treu' ist keine Mär; - / Ich hab' ihr Band zerrissen, / Nun treibt mich ruhelos umher / Ein strafendes Gewissen.« (HF I, 6, 270) Liebe und Treue, Treue und Verrat sind auch Hauptinhalte der alten englischen und schottischen Balladendichtung, die Fontane übersetzte und die, nach seinen wiederholten Versicherungen, »unter allem den größten Einfluß« auf ihn ausübte (HF III, 1, 571). Effi Briest, HF I, 4, 219.

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ernst gemeint. Da kommt nun dieses Buch, das dem in tausend Herzen lebendigen Gefühl Ausdruck leiht Hätt' ich es gewollt, hätt ich auch nur einen Tropfen »fromme Tendenz« hineingetan, so wär es tot, wie alles Zurechtgemachte. Aber es steckt in dem Buche ganz gegen mein Wissen und Willen; ich finde es jetzt zu meiner Überraschung darin, und doch liegt eigentlich kein Grund zur Überraschung vor, denn alles, was ich gegeben habe, ist nichts als der Ausdruck meiner Natur. Ich hoffe, daß es auch so wirkt. Trifft dies zu, so ließe sich sagen: »Seht, der Wind dreht sich; die alten Götter leben noch. Unsinn. Das Christentum ist nicht tot; es steckt uns unvertilgbar im Geblüt, und wir haben uns nur darauf zu besinnen. Jeder, der sich prüft, wird einen Rest davon in sich entdecken. Und diese Reste müssen Keime zu neuem Leben werden.« Was sagen Sie zu dieser Nachmittagspredigt?33 Neben dem »Natürlichen«, das gleichbedeutend ist mit dem »Christlichen«, neben diesem »Christentum«, das uns »unvertilgbar im Geblüt« steckt und auf das wir uns nur »zu besinnen« haben, neben dem »Idealen«, das »nichts als der Ausdruck meiner Natur« ist, gibt es freilich noch einen anderen Naturbegriff bei Fontane, der den ersteren überlagert und mit ihm in Konflikt gerät. Besonders deutlich kommt dieser in einem Brief an den Breslauer Geschichtsprofessor Colmar Grünhagen zum Ausdruck: wie ich eine Vorliebe für die Schlesier überhaupt habe, so speziell für den schlesischen Adel. Er ist gewiß, nach bestimmten Seiten hin, sehr anfechtbar, aber grade diese Anfechtbarkeiten machen ihn interessant und mir auch sympathisch. Es sind keine Tugendmeier, was mir immer wohltut. Ich war nie ein Lebemann, aber ich freue mich, wenn andere leben, Männlein wie Fräulein. Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d.h. um ihrer Schwächen und Sünden willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet, als bei den Genoveven. Dies alles, um Cdcile und Effi ein wenig zu erklären.34 Der »natürliche Mensch« in diesem Sinne ist das Gegenteil des »tugendhaften« Menschen, wie ihn die Moral der Gesellschaft fordert; in ihm lebt gleichsam der unausrottbare »alte Adam« oder die Verführerin »Eva« der christlichen Weltsicht fort. »Natürlichkeit« bedeutet hier 33 34

An Wilhelm Hertz, 5. Nov. 1878, HF IV, 2, 628f. An Colmar Grünhagen, 10. Okt. 1895, HF IV, 4, 487f. 8

so viel wie »Sinnlichkeit« - in einem sehr weiten Sinne, indem diese Sinnlichkeit auch eine außerordentliche Sensibilität und Lebenslust einschließt. Effi quält sich, weil ihr natürliches Gefühl sie nicht in der Weise schuldig spricht, wie es den Moralvorstellungen der Gesellschaft entspräche.35 Wiederum haben vorab Fontanes Frauengestalten an dieser »Natürlichkeit« teil. Diese Frauen strahlen den bestrickenden Zauber des Weiblichen, des Erotischen und Verführerischen aus, und Fontane bekennt von sich selber, daß er »für Frauen schwärmt und sie beinah doppelt liebt, wenn er ihren Schwächen und Verirrungen, dem ganzen Zauber des Evatums, bis zum infernal Angeflogenen hin, begegnet«.36 Von diesen Naturwesen redet Fontane einerseits in biblischer Terminologie, wenn er, wie eben zitiert, von »Sünden«, von »Magdalenen« und vom »Evatum« spricht, andererseits aber auch in Metaphern, die auf die romantische Tradition zurückgehen. »Natur« ist in diesem Kontext nicht mehr das »Ideale«, sondern das »Heidnische«; Fontane greift auf die romantische Nixen-, Undinen- und Melusinentradition sowie auf die antike Elementenlehre, auf das »Elementare«, zurück, um das Wesen und den Reiz seiner Heldinnen andeutungsweise zu umschreiben; das »Naturkind« Effi37 ist, wie ihre Mutter einmal scherzhaft behauptet, eine »Tochter der Luft«;38 Melusine eignet schon kraft ihres Namens eine besondere Beziehung zum Wasser. Verkörpert im »Stechlin« die schlichte Armgard »das Natürliche«, so die reizende Melusine »Natürlichkeit«. Dabei ist »Natürlichkeit« der weitere Begriff; »Natürlichkeit« schließt auch »das Natürliche« ein. So ist es bei Effi, bei der der Heliotrop zum Zeichen ihrer natürlichen inneren Ausrichtung auf das Lichte und Heitere wird, das sich schließlich sieghaft durchsetzt.39 Zwei Traditionsströme fließen bei Fontane anscheinend zusammen: einmal die aufklärerische Lehre, daß der Mensch von Natur aus gut sei, andererseits die Lehre der Kirche, wonach der Mensch von Natur aus sündig sei; der »Naturmensch« Rousseauscher Provenienz und der »natürliche Mensch« der Bibel stehen sich gegenüber. Beide Sichtweisen werden von Fontane aufgenommen; der Begriff »Natur« wird so - gleich wie der Gegenbegriff »Gesellschaft« - ambivalent. Durch das 35 36 37 38 39

Effi Briest, HF I, 4, 219. An Paul und Paula Schienther, 6. Dez. 1894, HF IV, 4, 405f. Effi Briest, HF I, 4, 37. Ebda., HF I, 4, 8. Vgl. Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest - ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen 1978, S. llOff. 9

»Natürliche« im ersteren Sinn hat der Mensch am allgemeinen Kanon einer natürlichen Ethik teil; durch seine Teilhabe an der Sphäre der »Natürlichkeit« im letzteren Sinn ist er auch den Versuchungen der Sinnlichkeit ausgeliefert. Dort ist das »Herz« Organ ursprünglicher Güte und Menschenliebe; hier ist es Sitz des Eros und der Erotik. Vorgeprägt ist ein solcher ambivalenter Charakter schon in »Sidonie von Borcke« (1879/82), dem Entwurf eines Mätressenromans: Sidonies »eigentliche Vertraute«, heißt es, wird eine »schöne blonde Wendin, ein Typus feiner Sinnlichkeit« - sie ist bereits Mutter eines unehelichen Kindes aber »innerlich lauter, gütig, edelherzig und immer in einer tiefen inneren Auflehnung gegen die Priorin«. 40 Ein breiter Strom von Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität durchzieht Fontanes gesamtes Werk und schlägt sich ebenso in den Handlungsstrukturen nieder, wie er sich in dauernden »Pikanterien«, »Frivolitäten« und »Zynismen« äußert, bis hin zum »kleinen frivolen Zug« des alten Briest 41 oder den fortgesetzten Anzüglichkeiten Hauptmann Czakos im »Stechlin« - beides Figuren, die »natürlich« in beiderlei Sinn sind. Nun ist es freilich wahr: Fontane ist kein Apostel des »einfachen Lebens«; es gibt bei ihm keinen Rückzug in eine sentimentale weltflüchtige Idyllik.42 Die Menschen, die er darstellt, leben in steter Spannung zwischen »Natur« und »Kultur«: zwischen »Natürlichkeit« und Konvention, zwischen der individuellen Anlage und den Forderungen der Gesellschaft, zwischen zeitloser natürlicher Menschlichkeit und dem Anspruch historischer, sich fixierender Gesellschaftssysteme. Der Konflikt zwischen beiden Ordnungen treibt die Handlungsstruktur der Fontaneschen Romane hervor. Fontane führt nicht aus der Gesellschaft und nicht aus den Konflikten hinaus. Was aber mitten im gesellschaftlichen Leben den Kontakt mit dem Einfachen, Wahren und Natürlichen erhält, das ist das »Herz«. Weil er nicht mehr auf sein Herz zu hören vermochte, wird Gordon in »C6cile« schließlich schuldig. 43 Auch Schach von Wuthenows Schuld besteht darin, daß er die Fühlung mit dem Einfachsten und Natürlichsten verloren hat:

40 41 42

43

HF I, 7, 370. Effi Briest, HF I, 4, 19. Vgl. Walter Müller-Seidel: Gesellschaft und Menschlichkeit im Roman Theodor Fontanes: In: Heidelberger Jahrbücher, Bd. IV, 1960, S. 108-127, besonders S. 123f. Auch in: Theodor Fontane. (Wege der Forschung.) Hrsg. von Wolfgang Preisendanz, Darmstadt 1973, S. 169-200, besonders S. 194. - Vgl. auch Richard Brinkmann: Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, Tübingen 2 1977, S. 89. HF I, 2, 313.

10

»Was, unter so gegebenen Verhältnissen, wäre nun wohl einfacher und natürlicher gewesen als Ausgleich durch einen Eheschluß, durch eine Verbindung, die weder gegen den äußeren Vorteil noch gegen irgendein Vorurteil verstoßen hätte. [.··] Da haben Sie das Wesen der falschen Ehre. Sie macht uns abhängig von dem Schwankendsten und Willkürlichsten, was es gibt, von dem auf Triebsand aufgebauten Urteile der Gesellschaft, und veranlaßt uns, die heiligsten Gebote, die schönsten und natürlichsten Regungen eben diesem Gesellschaftsgötzen zum Opfer zu bringen. Und diesem Kultus einer falschen Ehre, die nichts ist als Eitelkeit und Verschrobenheit, ist denn auch Schach erlegen, und Größeres als er wird folgen.«44 Auch hier wieder: die »heiligsten Gebote« der Religion entsprechen zugleich den »schönsten und natürlichsten Regungen«. Innstetten scheitert am selben Unvermögen, auf das hören zu können, was in seinem »letzten Herzenswinkel« zu ihm spricht.45 Auch alles, was Holk zur Rechtfertigung seines Vorhabens geltend macht, wird vom Erzähler als »Beschwichtigung einer inneren Stimme« bezeichnet, »die nicht schweigen wollte. Denn während er sich alles bewiesen zu haben glaubte, war er doch im letzten Winkel seines Herzens von der NichtStichhaltigkeit seiner Beweise durchdrungen«. 46 Der Dichter braucht kaum selbst zu argumentieren; er kann seinen Figuren einfach in ihr eigenes Innere folgen, weil er in ihnen mindestens einen Rest jenes natürlichen Gefühls voraussetzen darf, das sie selbst kritisiert, eben jene Wahrheit, die den Menschen »ins Herz geschrieben« ist. Der rousseauistische Einschlag ist deutlich. »Es gehört, aus rousseauistischer Tradition, zu den Grunderfahrungen des 19. Jahrhunderts, daß die gesellschaftliche und die humane Existenz des Menschen nicht kongruent oder harmonisch miteinander verbindbar sind. >Entfremdung< ist der Name dieser Disharmonie bei ihren philosophischen und Sozialrevolutionären Kritikern; >Versöhnung< heißt das Programm und Versprechen. Dagegen bleibt Fontane skeptisch.« 47 Dessenungeachtet ist ein sittlicher Zustand, in dem Natur und Kultur, natürliche und bürgerliche Existenz, Herz und Gesellschaft zur Deckung kommen, 44 45 46 47

Schach von Wuthenow, HF I, 1, 679f. Effi Briest, HF I, 4, 235. Unwiederbringlich, HF I, 2, 766. Hermann Lübbe: Fontane und die Gesellschaft. In: Literatur und Gesellschaft vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert. Festgabe für Benno von Wiese zu seinem 60. Geburtstag am 25. Sept. 1963. Hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, Bonn 1963, S. 232. Auch in: Theodor Fontane. (Wege der Forschung.), S. 357. 11

auch für Fontane das Ideal, wie beispielsweise ein Roman wie »Vor dem Sturm« oder noch der »Stechlin« lehrt. Ein Gedicht Johann Gottfried Seumes, »Der Wilde«, auf das Fontane gelegentlich, wenn auch in ironischer Brechung, anspielt, 48 entfaltet schon das Thema des Natürlich-Guten, um das es auch bei Fontane geht. Ein Kanadier, der noch Europens Übertünchte Höflichkeit nicht kannte, Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, Von Kultur noch frei, im Busen fühlte - ein solcher »Kanadier« kommt am Schluß von Seumes Verserzählung zum Ergebnis: »Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen«. 49 Seumes »Hurone« ist einer der vielen »edlen Wilden«, wie sie in der europäischen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahihunderts in Mode kamen; sie zeichnen sich alle durch Güte und Anhänglichkeit und Treue bis in den Tod aus. 50 In einer Anmerkung zum Gedicht bemerkt der Verfasser, daß ihn der Stoff, den er in Amerika »als eine wahre Geschichte« hörte, »durch ihre echte reine primitive Menschengüte« interessiert habe, »die so selten durch unsere höhere Kultur gewinnt«. Auf eben diese echte und ursprüngliche Menschengüte - das besagt bei Seume noch der Ausdruck »primitiv« - ist auch Fontanes Interesse gerichtet. Auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts macht noch die Figur des unverdorbenen »Wilden« auf ursprüngliches Empfinden und natürliche Güte aufmerksam, wenngleich die Gattung »Idylle«, in deren Umkreis die Verklärung des »edlen Wilden« gehört, zurücktritt; aber das Naivitätsideal, wenn es nicht in ironische Beleuchtung gerückt wird, zeitigt noch die breite Strömung des idyllischen Epos, des idyllischen Romans, der idyllischen Novelle oder erhält sich in einzelnen idyllischen Motiven, Episoden, Figuren - und im Genrebild. 51 Bei 48 49 50

51

Cdcile, HF I, 2, 300; Frau Jenny Treibel, HF I, 4, 342. Johann Gottfried Seume: Gedichte. Dritte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, 1810, S. 78-82. Vgl. Hellmut A. Hartwig: Schillers »Wilhelm Teil« und der »Edle Wilde«. In: Studies in German Literature. Edited by Carl Hammer Jr., Baton Rouge 1963, S. 72-84; Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977, S. 21, Anm. 18 (Schluß); Urs Bitterli: Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1982, S. 280ff. Vgl. Friedrich Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes. In: Festschrift für Paul Böckmann, Hamburg 1964, S. 156-171. Auch in: Fried12

Fontane wie bei anderen sind es immer wieder bestimmte Hunde, die als Muster für natürliches Verhalten auftreten, für ein Verhalten, das für Fontane ebenso wie »natürlich« auch »christlich« ist und auch seiner Idee des »Adels« genügt. Neben dem Schauplatzwechsel, den Fontaneschen Heldinnen und Helden und der Handlungsstruktur seiner Romane stoßen wir hier auf einen weiteren Bereich, in dem die Kategorie des »Natürlichen« in Fontanes Dichtung bestimmte Strukturen entwickelt. Das bekannteste Beispiel für eine solche Symbolfigur ist Rollo in »Effi Briest« - Symbolfigur freilich im Fontaneschen Sinn, der Wirklichkeitstreue nicht aus-, sondern einschließt. Fontanes Hunde predigen die gleiche Botschaft wie der naive »Wilde« in Seumes Gedicht, nur auf ganz unscheinbare und unaufdringliche Art. Das »Einfachste und Natürlichste« ist eben ohne Aufhebens einfach da. Auch muß man bedenken, daß die Vorbildfunktion des edlen Hundes in der Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts schon längst zu den Selbstverständlichkeiten gehörte. Den Hunden in Fontanes Werk, insbesondere den in ihrer Bedeutung bis jetzt immer noch verkannten Neufundländern, gilt deshalb die vorliegende Studie. 52

52

rich Sengle: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850, Stuttgart 1965, S. 212-231. - Eberhard Seybold: Das Genrebild in der deutschen Literatur. Vom Sturm und Drang bis zum Realismus, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1967. - Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. (Sammlung Metzler, Bd. 63), 1 1967, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage Stuttgart 1977. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revoluüon 1815-1848. Band II: Die Formenwelt, Stuttgart 1972, bes. S. 743-802. - Cordula Kahrmann: Idyll im Roman: Theodor Fontane, München 1973. - Hella Jäger: Naivität. Eine kritisch-utopische Kategorie in der bürgerlichen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Kronberg/Ts. 1975. - Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977. Es ist bezeichnend, daß die überwiegende Mehrheit der vielen »Effi Briest«-Untersuchungen den Neufundländer Rollo kaum der Erwähnung, geschweige denn der Interpretation wert findet. Das beruht letztlich auf einer Verkennung des Kunstcharakters der Fontaneschen Dichtung. - Abwegig andererseits auch Peter-Klaus Schuster, nach dem Rollo »als Beschützer der gefährdeten Jugend« auftritt, was »einem Lieblingsmotiv gleichzeitiger Trivialkunst« entspreche (a.a.O., S. 44. Vgl. aber auch ebda., S. 102f.). - Zu sehr an der Oberfläche bleibt in diesem Zusammenhang ausnahmsweise auch Richard Brinkmann, der, sich Peter-Klaus Schuster anschließend, das Auftreten der Hunde in Fontanes Werk als »DixneuviömeGenre comme il faut« charakterisiert, mit dieser Verallgemeinerung aber den spezifischen Kunstcharakter der Fontaneschen Genrebilder außer acht läßt und damit ebenfalls das für Fontane so bedeutsame NeufundländerMoüv zu leicht nimmt, wie denn Richard Brinkmann überhaupt in seinem 13

geistreichen Essay bisweilen die kompositionelle Verklammerung, Symbolik und subtile Hintergründigkeit mancher von ihm den »Requisiten« und dem »Genre« zugeschlagenen Szenerien, Szenen und Bilder übersieht, weil er sie aus dem geistigen Kräftefeld der einzelnen Dichtungen herauslöst. Vgl. Richard Brinkmann: Der angehaltene Moment. Requisiten - Genre Tableau bei Fontane. In: DVjS 53, 1979, S. 429-462, hier S. 438f. Vorabdruck in: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 360-380, hier S. 365f. Auch in: Richard Brinkmann: Wirklichkeiten. Essays zur Literatur, Tübingen 1982, S. 221-286, hier S. 238ff. - Dietrich Weber hebt das irrationale, schicksalhafte Moment hervor, das durch Rollo wie durch andere Motive und Andeutungen in den Roman komme. »Nicht auf eine formulierbare Bedeutung kommt es [in der Schlußszene] an, sondern allein auf die Tatsache, daß die Kreatur in die Diskussion über Effis Schicksal einbezogen wird und auf die Frage nach der Schuld abweisend reagiert. Das aber ist ein irrationaler Sachverhalt« (Dietrich Weber: »Effi Briest« - »Auch wie ein Schicksal«. Über den Andeutungsstil bei Fontane. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1966, S. 457-474, hier S. 461). - Ihm folgt Christian Grawe, für den Rollo als Vertreter des Kreatürlichen schließlich »paradoxerweise zu einem der >menschlichsten< Wesen des Buches« wird (Christian Grawe: Theodor Fontane: Effi Briest, Frankfurt am Main/ Berlin/ München 1985, S. 91). - Am feinfühligsten auf die Figur Rollos eingegangen ist bisher Gertrude TaxShultz, die ihn - wie auch Roswitha - als Verkörperung der »instinktiven, natürlichen Treue« versteht und seine Funktion folgendermaßen zusammenfaßt: »er verkörpert die natürliche Ordnung, die nicht allgemein urteilt, sondern [...] mit dem Menschen als Menschen mitfühlt und ihn als Individuum schätzt. Rollos >leitmotivische< Rolle ist mit tiefer Bedeutsamkeit geladen. Fontane läßt ihn nie willkürlich erscheinen« (Gertrude Tax-Shultz: Andeutung und Leitmotiv in Fontanes »Effi Briest«. In: Fontane-Blätter 3, 1976, Heft 7, S. 507-522, hier S. 517 und 514). 14

Π.

Der Hund in Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts

Ehe wir uns jedoch den einzelnen Hunden in Fontanes Novellen und Romanen zuwenden, sei noch kurz ein Blick auf die Tierdichtung und Tiermalerei des 19. Jahrhunderts und die sich darin bekundende Tierliebe geworfen. 1 Ein schönes Beispiel für solche Tierliebe ist Fontanes Vater, zu dessen besonderen Lieblingen, wie der Sohn in seinen Kindheitserinnerungen berichtet, sein Schimmel zählte. 2 Auf die Speisekammer unternahm der Vater zum Schrecken der Köchin »beständig Raubzüge [...], nicht bloß für seine Person - das wäre noch gegangen, wiewohl er imstande war, einen halben Kalbsbraten ohne weiteres wegzufrühstücken - , sondern Raubzüge auch zugunsten seiner Lieblinge: Hühner, Hunde, Katzen, von welch letzteren wir zwei hatten, Peter und Petrine«. 3 Auch Fontanes Vater war einer der vielen Zeitgenossen, welche die Liebe, die ihnen im Leben versagt blieb, mit ihrer Tierliebe kompensierten. Das letzte Gespräch, das der Sohn mit dem vereinsamten Vater führt, der zwei Schweine im Hof seines kümmerlichen Häuschens mästet, verklärt nochmals eindrücklich die Liebe des Vaters zur Kreatur und macht zugleich deutlich, wie solche Zuwendung zum Tier zu den prägenden Erlebnissen von Fontanes Kindheit gehörte: Und unter diesen Worten schritt er mit mir auf einen niedrigen Stall zu und schlug hier eine Klapptür auf, hinter der ich nun zwei Schweine ihre Köpfe vorstrecken sah. »Was sagst du dazu? Prächtige Kerls. Wenn sie mich hören, werden sie wie wild vor Vergnügen und können's nicht abwarten.« »Du wirst sie wohl verwöhnen. Mama und die Schröder sagten auch immer, du verfuttertest bei den Biestern mehr, als sie nachher einbrächten.«

1

2 3

Vgl. Jost Hermand: Gehätschelt und gefressen: Das Tier in den Händen der Menschen. In: Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Königstein/Ts. 1981, S. 55-76. Meine Kinderjahre, HF III, 4, 29; 101. Ebda., S. 80. 15

»Ja, die Schröder; eine gute treue Seele. Mich konnte sie nicht recht leiden, weil ich die besten Bratenstücke mitunter an Peter und Petrine gab, weißt du noch?« Ich nickte. »Ja, damals waren es die Katzen. Etwas muß der Mensch haben. Nun sind es die da; ... na, gleich, gleich; beruhigt euch nur.« Und dabei bückte er sich und fing an seine Lieblinge zu krauen. Er erzählte mir dann noch allerhand von der Klugheit dieser Tiere, deren innerer Bau übrigens, wie jetzt wissenschaftlich feststehe, dem des Menschen am nächsten komme. »Sus scrofa und Homo sapiens, - es kann einem doch zu denken geben.«4

Wird in dieser Äußerung Louis Henri Fontanes vom Sommer 1867 der Einfluß der Naturwissenschaften und insbesondere bereits des Darwinismus sichtbar, der den prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier aufhob,5 so setzen sich in der Tierschutzgesetzgebung, die im 19. Jahrhundert aufkommt, aufklärerische Anliegen durch. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde in England der erste Tierschutzverein der Welt gegründet und wurden vom englischen Parlament, nachdem sich in diesem Land bereits im 18. Jahrhundert »eine geradezu ununterbrochene Folge von Traktaten« für die Rechte der Tiere eingesetzt hatte,6 die ersten Tierschutzgesetze verabschiedet. »Im Jahre 1809 brachte der Schatzkanzler Lord Thomas Erskine im Parlament einen Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitstiere gegen Mißhandlungen ein. [...] Die Petition blieb ohne Erfolg; sie wurde abgelehnt. Mit gleichem Resultat endete ein zweiter Versuch. [...] Am 22. Juli 1822 wurde das erste Gesetz zum Schutz der Tiere verkündet. Seine Bestimmungen erstreckten sich allerdings nur auf Pferde und Großvieh; es gelang noch nicht, Hunde, Katzen und Esel einzubeziehen. Erst im Jahre 1835 wurde das Gesetz auf alle Haustiere ausgedehnt. Ein Quäker brachte den Erweiterungsantrag ein, wesentlich gefördert vom ersten Tierschutzverein der Welt; der englische Geistliche Reverend Arthur Broome und der Ire Richard Martin hatten diesen Verein im Jahre 1824 nach der Vorläuferschaft kurzfristiger Schutzgemeinschaften - gegründet. Der Vereinigung war es gelungen, Prinzessin Victoria, die spätere Königin, und ihre Mutter als Protektoren zu gewinnen, ein Erfolg, aus

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Ebda., S. 157f. Darwins Hauptwerk »Von der Entstehung der Arten« erschien 1859, Haeckels »Generelle Morphologie der Organismen« 1866. - Vgl. James D. Steakley: Vom Urschleim zum Übermenschen. Wandlungen des monistischen Weltbildes. In: Natur und Natürlichkeit, a.a.O., S. 37-54. Jost Hermand, a.a.O., S. 59. 16

dem gesellschaftliches Renommee und politischer Einfluß resultierten: Ein Votum gegen den ersten Tierschutzverein und seine Anliegen wäre einer Maßnahme gegen das königliche Haus gleichgekommen.«7 Die britische Tierschutzgesetzgebung wirkte beispielhaft; in den folgenden Jahrzehnten wurden auch überall auf dem europäischen Kontinent und in den USA Tierschutzgesellschaften gegründet und Tierschutzgesetze erlassen.8 Zu den geistigen Vorkämpfern des Tierschutzes in Deutschland gehörte Arthur Schopenhauer, der, in bewußter Anlehnung an die Lehren des Hinduismus, in seinen »Parerga und Paralipomena« (1851) fordert, daß »das ewige Wesen, welches, wie in uns, auch in allen Tieren lebt, als solches erkannt, geschont und geachtet werde. [...] Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, was wir, ins Volk gedrungen ist, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben sein«; auch die Tierexperimente prangert Schopenhauer an.9 Die Tierdichtung und Tiermalerei des 19. Jahrhunderts, die von dieser Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier ausgeht, hebt bei der Darstellung von Heim- und Haustieren vor allem ihre Unverstelltheit und Ehrlichkeit, ihre Verläßlichkeit, Anhänglichkeit und Treue hervor. Und welches Tier hätte all diese Qualitäten reiner verkörpert als der Hund? Schon in der Epoche der Aufklärung beginnt der Lobpreis des Hundes; Empfindsamkeit und Romantik stimmen das Hohelied seiner Treue an; der bürgerliche Realismus führt diese Linie weiter. Matthias Claudius* Gedicht »Als der Hund starb« mündet in den Vers, der die Summe eines Hundelebens zieht: »Er war mir treu.«10 Byron preist seinen Boatswain als »den treusten Freund der Welt« und feiert seinen wahren Adel, den er der Falschheit und Gemeinheit der Menschen gegenüberstellt.11 Schopenhauer, der Misanthrop, von dem bekanntlich der Ausspruch stammt: »Ohne Hunde möchte ich nicht leben«, nennt den Hund - »das moralisch edelste aller Tiere« - »den al-

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Heinz Meyer: Der Mensch und das Tier. Anthropologische und kultursoziologische Aspekte, München 1975, S. 145. Ebda., S. 145f. Schopenhauers sämtliche Werke in fünf Bänden, V. Band, Parerga und Paralipomena, Leipzig o.J., S. 409f. Hundegeschichten. Hrsg. von Dora Meier-Jäger, Zürich 4 1985, S. 44. Ebda., S. 274-276. 17

leinigen wahren Gefährten und treuesten Freund der Menschen, diese kostbarste Eroberung, die je der Mensch gemacht, wie Fr. Cuvier sagt, und dabei ein so höchst intelligentes und fühlendes Wesen«, daß es ein Verbrechen ist, ihn an die Kette zu legen.12 Am Wesen eines »edlen Hundes« las schon Piaton ab, ob die Charaktereigenschaften, die er für einen Wächter seines Idealstaats postulierte - dieser muß entgegengesetzte Extreme, nämlich Friedfertigkeit und Aggressivität, in sich vereinigen - , naturgemäß seien oder »gegen die Natur«.13 Dabei bedeutet »Natur« das Wahre und Rechte, in eben dem Sinn, den das 18. Jahrhundert wiederentdeckte. Napoleon berichtet im sogenannten »Memorial« von St.Helena ein Erlebnis, das er während des italienischen Feldzugs hatte, als er einmal nachts über ein Schlachtfeld ging, auf dem noch unbestattet die Leichen der Gefallenen lagen: »Es war in der tiefen Sülle der Nacht und bei schönem Vollmond«, sagte der Kaiser. »Plötzlich löste sich ein Hund von den Kleidern eines Toten, sprang auf uns zu und dann gleich wieder zu der Leiche zurück. Er heulte schmerzlich, leckte das Gesicht seines Herrn und sprang abermals auf uns zu, als verlangte er gleichzeitig nach Hilfe und Rache. War es die Stimmung des Augenblicks«, fuhr der Kaiser fort, »war es der Ort, die Stunde, die Zeit, der Vorfall selbst oder was immer - eines ist gewiß: daß mir niemals auf einem meiner Schlachtfelder ein Geschehnis solchen Eindruck gemacht hat. Ich blieb unwillkürlich stehen und beobachtete das Schauspiel. Dieser Mann, sagte ich mir, hat vielleicht Freunde, sie sind vielleicht im Lager, bei seiner Kompanie, und doch liegt er hier, von allen verlassen, nur von seinem Hunde nicht. Welch eine Lehre gab uns die Natur durch ein Tier!«14

Unter den Autoren des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts galt der Hund »als das einzige Tier, das dem Menschen ohne >Distanz< gegenübertritt, das also das spezifisch Tierisch-Fremde bereits hinter sich gelassen hat und als denkendes wie auch fühlendes Wesen menschenähnlich geworden ist. Die Hundegedichte und Hundeerzählungen aus diesem Zeitraum sind deshalb geradezu Legion. Und zwar wird dabei der Hund - in anthropomorpher Perspektive - meist als der einzige Freund, Begleiter, Helfer, Schützling oder auch Beschützer all jener [...] gesellschaftlich Unangepaßten hingestellt, die im Umgang mit ihrem Hund die im Leben vermißte Liebe und Treue suchen - und zu-

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A.a.O., S. 410. Piaton, Der Staat, 375e. Hundegeschichten, a.a.O., S. 392. 18

meist auch finden.«15 Hunde spielen eine wichtige Rolle in den Romanen von Walter Scott, dem von Fontane hochgeschätzten Romancier der Romantik, der selber ein großer Hundeliebhaber war und dessen »Passion für Tiere« Fontane besonders hervorhebt,16 oder im Werk von Dickens,17 dem Lieblingsautor von Fontanes Vater, oder in den Gedichten Lord Tennysons; bei den Russen sind es vor allem Turgenjew, Dostojewski, Leskow, Tschechow und Kuprin, in deren Werken Hunde Bedeutung gewinnen, im deutschen Sprachbereich Friedrich Theodor Vischer, Marie von Ebner-Eschenbach und eben Fontane. In Friedrich Theodor Vischers humoristisch-satirischer Dichtung »Auch Einer« (1878) huldigt der Held einer Hundeliebe ä la Schopenhauer und setzt sich wie dieser vehement gegen alle Tierquälerei zur Wehr - was Vischer den Beifall Gottfried Kellers eintrug: »Er wettert herrlich für die wehrlos gequälte Kreatur; denn als ein ganzer Mann erbarmt er sich ihrer, und wenn er ein alter Heiliger wäre, so würde ihn einst eine große Schar erlöster Tiere ins Himmelreich begleiten.«18 Im »Tagebuch« des Helden findet sich, neben anderen feinsinnigen Bemerkungen über Hunde, das hübsche Apercu: Goethes Hermann und Dorothea wäre ein Dichtwerk, dem man das Prädikat der Vollkommenheit zuerkennen müßte, wenn nicht eines darin fehlte: ein Hund. Gehört doch gewiß in ein Idyll. Goethe konnte aber bekanntlich die Hunde nicht leiden. Hätte er sie gern gehabt und selbst einen gehalten, so wäre gewiß seine spätere Poesie natürlicher geblieben und namentlich sein zweiter Teil des Faust nicht ganz so fleischlos ausgefallen. 19

Marie von Ebner-Eschenbachs Novelle »Krambambuli« (1883) schildert die Tragödie eines Hundes, der im Konflikt zwischen der Treue zu seinem ersten und zu seinem zweiten Herrn zugrundegeht - und dies infolge der Verdorbenheit und Treulosigkeit der Menschen, denn sein erster Herr, der verkommene »Gelbe«, hat das schöne Tier an den Revierförster Hopp für zwölf Flaschen eben jenes Danziger Kirschbranntweins verschachert, nach dem der Hund benannt ist; in der »Spitzin« 15 16 17

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Jost Hermand, a.a.O., S. 63f. Walter Scott (1871), HF III, 1, 398. Vgl. Cumberland Clark: The Dogs in Dickens, London 1926. Reprint New York 1973. Zu Friedrich Theodor Vischers achtzigstem Geburtstage, Gottfried Keller: Sämtliche Werke, hrsg. von Jonas Fränkel und Carl Helbling, 22. Band, Aufsätze zur Literatur und Kunst, Miszellen, Reflexionen, Bern 1948, S. 183. Friedrich Theodor Vischer: Dichterische Werke, Zweiter Band, Leipzig 1917, S. 210. 19

(1910) eizählt die Dichterin, wie ein verwilderter Waisenjunge durch die selbstlose Mutterliebe eines gequälten, verkrüppelten Tiers so im Innersten getroffen wird, daß er von Stund an sein Leben ändert. Ebenso wichtig wie die zeitgenössische Dichtung war für den jungen Fontane die Malerei seiner Zeit, in der die Tiermalerei einen hervorragenden Platz einnahm. Die Vertrautheit mit ihr belegen seine zahlreichen Kunstkritiken aus den fünfziger und sechziger Jahren, belegen auch seine Kurzbiographien von zeitgenössischen Künstlern, die er für das »Biographische Lexikon der Gegenwart« (1862) verfaßte.20 Schon auf Fontanes erster Englandreise von 1844 ist das Interesse für die zeitgenössische Malerei lebendig: »Einige Worte wurden gewechselt; man fragte mich, wie lange ich in London sei, was ich gesehen habe, und da ich eben aus der Vernon-Galerie kam, waren wir bald in lebhaftem Gespräch über englische Maler und Malerei. Als ich, nicht ohne Absicht, hinwarf, daß David Wilkie und neuerdings namentlich Landseer bei uns in Deutschland sehr wohl gekannt und gewürdigt seien, konnte ich deutlich wahrnehmen, welche Freude das auf allen Gesichtern hervorrief«.21 David Wilkie (1785-1841), der »Walter Scott mit der Palette«, wie ihn Fontane charakterisiert,22 war einer der gefeiertsten Genre-Maler der Zeit; Edwin Landseer (1803-1873) gehörte wie die Französin Rosa Bonheur (1822-1899) zu den bekanntesten Vertretern der Tiermalerei des 19. Jahrhunderts; in seinem Lexikonartikel stellt Fontane einleitend fest, Landseer sei »der berühmteste Tiermaler der Gegenwart (Rosa Bonheur steht ihm an Vielseitigkeit nach, wenn sie ihn auch im einzelnen übertreffen mag)«,23 dessen Tierporträts »das Tierleben selbst mit der Macht und der Größe eines historischen Bildes vor dem Beschauer entrollen«.24 Noch in »Cöcile« (1887) kommt die zeitgenössische Tiermalerei in den Blick: in der Figur der Malerin Rosa Hexel, deren Übername - Rosa Malheur - witzig auf die französische Tiermalerin anspielt. Kritisch verhält sich der Kunstkritiker Fontane gegenüber Landseers Genrebildern. Auf dem Gebiet der Menschendarstellung, behauptet er, könne sich Landseer mit seinem Zeitgenossen Wilkie nicht messen: 20

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Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Nymphenburger Ausgabe, Band XXIII/1, Aufsätze zur bildenden Kunst, München 1970, S. 429ff. Ein Sommer in London (1854), HF III, 3/1, 150. Aus Manchester (1857), Achter Brief, HF III, 3/1, 484. Sir Edwin Landseer, a.a.O., S. 443. Ebda., S. 446; vgl. Aus Manchester, Achter Brief, a.a.O., S. 491.

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An Virtuosität, an Kühnheit, an Saft und Kraft in der Farbe, in nahezu jeder Äußerlichkeit ist er ihm überlegen, doch es fehlt das eine, das Herz. Das Genre ist aber nur halb, was es sein soll, wenn die gemütliche Seite nicht zu voller Entfaltung kommt. Es ist dies eine Art Fluch, der sich an der Mehrzahl der Tiermaler, ja an der Mehrzahl aller Menschen vollzieht, die statt des Mitmenschen das Tier in besondere Affektion nehmen. Das andauernde Sichbeschäftigen mit der Natur des Tieres schärft die Sinne ebensosehr für die feinsten Züge des Tierlebens, als es die Fähigkeit abstumpft, der menschlichen Empfindung liebevoll und mit Verständnis nachzugehen. Es benachteiligt die Liebe zu den Menschen und schwächt, aus Mißverständnis, den Glauben an sie, weil das instinktive Leben des Tieres eine gewisse Unwandelbarkeit, fälschlich »Treue« genannt, vor der menschlichen Empfindung voraus hat. Man versteht aber nur da, wo man glaubt und liebt, und Künstler sein heißt vor allem voll Verständnis sein. Diese allgemeine Betrachtung führt mich wie von selbst auf Landseer den Tiermaler. Er ist als solcher dreifach bedeutend und auf jedem Spezial-Gebiet so entschieden hervorragend, daß die Entscheidung schwer ist, auf welchem er am meisten exzelliert. Die Tierwelt bietet ihm dreifachen Stoff: 1) pur et simple als sie selbst; 2) als Mittel zur Satire und 3) als ernsthaftes Symbol.25 Für Fontane ist es nicht statthaft, wenn das Tierleben auf Kosten des Menschenlebens verherrlicht wird, wenn die Liebe zu den Tieren die »Liebe zu den Menschen« verdrängt und das »Verständnis« für die Tiere den »Glauben« an die Menschen »schwächt« - so sehr, daß er hier seinerseits, aus naturwissenschaftlicher Warte, ein kritisches Fragezeichen hinter das setzt, was man bei den Tieren als »Treue« rühmt, ja diese Sicht als »Mißverständnis« bezeichnet. Fontane widersetzt sich damit der Versuchung zur Misanthropie und zum Pessimismus - Haltungen, die im Widerspruch zu seiner Auffassung von Kunst stehen, deren Aufgabe es ist, den Menschen und das Menschliche zu verklären. »Der Mensch bleibt in aller Kunst doch immer die Hauptsache«; 26 an dieser Maxime hat Fontane zeit seines Lebens festgehalten. Eine weitere, damit zusammenhängende Kritik an der zeitgenössischen Tiermalerei formuliert Fontane in seinem Bericht über die Berliner Kunstausstellung von 1860. Auch der Malerei gegenüber vertritt er die Linie des »poetischen Realismus«, lehnt er den Naturalismus ab, fordert er »ideale Realität« des Dargestellten. Zwischen Landschaft und Genre drängte sich aber ein neuerdings zu hohen Ehren gelangter Mischling ein - das Tierstück. Unsere diesjährige Ausstellung bringt deren so viele und so vorzügliche, daß, wenn man ihr einen 25 26

Aus Manchester, a.a.O., S. 489f. Walter Scott, a.a.O., S. 395. 21

unterscheidenden Namen beilegen wollte, Name und Titel aus dieser Region genommen werden miißten. Das Erscheinen von zwei Dutzend Tierstükken, zum Teil Bilder ersten Ranges, die sich neben die Arbeiten von Landseer und Rosa Boniteur stellen dürfen, bezeichnet, wie es das charakteristische Merkmal der diesjährigen Ausstellung ausmacht, zugleich eine Krisis in unserem ganzen künstlerischen Leben. »Bis hieher und nicht weiter«, ruft man sich zu.27

Diese »Krisis«, die Fontanes Halteruf provoziert, besteht darin, daß sich der Realismus als Selbstzweck versteht, daß er ohne »ideellen Gehalt«28 auszukommen vermeint, also zum »Naturalismus« wird. Aber eine »Ahnung beschleicht wieder die Gemüter, daß dieser Realismus, der sich selbst ein Höchstes dachte und so gedacht wurde, doch nicht das Höchste war. [...] Erfin, das Ideal kommt wieder zu Ehren«.29 Das Ziel der Kunst kann es nicht sein, die zufällige Wirklichkeit mit der Genauigkeit einer photographischen Linse abzubilden; Kunst ist nicht Daguerreotypie oder Photographie. Das »Ziel, das den Besten vorschwebt«, ist »eine ideale Realität«.30 Unter Landseers Tierstücken nehmen seine Hundeporträts einen besonderen Rang und Raum ein; er habe, sagte man von ihm, die Hundeseele malerisch entdeckt.31 Eines seiner frühesten und berühmtesten Gemälde ist die Darstellung zweier Bernhardiner, die sich um einen auf dem Paß im Schnee erschöpften Wanderer bemühen (siehe Abb. 1, S. 28).32 Diese Bilder waren durch Stiche weitverbreitet. Laut Fontane ist der Name des Künstlers zum »Haushalt-Wort« geworden »an jedem Punkte der Welt, wo es Wände gibt, gut und dauerhaft genug, um einen Nagel hineinzuschlagen, und in den Wohnungen schlesischer Dorfschulmeister begegnen wir, wenn halb als Zerrbild auch, den St.Bernhards-Hunden Landseers«.33 Unter Landseers Hundeporträts aus den dreißiger Jahren gibt es etliche, die die Treue eines Hundes seinem verstorbenen Herrn gegenüber zeigen und damit die Schlußszene

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Die Berliner Kunstausstellung (1860), HF III, 5, 465. Fontane in seiner Rezension von: Gustav Freytag, Soll und Haben (1855), HF III, 1, 303. Die Berliner Kunstausstellung, a.a.O. Ebda., S. 468. Zit. bei Albert Heim: Der Neufundländerhund. Auf Veranlassung des Neufundländerklub für den Kontinent. In: Neufundländer-Stammbuch Nr. V. Hrsg. von Gustav Büchner, Mannheim-Waldhof 1927, S. 32. Alpine Mastiffs Reanimating a Distressed Traveler, 1820, The Warner Collection of Gulf States Paper Corporation, Tuscaloosa, USA; vgl. Richard Ormond: Sir Edwin Landseer, Philadelphia 1981, S. 50f. Aus Manchester, a.a.O., S. 484.

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von »Effi Briest« vorwegnehmen: der trauernde Hund am Grabe seines Herrn;34 der Hund, dessen Trauer tiefer geht als die der übrigen Trauergäste, am Sarge seines Herrn.35 Dazu gehört auch »Attachment«, ein Gemälde, das Walter Scotts Gedicht »Hellvellyn« illustriert; es verherrlicht die »Anhänglichkeit« eines Terriers, der drei Monate lang bei seinem Herrn ausgeharrt hatte, nachdem dieser bei einer Kletterei im Gebirge abgestürzt war (siehe Abb. 2, S. 29); 36 das Motiv scheint bei Fontane noch am Schluß von »Quitt« nachzuwirken.37 Daneben malt Landseer auch symbolische sowie satirisch oder humoristisch gehaltene Hundeporträts: »Vornehm und Gering«,38 »Würde und Unverschämtheit«,39 »Alexander und Diogenes«40 - Spiegelungen der menschlichen Gesellschaft im Leben der Hunde, »Tierfabeln«, wie Fontane sie nennt, der diese drei »Hundestücke« erwähnt oder sogar kommentiert.41 Wie sehr Fontane mit den tiersymbolischen Darstellungen seiner Zeit vertraut war, zeigt eine Bemerkung aus seinem dritten Englandaufenthalt: »Sollt' ich London symbolisch darstellen, so würd* ich einen Windhund malen, dem die rote, lechzende Zunge handbreit zum Maule heraushängt. Man lernt hier begreifen, daß dem Londoner eine stille ländliche Sommerwohnung über alles geht.«42 Unter den Hundeporträts Landseers wiederum nehmen seine Neufundländer einen hervorragenden Platz ein. Eine neue Untersuchung kommt auf 27 Werke in Landseers gesamtem CEuvre, in denen ein »Newfoundland dog« abgebildet ist,43 und zwar sind es durchweg 34 35

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The Poor Dog, um 1829, Privatbesitz; Richard Ormond, a.a.O., S. 104. The Old Shepherd's Chief Mourner, um 1837, Victoria and Albert Museum, London; Richard Ormond, a.a.O., S. llOf. Attachment, 1829, Privatbesitz; Richard Ormond, a.a.O., S. 102f. HF I, 1, 437ff. - Beiläufig taucht das Motiv des trauernden Hundes, als mittelalterlich-romantisches Liedmotiv, bei Fontane auch in »Unwiederbringlich« auf: »Und daneben wacht der Hund am Grabe des Ritters« (HF I, 2, 580). Low Life and High Life, 1829, Tate Gallery, London; Richard Ormond, a.a.O., S. 99ff. Dignity and Impudence, um 1839, Tate Gallery, London; Richard Ormond, a.a.O., S. 112f. Alexander and Diogenes, 1848, Tate Gallery, London; Richard Ormond, a.a.O., S. 197ff. Aus Manchester, a.a.O., S. 491; 526. An Ludwig Metzel, 12. Sept. 1855, HF IV, 1, 411. Denis Conlon: Sir Edwin Landseer und der Landseer-Hund. In: Zuchtbuch Nr. 2, 1982-1988. Hrsg. vom Deutschen Landseer Club (DLC) e.V., Königswinter 1989, S. 12.

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schwarz-weiße Neufundländer, die damals zu Modehunden der vornehmen Welt geworden waren und erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an Beliebtheit verloren gegenüber den neu aufkommenden kleineren schwarzen Neufundländern.44 Da gibt es das Porträt von »Lion«, 45 dasjenige von »Neptune«,46 das Bild von »Bashaw«. 47 Mit Vorliebe werden diese schwarz-weißen Neufundländer vor dem Meere dargestellt, um ihre Wasserleidenschaft und ihre lebensrettenden Fähigkeiten anzudeuten, so wie Briest seine Beispiele für die lebensrettende Treue der Hunde - »so einer wie dein Rollo« - der Wassersphäre entnimmt48 oder wie Rollo selbst dann bei den Ausritten ans Meer unermüdlich die Holzstücke apportiert, die Effi von der Mole ins Wasser wirft.49 »Neptune« erscheint ein zweites Mal in Landseers Gemälde »Twa Dogs«, das Robert Bums' 1786 erschienenes sozialkritisches Gedicht gleichen Titels illustriert: der Collie eines armen Schäfers unterhält sich mit dem schwarz-weißen Neufundländer eines reichen Lords über das Leben ihrer beider Herrn.50 Das berühmteste Neufundländer-Bild Landseers aber ist dasjenige, das den Titel »Ein hervorragendes Mitglied der Lebensrettungsgesellschaft« trägt (vgl. Abb. 3, S. 30). 51 Vornehm und gewinnend zugleich, ein edles, schönes Tier, ist dieser Neufundländer, wie ein Wächter aufmerksam Ausschau haltend, ruhig und würdevoll auf dem Ende einer Mole gelagert; der prachtvolle Kopf dieses Hundes existiert auch als Einzelstudie unter dem Titel »My Dog«. 52 Nach dem Maler, der die schwarz-weißen Neufundländer verherrlichte, wurde diese Rasse »Landseer« genannt ein lebendiges Denkmal für einen einst weltberühmten Künstler, dessen Name in unserer Zeit fast völlig der Vergessenheit anheimfiel.53

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Ebda., Vorbemerkung des Herausgebers, S. 14ff. Lion, 1823, Victoria and Albert Museum, London; Richard Ormond, a.a.O., S. 98. Neptune, 1824, Privatbesitz; vgl. Sotheby's Auktionskatalog: The Collection of John Τ. Dorrance, Jr., New York 1989, Nr. 3; Denis Conlon, a.a.O., S. 26f. Bashaw, 1827, Privatbesitz; Richard Ormond, a.a.O., S. 97f. Effi Briest, a.a.O., S. 120. Ebda., S. 128. Twa Dogs, 1822, Victoria and Albert Museum, London; vgl. Sotheby's Auktionskatalog, a.a.O., Nr. 3; Denis Conlon, a.a.O., S. 20. A Distinguished Member of the Humane Society, 1838, Tate Gallery, London; Stich von Thomas Landseer, mit ausgiebigen Retuschen von Edwin Landseer, 1839, British Museum, London; Richard Ormond, a.a.O., S. l l l f . My Dog, um 1840; vgl. Denis Conlon, a.a.O., S. 41ff. Vgl. Denis Conlon, Vorbemerkung des Herausgebers, a.a.O., S. 16f.

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In seinem Bericht über die Londoner Kunstausstellung von 1856 schildert Fontane, tiefbewegt, seine Begegnung mit einer späteren Neufundländer-Darstellung Landseers; der Abschnitt, ein kleiner Hymnus, bildet den krönenden Höhepunkt und Abschluß seines im übrigen sehr kritischen Zeitungsartikels. Und nun Ende gut, alles gut! Zum Schluß ein Landseer. »Landseer ist alt geworden« - sagte mir Tages vorher ein Freund - »er malt nicht mehr, und ich zweifle, ob Sie irgend etwas von ihm finden werden.« In der Erwartung ging ich hin. Als ich in das dritte und letzte Zimmer trat und mein Auge links und rechts über die Farben hinflog, fesselte ein schlicht gemaltes Bild, inmitten einer mit Goldrahmen übersäten Wandfläche, sofort meine Aufmerksamkeit. Ich sah länger und länger auf dasselbe, und eine Gemütsbewegung, wie sie die Bühne oder die Dichtung, wohl aber in seltenen Fällen nur die Malerei in uns hervorzurufen pflegt, bemächtigte sich meiner, und ich vergaß beinah, wo ich war. Ein Stück Meer und die äußerste Spitze eines Molendanuns. Der Tag und das Wasser grau und still; ein Sonnenstrahl eben durchbrechend und einen Streifen Lichts über die Szene werfend. Auf der Spitze der Mole erhebt sich ein Newfoundlander, die Hinterfüße noch im Wasser, während auf den mächtigen, über die Steine hingestreckten Vorderpfoten ein reizender Junge liegt, den er eben noch zwischen den Zähnen getragen und jetzt behutsam vor sich niedergelegt hat. Das Kind, blaß und triefend, ist von der ersten Röte wiedererwachenden Lebens angeflogen; das schöne Tier, matt, erschöpft, atemlos und doch zugleich voll des Bewußtseins brav erfüllter Pflicht, blickt mit jenem wunderbaren Ausdruck von Treue, den Gott unter allen seinen Kreaturen nur in das Auge des Newfoundlanders gelegt hat, landeinwärts und scheint den herbeieilenden Eltern zuzurufen: Da habt ihr ihn wieder! - Was mal ein Künstler ist, der bleibt's. Die Jahre respektieren den Genius. Landseer ist alt geworden, aber jung geblieben in seiner Kunst. (Siehe Abb. 4, S. 31) 5 4

Aufhorchen läßt die fast religiöse Ergriffenheit, mit der Fontane dieses Gemälde beschreibt, dem wir heute, seiner offensichtlichen Tendenz wegen, mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Das dargestellte Motiv ergreift ihn offenbar zutiefst: es ist das Motiv des »Rettens«, der bewährten »Treue«, der Einsatz des Lebens für andere; und in der Tat eignet dem Bild mit dem zum Himmel gerichteten Blick des treuen Tiers auch eine religiöse Dimension. Landseers Gemälde ist gleichsam die in die englische Umwelt transponierte Version der Bernhardiner54

Die Kunstausstellung (1856), HF III, 3/1, 415f. - Es handelt sich um das Gemälde »Saved! Dedicated to the Humane Society« (1856). Vgl. Algernon Graves, F.S.A., Catalogue of the Works of the Late Sir Edwin Landseer, R.A., London 1874, Nr. 369. - Bei Fontane heißt das Bild »Der Neufundländer und das gerettete Kind« (Kurzbiographien, Sir Edwin Landseer, 1862, Nymphenburger-Ausgabe XXIII/1, S. 446).

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hunde, deren Funktion Landseers Vater als diejenige von »lebenden Rettungsbooten« beschrieben hatte.5S Und zwar ist es »ein schlicht gemaltes Bild«, das in all seiner Unscheinbarkeit einen der heiligsten Werte des Lebens auszudrücken vermag; schon hier wird das »Ideale« im »Alltäglichen« gezeigt. Noch auf Effi wirkt die Rettung einer ganzen Schiffsmannschaft aus Seenot, wovon sie mit Innstetten zusammen Zeugin wird, so bewegend, daß sie sich hätte »in die Dünen werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes Gefühl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es beglückte sie unendlich, daß es so war.« 56 Die Darstellung des »Schönen«, die Landseers Bild beseelt, ist, wie noch die späte Ballade »John Maynard« (1886) belegt, auch die Seele von Fontanes »poetischem Realismus«; noch in »Effi Briest« ist das »Retten« aus der »Gefahr« ein symbolisches Leitmotiv. Die fast die Form eines Offenbarungserlebnisses annehmende Begegnung mit einem Neufundländer-Gemälde Landseers dürfte den Ort bezeichnen, an dem sich diese Hunderasse Fontanes Phantasie bemächtigte und in seine dichterische Welt einwanderte. Denn um ein Kunsterlebnis, nicht um spontane Hundeliebe scheint es sich in der Tat zu handeln, schreibt doch Fontane im selben Jahr, in dem er sein Bekenntnis zu Landseers Neufundländer ablegt, aus London an die befreundete Henriette von Merckel, die anscheinend von einer gewissen Hundeängstlichkeit seines kleinen Sohnes George, damals fünfjährig, berichtet hatte: »Mit Gespenstern, Hunden und Truthähnen hab ich noch bis diesen Tag nicht gerne was zu tun, wie kann ich von dem boy verlangen, daß er den Hunde-Simson spielt!«57 Die mannigfaltigsten Verbindungen und Verflechtungen Fontanes mit seiner Zeit sind damit sichtbar geworden, die demjenigen entgehen, der sich nur mit seinem erzählerischen Spätwerk befaßt. Schon in seinen frühen journalistischen und kunstkritischen Arbeiten weiß sich Fontane einer künstlerischen Richtung verpflichtet, der es um Wirklichkeitstreue zu tun ist, ohne daß dadurch auf Idealität des Dargestellten verzichtet würde. Idealität des Dargestellten - das heißt für ihn, daß, bei allem Realismus, das »Schöne« sichtbar gemacht wird, das »Schönmenschliche«, das zum »Herzen« spricht. Unter den zahlreichen »Tierstücken« seiner Zeit gehen ihm deshalb gerade diejenigen nahe, in denen das Tier in seinem Bezug zum Menschen dargestellt ist

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Richard Ormond, a.a.O., S. 50. Effi Briest, a.a.O., S. 168. 12. Dez. 1856, HF IV, 1, 547.

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und in dieser Beziehung Fontanes künstlerisches Postulat zu erfüllen vermag. Auch wenn in Fontanes eigener Dichtung später Neufundländer auftreten, geht es nicht um »das Tierleben selbst«. Ebenso sind ihr tierschützerische Anliegen fremd. Aber wie für den englischen Maler ist der schönste Zug des Neufundländers auch für Fontane der Drang zum »Retten« von Leben; wie Landseer oder Lord Byron verherrlicht er die Schönheit, den Adel und die Treue dieser Tiere; wie der einstige Kaiser der Franzosen anerkennt er, daß uns im Hund die Natur eine »Lehre« gab; und wie für Friedrich Theodor Vischer gehört für ihn der Hund und speziell der Neufundländer zum »Idyll«.

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Abb. 2

Sir Edwin Landseer: »Anhänglichkeit« (1829)

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