Wege zur Genese griechischer Identität: Die Bedeutung der früharchaischen Zeit [Reprint 2015 ed.] 9783050072197, 9783050028996

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Wege zur Genese griechischer Identität: Die Bedeutung der früharchaischen Zeit [Reprint 2015 ed.]
 9783050072197, 9783050028996

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung
Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr.
Die Welt in Raum und Zeit im literarischen Reflex der episch-früharchaischen Ära
Altorientalische Motivik in der frühgriechischen Literatur am Beispiel der homerischen Epen. Elemente des Kampfes in der Ilias und in der altorientalischen Literatur (nebst Überlegungen zur Präsenz altorientalischer Wanderpriester im früharchaischen Griechenland)
Soziogenese und soziale Mobilität im archaischen Griechenland. Gedanken zur Begegnung mit den Völkem des Alten Orients
Griechische Ethnogenese versus Wanderungen von Stämmen und Stammstaaten
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register

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Ulf (Hg.) Wege zur Genese griechischer Identität

Wege zur Genese griechischer Identität Die Bedeutung der früharchaischen Zeit

Herausgegeben von Christoph Ulf

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wege zur Genese griechischer Identität: die Bedeutung der früharchaischen Zeit / hrsg. von Christoph Ulf. - Berlin : Akad. Verl., 1996 ISBN 3-05-002899-8 NE: Ulf, Christoph [Hrsg.] © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Printed on non-acid paper. The Paper used corresponds to both the U. S. standard ANSI Z.39.48 - 1984 and the European standard ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: PreMedia GmbH, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

CHRISTOPH U L F

Einleitung

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GÜNTHER LORENZ

Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung

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PETER W . HAIDER

Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr.

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REINHOLD BICHLER - W I D O SIEBERER

Die Welt in Raum und Zeit im literarischen Reflex der episch-früharchaischen Ära

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ROBERT ROLLINGER

Altorientalische Motivik in der frühgriechischen Literatur am Beispiel der homerischen Epen. Elemente des Kampfes in der Ilias und in der altorientalischen Literatur (nebst Überlegungen zur Präsenz altorientalischer Wanderpriester im früharchaischen Griechenland)

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INGOMAR WEILER

Soziogenese und soziale Mobilität im archaischen Griechenland. Gedanken zur Begegnung mit den Völkern des Alten Orients

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CHRISTOPH U L F

Griechische Ethnogenese versus Wanderungen von Stämmen und Stammstaaten

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Abkürzungsverzeichnis

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Literaturverzeichnis

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Register

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Einleitung CHRISTOPH U L F

Die im Untertitel vorgenommene Eingrenzung der Betrachtung der Genese griechischer Identität auf die ,früharchaische' Zeit soll nicht so sehr heißen, daß in dem Buch nur von der Früharchaik die Rede ist, sondern vielmehr, daß es eine der Übereinstimmungen aller Autoren der in diesem Buch vereinigten Studien ist, daß sich im ausgehenden 8. und im 7. Jahrhundert v. Chr. entscheidende Veränderungen für die weitere Entwicklung der griechischen Geschichte ankündigen oder vollziehen. Die früharchaische Zeit ist dadurch gekennzeichnet, daß in den verschiedenen von Griechen bewohnten geographischen Räumen eine ungemein große Zahl politisch-sozialer Gebilde existiert, die nicht nur durch ihre unterschiedlichen Organisationsformen, sondern auch durch unterschiedliche Siedlungsweise, Bevölkerungszusammensetzung und Bevölkerungszahl, aber auch durch ihr keineswegs gleiches kulturelles Erscheinungsbild voneinander abzuheben sind. Anders als später sind keine größeren Machtgebilde erkennbar; die vielen einzelnen politisch-sozialen Einheiten standen selbständig nebeneinander, was nicht heißt, daß ihre Beziehungen zueinander stets friedlich gewesen sind. Vor allem in der angelsächsischen und französischen Altertumswissenschaft hat man diesen Verhältnissen mit dem Modell selbständiger Oikoi gerecht zu werden versucht.1 Für eine hinreichend plausible Erklärung des Aufbaus von Sozietäten wie der in ihnen und zwischen ihnen zweifelsohne existierenden politischen Bezüge erscheinen jedoch diese Bausteine zu klein geraten.2 Vor dem umgekehrten Problem steht die vorwiegend in der deutschsprachigen Forschung nach wie vor häufig vertretene Auffassung, die nicht von bausteinähnlichen Kleineinheiten ausgeht, sondern von wenigstens seit dem Beginn des 1. Jahrtausends den Griechen gewissermaßen vorgegebenen staatlichen, d. h. ,stammstaatlichen' Ge-

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Ein kurze Skizze zur Herkunft der Oikos-Vorstellung ζ. B. bei Austin/Vidal-Naquet 2 1984, 3ff. Weiler 1988,98ff. Hinweise zur Problematik der postulierten Autarkie des Oikos bei Ulf 1990, 187ff. Vgl. die für die Auffassung prägnante, auf die Dark Ages bezogene Formulierung bei Schuller 3 1991, 9: „Staat und Gesellschaft setzten sich nur zusammen aus den nebeneinander bestehenden kleinen Einzelpyramiden der Häuser mit ihrem Personal, deren mächtigste die des Königs war." 2

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Christoph Ulf

bilden, aus denen sich die neue Staatsform ,Polis' herausentwickelt habe. Diese Unterscheidung von Stammstaat und Polis erscheint aber nicht nur wegen der Abgrenzung und des Inhalts beider Begriffe problematisch, sondern auch deswegen, weil mit dieser einfachen Dichotomie die historische Realität weit über das für jede Systematisierung nötige Maß verkürzt wird.3 Weil keines dieser beiden Erklärungsmodelle der in der früharchaischen Zeit vorhandenen Vielfalt an sozialen, rechtlichen, politischen, aber auch kulturellen Phänomenen hinreichend gerecht zu werden vermag 4 - was ja in reduzierter Weise auch für die Beschreibung der griechischen Verhältnisse bis in die spätklassische Zeit gilt - vermeidet das von H.-J. Gehrke unter dem programmatischen Titel „Jenseits von Athen und Sparta. Das dritte Griechenland und seine Staatenwelt" angestellte „Experiment", „die Fülle der Staaten in ein typologisches System (zu) bringen, und zwar auf der Basis der ökonomischen Voraussetzungen und der daraus resultierenden beziehungsweise zu erschließenden soziopolitischen Zustände." 5 So sehr diese weit mehr als einen Versuch darstellende Typologie in vieler Hinsicht überzeugt, so liegt ihr doch die ihrerseits problematisierbare Anschauung zugrunde, „daß jenseits der Individualität von Einzelstaaten und internen politischen Gruppen wesentliche, teils von vornherein gegebene, teils in wechselseitiger Beeinflussung gewachsene strukturelle Gemeinsamkeiten existierten, in wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, geistiger, ja auch politischer Hinsicht, die in einer .Griechischen Geschichte' nicht fehlen dürfen." Bis vor nicht allzu langer Zeit - und in Teilen der Altertumswissenschaft auch heute noch - wurden die angesprochenen „strukturellen Gemeinsamkeiten" ohne viel Argumentation mit Begriffen wie ,Volk' oder,Volkstum' begründet. Der Rekurs auf derartige Vorstellungen ist allerdings brüchig geworden,6 weshalb an die Stelle der Berufung auf einen gemeinsamen Volkscharakter der verstärkte Hinweis auf die den Bewohnern der Balkan-Halbinsel, der Ägäis und ihrer Küsten gemeinsame Sprache getreten ist.7 Wenn aber das ,Wesen des Volkes' als Argument ausscheidet, gibt es dann überhaupt so etwas wie eine Klammer um die in der früharchischen Zeit keineswegs kohärente Vielfalt der sozialen, politischen und kulturellen, einschließlich der religiösen und rechtlichen 3

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Zu dem dieser einfachen Zweiteilung parallel laufenden Reduktionismus auf Athen und Sparta vgl. Gawantka 1985. Vgl. den Versuch von Gschnitzer 1987/1991 dieser Schwäche durch weitere Differenzierung innerhalb dieses Modells zu begegnen; zum Stammstaat s. unten 24Iff. Ähnliche Kritik an beiden Modellen, aber auch eine mit dem Folgenden in wesentlichen Punkten übereinstimmende Argumentation von Funke 1993, 36. Gehrke 1986, Zitate 12f. Vgl. die unten bei Weiler, 21 Iff. zitierte Literatur; zu wichtigen Positionenen der mit diesem Problem besonders befaßten Ethnologie Müller 1989; auch Jarnut 1985, 84ff. Wer einen solchen Beweisgang antritt, muß sich dessen bewußt sein, daß auch in diesem Argument der alte Volksbegriff noch nachklingt. Zudem ist es eine keineswegs entschiedene Frage, inwieweit von der Sprache auf die ethnische Herkunft der Sprecher geschlossen werden kann, also sprachliche Argumente zu historischen gemacht werden dürfen. Zu diesem methodischen Problem, exemplifiziert an den Indogermanen, vgl. Untermann 1985, bes. 163; zur Frage der Identität von Sprache und Ethnos vgl. Wenskus 1961, 133ff. Narr 1985,97. Jarnut 1985, 88f. Graus 1985,70ff. Pohl 1985,98f.

Einleitung

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Erscheinungsformen, 8 und kann man dann noch eine innere genetische Verbindung zwischen den Zuständen der archaischen und der klassischen Zeit annehmen? Anders formuliert: Gibt es eine vorgegebene griechisch zu nennende Identität jenseits sprachlicher Gegebenheiten, oder verdanken sich die beobachtbaren Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten nicht alle erst „wechselseitiger Beeinflussung"? Angesichts dieser Frage gewinnt die alte Auffassung neue Aktualität, daß die Kulturen bzw. Staaten des Vorderen Orients und Ägyptens, aber natürlich auch, wie das erst später seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erwogen wurde, die mykenische Welt auf die Griechen des 1. Jahrtausends eingewirkt und so direkt oder indirekt Einfluß auf die griechische Entwicklung in dieser Phase genommen haben. Wer sich mit der früharchaischen Welt forschend auseinandersetzt, kann der Frage nicht ausweichen, ob die Annahme noch hinreichend tragfähig ist, daß die Griechen ihre Identität gewissermaßen in den Mittelmeerraum mitgebracht haben. 9 Andererseits erscheint es sinnvoll zu prüfen, ob nicht der Kontakt der Griechen in den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends mit den ihnen je nach kulturellem Erscheinungsbild und staatlicher Organisationsdichte jeweils in anderer Weise fremden Welten erst jene spezifischen Bedingungen erzeugt hat, auf deren Grundlagen die Griechen ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken konnten. Die Forschungen der jüngeren, insbesondere amerikanischen Sozialanthropologie führten zum kaum bestreitbaren Ergebnis, daß vor der Entstehung des Staates mit sehr vielfältigen Formen möglicher politisch-sozialer Organisation in menschlichen Gemeinschaften zu rechnen ist. 10 Diese Erkenntnis hat zur Konsequenz, daß die ältere Auffassung problematisch wird, die - etwa auch für Griechenland - α priori annahm, die in historisch heller Zeit erkennbaren politisch-sozialen, aber auch ethnischen Einheiten seien als Derivate ehemals existierender Großeinheiten bzw. Stämme anzusehen, die im Zuge bzw. im Anschluß von Wanderungen auseinandergebrochen seien. Es ist demgegenüber zu überlegen, ob sich nicht die für die ,Dark Ages' anzunehmenden vor- und halbstaatlich strukturierten Sozietäten entweder aus einer Vielzahl selbständiger, ethnisch, kulturell und sozial unterschiedlicher Kleineinheiten oder aber aus zwar sprachlich wie kulturell ähnlichen, aber wiederum selbständigen und nicht als seit langem oder gar untrennbar als zusammengehörig empfundenen Gebilden11 zu größeren Einheiten geformt haben, die nur im Rückblick in ethnisch geschlossener Gestalt erscheinen. Dieser Vorgang, der in der jüngeren anthropologisch-ethnologischen wie auch der mediävi-

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Die Existenz eines allen Griechen gemeinsamen Rechts hat schon Finley 1975 gegen den Widerspruch der Rechtshistoriker bestritten; seine Auffassung gewinnt durch die Ergebnisse der jüngeren Forschung aber stark an Gewicht; vgl. die Beiträge besonders von Hölkeskamp und Link in Gehrke 1994b. So ζ. B. Hiller 1986, der die griechische Ethnogenese sogar ins 3. Jahrtausend verlegt. Vgl. ζ. B. Service 1977. Vivelo 1981. Eisenstadt/Abitol/Chazen 1983. Stagl 1983. Harris 1989. Wie solche Gebilde strukturiert sind bzw. benannt werden, etwa als gens, als Klan, Deszendenzgruppe o. ä., ist hier nicht von Belang.

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Christoph

Ulf

stischen Forschung mit dem Terminus ,Ethnogenese' versehen wurde, 12 wurde in den letzten Jahrzehnten durch die Analyse der Bildung einzelner germanischer Ethnien besonders gut dokumentiert. Was daran im Hinblick auch auf die eben gestellten Fragen besondere Bedeutung erhält, ist der Sachverhalt, daß - so etwa am Beispiel der Goten gut nachzuvollziehen - „Fremdwahrnehmung wie Selbstbewußtsein der neuen Völker, sobald sie in den Gesichtskreis der römischen Welt und damit unserer Quellen traten, von Anfang an römisch beeinflußt waren". Selbst ihre jeweils eigenen „ethnischen Traditionen" erhielten so „neue Bedeutungen". 13 Dies weist daraufhin, daß sich die mit der Ethnogenese untrennbar verbundene Identitätsfindung wesentlich auch in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen bzw. Staaten vollzieht, die keineswegs nur in militärischer Konfrontation bestehen muß. Das was sich an der Genese der als .germanisch' bezeichneten Einheiten 14 beobachten läßt, ist natürlich nicht zuletzt wegen der deutlich anderen machtpolitischen Gegebenheiten nicht direkt auf die Vorgänge in früharchaischer Zeit in und um Griechenland zu übertragen. Aber es öffnet doch die Augen für Möglichkeiten, wie die mögliche Beeinflussung - sei es von Mykene, sei es aus dem Orient - in ihren Auswirkungen eingeschätzt werden könnte. 15 In den im folgenden kurz skizzierten Studien des Buches geht es daher nicht so sehr um die Beschreibung des „griechischen Wunders" 16 als vielmehr um den Versuch, einen Teil der Elemente in den Griff zu bekommen, welche erst die früharchaische Zeit zur formativen Phase der griechischen Geschichte werden ließen. Die Berührung der Griechen in der an die Dark Ages anschließenden früharchaischen Zeit mit Traditionen der verschiedensten Art aus der mykenischen Welt ist nur hinsichtlich ihres Ausmaßes, nicht aber in ihrer Existenz umstritten. Als ein Teil dieser Tradition gilt allgemein der Heroenkult, der in der Zeit nach der Mitte des 8. Jahrhunderts offensichtlich ein wesentliches Element in der Konstituierung lokal begrenzter Identität darstellt. Günther Lorenz arbeitet nach einer Begriffsabgrenzung und der Vorlage des wesentlichen literarischen wie archäologischen Quellenmaterials in der Vielfalt der wissenschaftlichen Äußerungen drei Grundpositionen heraus, die nicht die problematische Annahme zugrundelegen, daß der griechische Heroenkult nur die Fortsetzung eines mykenischen Brauches darstelle. Die erste geht davon aus, daß „das Fremdheitsgefühl der Griechen gegenüber den Spuren einstiger Bräuche" wesentlicher Anstoß war, um an

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So schon Wenskus 1961; vgl. auch Mühlmann 1 9 8 5 , 1 0 , 1 5 f . Pohl 1994,14. Vgl. auch Müller 1980,340 und 449, Ament 1984 oder die Beiträge von Graus, Jarnut, Pohl, in: Ureland 1985, und jene von Wolfram, Castrums, Jarnut, Pohl, in: Wolfram/Pohl (Hg.) 1990. Der Name .Germanen' ist keine Eigenbezeichnung einer (rechtsrheinischen) Großgruppe, sondern eine aus römischer Sicht geprägte Fremdbezeichnung, weshalb man von ihr nicht auf eine vorgegebene Großeinheit von Germanen schließen kann. Vgl. dazu - mit unterschiedlicher zeitlicher Ansetzung der Ausbildung des Namens - Dobesch 1983 (Begriffsbildung nach Poseidonios, aber vor Cäsar), und Lund 1990, bes. 88ff (Begriffsbildung durch Cäsar), auch Timpe 1993/1995, bes. 87ff.

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Die fehlende Rezeption der von Wenskus sichtbar gemachten Vorgänge als heuristisches Modell für die griechische Frühzeit moniert daher zurecht Funke 1993, 37.

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Diese Formulierung hat Zaicev 1993 sogar zum Buchtitel erhoben.

Einleitung

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den mykenischen Gräbern Votivdepots anzulegen. Ob die homerischen Epen dafür den Anstoß gaben, bleibt umstritten. Soziologisch erweitert, so die zweite These, lassen sich diese Votive mit jenen Siedlungen bzw. Gegenden in Verbindung setzen, die in dieser Phase einen starken Bevölkerungszuwachs erlebt haben. Der Vorgang sei als Teil einer Legitimation entweder des Anspruchs auf Land oder zur Abgrenzung des Territoriums zu verstehen. Die letztere Form der Legitimation wird nicht mehr allein an den Kult an mykenischen Gräber, sondern ebenso an den „Heroenkult für jüngst Verstorbene" angebunden. Die dritte Position zieht diesen beiden gegenüber stärker die Möglichkeit in Betracht, daß die griechisch-orientalischen Kulturkontakte den Heroenkult angeregt haben, ohne daß hier allerdings die Funktion des Heroenkults weiter diskutiert wird. Lorenz selbst nimmt auf der Basis einer Neuinterpretation des zur Verfügung stehenden Materials eine einleuchtende Verbindung der skizzierten Ansätze vor. Er geht davon aus, daß durch „Bevölkerungsvermehrung, Landesausbau, das Besitzstreben freier Bauern, die Dynamik der entstehenden Poleis und ihre Konkurrenz um Territorien sowie die Rivalität ihrer führenden Familien" eine neue Situation entstanden war. Zu der dadurch gegebenen Verunsicherung kam der bis in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts immer intensiver gewordene Kulturtransfer aus dem Orient, der den Griechen unter anderem auch eine völlig neue „zeitliche Tiefendimension" durch die Konfrontation mit Herrscherlisten, Annalen, Urkunden, aber auch den gewaltigen Bauten vermittelte. Hierin sieht Lorenz den Impuls, daß die Griechen die in den orientalischen Kulturen kennengelernte Form der Legitimierung von Ansprüchen durch Berufung auf schriftlich »belegte', weit über die Denkgewohnheiten der eigenen oralen Kultur hinausführende uralte Traditionen aufgriffen und auf die Interpretation „der Spuren der Vergangenheit im eigenen Land, die bisher ziemlich unbeachtet geblieben waren", übertrugen. „Sobald eine solche Kategorie besonderer Toter einmal zum Bestandteil der Vorstellungswelt geworden ist, ist man auch geneigt, ihr besonders ehrwürdige Verstorbene der jüngeren Zeit ebenfalls anzunähern." Dort allerdings, wo Heroenkultstätten nicht mit mykenischen Gräbern, sondern mit bronzezeitlichen Siedlungsresten oder Kultplätzen in Zusammenhang stehen, argumentiert Lorenz mit guten Gründen, werden insbesondere, aber nicht nur weibliche mykenische Gottheiten heroisch verehrt, die anders als die Heroenkulte an Gräbern nicht mit dem Bedürfnis der Legitimierung, sondern mit dem sozialen Abstieg älterer mykenischer Bevölkerungsteile zu begründen sind. Die von Lorenz vorgenomme zweifache Herleitung des Heroenkults aus mykenischer Tradition, aber vor allem aus dem historischen Denken, wie es in den orientalischen Kulturen anders als für die griechisch-früharchaischen Vörstellungswelten nachweisbar ist, verstärkt die Gewichtigkeit der Frage nach dem zeitlichen Beginn und der Form der Kontaktnahme von Griechen mit den orientalischen Kulturen nach dem Ende der mykenischen Welt. An diesem Punkt setzt die Studie von Peter W. Haider ein. Haider durchforstet die archäologischen Befunde wie die schriftlichen Informationen im Hinblick auf die Anwesenheit von Griechen in Kilikien, Syrien, Palästina und in Ägypten. In der Auswertung des Materials trifft er eine Unterscheidung, welche die zu dieser Diskussion gehörige und zum Teil sehr heftig und mit irrationalen Argumenten geführte Auseinan-

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dersetzung über die kulturelle ,Qualität' von Orientalen und Griechen deutlich zu entemotionalisieren in der Lage ist. Die ersten Kontakte, welche Griechen mit dem Orient verbinden, setzen in der Levante in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts, in Kilikien ab der Mitte des 9. Jahrhunderts ein. In dieser Phase ist kaum mit einer ständigen Anwesenheit von Griechen in diesen Gegenden zu rechnen. Die geringe Zahl der griechischen Fundstücke, ihr Charakter als Luxusware wie ihre Verteilung innerhalb der Siedlungen weist sie als Importe aus. Mit ähnlichem Zeitunterschied, d. h. in der Levante ab der Mitte des 8. Jahrhunderts, in Kilikien ab ca. 700, wandelt sich das Bild insofern, als ab nun die Anzahl und Vielfalt der Fundstücke griechischer Provenienz deutlich zunehmen und auch deren Verteilung bzw. Konzentration innerhalb der Fundorte darauf schließen lassen, daß jetzt Griechen im Lande ansässig geworden sind, die sich nicht nur wirschaftlichen, sondern auch politischen Einfluß erwarben. In der folgenden Zeit treten Griechen aber nicht nur als Händler und auch Handwerker auf, sondern in vermutlich nicht geringer Zahl auch als Söldner. Solche werden seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert auch in schriftlichen Quellen, etwa für Kilikien oder in Ashdod, seit dem späten 7. Jahrhundert auch im Königreich Juda wie im neubabylonischen Heer genannt. Als Söldner, aber auch als Spezialisten für Eisenverarbeitung erscheinen Griechen neben Karern, Phönizern und Judäern in großer Zahl ab Psammetich I., spätestens seit dem Jahr 661/60, in Ägypten. Für ihre Verdienste vom Pharao mit Landbesitz belohnt, sind ihre Kommandanten und Wortführer bis zu drei Generationen aus ein und derselben Familie stammend in Garnisonsorten wie Sai's, Naukratis, Memphis und anderen nachweisbar. Die Versorgung der geschlossen zusammenlebenden ausländischen Griechen erfolgte mit den ihnen gewohnten und für sie auch typischen Lebensmitteln, deren Einfuhr wiederum durch griechische Händler, vorwiegend aus Milet, Samos, Chios und Lesbos, besorgt wurde. Eben dieses Bild zeichnen die literarischen und archäologischen Quellen für das späte 7. und das frühe 6. Jahrhundert auch für das zu Tyros gehörige Kabri oder die Festungen Ziklag und Arad im jüdäischen Königreich. Rückwirkungen aus dem so nachweisbar engen Kontakt von Griechen mit den ihnen fremden orientalischen Welten werden zum Teil in der Altertumswissenschaft etwa in der Anerkennung der Vorbildwirkung der ägyptischen für die griechische Großplastik anerkannt. Gegenüber einer intensiveren Beeinflussung der Griechen besteht jedoch nach wie vor eine nicht geringe Reserve. Der frühe Zeitpunkt der Kontaktnahme und nicht weniger wichtig - die aufgrund der Darlegungen Haiders anzunehmende hohe Intensität der Kontakte mit allen genannten Räumen am südlichen und östlichen Mittelmeer läßt nicht nur die von Lorenz angenommenen Impulse für die Ausformung des Heroenkults noch plausibler werden, sondern erhöht auch noch die Wahrscheinlichkeit, daß auch zentrale Bereiche des griechischen Denkens starke Impulse erhalten haben müssen. Das direkte oder indirekte Erleben der fremden Kulturwelten muß als Herausforderung gewirkt haben, über die Abgrenzung vom Fremden und so auch über die Zusammengehörigkeit des Eigenen nachzudenken. Nach all dem was wir über die Begleiterscheinungen derartig ablaufender Akkulturation wissen, muß sich dabei auch die Frage nach der Wertigkeit beider Sphären in dem Sinn gestellt haben, inwieweit die

Einleitung

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den Griechen fremden Welten Vorbilder oder auch abschreckende Beispiele für die Bewältigung der immer stärker sichtbar werdenden eigenen Probleme bieten. Ein so über den ökonomischen Bereich weit hinausreichender, neue Tiefe erhaltender Kontakt muß in Verbindung mit den bekannten, wohl eine anthropologische Konstante darstellenden ethnozentrischen Denkweisen zu einer zwiespältigen Sicht der in vieler Hinsicht überlegenen orientalischen Kulturwelten führen. Eben diese Ambivalenz decken Reinhold Bichler und Wido Sieberer in ihren Analysen der zeitlichen wie räumlichen Orientierungsmuster in früharchaischer Zeit auf. Bichler beansprucht - auf die zeitlichen Ordnungsmuster bezogen - nicht, darüber Auskunft geben zu können, wie sich die Griechen in Raum und Zeit orientierten, sondern nur, „wie die epischen Dichter sich und ihrem Publikum die Welt in ihrer räumlichen Dimension und die Stellung der Menschen im Gefüge der Zeit vorstellten." Im Epos wird bekanntlich der Gegenwart der Heroen eine vergangene vorbildhafte Zeit gegenübergestellt, die allerdings, wie das die .Geschichte' von Agamemnons Szepter zeigt, keine große „zeitliche Tiefe" besitzt. Diese in sich gegliederte heroische Vorzeit stellen die Dichter mit ihrer eigenen Gegenwart nur in der Weise direkt in Zusammenhang, daß von der heroischen Gegenwart aus Ausblicke auf die Zukunft gegeben werden. Zwar wird, so Bichler, jeder zeitliche Horizont erkennbar markiert, doch werden die „Personen mit bestimmten Artefakten - vom Streitwagen bis zum Webstuhl - " umgeben, „die einen Kontrast zum vertrauten Alltag darstellten und doch nicht völlig fremd wirkten". Es ist nun nicht einfach in dieser Mischung von Erfahrung und „poetischer Imagination" hinsichtlich des geographisch-ethnographischen Weltbildes zu bestimmen, was in ihr realer Kenntnis, was der Imagination zuzuschreiben ist. Diesen Gedanken aufnehmend, arbeitet Wido Sieberer in der konkreten Einzelanalyse heraus, daß die tatsächlichen geographischen Kenntnisse in beiden Epen insgesamt eher gering sind und zudem im Erfahrungsraum Unterschiede aufweisen. Die konkretesten Angaben in der Ilias - und die machen etwa die Hälfte aller Bemerkungen zur Geographie aus - beziehen sich auf die Troas und Mysien. Lydien ist gut bekannt, das Land der Karer demgegenüber deutlich schlechter, Zypern und Phönizien gelten - als jenseits des Meeres liegend - weit entfernt; Ägypten wird nicht erwähnt. In nicht großer Distanz zur Troas befindliche Gebiete wie etwa die Heimat der Paionen am Axios erscheinen dem Dichter schon als „fern". Nur namentliche Kenntnis und keineswegs konkretes geographisches Wissen verraten die Angaben zur Balkan-Halbinsel von der Peloponnes bis nach Thessalien. Demgegenüber stellt sich das durch die Odyssee vermittelte Bild vielschichtiger dar. Der „real erfahrene geographische Raum" ist im Westen bis zum wohl bekannten Sizilien erweitert. Und zur Nennung von Phönikien und Zypern tritt neu noch die von Ägypten hinzu. Aber die nicht wenigen Informationen über Westgriechenland bleiben „viel vager als jene zum ägäischen Raum". Einigermaßen exakte Angaben sind auch in der Odyssee auf die Ägäis und deren Küsten beschränkt. Für die ungenauen Äußerungen über den griechischen Westen bieten sich zwei einander nicht gänzlich ausschließende Begründungen an. Entweder sind die Angaben deswegen nur vage, weil der Handlungsablauf Odysseus hier in das Zwielicht von mythischer und realer Welt führen

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soll, oder aber - wofür Sieberer plädiert - einfach deswegen, weil nähere geographische Kenntnisse fehlten. Entsprechend diesem Unterschied im geographischen Weltbild zwischen Ilias und Odyssee ist auch eine Veränderung hinsichtlich der in den beiden Texten beobachtbaren ethnographischen Vorstellungen festzustellen. Der nur kleine geographische Horizont der Ilias „bedarf keiner tieferen Schichtung". Im Zentrum der nur durch Spekulation für kreisrund gehaltenen Erde liegt der „aus Realerfahrung bekannte geographische Raum". In diesem wird kaum differenziert, abgesehen von der Fremdsprachigkeit und dem materiellen Wohlstand der »Anderen*. Am Rand der Welt beim kreisrunden Okeanos-Strom sind die Völker mythisch-spekulativen Zuschnitts wie die Äthiopen, die Pygmäen, die Hippemolgen, die Abier oder auch die Amazonen angesiedelt. Anders die Odyssee. Wie im geographischen werden auch im ethnographischen Raum stärkere Unterscheidungen vorgenommen. Die .mythischen' Völker wie die Äthiopen oder Erember rücken vom Okeanos-Strom ab und leben „zuäußerst der Menschen". Im in Richtung auf die eigene Welt daran anschließenden Bereich nur vager geographischer Kenntnis lassen sich drei verschiedene Typen von Schauplätzen mit unterschiedlichem Realitätsgehalt ausmachen, ohne daß sich aber auch eine der hier lokalisierten Örtlichkeiten trotz vieler derartiger Versuche auf einer Landkarte finden ließe. Sieberer begründet diese Feststellung zu Recht mit dem Hinweis auf deren poetische Funktion als utopische Bilder. Bichler schließt an diese Analyse insofern an, als er seine Überlegungen, welches Verhältnis zur Kategorie der Zeit in den homerischen Texte erkennbar wird, in nachhomerische Zeiten weiterführt und dabei auch auf die mit der Vergewisserung in der Zeit zusammenhängende Orientierung im geographischen, aber auch mythischen Raum ausweitet. Schon Hesiod tut einen bedeutenden Schritt über das in den Epen zum Vorschein kommende Verhältnis zur Vergangenheit hinaus. In den Erga erzeugt der böotische Dichter eine deutlich tiefere Kluft zwischen Vorzeit und Gegenwart, zeigt aber auf der anderen Seite ein neues Bewußtsein einer - allerdings recht zwiespältig eingeschätzten gestaltbaren Zukunft. Die bei Hesiod gegenüber den Epen beobachtbare Erweiterung des Weltbildes in dieser zeitlichen Hinsicht läßt sich in den zwar jüngeren, aber „unter dem Einfluß des homerischen Vermächtnisses" stehenden Texten, wie den homerischen Hymnen, aber auch bei Archilochos und Semonides nicht so ausgeprägt ausmachen. „Mythopoetische Vergangenheit und poetische Gegenwartsreflexion", formuliert Bichler, sind hier „dicht ineinander verwoben". Unter Verweis auf Kallinos, Tyrtaios und auch Mimnermos betont er die Bedeutung des „vor allem in der Elegie ... in die Vergangenheit zurückprojizierten ,wir"' als wesentliches Element für die Entstehung historischen Denkens, das sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das ,floating gap' zwischen episch-heroischer Zeit und der jüngeren Vergangenheit zu überspannen. Daneben wird aber auch weiter beobachtet, wie sich das schon in der Odyssee klar sichtbare ambivalente Verhältnis zum Fremden und mit ihm die „Weltanschauung im ethnographischen Sinn" in nachhomerischer Zeit verändert. Die ab der Odyssee feststellbare Differenzierung im ethnographischen Raum und das damit zu verbindende Abrücken „des mythi-

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sehen Raums und der traditionellen Randvölker" von der eigenen Welt läßt sich gut mit der von Haider vorgeführten Ausweitung der direkten Kontaktzone der Griechen mit den fremden Kulturen in Zusammenhang bringen. Am Rand der Oikumene bleiben bis in nachklassische Zeit „die Prototypen eines idealisierten einfachen Lebens, am Rande der eigenen Welt finden sich jetzt einerseits negativ bewertete zivilisatorisch unterlegene Nachbarn wie die Thraker oder Kimmerier, andererseits aber die Schrecken wie Anziehung in Form von Macht und Reichtum in sich bergenden hoch zivilisierten Kulturen des Orients und jene Ägyptens". Am Ende des von Bichler gespannten Bogens steht auf der einen Seite Herodot, der diese sich widersprechenden Sichtweisen in eine entwicklungsgeschichtlich orientierte, „feste ethnographische Anschauung umgeformt" hat, auf der anderen der Hinweis auf den innergriechischen Hader und Streit, der seit der hocharchaischen Zeit zunehmend Anlaß zur Reflexion der „Wandelbarkeit" und dann auch der „Gestaltbarkeit der tradierten Ordnung" in Griechenland selbst gab. Nach diesem Ausblick bis in die Klassik, der die Bedeutung der früharchaischen Zeit als eine Art von ,formativer Epoche' innerhalb der griechischen Entwicklung noch stärker hervortreten läßt, kehrt Robert Rollinger in die früharchaische Welt zurück. Die Tatsache, daß in den oben skizzierten Studien einhellig die Bedeutung des Orients für die griechische Entwicklung betont wird, insbesondere jedoch die von Sieberer gemachte Beobachtung, daß in beiden homerischen Epen die Ägäis und nicht die Balkan-Halbinsel der geographisch bekannte Zentralraum ist, verstärken die Sinnhaftigkeit seines Ansatzes. Den Impulsen vor allem Walter Burkerts, aber auch anderer folgend, geht Rollinger den Spuren in der Ilias nach, die als Folgen des direkten Kontaktes zwischen den Griechen und den orientalischen Kulturen interpretierbar sind. Er beschränkt seine Untersuchung auf im Textgeschehen der Ilias relativ leicht abgrenzbare Elemente des Kampfes und stellt diesen nicht nur ähnlich geartete aus den bekannten großen und nicht unbedingt zeitgleichen literarischen Texten wie dem Gilgamesch-, dem Erra-, dem Tikulti-Ninurta-Epos oder dem Agusaia-Lied gegenüber, sondern zieht auch neuassyrische Königsinschriften und Annalen, Vertragstexte, Fluchformeln und Orakeltexte, die in etwa in die gleiche Zeit wie die Ilias gehören, zum Vergleich heran. Dies ist es nicht allein, was den von Rollinger hergestellten Bezügen hohe Plausibilität verleiht. Nicht weniger ergibt sie sich aus zwei methodischen Forderungen, von denen seine Untersuchung ausgeht: Abhängigkeit ist nur dann wahrscheinlich, wenn die Motiv-Parallele „strukturelle Verknüpfungen" erkennen läßt, nicht nur „vage Entsprechungen". Und: Je höher die Dichte der „motivlichen Parallelen" im chronologischen Umfeld des infrage stehenden Motivs, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Beeinflussung, desto geringer die Wahrscheinlichkeit zufälliger, voneinander unabhängiger Parallelerscheinungen. Beeinflussungen im Sinn der Übernahme von fremden Elementen als „frei verfügbarer Bausteine" in einem neuen griechischen Ambiente erwägt Rollinger etwa für die in Glanz und Feuer bestehende Aura, welche einige wenige Helden (Diomedes, Achill, Hektor) in der Ilias so wie etliche neuassyrische Könige umgibt und Angst und Schrecken verbreitet, so daß allein deswegen schon die Gegner flüchten, oder für die im Kampf vor Troia vorauseilenden Götter, die wiederum in Berichten der

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neuassyrischen Könige über bestandene Kämpfe, aber ζ. B. auch in Orakeltexten, bis in Einzelheiten gehend, ihr Pendant besitzen. Konkrete Parallelen zeigen sich auch in Vorstellungen, auf welche Weise man den getöteten Feind noch über den Tod hinaus besonders schädigen könne, und unter anderem auch für die eigentümliche Passage (VII 100-102), in der Menelaos davon spricht, daß die Götter die „Seile des Sieges" in der Hand halten, was direkt mit dem Verhalten Istars, Assurs oder Erras in Parallele zu setzen ist, die alle „das Seil des Menschen" bzw. „das Seil des Himmels" in Händen halten. In der Frage, auf welchem Weg diese Motive und Vorstellungswelten zu den Griechen gelangt sein können, verweist Rollinger nicht nur auf die häufig als wichtige Kontaktzone genannte nordsyrische und südostkleinasiatische Region einschließlich von Zypern und Palästina, sondern vertieft auch noch einen Gedanken Walter Burkerts, daß orientalische Wanderpriester für deren Verbreitung verantwortlich zu machen sind, indem er neben anderen Argumenten auf die zum Teil sehr prekäre materielle Lage assyrischer Hofgelehrter verweist, welche diese wegen ihrer materiellen Not zur Mobilität zwang. Die Studie von Ingomar Weiler bezieht sich in gewisser Weise auf alle in diesem Band zusammengefaßten Arbeiten. Er hebt einleitend einen Gesichtspunkt hervor, der zwar in allen Beiträgen mehr oder weniger große Bedeutung besitzt, aber meist nur implizit behandelt wird. Er geht von der in „der rezeptionsgeschichtlichen Forschung etwas stiefmütterlich behandelten" Studie von Gustav Billeter Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums aus, um die doppelte Sichtweise des Verhältnisses von ,Griechen' und ,Orient', die die Diskussion in den Altertumswissenschaften vom vorigen Jahrhundert an bestimmt hat, ins Bewußtsein zu rufen. Auf der einen Seite des Spektrums steht die Auffassung des vom Orient ausgehenden Kulturdiffusionismus und damit - positiv bewerteter - Kulturvermischung, auf der anderen die Behauptung der weitgehenden bis völligen Autochthonie der Griechen, die meist von der Überlegenheit der Griechen ausgeht und in die sich nicht selten auch antisemitische Züge mischen. Weiler macht darauf aufmerksam, daß sich die mit diesen Standpunkten verbundene Debatte beinahe ausschließlich auf den „religiös-kultischen, künstlerischen und sprachlichen Bereich", weniger auf „politische und ökonomische Institutionen" konzentriert, während „soziale Perspektiven" schließlich auf „ein auffallend geringes Interesse" gestoßen sind. Aus diesem Grund widmet Weiler „zwei Aspekten" seine „besondere Aufmerksamkeit": erstens „der konkreten sozialen Interaktion zwischen Griechen und Orientalen" und zweitens „der komparativen Betrachtung orientalischer und archaischer griechischer Gesellschaftsordnungen und ihren Entwicklungen". Dies tut er auch deshalb, weil es trotz der nicht selten getroffenen Feststellung, daß die früharchaische Zeit für die griechische Geschichte formative Bedeutung besitze, keine eingehende Ursachenanalyse gibt, die erkennen läßt, ob die Entwicklung bestimmender Faktoren „hausgemacht" ist oder ob äußere Anregungen dafür als Auslöser anzusehen sind. Die Frage zu stellen, ist naheliegend, existieren doch östlich wie westlich der Ägäis Räume „mit geographisch vergleichbaren Gemeinsamkeiten". Als sich ausschließende Alternativen sollten die beiden Positionen nicht verstanden werden. In ihrer Beantwortung orientiert sich Weiler an dem von Fritz Gschnitzer gebo-

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tenen „tabellarischen Schematismus der Gesellschaftsordnung", modifiziert diesen aber bewußt und gezielt im Laufe seiner Überlegungen. In der Absicht, mögliche exogene Faktoren für die griechische Soziogenese ausfindig zu machen, mustert Weiler wesentliche Kategorien der im griechischen Raum nachweisbaren Sozialordnungen durch, um sie - so weit die Quellen reichen - auf Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu jenen in orientalischen Kulturen bzw. Staaten zu befragen. Den Ausgangspunkt bildet - gewissermaßen ein Gegenstück zu Rolllingers Überlegungen zu denkbaren Transferrouten vom Orient in den Westen - die mit vielen Beispielen belegte „griechische Mobilität" als eine wesentliche Grundlage für die Ausbildung griechischer Eigenständigkeit, aber eben auch für das Inkrafttreten von Akkulturationsvorgängen. Als erstes Beispiel augenfälliger Impulse aus dem Orient auf die Sozialordnung, wie sie an manchen, zuerst vor allem in im Osten gelegenen griechischen Orten sichtbar wird, wird die Tyrannis genannt - ein Phänomen, das angesichts der wohl nur geringen Bedeutung „monarchischer Elemente" in den Dark Ages ganz besonders der Erklärung bedarf. Etwas anders dürfte vermutlich der Wandel des griechischen Sozialgefüges in nachhomerischer Zeit zu beurteilen sein, wenn sich auch bezogen auf das für die altbabylonische Zeit anzunehmende „Dreiklassenschema" manche Ähnlichkeit mit der griechischen, eben auch keinesfalls eindeutig dichotomischen Ordnung feststellen läßt. Vor allem ist der Unterschied zu konstatieren, daß der in Griechenland zu beobachtende Trend zur Isonomie ein griechisches Spezifikum darstellt. Dem ist eine weitere griechische Besonderheit an die Seite zu stellen, nämlich die in Auseinandersetzung mit dem im eigenen Land weitgehend ausgegrenzt bleibenden Fremden, aber auch mit der Tyrannis gewonnene „Bürgeridentität" als Grundlage für die soziale Kategorie der „Bürgerschaft". Der Vergleich der verschiedenen Abhängigkeitsformen - nicht nur der Sklaverei - in orientalischen Kulturen und in Griechenland wird dadurch erschwert, daß in der Diskussion „auch ideologische Aspekte mit ins Spiel gekommen sind". Weiler selbst neigt dazu, die Unterschiede zwischen den Sozialgefügen im Orient und in Griechenland, insbesonders im Vergleich mit dem archaischen Griechenland, gering anzusetzen. Dies gilt ebenso für die da wie dort nachzuweisenden Randgruppen, aber auch für die soziale Stellung der Frau. In der alten in Verbindung mit der Position der Frau aufgestellten Behauptung, daß die Prostitution als Tempelprostitution mit der Göttin Aphrodite nach Griechenland ,exportiert' worden sei, verweist Weiler einleuchtend darauf, daß es wohl die demographischen wie sozialen innergriechischen Veränderungen gewesen sind, die zur Ausbreitung des Hetärenwesens im 7. Jahrhundert geführt haben. Stellen die von Weiler vorgetragenen Überlegungen in gewissem Sinn eine Warnung davor dar, zu direkt auf eine vom Orient ausgehende Beeinflussung zentraler Bereiche des Lebens der Griechen zu schließen, so zeigen sie wie alle anderen Beiträge doch, daß die Ausbildung dessen, was in der wissenschaftlichen Beschreibung als .griechisch' figuriert, ohne „exogene Faktoren" nicht hinreichend erklärt werden kann. Dies gilt auch - das will meine ans Ende gestellte Studie vorführen - für das Bewußtsein der an den Küsten Kleinasiens, auf den Inseln der Ägäis und auf der südlichen Balkan-Halbinsel

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lebenden Menschen einschließlich jener in den von ihnen gegründeten Siedlungen außerhalb dieses Raumes als ,Hellenen'. Die Überlegungen von R. Bichler haben deutlich werden lassen, daß dieses Gemeinsamkeitsbewußtsein in enger Relation zur Verfeinerung der Orientierung in Zeit und Raum zu sehen ist, es also nicht als vorgegeben vorausgesetzt werden kann. Völlig unabhängig davon, wie man sich die Veränderungen am Ende der mykenischen Zeit vorstellt, läßt allein diese Beobachtung schon die Auffassung fragwürdig werden, daß am ,Anfang' der Entwicklung der historischen Griechen große, sich ihrer selbst bewußte Einheiten wie die Ioner, Äoler oder Dorier gestanden haben. Diese Meinung kann auch durch die Archäologie nicht gestützt werden, und sie hat sich bekanntlich auch auf anderem Weg gebildet: Mittels einer ,Auswertung' der Mythen als direkte oder indirekte Quelle für die Frühzeit wurden schon vor dem 19. Jahrhundert Wanderungen ganzer Völker rekonstruiert. Aber erst am Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt dieses Bild - offensichtlich in enger Verbindung mit dem Wandel der machtpolitischen Verhältnisse in Deutschland - insofern einen neuen Akzent, als man diesen früher für nomadisch und staatenlos gehaltenen Völkern die politische Struktur eines ,Stammstaates' zuordnete. Das ,Ethnos' wurde als angeblich staatsrechtlicher Terminus und Gegenbegriff zum nicht weniger problematischen Wort ,Polis' zum ,Beweis' für die Existenz der,Stammstaaten' erhoben. Nicht nur das Wort ,Ethnos' wurde auf diese Weise seines im antiken Sprachgebrauch facettenreichen Bedeutungsfeldes beraubt, man verkannte auch, daß die Mythen bzw. Sagen nicht die Sprache der Erinnerung an alte staatlich strukturierte, auf Wanderung befindliche Stämme bzw. Völker sprechen. Ausgehend von den, wie ich meine, viel zu wenig beachteten Analysen, die Friedrich Prinz erarbeitet hat, kann an der Herakliden-Sage vorgeführt werden, wie diese unter dem Einfluß Spartas ab dem 7. Jahrhundert erst langsam bis ins 5. Jahrhundert aus einer spartanischen Herakliden-Sage zu einer Erzählung von der Wanderung von Doriern ausgehend von einer fiktiven Landschaft Doris - auf die Peloponnes wurde. Gleichzeitig kann aber auch gezeigt werden, daß diese Herakliden-Sage erst sekundär mit einer ursprünglich in Kleinasien ausgeformten Hellenen-Genealogie verknüpft wurde. Ehe das geschah, gab es keine gesamtgriechische Identität, sondern diese erscheint - angeregt zuerst durch die Begegnung kleinasiatischer und in der östlichen Ägäis lebenden Griechen mit den altorientalischen Kulturen - als das Produkt der sich verändernden demographischen, politischen und sozialen Verhältnisse im besonderen auf dem griechischen Teil der Balkan-Halbinsel. Gegen dieses Ergebnis kann auch das viel bemühte Argument der ,dorischen' bzw. .ionischen' Phylen nicht mehr ins Treffen geführt werden, erweisen sich doch diese nach einer neuerlichen Analyse, ähnlich wie das D. Roussel meinte, als Produkte jener Ethnogenese der Griechen bzw. einzelner Teile der Griechen, die sich auch in der Herakliden-Sage bzw. der Hellenen-Genealogie widerspiegelt. Alle hier kurz skizzierten Studien sind das Ergebnis eines im Jahr 1993 begonnenen Projekts, das mit teilweiser Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Wien am Institut für Alte Geschichte in Innsbruck durchge-

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führt wurde. Ingomar Weiler, Graz, hat sich in alter Verbundenheit mit Innsbruck spontan bereit erklärt, am Forschungsvorhaben mitzuwirken. 17 Alle Beiträge entstanden nach gemeinsamen Diskussionen, was zur ihrer partiellen Verflochtenheit geführt hat. Sie sind jedoch so eigenständig im Sinn einer keineswegs völlig gleichen Sicht der Zustände und Entwicklungen in dem von Griechen bewohnten Raum geblieben, wie es der jeweils persönlichen und wissenschaftlichen Charakteristik der Autoren entspricht. Am Ende einer Einleitung hat mit gutem Recht der Ausdruck des Dankes zu stehen. Er gilt zuerst allen Autoren für die Aufrechterhaltung des Gesprächklimas in nicht immer leichten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, dann auch den Kollegen in Freiburg i. Br. mit H.-J. Gehrke an der Spitze für die Möglichkeit, Teile der Argumentation in einem größeren Forum im Rahmen des „Freiburg-Innsbrucker Kolloquiums" vom 23. 2. bis zum 25. 2. 1995 vorzutragen, andere Vorträge zu hören und aus der Diskussion lernen zu können. Christi Kipp und Magret Isser haben viel von der zum Teil mühsamen Schreib- und Korrekturarbeit bewältigt. Nicht zuletzt richtet sich mein Dank aber auch an Herrn Manfred Karras, der die Idee, das Buch in das Programm des Akademie Verlags zu integrieren, sofort aufnahm und den Druck engagiert und mit großem Fachwissen betreute.

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Die ursprünglich für diesen Band noch vorgesehenen Studien von Godehard Kipp über die Datierung und Einschätzung des homerischen Demeter-Hymnos und von Peter Froschauer über die Frage orientalischer Einflüsse auf die Entwicklung der griechischen Polis konnten aus verschiedenen Gründen nicht gänzlich fertiggestellt werden und sollen daher an anderem Ort erscheinen.

Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung GÜNTHER LORENZ

1. Der Terminus ,Heros' und seine Implikationen Spätestens seit dem siebenten Jahrhundert vor Christus ist für Griechenland die Vorstellung literarisch belegt, daß (männliche und weibliche) Vorfahren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten am Anfang wichtiger sozialer Gruppen und Institutionen stünden und Zuwendung in den Formen des Totenrituals erhalten sollten. So jedenfalls möchte der Verfasser den Terminus ,Heros/Heroine', orientiert am altgriechischen Sprachgebrauch und an der deutschen Gegenwartssprache, explizieren und im folgenden verwenden. Dabei geht es nicht zuletzt um einen praktikablen Mittelweg zwischen umfassender und konkreter Begriffsexplikation, um möglichst alle Gestalten unterschiedlicher historischer Genese und religiöser wie sozialer Funktion einzuschließen, die in Altertum und Gegenwart unter diesem Terminus subsumiert worden sind. Im Hinblick auf die folgenden Überlegungen bedarf der eine oder andere Aspekt der Heroenvorstellung eines kurzen Kommentars1: Die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die den Heroen zugeschrieben wurden, konnten auf verschiedenen Ebenen liegen. In vielen Fällen wurde von ihrer erstaunlichen Körperkraft erzählt, die sie befähigt haben sollte, gewaltige Kriegstaten zu vollbringen, Untiere und Ungeheuer zu besiegen oder eindrucksvolle Bauten zu errichten. Der IliasDichter betont, daß zwei der Besten unter den Lebenden - also den Zeitgenossen mit normalen menschlichen Kräften - einen Stein nicht auf einen Wagen heben könnten, den Hektor mit Leichtigkeit geworfen hätte 2 . Vielleicht liefert sogar die Sprache ein Indiz, daß diese Eigenschaft die schlechthin grundlegende war: Es gibt zwar keine allgemein anerkannte Etymologie des griechischen Wortes ,Heros', doch bleibt es erwägenswert, ihm die Grundbedeutung ,der Starke' zuzuweisen. Jedenfalls würde dies zur lautgeschichtlich entsprechenden Sanskrit1 2

Immer noch nützlich und reich an Belegen der Artikel von Eitrem 1912 in der RE. II. 12,447. Auf die Stelle weist Hadzisteliou-Price 1973, 129 besonders hin.

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in früharchaischer

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Wurzel sara passen 3 , eine einleuchtende Bedeutung für die Namen der Göttin Hera (,die Starke') und des Helden Herakles - des Muskelhelden schlechthin! - und seiner Verwandten 4 sowie für viele weitere Eigennamen mit dem Element hero-/a- ergeben. Sogar eine Übereinstimmung mit Hesychs Worterklärung wäre dann zu konstatieren, die ήρως zunächst mit δυνατός, Ισχυρός gleichsetzt und dann erst mit γενναίος, σεμνός 5 . Das Außergewöhnliche an den Heroen bestand manchmal auch im Besitz von Zaubermitteln oder wunderbaren Tieren (ζ. B. Gorgonenhaupt des Perseus, Pegasos als Tier des Bellerophon, die redenden Pferde Achills) und schließlich in einem Naheverhältnis zu den Göttern. Da mochte der Liebespartner der göttlichen Sphäre angehören - dies ist ja das häufigste Erzählmotiv, das die Heroinen über die gewöhnlichen Menschen hinaushebt - , oder es wurde von einem besonderen Schutz- und Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Heros erzählt. Diese herausragenden Gestalten konnten mit Hilfe verschiedener Erzählungstypen an den Anfang von Gruppen und Institutionen gestellt werden: Man konnte sie als Urahnen oder Urmütter an die Spitze in einer Zeugungsreihe von Familien, Bevölkerungssegmenten wie Phratrien oder Phylen oder regionalen Volksgruppen stellen; man konnte ihnen die Führungsrolle bei Wanderung und Landnahme oder den Gründungsakt von Poleis, Amphiktyonien oder religiösen Kulten zuschreiben. Ganz konkret mochten auch die ersten Altäre oder Tempel an heiligen Stätten, ferner Burgen oder Mauern von ihnen errichtet sein; einem weiteren Erzähltyp zufolge hatten sie den Menschen Fähigkeiten und Kenntnisse wie Ackerbau, Weinbau oder Feuergebrauch vermittelt. Als Überwinder von Untieren und Unholden stellte man sie gewissermaßen auch an den Anfang der vertrauten Kulturlandschaft. Die rituellen Einzelzüge, die den sozusagen klassischen Heroenkult mit dem Totenritual verbinden, sind vielfältig: Da werden dunkelfarbige Tiere als Ganzopfer dargebracht - sie sind also ähnlich den Grabbeigaben für die Hinterbliebenen tabu, dem Gebrauch und Genuß entzogen - , Dämmerung oder Nachtzeit gelten als rechte Stunde dafür.

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Vgl. etwa die Bezeichnung Sarasvati (,stark an Wasser') für den Indus. Iphikles, im arkadischen Pheneos verehrt und von der Mythologie zu seinem Zwillingsbruder gemacht, trüge dann der Semantik nach den gleichen Namen; Alkmene, die in Boiotien als seine Mutter galt, paßt als ,Starksinnige' gut zu ihrem Sohn und zu ihrer göttlichen Konkurrentin, vgl. dazu auch unten S. 37f. Vgl. Hadzisteliou-Price 1973, 133 mit Hinweis auf Eitrem 1912,1111. Die dort hergestellte Verbindung von sansk. sara mit lat. servare und damit der semantische Sprung von ,stark, fest' zu .dienen' stößt auf phonetische Schwierigkeiten ("Ηρα erscheint kyprisch/arkadisch ohne das dann zu erwartende Digamma), scheint aber auch keineswegs nötig und zwingend. Daran hat sich auch Pötscher 1961, 302ff und 1987, 134—137 zu Recht gestoßen. Sein Gegenvorschlag - Verbindung mit ώρα und mit der Bedeutung ,reif' führt aber m. E. in neue Probleme und Unstimmigkeiten.

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Blut, Wein und - reinigendes oder durststillendes - Wasser6 scheinen ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Geopfert wird an einem alten Grab beziehungsweise in dessen Zugang (Dromos) oder auch an an anderen Bauresten oder natürlichen Geländemarken, die als Gräber interpretiert werden 7 ; schließlich werden eigene Kultplätze eingerichtet, die nicht selten im Tempel oder Temenos einer Gottheit liegen, aber weiterhin als Gräber angesprochen werden. Mitunter wird eine (Toten-)Schlange als Adressat der Opfergabe betrachtet; vermeintliche Relikte, vor allem Skelette, Knochen oder auch Gegenstände wie das angebliche Szepter Agamemnons, der Schild des Diomedes oder das Fell des Erymanthischen Ebers werden als Reliquien verehrt. Zumindest in Einzelfällen schließlich nehmen Spiele und Gemeinschaftsmähler einen Platz im Ritual ein; eine Affinität zur Orakel- und Heilfunktion ist gegeben. Wenn sich eine größere Anzahl von Griechen durch die Verehrung eines Heros oder einer Heroine untereinander verbunden wußte oder auch zu einem entsprechenden Fest zusammenkam, so muß jedenfalls die Gefühlsqualität, die sich dabei einstellte, manches mit dem sozusagen gewöhnlichen Totenritual gemeinsam gehabt haben: Das Gemeinschaftsgefühl wurde genährt durch die Idee der Deszendenz, der gemeinsamen Tradition oder des Vorbilds und Auftrags; erstrebt wurde die Zufriedenheit, Zuneigung und wohl auch der Schutz des toten Heros. Andererseits gab es natürlich auch Unterschiede: Das Gefühl der existentiellen Bedrohung, die Furcht vor Angriffen aus dem Totenreich, vor dem Nachgeholtwerden durch Krankheit und Tod, die bei aktuellen Todesfällen die Gefühlslage in einer Weise bestimmten, die auch aus den Totenritualen und -festen wie den Anthesterien ablesbar ist, müssen im Heroenkult in den Hintergrund getreten sein; die positiven und negativen Gefühle der Geschwister, Kinder und Enkel, die sich an reale Menschen mit ihren geschätzten oder auch unsympathischen Charakterzügen erinnerten, fehlten selbstverständlich; dafür bestand mangels konkreter Erinnerung großer Freiraum zur narrativen Erweiterung der tradierten Biographie des fiktiven Verstorbenen. Abschließend läßt sich sagen, daß die Heroen ihrem Wesen nach den griechischen Göttern sehr nahe standen, zumindest solange theologisch-philosophisches Denken die Gottesvorstellung noch nicht sehr gesteigert und sublimiert hatte, und sich im wesentlichen dadurch von ihnen unterschieden, daß sie - anders selbst als sterbende Gottheiten, die ja wieder ins Leben zurückkehren - als definitiv verstorben galten.

2. Frühe Belege und Indizien für die Heroenverehrung Die Frage, wann die Verehrung der Heroen durch die Griechen eingesetzt beziehungsweise einen neuen Aufschwung genommen hat, beschäftigt die Forschung, insbesondere angeregt durch die Arbeiten angelsächsischer Forscher wie J. N. Coldstream und

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Zur Bedeutung von Wein und Wasser bzw. Wein- und Wassergefäßen schon unter den Votivgaben des 8-/7. Jhdts., die an mykenischen Gräbern deponiert wurden, vgl. Hägg 1987, 96f sowie unten S. 26 Dazu ausführlich unten S. 26ff

Die griechische Heroenvorstellung

in früharchaischer Zeit

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Α. M. Snodgrass, in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten wieder verstärkt. Chronologisch gesehen, kommen dafür im wesentlichen das achte und das siebente Jahrhundert vor Christus in Betracht, und damit die Periode, die Gegenstand dieses Sammelbandes ist. Natürlich ist jede Nennung einer Gestalt, die in den ältesten Schriftquellen explizit oder implizit der Welt der Heroen zugeordnet wird, für das historische Problem relevant. Am konkretesten bekommt man dieses aber dort zu fassen, wo man literarische Anspielungen auf die oben kurz skizzierten rituellen Ausdrucksformen des Heroenglaubens sowie archäologische Spuren entsprechender Kulte entdeckt. Die Texte, Funde und Interpretationsansätze, die in der neueren Diskussion zum Heroenkult im engeren Sinne eine Rolle spielen, seien nun im folgenden kurz vorgestellt. Dabei wird vor allem auf Publikationen der letzten zwanzig Jahre Bezug genommen und die Stellungnahme im allgemeinen darauf beschränkt, ob der Bezug des Materials zum Heroenkult einsichtig ist. Weitere Überlegungen zum Kult wie auch zur eher gedanklich-literarischen Seite des Heroenkonzepts kommen im übrigen weiter unten zur Sprache. 2.1. Literarische Belege Daß Hesiod das Vorhandensein der Heroenvorstellung in Griechenland bereits voraussetzt, steht in der Forschung vor allem aufgrund der berühmten Passage in den ,Erga' (v. 156-173) praktisch außer Diskussion. Schwierigkeiten macht lediglich die Tatsache, daß nach Hesiod anscheinend nur ein Teil der Heroen vor dem boiotischen Theben und vor Troja vom Tode umhüllt wurde, während die anderen am Rande des Okeanos auf den seligen Inseln ein glückliches Leben führen sollen. Die zweite dieser Vorstellungen, die bei Hesiod nicht ganz bruchlos vereint und ausgeglichen erscheinen, ist in der Forschung unterschiedlich erklärt worden. Es könnte sich hier um das Fortleben mykenischer Vorstellungen handeln, wie besonders Martin P. Nilsson vermutet hat, während Walter Burkert mit dem Hinweis, daß auch der sumerische Flutheld auf die Insel Dilmun entrückt wird, in diesem wie in vielen anderen Fällen orientalische Anregungen erwägt 8 . Hinsichtlich der homerischen Epen erscheint es nicht ganz so klar, ob sie den - auch rituell schon entwickelten - Heroenkult voraussetzen oder nicht. Während Coldstream die Ansicht vertreten hat, daß es im wesentlichen die außerordentliche Wirkung dieser Dichtungen gewesen ist, die den Kult aufblühen und sich über ganz Griechenland verbreiten ließ9, hat Theodora Hadzisteliou-Price in einem vielbeachteten Aufsatz aus dem Jahre 1973 ein anderes Bild gezeichnet: Demnach hätte der Heroenkult zur Zeit der Ependichter schon existiert. Zwar sei die dramatische Zeit beider Dichtungen eben jenes Zeitalter, in dem die Heroen gelebt und vor Troja gefochten haben sollen, und so könnten jene Aspekte, die die Heroenvorstellung mit dem Totenkult verbinden, kaum zum

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Vgl. Nilsson 1976, 325ff, Burkert 1977,305; zur ganzen Diskussion Bichler 1995a, 49f mit Anm. Vgl. bes. Coldstream 1976, 14f

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Tragen kommen 10 , dennoch gebe es noch genug der Reflexe, die zeigen, daß die Dichter den Heroenglauben und -kult als bekannt voraussetzen. So käme das Attribut ήμίΰεοι nicht nur bei Hesiod, sondern ebensogut in der Ilias (12,23) vor 11 ; und die Dioskuren, die Brüder der Helena, würden als Tote unter der Erde angesprochen (II. 2,243) 12 . Besonders wichtig ist der genannten Forscherin der mehrfach erwähnte Grabhügel des Ilos, des Eponyms von Ilion/Troja, der laut II. 11,166-169 in der Mitte der Ebene auf dem Weg zur Stadt gelegen war 13 . II. 10,414f ist er jener - anscheinend markante und respektierte - Ort, wo Hektor mit den Trojanern Rat hält. Mit der letztgenannten Stelle ist freilich das Problem verbunden, daß sie der Dolonie angehört, die von vielen Forschern als besonders später Teil des Epos angesprochen wird. Eine analoge Schwierigkeit betrifft das mächtige Grab des Aipytos in Arkadien, das im Schiffskatalog figuriert (II. 2,603f). Hier bekennt sich Hadzisteliou-Price zu jener sehr umstrittenen Forschungsmeinung, die die genannte Aufzählung der Griechenkontingente vor Troja als besonders alten Teil des Epos betrachtet; gleichzeitig betont sie jedoch, daß dies in ihrer Sicht keineswegs auch schon bedeutet, daß das Grab des Aipytos ein mykenisches Relikt ohne Bezug zur Eisenzeit sein müsse 14 . Für die Odyssee verweist Hadzisteliou-Price auf die bekannte Stelle, wo Proteus dem Menelaos ankündigt, daß er ins Elysion eingehen werde (Od. 4,563), was sich eng mit der oben erwähnten Passage in Hesiods Erga berührt, und auf die Nekyia: Teiresias, keineswegs ein kraftloser Schatten, wie es der bekannten homerischen Hadesvorstellung entspräche, bekommt da von Odysseus das Versprechen eines schwarzen Schafes als Opfergabe 15 . Auf all diesen Hinweisen baut die Forscherin die Ansicht auf, daß auch die Totenspiele für Patroklos die Wettkämpfe im Heroenkult reflektieren und nicht das normale Totenritual bzw. eine dichterische Fiktion, die dann auf den Heroenkult gewirkt hat. Die Spiele beim Pelopion in Olympia etwa, die ja auch älter seien als die Epen, haben nach ihrer

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Hadzisteliou-Price 1973, 129. Hadzisteliou-Price 1973,132 und 133 (ήμί ΐ3εοι sind die Heroen allerdings erst nach ihrem Tode; das Epos blickt hier sozusagen auf den Zustand voraus, auf den Hesiod zurückblickt) Hadzisteliou-Price 1973,135. In der Nekyia werden ihnen götterähnliche Ehren zugesprochen: Od. 1 l,298f. In Therapnai wurden sie zusammen mit Helena verehrt, vgl. unten S. 29. Ob mit dem Worte πόλις im griechischen Text die Akropolis oder die Stadt als Ganzes gemeint ist, ob der Hügel somit innerhalb des befestigten Gebiets oder zwischen dem Schiffslager und der Festung vorzustellen sei, ist unklar (Hadzisteliou-Price 1973,138).Weitere Erwähnungen: II. 11,371; 20,232 sowie die oben im Text im folgenden zu besprechende Stelle. Hadzisteliou-Price 1973,140f. Ein analoger Fall findet sich im Troerkatalog, II. 2,814: Der Hügel Batieia (so seine Benennung durch die Menschen) ist für die Götter(!) das Grabmal der sprunggewandten Myrine (vgl. auch unten S. 53). Hadzisteliou-Price 1973, 134f mit Hinweis darauf, daß das schwarze Schaf als Totenopfer auch 10,527, in der Kirke-Episode, begegnet.

Die griechische Heroenvorstellung

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Meinung den Ependichter inspiriert und nicht umgekehrt - eine These, der kürzlich auch Wickersham gefolgt ist 16 . Im ganzen reichen die von Hadzisteliou-Price vorgebrachten Argumente wohl aus, um die Existenz nicht nur einzelner Heroengestalten, sondern auch des Heroenkultes vor der Abfassung der Epen anzusetzen 17 . Die Schwierigkeit, daß besonders wichtige Beispiele, die die genannte Forscherin beibringt, vermutlich späten Partien der Dichtungen angehören 18 , kann freilich nicht ganz übersehen werden. Mit dieser Überlegung streifen wir erstmals die Datierungsfrage der Epen, zu der sich alle Forscher, die sich mit den Anfängen des Heroenkults befassen, nolens volens, implizit oder explizit, äußern müssen. So scheint Hadzisteliou-Price, die sehr betont, daß die Epen Verhältnisse der geometrischen Zeit und nicht etwa mykenische Zustände zum Hintergrund haben, eher an das Ende des achten Jhdts. zu denken. Da Coldstream die ersten archäologischen Indizien für den Heroenkult um etwa 750/730 v. Chr. ansetzt19 und ihn von den Epen inspiriert sieht, muß er auch die Epen höher hinaufrücken. Stefan Hiller vertritt zwar wie Hadzisteliou-Price die Meinung, daß die Epen den Heroenkult bereits reflektieren und sucht den historischen Hintergrund für die in der Odyssee erzählte Fahrt des Menelaos nach Ägypten ebenfalls im achten Jhdt. 20 Da die Ereignisse des Lelantischen Krieges, die Gräber am Westtor von Eretria21 und von Salamis auf Zypern für ihn eine Lebenshaltung reflektieren, die aus der Nachahmung der homerischen Welt erwächst, ergibt sich allerdings auch nach Hiller ein früher Ansatz für die Epen 22 . Die Annahme, daß der Heroenkult mehr oder minder ungebrochen in die mykenische Zeit zurückreicht und daß die homerischen Griechen buchstäblich auf den Spuren der Mykenäer wandelten, macht es Hiller im übrigen möglich, die Epen zugleich als Zeugnis für diesen Kult und als Vorbild für seine Verbreitung und Intensivierung zu sehen 23 . Anders als Hiller geht der italienische Gelehrte Carlo Brillante von einer Abfassung beider homerischen Dichtungen wohl um 700 v. Chr. aus; aus den bildlichen Darstellungen von Sagenszenen aus dem siebenten und sechsten Jahrhundert, die oft stark von der Gestaltung dieser Stoffe in den Epen abweichen, erschließt er aber, daß Ilias und Odyssee noch nicht stark verbreitet waren und dementsprechend auch keinen dominierenden

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Hadzisteliou-Price 1973, 143; Wickersham 1991,5. Herrmann 1987, 430 möchte solche Spiele wegen des „Nachklangs bei Homer" und wegen des auch sonst aufwendigen Totenkults der Bronzezeit auch schon für die mykenische Zeit erwarten bzw. voraussetzen, obwohl ein eigentlicher Nachweis auch nach seiner Ansicht nicht möglich ist. So urteilt auch Patzek 1992,171 und 176. Dazu gehört m. E. auch der Schiffskatalog. Die Jahreszahlen hängen an der Datierung der spätgeometrischen Keramik, vgl. dazu unten S. 27 Vgl. dagegen ausführlich Haider 1988a,211-220 mit Diskussion älterer Literatur. Vgl. dazu unten S. 32. Hiller 1983, bes. 9 (mit Hinweis auf Coldstream und Snodgrass), 10 (Menelaos-Fahrt) und 13. A.O. bes. lOf. Zur Kontinuitätsfrage vgl. unten S. 33ff.

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Einfluß gehabt haben können, was sich erst im 6. Jhdt. geändert hätte 24 . Die Annahme eines kontinuierlichen Heroenkultes seit mykenischer Zeit verbindet ihn aber mit Hiller 25 . Die Frage der Kontinuität des Heroenkultes und des Zeitpunkts der epischen Reflexe soll unten (S. 33ff, 46ff) wieder aufgenommen werden; vorläufig sei unsere Skizze einiger wichtiger Forschungspositionen zur frühen literarischen Bezeugung des Heroenkultes abgeschlossen. Im folgenden wenden wir uns den vermutlichen archäologischen Indizien für das Aufkommen dieses Kultes zu.

2.2. Archäologische Indizien Manchmal tut man gut daran, sich zu erinnern, daß archäologische Fundbestände nie für sich selbst sprechen, sondern interpretiert werden müssen. Das gilt auch und in besonderem Maße für jene Materialien, die mit den Anfängen des griechischen Heroenkults in Zusammenhang gebracht werden. Sie zerfallen im wesentlichen in drei Kategorien: * Erstens vermutliche Votivdepots aus dem achten und siebenten Jhdt. v. Chr. an mykenischen Gräbern, * zweitens Kultspuren gleichen oder auch höheren Alters an Stätten, die durch spätere Schriftzeugnisse (Inschriften oder Literatur) mit dem Heroenkult in Verbindung gebracht werden, aber keine mykenischen Grabstätten aufweisen, und schließlich * drittens auffällige Anlagen der geometrischen und archaischen Epoche, die manche Forscher auch ohne schriftliche Indizien daran denken lassen, daß hier Heroen verehrt wurden. Die drei Gruppen von Fundbeständen seien im folgenden, auch wieder mit Bezug auf ihre Bedeutung in der neueren Diskussion und in aller gebotenen Kürze, besprochen. Dabei betrachten wir die einzelnen Kategorien zunächst für sich; die Frage nach ihrem historischen Zusammenhang wird sich anschließend stellen. Zunächst zu den Depots, die entweder in der Einsturzmulde oder im Dromos mykenischer Kuppelgräber oder auch an bzw. in Kammergräbern aus der Bronzezeit angelegt wurden: Sie waren, wie der schwedische Archäologe Robin Hägg anläßlich einer neuerlichen kritischen Revision der Bestände betont, nicht ganz einheitlich zusammengesetzt, doch gehörten so gut wie immer große Ton- oder Bronzegefäße dazu, die am ehesten für Wasserspenden (Reinigungen, Bäder) gedacht gewesen sein mögen. Dazu kamen kleinere Trink- und Spendegefäße, Miniaturkeramik, Terrakottaschilde, bemalte Pinakes sowie Figuren von Pferden, Reitern öder auch weibliche Gestalten aus eben diesem Material, Fibeln und Gewandnadeln 26 . Brandspuren, Aschenreste und Tierknochen sind 24 25 26

Brillante 1986, 167. Brillante 1986, 169. Die entscheidende und seither viel diskutierte Zusammenstellung des Materials lieferte Coldstream 1976, 9-12, dazu die oben erwähnte Revision Hägg 1987, 93-99. Den eher bescheidenen Charakter der Gaben betont Morris 1988,753. Den Hinweis auf die Miniaturkeramik verdanke ich einem Referat von David Boehringer, Freiburg i.Br., mit Bezug auf den Kult in Thorikos(Attika).

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nach Hägg nur in geringem Maße vorhanden 27 . Dem Stil nach setzen die Funde, Coldstream zufolge, in der Regel im ausgehenden achten Jahrhundert ein 28 , mancherorts auch erst im siebenten Jahrhundert v. Chr. Sie ziehen sich dann über Jahrhunderte, meist bis in die klassische Zeit 29 . Der zeitliche Abstand bzw. Bruch zwischen mykenischer Anlage und späteren Votiven ist stets eindeutig 30 , neue Beisetzungen sind nicht erfolgt. Regional konzentrieren sich diese Depots an mykenischen Gräbern auf drei griechische Landschaften: Für die Argolis sind insbesondere die Flur Prosymna beim Heraion von Argos sowie die Schacht-, Rund- und Kammergräber von Mykene, aber auch das engere Stadtgebiet von Argos zu nennen 31 , einen weiteren Schwerpunkt bildet Messenien im weiteren Umkreis von Pylos, wo es anscheinend auch zu Ganzopfern von Hirschen und Ochsen gekommen ist 32 , und schließlich ist eine Reihe weiterer derartiger Plätze etwas lockerer in Attika und Boiotien verstreut (Menidi, Aliki, Thorikos; Orchomenos und Theben) 33 . Dazu kommen noch Einzelfälle aus Arkadien (Tholos von Analipsis) und Korinth sowie von den Inseln Kephallenia, Paros und Delos, wenn man die ,Theke der Opis und Arge' hier einreihen möchte 34 . Versuchen wir diese Funde für sich zu betrachten und ihre Bedeutung vorläufig einzuschätzen, so wird man eines wohl sagen können: Die Depots galten der rituellen Ehrerbietung gegenüber den Grabinhabern, von denen man wissen mußte, daß sie vor längerer Zeit verstorben waren. Jedenfalls handelte es sich nicht um den Totendienst an Eltern oder Großeltern. Damit nähert man sich ohne Zweifel dem Inhalt des Terminus Heroenkult. Die spezifischen rituellen Besonderheiten, die das Heroenopfer später aufwies, zeichnen sich aber nicht ganz so deutlich ab, wie man dies wünschen möchte, und vor allem - dies ist besonders irritierend - fehlt eine inschriftliche Zuweisung einer Votivga-

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Hägg 1987,96 und 98. Coldstream 1976 passim, bes. 9 und 15. Das bedeutet in Coldstreams Terminologie Late Geometrie II, was wesentlich ist, denn von den orientalischen Typenreihen her datierbare Fundbestände aus Euboia, Zypern, Kilikien und Phönikien ergeben jetzt, daß die spätgeometrische Keramikproduktion schon um 800 v. Chr. begann (vgl. dazu P.W.Haider in diesem Band S. 60 Anm. 4.) - das wäre nach Coldstreams Klassifikation Late Geometrie I. Vgl. dazu auch die Tabelle Coldstream 1977,385. Die interessante Frage, wann und warum die Kulte enden, steht hier nicht zur Diskussion. Dies betont zu Recht und mit großem Nachdruck Hadzisteliou-Price 1973,129 und 131 Vgl. Coldstream 1976, 9f; Morris 1988, 759 spricht für Prosymna von 12 strong cults, für Mykene von 6 und für Argos von 3. Coldstream 1976, 10f. Coldstream 1976,11. Vgl. auch Polignac 1984,138 über das Grab des Amphion und Zethos über einem helladischen Grab am Rand der Kadmeia. Vgl. Coldstream 1976,10 (Korinth, Analipsis) und 12 (Kephallenia/Metaxata, Delos); zu Delos auchAndronikos 1968,128, Brillante 1986,171; zu Koukounaries auf Paros Morris 1988,75 lf, jeweils mit Hinweisen auf die Ausgrabungsberichte und ältere Literatur. Morris gibt zu bedenken, daß es sich im Falle von Paros möglicherweise um einen Höhlenkult gehandelt haben könnte, bei dem die in der besagten Höhle vorhandenen mykenischen Gräber gar nicht wahrgenommen wurden - vielleicht eine ähnliche Situation wie in Ithaka, vgl. dazu unten S. 30.

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be an einen konkreten Heros. Am nächsten kommt dem noch der Schriftzug auf einer schwarz glasierten Scherbe des 5. Jhdts. mit dem Wortlaut τοΰ ήρώος έμι aus dem Bereich des Gräberrunds Α zu Mykene - doch fehlt auch hier der Name 35 . Auch die Stifter werden nirgendwo schriftlich genannt, und ihre soziale Herkunft läßt sich aus Wert und Art der Votive nur vage erschließen 36 . Für die zweite Gruppe von Fundbeständen mit frühen Kultspuren gibt es zwar, wie bereits gesagt, einen Heroennamen aus historisch hellerer Zeit, aber keinen klaren Bezug auf ein mykenisches Grab. Auch hier seien die wichtigsten Örtlichkeiten genannt, wobei es jeweils auf die frühen eisenzeitlichen Kultspuren, auf die früheste Benennung in historisch heller Zeit und auf die bronzezeitlichen (oder gegebenenfalls älteren) Funde ankommt. Amyklai in Lakonien: Es sind hier keine mykenischen Bauten nachgewiesen, wohl aber Opferreste aus mykenischer, protogeometrischer und geometrischer Zeit; später entstand ein eindrucksvoller Kultplatz für Apollon und Hyakinthos, einen Heros mit klar vorgriechischem Namen 37 . Gipfel des Hymettos in Attika: Auf dem ,Hausberg' Athens reicht die Keramik bis ins 10. Jhdt. v. Chr. zurück, und Graffiti aus dem 7. Jhdt., die durch ihre große Zahl (154) einen wichtigen Platz in der Geschichte der Alphabetisierung Griechenlands einnehmen, nennen neben Zeus den Herakles als hier verehrte Gestalt38. Freilich - bei näherem Zusehen reduziert sich die Rolle des Herakles an dieser Stätte sehr, denn es sind nur zwei - noch dazu fragmentarische - Graffiti auf Fels und auf einem Gefäßrand, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den Heros beziehen 39 . Athen, Heiligtum des Akademos/Hekademos: Nicht weit von der Stätte, an der Jahrhunderte später die Schule Piatons ihren Sitz fand, sind zwei Fundbestände zutage gekommen, die in der hier zu referierenden Diskussion eine Rolle spielen: Ein Depot von etwa 200 Kantharoi aus der Zeit um 900 v. Chr. sowie, etwa 150 englische Fuß entfernt, ein Lehmziegelgebäude mit sieben Räumen aus dem späten 8. Jhdt. Einer dieser Räume barg einen Opferherd mit mehreren Aschenschichten, Tierknochen und spätgeo-

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Vgl. Coldstream 1976,10, auch Morris 1988,752. Eine Studie von David Boehringer wird demnächst einen Versuch in dieser Richtung präsentieren. Vgl. Dietrich 1987,486 mit Lit., Leveque 1991,264 versieht die Datierung der Kultspuren in Amyklai für das lO.Jhdt. mit einem Fragezeichen, reiht es aber für das 9.Jhdt. als gesichert ein. Er bietet eine Liste von chronologisch weit in die Dark Ages zurückreichenden Heiligtümern, die für die hier folgende Aufzählung ausgewertet worden ist. Funde aus Sklavochori bei Amyklai belegen vielleicht einen Heroenkult für Agamemnon und Kassandra/Alexandra, vgl. Antonaccio 1993,55 mit Lit. Vgl. M.K.Langdon, A Sanctuary of Zeus on Mount Hymettos (= Hesperia Suppl. 16) 1976; Brillante 1986,171; Stoddart/Whitley 1988,764. Vgl. Langdon 1976,15 (Graffito Nr. 9 auf Gefäßrand) und 41 (Graffito Nr. 173 auf Felsboden). Langdon ist überdies der Auffassung, daß der Herakles-Kult vom Zeus-Kult unabhängig zu sehen ist, da ihm ein Altar in 31 Meter Entfernung vom Zeus-Heiligtum gewidmet war (S. 98). Ein mythisch-kultischer Zusammenhang der beiden auch sonst in der Mythologie verbundenen Gestalten wird aber durch diesen Befund nicht ausgeschlossen.

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metrischer Keramik. „In der Nähe" wurden auch die Reste einer frühhelladischen Siedlung festgestellt, aber wiederum kein Grab 40 . Athen, Bereich des Erechtheions auf der Akropolis: Die exakte Lokalisierung der Kultmale für den Heros Erechtheus im berühmten Bau des späten 5. Jhdts. ist bekanntlich nicht ganz einfach, während die Stelle des Kekropions durch die Bauabrechnung eindeutig beschrieben wird. Wieder handelt es sich nicht um wirkliche Gräber, wohl aber, unter der Nordhalle des Erechtheions, um einen alten, umfriedeten Kultplatz unter freiem Himmel, der vermutlich bis in die neolithische Zeit zurückgeht. Das Kekropion könnte ein Felsbuckel gewesen sein, der als Grab betrachtet wurde. Olympia: Bekanntlich ist auch das Pelopion kein mykenisches Grab, obwohl es später als Grab des Pelops aufgefaßt wurde; auch mykenische Siedlungsreste fehlen in der Altis, und die bisher spärlichen mykenischen Kleinfunde vermehren sich nur langsam. Nach Meinung von Hans-Volker Herrmann reichen diese zwar schon aus, um Kontinuität (welcher Art?) zu belegen, aber auf sicherem Boden, was die kultische Bedeutung des Platzes betrifft, bewegen wir uns doch erst für das achte Jhdt. v. Chr. Später hatte hier der Heroenkult für Pelops durchaus eine gut belegte eigenständige Bedeutung neben dem von Hera und Zeus, und vielleicht macht es auch Sinn, Pisa und damit den Ort, wo der Mythos den König Oinomaos ansiedelt, nach dem Vorschlag von Herrmann auf dem benachbarten Hügel bei dem Dorfe Drouva zu suchen 41 . Therapnai in Lakonien: Die Höhe über dem Ostufer des Eurotas südlich von Sparta trug in spätmykenischer Zeit eine kleine Siedlung, über der später das Menelaion, in klassischer Zeit mit einem Stufenbau ausgestaltet, entstanden ist. Weihegeschenke wurden aber spätestens seit dem 7. Jhdt. v. Chr. hier deponiert. Bei einer Grabungskampagne des Jahres 1974 holte man aus einer Grube, in der - wohl bei der Fertigstellung des klassischen Menelaions - ältere Votivgaben deponiert wurden, unter anderem einen protokorinthischen Aryballos mit der Aufschrift: „Deinis hat diese Dinge der Helena, der Gattin des Menelaos, gestiftet", sowie einen Bronzehaken mit der Widmung „Für Helena"42. Neben Helena wurden auch Menelaos und die Dioskuren hier verehrt 43 . Wieder wurde kein Grab gefunden, doch hat H. W. Catling vermutet, daß die zwei Geländekuppen, auf denen sich die Votivgaben befanden, als Grabhügel für den Heros und die Heroine betrachtet wurden 44 .

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Coldstream 1973,16; Brillante 1986,170f; auch Morris 1988,753. Vgl. Herrmann 1987, 426ff, bes. 427 und 436 über mykenische Funde, 433f über die Kontinuitätsfrage (auch mit Hinweisen auf die Skepsis von Burkert, Desborough, Coldstream und Rolley) sowie 430 über den Pelops-Kult. Catling 1975/76,13f und 1976/77, 36 mit Abb. 2 5 - 2 7 . Vgl. die Zusammenfassung des Wissensstandes bei Catling 1976/77 passim; bes. 36 mit Hinweis auf den Neufund einer Votivstele für Menelaos; ferner Kirsten/Kraiker 1967, 408f; Coldstream 1976,15; Dietrich 1987,486 (mit Lit.) Catling 1975/76, 14 und 1976/77,34; Morris 1988,753.

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Mykene, Agamemnoneion: Ein kleiner Kultschrein, den Graffiti auf Vasen dem Agamemnon zuweisen, befand sich nicht an der Stelle einer mykenischen Beisetzung, und nach Pausanias 2,16,6 lokalisierte man das Grab des Heros etwa in einer Entfernung von einem Kilometer. Die hier gefundenen Votivgaben setzen mit dem ausgehenden achten Jahrhundert ein und und reichen ohne Unterbrechung ins fünfte, was Coldstream mit der Zerstörung Mykenes durch Argos im Jahre 468 v. Chr. in Zusammenhang gebracht hat. Der Kult lief bis in die hellenistische Zeit weiter, wie Keramik und beschriftete Dachziegel zeigen. Die Datierung der erwähnten Graffiti schwankt freilich zwischen dem sechsten und dem vierten Jahrhundert 45 . Sunion an der Ostspitze Attikas: Ein Schrein für den Heros Phrontis dürfte hier ab etwa 700 v. Chr. existiert haben 46 . Die Odyssee (3,284f) erzählt, Menelaos habe an diesem Ort seinen Steuermann begraben. Morris meint, dies könnte genügt haben, um auf dem Kap einen Kult einzurichten 47 , doch muß natürlich die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß die Verse jünger sind und einen schon vorhandenen Kult aufgreifen. Ithaka: In einer Höhle oberhalb der Polis-Bucht an der Westküste jener Insel, die in der klassischen Zeit und auch heute wieder diesen Namen trägt 48 , sind Funde zutage gekommen, die von der mykenischen Zeit bis ins erste Jahrhundert n. Chr. reichen. Besonders bemerkenswert erscheinen dabei rund ein dutzend Dreifußkessel aus dem neunten oder achten Jahrhundert. Eine Inschrift bezeugt, daß hier Odysseus verehrt wurde - aber erst für die Zeit um etwa 100 v. Chr.! Da nicht einmal die Identifikation der homerischen Insel Ithaka mit jenem Eiland, das später diesen Namen trug, gesichert ist, muß es offen bleiben, ob wir es hier mit einem früh einsetzenden Heroenkult zu tun haben, und ob wir ihn mit Odysseus in Verbindung bringen dürfen. In der Höhle gab es übrigens mykenische Gräber, doch ist es nicht gewiß, daß die Stifter der archaischen Votive sie überhaupt wahrgenommen haben 49 Vielleicht sollte man auch das Heiligtum der Artemis - und Iphigenie! - in Brauron unter dieser Rubrik in die Betrachtungen einbeziehen 50 . Aufs ganze gesehen muß auffallen, daß jene Stätten, die relativ frühe Kultspuren aufweisen und für die uns gleichzeitig auch die Namen der später hier verehrten Heroen

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Cook 1953 passim, bes. 33.64ff mit fig. 38; dazu Coldstream 1976, 10 und 15 sowie Hägg 1987,97; Morris 1988,753. Picard 1940; Abramson 1979; danach Morris 1988,753. Morris 1988,753. Das bedeutet noch nicht eo ipso, daß der Odyssee-Dichter wirklich diese Insel gemeint bzw. sie gekannt hat, vgl. Sieberer 1990 passim. So Morris 1988,753 unter Hinweis auf Benton 1934/35,52 bis 56; vgl. Sieberer 1990 passim, bes. 162f. Morris weist aO übrigens darauf hin, daß eine Inschrift des 7.Jhdts.- es handelt sich um IG IX, 1,653 - , die aus der Höhle stammen soll, sich auf Athena und Hera bezieht. Das Fundmaterial läuft dort in LH IIIB und C allmählich aus und setzt mit dem 8./7.Jhdt. wieder ein, vgl. Hollinshead 1980,31-36.

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bzw. Heroinen bekannt sind, überwiegend nicht an mykenischen Gräbern, sondern vielmehr am Ort mykenischer Siedlungen oder Kultplätze lokalisiert waren 51 . Auch bestand an der Mehrheit dieser Orte in historischer Zeit neben dem Heroenkult ein Kult für eine der sogenannten olympischen Gottheiten. Zur Minderheit gehören in diesem Zusammenhang Therapnai, wo aber immerhin die Dioskuren Verehrung genossen, die notorisch zwischen dem Status von Heroen und jenem von Göttern schwanken, die Akademie in Athen sowie das Agamemnoneion von Mykene und wohl auch Ithaka. Unter den Heroen bzw. Heroinen, die an solchen alten Kultstätten einen Kult erhielten, sind im übrigen Zentralfiguren der griechischen Mythologie beziehungsweise der Epen wie Herakles, Pelops, Agamemnon, Menelaos, Helena und Iphigenie. Zuletzt noch einige Worte zu den Anlagen der geometrischen und archaischen Epoche, welche die Forschung auch ohne schriftliche Indizien an Heroenkult denken lassen. Am wichtigsten ist hier ohne Zweifel das sogenannte Heroon von Lefkandi auf Euboia. Bekanntlich gehört die dortige Hauptbestattung - es handelt sich ja um einen Krieger, dessen Leichnam verbrannt worden war, eine körperbestattete Frau und die Skelette der vier Pferde, die vermutlich den Leichenwagen gezogen hatten, sowie für die Zeit überraschend reiche Beigaben - ins zehnte vorchristliche Jahrhundert. Sie war unwissentlich über einem mykenischen Grab (so drückt es Welwei 1991 aus) beziehungsweise im Zentrum eines protogeometrischen Friedhofs (so Brillante 1986,171) angelegt worden; darüber entstand ein Apsidengebäude von bemerkenswerter Größe, das wohl dem Totenkult diente, aber nur kurze Zeit in Benützung war, weil es bald einstürzte. Es wurde aufgefüllt und mit einem großen Hügel überdeckt, ein Friedhof davor wurde noch bis etwa 825 v. Chr. mit weiteren Beisetzungen belegt. Der Umstand, daß der archäologische Befund eine kultische Bedeutung der Stätte wohl nur für drei bis fünf Generationen vermuten läßt, spricht für die Einschätzung der Skeptiker, die bezweifeln, daß es sich um einen Heroenkult im späteren Sinne gehandelt habe 52 . Skepsis ist auch gegenüber der Einschätzung von Stefan Hiller angebracht, in der Beisetzung des Herrn von Lefkandi spiegle sich ein Lebensstil nach dem Modell der heroischen Tradition, die damit als existent und vorbildhaft vorausgesetzt wird 53 . Bei dem Toten von Lefkandi handelt es sich wohl um einen führenden Gutsherrn, der seine Chancen in einer begünstigten Region, die nach den Umbrüchen des zwölften und elften Jahrhunderts relativ früh zur Ruhe gekommen war 54 , zu nutzen wußte. Sein Andenken und die Aura um sei-

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Das ist einer der Gründe, weshalb Antonaccio 1993, bes. 59 und 61, Heroenkult und Grabkult trennen möchte. Sunion und der Hymettos scheinen im übrigen in mykenischer Zeit keine Rolle gespielt zu haben. Vgl. etwa Calligas 1988,232, Welwei 1991,59 und 1992,70, Antonaccio 1993,51; skeptisch auch schon de Polignac 1984, 92 und Mazarakis-Ainian 1985,8. Hauptpublikation des archäologischen Befundes Popham/Sackett 1968, kurz zusammengefaßt auch bei Blome 1984, Calligas aO.; vgl. ferner Brillante 1986,171; Morris 1988,753. Hiller 1983,14. Vgl. dazu auch unten S. 34. Ein Indiz dafür sind neben dem relativ großen Bauaufwand die orientalischen Beigaben.

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nen Begräbnisplatz waren stark genug, um bis zu den Enkeln und Urenkeln weitere Beisetzungen anzuziehen, dann aber verebbten sie. Ein weiterer Kult für erst jüngst Verstorbene erscheint durch den archäologischen Befund in der geometrischen Nekropole am Barbouna-Hügel von Asine nahegelegt: Robin Hägg interpretiert eine Anlage von drei kreisrunden Steinplattformen und einem Depot erstklassiger spätgeometrischer Trinkgefäße lokaler Produktion als Stätte für Totenmahlzeiten, die allerdings nicht sehr lange in Gebrauch war 55 . Längeren Bestand hatte ein anscheinend ebenfalls geheiligter Platz auf Naxos: Eine Anzahl von Gräbern der späten protogeometrischen Phase wurde hier im Schutt der verlassenen bronzezeitlichen Siedlung (Grotta) beziehungsweise im Bereich der damals noch erkennbaren mykenischen Befestigung (Mitropolis-Areal) angelegt. Direkt über einer Einzelbeisetzung dieser Phase an der Befestigung fanden die Ausgräber eine meterdicke Aschenschicht. Während sie wuchs, wurde der Platz immer wieder neu mit Steinen eingefaßt; die Feuer wurden in der mittleren geometrischen Phase - offenbar seltener - auf dafür angelegten einfachen Plattformen aus Steinen und Kieseln entzündet. In spätgeometrischer Zeit wurde der Platz dann anscheinend mit Lehmziegeln abgedeckt und ein Tumulus aufgehäuft. Abgesehen von Keramik des sechsten Jahrhunderts zeigen sich keine weiteren Hinweise auf einen fortgesetzten Kult, doch wurde erst in römischer Zeit an dieser Stelle gebaut 56 . Schließlich gehört auch noch die Nekropole vor dem Westtor von Eretria zu dieser Gruppe: In ihrem Zentrum befinden sich die Gräber von sechs Kriegern - das älteste und reichste wird in die Zeit um 720 v. Chr. datiert - über denen um 680 ein dreieckiger Bau errichtet und bis in die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts ein Kult ausgeübt wurde. Kinder und Jugendliche in der umliegenden Nekropole erhielten übrigens Erdbestattungen, ansonsten handelt es sich um Brandgräber. Dieser Befund wurde von den Schweizer Ausgräbern dahin gedeutet, daß hier ein großer Herr sowie seine Hetairoi zur letzten Ruhe gebettet und von der aufblühenden Polis Eretria in ihrer Gesamtheit verehrt wurden 57 . In den zuletzt genannten Fällen wurde die Örtlichkeit einer Bestattung der geometrischen Zeit - anders als im Falle Lefkandis und Asines - über viele Generationen besonders respektiert. Asine und Eretria liegen im übrigen der Chronologie nach gleich mit

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Hägg 1983,189-194. Als - möglicherweise auch in unserem Zusammenhang bedeutsame - Parallele zieht Hägg übrigens 28 Steinplattformen der Phase Troja VIII vor der damals sicher noch eindrucksvollen Befestigung der bronzezeitlichen Stadt heran(190f.) Auf Asine verweist auch Morris 1988,753. Vgl. die zusammenfassende Darstellung und Interpretation von Lambrinoudakis 1988,235-245, bes. 238f, mit Plänen und Abb.; Morris 1988,753f referiert nach den vorausgegangenen Berichten von Lambrinoudakis / Zapheiropoulou 1983, 1984 und 1985. Berard 1970,68; vgl. Coldstream 1976,15, de Polignac 1984,140-146 (mit Betonung, daß es sich nicht um die Beisetzung eines Monarchen handelte, weil es in geometrischer Zeit gar keinen solchen gab und Welwei 1991,59.

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den Votivdepots an mykenischen Gräbern, Naxos reicht weiter zurück und nimmt dadurch eine Ausnahmestellung ein. Immerhin erfolgte gegen 700 v. Chr. auch hier eine deutliche Umgestaltung. Für Naxos und Eretria erscheint es vorstellbar, daß viele Generationen ein und derselben Familie Grabstätten geehrt haben, sodaß aus dem einfachen Totenkult ein Ahnenkult wurde 58 . Gefolgschaften mögen sich dabei angeschlossen haben - der Fall Eretria legt dies zumindest nahe, wenn nicht die aufstrebende Polis als solche hinter der dortigen Anlage steht. Daß man die Toten von Naxos und Eretria zu den Heroen zählte, wird neben der langen Dauer des Kultes durch die Aus- und Umgestaltung der Anlagen nahegelegt; sicher können wir uns dessen aber dennoch nicht sein 59 .

3. Zur historischen Einordnung der Heroenvorstellung - Teil I 3.1. Grundpositionen Zwei grundsätzliche Forschungstendenzen sind zu beobachten, wenn es um die historische Einschätzung und Einordnung der griechischen Heroenvorstellung und um die Interpretation des oben vorgestellten Quellen- und Fundmaterials geht, und sie sind offenbar vom Gesamtbild, das sich ein Forscher vom großen Ablauf der griechischen Geschichte macht, kaum zu trennen. Die eine dieser Denkrichtungen ist geleitet vom Gedanken einer starken Kontinuität zwischen der minoisch-mykenischen Kultur der Bronzezeit und der griechischen Kultur der Eisenzeit, die mit Homer und Hesiod auch in den Formen der großen Literatur zu uns zu sprechen beginnt. Die andere Haupttendenz betont eher den Bruch zwischen den beiden Perioden und die Neuerungen, die die Dark Ages und dann vor allem den großen Aufbruch ab etwa 750 v. Chr. prägen. Natürlich denkt man selten ganz eingleisig in dem einen oder anderen Sinn, vielmehr versucht man der sich abzeichnenden Komplexität der historischen Gegebenheiten durch Kombination der beiden Modelle Rechnung zu tragen; eine der Formeln dafür ist die Rede von einer „Renaissance des achten Jahrhunderts', welche zwar die bronzezeitlichen Traditionen wiederbelebt, ihrerseits aber ihre eigenen historischen Gründe gehabt hätte. Die Lektüre neuerer Arbeiten von Forschern, die den Gedanken der Kontinuität favorisieren, zeigt nun freilich eher eine allgemeine Zuversicht, daß auch der Heroenglaube des achten und siebenten Jahrhunderts entsprechende Ideen und Kulte der Mykenäer fortsetze, als daß konkrete Anhaltspunkte dafür beigebracht würden.

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Die Überbrückung langer Zeitspannen wird man wohl als ausreichendes Kriterium betrachten können, um den Ahnenkult vom Totenkult zu unterscheiden. Antonaccio 1993,48ff etwa plädiert für eine Trennung zwischen Heroenkult und Grabkulten, wie sie in Asine, Naxos und auch in Mykene gepflegt wurden. Bei letzteren hätte nämlich die Abstammung eine Rolle gespielt. Aber - woher wissen wir das?

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Jene allgemeine Zuversicht beruht etwa auf der Annahme, daß die homerischen Epen zahlreiche Erinnerungen an die mykenische Epoche, ihren Glanz, ihre Beziehungen zum Orient und zu anderen Nachbarn enthielten 60 ; sie beruht auch auf der Idee, daß sich mit jenen Namen, die wohl auf die Bronzezeit zurückzuführen sind, auch zugehörige Erzählungen und Geschichten erhalten hätten 61 . Stefan Hiller verweist überdies darauf, daß die olympischen Siegerlisten immerhin bis 776 v. Chr. zurückreichen, und das im Hinblick auf Leichenspiele für eine Person des heroischen Zeitalters62. Man stellt auch Listen von Örtlichkeiten zusammen, an denen das archäologische Material keine oder nur relativ kurze Unterbrechungen der Besiedlung 63 oder eines religiösen Kultes 64 nach dem Zusammenbruch der Palastkultur um 1200 v. Chr. zu signalisieren scheint. Aus alledem wird so etwas wie eine innere Wahrscheinlichkeit abgeleitet, daß auch die Heroenverehrung im allgemeinen oder aber konkrete Gestalten und Kulte wie jener des Pelops in Olympia - er ist verständlicherweise ein wichtiger Anlaß für solche Erörterungen - kontinuierlich aus der mykenischen Zeit bis in die spätgeometrisch-früharchaische Epoche weitergewirkt haben. Sobald es um konkrete Indizien für einen Heroenkult mykenischer Zeit geht, spielt ein einziges(!) Linear-B-Täfelchen aus Pylos (PY Tn 316) eine Hauptrolle. Man liest dort das Wort ti-ri-se-ro-e in einem kultischen Kontext. Carlo Brillante sieht hier den Kult eines trisheros schon mit dem Götterkult verbunden, wie das Jahrhunderte später noch häufig bei Heroen der Fall war, und stellt ein zweites Täfelchen (Fn 1204) daneben, wo der Ausdruck di-pi-si-jo-i, als δίψιοι in klassisches Griechisch gebracht, daraufhinweise, daß schon die Mykenäer sich die Toten als durstig und daher Trankopfer begehrend vorgestellt haben 65 . Außerdem interpretiert man Kultspuren der mykenischen Zeit am Gräberrund Α von Mykene zumindest als wenig verschieden vom Heroenkult 66 und sieht die dort Bestatte-

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Vgl. etwa Hiller 1983, lOf; dort der bereits erwähnte Gedanke, daß die Griechen des achten Jahrhunderts auf ihren Fahrten nach Ägypten und Unteritalien oder bei der Gründung von Milet (Ankunft der Ionier hier schon um 1000 v. Chr.?) bewußt den Spuren ihrer mykenischen Vorfahren folgten; die Episoden um Menelaos in Ägypten, um Glaukos und Diomedes werden damit in Zusammenhang gesehen. Ausführliche Kritik an der Vorstellung, daß die Epen mykenische Zustände reflektieren, bei Hampl 1975,75ff und 165-168. 61 Hiller 1983,12. « Hiller 1983, 12. 63 Vgl. die Liste der Siedlungen, die die submykenische Phase überdauert haben, bei Dietrich 1987,485f. 64 Hinweise ebenfalls bei Dietrich 1987,487, ferner die Liste bei Leveque 1991, 264.(Außer den oben schon genannten Heiligtümern nennt dieser noch das Artemision auf Delos, Agia Irini auf Keos, die Dikte-Höhle, Eleusis, Samos, die Grotte am Ida, Thermos in Aitolien, Ithaka (Aetos), Kameiros, Kato Symi auf Kreta, Antissa und Milet). Man könnte zum Beispiel jetzt das Heiligtum (des Dionysos?), das Gruben und Lambrinoudakis in Naxos freigelegt haben, hinzufügen. 65 Brillante 1981,177ff,; auch Burkert, sonst sehr skeptisch gegenüber mykenischen Belegen für den Heroenkult , bewertet PY Tn 316 als „direkteres Zeugnis" (1991b,528), vgl. dazu auch unten S. 38. « Brillante 1981,175.

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ten als Wächter am Tor und damit ganz analog zu den bedeutenden Verstorbenen vor dem Westtor vor Eretria 67 . Folgt man der Kontinuitätsthese stricto sensu, so gibt es am Vorhandensein des Heroenkults im 8./7. Jhdt. v. Chr. nicht viel zu erklären; denkt man aber an eine Abschwächung nach 1200 und eine .Renaissance' nach 750 oder gar an eine Neuentstehung dieser Vorstellung, so muß man sie möglichst überzeugend in das Gesamtbild der Zeit nach 750 einordnen und somit historisch erklären. In diesem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren vor allem drei Thesen, die in ihrem Erklärungsanspruch und in ihrer Reichweite unterschiedlich sind, diskutiert. a) J. N. Coldstream hat sich vor allem mit den Votivdepots an mykenischen Gräbern befaßt und die Beobachtung herausgestellt, daß sie sich ausschließlich in jenen Regionen Griechenlands finden, wo sich die Bestattungsbräuche seit dem Ende der Bronzezeit stark verändert hatten: In Attika und Boiotien, in der Korinthia und der Argolis sowie in Elis, schließlich etwas später auch in Messenien waren die - meist mehrfach mit Körperbestattungen belegten - Kuppel- und Kammergräber obsolet geworden, sodaß zum Beispiel „an eigth century Athenian ... greatly surprised" bei ihrem Anblick war 68 . Es war demnach gerade dieses „amazement", das Fremdheitsgefühl der Griechen der spätgeometrischen Zeit gegenüber den Spuren einstiger Bräuche, ein wesentliches Motiv für die Anlage der Votivdepots an mykenischen Gräbern. Coldstream stellt auch die Gegenprobe dazu an: Wo kleinere Tholoi und Kammergräber weiterhin gebäuchlich waren, so zum Beispiel in Thessalien sowie auf Rhodos und in Kreta, wurden keine Votivdepots festgestellt69. Im Zusammenhang mit den Bestattungsformen sei hier noch eine Überlegung von Α. M. Snodgrass eingefügt: Es ist ihm zufolge schwer vorstellbar, daß der Kult an mykenischen Gräbern durch Homer angeregt wurde. Denn die Epen schildern ausschließlich Brandbestattungen, und daß es sich in den Tholoi und Kammergräbern um Körperbestattungen gehandelt hat, konnte den Menschen des achten und siebenten Jahrhunderts nicht entgehen 70 . Umgekehrt, so fügen wir hinzu, ist es aber durchaus vorstellbar, daß die Kenntnis von sehr alten, großen und merkwürdigen Gräbern in der Argolis, Messenien und anderwärts in einer allgemeinen und vagen Form Eingang ins Epos gefunden hat, die konkrete Schilderung von Totenritualen sich aber an dem orientiert, was dem oder den Dichtern aus ihrer näheren Umgebung geläufig war 71 .

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Brillante 1981,175. Coldstream 1976,13f, das wörtliche Zitat 14. Kurze Referate über die Ansichten Coldstreams finden sich u.a. bei Brillante 1986,170 sowie Morris 1988,754. 69 Achaia nimmt laut Coldstream 1976,13f eine Zwischenstellung ein (neben Pithos- und Kistenbeisetzungen wurde etwa in Pharai auch eine SG-Tholos entdeckt); für Lakonien fehlt Material aus dem 8. Jhdt. ™ Snodgrass 1982, 114ff; 1987, 161ff. Ähnlich auch de Polignac 1984, 130. 71 Schon Andronikos 1968,130f hat den Entstehungsraum der Epen in einer Gegend gesucht, wo allein die Brandbestattung üblich war, und dies schon seit protogeometrischer Zeit, weil ja eine Erinnerung bis ins siebente Glied zurück bestanden habe (letzteres bezweifelt der Verf.). Konkret dachte er an Attika, Assarlik, Kolophon, Kreta und Thera. Die Arbeit von W.Sieberer in diesem Band S. 122f zeigt, daß die Epen relativ wenige konkrete Angaben über das Mutterland enthalten. 68

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b) Die These von Coldstream wurde von anderen Forschern aufgenommen und soziologisch bzw. sozialgeschichtlich vertieft. Α. M. Snodgrass (1980 und 1982) etwa zweifelte nicht nur an der Anregung des Grabkults durch die Epen, sondern er suchte auch eine neue Erklärung: Die Votive fänden sich vor allem in Gegenden, die im achten Jahrhundert, der Zahl und Größe der gefundenen Nekropolen nach zu schließen, einen starken Bevölkerungszuwachs erlebten, und wo offenbar freie Bauern verlassenes Land wiederbesiedelt haben. Für Kreta, Thessalien und Lakonien mit ihren halb- oder unfreien Bauern traf das nicht zu, sehr wohl aber für Attika, die Argolis und so weiter . Die Bauern hätten ihre Ansprüche auf die neuen Besitzungen dadurch legitimiert, daß sie sich gleichsam als Nachfolger und Erben der Inhaber der alten Gräber gaben 72 . In etwas anderer Brechung haben Berard und de Polignac die .Legitimationshypothese' vorgetragen: Dem Heroenkult für jüngst Verstorbene, wie man ihn aus der Anlage des Heroons am Westtor von Eretria und den von Hesiod (erga 654-659) erwähnten Leichenspielen für Amphidamas in Chalkis herauslesen mag, maßen sie eine wichtige Funktion in der Formierung jener beiden Stadtstaaten auf Euboia bei. Darüber hinaus hat vor allem F. de Polignac 1984 herausgestellt, daß die Errichtung ländlicher Heiligtümer im äußersten Grenzbereich des Polis-Territoriums ein wichtiges Mittel war, um die Ansprüche eines solchen sich verstärkt organisierenden Staatswesens zu legitimieren und durchzusetzen. Als Musterbeispiel dafür wäre das Heraion von Argos zu sehen, das gleichsam eine starke Schachfigur war, welche die Argiver im Zuge des Wettbewerbs mehrerer freier Gemeinden (Argos, Mykene, Tiryns, Asine, Nauplia) um einen engen Siedlungsraum provokant nahe vor die Tore Mykenes gesetzt haben 73 . J. Whitley hat (1988) diese Debatte noch einmal aufgenommen; für Attika sieht er ebenfalls den starken Bevölkerungszuwachs, denkt aber nicht an freie Bauern als Stifter der spätgeometrischen Votive, sondern eher an aristokratische Herren aus traditionsreicheren attischen Siedlungen, die das Alter ihres Geschlechts und ihres Siedlungsplatzes auf diese Art gleichsam inszenierten, um sich gegen die zunehmende Dominanz Athens zur Wehr zu setzen. Menidhi und Thorikos gehörten nämlich - ebenso wie Eleusis - zu den ganz wenigen Plätzen außerhalb Athens, für die der archäologische Befund eine Besiedlung schon in protogeometrischer Zeit ergibt74. Ian Morris hat im gleichen Jahr eine besonders prägnante Formulierung für die Legitimationshypothese gefunden. In kritischer Distanz zur Rede von der .griechischen Renaissance des 8. Jhdts.' fand er, nicht die mykenische Kultur als solche habe die damaligen Griechen angezogen, vielmehr waren es die Mykenäer „themselves, in the

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Snodgrass 1980, 39f. Berard 1982,90; de Polignac 1984,59, vgl. auch Whitley 1988,175 und 180. Whitley 1988, passim, bes.l77f. Zur Quantifizierung: Nach Whitley sind in Attika für die submykenische Periode drei Siedlungsplätze erkennbar, für das 9.Jhdt. fünf bis sechs, für die Phase Spätgeometrisch II achtundzwanzig.

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present. Their tombs were nodes of power, narrow openings through which the 8th-century Greeks could reach out and touch these great men, drawing on their authority."75 c) Walter Burkert, der der Forschung zu den griechisch-orientalischen Kulturkontakten im allgemeinen viele Impulse gegeben hat, weiß auch unter den Heroen und Heroinen Gestalten in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, in deren mythischer Vita mehr oder minder zentrale Episoden auf orientalische Anregung zurückgehen könnten. Obwohl er mehrfach die Möglichkeit offen hält, daß diese orientalischen Anregungen schon in mykenischer Zeit wirksam geworden und dann durch die Dark Ages in die homerische bzw. archaische Epoche weitervermittelt worden sind, buchen wir hier, der Gesamttendenz seiner Forschungen folgend, die von ihm zur Diskussion gestellten Beispielfälle unter den neuen Ideen, die wohl vor allem im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. aus dem Vorderen Orient in die griechische Welt eingeströmt sind. Im Falle des Herakles-Mythos etwa sind durch einen 1983 von J. van Dijk edierten sumerisch-akkadischen Text die schon früher beobachteten Analogien zu mesopotamischen Gestalten zu deutlichen Parallelen geworden. Konkret ist die Rede vom Gott Ninurta, zu dessen zwölf Taten(!) auch die Siege über eine siebenköpfige Schlange und über einen Löwen gezählt wurden. Die Hydra von Lerna und der Nemeische Löwe müssen dem Leser hier in den Sinn kommen, und damit Szenen, die kurz vor beziehungsweise um 700 v. Chr. auch in der griechischen Bildwelt auftauchen 76 . Burkert betont zu Recht, daß sich damit neue Fragen auftun: Warum wurde aus der Schlange eine Wasserschlange, die ausgerechnet in Lerna haust, wie kommt der große Krebs, wie Iolaos in die Geschichte? Dies alles sind Symptome dafür, daß das vermutliche orientalische Vorbild in einer sehr freien Weise in den griechischen mythologischen Kontext eingebaut worden ist 77 . Auch für das Erzähl- und Bildmotiv der Befreiung Andromedas durch Perseus macht Burkert altorientalische Vorläufer namhaft 78 ; in der Ikonographie gilt das gleiche für die dem siebenten Jahrhundert angehörenden griechischen Darstellungen der Tötung der Gorgo durch Perseus, dem Athene beisteht: Sie haben wohl Vorlagen in den mesopotamischen Darstellungen des Kampfes zwischen Gilgamesch und Enkidu auf der einen Seite und Humbaba auf der anderen 79 . Für das Amphitryon-Motiv denkt Burkert an das

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Morris 1988,751. Vgl. zur ganzen Problematik auch Ulf 1990,245f. Burkert 1987,14ff mit Anm. Die Aufzählung der Trophäen Ninurtas findet sich bei Cooper 1978, 62-65 (Textzeilen 32^10 und 54-62) sowie van Dijk 1983,68 (Textzeilen 129-133); vgl. auch 10-19. Burkert 1987,18. Was Herakles als kultisch verehrte Figur betrifft, erwägt übrigens de Polignac 1992,123 direkten phönikischen Einfluß, soweit es die Verehrung des Heros/Gottes auf Kaps und Vorgebirgen (Lindos, Kos, Erythrai, Thasos) betrifft. Es handelt es sich um einen kanaanäischen Mythos, auf einem ägyptischen Papyrus mit kanaanäischen Namensmaterial überliefert (Astarte wird dem Meeresgott Jam als Braut angeboten), vgl. ANET 17f, sowie um eine Rollsiegeldarstellung aus Nimrud, vgl. Burkert 1987,28 und 33, fig.2.7. Im Detail ist das Bild von seinen griechischen Nachahmern um- und mißinterpretiert worden. Burkert 1987,26f; vgl. auch Maaskant-Kleibrink 1989,28.

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altägyptische Vorbild der Verbindung zwischen Amun und der Gattin des Pharaos 80 , für die Danaos-Geschichte schließlich an eine hethitische Erzählung über die Stadt Zalpa 81 . Wenn von neuen Elementen im Bereich der Heroenvorstellung die Rede ist, muß abgesehen von den drei oben behandelten umfassenderen historischen Hypothesen auch noch einer Gruppe von Gestalten gedacht werden, auf die wiederum Walter Burkert zu Recht neuerlich die Aufmerksamkeit gelenkt hat: Es sind jene Heroen und Heroinen, die mit großer Wahrscheinlichkeit erst für die epische Dichtung erfunden worden sind und sich vielfach durch redende Namen auszeichnen, wie zum Beispiel Eteokles und Polyneikes, Patroklos und Telemachos oder Nausikaa. Diese Beispiele überzeugen ohne weiteres, doch nennt Burkert auch Agamemnon, Menelaos, Hektar und Thersites in diesem Zusammenhang. Zweifel könnten sich hier auf die sprachliche Deutung der Namen oder auf die sehr wohl vorhandenen Kult- und Gedenkstätten beziehen, die sekundär auf die epische Dichtung gefolgt sein müßten, wenn man der genannten These folgt 82 . 3.2. Stellungnahme und weitere Überlegungen Der Verfasser bekennt, daß er der Annahme einer ausgeprägten Kontinuität zwischen der minoisch-mykenischen Bronzezeit und jenem Griechenland, wie es im achten und siebenten Jahrhundert wieder ins hellere Licht der Geschichte tritt, aus allgemeinen Erwägungen überwiegend skeptisch gegenübersteht. Auf einige Aspekte dieser Frage kommen wir unten (S. 55ff) noch einmal zurück. Was im konkreten die Versuche anlangt, die Heroenvorstellung schon für die mykenische Ära nachzuweisen, urteilt Burkert m. E. wiederum zu Recht und sehr pointiert, daß die mykenischen Zeugnisse enttäuschend sind, ja daß in gewissem Sinn Linear Β unser Nichtwissen über die mykenischen Mythen sogar vertieft 83 . Selbst bei der Umsetzung der beiden eventuell einschlägigen Linear-B-Texte in die klassisch-griechischen Termini trisheros und δίψιοι wird man überdies angesichts der Textgattung und der Orthographieprobleme fragen müssen, ob nicht die Gefahr eines Zirkelschlusses naheliegt! 8 4 Die Kultspuren mykenischer Zeit am Gräberrund A - sie sind übrigens dürftig, was schon Mylonas gesehen hat - zeigen keinerlei Spezifikum des Heroenkultes; im übrigen wird man damit rechnen dürfen, daß sich die Mykenäer vor dem großen Kulturbruch sehr wohl bewußt waren, daß dort ihre Herrscher mit einem gottähnlichen sakralen Nim-

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Burkert 1987,29. Zur Verwandtschaft der Herakles-Mütter Alkmene und Hera, wohl auch der Semantik der Namen nach, vgl. oben S. 21. Burkert 1991b,534. Burkert 1991b, 531. In den Namen der Atriden sieht Burkert den Charakterzug des Nicht-Wankens in dreifacher Brechung ausgedrückt: Agamemnon leitet er aus Aga-men-mon her, in Menelaos würde sich dann das gleiche Etymon verbergen, und die Atreidai wären als A-tresidai zu verstehen. Burkert 1991b, 527 und 528. Burkert 1991b,527 beurteilt die Täfelchen, wie bereits erwähnt, als direktere Zeugnisse, verweist aber zugleich darauf, daß der in Pylos verehrte Zeus-Sohn, den sie zu bezeugen scheinen, nach den Dark Ages verschwunden ist!

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bus, der sie weit über starke Wächter am Tor hinaushob, beigesetzt und zu verehren waren 85 . Im übrigen lagen die Gräber wohl schlicht deshalb vor dem Burgtor, weil zwischen oder in den Häusern und Palästen nicht der rechte Platz für sie war, sei es aus praktischen oder religiös-magischen Gründen. Eine Wächterfunktion sieht man wohl erst aus der rückblickenden .heroisierenden' Perspektive! Auch auf die Siegerlisten von Olympia, die den Beginn eines bedeutsamen Heroenfestes scheinbar in den Anfang des achten Jhdts. v. Chr. datieren, sollte man sich in Kenntnis der historischen Kritik an dieser Quelle besser nicht berufen 86 . Konzentrieren wir uns nun auf die Überlegungen, die um die Entwicklungen im achten und siebenten Jhdt. v. Chr. kreisen! Der Gedanke Coldstreams, daß die spätgeometrischen und archaischen Votivgaben an mykenischen Gräbern Symptome für ein ehrfurchtsvolles Interesse sind, das nicht zuletzt durch die Fremdartigkeit dieser Anlagen ausgelöst wurde, überzeugt weitgehend; auch die Vermutung, daß ein Zusammenhang mit der Heroenvorstellung besteht, liegt nahe. Zumindest in Einzelfällen wäre es auch denkbar, daß die Votive eine Art versöhnender Gegengabe darstellten, nachdem man Knochen oder Grabbeigaben entnommen hatte. Vielleicht stammen wirklich die meisten als ,Heroengebeine' verehrten Reliquien aus mykenischen Gräbern, wie dies K. Tausend erwägt 87 . Was andere mögliche Grabbeigaben betrifft, so gilt immerhin, daß fast alles, was etwa G. S. Kirk in seiner Einleitung zum Ilias-Kommentar als unzweifelhaft mykenisches Kulturgut in der Ilias nennt, gut und gerne aus geöffneten mykenischen Gräbern stammen könnte: Turmschild, Schwert mit Silberbeschlägen, Eberzahnhelm, Trinkbecher, Metall-Einlegearbeiten88. Coldstreams erster Erklärungsansatz ließ aber noch manche Frage offen: Daß in einer Landschaft wie Euboia, wo der Wechsel im Grabkult ebenso stattfand wie im benachbarten Boiotien und Attika, noch keine Votivdepots an mykenischen Gräbern zutage gekommen sind 89 , mag an der zufälligen Ungunst der Fundlage liegen; merkwürdiger ist schon, daß keiner der Vötivgegenstände eine Inschrift trägt, die uns den Namen des nunmehr mit der Anlage verbundenen Heros oder den einer Heroine verriete. Wo uns relativ frühe Graffiti und Gefäßaufschriften solche Namen nennen, zum Beispiel in Therapnai oder am Hymettos, handelt es sich gerade nicht um Grabkulte. Auch kommen die Votive zwar in Landschaften vor, die den Epen zufolge Heimat der hervorragendsten Heroen sind, aber auch in Attika, das bekanntlich bei Homer keine große Rolle spielt.

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Vgl. dazu Mylonas 1951,64ff.; 1961/62, 342ff. Vgl. dazu Herrmann 1972,216; Weiler 1988a,113ff. Gegen die Berufung auf die Olympionikenlisten auch Havelock 1992,137 Tausend 1990,147. Kirk 1985, 8. Der oben geäußerte Gedanke ist nicht neu, vgl. Hampl 1975,81ff und 167f mit älterer Lit. Die Parallele zu Attika wiegt besonders schwer, wie Tausend 1990,150 herausstellt, weil nach Coldstreams Modell beide Gegenden vom Bevölkerungswechsel der Umbruchszeit um 1200 v. Chr. verschont geblieben sein müßten. Zum Problem der Ethnogenese vgl. unten S. 55ff.

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Akzeptiert man Coldstreams Annahme, daß die homerischen Dichtungen den Heroenkult anregten, so kann man sich vorstellen, daß der Heroenkult in so wichtigen »homerischen' Landschaften wie Lakonien, dem Raum umTroizen oder Thessalien eben andere Anknüpfungspunkte suchte als die mykenischen Gräber, die dort zu wenig vom Bekannten abwichen, um die Phantasie zu beschäftigen. Folgt man aber der Argumentation, daß das Epos den Heroenkult bereits kennt und ihn nicht erst anregt - und so denkt der Verfasser - so stellt sich umso dringender die Frage, warum die mykenischen Nekropolen und Gräber ausgerechnet im ausgehenden achten und im siebenten Jahrhundert das Interesse der Griechen auf sich zogen. Die oben von uns so genannte ,Legitimationshypothese' von Snodgrass, Berard, de Polignac, Whitley und anderen stellt einen Versuch dar, einen Teil der soeben aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Bevölkerungsvermehrung, Landesausbau, das Besitzstreben freier Bauern, die Dynamik der entstehenden Poleis und ihre Konkurrenz um Territorien sowie die Rivalität ihrer führenden Familien hätten ihr Zufolge die Motivationen dafür geliefert, Ansprüche durch den Kult längst verstorbener großer Vorfahren sinnenfällig zu machen. Diese Erklärung besticht unter anderem dadurch, daß sie weit mehr Phänomene umfaßt als der erste Ansatz von Coldstream, ohne ihn auszuschließen; auch kommt sie ohne die Idee aus, eine homerische dichterische Erfindung hätte Religion und Gesellschaft so stark verändert, wie dies der Heroenglaube mit all seinen Konsequenzen tat. Aber auch in diesem Fall bleiben noch offene Punkte. Einer dürfte sich relativ leicht erledigen lassen: Die Frage, ob es eher freie Bauern oder Aristokraten beziehungsweise Gemeinden waren, die in Attika (und anderswo!) die neuen Kulte stifteten, beruht wohl auf einer Alternative, die der gesellschaftlichen Realität des achten und siebenten Jahrhunderts v. Chr. nicht wirklich adäquat ist. Man kann ohne weiteres an die Häupter relative!) wohlhabender Familien denken, die in immer noch überwiegend bäuerlichen Gemeinden zusammen mit einigen anderen den Ton angaben, ohne doch einen Geburtsadel darzustellen90. Wenn sie an den Kultplätzen Ansprüche dokumentierten, so hatte dies sowohl für sie als Individuen wie für ihre Familien und Gemeinden Bedeutung. Prinzipiellerer Natur ist die Frage, ob man auch in Lakonien, Messenien, Elis oder Thessalien mit der selben Dynamik rechnen darf, die in der Argolis oder Korinth, in Attika oder Boiotien den Anlaß zu Kultstiftungen gegeben haben soll. Liest man de Polignacs einschlägiges Buch: „La naissance de la cite grecque. Cultes, espace et societe Vllle-VIIe siecles avant J.-C.", so wird einem überdies klar, daß zwar die Heroenkulte wegen ihres genealogischen Aspekts für die .Legitimationshypothese' besonders interessant sind, daß aber auch und gerade die Kultstätten für große Gottheiten, so die Heraien von Argos und Perachora, oder die Stätten für Initiationsriten etc. in

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Zur Problematik der Vorstellung von einem Geburtsadel im homerischen Griechenland vgl. Ulf 1990, 2-50, bes. 2f. zur Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte; siehe auch Stein-Hölkeskamp 1989, 24ff. 54ff. mit Lit.

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dieses Konzept passen 91 . Es bietet also keine spezifische Erklärung für den Heroenkult als ganz konkrete Erscheinung der religiös-gesellschaftlichen Sphäre. Dieser sehr umfassende Charakter der ,Legitimationshypothese' führt wohl auch dazu, daß die naheliegende Frage, ob denn Kulte für Heroinen in gleicher Weise Ansprüche bekräftigen konnten wie solche für entsprechende männliche Gestalten, von ihren Verfechtern, so weit ich sehe, bisher nicht thematisiert wurde. Darauf kommen wir später noch zurück. Im übrigen ist auch die geringe Zahl von Inschriften der Legitimationshypothese nicht besonders günstig. Kommen wir zuletzt auf den Einfluß zu sprechen, den der Vordere Orient und Ägypten bei der Ausformung des griechischen Heroenglaubens ausgeübt haben könnten! Die Beispiele für Bild- und Erzählmotive vermutlich orientalischer Herkunft, die besonders Walter Burkert in die Diskussion über die Entfaltung der griechischen Heroenmythologie bzw. -ikonographie eingebracht hat (vgl. oben S. 37f), mögen unterschiedliche Grade der Sicherheit aufweisen; im ganzen lassen sie sich aber gewiß nicht abweisen, und bei entsprechenden Erkenntnisbemühungen von Forschern, die in beiden Kulturbereichen bewandert sind, darf man wohl weitere Entdeckungen dieser Art erwarten. Auch im vorliegenden Band legt ja Robert Rollinger einen Beitrag dazu vor (vgl. unten S. 156ff). Es macht freilich, wie Burkert selbst herausstellt, einen Unterschied, ob ein ganzer Erzählfaden oder nur eine bestimmte bildhafte Szene aus einer Kultur in die andere übernommen wird. Im Falle der Parallele zwischen dem Kampf Gilgameschs gegen Humbaba und jenem des Perseus gegen die Medusa etwa urteilt Burkert selbst, dies sei „no borrowing of myth, but of an icon" 92 . Bei den zwölf Taten des Herakles beziehungsweise des Ninurta hingegen verhält sich die Sache offenbar anders. Hier werden größere Teile einer ,mythischen Vita' von einem mesopotamischen Gott auf einen griechischen Halbgott bzw. Heros übertragen, was den Charakter des letzteren weit stärker beeinflußt, als dies eine einzelne Szenerie vermöchte. Wenn man sich unter solchen Aspekten genauer darüber Rechenschaft ablegt, auf welcher Vörstellungs- und Reflexionsebene die diversen orientalischen Einflüsse anzusiedeln sind, deren Einwirkung man vermutet, so vermag dies unsere historischen Überlegungen vielleicht ein Stück voranzubringen. Je nachdem, ob es sich lediglich um einzelne bildhafte Szenen handelt oder um ganze Erzählfäden, um Motive, die in großer Literatur ihren Platz haben, oder um grundlegende Denkformen und -kategorien, ist nämlich auch an unterschiedliche Vermittlungswege beim eventuell anzunehmenden Kulturtransfer zu denken: Einzelne Bildmotive - etwa die Kämpfe gegen Löwen und andere Ungeheuer - können die Griechen schon von orientalischen Importstücken (Siegeln, Elfenbeinschnitzereien, Metall-Treibarbeiten etc.) abgelesen und in eigene Mythen eingebaut haben. Ob sie diese Motive dabei mehr oder

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Vgl. de Polignac 1984,42ff. 60 (Perachora). Burkert 1987,26f.

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weniger mißverstanden haben, mußte davon abhängen, ob deren mythischer Kontext sehr komplex und für sie auch dem Inhalt nach fremd war oder nicht; ferner davon, ob sie mehr oder weniger eingehende und für sie verständliche Kommentare - vielleicht von orientalischen Händlern oder von Wanderpriestern93, die die Ägäis befuhren - dazu erhalten haben. Andere Fälle von Kulturtransfer müssen auf einem engeren und längeren Zusammenleben von Orientalen und Griechen beruhen. Hierher ist das berühmteste und als solches am wenigsten umstrittene Ergebnis des griechisch-orientalischen Kulturkontaktes, die Übernahme des phönikischen Alphabets, zu rechnen 94 . Jene literarischen Bilder der Ilias, die R. Rollinger in seinem erwähnten Beitrag auf orientalische Anregungen zurückführen möchte, besonders die feurige Aura rund um die Helden und die Göttin, die die Fäden des Kampfes zieht, dürften ihre Verbreitung wohl auch intensiveren Kontakten verdanken. Denn sie hängen nicht an einzelnen Gestalten oder Szenen, sondern sie werden vom Dichter selbständig eingesetzt, und sie haben ihre vermutlichen Vorlagen in orientalischen Textgattungen, die mit der Herrscherpropaganda verknüpft waren und im alltäglichen Verkehr zwischen Händlern und Kunden wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Sie setzen vielmehr das Interesse eines dichterisch Schaffenden an orientalischer Literatur auf einer höheren Reflexions- und Stilebene voraus. Je nach der Qualität der Kontakte, die für die Übernahme eines bestimmten Kulturelementes erforderlich sind, bestimmen sich für den Historiker auch die historischen Zeitabschnitte und die geographischen Räume, die für dessen Übernahme in Frage kommen. Eine Zusammenschau der einschlägigen schriftlichen Nachrichten und des relevanten archäologischen Materials, wie sie R W. Haider in diesem Band (S. 59ff) vornimmt 95 , führt nun auf eine markante Wende in den Beziehungen zwischen den Griechen und dem Orient: Während vor 750 v. Chr. vor allem phönikische Händler in der Ägäis tätig beziehungsweise ansässig waren und bei der Heimreise unter anderem griechisches Tafelgeschirr in die Levante brachten, wurden sie um die Mitte des Jahrhunderts aus dieser Position verdrängt. Nach diesem Zeitpunkt machten sich Griechen in syrischen und phönikischen Hafenorten seßhaft. Gegen 700 v. Chr. begannen sie sich in Kilikien niederzulassen, in weiterer Folge gelangten Soldaten und Handwerker ins mesopotamische Kernland; ab etwa 660 lebten dann Hellenen in langsam steigender Zahl in Ägypten, zuerst als Söldner und Offiziere, später als Händler und Handwerker, und auch einzelne Fest-

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Die persönlichen Kontakte mit Händlern müssen natürlich auch unterschiedliche Qualität angenommen haben, je nachdem, ob es sich um kurze Besuche gehandelt hat oder oder um Kontakte mit den Bewohnern von Handelsniederlassungen wie jener von Kommos in Süd-Kreta (dazu P.Haider in diesem Band, S. 77ff); neben Wanderpriestern und Magiern kommen auch Wanderärzte in Betracht. Vgl. dazu unten S. 43. Vgl. dazu auch Haider 1988a,153-210, sowie die von ihm genannte ältere Literatur.

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ungen Palästinas erhielten im ausgehenden siebenten Jahrhundert griechische Besatzungen 96 . Daß die Übernahme des phönikischen Alphabets in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts gehört und unmittelbar mit der oben angesprochenen Wendung der Dinge zusammenhängt, ist von Forschern wie Rhys Carpenter schon längst gesehen und auch in letzter Zeit von Eric Havelock und anderen bekräftigt worden 97 . Doch fällt auch im Zusammenhang mit unserem Thema an der Chronologie der Entwicklungen einiges auf! Die archäologischen Indizien aller drei oben beschriebenen Kategorien, die mit dem Heroenkult in Zusammenhang gebracht werden, setzen fast durchwegs in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts mit ziemlich reichen Fundbeständen ein. Sie setzen sich im siebenten Jahrhundert fort, wobei auch die Zahl der Fundplätze zunimmt. Besonders deutlich ist dies bei den Votivdepots an mykenischen Gräbern; unter den archäologisch greifbaren und später durch Schriftquellen benannten alten Heroenkultstätten sind einige vielleicht älter (Amyklai, Hymettos, Akademie, Erechtheion), die anderen werden ebenfalls in der genannten Periode erkennbar; Asine und Eretria gehören ebenso in die spätgeometrische Zeit, und in Naxos erfährt der ältere Grabkult durch Abdeckung und Tumulus einen Wandel. Das ist zunächst nur eine chronologische Abfolge; sie wirft aber die Frage auf, ob sich ein nachvollziehbarer sachlicher Konnex zwischen den historischen Erscheinungen herstellen läßt. Ein solcher Konnex ergibt sich nach Ansicht des Verfassers recht zwanglos, wenn man sich in die geistige Situation der Griechen hineinversetzt, die an der intensivierten Begegnung zwischen Orient und Okzident beteiligt waren: Vor allem diejenigen unter ihnen, die ab ca. 750 v. Chr. einige Jahre oder auch Jahrzehnte ihres Lebens in Syrien und Phönikien verbrachten - später kamen dann Kilikien und andere Länder des Orients hinzu - , haben dort ohne Zweifel einige kulturelle Erfahrungen gemacht, die weitreichende Denkanstöße nach sich zogen. Vor allem erlebten sie, die aus einer Welt der Oralität kamen, dort eine Kultur der Literalität, und zwar nicht über Gespräche mit einzelnen Vertretern, wie man sie zuvor schon im ägäischen Raum treffen konnte, sondern in ihrem ganzen komplexen Funktionszusammenhang 98 . Unter anderem hatte für diese Kultur die Vergangenheit eine große Bedeutung, und dies in einer für die damaligen Griechen sicherlich ungewohnten zeitlichen Tiefendi96 97

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Haider unten S.75f. Vgl. zur Datierung Carpenter 1933 und 1938 passim; neuerdings Havelock 1992,135ff und 145 (mit Lit.); zum Zusammenleben an zweisprachigen Orten Havelock 1992,140. Vgl. ferner Stoddart/Whitley 1988 und die nächste Anm. Havelock 1992,140 verweist darauf, daß die Griechen auf Kreta und Zypern oder in Al Mina sehen konnten, wie die Phöniker Objekte mit Hilfe von Inschriften selbst sprechen ließen. Die Anregung ist freilich viel umfassender zu sehen, und die Kontakte im syrisch-phönikischen Kernland haben wohl mehr Bedeutung als jene auf Kreta und Zypern - einerseits wegen des angesprochenen kulturellen Funktionszusammenhanges, und andererseits ist es wohl symptomatisch, daß im griechischen Mutterland direkt das phönikische Alphabet übernommen wurde und nicht etwa das kyprische Syllabar.

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mension: Herrscherlisten, Annalen, Chroniken, aber auch öffentliche und private Verträge und Urkunden griffen über viele Generationen zurück, und man berief sich häufig auf uralte Traditionen, man stellte handfeste Ansprüche auf Macht, Rang und Gut, die, entsprechend schriftlich belegt, weit jenseits der Urgroßväter wurzelten". Außerdem übertraf auch die Architektur an Größe und angebbarem Alter alles, was die ägäische Heimat kannte, und an beschrifteten Sarkophagen und Gräbern konnte man das Kommen und Gehen der Geschlechter abzählen. Um in dieser Gesellschaft zu bestehen, war es nötig, das Alphabet zu erlernen; mit seiner Adaptierung für die griechische Sprache gewann man ein Instrument, das nun, wie man am Vorbild sah, nicht nur für die praktischen Zwecke der Wirtschaft, sondern im Prinzip auch dazu geeignet war, jene geschichtliche Dimension des Lebens zu erschließen, die im Orient so viel bedeutete. Wo aber fand derjenige, der, von solchen Erfahrungen durchdrungen, ins heimatliche Griechenland kam, jene Gegenstände und Gestalten, mit denen er die Tiefe der Zeit, die nun in einer anderen Weise auszudenken war, ausgestalten und bevölkern konnte? Was Coldstream mit dem Wechsel der Bestattungsformen in bestimmten Regionen erklärt versteht es sich in dieser Phase transkultureller Anstöße nicht von selbst, und zwar in einem sehr viel größeren Zusammenhang? Liegt es nicht nahe, daß nun die Spuren der Vergangenheit im eigenen Land, die bisher ziemlich unbeachtet geblieben waren 100 , mit neuen Augen wahrgenommen wurden? Einige dieser Überreste waren ansehnlich genug, so die Mauern und Gewölbe der großen Festungen und Kuppelgräber, die durchaus den Vergleich mit dem aushalten konnten, was man im Orient sah, andere immerhin merkwürdig, wie die kleineren bronzezeitlichen Grabanlagen und Siedlungsreste. Von den realen Menschen, die diese Anlagen geschaffen hatten, wußte man freilich nichts. Zu dieser Annahme müssen wir kommen, wenn wir die Tatsache ernst nehmen, daß hinter dem spätgeometrischen Griechenland nahezu ein halbes Jahrtausend oder, anders ausgedrückt, fünfzehn bis sechzehn Generationen der Schriftlosigkeit lagen. Was man mündlicher Überlieferung zutrauen kann und was nicht, ist neuerdings wieder Gegenstand lebhafter wissenschaftlicher Diskussion. Insgesamt kann man das Ergebnis der neueren Forschungen zu diesem Thema aber wohl folgendermaßen zusammenfassen: Oralität vermag zwar Traditionen zu bewahren, aber jenseits einer Zeitgrenze von drei Generationen kann sie diese stark verändern. Außerdem und vor allem kommt es offenbar darauf an, daß die Traditionen, die vor dem Vergessen bewahrt werden sollen, haben, was man in Übertragung eines Ausdrucks aus einem anderen Forschungsbereich einen ,Sitz im Leben' nennen könnte, also eine aktuelle und existenzielle Bedeutung für

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Ein ähnlicher Gedanke bei de Polignac 1992,19. 100 Dies erschließt man nicht nur e silentio, sondern auch aufgrund direkter Zeichen solcher Mißachtung, vgl. Cook/Wace, ABSA 48( 1953),69ff über die Indifferenz gegenüber dem Epano-Phoumos-Grab in Mykene, danach de Polignac 1984,129.

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Erzähler und Zuhörer 101 . Das Ausmaß des materiellen und vor allem des gesellschaftlichen Umbruchs zwischen 1200 und 1000 v. Chr. gibt allen Anlaß zu der Annahme, daß die Kunde von den Herren der Burgen und Tholoi bald keinen solchen ,Sitz im Leben' mehr hatte 102 . Setzt man die Entwicklung der Heroenvorstellung aufgrund der vorangegangenen Überlegungen nach 750 v. Chr. an, so läßt sich dafür etwa folgendes Modell entwerfen: Angeregt durch die Erfahrungen im Orient, nehmen die Griechen auch im Mutterland die Reste einer fernen, fremdartigen Vergangenheit neu wahr. Insbesondere die Monumentalität der Gräber und Burgen gibt in einzelnen Landschaften den Anstoß, deren einstige Inhaber mit einem möglicherweise damals schon altertümlich klingenden Wort als ,die Starken', die ήρωες, zu bezeichnen und ihnen außergewöhnliche Kräfte zuzuschreiben. An besonders merkwürdigen Gräbern bezeugt man ihnen in Formen des Totenkultes Respekt. So entsteht eine Vorstellungskategorie, die freilich nach Konkretisierung verlangt, nach individuellen Namen, Erzählungen, Lebensläufen, nach Szenen, Gestalten und Attributen, nach einer Ikonographie. Für diese Konkretisierung wird nun unterschiedlichstes Material aufgegriffen, das .icons' aus dem Vorderen Orient ebenso umfaßt wie längere Geschichten dieser Provenienz, Lokalsagen, Namen und Gestalten aus Kulten 103 und Kultaitien, die Fundgegenstände aus bronzezeitlichen Gräbern. Dazu kommen Neuerfindungen von Dichtern, Logographen und Genealogen im Dienste von Familien und Poleis. Außerdem wird dieses Stratum einer imaginären, unbestimmt fernen Vergangenheit von den Landschaften mit den meisten Anknüpfungspunkten (Argolis, Boiotien, Messenien) rasch auf andere ausgeweitet, überregionale Verknüpfungen werden durch Geschichten über Kriegs- und Raubzüge, Heiraten und Liebesbeziehungen, Flucht und Wanderung und ähnliche Erzählstoffe hergestellt.

ιοί vgl. etwa Goody/Watt 1986,68f.; dort auch die Wortprägung „strukturelle Amnesie". Die Autoren konzedieren, daß bestimmte „mnemonische Muster" den Erinnerungszeitraum strecken könnten. Gerade das Beispiel der Tiv in Nigeria zeigt aber, wie leicht sich solche Erinnerungen verändern ließen, während die alttestamentlichen Genealogien aus der Welt von Schrift-Gelehrten stammen und nicht aus der Oralität. Vgl. etwa auch Thomas 1992,108f. Die Drei-Generationen-Grenze hat wohl einen Reflex im griechischen Terminus τριτοπατρής (so auch Antonaccio 1993,63, vgl. auch 58.) Angewandt auf den den griechischen Fall, verquickt sich diese Debatte natürlich mit jener über Kontinuität oder Diskontinuität zwischen Homer und Mykene, vgl. dazu etwa Ulf 1990,233ff; Patzek 1992 passim, bes. 73-104 mit Lit. 102

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Die Vermutung, daß Nachrichten über die mykenische Welt durch fahrende Sänger in einer quasi-höfischen Welt der Dark Ages tradiert wurden, ist wohl sehr stark von der Analogie des europäischen Mittelalters beeinflußt, aber fragwürdig. Unter anderem ist zu beachten, daß im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter die Schriftlichkeit nicht abgerissen ist, schon gar nicht über Jahrhunderte, und daß die materielle Hinterlassenschaft der Dark Ages auch in ihrer reichsten Ausprägung (etwa in Lefkandi) nicht auf eine solche höfische Gesellschaft hindeutet; auch von der homerischen Gesellschaftsstruktur her ist sie nicht zu postulieren, vgl. dazu Ulf 1990 passim; zur Frage nach der .Erinnerung' in den frühen dunklen Jahrhunderten auch Patzek 1992,98ff (mit Lit.). Darunter wohl auch solche für .gesunkene Gottheiten', vgl. unten S. 47ff.

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Die Epen - ihrerseits als literarische Großformen wohl kaum ohne das orientalische Vorbild denkbar - präsentieren ein Netzwerk solcher überregionaler Verknüpfungen in großartiger literarischer Form und liefern eine erste kanonische Darstellung der heroischen Welt. Das verhindert nicht, daß auch unkanonische Fassungen überleben, und daß, letztlich die ganze Antike hindurch, ins Bild der Heroenzeit je nach Bedarf neue Einzelheiten eingetragen werden. Sobald eine solche Kategorie besonderer Toter einmal zum Bestandteil der Vorstellungswelt geworden ist, ist man dann auch geneigt, ihr besonders ehrwürdige Verstorbene der jüngeren Zeit ebenfalls anzunähern. Einige Implikationen dieses Modells seien hier noch präzisiert: a) Den Einfluß der Begegnung mit dem Orient setzen wir auf verschiedenen Ebenen an: Am wichtigsten ist der grundsätzliche Anstoß, sich eine fernere Vergangenheit aufzubauen, was allerdings noch nicht eo ipso bedeutet, daß die Kategorie der Heroen als solche aus dem Osten übernommen wird. Bis auf weiteres mag man davon ausgehen, daß sich die Griechen diese in recht eigenständigerWeise selbst geschaffen haben - auch wenn zu prüfen wäre, ob westsemitischer Ahnenkult oder (spät)hethitische Rituale zusätzliche Vorbilder für Einzelheiten geliefert haben. Jedenfalls kommen dann einzelne Bild- und Erzählmotive hinzu, schließlich die Anregungen für die episch-literarische Ausgestaltung der neuen Stoffe. b) Schon von der Entstehung her, nicht erst als Leistung der Ependichter, ist nach dem hier vertretenen historischen Modell in der Heroenvorstellung eine Tendenz zum Archaisieren angelegt; auch eine gewisse Neigung, die Welt der Heroen mit jener des Orients zu parallelisieren (etwa hinsichtlich der Bauten oder der monarchischen Struktur). c) Der Anstoß für die Entfaltung des Heroenglaubens wirkt weithin in der griechischen Welt; er geht nicht von Phänomenen aus, die auf wenige Landschaften begrenzt sind, wie die monumentalen Ruinen oder der Wechsel im Grabritus, von dem Coldstream ausgegangen ist, oder die Legitimationsbedürfnisse von Bauern oder Poleis in Regionen mit besonderer demographischer und sozialer Dynamik. Das schließt nicht aus, daß er sich in Landschaften, wo solche Motivationen gegeben waren, besonders früh und intensiv entfaltet hat, wie zum Beispiel in der Argolis, in Attika oder Boiotien. d) Die erzählerische Ausgestaltung der Heroenmythologie war ein Prozeß, der sich in hohem Maße in der Welt der Literatur abspielte. Das erklärt vielleicht, warum sich auf den spätgeometrischen und archaischen Votiven an mykenischen Gräbern keine Inschriften mit Namen befinden. Wenn der ganze Prozeß nach 750 einsetzte und die Epen in verschiedener Hinsicht einen ersten Höhepunkt darin bedeuten, so impliziert dies, daß der schöpferische Vorgang noch im siebenten Jahrhundert in vollem Gange war - Hesiods Werke passen bestens in diesen Rahmen - und daß von daher eine eher späte Datierung für die Epen in Betracht zu ziehen ist 104 .

104

Unter den verschiedenen Argumenten, die für eine solche Spätdatierung angeführt werden können, verweise ich hier nur auf zwei: Die hochkomplexe Gesamtkomposition setzt Schriftlichkeit voraus, und die

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e) Gestalten und Erzählungen höchst unterschiedlicher Provenienz haben in einer neuen Vorstellungskategorie ihren Platz gefunden, die ihrerseits eine Antwort auf eine sehr umfassende gedankliche Herausforderung darstellt. Diese unterschiedliche Herkunft der Heroengestalten äußert sich einerseits in den unterschiedlichen Kategorien archäologischer Funde, die oben besprochen wurden 105 , andererseits läßt sie sich durch Analyse der Mythen und Riten, der Namen und Funktionen aufhellen. Die Palette reicht von »gesunkenen Gottheiten' - eine Bezeichnung, die wohl nach wie vor in bestimmten Fällen ihre Berechtigung hat - bis zu offensichtlichen Neuerfindungen aus literarischen und/oder gesellschaftlich-politischen Motiven. So erklärt es sich auch, daß einige Heroen und Heroinen reich entwickelte Kulte besaßen, während andere eine rein literarische Existenz ohne jede Verankerung in der Welt des Rituals geführt haben.

4. Einzelaspekte Es ist unmöglich, in diesem Rahmen auf alle Typen von Heroen einzugehen. Nur zwei davon, die in einem gewissen Sinn Kontinuität und Neuerung repräsentieren, sollen im folgenden Gegenstand einiger Überlegungen sein; außerdem sei der Platz, den die Frauengestalten in der Heroenwelt einnehmen, unter einigen allgemeinen Aspekten ins Auge gefaßt.

4.1. Gesunkene Gottheiten Der einstmals beliebte Gedanke, daß sich hinter einigen Heroen und Heroinen historisch ältere, also in erster Linie minoisch-mykenische Gottheiten verbergen könnten, die während der Dark Ages auf eine niedrigere Stufe in der Vorstellungswelt der Griechen sanken, stößt neuerdings bei manchen Forschern auf Skepsis. Er sei, so befindet etwa Theodora Hadzisteliou-Price, „long out of fashion, as it has no factual basis" 106 . Und doch erscheint er, wenn schon nicht der Terminologie nach, so doch in der Sache, häufig in der Handbuchliteratur 107 . In der Tat scheint es auch ohne Berufung auf Linear-B-Texte möglich, eine Anzahl von Kriterien zu nennen, um aus der großen Menge solche Heroengestalten herauszuhe-

Übernahme der Schrift erfolgte erst gegen 700 v. Chr., vgl. dazu die Anm. 97 mit Lit.; einzelne Passagen in der Odyssee setzen die Öffnung Ägyptens für Griechen voraus, sie weisen somit in die Zeit nach 660, vgl. Haider 1988a,211-220 und in diesem Band S. 96ff. 105 Dies mag auch als Antwort auf die These von Antonaccio 1993, bes. 63, gelten, daß Grabkult und Heroenkult miteinander konkurrierten. 106 Hadzisteliou-Price 1973,132 mit Verweis auf Hack 1929,60f. Auch Coldstream 1976,8 bemerkt en passant, um 1920 (als Farneil sein bekanntes Werk verfasste) sei es „fashionable" gewesen „to explain away almost all heroes as faded deities", ohne sich dann weiter um diese Möglichkeit zu kümmern. 107 v g l . etwa die Artikel über die einzelnen Heroen im Kleinen Pauly. Burkert 1977,314f ist überzeugt, daß die alte Kontroverse „mit einem Sowohl-Als auch zu schlichten" sei.

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ben, für welche die erwähnte historische Genese in Betracht kommt. Dabei sind diese Kriterien kumulativ zu sehen; das heißt, wenn eines allein erfüllt ist, so wird dies für die besagte Hypothese nicht ausreichen oder auch eine ganz andere Erklärung erlauben 108 , doch steigt die Wahrscheinlichkeit, wenn mehrere gleichzeitig zutreffen. Es geht also, beiläufig nach Bedeutsamkeit gereiht, um folgende Merkmale einer Heroengestalt, die es zu beurteilen gilt: - Der Name ist entweder griechisch nicht etymologisierbar oder aber als Kultepiklese zu verstehen, die weithin reichenden Glanz, Blick, Schutz oder Macht, Kraft und Heiligkeit oder ähnliches ausdrückt. Die Religionsgeschichte kennt genügend Fälle, in denen solche Ehrentitel den ursprünglichen Namen einer Gottheit in den Hintergrund drängen. In unserem Zusammenhang ist insbesondere daran zu denken, daß eine griechische Epiklese nach und nach einen vorgriechischen Namen ersetzte oder auch ganz einfach einen vorgriechischen Kulttitel übersetzt, der nicht mehr in der Orginallautung weitertradiert wurde. - Die im Zusammenhang mit dem Heros oder der Heroine überlieferten Riten enthalten Elemente, die mit dem oben einleitend beschriebenen, am Totenritual orientierten Heroenkult nichts zu tun haben, zum Beispiel die Verehrung heiliger Bäume oder ähnliches. Wie immer, ist dabei auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß sich solche Riten manchmal aus Kultaitien rekonstruieren lassen. - Die antike Überlieferung erwähnt ihrerseits explizit oder zeigt indirekt, daß der Kult zwischen ,Götterkult' und ,Heroenkult' schwankte. - Der Mythos setzt den Heros oder die Heroine in mehrfache, jedenfalls in andere Beziehungen zu .olympischen' Gottheiten als die bloße Abstammung; etwa als Ehepartner oder auch als Gegner in mythischen Kämpfen. - Frühe Texte, allen voran die Epen oder Hesiod, reden davon, dem Heros oder der Heroine sei Unsterblichkeit verliehen worden. - Es gibt mehrere Kultstätten für den Heros oder die Heroine, insbesondere auch mehrere Orte, an denen Gräber gezeigt werden. - Der Kultplatz befindet sich im Temenos oder im Tempel einer,olympischen' Gottheit. - Der Heroenname wird nach Ausweis späterer Quellen mit jenem einer Gottheit zur Doppelbezeichnung des bekannten Typs, etwa ,Zeus Agamemnon' kombiniert. - Die Quellen - allzu oft ist das freilich erst Pausanias - erzählen von sehr alten Kultbildern, insbesondere Xoana. Klassische Fälle, auf die eine Reihe dieser Kriterien zutrifft, wären etwa Ariadne, Helena, Pasiphae, Phaidra, Menelaos 109 , die Dioskuren, aber auch Iphigenie, Erechtheus/ Erichthonios, Herakles, Asklepios und Perseus 110 . 108

109

110

So könnte ein nichtgriechischer Name für sich allein auch auf orientalische Herkunft hindeuten; eine Mehrzahl von Gräbern könnte ihre Ursache in politischen Interessen und Ansprüchen haben usw. Berechtigte Hinweise auf den hl. Baum in seinem Heiligtum im arkadischen Kaphyai (vgl. Paus. 8,28,3) sowie auf die Beziehung zur unsterblichen Helena, die ihm nach Od.5,561ff zu einem Platz auf den Inseln der Seligen verhilft, bei Maaskant-Kleibrink 1989,7. Burkert 1977,314 denkt, wohl zu Recht, auch an Achilleus und Alexandra/Kassandra.

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Soweit die Kultstätten solcher Heroen auch archäologisch untersucht sind und in der oben (Abschnitt 2) referierten Diskussion eine Rolle spielen, sind es auffälligerweise jene, wo keine mykenischen Gräber eine Rolle spielen, sondern bronzezeitliche Siedlungsreste oder eventuell auch Kultplätze. Das muß zu denken geben. Man muß sich schließlich fragen, wie sich das „Sinken" dieser Gottheiten abgespielt haben mag, da es in Zeiten, in denen niemand in der Lage war, eine gezielte Religionspolitik zu betreiben, kaum ein bewußtes, intentionales ,Absenken' gewesen sein kann. Aber man kann an einen Reflex soziokultureller Vorgänge in der religiösen Sphäre denken. So könnten jene Bevölkerungsgruppen, die diese göttlichen Wesen verehrten, nach und nach an gesellschaftlicher Bedeutung verloren haben, etwa durch zahlenmäßige Abnahme, sozialen Abstieg oder durch ethnische Assimilation oder eine Kombination dieser Faktoren. An einem bestimmten Punkt einer solchen Entwicklung war es dann möglich, einzelne mythische Gestalten, die für jene schwindenden Sondergruppen von Bedeutung waren, unter die halbgöttlichen fernen Vorfahren einzureihen, die man - noch in unscharfer Abgrenzung gegen die ι3εοί und ϋεαί - als ή ρ ω ε ς bezeichnete. Wenn weibliche Gottheiten einem solchen Prozeß unterlagen, boten sie überdies eine ideale Ergänzung für die männliche Heroenwelt der Herren der Burgen und Tholoi 111 . Wenn dies ein angemessenes Modell für das ,Absinken' von Gottheiten ist, dann liefert es zugleich auch eine Vorstellung davon, wie mykenische Gottheiten den tiefen soziokulturellen Umbruch nach 1200 überdauert haben, um am Ende der Dark Ages als Heroen und Heroinen fortzuleben. Betont sei, daß dieses Modell auch und gerade dann plausibel bleibt, wenn jener Umbruch mit größeren ethnischen Veränderungen verbunden war: Es bedarf keines direkten Nachweises der späteren Heroennamen in Linear-B-Texten, da es mit der Tradierung bzw. Übersetzung von Kulttiteln rechnet, und es paßt auch auf einen vielleicht jahrhundertelangen ethnischen Assimilationsvorgang, der etwa im achten und siebenten Jahrhundert zum Abschluß kam. Der oben angesprochene archäologische Befund Kultstätten solcher Heroen und Heroinen nicht an mykenischen Gräbern, sondern an Siedlungs- und Kultplätzen - fügt sich als Indiz für einen solchen Vorgang hier gut

111

Vgl. dazu unten S. 52f.

112

Die Schwierigkeit, daß selbst an diesen Stätten so gut wie immer ein mehr oder minder langer Hiatus in den Fundbeständen zwischen der bronzezeitlichen/submykenischen und der eisenzeitlichen/geometrischen Phase festzustellen ist, sei hier nicht übergangen. Ein solcher Hiat muß aber nicht unbedingt das völlige Verschwinden der bronzezeitlichen Bevölkerung anzeigen; es genügt, daß diese Bevölkerung im Zuge des Umbruchs dezimiert, materiell verarmt, in ihrer Organisation gestört und vielleicht auf regionale Rückzugsgebiete ausgewichen war (vgl. zu den Verhältnissen der submykenischen Zwischenzeit Patzek 1992,94f mit Lit.). Auch unter solchen Umständen kann der Nimbus alter Siedlungen und Kultstätten erhalten geblieben sein, gestützt auch durch minder ansehnliche Reste. Mangels präziser Erinnerung konnten auch mittelhelladische Reste zu neuen Ehren kommen, ζ. B. in Olympia.

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Wenn man im übrigen in diesem Zusammenhang mit Kontinuität der betreffenden Gestalten trotz Kulturbruchs und jahrhundertelanger Oralität und Schriftlosigkeit rechnet, so ist dies dadurch zu rechtfertigen, daß sie für ihre Verehrer - anders als die mykenischen Fürsten, Heerführer und Beamten - auch unter den radikal veränderten Bedingungen der Dark Ages einen sehr bedeutenden und kontinuierlich aktuellen ,Sitz im Leben' hatten, nämlich im Rahmen von Riten, die der Fruchtbarkeit, der Initiation, der Orakelsuche, der Förderung schwieriger Geburten, der Krankenheilung oder ähnlichen Zwecken dienten. 4.2. Eponyme War soeben von einer Gruppe von Heroen und Heroinen die Rede, der vermutlich ein höheres Alter zukommt, so gibt es daneben auch Heroentypen, die das Signum einer späten Entstehung an sich tragen. Dies gilt wohl zum Großteil für diejenigen Heroen, deren - gut aus dem klassischen Griechisch verständliche - Namen kämpferische Tugenden oder auch die Fähigkeit zu klugem Rat in der Versammlung ausdrücken bzw. dementsprechend bei Heroinen Hinweise auf das nach dem Geist der Zeit ideale weibliche Rollenbild 113 . Besonders überzeugend ist die Spätdatierung bei solchen Gestalten wie Neoptolemos, dessen Benennung schon ausdrückt, daß er den Kampf erneuert und fortsetzt, den sein Vater Achill ausgefochten hat, und der im Epos die Achilleus-Handlung nahtlos im Sinne der dichterischen Konzeption fortführt. Daneben sind es noch die Eponymen, die - schon nach dem seinerzeitigen Urteil von Farneil und noch nach dem von Burkert 114 - eine historisch junge Schicht der Heroenwelt repäsentieren. Wie kommen damit auf einen Typ von Heroen und Heroinen zu sprechen, bei dem die kultische Komponente kaum vorhanden ist, und dem auch keine frühen archäologischen Fundstätten zugeordnet werden können. Als Heroen bezeichnet man sie im Grunde nur kraft der Tatsache, daß sie von Dichtern - und dann wohl auch von Genealogen ohne künstlerische Ambition - in einen engen Handlungs- oder Abstammungszusammenhang mit Heroen anderer Genese gebracht worden sind. Einige Beobachtungen, die ihre Häufigkeit, geographische Verteilung und Funktion bei Homer und Hesiod betreffen, seien im folgenden vermerkt. In der Ilias kommt die Eponymenfunktion etwa dreißig bis vierzig Helden zu. Dabei ist die Zahl der eindeutigen Eponymen unter den Trojanern etwa doppelt so groß wie 113 114 115

Z.B.: Admetos, Alkandros, Amyntor, Kaietor; Agamede, Chrysothemis, Eurynome, Polykaste Vgl.Farnell 1921, 19. Für die trojanische Seite nennen wir hier Asios 1-3 (Numerierung nach dem Namensverzeichnis in der Ausgabe bzw. Übersetzung von Roland Hampe bei Reclam 1979), Askanios 1 und 2, Dardanos, Idaios 1 und 2, Ilioneus, Ilos, Imbrios, Lykaon, Pedaios, Satnios, Simoeisios, Skamandrios 1 und 2, Thymbraios, Troilos, Tros 1 und 2; dazu unter den als Verbündete beteiligten Völkern Ainios, Imbrasos, Paion, Thrasios; für das Mutterland Aleisios, Anchialos(für das kilikische Anchialos?), Eioneus 1, Epeios, Peleus, Pheres.

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unter den Achäern 115 . Offenbar war dies neben der Erfindung von Namen, die kämpferische Tugenden ausdrückten, das wichtigste Mittel, um die geographisch und ethnographisch einigermaßen gut bekannte Landschaft Nordwest-Kleinasien 116 mit imaginären Einzelpersonen zu bevölkern, während für den griechischen Bereich etwas mehr anderes Namensmaterial zur Verfügung stand 117 . Für das Mutterland ist ein gewisser Schwerpunkt im Bereich Elis/Achaia/Arkadien sowie für Thessalien zu erkennen, wobei die Nennungen von Aipytos in Arkadien sowie jene von Thessalos und Phylakos in Thessalien dem Schiffskatalog angehören. Heroinen spielen dabei fast keine Rolle, worauf wir im nächsten Abschnitt noch zurückkommen müssen. In der Odyssee, die ja wesentlich andere Inhalte darstellt, wird dieser Bestand kaum erweitert - als Ausnahmen anzumerken sind lediglich die kunstverständige Achaierin Mykene und der Umstand, daß unter dem Namen Aiolos in der Ilias der Vater des Sisyphos erscheint 118 , und zwar in Ephyra, einer Stadt im rossenährenden Argos, angesiedelt, in der Odyssee hingegen ein König und Vater des Kretheus in Thessalien - allerdings in der Nekyia, die möglicherweise jünger ist als das Gesamtwerk und von den (pseudo)hesiodeischen Ehoien beeinflußt sein könnte 119 . In Hesiods Theogonie ist Kadmos, wenn man ihn als Eponym zur thebanischen Burg Kadmeia sehen will, neben Eleuther, der zur Stadt Eleutherai, ebenfalls in Boiotien, gehört, der einzige Eponym. Ganz am Schluß des Werkes freilich begegnet noch Latinos 120 . Man hat allerdings mit Recht bemerkt, daß dieser Schluß wie eine Einleitung zu den Frauenkatalogen bzw. Ehoien wirkt 121 , und in den dortigen Kontext würde die Ausweitung des EponymenPrinzips auf Völker am Rande der bekannten Welt im Grunde viel besser passen. Der geographische Horizont, der in den Ehoien durch die Erfindung von Eponymen markiert wird, reicht vom fernen Westen über die Skythen im Norden immerhin bis zu den Arabern im Süden. Deren angeblicher Stammvater Arabos figuriert als Neffe des Danaos und - in schöner Demonstration von Kenntnisreichtum - als Schwiegervater des Phoinix und Enkel des Belos, hinter dem unschwer die Gottesbezeichnung Baal zu erkennen ist 122 . Man schätzt, daß uns von den Ehoien trotz neuerer Papyrusfunde nur etwa ein Fünftel

116 117

118 119 120 121 122

123

Vgl. dazu W.Sieberer in diesem BandS. 123f. Über die griechisch-trojanische Doppelwelt wird hinausgegriffen mit Phoinix 1 und 2; Minos stellt einen Sonderfall dar, da er sich wahrscheinlich von einer bronzezeitlichen Landesbezeichnung herleitet, vgl. dazu Haider 1988a,16-18 mit Lit. Er ist vom Windgott zu unterscheiden Od. XI, 237. Theog. 1013. Vgl. dazu u.a. die Einleitung zur jüngsten Textausgabe von L. und K.Hallof, 1994, XXXVf Ehoien 137 p. 119 Hallof. In diesen Anspielungen stecken natürlich Datierungshinweise. Zu Skythes vgl. Ehoien 150,16 p. 122 Hallof (in diesem Fall überzeugend ergänzt). Vgl. Hallof/Hallof 1994, XXXIII.

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erhalten ist 123 , und so läßt es sich nicht statistisch nachweisen, daß ihr Dichter in besonderem Maße bestrebt war, zuvor noch nicht mit Heroen-Ahnen versehene griechische Landschaften in diese Vorstellungswelt einzubeziehen, obwohl dies naheliegt. Immerhin finden sich Graikos für Nordwestgriechenland und Makedon; außerdem scheint ein gewisses Interesse für Lakonien und die dorischen Phylen vorhanden zu sein 124 . Allein in den erhaltenen Textpartien der Ehoien sind rund dreißig Eponyme zu finden, die nicht im homerischen Epos vorkommen. Setzt man für das Gesamtwerk etwa fünfmal so viele an, so erscheint die Aussage berechtigt, daß der Autor von dieser Möglichkeit geradezu exzessiv Gebrauch gemacht hat. Neben der Erfassung weiterer Landschaften ging es ihm offensichtlich auch darum, Genealogien nach hinten zu verlängern, um sie schließlich zusammenzuschließen. So bekommt der Arkader Aipytos einen Großvater Arkas und Zeus und Kallisto als Urgroßeltern. Wichtiger ist aber, daß so auch Stheneboia zur seiner Cousine wird, und damit ist eine Verbindung zu jenen Nachkommen hergestellt, die sie zusammen mit ihrem Gatten Proitos hat 125 . Hyakinthos bekommt mit Amyklas, Lakedaimon und Taygete drei Generationen von Vorfahren und wird auf diese Art mit den Tyndariden und Penelope verknüpft 126 . Selbst in den Ehoien, die ja mythische Genealogien in der weiblichen Linie verfolgen, finden sich aber nur ganz wenige weibliche Eponyme. Das führt uns auf die Frage der Heroinen. 4.3. Heroinen Wie fügen sich die Heroinen insgesamt in das Bild der sich entfaltenden Heroenvorstellung, das hier skizziert worden ist? - Eines ist zunächst einmal klar: Die mykenischen Burgruinen, die wuchtigen Tholoi und die Waffen unter den bronzezeitlichen Grabbeigaben boten mehr Ansatzpunkte für die Imagination einer heroischen Männergesellschaft als für ihr weibliches Pendant 127 . Auch die These, daß Heroenkulte der Legitimation territorialer und anderer Ansprüche dienen mochten, kann - abgesehen von den einschränkenden Überlegungen, die oben (S. 40f) vorgebracht wurden - für die Heroinen nur in abgeschwächtem Maße gelten: In einer überwiegend patriarchalischen Gesellschaft, wie es die griechische im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. ohne Zweifel war, können ja Erbansprüche auf Territorien, Ämter, 124 Nach Lakonien gehören die in älteren Quellen noch nicht erwähnten Eponyme Amyklas, Lakedaimon, Lapithes(Eh. 171 p. 124Hallof/Hallof; zu einer angeblichen Stadt Lapithaion) und Taygete; zu den Phylen Eh 10,6ff p. 87 Hallof / Hallof. Wenn die Anordnung der Fragmente durch die modernen Philologen das Richtige trifft, strebte das Werk auch auf die Herrschaft der Atriden in der Argolis und Lakonien zu. 125

126 127

Die Linie, die von Arkas über Apheides und Aleos zu Auge und deren Gatten Herakles führt (vgl. Stemma 17 bei Hallof / Hallof), ist im erhaltenen Text nicht explizit belegt, siehe zu Auge Eh. 165 p. 123f Hallof. Zu den Herakliden vgl. in diesem Band Ulf S. 252ff. Ehoien 171 p. 124f Hallof. Vgl. dazu auch Calame 1987,155f. Die Gewandnadeln unter den spätgeometrischen und archaischen Votiven können darauf hindeuten, daß die Stifter an Empfängerinnen dachten, müssen dies aber nicht, vgl. Coldstream 1976,9.

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Priesterwürden (ausgenommen weibliche) und ähnliches durch Berufung auf Vorfahren in weiblicher Linie bei weitem nicht so gut begründet werden wie auf Deszendenz in männlicher Linie. Dieser Umstand findet seinen Niederschlag unter anderem auch in der Namengebung beziehungsweise in den Deszendenzangaben im Epos 128 . All dem zum Trotz gibt es aber eine Anzahl von Heroinen mit großer religiös-kultischer oder mythisch-literarischer Bedeutung. Es ist schon längst vermutet worden, daß sich darin die große Bedeutung weiblicher Gottheiten in der minoisch-mykenischen Kultur reflektiert. Hier ist nicht der Ort, um dies erneut und systematisch an den einzelnen Heroinengestalten zu prüfen. Eine vorläufige Durchsicht der oben erwähnten Kategorien von Kultplätzen und Gestalten ergibt aber folgendes: An jenen Stätten der Heroenverehrung, die dem archäologischen Befund zufolge an alte Siedlungen und Kultplätze anknüpfen, sind die Heroinen als Inhaber wohl in der Überzahl. Auch unter jenen Gestalten, auf welche mehrere der religionsgeschichtlichen Indizien für vermutlich gesunkene Gottheiten zutreffen (vgl. oben S. 48), sind deutlich mehr Heroinen als Heroen. Besonders stark vertreten sind sie auf Kreta 129 . Obwohl somit eine größere Anzahl mythischer Frauengestalten bronzezeitlicher Herkunft zur Verfügung stand, war ohne Zweifel weiterer Bedarf zur Ergänzung des Gesamtbildes der Heroenwelt nach der weiblichen Seite hin zu befriedigen. Der Fall der Andromeda zeigt, daß orientalische Anregungen ein wichtiges Reservoir dafür lieferten. Dazu kam die dichterische Neuerfindung. Die durchsichtigen Namen, die etwa die Ependichter den von ihnen geschaffenen Figuren gaben, drückten vor allem Klugheit, Güte und Kunstfertigkeit aus. Die zweite Hauptmöglichkeit, den Bestand an Heroinen durch literarische Erfindung zu vergrößern, wurde hingegen auffallend wenig genützt: Die Eponymenfunktion spielt im Epos bei weiblichen Gestalten fast keine Rolle! Danae mag einfach ,die Danaerin' heißen, Briseis ist eine der üblichen Wortbildung entsprechende Herkunftsbezeichnung für eine Frau aus Brisa auf Lesbos 130 , zwei weitere Fälle sind in sich problematisch 131 . Wie wenig ist das doch gegenüber dreißig bis vierzig männlichen Eponymen! 128 Vgl. dazu die soeben erschienene Arbeit Higbie 1995 passim, bes. 111-135. 129 Vgl. etwa Leveque 1991,269 mit besonderem Hinweis darauf, daß Aphrodite mit Pasiphae, Phaidra, Ariadne und Eileithyia identifiziert wurde, sowie auf die Kultkontinuität von MM III bis in die römische Zeit in Kato Symi. Leveque führt aus, daß während der Dark Ages ein neues Gleichgewicht zwischen dem maskulinen und dem femininen Element im Pantheon hergestellt wurde, und zwar durch die Vermehrung der männlichen Gestalten, u.a. durch Zeus und Apollon. 130

131

Denkbar wäre freilich, daß sie ursprünglich mit dem lakonischen Briseiai zu tun hatte und von dorther mit Agamemnon assoziiert wurde, der sie in der Ilias bekanntlich an Achill weitergibt. Eine andere Verknüpfung von lakonischer und trojanischer Frauengestalt besteht im Falle Alexandra/Kassandra, vgl. etwa Burkert 1977,314 mit Lit. Hermione (Od. 4,4): Namensgleich mit der Stadt in der Argolis, hat aber in der Mythologie keine Beziehung zu ihr. Myrina: Die Identität der im Hügel Batieia vor Ilion begrabenen (11.2,814; vgl. oben S. 24) mit der Eponymin zur gleichnamigen lemnischen Stadt (belegt erst bei Hekataios FGrH 1 F 138c) ist ungewiß (vgl. H. v. Geisau, Kl.Pauly 111,1520 s. v.).

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Selbst für die Ehoien gilt dasselbe, obwohl sie sich mit Abstammungen in der weiblichen Linie befassen und von Eponymen geradezu wimmeln, wie oben ausgeführt: Nur Aigina, Astereis (zur thessalischen Stadt Asterion?) und Taygete fügen sie dem hinzu, was wir aus dem Epos kennen. Selbst in Fällen, in denen ein grammatikalisch feminines Toponym den Anstoß zur Kreation einer Heroine hätte geben können, erfolgen maskuline Bildungen: Amyklas für Amyklai, Krisos für Krisa, Magnes für Magnesia, Oineus für Oinoe bei Argos 132 . All dies stützt wohl in hohem Maße die oben vorgebrachte Überlegung, daß die Dichter der archaischen Zeit mehr oder minder spontan männliche Repräsentanten für Völker und Orte imaginierten, weil auch die Legitimierung von Ansprüchen eben primär in der männlichen Linie erfolgte. Der Einbau weiblicher Linien diente offenbar nur da und dort einer genealogischen Verknüpfung, die erfolgte, als schon ein gewisser Kanon von Abstammungs- und Erblinien in männlicher Deszendenz vorlag 133 . In der Summe hat sich somit folgendes ergeben: Die ersten Anstöße aus dem Orient wie auch die monumentalen Anknüpfungspunkte, die die Griechen im Heimatland für die Entfaltung der Heroenvorstellung vorfanden, wirkten eher zugunsten männlicher Heroen. Sie konnten auch Legitimationsbedürfnissen besser dienen. Unter den historisch alten Gestalten, die in die neue Vorstellungskategorie aufgenommen wurden, hatten hingegen feminine Figuren das Übergewicht. Die Dichter vermehrten sie insbesondere um Verkörperungen des weiblichen Rollenideals ihrer Zeit. Weibliche Eponyme hingegen hatten in der patriarchalischen Gesellschaft der homerischen und früharchaischen Epoche keine rechte Funktion und wurden deshalb sehr selten erfunden. Der Verfasser möchte diesen Abschnitt der vorliegenden Studie nicht beschließen, ohne auf eine Studie mit dem vielversprechenden Titel „The stuff of which Greek heroines are made" einzugehen, die M.Maaskant-Kleibrink im Jahre 1989 veröffentlicht hat. Einleitend beklagt die Forscherin, diese Gestalten würden „systematically overlooked", freilich nicht ohne Gründe, die schon in der Antike lägen, denn „the misogyny of the Greek and Roman world contributed to the fact that very important heroines. . . disappeared from the centre to the margin of the Classical culture" 134 . Aus unserer Sicht verhält sich die Sache eher so, daß die Heroinen in der Heroenwelt von vorneherein eine begrenzte Rolle spielten und durch ganz bestimmte Typen vertreten waren - und zwar nicht aufgrund vordergründiger Frauenfeindschaft, sondern aufgrund der gesamten Entstehungsgeschichte und der soziokulturellen Funktion dieser Vörstellungsschicht. Die großen Frauengestalten der attischen Tragödie erscheinen in dieser historischen Perspektive als bemerkenswerte Bereicherung des überkommenen Erzählguts - also das Gegenteil einer fortschreitenden Marginalisierung der Heroinen.

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Amyklas: Eh.171, p. 124 Hallof; Krisos: Eh. 58,17, p. 109 Hallof; Magnes: Eh.7,2 und 8,1, p. 86 Hallof; Oineus: Eh. 122,1, p. 116 Hallof. 133 Vgl. oben S. 52. '34 Maaskant-Kleibrink 1989,2.

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Die Hauptthese von Maaskant-Kleibrink, nämlich daß eine Reihe wichtiger Heroinen auf Gottheiten mit einer langen Geschichte zurückzuführen sind, teilt der Verfasser im Prinzip und in manchen Details 135 , nicht jedoch die Argumentation, die zwei angebliche Indizien dafür besonders in den Vordergrund rückt: Einerseits soll dies das Erzählmotiv der wunderbaren Entrückung sein, wie es in der Geschichte von Iphigenies Opferung oder von Helenas Entführung vorkommt 136 , und andererseits der Bildtyp der Frau mit erhobenen Armen, der die „goddess in epiphany" erkennen läßt 137 . Abgesehen von der Vieldeutigkeit dieses Motivs, die die Autorin selbst beiläufig anspricht, indem sie von einer Geste des Gebets, der Unterwerfung und der Epiphanie spricht, geht es auch nicht an, nach Zeit, künstlerischer Reife und Inhalt völlig unterschiedliche Werke undifferenziert als Stütze dieser These heranzuziehen 138 . Letztlich muß es wohl bei traditionelleren, aber weniger anfechtbaren Argumenten bleiben.

5. Historische Einordnung - Teil II: Heroenvorstellung und Ethnogenese Mehrere der in dieser Arbeit zitierten wissenschaftlichen Autoren kämpfen mit dem Problem, daß in der Ausprägung der Heroenvorstellung deutliche Unterschiede zwischen dorischen und nicht-dorischen Regionen bestehen müßten, wenn zwei Prämissen zuträfen: a) Der Heroenkult bewahrt dank ununterbrochener Tradition Erinnerungen an die mykenische Zeit. b) Im nicht-dorischen, insbesondere im ionisch-attischen Bereich besteht weitgehende ethnische Kontinuität zwischen Bronze- und Eisenzeit, im dorischen hingegen als Folge der dorischen Wanderung ein deutlicher Bruch. Demnach konnte die Heroenverehrung im nicht-dorischen Gebiet mehr oder minder bewußt und direkt ans mykenische Erbe anknüpfen, in der dorischen Dialektzone hingegen nicht - wegen des Traditionsbruches, der mit der dorischen Wanderung einhergegangen war. Schon in der für die neuere Forschungsdiskussion grundlegenden Arbeit von 1976 hatte Coldstream, diese Prämissen voraussetzend, angenommen, die Heroenkulte seien dort besonders stark, wo die Landesbewohner der spätgeometrischen und archaischen

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So etwa die Hinweise auf Helena Dendritis, auf ihre Rolle bei der spartanischen Mädchenitiation und auf ihre Unsterblichkeit nach 0d.5,561ff (Maaskant-Kleibrink 1989,7); auf Iphigenies Namen und ihre Verbindung mit dem Kurotrophos-Kult in Brauron (Seite 43 mit Verweis auf Zuntz 1971,142-147). Maaskant-Kleibrink 1989,5ff. und 43ff. Diese Erzählungen sind eindeutig aitiologische bzw. literarische Kunstgriffe, um irritierende Geschichten zu entschärfen bzw. mit ganz anderen, meist neu entworfenen, zu verknüpfen. Maaskant-Kleibrink 1989,6f. Insbesondere die „Divine Nurses" sollen dahinterstehen. So geht es Maaskant-Kleibrink 1989,6f um einen protokorinthischen Aryballos ohne Beischriften, der auf die Entführung Helenas durch Theseus gedeutet wird; 43 um das berühmte pompeianische Wandgemälde, das die Entrückung Iphigenies zeigt; 8 werden tausende Statuetten, die den gennanten Gestus zeigen, als ritualisierte Pandoras verstanden, weil Pandora selbst aus Ton geformt wird.

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Zeit aufgrund ihrer Autochthonie, die er offenbar auch in der historischen Realität als gegeben ansah, zum einen den Anspruch erhoben, von den Heroen abzustammen, und wo zum anderen während der Dark Ages auch die Bestattungsweise gewechselt hatte, also etwa ganz besonders in Athen 139 . Andere Autoren setzen den Effekt der dorischen Wanderung geringer an, so Carlo Brillante, der meint, die Wanderung sei unter der Führung vornehmer Familien in geordneten Bahnen verlaufen, und daher nicht gar so umstürzend in ihrer Wirkung gewesen; anders als im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter habe daher in Griechenland Kontinuität geherrscht 140 . Ähnlich überlegt Pierre Leveque, eigentlich seien nur Randgruppen der protogriechischen Bevölkerung (seil, der mykenischen Ära) von einer sekundären Wanderung erfaßt worden, sodaß letztlich keine „differenze notevoli" zwischen dorischen und nicht-dorischen Gebieten entstanden: Mythen und Riten seien nach dem Fall der Paläste in dorischen wie nicht-dorischen Gebieten weitertradiert worden 141 . Ian Morris schließlich geht im Anschluß an J. T. Hooker davon aus, daß die Vorstellung, wonach die Dorer erst nach dem Trojanischen Krieg eingewandert seien, schon im achten Jahrhundert v. Chr. existierte, und die Dorer deswegen nicht glaubten, von den Heroen abzustammen, während Solon für die Athener schon im siebenten Jahrhundert den Anspruch erhob, die ältesten der Ionier zu sein 142 . Abgesehen von den frühen Datierungen geben die zugrundeliegenden Quellenstellen keine Basis für die Vorstellung der dorischen Wanderung, wie C. Ulf in diesem Band S. 25 Iff eingehend zeigt. Doch folgen wir weiter dem Gedankengang von Morris: Er betont anhand einer linguistischen Landkarte, daß die spätgeometrischen und archaischen Kulte an mykenischen Gräbern die Dialektgrenzen völlig ignorieren, insistiert aber, daß diese Opfer und Riten für die Dorer nicht das gleiche bedeutet haben können wie für Athener oder Arkader(!), „who professed always (Hervorhebung vom Verf.) to have occupied the same land" 143 . Schließlich hätten es die Spartaner auch der Auffindung der Gebeine des wohlgemerkt nicht-dorischen Heros Orestes zugeschrieben, daß sie um 550 v. Chr. Tegea besiegen konnten 144 . All diesen Überlegungen ist grundsätzlich entgegenzuhalten: Es gibt zwar örtliche und regionale Unterschiede in den Ausprägungen des Heroenglaubens, aber überregionale Gegensätze zwischen dem dorischen und dem nicht-dorischen Gebiet sind nicht aus dem Material ersichtlich, sondern bei dessen Interpretation aufgrund von Vorannahmen (dorische Wanderung bzw. ethnische Kontinuität) postuliert. Das gilt für alle oben diskutierten Phänomene: Die Grabkulte verteilen sich ebenso auf das dorische wie auf das

139

Coldstream 1976,14 und bes. 17; referiert u.a. von Morris 1988,754. Brillante 1981,49-51. 141 Leveque 1991,261 und 266 sowie die Ausführungen auf den Seiten dazwischen. 142 Morris 1988,756 mit Hinweis auf eine Quellensammlung zur dorischen Wanderung bei Hooker 1976,213-222, die mit 0d.3,304ff und 19,175ff sowie Hesiod fr.9 und 233 einsetzt. 143 Morris 1988,756. 144 Hdt. 1,68. ,4

Die griechische Heroenvorstellung

in früharchaischer

Zeit

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nicht-dorische Gebiet 145 wie die archäologisch früh belegten Kulte, die an mykenische Siedlungen oder Kultplätze anknüpfen und später Heroen oder Heroinen galten. Die eventuell auf einen Heroenkult beziehbaren Anlagen geometrischer Zeit tun dies ebenso wie die Nennungen von Heroen in den Epen und bei Hesiod, die vermutlich gesunkenen Gottheiten und Eponymen ebenso wie die Heroinen. Den Konsequenzen dieses Befundes weicht man auf zwei Wegen aus: Man hält entweder zwar an der dorischen Wanderung fest, minimiert aber ihren Einfluß, auch wenn dabei merkwürdig unrealistische Bilder einer Migration entstehen - oder man erkennt die gleichmäßige Verteilung der Zeugnisse zwar an, legt ihnen aber ganz verschiedene Bedeutungen bei, die so nicht belegt sind 146 . Weniger gezwungen ließe sich der Heroenkult samt seinen vielfältigen Ausprägungen in ein anderes Gesamtbild der ethnischen Verhältnisse einordnen, das doch in Erwägung gezogen werden sollte: Während der Dark Ages lebten in allen(!) Teilen Griechenlands Gruppen, die einer verarmten und zersplitterten mykenischen Restbevölkerung angehörten, neben Zuwanderergruppen, die in sich nur mäßig differenziert waren, und dies unter wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen, die kein Bewußtsein einer gemeinsamen griechischen Identität zuließen 147 . Die bekannten Dialekte bzw. Dialektgruppen bildeten sich im Lande, unter anderem durch regionale Zeitunterschiede bei den Zuwanderungen, durch unterschiedliche Zahlenverhältnisse und sonstige Relationen zwischen Einwanderern und Ansässigen sowie durch die Wirkung von Verkehrslinien und -barrieren, wobei sich die Differenzen freilich bekanntermaßen in Grenzen hielten. Ein Gemeinschaftsbewußtsein der einzelnen Dialektgruppen ließ aber aus den gleichen Gründen auf sich warten wie das Gefühl einer gesamtgriechischen Identität - die Ethnogenese eines neuen Volkes war erst im Gange. Der Vorgang der Ethnogenese, von dem wir hier sehr bewußt sprechen, wurde nun, soweit es die Ausbildung gemeinsamer Vorstellungen betrifft, durch den Heroenglauben ab etwa 750 v. Chr. wesentlich unterstützt: Allein schon die Zusammenfassung einiger älterer Gestalten unterschiedlicher religions- und mythengeschichtlicher Herkunft, anonymer Ahnen und vieler zusätzlich imaginierter Figuren unter einem neuen, wenngleich archaisierenden Oberbegriff und ihre Einordnung in eine unbestimmte fernere Vergangenheit bedeutete viel, weil sie eine Vorstellung schuf, die mehrere Landschaften gedanklich miteinander verband. Die narrative Verknüpfung der namentlich benannten und individualisierten Heroen und Heroinen aus verschiedenen Landschaften durch Erzählungen über Kriegszüge, Heiraten, Entführungen, Flucht und Rückkehr legte zudem nach und nach ein Netz von Beziehungen über die geistige Landschaft Griechenlands. 145

Das sieht Morris ja selbst; betont wird es auch von Tausend 1990,150f. Selbst die These, die Grabkulte hätten in Attika ganz anderen Legitimationsbedürfnissen gedient als in der Argolis, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Letztlich war der Unterschied wohl nicht so fundamental, vgl. oben S. 40. 147 Vgl. dazu die Ausführungen von Patzek 1992, 86ff. 11 Off. mit Lit. Ausführlich zur Einwanderungsfrage Hampl 1975, lOOff. 146

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Unter anderem müssen dabei aitiologische Momente, die ebenfalls erst unter den Verhältnissen ab dem ausgehenden achten Jahrhundert auftreten konnten, eine beträchtliche Rolle gespielt haben: Es gab nun - und das setzt in der Realität einen intensivierten Binnenverkehr und in den Köpfen entsprechende Reflexionen voraus! - zum Beispiel Männer, die Fragen zu überregionalen Namensgleichheiten stellten: Warum etwa wird Ariadne sowohl in Kreta als auch auf Naxos verehrt? Die Sage von der Entführung durch Theseus beantwortet diese Frage, an die sich früher oder später freilich weitere nach anderen Kultorten (Athen, Argos, Lemnos, Amathus) anschlossen. Sie wurden nach dem gleichen Muster gelöst; das Ergebnis findet sich bei den Atthidographen beziehungsweise Plutarch 148 . Eine erste großartige Bündelung dieser vielen Fäden liegt uns in den Epen vor. Eine Perspektive aus der Sicht Kleinasiens verrät sich in ihnen des öfteren 149 . Könnte es sein, daß erst aus dieser Perspektive die Unterschiede zwischen den gesunkenen Göttern und Göttinnen Lakoniens und den imaginären Inhabern der Gräber in der Argolis und Messenien so weit verschwommen sind, daß sie sich in einer Kategorie zusammenfassen ließen? Die Zentralgestalten der Epen, Achilleus und Odysseus, sind in Randlandschaften des damaligen Griechenland beheimatet und nicht dort, wo man, an den archäologischen Indizien orientiert, die Ursprünge und Zentren der Heroenvorstellung suchen möchte. Liegt dies etwa daran, daß die beiden Heroen eben wegen dieser Ferne von den Brennpunkten noch nicht stark narrativ vorgeprägt und somit voll nach den Bedürfnissen der Dichter charakterisierbar waren? 150 Das gesamtgriechische Heer vor Ilion unter dem Oberbasileus Agamemnon war wohl eine Idealvorstellung des Dichters, die nicht ohne das Wissen um orientalische Verhältnisse zustandekam 151 . Daß sich dieses Heer ausgerechnet in Aulis und die Flotte damit in den Gewässern vor Chalkis und Eretria sammelt, weist wieder auf die Blütezeit dieser großen Handelszentren der spätgeometrischen und archaischen Zeit. Es war diese Zeit, in der die Heroenwelt konzipiert und zu einer imaginären gemeinsamen Vergangenheit der Griechen integriert wurde. Durch ihre erklärende und verbindende Funktion und durch ihre weithin anerkannte literarische Ausformung in den Epen wurde sie ein wichtiges Element für die Ethnogenese und das Identitätsbewußtsein jenes Volkes, das uns in der archaischen Zeit unter dem Hellenennamen entgegentritt.

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Plut.Theseus 19-21. Vgl. dazu Sieberer in diesem Band S. 122f, 129f. In der Rolle des Thessalers Achilleus vor den Mauern Ilions drückt sich wohl auch ein Bewußtsein von Zusammenhängen zwischen diesen - nach den Begriffen der heutigen Dialektgeographie - aiolischen Gebieten aus, obwohl der Terminus Aioler bei Homer auf Kleinasien beschränkt ist, vgl. Ulf in diesem Band S. 250. Vgl. dazu Ulf 1990,268.

Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr. PETER W . HAIDER

„Die Völkerschaften des alten Orients fanden an griechischer Keramik keinen Geschmack", deshalb sei ihr Vorkommen in der Levante „ein Hinweis auf dort ansässige Griechen, auf Kaufleute oder Söldner."1 Aufgrund dieser generalisierenden, durch keine Quellenaussage zu stützenden Behauptung wird in der neueren archäologischen wie in der von ihr abhängigen althistorischen Fachliteratur in der Regel immer noch jede griechische Scherbe, die an Fundplätzen zwischen Tarsos und Gaza aus der Erde kam, im besagten Sinne ausgewertet.2 Deshalb ist es notwendig aufzuzeigen, welches Bild die einschlägigen Befunde mit griechischer Importkeramik tatsächlich zeichnen, und welche historischen Schlußfolgerungen sie zulassen. Weil die Einfuhr griechischer Keramik in Phönizien bereits in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts einsetzte, wollen wir aus chronologischen Gründen das dortige Fundmaterial zuerst analysieren und dann zeitlich weiter fortschreitend dasjenige auf syrischem und palästinischem Boden auswerten. Die daraus gewonnenen Ergebnisse lassen sich in einem zweiten Schritt, bei dem vor allem die keilschriftliche Überlieferung aus Assyrien und Babylonien zur Präsenz der Griechen im Vorderen Orient ausgewertet wird, kontrollieren und ergänzen. In diesem

1 Cook 1959, 122. In analoger Weise argumentiert auch Akurgal 1966, 161f., der hier noch die nebulose Behauptung hinzusetzt, daß die Griechen damals „viel bessere Kunstwerke" nach dem Orient hätten verhandeln können. Akurgal sagt aber weder, welche Kunstwerke er damit meint, noch legt er sich fest, ob die Orientalen auch diese „besseren Kunstwerke" nicht gewollt hätten, oder die Griechen gar nicht gewillt gewesen wären, diese Produkte im Orient zu verkaufen. Daß es bei diesen Handelsbeziehungen wohl nicht nur um den Austausch von „Kunstwerken", sondern auch um Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte gegangen sein könnte, wird von ihm überhaupt nicht erwogen. 2 So vor allem Riis 1969, 436ff.; Riis 1970, 129; Jeffery 1976, 26, 63; Braun 1982, 7; Riis 1982, 243f. u. 251 f.; ders. 1983, 28Iff.; Nitsche 1987, 29; Courbin 1990, 49ff. u. 1993, 95ff„ bes. 107ff. Eine Distanzierung von dieser Vorstellung ist deutlich nur von Helm 1980,83 ff. vollzogen worden, zuletzt lassen eine solche auch Boardman 1990, 185 f. und Waldbaum 1994, 56 erkennen.

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Rahmen können dann auch die einschlägigen Funde aus Kilikien historisch eingeordnet werden. Im letzten Abschnitt soll das gesamte Quellenmaterial historiographischer, epigraphischer und archäologischer Natur zum Auftreten und zur Verwendung von Griechen in Ägypten kritisch geprüft und in einer Zusammenschau ausgewertet werden.

I. In Phönizien, Syrien und Palästina An erster Stelle müssen die aufschlußreichen Grabungen in der phönizischen Metropole von Tyros beleuchtet werden, die neben Zypern die älteste griechische Importkeramik aus dem 1. Jahrtausend v.Chr. ans Licht brachten.3 Im Stratum XI, das auf jeden Fall den Zeitraum von ca. 950-900 umfaßt,4 lagen eine euböische Bauchhenkelamphore, in der

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Das Grabungsareal (ca. 150 m 2 ) liegt im ältesten Siedlungsgebiet von Tyros, siehe Bikai 1978, 1, 5ff. und Courbin 1982a, 198f. Eine sehr eingehende und kritische Sichtung der griechischen Keramik aus Tyros nahm Nitsche 1987, 7ff. vor. Weiteres Material publizierten dann Coldstream/Bikai 1988, 35ff. Als ältester fester chronologischer Anhaltspunkt innerhalb der freigelegten Stratigraphie dient der Übergang von Stratum X.2 zu IX, der sich auf die Jahre um 850 festlegen läßt (Bikai 1978, 66f.; Nitsche 1987, 21f., 30,43). Nitsche 1987,10,43f. vermutet den Beginn von Stratum XI schon um 975. - Die grundlegend neuen Erkenntnisse zur typologischen Abfolge, zur Phasengliederung und zur relativen Chronologie protogeometrischer wie subgeometrischer Keramik, vor allem der von Euböa, verdanken wir bekanntlich den Grabungen von Lefkandi auf Euböa (Popham u.a. 1980, 1982 u. 1989; Catling in den Archaeological Reports 1981, 1982, 1983, 1985 u. 1987) sowie den Funden von Kalapodi in Mittelgriechenland (Felsch u. a. 1987, 35ff.). Die absolute Datierung dieser griechischen Keramik basiert dabei allerdings bis gegen 720 nur auf Schätzungen! (vgl. Desborough 1972, 133ff.). Erst in der stratigraphischen Vergesellschaftung mit importierten Orientalia auf Euböa einerseits, (Popham/Sackett/Themelis 1980, 217ff., 356ff.; Popham/Touloupa/Sackett 1982, 235ff., Catling 1982, 15ff. u. 1985, 15f. u. 1987, 12ff.; Hölbl 1987, 123ff.) und mit zyprischer wie phönizischer Keramik sowie der sogen. Samaria-Ware auf Zypern, in Kilikien und in phönizischen Siedlungen andererseits lassen sich konkrete Fixpunkte für eine absolute Datierung der griechischen Keramik vor und nach 720 finden. Eine grundlegende Voraussetzung dafür schufen Briese mit seiner Arbeit zur Typologie, Chronologie wie Verbreitung bemalter phönizischer Kannen im Zeitraum zwischen ca. 1150 und 650 (Briese 1985), Braemer mit der Analyse der roten einheimischen Keramik von Bassit (Braemer 1986, 221ff.) sowie P.M. Bikai (The Phoenician Pottery of Cyprus, Nicosia 1987, 50ff„ 64ff. zur relativen und 68f. zur absoluten Chronologie) und Gilboa 1989, 204ff. - In Verbindung mit den Keramikserien aus den stratigraphisch exakten Grabungen in Sarepta (s. dazu die Literaturangaben in Anm. 70) und Tyros (Bikai 1978 u. Nitsche 1987) ergeben sich nun für die spät-protogeometrische bis spätgeometrische Keramik Griechenlands folgende chronologische Ansätze der einzelnen Phasen: spät-protogeometrisch ca. 975/50-900 sub-protogeometrisch I (= Frühgeometrisch I) ca. 900-875/850 II (= Frühgeometrischll) ca. 875-850 III (= Mittelgeom. I-III) ca. 850-800 spätgeometrisch ca. 800-700. Für Zypern waren diesbezüglich die Funde in Kition und Amathus wichtig geworden. Neben älteren Arbeiten (vgl. zusammenfassend J.N. Coldstream 1986, 321 ff.) legten zuletzt Coldstream/Bikai 1988, 35ff. und Lemos/Hatcher 1991, 197ff. die jüngsten Erkenntnisse vor. Wichtig für die Datierung der lakonischen

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griechischer Wein oder Öl nach Tyros transportiert worden war, sowie ein Skyphos mit Zirkeldekor und einer mit hängenden Halbkreisen verziert, beide gleicher euböischer Provenienz.5 Während der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Stratum X.l) waren auch nur vier euböische Schalen und ein Teller gleicher Herkunft, alle mit hängendem Halbkreisdekor geschmückt, in den ergrabenen Siedlungsbereich gelangt.6 Während der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, in den Schichten IX-VIII, ist eine leichte Zunahme des einschlägigen Importes zu registrieren: Denn insgesamt liegen für diesen Zeitabschnitt an euböischer Keramik acht Skyphoi und drei Teller mit hängenden Halbkreisen, eine Schale mit Zickzackdekor und eine mit Bügelhenkeln sowie zwei Dreifußkessel vor.7 Bei diesen beiden Kesseln ließe sich eventuell an Gastgeschenke denken, wie sie in der Odyssee (XIII 13f.) erwähnt werden.8 Im Laufe des gesamten 8. Jahrhunderts waren in den Straten VII und VI nur noch acht Schalen und ein Teller mit hängenden Halbkreisen aus Euböa in Verwendung gestanden. 9 Daß dann aus der Zeit des 7. Jahrhunderts in diesem Stadtteil von Tyros (Straten V-II) insgesamt nur noch drei Skyphoi und zwei Teller aus Euböa, ein attischer Krater sowie ein unbestimmbares Gefäß ans Licht kamen, 10 muß überraschen, weil an allen anderen Fundplätzen der Levante damals eine deutliche Zunahme griechischer Importkeramik zu verzeichnen ist. Dies wird im weiteren noch zu zeigen sein. Der Grund für den drastischen Rückgang just in diesem Teil der Stadt dürfte wohl in der Tatsache begründet liegen, daß dort wahrscheinlich schon ab 750 eine lokale Töpferwerkstatt arbeitete.11 Zu diesen stratigraphisch fixierten Keramikfunden kamen aus gestörten Schichten des Grabungsgebietes aber noch weitere 85 Gefäße aus der Zeit zwischen 950 und 700 ans Licht 12 . Damit beläuft sich die Gesamtzahl der importierten griechischen, hauptsächlich euböischen Gefäße, die während der 250 Jahre an die betreffende Stelle innerhalb der Stadt Tyros gelangt waren, auf 131 Stück. Doch hier gilt gleich festzuhalten, daß die Menge der während des gleichen Zeitraumes eingeführten zyprischen Keramik die Anzahl der griechischen um ein Vielfaches übertraf. 13

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schwarzfigurigen Keramik ist die Tatsache, daß trotz der Masse an griechischem Import in Ägypten diese Gattung nicht vor 575/550 ins Land am Nil eingeführt worden war (Venit, 1985a, 391ff.)· Nitsche 1987, 12ff. Nitsche 1987, 17ff. Nitsche 1987, 21ff. So auch schon Nitsche 1987, 26. Nitsche 1987,27. Im Stratum VI machte die griechische Keramik nur 1,78% der gesamten dort registrierten Gefäße aus (Boardman 1990, 173). Nitsche 1987, 27f. Bikai 1978, 12ff.; Nitsche 1987, 28. Coldstream - Bikai 1988, 35ff. und Nitsche 1987,40ff. Bikai 1978, 53ff.

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Für eine historische Interpretation dieses Befundes gilt folgendes zu bedenken: Zweifelsohne handelt es sich bei der weitaus überwiegenden Mehrheit der hier eingeführten griechischen Keramik um euböisches Tafelgeschirr und nicht um Transportbehälter für importierte Güter. Weiters ist zu registrieren, daß in den ergrabenen Siedlungsschichten außer der griechischen Keramik in viel höherem Ausmaß zyprisches Tafelgeschirr und Transportbehälter eingeführt worden waren, und daß sonst kein anderes Fundgut griechischer Provenienz wie ζ. B. Werkzeuge oder Waffen ans Licht gekommen ist. 14 Schließlich stellt sich die Frage, ob die innerhalb der untersuchten Grabungsfläche angetroffene Menge an griechisch-geometrischer wie zyprischer Keramik im gleichen Verhältnis auch in allen anderen Teilen der Stadt Tyros anzutreffen wäre, oder ob sich diese Dichte und Verteilung an Importkeramik aus bestimmten Gründen nur in dem Sektor der Stadt fand, der hier zufällig für die Grabung ausgewählt worden war. Leider verhindert das Fehlen von entsprechenden Kontrollgrabungen in anderen Vierteln der Stadt die Beantwortung dieser so wichtigen Frage. Mit anderen Worten, der derzeit vorliegende Befund läßt nicht erkennen, ob sich die phönizischen Einwohner von ganz Tyros in der Zeit zwischen ca. 950 und 750 gelegentlich den Luxus griechischen Tafelgeschirrs geleistet hatten, oder ob dieses Geschirr nur von euböischen Kaufleuten benutzt worden war, die just in dem Viertel von Tyros ansässig waren, das durch die Grabung freigelegt worden ist. Doch scheint mir folgender Tatbestand eher für eine seltene und elitäre Verwendung euböischen Geschirrs durch die einheimisch tyrische Bevölkerung zu sprechen: In den jeweiligen Häusern fanden sich in erster Linie einheimisch-phönizische Gebrauchskeramik und einheimische Werkzeugtypen. Unter den importierten Gefäßen kam der Löwenanteil aus Zypern und nur ein kleinerer Teil aus Griechenland. Es war keine Konzentration der euböischen Keramik in einem dieser Häuser zu beobachten. Somit fehlt derzeit jede Voraussetzung, aus dem zwischen ca. 950 und 750 in Tyros importierten griechischen Eß- und Trinkgeschirr auf die Ansässigkeit griechischer, speziell euböischer Händler oder Handwerker in dieser phönizischen Metropole zu schließen. Daran können auch die beiden Dreifußkessel nichts ändern, falls sie überhaupt als Gastgeschenke zu betrachten sind und nicht auch im regulären Handel erworben wurden. Fast ebenso früh wie in Tyros traten euböische Importe in Ras el-Bassit, 50 km nördlich von Latakia, auf. Neben einheimischem und zyprischem Geschirr fanden sich in diesem Hafenort aus dem späten 10. Jahrhundert vier protogeometrische Amphoren, in denen am ehesten Olivenöl transportiert worden war.15 Aus der Zeitspanne der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts liegt trotz zahlreicher Grabungsflächen im Ausmaß von ca.

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Dies läßt sich aufgrund der Tatsache annehmen, daß die Fundbearbeiter in der Diskussion um die importierte griechische Keramik kein Wort über anderes griechisches Kulturgut aus der Grabung verlieren. Courbin 1990,49ff. u. 1993,95ff., 105f. Zur einheimisch-phönizischen Keramik s. Braemer 1986, 221 ff.

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900 m 2 nur ein einziger Teller mit hängendem Halbkreisdekor vor. 16 Auffällig ist des weiteren, daß die Siedlung bald nach der Mitte des 9. Jahrhunderts völlig neu angelegt worden war und mit dieser ausschließlich zyprischer Import verbunden ist. 17 Erst seit ca. 720 18 setzt in dieser Hafenstadt dann ein intensiver werdender griechischer Import ein. Neben lokaler und zyprischer Keramik sind euböische und kykladische Schalen, Tafelgeschirr aus Rhodos, Chios, Samos, Milet und Lesbos, Protokorinthisches und Korinthisches in den einzelnen Häusern an verschiedenen Stellen innerhalb der Hafenstadt verwendet worden. 19 Zu diesem Repertoire gesellte sich seit ca. 550 in dominierender Weise attischer Import. 20 Ein wesentlicher Unterschied zu den Befunden in Tyros liegt in Bassit also darin, daß es hier ab ca. 720 Häuser mit überwiegend griechischem Eßgeschirr gab. 21 In der Zusammenschau mit den historiographischen Nachrichten aus Assyrien, die bereits für die Zeit um 720/700 eine bedeutende Präsenz der Griechen in diesem Raum bezeugen und die wir noch besprechen werden, darf für Bassit, das schließlich den griechischen Namen „ Posideion" trug, 22 ab ca. 720 tatsächlich mit der Niederlassung griechischer Kaufleute und Handwerker gerechnet werden. 23 Für die Zeit des späten 10. und die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts muß eine entsprechende Auffassung aber aus den gleichen Gründen wie für Tyros entschieden verneint werden. 24 Ähnlich liegen die Dinge in Sukas, der alten syrischen Hafenstadt Shuksu. In der dortigen Siedlungsphase H2, die von ca. 900 bis zur schweren Zerstörung um 850, die

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Nitsche 1987, 29, 31. Vgl. auch Courbin 1993,103. Auf einen weiteren derartigen euböischen Teller aus Rachidieh verweist Nitsche a.a.O. Courbin 1981/1982,231 u. 1986, 190ff. Dies ergibt sich aus der Vergesellschaftung mit der Samaria-Keramik: Courbin 1984, 164 und Braemer 1986, 22Iff. Courbin 1981/1982, 231 (noch mit zu hoher Datierung, die dann korrigiert wurde) u. 1983a, 290, 293 u. 1984, 164 sowie 1986, 193ff„ zu den Grabungsplänen s. Courbin 1981/1982, 232 Abb. 36 und 1983a, 291 Fig. 2 sowie 1986, 179 Fig. 3, 181 Fig. 4. Courbin 1981/1982, 231 u. 1984, 164; vgl. auch summarisch Riis 1970, 137ff. und 1982,252. Außer der in Anm. 19 genannten Literatur s. Courbin 1983b, 119ff.; ders. 1987,107ff. Mit der Urnenbestattung am Fuß der Akropolis läßt sich in diesem Zusammenhang nicht operieren, da auch die Phönizier die Brandbestattung übten (Courbin 1986, 193ff.). Riis 1969,438 und Riis 1970, 137 sowie 1982; 252, Courbin 1981/1982, 231. Zur Gründungssage s. Herodot III 91, 1-3. Dies ist auch die gängige Auffassung, vgl. Boardman 1981,48; Riis 1982,253. Aber nicht schon ab 800 wie Jeffery 1976, 26 glaubt. Gegen Courbin, der 1993, 107ff. neuerlich die Euböer nach Ras el-Bassit kommen läßt und das damit begründen will, daß die Euböer doch auch nach dem westlichen Mittelmeer gesegelt seien. Dagegen ist zu sagen, daß es nicht den geringsten Hinweis dafür gibt, daß Euböer bereits um 900 ins westliche Mittelmeer gefahren sind.

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höchstwahrscheinlich auf das Konto Salmanassars III. geht, reichte, 25 fand sich an mehreren Grabungsstellen überhaupt nur zyprischer Import. 26 Erst in der Nachfolgesiedlung Hl, die bis um 675 existierte und von Asarhaddon entweder im Jahre 677 oder 671 erobert und zerstört worden war,27 setzte ab ca. 800 der erste griechische Import ein. Im Verlauf von ca. 120 Jahren waren dort in den Bereich der Akropolis zehn geometrische und subgeometrische Skyphoi euböischer oder kykladischer sowie protokorinthischer Provenienz und schließlich ab dem ausgehenden 8. Jahrhundert Al-Mina-Keramik sowie 16 Stück Tafelgeschirr aus der ostgriechischen orientalisierenden Phase gelangt. 28 Selbst der Umstand, daß damals sonst nur lokale syrische Keramik verwendet wurde und phönizischer Import 29 - sogar der von sonst so beliebten bemalten Kannen - fehlt, reicht sachlich nicht aus, das während der Siedlungsphase Hl in Sukas importierte griechische Tafelgeschirr als Beleg für die Anwesenheit von Griechen in dieser Hafenstadt zu werten, wie es gängigerweise geschieht. 30 Ausgelöst hat diese Auffassung wohl vor allem die Tatsache, daß an dem gleich nach 670 begonnenen Wiederaufbau der Stadt (G3) zweifelsfrei Griechen beteiligt waren und daß sie innerhalb des ummauerten Kultbezirkes der einheimischen Bevölkerung mit ihrem „High Place" auf der Akropolis sogar einen eigenen Tempel mit ziegelgedecktem Satteldach und mit zugehörigem großem steinernem Altar vor dessen Ostfassade errichteten.31 Nicht allein die Menge der importierten ostgriechischen Keramik, wiederum hauptsächlich inselionisches und rhodisches Tafelgeschirr,32 nahm jetzt in dieser Siedlungsphase zu, sondern auch in der Nekropole der Stadt lassen sich jetzt eindeutig griechische

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Riis 1969, 441, 444 und Riis 1970, 40, 127,161; ders. 1982, 240. Für die generelle Zerstörung ist an den Feldzug Salmanassars III. im Jahren zwischen 858 und 844 zu denken, vgl. dazu Olmstead 1951, 119ff., 126ff.; Labat 1967,30,33; besonders eingehend mit Quellenangaben Elliger 1947,69ff.; Katzenstein 1973, 162ff.; Wäfler 1975, 78ff„ 125ff., 158ff.; ders. 1981, 89f. Riis 1969,441 und 1982,240. Ob der von Riis a.a.O. gezogene Schluß, es hätten damals griechische Zyprioten in Sukas gesiedelt, berechtigt ist, ist zu hinterfragen. Ploug 1973, 1 Iff. Zum architektonischen Befund s. Lund 1986, 24ff. Riis 1969, 444 und Riis 1970, 126; Ploug 1973, 93. Zu Asarhaddons Feldzüge s. Hirschberg 1933, 23f„ 6Iff. Olmstead 1951, 363ff., 368ff., 374ff.; Labat 1967, 78, 83; besonders eingehend behandelt von Katzenstein 1973, 264ff„ 280ff. und Spalinger 1974a, 295ff., bes. 298ff. Riis 1970,46ff.; Ploug 1973, 16f„ 17ff„ 23ff„ 92; Riis 1982,243. Zur einheimischen Keramik s. Buhl 1983. Zu den phönizischen Flaschen und ihrer Verbreitung in der Levante s. Briese 1985, 7ff. mit Verbreitungskarte Abb. 4. Riis 1969,449 u. Riis 1970, 126, 127; Ploug 1973,92; Riis 1982, 243f. Die 26 Gefäße aus rund 120 Jahren, auch wenn die meisten davon erst im Zeitraum zwischen 720 und 675 importiert worden waren, sind allein keine tragfähige Basis für die gängige Auffassung. Riis 1969,446 u. Riis 1970,40ff„ zum griechischen Tempel bes. 44ff., 54ff. Riis 1982, 240f„ 246ff. Ploug 1973 passim zu sämtlichen Keramikgattungen aus der Fundschicht G 3; Riis 1982, 240f. Insgesamt scheint der griechische Import nicht mehr als 5-11% der gesamten Keramik umfaßt zu haben (Boardman 1990, 173).

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Bestattungen identifizieren. 33 Zudem treten um 600 mit griechischen Graffiti beschriftete Objekte auf der Akropolis auf. 34 Nachdem diese Stadt im frühen 6. Jahrundert, wohl durch den Pharao Apries im Jahre 588, zerstört worden war, 35 vermochten die in Shuksu lebenden Griechen im Rahmen des Wiederaufbaues (G2) dank ihres materiellen Wohlstandes ihren Tempel zu vergrößern. 36 Über 4400 importierte griechische Vasen stammen nun allein aus den folgenden 80 Jahren dieser Stadt.37 Auf der Akropolis fanden sich aus dieser Siedlungsphase (G2) bis 552 vierzehn griechische Besitzer- und Weihinschriften. 38 Diese Inschriften wie die Masse der importierten griechischen Keramik, welche das einheimisch-syrische Geschirr noch nicht wesentlich zurückgedrängt hatte, legen Zeugnis dafür ab, daß sich in dieser syrischen Hafenstadt seit dem frühen 6. Jahrhundert die ionischen wie dorischen, darunter hauptsächlich die rhodischen Händler und vielleicht auch Handwerker, zur wirtschaftlich und in der Folge davon wohl auch zur politisch dominierenden Gruppe aufgeschwungen hatten, denn wie wäre es sonst erklärbar, daß sich die Masse ihrer materiellen Hinterlassenschaft just auf der Akropolis dieser Stadt mit ihren ansehnlichsten Bauresten und dem Hauptheiligtum fand. Es mag durchaus sein, daß schon zwischen ca. 720 und 680 der eine oder der andere griechische Kaufmann, der in einem der beiden Häfen von Shuksu 39 anlegte, sich dort auch niedergelassen hatte. Aber es liegt auf der Hand, daß es Ioniern wie Rhodiern erst nach der Zerstörung dieser Hafenstadt durch Asarhaddon möglich war, vielleicht sogar auf Wunsch dieses assyrischen Königs, sich beim Wiederaufbau dieser Handelsstadt maßgeblich zu beteiligen und hier somit seßhaft zu werden. Diese Möglichkeit nutzten die Griechen während des gesamten 6. Jahrhunderts. Dabei bauten sie ihre Positionen in wirtschaftlicher wie in sozialer und politischer Hinsicht sichtlich aus.

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Riis 1982, 249f. Es handelt sich dabei um ein Webegewicht, das den Namen „Persaphores " in ionischem Dialekt zeigt (Riis 1970,158 mit Anm. 642; Fig. 53d und Ploug 1973,90 Nr. 424a, Fig, g, pi. XIX; Riis 1982,240f„ Abb. 3.1), um eine ionische Trinkschale mit Linear- und Blütendekor mit der Ritzung XAI (?) (Ploug 1973, 44f., 53 mit Anm. 345,63, Fig. g Nr. 233) und um einen Fruchtstander mit dem Inschriftenrest ] ΠΤ od. ]ITr(Ploug 1973,55f„ 69, Fig. g Nr. 291). Riis 1969,446 und Riis 1970,58f„ 86f„ 126. Zum Syrienfeldzug des Apries siehe Jerem. 37,5.7.11; Herodot II 161; Diod. 168,1.; eingehend Kienitz 1953,27ff. und Katzenstein 1973,317ff.; vgl. auch Labat 1967, 100; Eißfeldt 1967, 194f. Riis 1969, 446 und Riis 1970, 60, 62ff.; ders. 1982, 240, 246ff. Die Dachziegel griechischen Typs dieses neuen, größeren Tempels tragen auch griechische Fabrikationsmarken. Die gräzisierte Form des Stadtnamens dürfte Sykas gelautet haben (Riis 1970, 128). Ploug 1973, 95ff.; Riis 1982,241. Vgl. auch Boardman 1990, 173. Ploug 1973,29f., 34 (Nr. 108.1 u. 2), 53, 56 (Nr. 247), 54 mit Anm. 368, 64 (Nr. 265), 57, 69 (Nr. 308), 75, 78f. (Nr. 346), 81, 83 (Nr. 379,385), 84f„ 86 (Nr. 401), 85,86 (Nr. 403,405,406,408,412). Zur Zerstörung um 550, die wohl mit der Strafexpedition des Nabonid 553/2 zu verbinden ist, siehe Riis 1970, 87, 126. Riis 1970, lOff. zur topographischen Situation siehe die Karte auf Fig. 2 u. 3. Sukas besitzt zwei natürliche Hafenbecken, eines nördlich und eines südlich des Akropolishügels.

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Für das schrittweise Ausgreifen des Handels im östlichen Mittelmeer ist auch das Material aus dem alten Hafenort am Ras Ibn Hani nördlich von Teil Sukas lehrreich. Vor ca. 850 waren dort nur geometrisch-zyprische Gefäße eingeführt worden, nach diesem Zeitpunkt importierte man neben zyprischen Gefäßen auch Samaria-Ware und erst im 8. Jahrhundert kommen dann euböisches Tafelgeschirr, ionische Schalen, Al-Mina-Ware und schließlich im 7. Jahrhundert rhodische Gefäße dazu. 40 Nun zu Al-Mina, dem wohl bekanntesten Hafenplatz an der syrischen Küste, an dem sich schließlich Griechen festgesetzt hatten. Einige jüngere Arbeiten zum Fundmaterial aus Al-Mina brachten jetzt wichtige neue Erkenntnisse. So erlaubte die Analyse der zyprischen Keramik 41 , eine Monographie zu lokalen glasierten Gefäßen 42 und Arbeiten zur phönizischen Ware, speziell zu den bemalten Kannen 43 , eine genauere zeitliche Fixierung der Straten X-VII. Außerdem erwiesen sich Graffiti, die Woolley für griechische Inschriften gehalten hatte, als phönizische und aramäische Texte.44 Wohl kaum vor ca. 820 hatten syrische Händler an der Orontesmündung einen Hafenplatz eröffnet, an dem sehr bald euböische Skyphoi mit hängenden Halbkreisen aus Chalkis 45 wie zyprisch-geometrische Keramik der Stufe III eingehandelt und lokal imitiert worden waren 4 6 Mit einer Neubauphase (Stratum VIII) um 750 sind außer lokalem syrischem und phönizischem Geschirr vermehrt zyprische Ware, rhodisch-subgeometrischer Import sowie deren qualitätvolle Nachahmungen verbunden, und während des 7. Jahrhunderts (Phase VII) fand dann in zunehmendem Maße orientalisierendes Tafelgeschirr aus Rhodos, Chios und aus Ionien Eingang.47 Insgesamt hatten sich in den freigelegten Häusern von Al-Mina aus der Zeit zwischen ca. 820 und 600 (Straten X-VII) mindestens 820 Gefäße angesammelt, die ungefähr die Hälfte aller in diesem Zeitabschnitt gebrauchten Keramik ausmachten 48 Um 600 war diese Küstensiedlung, wahrscheinlich von Nebukadnezar II. im Jahre 605, zerstört worden 4 9 Ein völlig neuer, großzügig geplanter Wiederaufbau war die Folge (Stratum VI). 50 Doch das Spektrum der Keramik änderte sich dabei kaum; denn

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Lagarce 1978,48 und 1983,225; Bounni 1979,256; Riis 1982, 251f. Gjerstad 1974,107ff.; Coldstream 1986, 321ff. Damit sind die von Boardman 1981,47ff. gebotenen Datierungen hinfällig geworden. Peltenburg 1969, 73ff. Prausnitz 1982, 31ff.; Culican 1982,45ff.; Briese 1985,7ff. Bron/Lemaire 1983,677ff. Dies ergeben die Tonanalysen, s. Popham/Hatcher/Polland 1980, 156f., 159 und 1983,289f. Woolley 1937,10, 16 und 1938,10, 16, 155; ders. 1954, 165, 172f. Riis 1969,436 und 1982, 244f.; Boardman 1990, 172. Nicht haltbar ist somit die Auffassung, Griechen seien bereits ab 825 in Al-Mina ansässig gewesen, wie Braun 1982, 9 meint. Noch problematischer ist die Annahme von Matthäus 1993, 167, griechische Händler seinen „spätestens Mitte des 9. Jahrhunderts . . . im nordsyrischen Küstengebiet" besonders aktiv gewesen. Woolley 1937, 16ff„ 30, 154 und 1954, 173f.; Riis 1969,436 und 1982,244f.; Boardman 1990, 172. Boardman 1990, 171 f. Woolley 1938, 18 und 1954, 174f. (noch auf die Zeit um 650 datiert); Gjerstad 1974,107ff.; Riis 1982,245. Woolley 1938, 18ff., 150ff. und 1954, 174.

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neben phönizischen rot-polierten Gefäßen und Amphoren wie anderer levantinischer Keramik waren zyprisch-archaische Vasen der Gattungen I und II sowie griechisches Tafelgeschirr aus Rhodos, Chios, Lesbos und aus Attika eingeführt worden. 51 Ergänzend belegen Trachtbestandteile wie Gewandfibeln und gewisse Werkzeug- wie Waffentypen die Präsenz griechischer Siedler in Al-Mina während der Phasen VIII-V.52 Leider ist von diesem Küstenort nur ein Ausschnitt freigelegt worden, insgesamt rund 685 m 2 53 , doch erlaubten das Spektrum und prozentuelle Verteilung der Keramik zu schließen, daß der Hafenort wohl um 820 von Einheimischen angelegt worden war und sich sehr rasch zu einem überregionalen Umschlagplatz entwickelt hatte, auf dem auch schon sehr früh Schüsseln aus Chalkis ihren Besitzer wechselten. Für eine Ansiedlung euböischer Kaufleute vor 750 spricht aber nichts. Erst nach dem Ausbau dieses Handelsplatzes um 750 lassen sich für die Ansässigkeit zyprischer wie griechischer Kaufleute Argumente finden. Nicht allein die mengenmäßige Zunahme des einschlägigen Importes, sondern deren sehr qualitätvolle Nachahmungen in Al-Mina selbst sprechen neben den für diese Personengruppen charakteristischen Alltagsgegenständen zugunsten ihrer Niederlassung in Al-Mina. Man darf sogar vermuten, daß der Ausbau dieses Hafenortes in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Ankunft zypriotischer wie euböischer Kaufleute stand. Ob der im 7. Jahrhundert und weiterhin im 6. Jahrhundert zwar zahlenmäßig anwachsende Kreis griechischer Händler in Al Mina aber auch Anteil an der Verwaltung und dem politischen Leben in dieser Stadt besessen hat, wissen wir nicht. Wir kennen ja weder das diesbezügliche Zentrum noch die Heiligtümer dieses Küstenortes. Doch eines liegt auf der Hand, Al-Mina war der Hafen für die in der Amuq-Ebene liegenden späthethitisch-aramäischen Stadtstaaten. Wir wissen zudem, daß zu deren Exportgütern u.a. besonders Eisen und Kupfer aus den Minen im Amanus-Gebirge 54 zählten und daß die dortigen Bewohner auch als Goldschmiede Meister waren. 55 Daher überrascht es nicht, wenn in Teil Tainat, wo in einem Palast und einem zugehörigen Tempel in Megaronform 56 seit dem späten 9. Jahrhundert euböische Skyphoi mit hängenden Halbkreisen verwendet wurden, und die Grabungen dort insgesamt „einige Hundert griechische Scherben" ans Licht brachten. Zumindest über 90 euböische Schüsseln fanden sich insgesamt in Teil Tainat, in Catal Hüyük und in Judeideh. 57

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Woolley 1938, 18ff„ 150ff. und 1954, 175. Riis 1982, 245. Woolley 1938,168ff. Woolley 1937, Faltplan zu Level 3. M. Wäfler 1981,79f. Zu den über Kreta bis nach Athen exportierten Werkstücken bzw. dort arbeitenden Goldschmieden siehe zusammenfassend Helck 1976, 187ff.; Boardman 1981,62ff„ 85f. und 1990,178ff. Zu den in Phase IV ergrabenen Monumentalbauten s. McEwan 1937, 8ff.; Busink 1970, 558ff.; Saltz 1978, 40 ff. Swift 1958, 154; Riis 1970, 144, 152, 156, Fig. 48c; Saltz 1978, 82. Zu einzelnen korinthischen und rhodischen Gefäßen aus Sam'al (Sindjirli) und Sakzegözü s. Andrae 1943,151, Taf. 22 d-g; Garstang 1937, pl. 35 Nr. 3; vgl. auch Dunbabin 1957,76; Helm 1980, 82. Zum Import einer subgeometrischen euböischen Scha-

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An griechisch-geometrischer Keramik gleicher Provenienz wie in Al Mina wurden bisher über 200 Stück aus den Grabungen am Teil Tainat und in Catal Hüyük identifiziert.58 Trotz der bisher nur ganz ungenügend publizierten Grabungen am Teil Tainat kann zumindest erkannt werden, daß dort die politisch führende Schicht sich vom späten 9. Jahrhundert an den Luxus euböischen Tafelgeschirrs leistete. Die Zunahme ostgriechischen Imports im 8. Jahrhundert muß daher kein Indiz für die Anwesenheit von Ioniern oder Dorern in Teil Tainat sein. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, daß nach 750 Ostgriechen als Kaufleute, Handwerker oder auch als Söldner in Teil Tainat, in Catal Hüyük und in Judeideh Fuß faßten. Die zuletzt genannte Möglichkeit wurde auch zur Erklärung der griechischen Keramik aus der syrischen Metropole Hamath, dem heutigen Hama, erwogen. 59 Dort waren im Bereich des Palastes ein attisch-geometrischer Krater aus der Zeit um 820/800 60 sowie fünf euböische bzw. kykladische Vasen, darunter ein zweiter Krater, gefunden worden. Diese fünf Gefäße fallen in die Zeit zwischen 820 und 720, dem Jahr der schweren Zerstörung von Hamath durch Sargon II.61 Auf einem kleinen Kultplatz für die Göttin Astarte, zwischen der Nordfront des Palastes und einem großen Tempelbau 62 gelegen, hatte jemand vor 720 einen euböischen Skyphos deponiert. 63 Aus einem Patrizierhaus auf der Akropolis stammt eine euböische Trinkschale.64 Schließlich kamen aus der Nekropole, die südlich der Akropolis liegt und nur Brandbestattungen aufweist, zwei Skyphoi mit hängenden Halbkreisen als Urnen benützt aus der Zeit zwischen 800 und 720 ans Licht. 65 Diese wenigen Funde können nicht mehr aussagen, als daß sich die herrschende Schicht in Hamath in den hundert Jahren bis zur Zerstörung der Stadt im Jahre 720 auch gelegentlich griechisches Tafelgeschirr leistete. Auch die Rarität der beiden Kratere wie die zwei als Urnen benutzten griechischen Gefäße in der sonst nur einheimische Urnen-

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le mit hängendem Halbkreisdekor aus Teil Halaf s. Hrouda 1962, Nr. 188, Taf. 69; zu einer nämlichen Schale und einer rhodischen Vogelschale in Ninive s. Thompson/Hutchinson 1929, 138; zu geometrischem und korinthischem Geschirr aus Babylon s. Schmidt 1941,792f. Allerdings noch ohne detaillierte Präsentation bei Boardman 1990, 172, 187 Anm. 4. Riis 1982, 244. Fugmann 1958, 179 Anm. 3, 193 Fig. 245, 200, 205 (6A 379- 381 und 7A 45-46); Riis 1970, 152ff„ Fig. 55a; Riis 1982,243, Abb. 5a. Nach den Vorberichten zusammengestellt von Riis 1970, 154, Fig. 55 b-f; Riis 1982, 243 (summarisch), Abb. 5 b-f. Zu diesem mit reichhaltiger Ausstattung versehenen Bau IV der Phase Ε (Fugmann 1958, 237ff.), der anfangs vom Ausgräber irrtümlich als Torbau angesprochen worden war (Fugmann, 1958, 244f.), s. die überzeugende Argumentation bei Ussishkin 1966,104ff., Fig 3; weiters Busink 1970, 563ff., Abb. 168. Fugmann 1958,232 Nr. 2 mit Anm. 6 , 2 3 6 Fig. 310: 7B 23; Riis 1970, 148f„ Fig. 51a; Riis 1982,244, Fig. 6a. Fugmann 1958, 261f„ Fig. 344 (L 941); Riis 1970, 150ff„ Fig. 51b (= Riis 1982 Abb. 6b). Riis 1982,244, Abb. 6c.d.

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bestattungen aufweisenden Nekropole vermögen angesichts der geringen Gesamtanzahl an griechischen Importstücken in dieser Stadt im Vergleich zu Teil Tainat oder gar zu Sukas an dieser Schlußfolgerung nichts zu ändern. Außerdem fehlen andere Funde griechischer Provenienz. Einer der zu Hamath gehörigen Hafenplätze war sicher Tabbat al-Hammam südlich von Tartus.66 Hier importierte man in der Phase II 1 ab ca. 850 bis um 700 außer phönizischer Keramik zyprisches und auch euböisches oder kykladisches Tafelgeschirr. Seit ca. 700 nahm dann die Einfuhr griechischen Geschirrs in den Schichten II 2 und III so zu, daß sie schließlich seit dem 6. Jahrhundert die Hälfte der gesamten Keramik in diesem Küstenplatz umfaßte. 67 Dieser Tatbestand darf in Analogie zu Bassit, Sukas und AlMina wohl als Hinweis auf die Ansiedlung griechischer Händler auch an diesem Hafenplatz gewertet werden. 68 Wenden wir uns nun dem südlichen Teil der phönizischen Küste und Palästina zu! Für die Küstenorte Khalde und Tamburit läßt sich beim derzeitigen Wissensstand nur sagen, daß dort jeweils seit dem 8. Jahrhundert ostgriechische Keramik eingeführt worden war,69 in welcher Menge, wie lang und und in welchem Verhältnis zu anderen Keramikgattungen bleibt noch unbeantwortet. Für den Küstenort Sarepta hingegen läßt sich zeigen, daß auch hier im frühen 8. Jahrhundert neben zyprisch-geometrischen Gefäßen euböische Schüsseln die erste griechische Importkeramik war, und daß dann im 7. und 6. Jahrhundert rhodisches Geschirr gegenüber anderen griechischen Vasen bevorzugt wurde. 70 Insgesamt stellt diese eingeführte ostgriechische Keramik nur einen kleinen Prozentsatz der gesamten dort verwendeten Keramik dar und kann daher, zumal auch sonst keine anderen griechischen Importgüter ans Licht kamen, nicht als Argument für die Niederlassung ostgriechischer Kaufleute dienen. Anders stellt sich die Situation auf dem Teil Kabri südöstlich von Tyros dar. Hier existierte eine phönizische Festung, in der bereits im späten 8. Jahrhundert zumindest ein ostgriechischer Skyphos mit Metopendekor und einige protokorinthische Vasen in Verwendung gestanden hatten und eine sogenannte SOS-Amphore eingeführt worden war, in der man Wein oder Öl transportiert hatte. Während damals die einheimisch-phönizische Keramik noch dominierte, änderte sich dieses Verhältnis um 600. Nun häufte sich in dieser Anlage ostgriechisches Tafel- und Küchengeschirr.71

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Zu den Grabungen s. R.J. Braidwood, in: Syria 21, 1940, 183ff. Riis 1969,436, Fig. 2 und 1982,251; vgl. auch Riis 1970, 142. So auch Riis 1982,254. Zu den Grabungen in Khalde: Saidah 1966, 5Iff. Das Fundmaterial aus den beiden Grabungssektoren II X und Y liegt in der Reihe der,Publications de l'Universite Libanaise, Section des Etudes Archeologiques II' bereits vor: Anderson 1988; Khalifeh 1988; Koehl 1985; Pritchard 1988. Eine zusammenfassende Darstellung der Grabungsergebnisse bietet Pritchard 1978. H. Pastor in: Niemeier 1990, XXIX ff. und 1991, 11* ff.; Kempinski - Niemeier 1993a, 183f. und 1993b, 259.

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Abb. 1 Ansässige Griechen und griechischer Import um 720 in Kilikien, Syrien und in Palästina Φ ansässige Griechen Δ Import einzelner oder mehrerer Gefäße η Grenze des assyrischen Reiches im Jahre 720, nach der Eroberung Gazas Ο sonstige wichtige Orte Zypern (nur die wichtigsten Fundpläzte kartiert): 1 Hagia Irini, 2 Soloi, 3 Ktima, 4 Palaipaphos, 5 Kourion, 6 Amathus, 7 Kition, 8 Tamassos, 9 Idalion, 10 Golgoi, 11 Salamis. Kilikien, Syrien, Palästina: 1 Buzanta, 2 Illubru, 3 Tarsos, 4 Ingirra/Aanchiale/Mersin, 5 Al-Mina, 6 Teil Tainat, 7 Catal Hüyük, 8 Teil Judeideh, 9 Ninive, 10 Ras el-Bassit/Posideion, 11 Sukas/Shuksu/Sykas, 12 Hamath, 13 Tabbat al-Hamam, 14 Khalde, 15 Tamburit, 16 Sarepta, 17 Tyros, 18 Akko, 19 Teil Abu-Hawam, 20 Megiddo, 21 Dor, 22 Samaria, 23 Ekron, 24 Askalon, 25 Gath.

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Es ist kaum zu bezweifeln, daß in dieser phönizischen Festung um 600 auch ostgriechische Söldner stationiert waren. 72 Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte diese Anlage den Schutz des Territoriums von Tyros nach Süden und Südosten hin zu garantieren. So war es wohl der tyrische König, der diese Soldaten angeheuert hatte. Doch um 600 fiel dieses Bollwerk einer schweren Zerstörung zum Opfer, welche mit größter Wahrscheinlichkeit auf einen der Feldzüge Nebukadnezars II. in den Jahren 604 oder 598 zurückgeht. 73 Der archäologische Befund in der Festung von Kabri läßt erkennen, daß dort um 600 neben phönizischen Soldaten eine nicht unbedeutende Truppe an ostgriechischen Söldnern stationiert war, zu deren Versorgung auch Wein und Öl aus ihrem Heimatland importiert wurden. Daß der König von Tyros, dem Kabri aller Wahrscheinlichkeit nach als Grenzfestung gedient hatte, um 600 tatsächlich ausländische Söldner in seinem Dienst stehen hatte, belegt das um 590 nach einer phönizischen Vorlage 74 von Ezechiel verfaßte Klagelied über Tyros. So hatte Tyros damals Söldner aus „ Paras, Lud und Put" in seinem Dienst stehen. 75 Daß die „Ludim" mit den Lydiern zu identifizieren sind, steht außer Frage. 76 Auch das Land „Put" als Bezeichnung für Libyen ist längst geklärt und allgemein bekannt. 77 Diesbezüglich darf man aber doch fragen, ob sich hinter dieser Bezeichnung nicht die zur damaligen Zeit in Libyen wirtschaftlich und politisch bedeutendste Bevölkerung, nämlich die Griechen in der Kyrenaika, verbergen, zumal diese im Neubabylonischen als „URUPü-tu-ia-a-man" (Pütu-Iaman), „Libyen der Ionier"oder „ionisches Libyen" bezeichnet wurde. 78 Ratlos steht man jedoch vor dem Namen „ Paras ". Der einzige Vorschlag tendiert zur Gleichsetzung mit den Persern. 79 Rein sprachlich ist diese Identifizierung mit neubabylonisch kurpa-ar-su bzw. URUpar-sum, „Persien", jedoch nicht unproblematisch. Ich

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So auch Kempinski - Niemeier 1992, 184 und 1993b, 259. Zur Festung von Me$ad Haschavyahu s. unten S. 98 mit Anm. 196. Kempinski - Niemeier 1993a, 184 und 1993b, 259. Zu diesen Feldzügen Nebukadnezars II. s. am eingehendsten Katzenstein 1973, 307ff. Beim Krieg gegen Tyros selbst (585-573/2: Katzenstein 1973, 325ff.) war diese Festung offensichtlich bereits zerstört und außer Funktion. S. die Argumente bei B. Maisler, in: IEJ 2, 1952, 83f., vgl. auch H.P. Rüger, Das Tyrosorakel, Ezechiel 27, Tübingen 1961; Zimmerli, 1967, 360 ff.; Smend 1989, 164ff„ 240; Katzenstein 1973, 158. Ez. 27, 10. Auch wenn sie in der Völkertafel von 1. Mos. 10,22 irrtümlich zu den Söhnen Sems gezählt werden. Zur assyrischen Bezeichnung """lu-ud-di (Streck 1916 II, 20, 166) und zur neubabylonischen URU lu-ü-du (Zadok 1985, 213 s.v. Ludu) für Lydien vgl. Simons 1959, § 150-1, 1601; Zimmerli 1967, 375; Hamilton 1990, 344. Ohne Begründung hatte Westermann 1986, 118 diese Gleichsetzung bezweifelt. Simons 1959, §§ 149, 198, 1313 und 1601; Zimmerli 1967, 373; Westermann 1986, 114; Hamilton 1990, 336. Dazu sind auch die neubabylonischen Texte mit der Nennung von Pütu für Libyen (Zadok 1985, 252 s.v. Pütu) heranzuziehen. Edel 1978, 15f. Simons 1959, §§ 151-1 und 193. Belege bei Zadok 1985,247f. s.v. Parsu.

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glaube, eine Gleichsetzung vorschlagen zu können, die auf dem einheimischen Namensmaterial in Karien basiert und nicht auf der Fremdbezeichnung dieser Bevölkerung als „Karer". So trug einer der offensichtlich führenden Stämme dieses Landes den Namen „para".%l Außer in Karien selbst finden sich Personennamen mit dieser Stammesbezeichnung auch in Lydien sowie vereinzelt in Ionien, Lykien, Pisidien und Kilikien. Angehörige der „ para " lassen sich somit in jenen Gebieten West- und Südkleinasiens greifen, die nicht nur ihrer Heimat unmittelbar benachbart waren, sondern wie im Fall Kilikiens auch in einer Landschaft, in der Karer gemeinsam mit Ostgriechen als Söldner nachweisbar sind. 82 Ja mehr noch, die Bezeichnung „ Karer" war schon im späten 7. Jahrhundert im ostgriechischen Raum als Synonym für „Söldner" verwendet worden. 83 Dies macht deutlich, wie häufig sich Angehörige dieser südwestkleinasiatischen Bevölkerung schon damals als Söldner verdingt haben müssen. Folglich waren karische „ Para " als Söldner um 600 wohl auch in der Levante keine Seltenheit. Sprachlich steht der Gleichsetzung von karisch „ Para" mit hebräisch „ Paras" wohl kaum etwas im Wege. Auch geographisch würde die Nennung der tyrischen Söldner in der Reihenfolge Karer, Lyder und Libyer (im Sinne der griechischen Kyrenaiker?) einen Sinn ergeben. Die „Ionier", hebräisch „ Jawan",s4 kennt Ezechiel nur als Handelspartner der Tyrer. Sie importieren hier Sklaven und Bronzegefäße. 85 Auch „Rhodier" laufen in seiner Schilderung die Häfen von Tyros an. 86 Vertreter beider Stämme waren uns für diese Zeit häufig genug durch ihr einschlägiges Importgeschirr in den verschiedenen syrischen wie phönizischen Hafenstädten begegnet. Somit bestätigt Ezechiel nicht nur unsere bisherigen aus archäologischen Fakten gewonnenen Erkenntnisse, sondern er ergänzt und erweitert sie sogar in wertvollem Ausmaß. Als Ergebnis stellt sich hiermit ein in sich widerspruchsfreies historisches Gesamtbild dar. Damit wenden wir uns dem Material auf palästinischem Boden zu. So fanden sich in Alt-Akko, am Teil el-Fukhar, im Stratum 7 einige ostgriechische Gefäße des 8. Jahrhun-

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Belege bei Sundwall 1913, 174ff„ 288; s. auch Kammerzell 1993,10, 19, 21, 36,41. S. dazu unten S. 93,94, 109ff. Archilochos, Fragm. 40D (hrsg. M. Treu, Griech.-Dt., Tusculum Bücherei, München 2 1979, 36f. mit Kommentar S. 202); dazu Haider 1988a, 174 mit Anm. 94; Kammerzell 1993,109. Simons 1959, § 126; Zimmerli 1967, 370; Westermann 1986, 112; Hamilton 1990, 332. „ Bei den von Ez. 27,6 genannten „Inseln der Kinder" handelt es sich um die ältere summarische Bezeichnung für Griechisch Sprechende, in erster Linie um Zyprioten, aber auch um Griechen aus der Dodekanes und Ionien (Simons 1959, § 141 ter; Zimmerli 1967, 372, 382; Westermann 1986, 113; Hamilton 1990, 333f. Zu „Ioniern" in weiteren altorientalischen Quellen s. eingehender unten S.79ff., S. 94. Ez. 27, 13. In 27,19 werden die „Iawan" zusammen mit den „Dan" als Handelspartner genannt. „Dan" dürfte hier eine verkürzte Form von „Dana/unlm", der als „Danunlm" auch inschriftlich auf kilikischem Boden bezeugten „Danaoi", sein. Zu den Danunlm in Kilikien s. Kretschmer 1950,186ff.; vgl. weiters Strobel 1974, 203 und Haider 1988a, 72f. S. dazu Simons 1959, § 141 ter; Westermann 1986, 113; Hamilton 1990, 334.

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derts.87 In dem für alle Städte in der Jesreel-Ebene wichtigen Hafen von Teil Abu Hawam kamen aus dem Stratum III neben zyprisch-geometrischem Import nur Scherben von zwei sub-protogeometrischen Skyphoi mit hängendem Halbkreisdekor sowie ein spät-mittelgeometrischer Skyphos und eine einhenkelige ionische Tasse ans Licht 88 , die dem 8. Jahrhundert zugehören. 89 Selbst in Dor förderten die an mehreren Stellen der Stadt laufenden Grabungen bisher nur zwei spätgeometrische Schalen der Gattung ,A1-Mina' und eine ostgriechische Vogelschale zu Tage. Sie waren hier vor der schweren Zerstörung dieser Hafenstadt durch Tiglatpilesar III. im Jahre 733 eingeführt worden. 90 Ein starker Zustrom an griechischem Import, hauptsächlich ostgriechischer Keramik, setzte in Dor erst seit der neubabylonischen Besetzung im Jahre 604 ein. 91 Aus den derzeit großflächig angelegten Grabungen in der bedeutenden philistäischen Hafenstadt Askalon liegen auch nicht mehr als eine ostgriechische Vogelschale, ein Kochtopf gleicher Provenienz sowie ionische Schalen, ein protokorinthisches Gefäß und

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Es handelt sich um Vogelschalen aus Areal F, Stratum 7 u. 6, die bis jetzt noch nicht publiziert sind. Ihre Existenz ist nur summarisch im Vorbericht von Dothan 1980, 199 und bei Waldbaum 1994,59 erwähnt. Da die Grabungen an diesem Teil nur kleine Flächen umfassen, besitzt der uns interessierende Befund nur den Wert einer Stichprobe. - Vom Tel Hadar am Ostufer des Sees Genesareth stammt ein protogeometrischer Krater aus Euböa(?), der ins späte 10. Jahrhundert datiert. Dieses bisher unpublizierte Stück erwähnen Kochavi 1993, 187 und Waldbaum 1994, 57. Angeblich soll das Gefäß stratigraphisch ins 11. Jahrhundert zu datieren sein. Hier gilt es jedoch, die Publikation des archäologischen Befundes und der Keramik selbst abzuwarten (demnächst G. Kopke, A Greek Protogeometric Bowl Krater from Tel Hadar, in: Eretz Israel 25; in Druck), denn dieses Stück könnte auch sekundär in die früheren Schichten gelangt sein. Zum zyprisch-geometrischen Import s. Hamilton 1935,6f. Scherben von zwei euböischen Skyphoi und eine einhenkelige Tasse publizierte bereits ders. a.a.O. 23f. (hier S. 181 von Hurtley noch ins 10. Jahrhundert gesetzt); Riis 1970, 144. Neues und bisher unpubliziertes Material (darunter ein weiterer geometrischer Skyphos) aus dem Stratum III legten dann Balensi 1985, 69; Balensi/Herrera 1985, 103; Kearsley 1986, 85f.; Harrera/Balensi 1986,169ff. vor, welches für die Datierung dieser Siedlungsphase wichtig wurde. Das Ende dieser Siedlung ist mit Descoeudres/Kearsley 1983, 49ff. (mit Anm. 137, gegen die Hochdatierung von Coldstream 1977,66 und Snodgrass 1971,113f.)tieferanzusetzen.-Z.T. unpubliziert ist auch noch die ostgriechische Keramik, darunter eine Vogelschale und Scherben von Tierfrieskeramik des späten 7. und des frühen 6. Jahrhunderts von den Grabungen am Teil Keisan, südöstlich von Akko: Salles 1980, 130ff.; Waldbaum 1994,59. Nitsche 1987,16 mit Anm. 47 will den neu publizierten subgeometrischen Skyphos zu den frühesten Typen dieser Gattung zählen und um 850/800 ansetzen; so auch Waldbaum 1994, 56. Stern 1993a, 23, 27 mit Abb. unten; Waldbaum 1994, 58, 59. Zum Feldzug Tiglatpilesars III. im Jahre 734/733 s. ausführlich Katzenstein 1973, 213ff.; vgl. auch Labat 1967, 54f.; Eißfeldt 1967, 181 f., 198f.; Klengel 1980,187f. Ein einziger euböischer(?) Dinos vom Ende der geometrischen Phase liegt aus der Testgrabung am Teil Qiri in der Jesreelebene vor: Ben-Tor/Portugali 1987,110, Fig. 23,10 u. 44,8; erwähnt auch von Waldbaum 1994,59. Stern 1993b, 42f. und Abb. auf S. 38 u. 43. Zudem ein korinthischer Aryballos, in dem Parfüm importiert worden war: Waldbaum 1994,59. Eine umfangreiche Gemeinde mit eigenem Tempel und massenhaft griechischer Keramik existierte in Dor dann in persischer Zeit (Stern 1993b, 44ff.).

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ein korinthischer Skyphos vor,92 die alle vor dem Jahre 604, als Nebukadnezar II. die Stadt zerstörte, importiert worden waren. Im philistäischen Hinterland hatten Bürger im östlichsten Stadtteil von Ekron (Tel Miqne) vor der Zerstörung ihrer Siedlung durch die Assyrer im Jahre 712 eine einzige mittelgeometrische Tasse und während des gesamten 7. Jahrhunderts neben Hunderten von einheimischen Gefäßen und anderem importiertem Geschirr nicht mehr als einige wenige ostionische Skyphoi sowie ein oder zwei korinthische Vasen in Verwendung.93 Selbst in der wirtschaftlich und strategisch so bedeutsamen Stadt Megiddo, die im Jahre 734 von Tiglatpilesar III. zerstört worden war (Siedlungsphase IVA), fanden die Ausgräber Scherben von nur zwei oder drei kykladischen Schüsseln der Gattungen Frühgeometrisch II und Mittelgeometrisch I. 94 Aus der darauf folgenden, unter den Assyrern völlig neu geplanten Stadt (Schicht III) stammen zwei protokorinthische Skyphoi oder Imitationen von solchen.95 Dabei gilt besonders zu betonen, daß hier jeweils gut Dreiviertel der gesamten Siedlungsfläche freigelegt worden waren. Sogar in Samaria, der Hauptstadt des Königreiches Israel, fanden sich in der Masse des einheimischen Tafelgeschirrs innerhalb des Palastbezirkes (Phase IV) nur ein reifgeometrischer euböischer Skyphos, ein großer kykladischer Krater und eine attisch-spätgeometrische Schale, alle aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammend. 96 Diese Residenz hatten bekanntlich die Assyrer im Jahre 722 vernichtet. Auch in der Philisterstadt Gath auf dem Teil es-Safi hielt sich der ostgriechische Import von der Zeit um 750 an bis zum Jahre 597, als Nebukadnezar II. diese Stadt verwüstete, ebenfalls sehr in Grenzen.97 An diesen palästinischen Beispielen wurden zwei Aspekte besonders deutlich: Der Handel mit griechischem Tafelgeschirr hatte hier zwar auch ab ca. 800, aber eben nur ganz vereinzelt Eingang gefunden. Somit blieben diese Gefäße rar und teuer und gelangten nur in einzelne Haushalte der lokalen Oberschicht.

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Stager/Esse 1987,68ff.; Stager 1991,34f.; Waldbaum 1 9 9 4 , 5 7 , 5 9 , 6 0 , 6 3 Anm. 1 5 , 2 1 , 2 3 , 2 5 mit Verweis auf weiteres noch nicht publiziertes Material. Die einst von Hamilton (in: QDAP 4, 1935, 24) genannte Scherbe eines subprotogemetrischen Skyphos mit hängendem Halbkreisdekor ist nicht mehr verifizierbar (s. Waldbaum 1994,57 mit Anm. 8). Um 500 setzt auch in dieser Stadt ein besonders intensiver Handel mit Griechen ein (s. Pythian-Adams 1923, 75f.) Dieser Befund entstammt einer Gesamtgrabungsfläche, die ca. 1/40 der gesamten ummauerten Siedlung umfaßt (Gitin/Dothan 1987, 197ff., bes. 212f.; Dothan/Gitin 1990, 24). Zum griechischen Import jetzt zusammenfassend Waldbaum 1994,58,59,60, Fig. 6, 8,11. Zusammengestellt von Riis 1970, 144ff.; Saltz 1978, 172ff. Riis 1970, 146, 156. Da derartige Imitationen in Al-Mina produziert wurden (s. oben S. 66 ), dürften diese Exemplare von dort nach Megiddo verhandelt worden sein. Riis 1970, 146ff. Der Krater gehört der Phase Mittelgeometrisch II an, s. zuletzt Waldbaum 1994, 57 mit Fig. 4. Diese im Detail noch nicht publizierte Keramik stammt aus Schicht 3 in Areal D: N. Na'am, in: BASO 214, 1974, 25 ff.

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Umso auffälliger ist der Befund im Süden Palästinas. In Tel Serac, dem antiken Ziklag, stand im 7. Jahrhundert eine mächtige von den Assyrern errichtete Festung. 98 Um 620/600 waren hier ostgriechische Kratere zum Mischen von Wein und Wasser in Verwendung. Woher der Wein importiert wurde, belegen die einschlägigen Transportamphoren gleicher Provenienz. Außerdem fand sich noch korinthisches Geschirr." Um 600 war diese Festung erstürmt, eingeäschert und geschleift worden, entweder von Necho II. im Jahre 609 oder von Nebukadnezar II. während seines ersten Vorstoßes nach Palästina im Jahre 604. 100 Eine ganz ähnliche historische Situation fand sich in der befestigten Siedlung von Timnah (Tel Batash). Hier kamen aus der Zeit des späten 7. Jahrhunderts ebenfalls einige ostgriechische Kochtöpfe und Schalen sowie eine samische Weinamphore und ein korinthisches Gefäß ans Licht. 101 Noch eindeutiger und für die Interpretation des Befundes in Ziklag aufschlußreich ist die Festung von Me§ad IJaschavjahu halbwegs zwischen Jaffa und Ashdod an der Küste gelegen. Hier waren nach Errichtung dieses Bollwerkes um 630/620 in einer ersten Benutzungsphase ostgriechische (und karische? 102 ) Söldner stationiert gewesen. Denn außer einer Masse an ionischem und rhodischem Tafel- und Küchengeschirr fanden sich hier samische und lesbische Weinamphoren, 103 in denen der Besatzung ihr heimatlicher Traubensaft geliefert worden war, sowie Lampen gleicher Herkunft und Anlagen zur Verarbeitung von Eisen, um Rüstungsteile und Waffen herzustellen bzw. zu reparie-

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Es handelt sich um die Siedlungsschicht VI mit 5 Benützungsphasen: s. den zusammenfassenden Bericht des Ausgräbers Oren 1982, 155ff. Assyrische Palastkeramik, assyrische Bronzen und eine Kultstandarte des Mondgottes Sin zählen zu den bedeutendsten Funden der Erbauer dieser Festung (Oren 1982, 159ff.). - Ein neu entdeckter Hafenplatz für die Einfuhr phönizischer wie griechischer Güter liegt am Teil erRuqeish (Oren u.a. 1986, 83ff.; vgl. auch Waldbaum 1994,63 Anm. 14). Oren 1982,161; s. auch Waldbaum 1994,59. Oren 1982, 161 erwägt auch noch die Möglichkeit, daß der judäische König Josia diese Festung erobert haben könnte. Je nach Annahme hatten die dort stationierten Ostgriechen entweder im Sold der Pharaonen oder in dem des judäischen Königs gestanden. Helm/Mazar 1986, 108f.; dies. 1987, 60 und 1989, 109. Die Grabungsfläche umfaßt bisher ca. 1/10 der gesamten Siedlungsfläche. Zum griechischen Import s. Waldbaum 1994, 59, 60. - Einzelne ostgriechische Scherben fanden sich auch am Tel'Erani, Teil el-Hesi (Wenning 1991,211,212 Fig. 13 ; Waldbaum 1994, 55 Fig. 1, 59, 63 mit Anm. 22). - Eine einzige ostgriechische Vogelschale und ein korinthisches Gefäß kamen bei den großflächigen Grabungen auf dem Tel Dan in Nordisrael ans Licht (Waldbaum 1994, 59). Dies darf vermutet werden, weil Psammetich I. die Besatzung in diese Festung gelegt hatte. S. dazu unten S. 98 mit Anm. 196. Naveh 1962b, 97; vgl. Oren 1984, 25f„ 27; Reich 1989, 228ff. Ein bisher unpublizierter korinthischer Aryballos bei Waldbaum 1994,59,60. Naveh 1962b, 93,99; Oren 1984, 28.

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Erst in einer zweiten Phase hatte dann der König Josia von Juda die von den Ägyptern mit ihren griechischen Söldnern geräumte Festung kurzfristig belegt gehabt, sie aber seinerseits bald wieder aufgeben müssen. 105 Ob die ostgriechischen Söldner in Ziklag - und wohl auch solche als Wachsoldaten in der Stadt Timnah - im Dienst der Pharaonen Psammetich I. und Necho II. oder im Sold der judäischen Könige Josia, Joahas, Jojakim, Jojakin und Zedekia gestanden hatten, ist zur Zeit nicht zu klären. Aber welcher Machthaber auch immer sie angeheuert hatte, ihr Brotgeber sorgte sogar dafür, daß sie mit ihrem heimatlichen Wein sowie eigenen Mischkrügen versorgt wurden und eigene Waffenschmiede ihre Ausrüstung reparierten und ergänzten. Daß wir mit diesen Schlußfolgerungen aus dem archäologischen Befund das Richtige treffen, zeigen die zeitgleichen Texte aus dem Archiv der judäischen Festung Arad im Nordnegev. Dort hatten um 600 mindestens 75 griechische Söldner unter der Sammelbezeichnung „ Kittäer" für den König von Juda Wache gehalten, bis Nebukadnezar II. dann auch diese Festung im Jahre 587 in Schutt und Asche legte. 106 Auf Befehl des Königs hatte hier der Festungskommandant'Elyashib'genau Buch darüber zu führen, wann und wieviel er „ vom Wein (für) die Mischgefäße (Kratere)" diesen „ Kittäern" aushändigte, welche Rationen „ vom ersten Mehl" er für ihre Brote lieferte und wieviele versiegelte Ölkrüge er für die Verpflegung dieser Griechen ausgab, wieviel vom „ schäumenden Wein" er ihnen zuteilte und welche Menge an Weinessig diese Fremden erhielten. 107 Diese Analyse hat gezeigt, daß die bisher früheste greifbare Einfuhr griechischer Keramik in der Levante in die Zeit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts fällt und diese wohl nicht zufällig in einer der bedeutendsten der phönizischen Metropolen, nämlich in Tyros, belegt ist. 108 Auffällig bleibt dabei, daß es sich in erster Linie um Tafelgeschirr und nicht um Transportbehälter handelte, und daß diese Gefäße bis ins ausgehende 8. Jahrhundert in dominierender Weise euböischer Herkunft waren. Erst dann traten in-

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Zu den hebräischen Inschriften: Naveh 1960, 129ff. u. 1962b, 29ff. und 1962b, 108ff.; A. Lemaire 1977, 259ff.; V. Sasson, in: BASO 232, 1978, 57ff.; TUATI, 249f.; vgl. auch dazu unten S. 98 mit Anm. 195. Der Versuch von Wenning 1989, 169ff., die Anlage allein dem judäischen König Jojakim zuzuschreiben und damit die dort gefundene ostgriechische Keramik ins früheste 6. Jahrhundert reichen zu lassen, zwang ihn, die Argumente für die Existenz von zwei Phasen der Nutzung der Festung zu bagatellisieren. Ausgeblendet bleibt in seiner Argumentation die gesicherte Chronologie derselben Keramik in den Festungen auf ägyptischem Boden. Herzog u.a. 1984,4, 26ff.; vgl. die kritische Sichtung des Baubefundes bei Mazar/Netzer 1986, 87ff. und Ussishshkin 1988, 151 ff. S. die Ostraka Nr. 1,2,4,7,8 u. 17(Aharoni 1981 und Lemaire 1977,145ff.); übers, bei Smelik 1987,91ff.; in TUAT 1251 f. nur die Nr. 1 u. 17. Ein entsprechender Befund ist auch für Sidon und Byblos zu erwarten. In Sidon fehlen noch Grabungen und in den auf der sogenannten Akropolis von Byblos großflächig durchgeführten Untersuchungen war scheinbar kein entsprechender griechischer Import gefunden worden.

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seiionische wie rhodische Vasen hinzu. Nach und nach fand diese griechische Keramik auch an mehreren anderen Küstenplätzen Eingang. Unter diesen Orten kamen den Häfen an der syrischen Küste wie Bassit, Sukas und Al-Mina wegen ihrer Handelsverbindungen zu den Städten im nordsyrischen Binnenland und weiter ostwärts bis nach Obermesopotamien 109 besondere Bedeutung zu. Wenn auch die Anzahl der importierten griechischen Gefäße während des 9. und 8. Jahrhunderts in einzelnen Orten leicht gestiegen war, so legen diese Importe nur Zeugnis für das Phänomen ab, daß sich allein die begüterte Schicht jeweils den Luxus derartigen Eß- und Trinkgeschirrs leisten konnte. Aufschlußreich ist dabei der Umstand, daß auf palästinischem Boden die Einfuhr griechischen Tafelgeschirrs erst um 800 einsetzte und bis ins späte 7. Jahrhundert eine große Rarität geblieben ist. Wir kommen also zu dem Schluß, daß Phönizier wie Syrer und Israeliten sehr wohl Gefallen an griechischem Tafelgeschirr gefunden hatten. Es erhebt sich aber die Frage, wer diese euböische bzw. dann vornehmlich inselionische und rhodische Keramik aus der Ägäis nach der Levante verhandelt hatte. Für die Zeit vor ca. 750 wird man wohl an die Phönizier selbst und an Kaufleute aus Zypern, 110 aber noch nicht an griechische Händler aus dem ägäischen Raum zu denken haben. Es ist hier nicht der Ort, die in den letzten Jahrzehnten in wachsender Anzahl ans Licht gekommenen Belege für die Aktivität und Anwesenheit phönizischer Kaufleute und Handwerker, speziell der Metallarbeiter und Goldschmiede im ägäischen Raum 111 und weiter westlich aufzuzeigen. Doch sei zumindest auf die phönizische Handelsstation am südkretischen Küstenort Kommos verwiesen, welche die Phönizier nachweisbar seit dem späten 10. Jahrhundert regelmäßig aufsuchten. Aber nicht genug damit. Sie errichteten in diesem Hafenort um 800 sogar ein rein phönizisches Heiligtum mit drei Masseben. 112

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So kamen in Teil Halaf wie in Ninive je ein euböischer Skyphos mit hängendem Halbkreisdekor ans Licht (Riis 1970,144). Zu den weiteren einzelnen importierten griechischen Gefäßen der geometrischen, rhodischen und korinthischen Gattungen auf syrischem und mesopotamischem Boden s. oben Anm. 57. Die Bedeutung zyprischer Händler für den Import griechischer Keramik im Orient bis ins späte 8. Jahrhundert betont zu einseitig Helm 1980, 89ff. im Anschluß an Taylor 1959, 87 und 92. S. dazu die sowohl die literarische Überlieferung als auch das archäologische Fundmaterial berücksichtigenden Arbeiten von Muhly 1970,10-64; Helck 1976, 158ff.; Boardman 1981, 59ff.; Coldstream 1982, 26Iff., bes. 268f.; Braun 1982, 5ff.; Popham u.a. 1983, 281ff.; Muhly 1985, 177ff. und Matthäus 1993, 168ff., 181 ff. - Zu der inzwischen bekannten phönizischen Bronzeschale aus dem Friedhof von Tekke bei Knossos mit phönizischer Inschrift s. M. Sznycer 1979, 89ff. und Guzzo 1987, 13.; Shaw 1989, 180f.; J. Latacz/U. Gehrig, in: Gehrig/Niemeyer 1990,1 Iff. und 23ff.; weiters die Beiträge von Muscarella 1990, 16ff.; Str0m 1990,46ff. und Kopeke 1990,103ff. - Nur schwer nachvollziebar ist deshalb die in jüngster Zeit von Riis 1982, 255 und vor allem von Boardman 1990, 177ff., bes. 181 ff. vertretene Auffassung, Euböer selbst hätten seit dem 10. Jahrhundert diesen Orienthandel getragen und beherrscht. Mit Verweis auf die Grabungsberichte eingehend dargestellt von Shaw 1989, 165ff. und bes. Fig. 3-10, 181 ff.

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Abb. 2 Ansässige Griechen und griechischer Import um 620 in Kilikien, Syrien und in Palästina • ansässige Griechen Δ Import einzelner oder mehrerer Gefäße • Festung mit griechischen Söldnern .2. griechische Kolonie Ο sonstige wichtige Orte Grenze des ägyptischen Reiches Grenze des assyrischen Reiches Zypern (nur die wichtigsten Fundplätze kartiert): 1 Hagia Irini, 2 Soloi, 3 Ktima, 4 Palaipaphos, 5 Kourion, 6 Amathus, 7 Kition, 8 Tamassos, 9 Idalion, 10 Golgoi, 11 Salamis. Kilikien, Syrien und Palästina: 1 Nagidos, 2 Kelenderis, 3 Soloi, 4 Ingirra/Anchiale/Mersin, 5 Tarsos, 6 Al-Mina, 7 Ras el-Bassit/Posideion, 8 Sukas/Shuksu/Sykas, 9 Tabbat al-Hamam, 10 Sarepta, 11 Tyros, 12 Kabri, 13 Teil Dan, 14 Akko, 15 Teil Abu-Hawam, 16 Teil Keisan, 17 Dor, 18 Mesad Haschavjahu, 19 Ekron, 20 Batash, 21 Askalon, 22 Teil es-Safi, 23 Teil Jemmeh, 24 Ziklag, 25 Arad, 26 Teil er-Ruqeish, 27 Babylon.

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Nach ca. 750 ging die Menge der importierten phönizischen Keramik in dieser Handelsstation deutlich zurück, und um 630 wurde dieses Heiligtum im Rahmen einer völligen Neuplanung zur Gänze abgerissen. 113 Dem Rückgang der phönizischen Aktivität in Kommos ab ca. 750 entspricht also wohl kaum zufällig die gleichzeitige Zunahme griechischen Imports am syrisch-phönizischen Küstengebiet. Mit anderen Worten: Um 750 verdrängten die griechischen Händler die phönizischen Kaufleute aus der Ägäis und fuhren nun ihrerseits die syrischen und phönizischen Hafenstädte an. Der Seßhaftigkeit ostgriechischer Händler innerhalb bereits bestehender syrischer wie phönizischer Hafenorte läßt sich für Al Mina ab ca. 750, für Bassit/Posideion ab ca. 720 und für Sukas ab 670 glaubhaft machen. Das Ausmaß der wirtschaftlichen wie politischen Stellung der griechischen Gemeinden zu erfassen, war nur in Sukas möglich. Dort dürften sie einen Enoikismos gebildet haben. 114 Bis zum späten 7. Jahrhundert hatte sich der Zustrom ostgriechischer Kaufleute in der nördlichen Levante verstärkt. Dieser Prozeß war sicher nur mit Tolerierung, wenn nicht sogar ausdrücklicher Genehmigung der lokalen Machthaber möglich. Diese hatten dann wie ζ. B. die tyrischen und judäischen Könige um 600 auch ostgriechische Söldner unter Vertrag und in Festungen wie ζ. B. in Kabri, Ziklag und in Arad stationiert. Darüberhinaus wurde von Seiten der Könige sogar dafür gesorgt, daß die griechischen Landsknechte nicht auf ihre heimische Kost verzichten mußten. Neben Ioniern und Dorern, wohl hauptsächlich Rhodiern, waren aber auch deren Nachbarn wie Lyder, Karer (?) und weiters Libyer in Phönizien um 600 als Söldner willkommen gewesen. Es erheben sich nun die Fragen, ob und wenn ja, wo und seit wann Griechen anderenorts im Vorderen Orient als Händler und Handwerker seßhaft geworden sind oder als Söldner gedient haben. Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, als nächstes die keilschriftlichen Überlieferungen Assyriens und Babyloniens auszuwerten. In diesem Rahmen werden auch die archäologisch einschlägigen Funde im kilikischen Raum zu beleuchten sein.

II. In Kilikien, Assyrien und Babylonien Aus den assyrischen Quellen erfahren wir, daß es zum ersten Mal unter Sargon II. (722-705) zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Assyrern und Griechen 115 gekom113 114 115

Shaw 1989; 171f„ 181ff.; s. auchCsapo 1991,21 Iff. So auch Riis 1970, 129 und ders. 1982,254. Zur Gleichsetzung von assyr. „Iamani", neubab. „Iamana/u", hebr. „Iawan" mit „Ioniern" s. die Materialsammlung und Argumentation bei C. F. Lehmann-Haupt 1934,74ff. und Bengtson 1937,138ff. Weitere Argumente für diese Identifizierung brachten Bilabel 1927,401f. und Erzen 1940, 56, 60 vor. Sämtliche Belege bei Parpola 1970, s.v. Jawan und Jadnana; Zadok 1985, 186ff. und Helm 1980, 162ff.; vgl. auch Braun 1982,20; Jasink 1989,118ff. - Mit dieser Fremdbezeichnung (?) waren, Wiedas archäologische Material, inschriftliche und historiographische Überlieferung aus dem Raum, für den die Anwesenheit von Iamani belegt ist, sowohl ostgriechische Ionier als auch Dorer aus der Dodekanes benannt worden.

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men war. Sargon „fing die Iamani (lonier) aus der Mitte des Meeres wie einen Fisch in einem Netz (?) und verschaffte (dadurch) dem Lande Que (Kilikien) und Tyros Frieden. "116 Da die assyrische Armee über keine eigene Flotte verfügte, hatte es der Assyrer ohne Zweifel nur mit Hilfe phönizischer Kriegsschiffe 117 vermocht, die griechischen Piraten aus dem Meeresbereich zwischen der kilikischen Küste, Zypern und Tyros zu vertreiben. Diese Kämpfe dürften sich im achten oder auch noch im neunten Regierungsjahr dieses assyrischen Königs zugetragen haben, also in den Jahren 714/ 713. 118 Vielleicht in ursächlichem Zusammenhang mit diesen kriegerischen Auseinandersetzungen könnte die Tatsache stehen, daß in den Verwaltungstexten am assyrischen Hof in Ninive die Königinmutter im Zusammenhang mit Deportierten Rationen an Silber von einem bzw. mehreren „ Ionier(n)" zugeteilt erhielt. 119

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Vier gleichlautende Prismeninschriften in Dur-Scharrukin, ZI. 21. Zur Übersetzung s. Winckler 1893, 364; Gadd 1954,199; H. Tadmor, in: Scripta Hierosolymitana VIII, 1961,269 mit Anm. 91 gegen die verfehlte Übersetzung in LAR II § 118 „subdued Cilicia and Tyre"; vgl. auch Katzenstein 1973,237ff.; Helm 1980, 162. - Weitere Inschriften aus dem Palast Sargons II., die den Seekampf gegen griechische Piraten erwähnen: Annalen des Saales XIV ZI. 15; ND 3411 ZI. 19; Lamassu-Inschrift ZI. 25 = Türschwelleninschrift IV ZI. 34f. (s. Winckler 1889, 82/83,148/149,364ff.; LAR II § 80,92,99). Übersetzungen auch bei Bilabel 1927, 401 und Bengtson 1937, 150; Gadd 1954, 199; Helm 1980, 162; Jasink 1989, 118ff. Möglicherweise sind auch in den Annalen zum 7. Regierungsjahr Sargons, ZI. 91ff. (Winckler 1889, 20; LAR II § 16) nach dem Vorschlag von Bilabel 1927, 401 f. „Iamani" zu ergänzen, was bedeuten würde, daß der älteste Beleg für assyrisch-griechische Auseinandersetzungen ins Jahr 715/714 zurückreichte. Außerdem bezieht sich das 1963 in Kalach/Nimrud gefundene Brieffragment Letter LXIX (ND 2370) (publiziert von H.W.F. Saggs, in: Iraq 25, 1963,76ff.) eines der höchsten Beamten Sargons II. (und nicht Tiglatpilesars III., wie Saggs glaubte), Qurdi-assur-lamur, von dem wir noch zwei weitere Briefe aus Kalach besitzen (The Nimrud Letters 1952: XII ND 2715 und XIII ND 2686, hrsg. von H.W.F. Saggs, in: Iraq 17, 1955, 126ff.) offenbar auf diese griechischen Pirateneinfälle. Es ist nämlich von dem Einfall der „Leute des Landes launa (URUia-u2-na-aja)" die Rede. Daß „Iauna" mit „Iawan" und „Iamana" gleichzusetzen ist, belegten Saggs 1963, 77f. und Helm 1980,182 und 187. Eine Richtigstellung der chronologischen Reihung dieser Briefe und eine umfassende historische Auswertung derselben erfolgte durch Katzenstein 1973,232ff., ihm folgend auch Helm 1980, 182. Den Einsatz phönizischer Kriegsschiffe auf assyrischer Seite zeigen ζ. B. schon die Wandmalereien in der Eingangshalle des Palastes des assyrischen Statthalters in Til Barsib (Teil Ahmar) in Syrien aus der Zeit Tiglatpilesars III. (744-727) (für etwas älter hält sie Moortgat 1967, 144ff., 157), s. ThureauDangin/Dunand u.a. 1936, Titelbild d. Textbandes; Strommenger/Hirmer 1962, Farbtaf. XXXIX; Hrouda 1965, Taf. 31,7; Orthmann 1975, Farbtaf. XXI; Amiet 1977, Farbtaf. 105. - F ü r unsere Frage sind des weiteren auch die Darstellungen der phönizischen und palästinischen Feldzüge Sanheribs auf den Orthostatenreliefs im Nordwest-Palast dieses Königs in Ninive, Raum VIII, aufschlußreich: Paterson 1915, pl. 11; Hrouda 1965, Taf. 66,1; Barnett 1975, Taf. auf S. 66. Aufgrund der Türschwelleninschrift IV (Winckler 1889, 146ff. und 1893, 364ff.; LAR II § 92). Näheres dazu bei Katzenstein 1973, 239 und Braun 1982,15f. Tafel Κ 1493 (ADD 1075) ZI. 6-8: Fales/Postgate 1992, 56 Nr. 48. Die Datierung dieser Tafel innerhalb des erhaltenen Teiles des Archivs, das von 715 bis maximal 612 reicht, läßt sich nur erschließen: s. ebenda XIII f. und bes. XXI. - Diesen Literaturhinweis verdanke ich der Freundlichkeit von Herrn Kollegen R. Rollinger.

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Des weiteren berichten verschiedene Urkunden Sargons II. verhältnismäßig ausführlich über den Staatsstreich und das weitere Schicksal eines mit Hilfe der assyrerfeindlichen Partei in Ashdod zur Macht gelangten „lamani"120 bzw. „ Iadna" m genannten Mannes. Gegen Ende des Jahres 713 1 2 2 durch einen Putsch auf den Thron gelangt, wiegelte dieser neue Machthaber in Ashdod, auf die Hilfe Ägyptens hoffend, weitere Philisterstädte, die Königreiche Juda, Edom und Moab zum Aufstand gegen die Assyrer auf. Als diese Erhebung im Jahre 711 unter den Schlägen der assyrischen Armee zusammenbrach, floh Iamani/Iadna nach Ägypten, wurde aber vom damaligen Pharao Schabako an Sargon II. ausgeliefert. 123 Die Mehrheit der Orientalisten und der sich auf ihre Publikationen stützenden Althistoriker sah in diesem „lamani" einen Ionier, also auf jeden Fall einen Griechen, dessen Name in den assyrischen Quellen - wohl absichtlich - nicht genannt, sondern bloß durch die für „Iadnana" (Zypern) verkürzte Bezeichnung „Iadna", d. h. „Zypriote" und als ein „ amil $abi", ein „Kriegsmann", näher bestimmt worden war. 124 120

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la-ma-ni: Annalen des Saales XIV (Winckler 1889, 82 ZI. 1 Iff.; LAR II § 79), Prunkinschrift ZI. 95ff. (Winckler 1889, 114ff.; LAR II § 62 f.) und auf dem Tonprisma Α aus Ninive ZI. 15 (Winckler 1889, II pl. 44 Bruchstück D; LAR II § 194f.) sowie auf den Tonprismen G. Smith 2022 und 251+Y 3, ZI. 18ff. (Winckler 1889, I 186ff.; vgl. Weiters dazu Lehmann-Haupt 1934, 74ff.; Bengtson 1937, 148ff.; Roebuck 1959,62ff.; H. Tadmor, The Campaigns of Sargon II of Assur, in: JCS 12, 1958, 79. Ia-ad-na: Annalen ZI. 220 (Winckler 1889,1 36ff.; LAR II § 30). Die chronologischen Detailfragen hat Spalinger 1973,97ff. geklärt; vgl. jetzt auch Braun 1982, 16f.; Hutter 1982, 27ff. Die Ausgräber erfaßten in Ashdod nicht bloß die Zerstörungsschicht des Jahres 711 (Ende der VIII. Stadt) sowie den darauf folgenden assyrischen Wiederaufbau (Stadt VII), sondern sie hatten sogar das Glück, drei Fragmente der von Sargon damals in dieser Stadt errichteten Siegesstele wiederzufmden. Zur Zerstörung der VIII. Stadt s. Dothan/Freedman 1967, 139; Dothan 1969, 245; ders. 1971, 21, 38, 92ff„ 162. Die Sargonstele ist in der zuletzt genannten Publikation von H. Tadmor, ebenda 192ff. veröffentlicht. Darüberhinaus gelang J. Kaplan die Entdeckung der von lamani befestigten Hafenstadt Asdudimmu (Minat Isdud, ca. 5 km nw. von Ashdod an der Küste gelegen), von der Sargon ebenfalls berichtet, daß er sie erobert habe. Zum gesamten archäologischen Befund und zur Zerstörung vom Jahre 711 s. Kaplan 1969, 137ff. und ders. 1975, 119f. Winckler 1889, XXX Anm. 2; Olmstead 1908, 77ff„ bes. Anm. 62 zur Schreibung des Namens; LAR II S. 13 Anm. 2 und S. 31 Anm. 2; Bengtson 1937,148ff.; Meyer 1954,28 mit Anm. 3 und42f. mit Anm. 3; S. Smith, in: CAH III, 1954, 58 „a man of Cypriote origin"; H.R. Hall, CAH III, 1954, 277 „a Greek adventurer... from Cyprus (?)"; S.A. Cook, CAH III, 1954,387f. „a Yemenite from South Arabia, or more probably, an Ionian of Cyprus"; Dunbabin 1957, 31, 58; Heichelheim 1958,497 „an Ionian king of Ashdod"; Roebuck 1959, 62; Cook 1962, 65; Bengtson 1969; 77 „ein griechischer Abenteurer"; A.B. Lloyd, Herodot Book II: Introduction, Leiden 1975, 12f.; Boardman 1981, 131 „den Griechen namens ,Yamani'". - Mit Vorsicht spricht sich Helm 1980, 188f. für die Identifizierung dieses lamani mit einem Mann aus Zypern aus. Doch seiner Gleichsetzung von Iamana und Iadnana widerspricht die Mitteilung auf der Basaltstele Sargons II. aus Kition auf Zypern, Kol. II (IV) 28ff., 52f.: „ 7 sarräni sa mät Ya' nage sa mät Ya-ad-na-na sa mälak 7 ume ina qabal tämtim ereb dsamsi" („7 Könige des Landes Ja', ein Gebiet des Landes Jadnana, das eine 7-Tagereise ins Meer der untergehenden Sonne (gelegen) ist"), s. Winckler 1889,174ff.; LAR II, S. lOOff., § 179ff. Willkürlich bleibt auch Helms (a.a.O. 163) Interpretation der Textsteile in Asarhaddons Inschrift (Borger 1956, 156 ZI. 10f.), URUiadnana sei dort als Apposition zu Iamana zu verstehen.

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Mit Winckler125und 01mstead 126 dachte auch Bengtson 127 dabei an einen griechischen Söldnerführer128, den - wie nicht selten in der Geschichte - die Gunst der politischen Umstände auf den Thron seines ehemaligen Herrn verholfen hatte. In der Tat fügt sich dieses Ereignis harmonisch in das historische Bild vom Auftreten griechischer Piraten und - wie wir gleich sehen werden - von Händlern, Handwerkern oder Söldnern im kilikischen Raum ein. Denn daß Ionier und rhodische Dorer damals bereits in Al-Mina und in Bassit eigene Niederlassungen besaßen, wurde schon oben gezeigt. Zu dieser historischen Überlieferung tritt das archäologische Material im kilikischen Raum. Entscheidend ist auch in diesem Falle, ob das griechische Kulturgut, in erster Linie die Keramik, in den betreffenden Siedlungen bzw. in den ergrabenen Stadtvierteln so zahlreich auftritt, daß man daraus auf eine Niederlassung griechischer Händler und Handwerker schließen darf und nicht bloß auf die Verwendung griechischen Imports durch die einheimische Bevölkerung. 129 Auf der Akropolis von Tarsos waren aus der Zeit vor der Zerstörung dieser Stadt durch Sanherib im Jahre 696 1 3 0 innerhalb einer Fläche von ca. 300 m 2 , welche die Archäologen dort untersuchten, folgende Funde ans Licht gekommen. Ab ca. 850 setzte hier der Import griechischen Tafelgeschirrs ein. Bis zum Untergang der Stadt im Jahre 696 waren im Verlauf von rund 150 Jahren nach und nach einige euböische bzw. kykladische Skyphoi sowie zwei Teller mit hängendem Halbkreisdekor,

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Winckler 1889,1S. XXX Anm. 2 „führer eines mietsheeres". Olmstead 1923,218 „a mercenary Greek soldier from Cyprus". Bengtson 1937, 150 „ein griechischer Söldner"; ders. 1969, 77. Tadmor 1958, 80 mit Anm. 217; ders. 1966,97f. und ders., in: Ben-Sasson 1978, 175 ohne weitere Argumentation. Ohne Bedenken folgen jetzt Tadmors Argumentation Röllig 1971, 644, Spalinger 1973, 97, der Tadmors These für erwiesen hält, und Täckholm 1974,44. - 1958 wies H. Tadmor die bisherige Interpretation von ,Iamani' und ,Iadna(na)' mit dem Argument zurück: „...the normal Assyrian gentilic for both of these words would be K U R Iamana and Iadnana respectivly; it is therefore inconceivable that the Assyrian scribes would misunderstand or misinterpret a regular Assyrian gentilic ,the Ionian' or ,the Cypriot'"; folglich bestehe „the probability that the Iamani was a local Palestinian origin" (80 mit Anm. 217). Diese Argumentation wäre ohne Zweifel zwingend in ihrer Schlußfolgerung, müßte Tadmor nicht ihr zuliebe innerhalb der Urkunden Sargons die Bezeichnung des Usurpators als ,Iadna' zusätzlich „unexplained and possible corrupted" (80 Anm. 216) erklären. Liegt es da bei der ohnehin bekannten Etymologisierungssucht assyrischer Schreiber (vgl. dazu Winckler 1889,1 S. XL Anm. 6) nicht näher anzunehmen, daß unser Chronist diese unter Sargon zum erstenmal im assyrischen Raum bekannt gewordenen Namen für Griechen und Zyprioten an ihm bekannte semitische Namensformen angleichend ohne das Determinativ KUR geschrieben hatte? Diese Erklärung würde außerdem eine gänzliche Verwerfung der Bezeichnung ,Iadna(na)' in den Annalen Sargons ersparen und die Auswertung aller für dieses Ereignis einschlägigen Texte im Sinne der älteren Fachkollegen methodisch und sachlich nach wie vor rechtfertigen. Nur einzelne geometrische Scherben sind aus Catal Hüyük, Hesigin, Kazanli, Misis, Sirkeli und Soyali bekannt, s. Barnett 1939,100.

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ein Skyphos mit konzentrischen Kreisen, eine Hydria mit Zickzackband auf der Schulter, zwölf ostgriechische Vogelschalen, eine Oinochoe mit Vogeldekor, ein protokorinthischer Aryballos, ein ionischer Becher, ein orientalisierender Teller und aus der AlMina-Produktion ein schwarz glasierter Becher sowie ein Skyphos eingeführt worden. Jedoch kamen über 30 Gefäße inselionischer wie rhodischer Provenienz allein aus einem kleinen freigelegten Abschnitt des Hauses Η ans Licht. 131 Sieht man von diesem Haus Η ab, so überwog innerhalb der genannten Importkeramik allerdings die zyprische Töpferware. 132 Griechische und zyprische Gefäße zusammen machten während der besagten 150 Jahre nur etwa 10% sämtlicher verwendeter Keramik aus. 133 Allerdings ist dabei in Betracht zu ziehen, daß sich innerhalb des Grabungsareals ein Töpferofen befand 134 und deshalb ein überproportionaler Anteil an lokalem Geschirr innerhalb dieses untersuchten Geländes anfiel. Insgesamt erlaubt dieser Befund nur die Schlußfolgerung, daß sich die Bewohner auf der Akropolis von Tarsos ab ca. 850 allmählich und zunehmend griechisches Tafelgeschirr leisteten, das hauptsächlich aus Euböa und dann auch aus Rhodos und Samos importiert worden war. Nur in einem der sechs freigelegten Häuser dominierte griechische Keramik. Dort dürfte vor 696 ein griechischer Kaufmann, ein Handwerker oder ein Söldner ansässig gewesen sein. Aus der Zeit zwischen dem Wiederaufbau durch den assyrischen König um 690 bis gegen 600 ist bei deutlich sinkendem zyprischem Import und Kultureinfluß eine steigende Einfuhr griechischer Töpferware und deren lokale Imitationen zu verzeichnen. Über 300 Fragmente ionischer Schalen, dazu hauptsächlich rhodisch-geometrisches wie orientalisierendes Tafelgeschirr aus Samos, Korinth und vielleicht auch aus Ephesos fanden sich nun neben der einheimischen Keramik in den ergrabenen Häusern. 135 Dazu kommt eine griechische Weih- oder Besitzerinschrift aus der Zeit um 640/630 136 sowie Reste des assyrischen Festungsarchivs, darunter ein Brief aus dem

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LAR II § 61 f. ZI. 69.71,85. Den Feldzug führten allein die assyrischen Generäle, nicht Sargon selbst. Die betreffende Zerstörung zeichnet sich in den Grabungsabschnitten 0 und Ν als Brandschicht bzw. an gebrannten Lehmböden („red floor") ab. Insgesamt liegen die zeitgleichen, im Rahmen der folgenden Neubauten sekundär vom Zerstörungsschutt weitgehend befreiten Böden in den Sektoren H, N-Straße, J, Κ, Ρ und im Zentrum bei den Höhenquoten zwischen 14,50 und 14,60 (Goldman 1963, 6ff., 112ff. und Boardman 1965, 7ff. Vgl. den Plan der Verbauung in der Mittleren Eisenzeit (ca. 850-700) bei Goldman 1963, plan II und Boardman 1965, Fig. 2). Hanfmann 1956, 167ff. und ders., in: Goldman 1963, 279ff.; vgl. aber auch ebenda 9ff„ U l f . , 114, 127ff., 140, 142. Weiters neu diskutiert von Boardman 1965,7ff. Summarisch Helm 1980, 74ff. Goldman 1963,56ff„ U0f.; dies betont auch Helm 1980,75. Goldman 1963, 33, Tabelle II. Goldman 1963,5. Hanfmann 1956, 167f.; Goldman 1963, 131, 133; Boardman 1965, 9f.; Helm 1980,75. Goldman 1963, 132, pl. 151 Kat.-Nr. 1645.

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Jahre 636 und assyrische Keramik sowie Waffen, die aber zu wenig spezifisch sind, um sie eindeutig griechischen Söldnern zuweisen zu können. 137 Die deutliche Zunahme griechischen Geschirrs, dessen lokale Imitationen und der erste Beleg für eine griechische Inschrift können zusammen als gewichtige Argumente für die Ansiedlung von Griechen auf der dortigen Akropolis von Tarsos gewertet werden. 138 Doch für einen definitiven Nachweis wären Kontrollgrabungen in anderen Teilen dieser antiken Siedlung, vor allem im Bereich ihrer Heiligtümer nötig. Andererseits schließen die Befunde der bisherigen archäologischen Untersuchungen aber nicht aus, daß in Tarsos im 7. Jahrhundert Griechen ansässig waren. Schließlich erbrachten die Grabungen am Ruinenhügel von Mersin (Yümük Tepe), der mit dem antiken Ingirra und Anchiale gleichzusetzen ist, 139 den Nachweis, daß hier während des 8. Jahrhunderts (Level IV) innerhalb der untersuchten Fläche von ca. 770 m 2 neben der Masse an lokaler Keramik und am Ort kopierter zyprischer Töpferware insgesamt nur 13 griechische Gefäße importiert worden waren. 140 Außer sechs euböischen Skyphoi und zwei Oinochoai fallen aber vier Amphoren und ein Krater des späten 8. Jahrhunderts auf, 141 denn sie belegen den Import von griechischem Wein und seine Vermischung mit Wasser nach griechischem Usus und liefern damit einen Hinweis auf einzelne in Mersin ansässige Griechen knapp vor 700. Ab dem frühen 7. Jahrhundert bis gegen Ende des 6. Jahrhunderts (Level III) war in dieser völlig neu angelegten Stadt dann mehr griechische als einheimisch-kilikische Keramik in Verwendung. Da die Masse des griechischen Importgeschirrs an diesem Ort mit jenem aus der rhodischen Nekropole von Vroulia identisch ist, attische Keramik überhaupt fehlt und selbst nur wenig zyprische und korinthische Gefäße vorliegen, dürften sich wohl hauptsächlich rhodische Siedler in Mersin niedergelassen haben. 142 Wie im nordsyrischen Küstenraum ließ das archäologische Material auch in Kilikien erkennen, daß die dortige einheimische Oberschicht während der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts griechisches Tafelgeschirr schätzte. In Anchiale/ Mersin und auch in Tarsos dürften im späten 8. Jahrhundert schon einzelne griechische Kaufleute ansässig geworden sein. Während des 7. Jahrhunderts muß der Prozentsatz griechischer, hauptsächlich aus Rhodos stammender Einwohner in Anchiale schon sehr bedeutend gewesen sein. Für

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Goldman 1963, 9f„ 132, 365ff„ 373f.; Goetze 1939, Iff.; Boardman 1965, 11. Die Pfeilspitzen kommen ζ. B. auch in Kleinasien vor. Zu den Lanzenspitzen, Dolchen und Schwertern s. Goldman 1963, 367,374. So Goldman 1963,111. Boardman 1965, 12; zurückhaltender zurecht Helm 1980, 76. Die antiken Quellenangaben zu Anchiale finden sich zusammengestellt bei Hirschfeld 1894b, 2103. Zu den Identifizierungen am eingehendsten Forrer 1920, 70 f.; Erzen 1940, 65, 66 und Bing 1971,102. Vgl. auch Anm. 140. Das von Barnett 1939, 98ff. und Garstang 1953 publizierte Material hat Hanfmann in Goldman 1963, 93f., 106 mit Anm. 67 nochmals analysiert und eine Korrektur in bezug auf die Masse der lokal produzierten Keramik vorgenommen; vgl. auch Helm 1980,76. Zur Grabungsfläche s. Garstang 1953, Fig. 159. Barnett 1939,103ff. Barnett 1939, 98 u. 110f.; Garstang 1953, 254f.; Helm 1980, 76f.; Boardman 1981, 49, 54. Zur Neuplanung in Level III s. Garstang 1953, Fig. 159.

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Tarsos liefert das derzeit vorliegende archäologische Material nur Indizien und noch keinen Beweis für die Ansiedlung griechischer Händler, Handwerker oder Söldner. Ergänzend dazu tritt die griechische historiographische Überlieferung sowohl zur Gründung der schon Hesiod bekannten Kolonie von Soloi an der kilikischen Küste durch Lindier, die zur Zeit der Gründung von Gela auf Sizilien (ca. 690) erfolgt sein soll, 143 als auch diejenige zu den samischen Kolonien in Nagidos und Kelenderis an der Küste des „ Rauhen

Kilikien

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In diesen zuletzt genannten Städten haben bisher noch keine einschlägigen archäologischen Untersuchungen stattgefunden. Sowohl aufgrund der Nennung dieser Orte bei Hekataios von Milet und Skylax von Karyanda als auch aufgrund ihrer eigenen Münzemissionen ist ihre Existenz mit Sicherheit seit dem frühen 6. Jahrhundert nachweisbar.144 Es darf für diese samischen Kolonien wohl auch an ein Entstehungsdatum im 7. Jahrhundert gedacht werden. 145 Vor diesem historischen Hintergrund gewinnen nun die von dem als verläßlich erweisbaren babylonischen Historiker Berossos 146 überlieferten Einzelheiten über die Beteiligung von Griechen am Aufstand Kilikiens gegen Sanherib an Glaubwürdigkeit. 147 Dieser assyrische König, der die Revolte durch seinen Feldherrn im Jahre 696 unter anderem durch die Eroberung der Städte Tarsos, Ingirra (Anchiale/ Mersin) und Illubru niedergeschlagen hatte, 148 habe während der damaligen Kriegshandlungen Grie-

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Zur gleichen Zeit war auch die Gründung der rhodischen Kolonie Phaseiis an der ostlykischen Küste erfogt; vgl. Busolt 1893, 323 (Phaseiis), 325 (Soloi); Beloch 1912, 261 (Phaseiis), 262 (Soloi); Erzen 1940, 67 (Phaseiis), 70f. (Soloi); Berve 1951, 124; Meyer 1954, 95, 423f.; Bing 1971,103,105; Schläger/Schäfer 1971, 542ff.; Blackman 1978, 829ff.; Schäfer 1981. Die Überlieferung zur Gründung von Phaseiis diskutierte zuletzt ausführlich Prinz 1979,28ff. Busolt 1893, 325; Beloch 1912, 261f.; Meyer 1954,95,423f. Beloch sprach sich indirekt für die Zeit um 700 aus (1912, 261f.); Bilabel 1920, 155f„ 178 äußert sich über den Zeitpunkt der Gründung nicht; Erzen 1940,68f. plädierte ebenfalls für die Zeit um 700. Zu Berossos allgemein s. am ausführlichsten E. Schwartz, RE 3 1, 1897, 309ff. s.v. Berossos(4); Schnabel 1923, 268ff. und C.F. Lehmann-Haupt, in: RIA 2, 1938, Iff. Berossos, Babylonika, bei Alexander Polyhistor (FGH Nr. 680 F 7c (31)): „Wie ihm (Sanherib) das gerächt geworden, dass angerückt seien Griechen in das land der Kilikier, krieg zu führen..., eilte er gegen sie; front gegen front stellte er auf; und nachdem viele von seinen eigenen truppen durch die feinde niedergehauen waren, siegte er in der Schlacht; und als denkmal des sieges Hess er sein auf der Stätte errichtetes bildnis zurück, und befahl in chaldäischer schrift seine tapferkeit und heldentat einzugraben zum gedächtnis für die künftigen zeiten." (Übers, von F. Jacoby); und bei Abydenos (FGH Idr. 685 F 5): „Zu jener zeit wurde als der fünfundzwanzigste endlich auch Senecherib gefunden von den königsherrschern, der Babelon seiner botmässigkeit unterwerfend bezwang, und an der seeküste des Kilikischen landes das geschwader der seekämpfenden schiffe der Ionier besiegte und in die flucht schlug." (Übers, von F. Jacoby). Vgl. dazu zuletzt die Diskussion bei Helm 1980, 193ff. u. 321 ff., der aber aufgrund seiner Auffassung, „Iamani" seien nur Zyprier gewesen, annehmen muß, daß Berossos diese „Iamani" irrtümlich mit Ioniern gleichgesetzt habe. Zur Problematik dieser Gleichsetzung bei Helm s. oben Anm. 113 u. 121. Weiters Braun 1982, 18f.; Jasink 1989, 124ff. British Mus. Prisma Nr. 103.000, Col. IV 61 ff. (LAS 61 f:; LAR II § 286f.). Die Festlegung der Datierung erfolgte durch Tallqvist 1911, 344f. Ausgegangen war die Erhebung von dem l"EN.URU („Stadtherrn")

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chen zu Lande und zur See besiegt. 149 Nach dem Krieg ließ Sanherib laut assyrischer Inschrift die zerstörte Stadt Illubru150 und - wie Berossos mitteilt - auch Tarsos neu erbauen.151

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in Illubru namens Kirua, dem sich offenbar sehr rasch die ganze Landschaft Hilakku (das ,Rauhe Kilikien') wie auch die Städte Tarsos und Ingirra anschlossen. Vgl. dazu King 1910, 329ff.; Streck 1916, CCCXCI f., CCCXCXI; Forrer 1920, 79; Olmstead 1923, 310f.; Bilabel 1927, 402f.; Erzen 1940, 61; Bing 1971, lOOff.; Wäfler 1975, 180ff.; D.O. Edzard, in: RIA 5, 1976-80, 607 s.v. Kirua. - Zur Landschaft Hilakku am ausführlichsten Erzen 1940,46,56f. und Hawkins 1975a, 403f.; vgl. auch Helm 1980, 192; Braun 1982, 17ff.; Jasink 1989, 123f. S. Anm. 144. Hatten die Assyriologen King (1910, 328ff.), F.H. Weißbach (in: RE IA2, 1920, 2466 s.v. Sardanapal), Olmstead 1923,31 lf. und S. Smith (in: CAH III, 1954,71) an der Richtigkeit von Berossos' Nachricht über die Teilnahme von Griechen am Aufstand von Tarsos und Ingirra/Anchiale nicht gezweifelt, so vertraten H. Winckler (in: OLZ 13, 1910, 145ff.), A. Momigliano (in: Atheneum N.S. 12, 1934, 412ff.), Bengtson 1937, 150f. (anders jedoch 1969, 77) und Erzen 1940, 65f. die Ansicht, daß die von Berossos mitgeteilte Seeschlacht zwischen Griechen und Assyrern jene unter Sargon II. ausgefochtene meine und deshalb von Berossos unter Sanherib datiert wurde, weil er sie irrtümlicherweise mit dem einheimischen Aufstand in Kilikien vom Jahre 696 und der damals erfolgten Landschlacht kontaminiert habe. Bilabel hielt die Landschlacht zwischen Griechen und Assyrern für historisch und betrachtete allerdings ohne nähere Begründung - die Seeschlacht als von Abydenos fälschlicherweise an deren Stelle gesetzt (1927,402). Howink ten Cate 1967, 129 läßt die Frage, welche dieser genannten Schlachten historisch sei, offen. W. Röllig (in: RIA 3,1957-71,645) betrachtet die bei Berossos mitgeteilten Kämpfe zwischen Griechen und Sanheribs Truppen für historisch und führt das Schweigen darüber in Sanheribs Annalen auf einen Mißerfolg der Assyrer im Kampf gegen die damaligen .jonischen Seeräuber" zurück. Weshalb sprechen dann die griechischen Quellen von einem assyrischen Sieg, und weshalb nahm dann die griechische Präsenz in Tarsos nicht zu, sondern fand sogar gegen 600 v. Chr. ihr Ende? Unter Hinweis auf die bereits verifizierbaren Details in Berossos' Geschichtswerk sprachen sich Busolt 1893, 325f., Beloch 1912,262 Anm. 4, Streck 1916, CCCXCI ff., Hirschberg 1932,15ff., C.F. Lehmann-Haupt (Klio 26,1932/33,174f.), Jones 1937,194, Dunbabin 1957,31 f., Bing 1971, lOlf. und Jasink 1989,124ff. für die Korrektheit der genannten Überlieferung bei Berossos aus. Gestützt wird dieses Argument nun weiters durch die archäologisch greifbare Präsenz von Griechen im kilikischen Küstengebiet zu dieser Zeit. Daß die Griechen damals im Kampf gegen die Assyrer unter Sanherib so wenig wie unter Sargon auf den Einsatz ihrer Schiffe verzichtet haben werden, liegt wohl nahe. Doch entscheidend für die Niederwerfung des Aufstandes war der Kampf zu Lande, der in den assyrischen Annalen auch vergleichsweise ausführlich geschildert wird. Kämpfe zur See spielten dabei nur eine nebensächliche Rolle. Dennoch, ein bis zwei Jahre später (695/ 694) spricht Sanherib selbst davon, daß er unter anderem auch „ ionische Seeleute, Gefangene von meiner Hand" als Matrosen im Krieg gegen den babylonischen Herrscher eingesetzt habe (Stierinschrift in Ninive, ZI. 59f.; LAS 73; LAR II § 319; Oded 1970,57). Man wird wohl kaum fehlgehen, wenn man annimmt, diese griechischen Seeleute seien jene, die unmittelbar vorher in den von Berossos genannten Kämpfen zur See in assyrische Gefangenschaft geraten waren, und nicht solche, die schon unter Sargon II. in diesen Kämpfen gegen griechische Piraten gefangen genommen worden waren, zumal Sanherib sie ja ausdrücklich als seine eigenen Gefangenen bezeichnet (s. auch Anm. 161). B.M. Prisma Nr. 103.000, Col IV 87 (LAS 62; LAR II § 289), s. dazu B. Oded (wie Anm. 146) 65. Illubru wird von Forrer 1920,79; Naster 1938,71 und Wäfler 1981, mit Namrun identifiziert, von K. Kretschmer (Glotta 21, 1933, 235) und B. Landsberger, Sam'al, Ankara 1948, 17 Anm. 35 mit Olymbros bei Adana gleichgesetzt (s. dazu E. Wüst, in: RE XVII2, 1937,2510 s.v. Olymbros). Erzen 1940,61 Anm. 84 denkt an die Bergfestung Kyinda; vgl. auch K. Kessler, RIA 5,1976-80,60 s.v. Illubru. Berossos bei Alexander Polyhistor (FGH Nr. 680 F 7c (31): „Und die Stadt Tarson (so berichteter (Sanherib)) erbaute derselbe nach dem ebenbild Babelons, und legte der Stadt den namen Tharsin bei", und

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bei Abydenos (FGH Nr. 685 F 5): „ Und er baute auch den tempel der Athene (verschrieben zu .Athener"), errichtete eherne säulen, und inschriftlich fürwahr (sagte er,) liess er seine grosstaten einhauen. Auch Tarsen erbaute er nach plan und muster Babilons, sodass ebenso durch Tarsen der fluss Kydnos hindurchflösse wie derAratzani durch Babylon." (Übers, von F. Jacoby). - Nun tritt uns in den neuassyrischen Texten zum erstenmal bei Asarhaddon die Namensform KUR s3 K3rr ms η nb(.t)pr [ ]qjtr jr η nb(.t) pr Nj.t-m-h3.t-t3-W3h-jb-Rc.- Karischer Text: Pgk'j'eqtj'reshe. Kammerzell 1993, 182 zerreißt in seiner Lesung die ägyptische Weihinschrift, um in ZI. 11 hinter [ ]qjtr den karischen Text dazwischen einzuschieben, was eine willkürliche Maßnahme ist, weil auf allen anderen Denkmälern die ägyptischen und karischen Inschriften jeweils getrennt und hintereinander geschrieben wurden. Auch seine Ergänzung der Lücke im Hieroglyphentext zu [Pkjqjtr geht von der stillschweigenden Voraussetzung aus, der karische Text Pgk'ju'eqtj'reshe gäbe nur einen einzigen Namen wieder und dieser sei der der Mutter. Dagegen spricht ebenfalls das Vergleichsmaterial. Hier ist mit gutem Grund (Masson/Yoyotte a.a.O. und Ray a.a.O) eine Filiationsangabe anzunehmen: Pgk'jue Qtj're-i-he, „Pek'jue, geboren von (od. Sohn der) Qtj're". „ Da Neith-em-bet-ta-Wab-ib-Re für Pa-di-Neith um „Leben, alle Gesundheit, eine lange Lebenszeit und ein außerordentlich schönes Alter" bittet, nehmen Masson/Yoyotte und ihnen folgend Ray an, daß Pa-di-Neith eben erstgeboren oder noch ein Kind und die Stifterin daher seine Großmutter väter- oder mütterlicherseits gewesen sei. Doch derartige Wünsche können natürlich auch für einen Erwachsenen ausgesprochen worden sein. So könnte m.E. die „Hausfrau Neith-em-het-taWah-ib-Re" durchaus auch die Gattin (eventuell auch die Schwester oder eine Tochter) des Pa-di-Neith gewesen sein. Der Name des Vaters K3rr ist ägyptisch. Wäre dieser Mann karischer Abstammung gewesen, hätte man ihn P3-K3rr genannt und geschrieben. S. oben Anm. 234. Buhen Nr. 50: Masson 1978, Nr. 50; Ray 1982, 189; Abu Simbel Nr. 3: Masson 1979, Nr. 3; Ray 1982, 195; Kammerzell 1993, 39, 156.

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also auch die Karer Urom, Sark'ü und S'uchlde im Dienst Psammetichs I. gestanden und ihre Söhne bzw. Enkel nach diesem Pharao benannt, dem sie den Treueeid geschworen hatten. Diese Söhne und Enkel standen dann ihrerseits in ägyptischen Diensten und leisteten wie im Fall des Wah-ib- Re-neb-qenet II. schon in der fünften Generation dieser Familie Kriegsdienst im ägyptischen Heer. Damit ist klar geworden, daß diejenigen unter den Griechen und Karern, die im Dienste des Pharaos Karriere gemacht hatten, jeweils über Generationen aus denselben Familien, und zwar solchen der jeweiligen Oberschicht, stammten. Fassen wir nun zusammen: Trotz der spärlichen Quellen wird deutlich, daß die von Psammetich I. seit 661/660 als Söldner angeworbenen Griechen und Karer, genauso wie Phönizier und Juden, in traditioneller Weise durch den Loyalitätseid dem Pharao verpflichtet waren und für ihre Dienste mit Grund und Boden entlohnt worden sind. Ihre Stationierung in Militärlagern kam dabei der griechischen Kolonisationsbewegung sehr entgegen. Die Einheiten der verschiedenen Nationen standen jeweils unter eigenen Kommandanten. Diese waren des Schreibens und Lesens mächtig und zweifelsohne von Haus aus Angehörige der heimatlichen Elite. Sie konnten nun - persönlich dem Pharao verpflichtet und auf ägyptischem Boden als Militärkolonisten seßhaft geworden - Karriere machen, wie dies ζ. B. einem Pedon und Theokies unter den Griechen oder einem Urom, Sark'ü, Esor und S'uchlde unter den Karern dank ihrer militärischen Tüchtigkeit und ihrer Fähigkeiten, sich der ägyptischen Zivilisation anzupassen, gelungen war. Die persönliche Bindung an den ägyptischen Hof spiegelt sich im Fall des Theokies, Urom, Sark'ü und S'uchlde auch in der Benennung ihrer Söhne bzw. Enkel nach dem Pharao wider. Diese Nachkommen traten dann ihrerseits in den Dienst des ägyptischen Königs, ein Prozeß, den wir bei karischen Familien bis in die fünfte Generation, bei griechischen derzeit bis zur dritten verfolgen können. Dabei scheinen schon unter Psammetich I. Mischehen zwischen Ägypterinnen und ausländischen Söldnern geschlossen worden zu sein. Zusätzlich zu den angeworbenen und in den Militärkolonien angesiedelten Söldnern nahm der Pharao auch ionische und karische Waffenschmiede auf, die als Spezialisten für die Eisenverarbeitung in Ägypten konkurrenzlos waren, und stationierten auch diese in den Festungen. Darüberhinaus fanden die griechischen Kaufleute, die nun ihre in Ägypten seßhaften Stammesgenossen bzw. ihre Sippen- oder Familienmitglieder mit heimatlichem Wein, Öl und Tafelgeschirr, aber auch mit Hetären versorgten, nicht nur Eingang in Ägypten, sondern sie ließen sich mit königlicher Erlaubnis ihrerseits innerhalb der Festungen und um diese herum nieder. Zu den bedeutendsten dieser Militär- und Handelskolonien zählten sicherlich die innerhalb von Sa'is und Memphis sowie die von Naukratis, Daphnai und Migdol. Die Gesamtzahl der griechischen und karischen Söldner soll laut Herodot (II 163) unter dem Pharao Apries (589-570) 30 000 Mann betragen haben. Diese Anzahl gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn man sich bewußt macht, daß allein in der Festung und Sied-

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lung von Daphnai damals bis zu 20 000 Ausländer, nämlich Griechen, Karer, Phönizier und Juden lebten. 265 Abschließend sei noch in aller Kürze auf die Folgen dieser Entwicklung hingewiesen. Einzelne griechische Familien bzw. Sippen, allen voran solche in Milet, auf Samos, Chios, Lesbos und im rhodischen Jalysos, mußten zu beträchtlichem Reichtum und Ansehen gekommen sein. Ihre aus ägyptischen Diensten heimgekehrten Mitglieder vermochten es, dank ihres materiellen Wohlstandes und ihres Prestiges - man erinnere sich des greisen Helden Aigyptios auf Ithaka (Od. II 15) - nicht nur zu politisch einflußreichen Persönlichkeiten aufzusteigen, sondern sie griffen auch gestaltend in die geistige Kultur ihrer Heimat ein. Auf diese Weise fanden z.B. ihre über Ägypten erworbenen Kenntnisse auch Eingang in Erzählungen und Dichtungen verschiedenster Art, so ζ. B. in die Odyssee 266 und in das mythische wie sagenhafte Überlieferungsgut ihres mutterländischen Kulturkreises. 267 Die Kenntnis der ägyptischen Kunst, und gelegentlich wohl auch von dieser persönlich fasziniert, ließ einzelne der aus Ägypten in ihre Heimat Zurückgekehrten wenn nicht überhaupt ägyptische Originale, dann Kopien derselben im weiteren Sinn in ihrer Heimatstadt oder in einem überregionalen Heiligtum aufstellen. Hier sei nur an die oben behandelte Statuette des Pedon, an die bekannten zahlreichen ägyptischen Originale aus dem Heraion von Samos 268 , an die Basaltstatuette eines Sitzenden aus Kamiros auf Rhodos 269 und an die ägyptische Vorbilder imitierenden, monumentalen Löwenplastiken erinnert, welche die Söhne eines Python um 570/560 ebenfalls nach ägyptischem Vorbild an der Prozessionsstraße zum Apollon-Heiligtum in Didyma hatten aufstellen lassen. 270 Das zuletzt genannte Beispiel macht deutlich, daß damals griechische Bildhauer ihrerseits schon eine eigene Kenntnis von der ägyptischen Kunst besaßen. Doch mit diesem Phänomen müssen wir sicher bis in die Zeit um 620 zurückgehen, denn griechische Künstler imitierten für die Schaffung der Kuroi nicht allein das ägyptische Vorbild monumentaler Steinplastiken, sondern sie kopierten dafür den sai'tischen Proportionskanon sogar bis ins Detail hinein. 271 265

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Petrie 1888, 49, zur Besatzung S. 47ff., 64. Vgl. auch Austin 1970, 15, 20. Zur frühen Anwesenheit und Akkulturation von Karern in Memphis s. jetzt ausführlich Kammerzell 1993,173,177ff., 182ff., 190ff. Od. 3, 287-300; 4, 81-90. 125-132. 227-232. 351-586; 14, 199-359. Dazu ausführlich mit eingehender Diskussion der Auffassungen in der älteren Literatur Haider 1988a, 211 ff. So z.B. im Io-Mythos bzw. in der Dana'idensage. Eine kritische mit den verschiedenen Meinungen zu Herkunft und Datierung dieses Erzählstoffes bietende Darstellung bei Haider 1988a, 220ff. Zusammenfassend Helck 1979, 205f.; Boardman 1981, 133; Haider 1988a, 208f. - Unter den speziellen Arbeiten seien hier nur Freyer-Schauenburg 1966, 111 ff.; Jantzen 1972, 5ff.; Furtwängler 1981, 73ff., bes. 107ff. und Bianchi 1990, 61ff. genannt. Boardman 1981, 168, Abb. 167. Vgl. Gabelmann 1965,85ff„ 119 Nr. 113a-b; Tuchelt 1970,93ff. (K 66 u. 67), 197,212f„ Taf. 63-68, mit weiterführenden Literaturangaben. - Zum historischen Hintergrund dieser Weihungen s. Haider 1987, 8 ff. Iversen 1957, 134ff.; ders. 1968,215ff.; weiters Helck 1979, 182ff„ 228; Boardman 1981,170f.; Hurwit 1988, 191; er stellt auch a.a.O. 181 ff. den ägyptischen Einfluß auf die griechische Architektur und auf die

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Daß zu dieser Thematik noch viel Forschungsarbeit zu leisten nötig ist, um das volle Ausmaß der ägyptischen Einflüsse auf die verschiedenen Bereiche der griechischen Kultur, aber auch auf die wirtschaftliche wie soziale Situation im archaischen Griechenland erfassen zu können, sei abschließend noch an einem schon lange bekannten Objekt archaisch-griechischer Kunst deutlich gemacht. Wohl um 620/610 hatte ein gewisser Euthykartides aus Naxos einen Kuros selbst geschaffen und im Heiligtum des Apollon auf Delos aufgestellt. Die dreieckige Basis für die Plastik zeigt - in sehr plumper und unbeholfener Weise ausgeführt - an ihrer Vorderseite die „Büste" eines liegenden Widders in frontaler Ansicht. An der Rückseite ragen zwei Köpfe aus dem Basiskörper vor. 272 Diese Köpfe waren vom Ausgräber als Menschenköpfe erkannt, aber später, weil sich dieses Bildkonzept überhaupt nicht in die sonst bekannte griechische Ikonographie einfügt, in der Fachliteratur zu Gorgonen- bzw. zu Löwenköpfen erklärt worden. 273 Bei unvoreingenommener Betrachtung bietet sich also das Bild, daß der Kuros mit je einem Fuß auf dem Rücken eines Menschen steht. Dieses für die griechische Kunst ohne Zweifel ganz fremde Motiv gehört aber in der ägyptischen Kunst zu den ausschließlich dem Pharao vorbehaltenen Darstellungsformen: Als siegreicher Herrscher geht er über die Leiber unterworfener Gegner hinweg oder er steht mit je einem Fuß auf dem Rücken derselben. 274 So hatte sich Euthykartides offensichtlich dieses ägyptischen Motivs bedient, das er wohl aus eigener Anschauung kannte und sich nur in seiner Heimat außerhalb Ägyptens hatte anmaßen können. Zusammenfassung Seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts boten phönizische Händler, die aus der Ägäis in die Levante zurückkehrten, in ihren Heimathäfen wie z.B. in Tyros euböisches Tafelgeschirr an. Als Luxusartikel fand es nach und nach Eingang in die Haushalte der Oberschicht, ab ca. 850 auch in die etlicher Städte an der syrischen Küste, in der AmuqEbene und in Hamath sowie in Kilikien. In Palästina konnte man dieses Geschirr erst seit ca. 800 auf dem Markt erwerben, doch es blieb hier bis ins späte 7. Jahrhundert eine Rarität. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts stießen dann euböische und ostgriechische Kaufleute selbst in die Levante vor. Der Import griechischen Tafelgeschirrs und sein Variantenreichtum nahm nun in der nördlichen Levante zu. Gleichzeitig setzten sich mit königli-

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Gestaltung der Koren (a.a.O. 186ff.) heraus. In noch umfassenderer Weise beleuchtet diesen Einfluß Helck 1979, 208, 211 f. Der Hinweis auf die Kuroi findet sich auch bei Matthäus 1993, 179f. Homolle 1888, 463ff„ pi. XIII: aus dem Apollon-Temenos (A 728): „Euthykartides stiftete mich, der Naxier; er hat (mich auch) gemacht". Vgl. dazu Bruneau/Ducat 1965, 40; Homann-Wedeking 1950, 54; Hurwit 1988, 142 Abb. 60. Homolle 1888,464; Bruneau/Ducat 1965,40; Homann-Wedeking 1950, 54. Zahlreich sind diese Darstellungen auf Fußschemeln, Thron- und Statuenbasen, in der Fußbodenmalerei, auf Siegesreliefs wie auf Sandalensohlen etc. zu finden, sie reichen von der 3. Dyn. bis in die Spätzeit.

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eher Erlaubnis erste ostgriechische Händler an einzelnen syrischen Küstenorten wie in Al-Mina und in Bassit sowie in Kilikien, nämlich in Ingirra/Mersin und in Tarsos fest. Daß diese griechischen Gemeinden z.T. sehr rasch einen erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einfluß gewannen, belegt für Tarsos um 700 die literarische Überlieferung und für Shuksu/Sukas ab 670 der archäologische Befund. Nicht nur als geschäftstüchtige Kaufleute, sondern auch als lästige Piraten kreuzten Ostgriechen im späten 8. Jahrhundert vermehrt in der Levante auf. Von den Orientalen wurden sie pauschal „ Iamana " oder „ Iawan ", „Ionier", genannt, auch wenn es sich um Dorer handelte. Gegen diese Seeräuber vermochte Sargon II. im Jahr 714/713 mit phönizischer Hilfe einen nachhaltigen Schlag zu führen. Doch ein aus Zypern stammender griechischer Söldnerführer war unterdessen in Ashdod an die Macht gelangt und hatte ab 713 ganz Palästina zu einem bedrohlichen Aufstand gegen die Assyrer aufgestachelt. Erst zwei Jahre später gelang es Sargon, diese Revolte niederzuschlagen. Auch am kilikischen Aufstand, den Sanherib 696 niederrang, waren Griechen beteiligt gewesen. Als assyrische Kriegsgefangene fanden sie sich gleich darauf zum Arbeitseinsatz in Ninive wieder. Diese Erfahrungen hinderten den assyrischen König aber nicht, Griechen als Kaufleute, Handwerker und als Söldner in größerer Anzahl in kilikischen und syrischen Städten wie in Ingirra, Tarsos, Al-Mina, Bassit und in Shuksu siedeln zu lassen. Von welch großer Bedeutung diese neuen landesfremden Siedler in den betreffenden Städten waren, zeigt der Umstand, daß manche dieser Orte einen griechischen bzw. einen gräzisierten Namen erhielten, so z.B. Ingirra-Anchiale, Tarzu-Tarsos, das jetzt im Assyrischen Tarsisi genannt wurde, weiters Posideion und Shuksu-Sukas. Ein Enoikismos ist zwar derzeit nur für Sukas indirekt belegbar, aber doch auch für alle anderen hier genannten Siedlungen sehr wahrscheinlich. Als Söldnertruppe unter einem gewissen Pythagoras (o.ä.) dienten Griechen z.B. 681 im Heer Asarhaddons. Karische Söldner marschierten 664 unter ihrem Kommandanten Pigres im assyrischen Heer in Ägypten ein und auch griechische Söldner werden damals nicht gefehlt haben. Denn schon drei bis vier Jahre später bediente sich Psammetich I. als Befreier Ägyptens vom assyrischen Joch ionischer und karischer Söldner in beträchtlichem Ausmaß, weil er deren Kampfesstärke vorher im Heer Assurbanipals kennengelernt hatte. Mit dieser Öffnung Ägyptens gewannen zuerst vornehmlich Angehörige der heimatlichen Elite aus Milet und aus Karien als Söldnerkommandanten führende Positionen. Manche von ihnen gingen schon früh eheliche Verbindungen mit Ägypterinnen ein, so daß deren Kinder wiederum in den Dienst der Pharaonen treten konnten. Dieser Prozeß kann zur Zeit durch drei Generationen verfolgt werden. Zweifelsohne hatten sich diese Griechen der ägyptischen Zivilisation angepaßt. Unter eigenen dem Pharao verpflichteten Anführern waren die Söldner in Garnisonen und Festungen wie in Sa'is, Naukratis, Daphnai, Migdol, Memphis etc. angesiedelt und wurden durch griechische Händler, hauptsächlich solche aus Milet, Samos, Chios und Lesbos, mit heimatlichem Tafelgeschirr, Wein, Olivenöl und Hetären versorgt. Eigene

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Waffenschmiede reparierten und ersetzten die beschädigten eisernen Rüstungsteile und Waffen. Das gleiche Phänomen, daß nämlich Herrscher ostgriechische Söldner neben karischen und lydischen anheuerten, sie in Festungen stationierten und für ihre Versorgung mit heimatlichen Produkten sorgten sowie eigene Waffenschmiede finanzierten, ist im späten 7. und im frühen 6. Jahrhundert schriftlich wie archäologisch auch für den Stadtstaat Tyros mit seiner Festung Kabri und im judäischen Königreich in bezug auf die Anlagen von Ziklag und Arad belegt. Im Neubabylonischen Reich setzte Nebukadnezar II. Ostgriechen nicht nur als Söldner ein, sondern bediente sich ihrer kunsthandwerklichen Fähigkeiten sogar in den Hofwerkstätten von Babylon. Während wir für Ägypten das Gesamtausmaß der dort über Generationen im Lande lebenden Ostgriechen, ihre Organisation und ihre Verwendung als Söldner, Handwerker und Händler recht deutlich erfassen können, bleibt zur gleichen Zeit für den syrischen wie palästinischen Raum und für die Präsenz der Griechen in Mesopotamien das derzeit zu gewinnende Bild noch recht lückenhaft. Hier bedarf es zweifellos weiterer einschlägiger Forschungsarbeit, und zwar auf archäologischer Seite ebenso wie in bezug auf die Edition keilschriftlicher Texte.

Die Welt in Raum und Zeit im literarischen Reflex der episch-früharchaischen Ära. REINHOLD BICHLER - WIDO SIEBERER

Vorbemerkung (RB) Vertraute Periodisierungen der Geschichte haben trotz aller Schwäche, die ihre spezifische Begründung birgt, etwas Bequemes. Sie dienen der Sicherheit unserer Kommunikation. Auch die ,Archaik' in der Griechischen Geschichte ist uns längst liebgeworden. Ihr Verhältnis zur .Klassik' ist, trotz aller Spannung, die eine nähere Kontrastierung mit sich bringt, recht gefestigt. Mit ihren Anfängen verhält es sich indes anders. Nicht nur, weil alle Frage nach den Anfängen in der Geschichte ihre Probleme aufwirft. 1 Die Anfänge einer Epoche des ,uranfänglich Alten' haben ihre eigene Problematik. Dazu kommt, daß die archäologisch-prähistorische Sicht auf die Griechische Geschichte längst die Zeiträume der Betrachtung erheblich über die traditionelle ,Archaik' hinaus erweitert hat. Was unter sehr spezifischen historischen Bedingungen als ,Archaik' konzipiert worden war,2 gehört längst in ein Kontinuum der nachbronzezeitlichen Griechischen Geschichte, deren eigene Anfänge mit dem Beginn von,Dark Ages' synchronisiert wurden, die inzwischen wiederum einiges von ihrem Dunkel verloren haben. Die Chancen, durch eine konzentrierte Erforschung der nach-palatialen Entwicklungen in Griechenland die Dark Ages aufzuhellen, sind beachtlich.3 Auch kann die historische Evaluierung der Spuren, die aus den später bezeugten Zuständen in die Dark Ages zurückführen, durch methodisch behutsame komparative Verfahren gleichermaßen zu neuen Einsichten führen, die dieser Zeit einiges vom Signum der Dunkelheit nehmen. 4 Jedenfalls bilden die Linien, die von den bronzezeitlichen Hochkulturen der Ägäis durch mancherlei Brüche in die Traditionen des ,alphabetischen' Griechentums führen, eine ganz wesentliche Komponente im Sujet der Griechischen Geschichte der ,historisch hellen' 1 2 3 4

Timpe 1993. Dazu Most 1989a. Vgl. Deger-Jalkotzy 1991. Vgl. Funke 1993, bes. 35ff.

Die Welt in Raum und Zeit im literarischen

Reflex

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Zeit. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität im Verhältnis zur bronzezeitlichen Tradition lenkt andererseits den Blick auch auf das wesentlich Neue, das sich in diesen gar nicht so ,dunklen' Jahrhunderten zu formieren begann und sich durch die Intensivierung der transmarinen Kontakte der Griechen ganz erheblich steigern sollte. Mit der Akzentuierung einer eigenen Größe der ,früharchaischen' Zeit könnte dieser formative Aspekt der Griechischen Geschichte in einer zeitlichen Zwischenlage zwischen den konventionell gefestigten ,Dark Ages' und der vertrauten ,hoch- und spätarchaischen' Zeit besser zum Ausdruck kommen. Wenn die Anzeichen nicht trügen, ist das unter Homers Namen tradierte Großepos gerade für diesen Übergangsbereich ein elementares, ja in weit mehr als bloß literarischer Hinsicht das elementare Zeugnis schlechthin. Es steht folglich auch im Mittelpunkt der anschließenden Studie. Sie geht vor allem der Frage nach, wie die epischen Dichter sich und ihrem Publikum die Welt in ihrer räumlichen Dimension und die Stellung der Menschen im Gefüge der Zeit vorstellten. Wir sprechen diesbezüglich gerne von einer,mythischen' Zeitvorstellung und einem ,ethnozentrischen' Weltbild. Beim genaueren Hinsehen zeigen sich die Verhältnisse indes durchaus differenziert gestaltet.5 Das ermutigt zu einer etwas weiter ausholenden Betrachtung.

I. Zum historischen Bewußtsein im Epos (RB) Den Beginn soll die Frage nach dem Horizont der Zeit im epischen Bewußtsein machen. Traditionell gehört dabei der erste Blick der Ilias. Ihre Spielhandlung ist schon bewußt in einer vormaligen Zeit angesiedelt, aus der die Protagonisten in ihrem vorbildlichen wie unvorbildlichen Handeln und Scheitern auf die Gegenwart des Dichters normativ einwirken. Sie sind vom epischen Publikum deutlich getrennt, ohne daß diese Distanz chronologisch zu vermessen wäre. Doch wenn die berühmte Verheißung des Poseidon, daß Aeneas' Geschlecht nicht aussterben werde (XX 303-305), als mutmaßliche Hommage an ein dem Dichter (oder den Dichtern und ersten Bearbeitern) der Ilias gegenwärtiges Herren-Geschlecht gelten darf, so zeigt sich, daß schon in der epischen Dichtung selbst die Möglichkeit angelegt ist, diese Kluft zur Gegenwart nicht nur durch den Respekt für die Vorbildlichkeit der epischen Protagonisten, sondern auch durch den genealogischen Anspruch auf ihre direkte Nachfolge zu überbrücken. 6

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In dem Zusammenhang tut es gut, sich daran zu erinnern, daß unser Begriff des Mythos nicht in unmittelbarer Kontinuität zum griechischen Begriff des mythos geprägt wurde, sondern eine Kontrast-Konzeption zum Begriff der fabula und der Fiktion darstellte, die mit der Vorstellung eines kindhaften Weltbilds verbunden war, demgegenüber Homer bereits Rationalität repräsentierte; vgl. dazu Graf 1993. - Zu Genese und Problematik des Begriffs Ethnozentrismus vgl. Schmal 1995, 19ff.; zur Differenzierung von Ethnozentrismus und Barbaren-Begriff siehe Lund 1990, 3ff. Darüber herrscht freilich kein Konsens: „Was vor Troja geschah und was jetzt geschieht, gehört verschiedenen Epochen an. Zwischen diesen Epochen klafft ein breiter und tiefer, fast unüberbrückbarer Graben. Diese Epochen haben nichts miteinander gemein"; Steinmetz 1969, bes. 54. Betont man diese Distanz so

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Reinhold Bichler/Wido

Sieberer

Mit der fortschreitenden Historisierung der Epen als den wichtigsten Zeugnissen einer heroischen Vergangenheit und mit zunehmendem Empfinden für Differenzierung und Wandel der kulturellen und sozialen Lebens verhältnisse in der von uns so genannten archaischen Zeit mußte freilich das Distanzgefühl wachsen, mußten die Linien, die die nachhomerische Epik und die genealogischen Dichtungen der archaischen Zeit zu ziehen wußten, künstlicher wirken. Herodot dachte sich selbst schließlich 400 Jahre von Homer entfernt und diesen nochmals soweit von der Zeit seiner Geschichten um den Trojanischen Krieg (Hdt. II 53 und 145). Ein spezifisches Kolorit der Heldenzeit hatte die epische Poesie nun dadurch geschaffen, daß sie ihre Personen mit bestimmten Artefakten - vom Streitwagen bis zum Webstuhl - umgab, die einen Kontrast zum vertrauten Alltag darstellten und doch nicht völlig fremd wirkten.7 Dabei mischen sich auf reizvolle Weise reale Vorzeit und damalige Gegenwart, mischen sich Erfahrung und Imagination. Da scheinen zum einen tatsächliche .Antiquitäten' der Ägäischen Bronzezeit ebenso ihren Beitrag zum Kolorit dieser Heldenzeit zu leisten wie .hochaktuelle' Importe aus den orientalischen Kontakten der Kolonisationszeit,8 doch darf andererseits die kreative Phantasie nicht unterschätzt werden. Sie macht sich in den märchenhaft wirkenden Objekten aus Gold, Silber und Elfenbein in den Händen unsterblicher Wesen und herausragender Herrscher der Sterblichen ebenso geltend wie in phantastischen Zahlen der Fülle an Wohnräumen und Vorratsgütern in jenen Stätten, von denen ein palatialer Glanz ausgehen soll.9 Auch dieser vorzeitigen heldischen Welt selbst wußte die Dichtung eine gewisse zeitliche Tiefe zu geben. Unübersehbar künden da Landmarken wie der alte Wendeplatz beim Wagenrennen (XXIII 326ff.) von noch früheren Menschen und Taten, weisen einzelne Artefakte auf eine heroisierte Frühzeit hin. 10 Und schon Nestor hält den Jungen seiner Zeit vor, solche Männer, wie er sie einst noch kennengelernt habe, gäbe es heute nicht mehr (1260-266). Sich zu noblen Ahnen zu bekennen, eine Tradition zu haben, die sichtbar gemacht werden kann, verschafft großes Ansehen. Die dafür bezeichnende Geschichte von Agamemnons Szepter (II 100-109) zeigt freilich auch, wie kurz für

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radikal, muß die Verheißung ans Dardaner-Geschlecht als eine pure Ausnahme erscheinen. Doch was Steinmetz daher als den Anfang eines „folgenschweren" Weges hin zur Überbrückung diese Grabens durch genealogische Linien bewertet (ebd. 56), ist m.E. von Anfang an in der Konzeption der epischen Vorzeitigkeit angelegt. Diese ist ja nicht um ihrer selbst willen geschaffen, sondern um auf die Gegenwart bezogen zu werden. Zu einer entsprechenden Konzeption des „Mythos" als eines „vertrauten Vergangenheitsraumes", der nicht prinzipiell von dem geschieden ist, was uns als Dimension der „Geschichte" gilt, sondern durchaus als Ausdruck einer „intentionalen Geschichte" begriffen werden kann, vgl. Gehrke 1994, bes. 245ff. - Zur analogen Funktion mythisch-historischer Tradition in Rom siehe Ungem-Stemberg 1988. Vgl. dazu bes. Patzek 1992,186ff. Im Falle etwa von Agamemnons Panzerhemd (XI 16ff.) wird eigens die Provenienz aus Zypern betont. Die orientalischen Elemente im Grundtypus des Schildes des Achilleus sind notorisch; vgl. zu beidem etwa Strasburger 1992, 76ff.; dort auch weitere Literatur. Nachweise bei Bichler'l995a, 11, 33ff. Deutlich herausgearbeitet bei Patzek 1992,145ff., bes. 170ff.

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unser Zeitgefühl ein repräsentativer Fall,langer' Tradition innerhalb dieser vorzeitigen Welt der Helden wirkt. Da wirken selbst die wenigen Fälle, in denen breitere Genealogien aufgeboten werden, bescheiden: die sechs Generationen von Ahnen, derer sich Aeneas dem Achill gegenüber rühmen kann, ehe er bei Zeus landet (XX 200-241), 11 oder die fünf Generationen von Ahnen, die Glaukos dem Diomedes aufzählt (VI 150-211). Wo aber keine Zeichen von einst künden, wo nicht die Erinnerung an sie gefestigt wird, da freilich versinken die Geschlechter, die einst lebten, in Vergessenheit. Glaukos' berühmte Worte von den Blättern im Walde, denen die Menschen-Geschlechter gleichen, wenn die einen der Wind verweht und andere im Frühling neu aufsprießen (VI 146-149), geben wohl ein Gefühl wieder, in dem sich Dichter und Publikum eins wissen konnten. Dabei vermag sich der Dichter sogar soweit in die Spielzeit zu versetzen, daß er von ihr aus nicht nur das Vergehen als Zukunft zu künden, sondern auch seinen Vollzug zu schildern imstande ist: Einst wird Ilion gefallen und zerstört sein. 12 Einst werden die Götter die Mauer getilgt haben, die jetzt noch den Achaiern als Schutz fürs Schiffslager dient (vgl. bes. VII 4 5 9 ^ 6 3 im Verhältnis zu XII 10-35). 13 Einst könnte Zeus, so gesteht es ihm Hera zu, im Gegenzug zu Ilions Fall auch eine der ihr lieben Städte verderben: Argos, Sparta oder Mykene (IV 39ff., 50ff.). 14 So gewinnt die epische Schilderung unter einem bestimmten Aspekt auch eine Dimension der Zukunft, die als Teil jener längst zurückliegenden epischen Vergangenheit begriffen und dargestellt werden kann. Nicht nur die vielfältige Art und Weise, in der ein Bewußtsein von der Vorzeitigkeit der epischen Welt gestaltet wird, beeindruckt. 15 Auch das Bewußtsein der Dichter um die prinzipielle Andersartigkeit ihrer durch Inspiration vermittelten Kunde von dieser imaginär vergegenwärtigten heldischen Vorzeit gegenüber dem eigenen Wissen um die Gegenwart ist eindrucksvoll: Die Musen sind Göttinnen, die wissen. Wir, sagt der Dichter, haben kein Wissen vom Ruhm, von dem wir hören. Die Musen müssen ihm daher

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Zu dieser Ahnenreihe und zur Möglichkeit ihrer Interpretation mittels ethnologischer Termini vgl. Ulf 1990,250. „Dieses Ereignis kommt einem absoluten Datum gleich"; Patzek 1992, 181; generell zum Zukunftsaspekt innerhalb der epischen Schilderung: Kullmann 1992. „Thus far what the poet has said about the Achaean wall he has said in his normal role as the observer of the Trojan war, so to speak, as the Muse unfolded it before his eyes; now he reveals his historical perspective, reporting as fact what Zeus had prophesied"; Hainsworth, Commentary III 318. Die Stelle gehört zur Gruppe jener Stellen, die darauf hinweisen, daß der Ruinen-Ort Mykene dazu einlud, Agamemmnon dorthin zu verpflanzen; vgl. zu letzterem Aspekt etwa Kullmann 1993, 141 f. mit Anm. 42; ebd. weitere Literatur. Ließe sich nicht auch die notorisch heikle Ilias-Stelle mit den σήματα ... γράψας έ ν πίνακι πτυκτφ - in der Abbreviatur der Bellerophon-Geschichte (VI 168f.) - als historisierende Vorstellung einer vormaligen Zeit, die noch nicht unbefangen das neue Medium der Schrift zu nutzten wußte, am besten verstehen? Vgl. dazu vor allem Heubeck 1979, 128ff., bes. 137ff. - Zu anderen (gegenläufigen) Interpretationen vgl. Kirk 1985/1993, Bd. 2, 181f.

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Zahl und Namen der Schiffskontingente der Danaer und ihrer Anführer eingeben (II 484ff). 16 Noch reichhaltiger werden die Zeichen für ein komplexes historisches Bewußtsein der epischen Dichtung, wenn die Odyssee mit ihren vielschichtig gestaffelten RealitätsEbenen ins Blickfeld rückt. Einen markanten Fall stellen die ,Lügenerzählungen' des Odysseus dar, die sich gerade durch ein für unser Streben nach historischem Hintergrund' 17 besonders authentisch wirkendes Kolorit auszeichnen. 18 Eine unmittelbare Bezugnahme auf die gegenwärtige Kolonisationszeit19 läßt Odysseus in diesen Erzählungen ja stärker aus dem heroisch-phantastischen Raum heraustreten und wie einen gegenwärtigen Abenteurer erscheinen. Gerade das ist mit ein Zeichen der Vielfältigkeit, mit der sich die epische Dichtung vor dem Horizont der Zeit erstreckt, nicht anders als das kunstvolle Spiel mit doppelter Linienführung, wechselnder Erzählperspektive, Rückblenden und Vorverweisen, das die Odyssee auszeichnet. Vor allem ist durch die bewußte Bezugnahme auf die bereits vorausgesetzte Troja-Epik nun der Weg eröffnet, die heroische Zeit selbst klarer zu schichten, die Welt der Nosten von der des Kampfes um Troja abzuheben. 20 In der Konsequenz dieses doppelten Wissens um ein Älter und Jünger im dichterischen Prozeß wie in seinem heroischen Sujet, 21 wäre es kein Wunder, wenn aus diesem komplexen Kunstwerk auch der Stolz auf die Kraft zu seiner Gestaltung spräche, auch wenn es die Regeln des Genres nicht zuließen, daß sich der Verfasser seiner Leistung selbst rühmte. Die kunstvoll variierten Sänger-Szenen der Odyssee zeugen - neben der Schildszene in der Ilias - doch recht beredt von der Selbsteinschätzung der Dichter.22 Sie führen exemplarisch Wertschätzung und Bedrohung des Sängers als eines Wahrers von Normen vor: von Ägisths Gewalttat am Sänger des Atriden-Hauses über Phemios' Bedrängnis zur geachteten Position des Demodokos. Es wird auch - durch Telemachos' Mund - die große Aktualität des Singens betont, das hohe Moment des Innovativen und Neuen (1,351 f.).

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Damit soll noch nicht eine Konzeption von Fiktionalität unterstellt werden: „Der auf die Taten der Vergangenheit gerichteten, der Tendenz nach also geschichtlichen Perspektive heroischer Epik verbindet sich kein entsprechend abgegrenzter und zugleich reduzierter Wahrheitsanspruch, jedenfalls nicht explizit: Die Musen sind Göttinnen, sie wissen alles, insofern ist auch der Wahrheitsrahmen dichterischer Rede prinzipiell allumfassend"; Rosier 1980, bes. 291ff. (Zitat 295). 17 Vgl. zu diesem Begriff etwa einerseits Hampl 1975, bes. 73ff., andererseits Cobet 1983, bes. 5Iff. mit Anm. 83. 18 Vgl. zum Typus dieser,.Lügenerzählungen" Hölscher 2 1989,21 Off. mit der prägnanten Formulierung über das Realitäts-Verhältnis von Abenteuer-Erzählung und „Lügenerzählung" des Odysseus: „...das Erlogene hat den Schein des Wirklichen, während das Wahre das Phantastische ist"; ebd. 213. Vgl. dazu Haider 1988,21 Iff. Μ Vgl. dazu Kullmann 1991, bes. 444ff. 21 „Der Odyssedichter scheint bereits selbst ein Bewußtsein für die literarische Beziehung seines Epos zur Ilias und zur bestehenden Troja-Epik gehabt zu haben", formuliert dementsprechend Kullmann 1991,445. 22 Vgl. Marg 1957, bes. 11 ff. (Sängerszenen allgemein) und 27ff. (Schildbeschreibung).

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Zur innovativen Kunst, aus deren Selbstverständnis ein Bewußtsein für Aktualität und das Wissen um ältere Tradition spricht, gehören nicht nur neue Themen. Das Großepos selbst stellt in Form und Gestalt eine kolossale Neuheit dar. Wenn schon die Apologoi des Odysseus in einer phantastischen Nacht an Umfang alles in den Schatten stellen, was die Lieder des Demodokos umfaßten, klingt da nicht das Selbstbewußtsein jener Dichter an, die alle Maße des Singens zu einem Festtag (einer Festnacht) sprengten und eine Großform schufen, die - wie viele urteilen - ohne Schriftlichkeit kaum mehr tradiert werden konnte? Wäre dann in die Schilderung der Sänger im Epos selbst nicht auch ein Stück dessen eingegangen, was seine historisierende Kunst ausmacht - die überschaubare Form des Singens, die in einer monumentalen Rezitations-Literatur wie im Hegelschen Sinne .aufgehoben' erscheint? Genug der Spekulation! Doch die Intensität der poetischen Imagination, die das Epos auszeichnet, gilt es auch in Rechnung zu stellen, wenn man nach der Aussagekraft frägt, die dem Epos für die Entwicklung einer ,Weltanschauung' im geographisch-ethnographischen Sinne zukommt. Denn mit ihrer Gestaltungskraft schuf die epische Kunst eine eigene Welt, die in einer ganzen Fülle von Schattierungen Lebensverhältnisse unterschiedlicher Realität zeigt und dafür vielfältige Präsentationsformen nutzt. 23 Sie reichen von der paradigmatischen Welt im kleinen, die auf dem Schild des Achill in Relief tritt, bis zu den phantastischen Schauplätzen der Apologoi des Odysseus, umfassen die Lügenerzählungen des Odysseus mit ihrem durchaus realistischen Kolorit der frühen Kolonisationszeit ebenso wie die idealistisch überhöhten Schilderungen eines fürstlichen Troja, Pylos oder Sparta. Das Maß, das tatsächliche geographische Kenntnisse in der Gestaltung dieses vielfältigen poetischen Raums spielen, dürfte gar nicht allzuhoch zu veranschlagen sein, läßt sich andererseits aber auch nur schwer erfassen, da wir mit vielschichtigen Überlagerungen von Gestaltungsprinzipien rechnen müssen.

II. Zum geographisch-ethnographischen Weltbild der Ilias (WS) Das grundsätzliche Modell der Welt scheint noch recht schlicht gedacht und dürfte wohl unter dem Einfluß orientalischer Literatur 24 - dreiteilig gebaut sein: In seinem Zentrum befindet sich die kreisrunde Erde, deren festes Land und Meere vom Okeanos begrenzt werden. Dieser stellt sich als „in sich zurückfließender" Weltenstrom mit sei-

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Die Konsequenz für politisch-sozialgeschichtliche Interpretationen des Epos mahnt Fritz Gschnitzer ein: „Das homerische Epos ist Heldendichtung und als solche weit davon entfernt, die Welt, in der es seine Geschichte spielen läßt, d. h. die Umwelt der Dichter, auch nur einigermaßen getreu abzubilden"; Gschnitzer 1991, 193; doch sieht er sich - verständlicherweise - genötigt, für seine eigene Interpretation, „voraus (zu)..bekennen, wo ich in der .Homerischen Frage' stehe"; ebd. 182. Burkert 1984,86f., hebt vor allem die Verlosung der drei Wirkungsbereiche Himmel - Erde - Tiefe an drei Haupt-Götter hervor, wie sie das Atrahasis-Epos bietet. Auf weitere, sehr konkrete Parallelen zwischen dem epischen und dem altorientalischen Weltbild verweist Ulf 1990,255f.

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nerseits unabsehbaren Grenzen dar, der sämtliche irdische Gewässer inklusive der Meere speist und deswegen als deren „Vater" gilt. Die Erde wird oben von einem soliden, nämlich metallenen, nicht gewölbten, sondern flachen Himmel begrenzt 25 , der auf ehernen, von den Schultern des Atlas getragenen Säulen ruht 26 . Den dritten Teil dieses mythischspekulativen Weltbildes nehmen schließlich Hades und der den (gefallenen) Göttern vorbehaltene Tartaros ein. Beide werden als Domäne der Toten im Erdinneren angesiedelt.27 Wenn letzterer dabei ebenso weit unter der Erde liegen soll wie der Himmel über ihr, zeigt sich die vertikale Schichtung dieses Weltbildes besonders deutlich. 28 Der Anteil der Kenntnis tatsächlicher geographischer Verhältnisse innerhalb dieses Weltbildes ist vergleichsweise sehr gering und läßt sich zudem nur schwer eruieren. Letzteres gilt insbesonders für die Ilias, deren geographische Angaben sich zumeist in der Nennung einzelner Örtlichkeiten, Landschaften oder Völker ohne nähere Bestimmungen ihrer Lage erschöpfen. Schiffs- und Troerkatalog, mit denen die Griechen und die befeindeten Trojaner gleich zu Beginn des Epos umfassend präsentiert werden, 29 sind die besten Beispiele für eine listenartige Aufzählung von Städten und Siedlungsgebieten, die letztlich nur sehr wenig an konkreten geographischen Informationen beinhaltet. Dazu kommt, daß in beiden Katalogen die geographischen bzw. politischen Verhältnisse der weiter zurückliegend empfundenen Zeit der Handlung des Epos postuliert werden, wodurch die Rekonstruktion des geographischen Wissens zur Abfassungszeit des Epos zusätzlich erschwert wird. 30 Einzelne Örtlichkeiten, Landschaften bzw. Inseln scheinen darüber hinaus auch in Verbindung mit den verschiedenen im Rahmen der Handlung des Epos angesprochenen Sagenkreisen auf. So werden etwa im Zusammenhang mit den Erzählungen um Nestor oder Achill die Elis, Messenien bzw. Phtia und der thessalische Raum und deren Landstriche, Städte und Einwohner genannt. Ihre Lokalisierung ist aber ebenso wie im Falle der Kataloge in vielen Fällen überhaupt nicht, und wenn doch, so oft nur in Verein mit der späteren antiken Überlieferung und dem archäo-

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Die Himmelskugel dürfte dem frühhistorischen Weltbild noch unbekannt sein (vgl. Fehling, 1985, 206f.). Od. 1, 52-54. Nach Hes., Theog. 509, 517-520, 746-748 trägt Atlas den Himmel selbst (zu den unterschiedlichen Vorstellungen über den Träger des Himmelsdaches vgl. West, in Heubeck/West/Hainsworth 1988, 81f.). In der Odyssee ist freilich auch die Lokalisierung der Unterwelt bzw. zumindest ihres Einganges im äußersten Westen der Erde präsent (vgl. hiezu unten 139f.). II. 152; Hes., Theog. 720-725. Eine kurze Beschreibung des frühgriechisch-homerischen Weltbildes findet sich bei Fehling 1985, 206f. Wegen seiner umfassenden Quellenangaben immer noch nützlich ist Buchholz 1871,3-70. Zu den sehr schwierigen und in der Literatur entsprechend umstrittenen Fragen der Datierung der Kataloge und ihrer Stellung innerhalb der Komposition der Ilias vgl. jetzt Kullmann 1993 mit Hinweisen auf die ältere Literatur (insbes. Anm. 1). Diese Archaisierung wird bspw. durch die Nichtbeachtung von als jung empfundenen Örtlichkeiten wie etwa der ionischen und äolischen Städte Kleinasiens oder - wie im Fall von Mykene - durch die Annahme großer Herrschaftsbereiche mit den als alt empfundenen mykenischen Anlagen im Zentrum erreicht (vgl. Kullmann 1993, 134-145, insbes. 140-143).

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logischen Befund möglich.31 Genaugenommen läßt sich den meisten Angaben der Ilias keine exakte geographische Vorstellung, sondern nur die bloße namentliche Kenntnis realer geographischer Gegebenheiten entnehmen.32 Der nähere Blick auf die Angaben der Ilias zeigt indes, daß auch die bloße namentliche Kenntnis geographischer Gegebenheiten auf einen relativ engen Raum beschränkt ist. Zu diesem gehören einerseits die das griechische Mutterland und die Ägäis umfassende Heimat der griechischen Belagerer Trojas. Dem Schiffskatolog und den verschiedenen, über das gesamte Epos verstreuten geographischen Hinweisen lassen sich die Namen der Landschaften der Peloponnes sowie vieler einzelner Örtlichkeiten entnehmen. Dasselbe gilt für das griechische Festland im Norden bis einschließlich Thessalien mit Ausnahme des Epirus. Das nördlich an den Olymp anschließende Pierien wird nur einmal beiläufig erwähnt (XIV 226). Im Westen werden Ithaka und Kephallenia genannt, von den ägäischen Inseln finden schließlich im Süden Kreta, Karpathos und Kasos, im Osten alle wichtigen Inseln vor der kleinasiatischen Küste, des weiteren Aigina, Salamis, Skyros und Kythera Beachtung. Die Trojaner und ihre Bündnispartner rekrutieren sich aus Thrakien und den küstennahen Gebieten des westlichen Kleinasien. Deren Zentrum stellen Troja und seine weitere Umgebung dar. Der Troas sowie den sie umschließenden Gebieten Mysiens gelten denn auch die weitaus meisten und vergleichsweise exaktesten geo- bzw. topographischen Angaben in der Ilias.33 Von Troja aus gesehen richtig im Nordwesten lokalisiert wird Thrakien, wenn es heißt, daß Boreas und Zephyros von dort herkommen.34 Dazu paßt auch, daß Hera nach Erhalt des Zaubergürtels von Aphrodite den Olymp verläßt und „... über Pierien hin und die reizende Emathie /... über der rossepflegenden Thraker beschneite Berge"35 zum Athos stürmt, von wo sie nach Lemnos übersetzt. .Thrakien' wird in der Ilias als eine Art Sammelbezeichnung für das im Norden der Ägäis liegende Land verwendet, über dessen geo- bzw. ethnographischen Gegebenheiten sich freilich nur sehr spärliche Hinweise finden. Neben den Thrakern, „soviele der starkströmende

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Die Vagheit der geographischen Angaben der Ilias wird betont von Jacob 1991,30-32. Bezüglich des Mittelmeer-, aber auch des westgriechischen Raumes erweist sich die Odyssee ähnlich unbestimmt; vgl. unten 130-134. Eine wichtige Ausnahme stellt sicherlich Troja selbst dar; s. Anm. 33. Etwa gut die Hälfte aller geographisch-topographischen Angaben zu den Gebieten der Trojaner und ihrer Bündnispartner beziehen sich auf diese Gebiete. Troja selbst wird ja aufgrund der im Epos enthaltenen Hinweise heute am Burghügel von Hissarlik lokalisiert. Doch war das lange Zeit umstritten. Zur Problematik der Lokalisierung Trojas und der damit verbundenen Frage der Historizität des Trojanischen Krieges vgl. Meyer 1974, 809ff., 1975, 155-169 und Cobet 1983, 39-58. Vgl. etwa IX 4f. - Boreas und Zephyros sitzen auch in XXIII 200 beisammen, als sie Iris aufsucht, um ihnen die Entfachung des Scheiterhaufens des Patroklos zu befehlen. XIV 227f. in der Übersetzung von Schadewaldt 1975, die auch im folgenden herangezogen wird, wenn nicht ausdrücklich auf eine andere hingewiesen wird. Heras Weg vom Olymp bis nach Lemnos wird in den Versen XIV 225-230 beschrieben.

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Hellespontos einschließt", 36 können diesem ,thrakischen Großraum' die Kikonen und schließlich die in der Stadt Amydon und am Fluß Axios wohnhaft gemachten Paionen zugerechnet werden. Daß die Heimat letzterer ausdrücklich als ,fern' gekennzeichnet wird, kann dabei als Beleg für die Enge des zeitgenössischen geographischen Horizontes gelten. Kaum ergiebiger erweisen sich die Informationen der Ilias, wenn man in den nordöstlich Trojas bzw. Mysiens befindlichen Raum blickt. Die Phryger werden im Epos mit Askania und dem Fluß Sangarios in Zusammenhang gebracht und können daher im Verein mit den Angaben jüngerer antiker Autoren nördlich Mysiens bis zum westlichen Teil des späteren (in der Ilias noch nicht aufscheinenden) Bithynien vermutet werden. Beide Örtlichkeiten mögen als weitab Trojas gelegen empfunden worden sein. Askania wird an einer Stelle ausdrücklich als ,fern' charakterisiert, der Sangarios ist gar Schauplatz des Kampfes der Phryger mit den Amazonen, an dem u. a. der junge Priamos als Bundesgenosse teilnahm. 37 Auf die namentliche Kenntnis noch fernerer Gegenden weisen die Paphlagonen, die von zwei unbedeutenden Ausnahmen abgesehen ausschließlich im Troerkatalog aufscheinen. Sie werden dort zusammen mit dem Fluß Parthenios, dem Land der Eneter und einigen weiteren Landstrichen genannt, die anhand der späteren antiken Quellen im östlichen Teil Bithyniens lokalisiert werden. 38 Ob die Erwähnung der Halizonen auf Kenntnisse der nördlichen Schwarzmeerküste schließen läßt, ist indes nicht sicher. Ihre Herkunft „Fernher aus Alybe, wo die Herkunft des Silbers ist" bringt sie mit dem später an die Grenze von Armenien verlegten Sagenvolk der Chalyber in Zusammenhang. 39 Die Kenntnis der südlich Mysiens gelegenen Landstriche des westlichen Kleinasiens nimmt proportional zur Entfernung von Troja ab. Von dem Mysien unmittelbar benachbarten Lydien, dem ,Maionien' des Epos, sind nicht nur viele Örtlichkeiten bzw. Gewässer - etwa der Tmolos, der Hermos oder die ,Asische Wiese' - bekannt. Maionien bzw. seine Bewohner scheinen auch außerhalb des Troerkataloges in der Erzählung des Epos und insbesonders auch in Vergleichen auf. Wenn etwa im vierten Gesang in den Versen 141 f. aus Paris' Wunde Blut entströmt „... wie eine Frau Elfenbein mit Purpur färbt / Eine Maionierin oder Karerin, daß es ein Backenstück sei für Pferde ", so setzt das eine gewisse Vertrautheit mit Land und Leuten Lydiens voraus. Für die in diesem Vergleich ebenfalls angesprochenen Karer kann dies nur beschränkt gelten. Im Troerkatalog werden mit Milet, dem Mykale- und dem Phteirongebirge und dem Maiander zwar einige

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Askania soll die Gegend um den askanischen See bei Nikaia umfassen. Bei dem Sangarios handelt es sich um den 520 km langen heutigen Sakarya, der 80 km westlich von Herakleia Pontika ins Schwarze Meer mündet; vgl. Rüge 1896, 1610. Rüge 1920, 2269-2271. II 851-855; die beiden Ausnahmen sind V 577 und XIII656. II 857. Den Halizonen sind von einer beiläufigen Erwähnung in V 39 abgesehen nur zwei Verse des Troerkataloges gewidmet, was - ebenso wie im Fall der Paphlagonen - auf ihre nur vage Kenntnis durch den Dichter schließen läßt.

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karische Landstriche bzw. Gewässer benannt, darüber hinaus werden die Karer aber nur in einer knappen Aufzählung innerhalb der dem Epos wohl erst nachträglich eingefügten Dolonie erwähnt.40 Lykien, aus dem „fernher"41 Sarpedon und Glaukos kommen, wird schließlich nur ein einziges geographisches Charakteristikum, der „wirbelnde Xanthos", beigegeben 4 2 Von einigen Erwähnungen im Zusammenhang mit den beiden Helden abgesehen tritt es ausschließlich im Zusammenhang mit der Bellerophon-Sage in Erscheinung. In ihr ist Lykien Schauplatz der Kämpfe des Helden mit seinen mythischmärchenhaften Widersachern, der Chimäre, den Solymern und den Amazonen 4 3 Die Gebiete der beiden Gegner, der vereinigten Griechen bzw. der Trojaner und ihrer Verbündeten, lassen sich damit auf das griechische Mutterland inklusive der Ionischen Inseln, die Inseln und die nördliche Küste der Ägäis und die Küstengebiete des westlichen Kleinasien eingrenzen. Daß fernere Länder bzw. Völker von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen unerwähnt bleiben, liegt zum einen sicherlich am Stoff des Epos, der ja vom Kampf um Troja und nicht etwa - wie die Odyssee - von abenteuerlichen Seefahrten berichtet. Darauf, daß dieser Raum zwischen den Ionischen Inseln und dem westlichen Kleinasien andererseits im wesentlichen trotzdem den Hauptbereich des dem epischen Publikum real bekannten Teil der Erde dargestellt haben dürfte, lassen indes gerade die angesprochenen Ausnahmen schließen. Von allen weiteren Gebieten des Mittelmeerraumes finden in der Ilias nämlich sonst nur Zypern und Phönizien Beachtung, die beide weitab vom Geschehen liegen. Ersteres ist das ferne Land des Kinyros, der Agamemnon auf die Kunde von dem Zug der Griechen gegen Troja hin einen Brustpanzer vermacht hat.44 Phönizien wird durch seine Einwohner und vor allem durch Sidon

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Troerkatalog: II 867-869; Dolonie: X 428f. Zur Dolonie als spätere Einfügung vgl. Lesky 3 1971,58. Die Lykier werden damit ebenso wie vorher schon die Paionen, die Halizonen aus Alybe und die in Askania wohnhaften Phryger ausdrücklich als ,fem' charakterisiert (II 849, 857: τηλόΰεν, 863: τήλ). Kirk, 1985, 250, erkennt darin wie vor ihm schon Hope Simpson-Lazenby, 1970, 176, Hinweise auf das Ordnungsprinzip des Troerkataloges. Dieser beginnt mit den Völkerschaften um die Troas herum und strahlt dann in vier verschiedene Richtungen aus, wobei das letztgenannte Volk jeder Richtung jeweils als ,fem' bezeichnet wird. Die Zitate sind dem Troerkatalog, Verse II 876f., entnommen. Die Bellerophon-Sage wird von Glaukos erzählt, als er sich und sein Geschlecht seinem Gegner Diomedes vorstellt (VI 144-211). Hinsichtlich des geographischen Horizontes scheint die Nennung der Amazonen aufgrund ihrer besonderen Beachtung in der späteren antiken Literatur von besonderem Interesse. Im Epos wird ihre Herkunft nicht näher bestimmt, doch läßt ihr Auftreten an den nord- bzw. südöstlichen Außenposten des Troerkataloges, am Sangariosstrom in Phrygien und im Umkreis Lykiens, an den Ostrand der bekannten Welt denken. Etwa zweihundertfünfzig Jahre später siedelt Herodot die Amazonenschlacht am Thermodon an, und lokalisiert die Amazonen, die er durch die Erzählung von ihrer Verbindung mit den Skythen sehr geschickt .historisiert' (vgl. Sieberer 1994, 178f.), im Sauromatenland östlich des fernen Skythien, also ganz woanders. Entscheidend ist aber, daß das Sauromatenland für Herodot ebenso am Rand der bekannten Welt gelegen sein dürfte wie das östliche Kleinasien in homerischer Zeit. - Der ,Rand der Welt' entfernt sich mit dem Fortgang der antiken Kultur von ihrem (griechischen) Zentrum. XI21; daneben weist auch der in V 330, 422, 458, 760, 883 verwendete Name ,Kypris' für Aphrodite auf die Kenntnis Zyperns hin, der freilich keine Anhaltspunkte bzgl. der geographischen Vorstellung des Dichters birgt.

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repräsentiert, dessen kunstvolle Handwerkserzeugnisse freilich nur durch Fahrten über das ,breite' bzw. .dunstige' Meer gewonnen werden können. 45 Das seiner kulturellen Errungenschaften wegen später noch berühmtere Ägypten wird hingegen nicht erwähnt 46 und dürfte auch gar nicht bekannt gewesen sein.47 Der zeitgenössische geographische Horizont wird sich daher nicht weiter als bis zu dem von der kleinasiatischen Südküste und der Küste Palästinas umfaßten Raum des östlichen Mittelmeers erstreckt haben. Die Erwähnungen vier weiterer Völkerschaften lassen sich nämlich nicht auf reale geographische Gegebenheiten beziehen, sondern weisen vielmehr auf den mythischspekulativen Bereich des homerischen Erdbildes. Gemeint sind die mit den Göttern speisenden seligen Äthiopen und die zwergwüchsigen Pygmäen, die beide am südlichen Okeanosstrom angesiedelt sind. Ihr nördliches Pendant, die Abier und Hippemolgen, werden nicht so konkret am Weltende lokalisiert. Ebenso wie erstere befinden sie sich aber ausschließlich im Blickfeld der Götter und sind auch ihrer Eigenschaft, sich von Milch zu ernähren bzw. ihrer Gerechtigkeit wegen dem menschlichen Treiben nicht minder entrückt 48 Ein so kleiner Raum bedarf keiner tieferen Schichtung. Das homerische Erdrund wird (noch) nicht in verschiedene geographische Räume unterteilt, wie das später beispielsweise durch die Einteilung der Erde in die Kontinente Europa, Asien und Libyen geschieht. Es besteht vielmehr - ganz der Schildbeschreibung des achtzehnten Gesanges entsprechend 49 - nur in einer weitab liegenden, spekulativ erschlossenen kreisrunden Begrenzung der Erde mit dem aus Realerfahrung bekannten geographischen Raum im Zentrum. Letzterer wird seinerseits kaum differenziert, wie die vergleichende Betrachtung der den beiden Kriegsparteien zugewiesenen Charakteristika zeigt. Griechen und Trojaner werden hinsichtlich ihrer Lebensweise, Sitten und Bräuche ebenso weitgehend identisch geschildert wie hinsichtlich ihres Denkens und Handelns. 50

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VI 289-291; XXIII743f. Die Erwähnung des hunderttorigen ägyptischen Thebens läßt sich als Interpolation aus der Odyssee erkennen. Eine Besprechung der Stelle mit einer Literaturübersicht jüngeren Datums findet sich bei Haider 1988, 211-213. 47 Eine kurze Erwähnung sollten die ,Wunder Ägyptens' dem Dichter allemal wert gewesen sein. Daß dies nicht der Fall ist, spricht gegen die Kenntnis des Landes am Nil und fügt sich auch gut in den Umstand, daß sich Ägypten den Griechen erst spät geöffnet hat (vgl. Haider 1988,153-211, insbes. 210f.). Libyen wurde eher noch später bekannt (Haider 1988, 128-139): Mit Ausnahme von Aziris sind alle griechischen Siedlungen in Libyen nach Ausweis des derzeitigen archäologischen Befundes nicht vor 630 gegründet worden. Beide Argumente gelten nicht für das in der Odyssee erwähnte Sizilien. 48 XIII 4-6; die Stelle και άγαυών Ιππημολγών γλακτοφ'αγων, Αβίων τε ist freilich notorisch unsicher: Für Romm 1992,53 sind etwa die Rossemelker mit den Abiern gleichzusetzen. Die Nennungen der beiden Völker werden - anders als hier - auch als Hinweise auf real existierende Völker des Nordens, insbesondere der Skythen gesehen (vgl. Janko 1992,42f.). « XVIII 476ff. 50 Unterschiedliche Bewertungen der Trojaner und ihrer Bündner sind nur in Nuancen greifbar (vgl. dazu Schmal 1995,27-46; Dihle 1994,14-16). 46

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Die bewußte Wahrnehmung fremder Kultur bleibt in der Ilias denn auch auf wenige Stellen und wenige Details beschränkt. Diese fügen sich in ihrer Qualität aber doch schon zu einem recht beachtenswerten Bild zusammen. Die ,Anderen' unterscheiden sich, wenn überhaupt, nur in ganz wenigen Details von der eigenen Welt. Die Sprache, genauer gesagt das Wort barbarophonos, mit dem einmal die Karer apostrophiert werden, und der eine oder andere Hinweis auf die Fremdsprachigkeit einiger Völker des trojanischen Aufgebotes sind die diesbezüglich konkretesten Hinweise. 51 Vagere, aber in Hinblick auf die Wahrnehmung und Differenzierung des geographischen Raumes besonders interessante Andeutungen auf eine als anders als die eigene empfundene Welt können in verschiedenen Aussagen zum (materiellen) Wohlstand fremder Völker gesehen werden. Dazu gehören die aus den Versen IV 141 f. hervorgehende Vertrautheit der Luxusmaterialien Elfenbein und Purpur durch Maionier und Karer, der Silberreichtum des sagenhaften fernen Alybe, der wertvolle, mit Gold und Blaufuß reichlich verzierte Panzer des kypriotischen Königs Kinyros und insbesonders natürlich die Schätze des noch weiter am östlichen Rand der bekannten Welt gelegenen Sidon. 52 Denselben Glanz findet man aber auch in der Beschreibung der Burg des Priamos und der Schilderung der von Hephaistos zu seiner eigenen Unterstützung geschaffenen Diener-Automaten, darunter „... Dienerinnen, / Goldene, die lebenden Jungfrauen glichen".53 All diese Wunderwerke repräsentieren einen der damaligen griechischen Welt in diesem Ausmaß unbekannten und deswegen bewunderten und als anders empfundenen Reichtum. Dieser wird offensichtlich dem Osten der bekannten Welt zugewiesen und kann so wohl als Reflex der bis dato zivilisatorisch entwickelteren altorientalischen Kulturen gesehen werden. Explizit wird in der Ilias aber nur denjenigen Völkerschaften ein abweichendes Verhalten attestiert, die, vom Bereich der geographischen Realerfahrung abgerückt, dem aus unserer Sicht mythisch-spekulativen Raum des Epos zuzuweisen sind. So zeichnen sich die am südlichen Okeanos-Strom lokalisierten Äthiopen dadurch aus, daß sie den Unsterblichen ständig Hekatomben opfern und sie bei ihren Mählern bewirten. Sie repräsentieren ein in seiner Frömmigkeit ideales Volk, das durch die Nähe zu den Göttern ausgezeichnet wird. 54 Ihre Nachbarn, die winzigen, an unseren Däumling gemah51

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Vgl. die Diskussion der einschlägigen Stellen von Schmal 1995,54f., vgl. auch 5 Iff., für den das „barbarophonos" die „einzige Andeutung einer realen Unterscheidung" ist, ohne damit Beleg für einen abstrakten und vielleicht negativen Barbarenbegriff zu sein (46f., in letzterem Sinne wird das „barbarophonos" dagegen von Schwabl 1962,5 und Weiler 1968,22f. interpretiert). II 856f. (Alybe); XI 19-28 (Panzer des Kinyros); VI 289-291, XXIII741-745 (Sidon). Zitat: XVIII 417f.; Palastbeschreibung: VI 242-249. 1423f.; XXIII 205-207. Für Romm, Edges, 50-54 repräsentieren die Äthiopen vor allem hinsichtlich des Überflusses an Nahrung eine Art Gegenwelt zu den Verhältnissen der Troja-Kämpfer. Sie haben immer im Überfluß zu essen. In der späteren ethnographisch-historischen Literatur werden die Äthiopen am Rand der Ökumene lokalisiert und zum edlen, selbstgenügsamen und weisen Idealvolk stilisiert. Herodot benutzt etwa ihre Konfrontation mit Kambyses, um - in einer Art „umgekehrten Ethnozentrismus" - die Mängel der im Zentrum der Ökumene gelegenen Zivilisationen des Mittelmeerraumes aufzuzeigen (III 17-25; vgl. auch hiezu Romm 1992, 54-60).

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nenden Pygmäen, weisen wiederum burleske Züge auf, hängt an ihnen doch der Mythos vom grotesken Kampf der Zwerge mit den im Winter einfallenden Kranichen. Die Nähe von Idealem und Abstrusem läßt sich an den im Norden bzw. Osten des mythisch-spekulativen Raumes angesiedelten, nicht minder fabelhaften Völkern feststellen. Dort sind einmal die Ίππημολγοί, die „Rossemelker", die sich von Stutenmilch ernähren und im übrigen als „trefflich" gelobt werden. An ihrer Seite stehen die Abioi, die als die gerechtesten der Menschen überhaupt hervorgehoben werden. Als - wenn auch nur en passant erwähnte - Gegner der Phryger bzw. des Bellerophon sind die nur vage im Osten angesiedelten Amazonen noch am konkretesten mit dem real bekannten geographischen Raum verbunden. Als „männergleich" oder zumindest „den Männern feind" bezeichnetes Frauenvolk gelten sie jedenfalls auch dann als merkwürdige Fremdlinge, wenn ihre Konturen als Gegenbild zur patriarchalischen griechischen Gesellschaft erst in der klassischen Zeit umrissen werden. Zusammen mit Äthiopen, Pygmäen, Hippemolgen und Abiern repräsentieren sie das zu den normalen (griechischen) Verhältnissen völlig Fremde, das sich, durch seine Lokalisation am Rand der Welt von dem real bekannten Raum abgegrenzt, im Spiegel der normalen (griechischen) Verhältnisse sowohl als vorbildhaftes Ideal als auch - mitunter kuriose - Abstrusität darstellt.55

III. Zum geographischen Weltbild der Odyssee (WS) Die Odyssee erweist sich dagegen sowohl in ihren geo- als auch ethnographischen Schilderungen vielschichtiger. Grundsätzlich läßt sich ihr Erdbild zwar ebenso wie das der Ilias in zwei - zumindest aus unserer Sicht - gänzlich verschiedene Teile, einen mythischen und einen real erfahrenen Raum gliedern. Beide diese Räume werden aber - was freilich auch auf den Stoff des jüngeren homerischen Epos zurückzuführen ist - ausführlicher und differenzierter beschrieben. Anders als in der Ilias wird letzterer nur mehr sehr selten mit dem kreisrunden Okeanosstrom am Rand der Erde in Verbindung gebracht, 56 erstreckt sich dafür aber auf einige neue Länder bzw. Völkerschaften. So bleiben die Äthiopen und möglicherweise die die mit ihnen in einem Zug genannten, nicht näher bestimmbaren Erember 57 ein aus unserer heutigen Sicht sagenhaftes Volk, werden aber

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Vgl. auch Bichler 1995b. Der Okeanos wird außerhalb der Apologoi und des Zusammenhanges mit der Totenwelt (Od. 20, 65, 24, 11), deren Schauplätze von der realen Welt klar abgegrenzt werden, nur viermal, in 19, 434, 22, 197, 23, 243 und 347 genannt; vgl. auch Sieberer 1988, 21. Die Eremboi werden nach Tkac 1907, 413-417 in der modernen Forschung als Entstellung der Namen .Araber' oder .Aramäer' erklärt. Von Soden 1959, 28 sieht in dem Namen das semitische ,ereb' (Abend) und die Erember demzufolge als ,die Westleute'. Alle diese Interpretationen sind jedoch sprachlich nur schwer abzuleiten, wie neben von Soden selbst etwa auch Steiner 1987, 687f. feststellt. Die Interpretation der Verse 4, 84f. ΑΙθίοπάς ΐ>' Ικόμην και Σιδονί ους και Ερεμβούς και Λιβύην, in denen die Erember das einzige Mal in der Odyssee aufscheinen, ist schwierig. Von Soden 1959, 27 sieht in ihnen in Zusammenhang mit seiner Deutung der Erember als Westleute und der Sidonier als Phönikier des Westens

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nicht mehr am Okeanosstrom, sondern „zuäußerst unter den Menschen" angesiedelt. 58 Im Süden bzw. Südosten treten ferner neben Zypern und Phönikien Ägypten und Libyen in das Gesichtsfeld des Dichters bzw. seiner Hörerschaft. Aus dem westlichen Mitteimeeraum werden Sizilien und seine Einwohner zwar nur sehr knapp erwähnt, zumindest ihre Kenntnis scheint Dichter wie Publikum aber gerade deswegen vertraut gewesen zu sein. 59 Ob darüber hinaus auch noch weitere Bereiche des Mittelmeerraumes bekannt waren, läßt sich freilich nicht mit letzter Sicherheit feststellen; summa summarum dürfte der hier angedeutete Raum evt. unter Einschluß Unteritaliens60 und der südwestlichen Teile des Schwarzen Meeres dem tatsächlichen zeitgenössischen geographischen Horizont entsprechen.61 Dieser im Vergleich zur Ilias doch um einiges erweiterte real erfahrene geographische Raum erweist sich freilich als unterschiedlich gut bekannt. Zunächst ist festzustellen, daß sich sein Zentrum nicht mehr wie im älteren Epos im kleinasiatisch-ägäischen, sondern im westgriechischen Bereich findet. So scheinen etwa die wichtigsten Völker Kleinasiens, Phryger, Lyder, Myser, Lykier und die Bewohner Thrakiens mit Ausnahme der Kikonen nicht mehr auf. Dafür werden aber die Schauplätze Westgriechenlands umso ausführlicher beschrieben. Vergleicht man die einschlägigen Angaben der Odyssee mit der unserer heutigen Kenntnis entsprechenden geographischen Realität, so erweisen

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(vgl. unten Anm. 76) die Kurzbeschreibung einer Afrika-Umsegelung. Doch erscheint diese Sicht der Dinge nicht nur hinsichtlich der angesprochenen Deutung der Erember und Sidonier, sondern auch deswegen wenig plausibel, weil sie eine recht genaue Vorstellung der Länder Afrikas voraussetzt, die sich mit den teilweise widersprüchlichen Angaben über die geographische Lage Libyens und Ägyptens nicht vereinbaren läßt (vgl. Sieberer 1988,102-111). Die Frage, ob in den Erembern ein historisches Volk gesehen werden kann, wird sich kaum definitiv entscheiden lassen; vgl. auch Schwabl 1962, 14 Anm. 1. Odyssee 1,23; die Übersetzung erfolgt, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, nach Schadewaldt 1983. Der alte griechische Name für Sizilien, Sikanien, wird in der Odyssee nur einmal in einer der Lügengeschichten erwähnt, in der Odysseus dem Laertes vorgibt, aus Sikanien zu sein (2. Lügengeschichte des Odysseus für Eumaios: 24, 302-314; Sikanien: 24, 307). Der in derselben Geschichte aufscheinende Ort ,Alybas' ist ebenso wie die darin vorkommenden Personennamen erdichtet (vgl. Hirschfeld 1894, 108 und Russo/Femändez-Galiano/Heubeck 1992,395f.). Die weiteren Hinweise auf Sizilien stellen ausschließlich beiläufige Erwähnungen seiner Einwohner dar und lassen keinerlei Rückschlüsse darauf zu, wie sich der Dichter die geographische Lage der Insel vorgestellt haben mag (20, 383: Sikeler; 24, 211. 366. 389: Σικελή γρηΰς, eine alte Magd des Laertes bzw. Odysseus). Die Kenntnis Siziliens läßt darauf schließen, daß auch Süditalien bekannt war, doch ist dies nicht sicher bezeugt. Der einzige konkrete Hinweis stellt die Erwähnung Temesas dar, mit dem das spätere römische Tempsa in Lukanien gemeint sein könnte (1, 183f.: Athene sagt in der Gestalt des Taphierführers Mentes: „denn ich fahre über das weinrote Meer zu den Menschen anderer Zunge, nach Temesa, nach Erz, und führe schimmerndes Eisen"). Doch finden sich ebenso gute Argumente für seine Identifizierung mit dem zypriotischen Tamassos. Die Frage ist in der modernen Literatur dementsprechend umstritten (vgl. Heubeck/West/Hainsworth 1988, 100, Sieberer 1988, 99f.). Hölscher 1988, 136 spricht den oben beschriebenen Raum als „Erfahrungskreis" an. „... er mag noch, zumal im Nordosten, noch größer gewesen sein, in der Dichtung verschwimmen die Ränder im Unbestimmten." Für Heubeck 1955, 126 archaisiert der Dichter nur insofern, als daß er die seinerzeit erschlossenen Gebiete als den Heroen bekannt voraussetzt, aber so tut, als seien sie nicht hellenisiert.

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sich trotzdem nur diejenigen als einigermaßen exakt, welche die Ägäis und die umgebenden Küstengebiete betreffen. Fast ausschließlich innerhalb von Rückblenden erzählt, die die Schicksale der Troja-Heimkehrer thematisieren bzw. Lügengeschichten des Odysseus darstellen, werden die Örtlichkeiten der Ägäis nur knapp erwähnt, trotzdem aber präzise lokalisiert. Davon zeugt etwa insbesonders die mit unseren modernen Landkarten gut übereinstimmende Überlegung einiger auf Lesbos befindlicher homerischer Helden, ob man oberhalb der Insel Chios, bei der Insel Psyrie, heimfahren sollte, indem man letztere zur Linken läßt, oder unten um Chios herum entlang des Mimasgebirges. 62 Weitere Beispiele sind die Beschreibungen des Maleia-Gebirges als letzte Station vor der Überfahrt nach Kythera und Kreta und des letzteren Lage als im Süden der Ägäis gelegene Insel, an deren Südküste sich die Städte Gortyn und Phaistos befinden. 63 Das Maleia-Gebirge stellt freilich zugleich auch schon die Grenze des exakter beschriebenen geographischen Raumes dar. In seinem Westen werden die Beschreibungen der Routen der Troja-Heimkehrer auffallend vage. Berichtet etwa Nestor dem Telemachos von seiner und des Menelaos' Fahrt bis Euboia bzw. zum Maleia-Gebirge relativ detailliert, so erzählt er von seiner Heimfahrt ab Euboia nur mehr, daß er mit günstigem Fahrtwind „auf Pylos zuhielt". 64 Ähnlich verhält es sich mit der in Zusammenhang mit der Südlage Kretas bereits angesprochenen ,Lügengeschichte', in der Odysseus Penelope in Gestalt des Kreters Aithon von der Fahrt der ithakesischen Flotte nach Troja berichtet. Hinweise auf deren angebliche Route finden sich darin erst, als die Flotte (vergebens) versucht, das Gebirge zu umschiffen und nach Kreta verschlagen wird. 65 Die konkreten geographischen Angaben zu Westgriechenland erweisen sich zwar als umfangreicher, sind aber in der Tat viel vager als jene zum ägäischen Raum. Im einzelnen kann das besonders gut an Ithaka gezeigt werden, das als Wohnsitz des namensgebenden Helden des Epos besonders ausführlich beschrieben wird. Trotzdem kann es aufgrund der in der Odyssee enthaltenen geographisch-topographischen Angaben allein nicht konkret mit einer der - für diesen Bereich allein in Frage kommenden - Ionischen Inseln verbunden werden, sondern legt nur der archäologische Befund seine Identifizierung mit der im Mittelalter als Thiaki bezeichneten kleinen Insel im Osten Kephallenias nahe. 66 Aber auch die Wohnsitze Nestors und Menelaos', Pylos und Sparta, können

62 3,170-172. 63 9, 80. 19,187 (Maleia-Gebirge); 19,187. 200 (Südlage Kretas); 3 , 2 9 3 - 2 9 6 (Gortyn und Phaistos). Weitere Bspe. bei Sieberer 1988, 85-93. 64 3, 182. 65 19, 187. Der Berg von Maleia ist Ausgangspunkt für zwei weitere Irrfahrten (3, 287: Menelaos wird nach Ägypten verschlagen, 9 82: Odysseus' Irrfahrt) - für Lesky 1968, 800f. ein Grund, das Maleia-Gebirge als Grenze der damals sicher bekannten Welt anzusehen. 66 Auch die außerhomerische Überlieferung der Namen der Ionischen Inseln hilft in dieser Frage nur bedingt weiter. Von den homerischen Namen der Inseln des Odysseus sind in späterer Zeit nur Ithaka und Zakynthos bezeugt und ist ihre exakte Zuweisung an einzelne der Ionischen Inseln ist gar erst ab Thukydides möglich (zur Frage der Lokalisation des homerischen Ithaka vgl. Sieberer 1990, 149-164).

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anhand der Angaben der Odyssee nur sehr vage im Westen bzw. Osten der Peloponnes lokalisiert werden. 67 Dies könnte an geographischer Unkenntnis des westgriechischen Raumes oder aber daran liegen, daß dessen Schauplätze bewußt in vage Ferne gerückt und damit archaisiert werden. Gegen die letztere Annahme spricht aber, daß die geographische Lage gerade dieser Schauplätze sehr ausführlich beschrieben wird. Der Odysseedichter müßte unter dieser Annahme ausführliche ,gefälschte' Beschreibungen konstruiert haben, obwohl derselbe Effekt leichter durch nur vage Andeutungen bzw. - wie etwa in den Katalogen der Ilias - durch Auslassungen erreicht werden hätte können. 68 Es mag daher plausibler erscheinen, ihm eine nur ungenaue geographische Kenntnis des westgriechischen Raumes zuzugestehen, in dem mit Ausnahme der märchenhaften Inseln Ogygia und Scheria alle entscheidenden Schauplätze der zentralen Handlung seines Epos angesiedelt sind. Auffallig muß indes erscheinen, daß gerade diese im Bereich nur vager geographischer Kenntnis gelegenen Schauplätze idealisiert dargestellt werden. Telemachos stößt bei seinem Besuch in Pylos auf eine heroische, mit materiellem Wohlstand gesegnete Gesellschaft, die durch Frömmigkeit und friedlich-glückliches Miteinander ausgezeichnet wird. In ihrer Mitte steht der greise, gerechte Nestor, dem Söhne und Töchter und deren Familien wohlgesonnen sind. Sie befolgen seine Worte und zeichnen sich dadurch als verständig aus. Nestor führt ein Leben im Alter, wie es kaum besser sein könnte und - was nicht direkt ausgesprochen wird, aber im Raum steht - wie es sich Odysseus wohl auch verdient hätte. Während des Besuches der Gastfreunde aus Ithaka sind Nestor und die Seinen fast ausschließlich um das Wohlwollen der Götter bemüht. Bei Telemachos' Ankunft sind sie mit der Durchführung eines Opfers für Poseidon befaßt. Der Begrüßung des jungen Helden und seines göttlichen Mentors folgt Nestors Mahnung zu Gebeten, der die Gäste gerne Folge leisten. Erst danach kommt das eigentliche Anliegen des Telemachos, der ersehnte Bericht Nestors über die Geschehnisse nach dem Aufbruch von Troja, zur Sprache. Nestor schließt mit einem zweiten Opfer für Poseidon, auf das hin sich Mentor verabschiedet. Als nach seinem Abgang seine wahre Identität offenbar wird, betet Nestor bei einen Weihguß ein weiteres Mal. Zu guter Letzt wird Telamachos'

67

Auch im Fall von Pylos hilft die jüngere antike Überlieferung nicht weiter, da für die westliche Peloponnes vier Orte dieses Namens überliefert sind, von denen jeder bereits von antiken Gelehrten für das in der Odyssee gemeinte Pylos gehalten wurde (vgl. Sieberer 1988, 82-85). Die Identifikation des homerischen Pylos ist dementsprechend auch in der modernen Literatur umstritten (vgl. Meyer 1959, 2137-2161; Biegen in: Wace/Stubbings 1963, 422-429 und Giovannini 1969, 29). Auf Sparta trifft dies freilich nicht zu, die in der Odyssee enthaltenen Hinweise auf seine geographische Lage bleiben aber ebenso vage wie die Ithaka und Pylos betreffenden.

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Daß seine Beschreibungen der Schauplätze Westgriechenlands auf einer älteren, außerhomerischen Überlieferung fußen können, wie am Beispiel von Pylos von Kulimann 1993,134f., 146 deutlich gemacht wird, widerspricht der Annahme seiner nur vagen geographischen Kenntnis dieser Region nicht.

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Aufenthalt in der ,heiligen' Pylos mit einem dritten, diesmal an Athene gerichteten Opfer abgeschlossen. 69 In Sparta betritt Telemachos eine Welt, die von Leben in glänzendem Reichtum geprägt ist und die er gemeinsam mit dem Nestor-Sohn Peisistratos nicht zufällig genau zu dem Zeitpunkt erreicht, als Menelaos mit Pomp und Prunk die Hochzeit seiner beiden Kinder feiert. „Schau Nestor-Sohn, du in meinem Herzen Geliebter!" entfährt es Odysseus' noch jungem Sohn da angesichts seiner prunkvollen Umgebung „des Funkeins von dem Erz rings in den hallenden Häusern, und von dem Gold und Bernstein und Silber und Elfenbein!" So mag der „Hof des Zeus, des Olympiers, sein im Inneren, wie dieses unendlich Viele hier. Heilige Scheu faßt mich, wenn ich es sehe".70 Auf Telemachos' Heimatinsel Ithaka kennt man solchen Reichtum nicht, aber unter der sehnlich herbeigewünschten Ägide des Odysseus scheint dort materieller Wohlstand ebenso erreichbar wie eine gerechte, in Einklang mit den Überirdischen stehende politische Ordnung ä la Pylos. Das entscheidende Vorbild für Ithaka als nahezu ideal regiertes, durch Reichtum ausgezeichnetes Gemeinwesen stellt freilich weder Sparta noch Pylos, sondern die Phäakeninsel Scheria dar, die vor dem Hintergrund eines märchenhaft-phantastischen Ambientes beider Vorzüge noch bei weitem übertrifft. 71 Mit Pylos und Sparta hat Ithaka aber gemein, in einem nur sehr vage bekannten Gebiet lokalisiert zu sein. Daß dem Hörer darin vorbildhafte Formen menschlicher Gemeinschaften vorgeführt werden, spricht für die Gestaltungskraft bzw. den Gestaltungswillen des Dichters. 72 Als sowohl von der Ägäis als auch dem westlichen Teil Griechenlands deutlich abgegrenzter (dritter) Bereich innerhalb der real erfahrenen Welt stellt sich schließlich der östliche Mittelmeerraum dar. Schauplätze wie Zypern, Phönikien oder Ägypten sind entweder Ziel von (kretischen) Abenteurern, wie sie in Odysseus' Lügengeschichten vorkommen, 73 oder werden von homerischen Helden auf nicht weniger abenteuerliche Weise unfreiwillig erreicht. Menelaos weiß von seiner Heimfahrt von Troja zu berichten, daß er erst im achten Jahr zurückgekommen ist, „nachdem ich nach Zypern, Phönikien und zu den Ägyptern umhergeirrt bin, und bin zu den Äthiopen gelangt und den Sidoniern undErembern und nach Libyen".74 Die diesbezüglichen geographischen Angaben 69

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Od. 3, 1-463; zu dieser Interpretation vgl. auch Panagiotou 1983, 32: „Dies ist ein ideales Bild gemeinsamen Lebens in der Stadt im Frieden, die mitsamt dem um die Altäre der Götter versammelten Volk glücklich zu sein scheint." 4 , 7 1 - 7 5 ; die Idealisierung Pylos und Spartas durch den Odysseedichter wird kurz auch von Von der Mühll 1940,707 und neuerdings von Bichler 1995a, 36 angesprochen. Vgl. unten 146-148. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, daß sich sowohl der Name Odysseus als auch der Name, mit dem sich Odysseus dem Polyphem vorstellt, Utis, aus dem Summerischen bzw. Akkadischen herleiten lassen (vgl. Oberhuber 1965,307-312). Odysseus ist in der griechischen Welt offenbar nicht fest verankert und kann daher gut in einen entfernten, wahrscheinlich nur vage bekannten Raum verlegt werden. Odysseus' Lügengeschichte für Eumaios (14, 191-359, insbes. 256f., 287-306) bzw. die Lügengeschichte für den Freier Antinoos (17,415-444). 4, 8 3 - 8 5 (zur Interpretation der Verse vgl. oben Anm. 57). Eher noch abenteuerlicher hört sich Menelaos' Irrfahrt aus dem Mund Nestors an. Nestor erzählt, daß Menelaos nach Ägypten verschlagen worden ist (3,

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erweisen sich denn auch als entsprechend vage. Auf Zypern wird zwar richtig das Heiligtum der Aphrodite in Paphos lokalisiert, weitere Angaben lassen aber auf kaum mehr als auf eine namentliche Kenntnis der Insel schließen. Ihre zweimalige Nennung im Zusammenhang mit Ägypten in den bereits angesprochenen Berichten über Menelaos' Irrfahrt und Odysseus' Lügengeschichte für Antinoos könnte als Hinweis auf seine nicht allzu große Entfernung von diesem verstanden werden. Letzteres dürfte auch für Phönikien gelten, das als Schauplatz außerhalb der Erwähnung durch Menelaos nur noch einmal, in der Lügengeschichte des Odysseus für Eumaios, ebenfalls im Zusammenhang mit Ägypten aufscheint. 75 Phönikien wird in der Odyssee weiters das geographisch nicht näher bestimmte, reiche Sidon 76 und - wie man aufgrund einer adjektivischen Erwähnung annehmen wird dürfen - auch Byblos 77 zugerechnet. Eine wesentlich genauere Lokalisierung erlauben die geographischen Angaben auch in den Fällen Ägyptens und Libyens nicht, obwohl beide Länder Gegenstand einer vergleichsweise ausführlichen Routenbeschreibung innerhalb Odysseus' Lügengeschichte für Eumaios sind. Darin berichtet Odysseus zunächst, von Kreta aus in fünf Tagen mittels des Nordwindes zum Fluß Aigyptos gelangt zu sein. Dort sei er nach siebenjährigem Aufenthalt von einem Phöniker zuerst zur nicht näher beschriebenen Fahrt von Ägypten nach Phönizien und dann zur Weiterfahrt nach Libyen überredet worden. Dabei seien Odysseus, der Phönizier und die phönizische Mannschaft des Schiffes „mitten durch das Meer über Kreta hinaus " gesegelt und hätten, auf dem offenen Meer außer Sichtweite Kretas, Schiffbruch erlitten.78 Die daraus hervorgehende Vorstellung über die geogra-

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299f.) und schließt mit dem Hinweis, daß er von diesen Gegenden „aus der Fremde heimgekommen von solchen Menschen, von woher wiederzukommen keiner in seinem Sinne hoffen könnte, den einmal die Sturmwinde auf das Meer, das so gewaltig, abgetrieben, von wo nicht einmal Vögel in demselben Jahr geflogen kommen, da es so groß wie furchtbar ist." (3,318-322). 14,290f. Sidons Zugehörigkeit zu Phönikien geht aus 13, 285 und insbes. aus 14, 425^4-33 hervor: Phönikische Händler versprechen einer aus Sidon stammenden Landsfrau, sie zurück in die Heimat Sidon zu bringen. Nicht ganz klar erscheint freilich, warum in dem oben zitierten Bericht des Menelaos zusätzlich zu Phönikien auch noch die Sidonier genannt werden. Für von Soden 1959,27, weisen deswegen die Erwähnungen der Sidonier (4,84; 4,618 = 15,118) in der Odyssee im Unterschied zur Nennung der Stadt Sidon selbst auf die Phönikier des Westens. Allerdings müßte der Dichter dann mit Sidon die bekannte Stadt, mit dem von diesem Stadtnamen abgeleiteten Namen .Sidonier' aber die Einwohner einer anderen Stadt bzw. eines von ihr ferngelegenen Landes bezeichnen. Daß aus der Odyssee nirgends ein Anhaltspunkt auf die Lage des Wohnortes der Sidonier hervorgeht, kann zwar nicht gegen ihre von von Soden vertretene Lokalisation im Westen sprechen, schließt aber ebensowenig aus, daß mit den Sidoniern die Einwohner der Stadt im phönikischen Mutterland gemeint sind. Die an sich nicht mehr notwendige Nennung der Sidonier in 4, 84 könnte darauf hindeuten, daß der Name,Phönikier' noch nicht fest etabliert war. Da nicht sicher ist, ob die von den Griechen als Phönikier bezeichneten Bewohner der Stadtstaaten an der libanesischen Küste einen eigenen gemeinsamen Namen trugen (vgl. Huß 1985, 5f.) , mochten sie zunächst unter den Namen des jeweiligen Stadtstaates bekannt geworden sein, ehe sich der griechische Name .Phönikier' als Sammelbezeichnung für sie durchsetzte. 21, 390f.: ein Tau aus „Byblos-Bast". 14, 256f. (Fahrt Kreta - Aigyptos), 295-306.

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phische Lage der Schauplätze Ägypte, Libyen und Phönikien läßt sich indes nur schlecht mit unserem geographischen Wissen vereinbaren. Die Lage Ägyptens ist mit „im Süden Kretas" zwar nicht völlig falsch, aber doch nur vage bezeichnet, da das Nildelta eindeutig im Südosten der Ostspitze Kretas liegt. Noch viel weniger auf unsere geographische Kenntnis trifft die Beschreibung der Fahrt von Phönikien nach Libyen zu. Ersteres liegt nämlich drei Grad nordöstlich vom südlichsten Punkt Libyens, Sidon etwa auf gleicher Höhe von Kyrene. Von der Route Phönizien - Libyen liegt Kreta daher weitab im Norden. 79 Darüber hinaus erscheinen die Angaben über die Route Phönizien - Libyen auch innerhalb der Odyssee widersprüchlich. Ihnen zufolge müßte sich nämlich Phönikien nördlich Kretas und Libyens befinden, obwohl an anderer Stelle die Lage Kretas klar als südlich der Ägäis hervorgeht.80 Des Dichters Vorstellung von der geographischen Lage der Länder Ägypten, Phönikien und Libyen kann daher nur als sehr ungenau bezeichnet werden. 81 Auf genauere Kenntnisse von Ägypten und Libyen lassen auch die weiteren Informationen zu beiden Ländern nicht schließen. Die in Odysseus' Lügengeschichten erzählten Seefahrer- bzw. Seeräuberabenteuer sind ausschließlich auf die küstennahen Gebiete Ägyptens bzw. allenfalls auf das Delta beschränkt, der Nil trägt noch den Namen, Aigyptos'. Die einzige in der Odyssee erwähnte Stadt aus dem Inneren Ägyptens ist Theben, das freilich noch in einem sagen- bzw. märchenhaften Ambiente gezeigt wird. Menelaos berichtet von Theben als Stadt, „wo die meisten Schätze in den Häusern liegen". 82 Noch viel phantastischer nimmt sich freilich Libyen aus, „wo die Böcke gleich mit Hörnern da sind - denn dreimal werfen die Schafe über das volle Jahr hin -, da mangelt es weder Herrn noch Hirten irgend an Käse und Fleisch noch auch an süßer Milch, sondern sie geben immer Milch zum Melken auf das ganze Jahr hin ".83 Daß in diese Schilderung auf Realkenntnis Libyens beruhende Informationen eingeflossen sind, kann nicht völlig ausgeschlossen werden, scheint indes wenig plausibel. Die wundersame Fruchtbarkeit Libyens weist vielmehr auf - zumindest in einem weiteren Sinn - utopische Vorstellungen, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen griechischen Kolonisation zu verstehen sind: Libyen präsentiert sich als Land, das zu kolonisieren man sich nur wünschen kann. 84 79

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Eine Rekonstruktion der geographischen Vorstellung des Dichters auf Basis der oben beschriebenen Route, wie sie von D. Gray 1974, 11 vorgenommen wurde, führte zu folgender Annahme: Vorauszusetzen ist, daß der Dichter mit dem Boreas einen Nordost-Wind meint. Phönikien liegt ein gutes Stück nördlich von Nordafrika, dessen Küste geradewegs von Ost nach West verläuft. Parallel dazu verläuft die Westküste Griechenlands ostwestlich, und in der Mitte von diesen Küsten liegt Kreta. 19,187.200 Das muß freilich nicht bedeuten, daß man über keinerlei Wissen von der Dauer bzw. den verschiedenen Stationen der Fahrten verfügte. Für solche Seefahrerkenntnisse spricht etwa die Nennung der Insel Pharos, auf der man Wasser tanken konnte; vgl. Haider 1988,212-220. 4,126. Zum nicht zu groß zu veranschlagenden realen Gehalt der epischen Erzählungen über Ägypten vgl. Haider 1988,211-220. 4,85-89. Vgl. Baldry 1956,5f„ Bichler 1984, 179 und Bichler 1995a, 30-33.

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Noch deutlicher in den Randbereich der real erfahrenen Welt, in die Nähe des phantastisch-mythischen Raumes der Odyssee weisen die Erwähnungen Syrias und der Äthiopen. Letztere wohnen zwar anders als in der Ilias nicht mehr am mythischen OkeanosStrom und werden auch als eine der Stationen der Irrfahrt des Menelaos erwähnt, die prinzipiell der von gewöhnlichen' Menschen erfahrbaren Welt angehören. Indem sie aber auch im jüngeren Epos das auserwählte Volk bleiben, bei dem die Götter speisen, tragen sie andererseits zugleich mythisch-sagenhafte Züge. 85 Darüber hinaus weist die Etymologie ihres Namens (die „Brandgesichter") auch dann auf den mythisch-spekulativ erschlossenen Rand der Erde, wenn sie - wie in der Odyssee - zweigeteilt zugleich an deren Südost- und Südwestende, „teils wo der Sohn der Höhe untergeht, teils wo er heraufkommt", lokalisiert werden. 86 Für Angehörige aus der real erfahrbaren Welt, wie bspw. für phönizische Seeleute erreichbar, aber trotzdem nicht lokalisierbar, da sie „über Ortygia hinaus, wo die Wenden der Sonne sind", liegen soll, 87 ist die Insel Syria. Das Syria der Odyssee stellt - in dieser Hinsicht Libyen übertreffend - dementsprechend auch das mit Ausnahme der Phäakeninsel Scheria radikalste utopische Gegenbild zur täglichen Not des realen griechischen Lebens im Zeitalter der Kolonisation dar.88 Nicht übermäßig bevölkert, bietet es ein fruchtbares Land: Es gibt genug Rinder- und Schafweiden, der Boden ist aber auch für Wein und Weizen gut. Hungersnöte und Krankheiten sind seinen Bewohnern, die im

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Die sich daraus ergebende Doppelstellung der Äthiopen als (aus unserer Sicht) sowohl mythisches als auch historisches Volk hat zu verschiedenen Erklärungen geführt. Für Heubeck/West/Hainsworth 1988, 75 ist ihre Identifikation mit dem Volk südlich Ägyptens vor Hekataios (FGrH 1 F325-328) nicht gesichert, obwohl Od. 4, 83ff. und Hes.F. 150, 17-19 als Hinweis darauf verstanden werden könnten. Für den Odysseedichter seien die Äthiopen aber ein mythisches Volk. Lesky 1959, 27-38 und mit ihm Heubeck 1974, 219 vertreten diesbezüglich die Meinung, daß die Äthiopen ursprünglich ein mythisches Volk darstellten, das mit Bekanntwerden der Schwarzen im Süden Ägyptens zum historischen Volk wurde, worauf die zitierte Odysseestelle hinweise. Ähnlicher Meinung ist auch Dihle 1994,8-11, demzufolge die Äthiopen in mykenischer Zeit freilich als Schwarze bekannt waren und erst in den Dark Ages zu einem mythischfabulösen Volk wurden. - Das Problem wurzelt wohl darin, daß die Unterscheidung historisch - mythisch nicht die des Odysseedichters ist. Dieser weiß die Schauplätze der Apologoi zwar sehr wohl bewußt von der ,realen' Welt abzugrenzen (vgl. unten 136, 141f.), was aber nicht heißt, daß er mit letzterer dasselbe verbindet wie wir. 1, 24. Zur Etymologie Aithiops = Brandgesicht s. Lidd.-Sc. 1968, s. v. Aithiopes, und Heubeck/West/ Hainsworth 1988, 75. Die Zweiteilung der Äthiopen wird von Hölscher, 149f. als Reflexion auf die ältere Vorstellung in der Ilias gesehen, die aber nicht in Richtung einer rationalen Geographie, sondern auf ein bewußteres Bedenken der alten mythischen Bilderrede weise. 15,404. Heubeck/Hoekstra 1990,257 meint, Syria im syrisch-palästinischen Raum lokalisieren zu können. Die Versuche sind jedoch zahlreich und widersprüchlich (vgl. die kritischen Bemerkungen von Bichler 1995a, 30 Anm. 71). Zu letzterem vgl. die Feststellung von Kytzler 1973, 54, derzufolge mit den utopischen Vorstellungen der Odyssee, die er zu den „deskriptiven Utopien" rechnet, versucht wird, „die Eingrenzung der menschlichen Existenz durch Mitmenschen und Gesellschaft" zu überwinden und diese utopischen Vorstellungen daher „oft viel Licht auf bestehende soziale Verhältnisse, gesellschaftliche Voraussetzungen und Bedingtheiten werfen".

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Alter sanft entrückt werden, völlig unbekannt. Auf Syria bestehen zwei Städte, unter denen alles zweifach, das heißt vielleicht: gerecht, aufgeteilt ist und die beide von einem guten Herrscher regiert werden. Von der Phäakeninsel unterscheidet sich Syria insbesondere dadurch, daß erstere sterblichen Menschen mit Ausnahme des Odysseus unzugänglich ist und sich in nächster Nähe zu den Göttern befindet. Neben Scheria stellt Syria aber denjenigen Schauplatz der Odyssee dar, der nicht nur ideale natürliche Bedingungen aufweist, sondern vor allem durch das besonders harmonische Zusammenleben seiner Bewohner gekennzeichnet ist. In der Beschreibung Syrias liegt das nach der Schilderung der Phäaken konkreteste utopische Bild von der Form des menschlichen Zusammenlebens vor uns. Der mit Ausnahme des Odysseus jeglicher menschlicher Erfahrung entzogene mythische' Raum der Schauplätze der Apologoi wird in der Odyssee von der bislang beschriebenen, zumindest im Prinzip real erfahrbaren Welt klar abgegrenzt. Als Odysseus auf der Heimfahrt von Troja zum Kap Maleia gelangt, wird er mitsamt seiner Flotte von einem neuntägigen Sturm erfaßt, der ihn in eine andere Welt trägt, aus der zurückzukehren nur unter ebenso besonderen Umständen möglich ist und nur Odysseus selbst vergönnt sein wird. Odysseus erzählt von dieser Welt in zwei langen, in Ich-Form gehaltenen Rückblenden auf der Phäakeninsel, wodurch sie einmal in formaler Hinsicht deutlich hervorgehoben wird. Damit einhergehend wird in seiner Erzählung eine Welt präsentiert, deren Schauplätze wie die an ihnen stattfindenden Abenteuer imaginär bzw. phantastisch sind und die sich somit auch inhaltlich von der real erfahrbaren Welt deutlich unterscheidet. Deren Schauplätze tragen zwar teilweise ebenfalls phantastische oder zumindest idealisierende Züge - Libyen, die Insel Syria bzw. das ,heroisch-fromme' Pylos oder das .reiche' Sparta wurden ja in diese Richtung interpretiert - , basieren grundsätzlich aber ebenso wie die an ihnen vorkommenden Personen und Ereignisse immer auf den realen (politischen, sozialen, religiösen, wirtschaftlichen) Verhältnissen der damaligen Zeit. Mit Personen, Ereignissen und Schauplätzen der Apologoi verhält es sich demgegenüber quasi umgekehrt. Schon allein dadurch, daß sie vom selben Dichter beschrieben werden, können sie zwar Züge der realen Zustände aus dem Umkreis des Dichters aufweisen, sind grundsätzlich aber Teil einer imaginären Welt, die der menschlichen Erfahrung normalerweise nicht zugänglich ist. 89

89

Anders ausgedrückt sind demnach die Schauplätze, Personen und Ereignisse der Apologoi viel vager in den realen historischen Hintergrund der zeitgenössischen Lebenswelt eingegliedert als die der real erfahrbaren Welt. Unter .historischem Hintergrund' sind dabei mit Hampl 1975, 51-99 die staatlichen, wirtschaftlichen, religiösen und geistigen Verhältnisse der Welt gemeint, in der sich die Ereignisse - in diesem Fall der Odyssee - abspielen. Nach Hampl ist der Begriff .historischer Hintergrund' von dem des .historischen Kerns' zu unterscheiden, unter dem er hinter den in den Epen berichteten Ereignissen stehende historische Vorgänge versteht. Zur Problematik beider Begriffe Wickert-Micknat 1970, 60, und oben Anm. 17. In demselben Sinn äußert sich auch Heubeck 1964, 57, wenn er meint, daß die Irrfahrten des Menelaos grundsätzlich anders zu beurteilen sind als die des Odysseus, da ersterer in der empirisch erfahrbaren Welt bleibe. Heubeck 1974, 219f. hält dementsprechend alles, was nicht in Odysseus' Irrfahrten steht, für im Kern real.

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Die Schauplätze dieser imaginären Welt lassen sich zahlreichen Versuchen zum Trotz nicht auf einer realen Landkarte finden.90 Die entsprechenden Angaben in der Odyssee können nur in Hinblick auf das zeitgenössische, aus unserer Sicht mythische Erd- bzw. Weltbild ausgewertet werden. Sie lassen sich dabei aber nicht etwa zu einem Modell zusammenfügen, dem man zwar konzediert, von unserem Denken verschieden, also eben ,mythisch' zu sein, das davon abgesehen aber ein unserem heutigen Denken verpflichtetes, in sich geschlossenes Abbild eines rationalen, sozusagen euklidischen Raumes darstellen soll.91 Ein solches begegnet uns erst mit der Erdkarte und dem Himmelssphairos des Anaximander von Milet im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Das räumliche Denken des Mythos ist von einer anderen Qualität, die uns Heutigen Beschreibungen mythischer Schauplätze teilweise irreal erscheinen läßt. So wie bspw. der den Himmel tragende Atlas bei Hesiod einmal „an den Enden der Erde bei singenden Hesperiden", also im Westen, an einer anderen Stelle aber in der Unterwelt, vor dem Haus der Nacht steht,92 erweisen sich aus der Sicht unseres räumlichen Denkens auch einige Angaben der Apologoi als widersprüchlich oder zumindest wenig verständlich. Die folgende Untersuchung der odysseeischen Beschreibungen der Schauplätze der Apologoi in der Odyssee soll daher nicht auf ein in sich geschlossenes Modell eines Weltbildes abzielen, sondern sich damit begnügen, einzelne seiner Aspekte aufzuzeigen. Ein besonderes Charakteristikum der Geographie der Apologoi besteht in der Überlappung von ,realer' und ,mythischer' Geographie. Der .mythische' Raum muß in der Erzählung von den Irrfahrten des Odysseus mit dem Bereich realer geographischer Erfahrung verknüpft werden und wird zunächst an deren Westrand verankert. Odysseus und seine Leute müssen nach dem neuntägigen Sturm bei Kap Maleia zuerst gegen die gefährlichen Lotophagen und Kyklopen bestehen, ehe sie sich auf Aiolos' wundersamer, von einer ehernen Mauer umgebener, schwimmender Insel der Gastfreundschaft des Herrn der Winde erfreuen können. Von dort besteht nach einmonatigem Aufenthalt die reelle Chance zur Rückkehr nach Ithaka. Aiolos übergibt Odysseus einen Sack, in dem alle Winde bis auf den West eingeschnürt sind, der die Ithakesier folglich aus dem Westen heimwärts treibt. Nach neuntägiger Fahrt erblicken sie am zehnten die Gestade Ithakas, der neuntägige Sturm, der sie am zehnten Tag ins Land der Lotophagen führte, scheint überwunden, ehe passiert, was von vorneherein unvermeidlich erschien. Die Gefährten öffnen den Sack mit den übrigen Winden, wodurch die gesamte Flotte wieder

90

91 92

Damit ist freilich nicht gesagt, daß die seit der Antike existierenden Spekulationen über die vermeintliche Realität dieser Schauplätze aufgehört hätten. Eine übersichtliche Zusammenfassung der diesbezüglichen antiken Diskussion findet sich bei Jacob, 1991,20-24. Einen (unbeabsichtigten) Beweis dafür, wie sich die zahlreichen Lokalisierungsversuche der Schauplätze der Apologoi auf Grund ihrer völlig verschiedenen Ergebnisse selbst ad absurdum führen, stellt wegen seines Überblickes über die bis dato gemachten Vorschläge das Buch von Wolf 1968 dar; vgl. dazu die Rezension von Marg 1970, 225-237, weiters Lesky 1968,799. Hölscher 1988, 141. Vgl. dazu Hölscher 1988, 137-141. Hesiod, Theogonie 518 (Übersetzung nach von Scheffer, 1965) und 746.

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zurück auf die Aiolos-Insel geworfen wird. Die erste Folge der märchenhaften Abenteuer spielt somit klar im Westen des real bekannten geographischen Raumes. Dieser wird westlich der im äußersten Westen Griechenlands gelegenen Heimat des Odysseus angesiedelt, was mit dafür einen Grund darstellen dürfte, das bereits real bekannte Sizilien nur sehr selten und eher beiläufig zu erwähnen. Die nächste Folge von Abenteuern führt Odysseus und die Seinen von der AiolosInsel in sechs Tagen zu den Laistrygonen, die sie am siebten Tag erreichen und weiter zur Heimat der Kirke, der Insel Aiaia. Auf welcher Route sie dorthin gelangen, bleibt unklar, doch hat sich der Dichter wohl schon das Laistrygonenland im Osten der Welt vorgestellt. Dafür spricht nicht so sehr der Umstand, daß der Dichter in diesem Fall auf eine prähomerische Argonautika zurückgegriffen haben dürfte, 93 wofür vor allem die Namen Lamos und Artakie zeugen, als vielmehr die Nähe zu Aiaia, das sich einer späteren Stelle der Odyssee dort, „wo die Häuser und Reigenplätze der frühgeborenen Eos und die Aufgänge des Helios sind", also im äußersten Osten der Welt, befindet. 94 Schwierig gestaltet sich die Interpretation der Aussage, daß im Laistrygonenland der heimkehrende Hirte dem anderen zuruft, der bereits mit seiner Herde auszieht und der den Schlaf nicht brauchte, daß er doppelten Lohn verdienen könnte, nämlich sowohl als Rinder- als auch als Schafhirte. „ Denn nahe sind dort die Pfade der Nacht wie auch des Tages ", 95 Wenn sich die letztere Aussage von der Nähe von Tag und Nacht auch in kein Modell des Kosmos umsetzen läßt, 96 so besteht zumindest soweit Einigkeit, daß bei den Laistrygonen fast durchwegs Tageslicht herrscht. Ob die Kunde von den Mittsommernächten des hohen Nordens hinter ihr steht, scheint unsicher, einiges spricht für die Annahme, das Laistrygonenland sei als Land (fast) immerwährenden Lichtes und damit quasi als im Osten gelegenes Pendant des ewig düsteren Kimmerierlandes zu verstehen.97 Die auffällige Vagheit der Lokalisation des Laistrygonenlandes und der Route, die zu ihm führt, dürfte indes ebenfalls auf den Einfluß der Realgeographie zurückzuführen sein. Der

93

Für eine prähomerische Argonautika spricht sich Heubeck, in: Heubeck/Hoekstra 1990, 47f., 49 aus. Jasons Fahrt wäre aber erst in nachhomerischer Zeit in der Realgeographie verankert und Artakie erst dann mit der betreffenden Quelle bei Kyzikos identifiziert worden, als Jasons Ziel mit Kolchis feststand. 94 12, 3f. Daß Aiaia nicht gleich genauer lokalisiert wird, hängt für Hölscher 1988, 147-149 damit zusammen, daß Odysseus in Aiaia zunächst zu dem Punkt äußerster Orientierungslosigkeit kommen muß, um erst in der Unterwelt Anweisungen für die Heimfahrt erhalten zu können. Erst nach seiner Rückkehr von dort erfolgt die Lokalisierung Aiaias. 95 10, 83-85; Zitat 10, 86. Vgl. die diesbezügl. Überlegungen und Literaturhinweise bei Heubeck/Hoekstra 1990,48. Μ Vgl. Hölscher, 1988, 144f. 97 So Heubeck/Hoekstra 1990,48, der die These von den Mittsommernächten als unhaltbar zurückweist und Karl, 1967, 104f., für den man die „Nachrichten von den nordischen Breiten überhaupt nicht zu bemühen braucht", da man mit dem alten griechischen Glauben, „daß dort, wo die Sonne untergeht, ewige Nacht, wo sie aufgeht, ewiges Licht herrscht", auskomme (Zitat 105). Hölscher 1988,144f. vertritt hingegen die Meinung, daß eine ferne Kunde von den Sonnennächten des hohen Nordens schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend nach Griechenland gelangt sein könnte.

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Wechsel von Westen nach Osten, wo sich der real bekannte Bereich weiter ausdehnt, würde mit der Kenntnis der geographischen Realität kollidieren und muß daher bewußt unbestimmt bleiben. Auf Aiaia, das als ,zu Aia gehörig' auch durch die namentliche Verbindung mit dem im fernsten Osten lokalisierten Ziel Jasons, Aia, am Ostende der Welt anzusiedeln ist, 98 gewinnt Odysseus' Irrfahrt eine neue Dimension. Nahe am die Erde umfließenden Okeanos lokalisiert, bietet sich die Heimat Kirkes als Ausgangspunkt für eine weitere Fahrt des Odysseus an, die das bisher Dagewesene, insbesondere auch Jasons Argonautenzug, übertrifft. Während des Tageslichtes gelangt Odysseus' Schiff, welches das Laistrygonenabenteuer als einziges seiner Flotte überstanden hat, bei Anbruch der Nacht zu den „Grenzen des tiefströmenden Okeanos" ( π ε ί ρ ο ι . . . βαΦυρόου'ΩκεανοΤο), wo sich das in ewiges Dunkel gehüllte Kimmerierland befindet. Dort läßt er das Schiff auffahren und geht mit seinen noch verbliebenen Gefährten der Strömung des Okeanos entlang (παρά ρόον Ώκεανονο) in den Hades, um Teiresias über die Möglichkeit seiner Rückkehr nach Ithaka zu befragen. Aus der auf den Heroinen- und Heroenkatalog folgenden Beschreibung des Rückweges aus dem Totenreich (11,639-12,4) geht dann hervor, daß dieses im äußersten Westen der Welt angesiedelt wird. Per Schiff gelangen Odysseus und seine Leute nämlich „mit der Strömung den Okeanosstrom hinab" (κατ' Ώ κ ε α ν ό ν ποταμόν), verlassen diese später, um über das Meer noch vor Sonnenaufgang zur Insel Kirkes zurückzukehren." Die Fahrt geht daher über den Südteil des Okeanos zum äußersten Westrand der Welt und von dort nachtsüber mit der Strömung des nördlichen Okeanos zurück zu ihrem äußersten Osten. 100 Innerhalb nur eines einzigen Tages umsegelt Odysseus die gesamte Welt, wodurch die Größe des phantastischsten aller seiner Abenteuer, der Besuch der Unterwelt, eindrucksvoll unterstrichen wird. Mit dem Hades sind indessen weitere Beschreibungen von Schauplätzen verbunden, die Aufschlüsse über das Erd- bzw. Weltbild der Odyssee bieten. Innerhalb der Erzählung von Odysseus' Hadesfahrt wird zunächst die Heimat der Kimmerier als ein in ewiges Dunkel gehülltes Land beschrieben: „In Dunst und Wolken sind sie eingehüllt, und niemals blickt der leuchtende Helios auf sie herab mit seinen Strahlen, weder wenn er zum gestirnten Himmel aufsteigt, noch wenn er sich vom Himmel her wieder zurück zur Erde wendet, sondern böse Nacht ist über die armen Sterblichen gebreitet".101 Die Kim-

98

Vgl. Heubeck/Hoekstra 1990, 52. Fahrtbeschreibungen zum Totenland und von dort zurück nach Aiaia: 11, 8 - 2 2 und 11, 638-12,4; die Zitate entstammen den Versen 11, 13, 11,21, und 11, 639. 100 Zur Interpretation der einzelnen Angaben zur Route des Odysseus vgl. Karl 1967, 95-106, Heubeck/Hoekstra 1990,77-79, und Hölscher 1988,150f. Für Hölscher sind sie im Unterschied zu ersteren nicht geographisch, sondern erzählerisch gedacht und dementsprechend nicht zu einer Karte oder einem Modell zu ergänzen. Nicht im Detail, aber in den oben beschriebenen großen Zügen der Hadesfahrt des Odysseus stimmen aber alle drei Autoren überein. "Ol 11,14-19. 99

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merier kontrastieren daher zum einen mit den im Osten der Welt ihnen quasi gegenüber angesiedelten Laistrygonen, deren Land fast immer taghell erleuchtet ist. Geradezu gegenteilig nimmt sich zum anderen auch die Beschreibung des Elysischen Gefildes aus, das man sich ebenso wie die Kimmerier im fernen Westen der Erde vorstellen darf. Dorthin werden nur auserwählte Sterbliche entrückt - in der Odyssee werden ausdrücklich nur Menelaos und der blonde Rhadamanthys als solche bezeichnet - , denen nach dem irdischen Leben ein besseres Los bestimmt ist als das traurige Schattendasein im Hades. Trübes Winterwetter kennt man dort ebensowenig wie Regen oder Schneefall. Seine unter immerwährendem Sonnenschein weilenden Bewohner werden durch den vom Okeanos heraufwehenden, kühlen Westwind vor allzu großer Hitze geschützt. 102 Die Seelen der toten Freier nehmen in der sogenannten zweiten Nekyia einen anderen Weg in den Hades. Sie gehen an den Strömungen des Okeanos und dem Leukadischen Fels entlang, passieren die Tore des Helios und das Land der Träume, um schließlich auf die Asphodeloswiese, dem Wohnort der verblichenen Seelen, zu gelangen. Das Totenreich wird hier mit anderen Ausdrücken benannt, die aber nicht ausdrücklich mit der Erzählung von Odysseus' Hadesfahrt im Widerspruch stehen. Die in ihr genannten Schauplätze sind zumindest ebenfalls mit dem Sonnenuntergang und damit mit dem Westen der Welt verbunden. 103 Nicht ganz dasselbe gilt hingegen für Kirkes Beschreibung des Weges zum Hades, die sie Odysseus kurz vor seiner Abfahrt gibt, da in ihr eine weitere Vorstellung anklingt. Die Angabe, mit dem Nordwind zum Okeanos zu segeln und diesen zu durchmessen, läßt zunächst ebenfalls auf die Lokalisierung des Hades am Westrand der Welt schließen. Anders als die Erzählung von Odysseus' Hadesfahrt nennt Kirke dann aber die Kimmerier nicht, dafür „das flache Gestade und die Haine der Persephoneia" mit den Pappeln und Weiden, denen die Frucht verdirbt, von wo aus Odysseus in das modrige Haus des Hades gehen soll. Die darauf folgende nähere Beschreibung des letzteren als Ort, an dem die beiden Unterweltsströme Pyriphlegeton und Kokytos zusammenfließen und in den Acheron münden, weist auf die Vorstellung von dem Hades als unter der Erde befindliche Örtlichkeit und damit auf ein vertikales Weltbild hin. Ein solches läßt sich auch aus den zahlreichen Wendungen, daß man in den Hades hinabgehe 104 und nicht zuletzt an der Lokalisierung der Heimat der Götter über den Gipfeln des Olymp erschließen. Nicht mehr so deutlich wie in der Ilias, aber klar ersichtlich lebt daher auch in der Odyssee das dreiteilige Erdbild Hades - Erde - Uranos

102

4, 563-569. Die Einbindung des Kimmerierlandes in verschiedene mythische Schauplätze spricht wohl dafür, in den Kimmeriern nicht das historische Volk zu sehen, das in Kleinasien einfiel. Doch ist diese Frage umstritten (vgl. Hölscher 1988, 153-155; Heubeck/Hoekstra 1990, 77-79; Kammenhuber 1980, 594-596, Dihle 1994, 11 f.). '03 Vgl. Heubeck/Hoekstra 1990,77-79. •04 10, 1 7 5 . 5 6 0 = 11,65; 11, 165.475; 12,21; 23,252; 24,204. 105 „Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Homer wie Hesiod zwischen dem eigentlichen Aufenthaltsort der Seelen in der Erdentiefe und dessen Zugang auf der Erdoberfläche unterscheiden" (Karl 1967, 96), muß dieses dreiteilige, vertikale Erdbild auch für unser heutiges, nationales' Denken nicht im Widerspruch zur Lokalisierung der Unterwelt im Westen stehen.

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fort. 105 Die Beschreibung des Olymp stellt so gesehen denn nicht zufällig eine weitere Entsprechung zu dem Land der Kimmerier bzw. dem düsteren Schattendasein im Hades dar. Ebenso wie das Elysische Gefilde ist er ein von allen Wetterunbilden befreiter Ort, über den sich ein wolkenloser Himmel breitet, auf dem sich die Götter alle Tage erfreuen können. Die zwischen Olymp und Hades bzw. auf der horizontalen Ebene zwischen Kimmerier- bzw. Totenland und Elysischem Gefilde lebenden Menschen müssen ihr Leben auf einem Mittelweg zwischen den beiden hier aufgezeigten Extremformen des Daseins bewältigen. Wieder zurück auf Aiaia weist Kirke dem Odysseus ein weiteres Mal den Weg: Zuerst gilt es, dem betörenden Gesang der Sirenen zu widerstehen, danach hätte Odysseus die Wahl zwischen dem Felsen von Skylla und Charybdis und den Plankten, den Felsen des Scheiterns, die mit Ausnahme der Argo Jasons noch kein Schiff passieren hätte können. Die Erwähnung der Argo ist nicht nur der deutlichste Hinweis auf eine vorhomerische Argonautika innerhalb der Odyssee, 106 sie läßt zusammen mit Aiaia, das sich ja von Aia, dem Ziel Jasons, ableitet, den Schluß zu, daß die hier aufgezählten Örtlichkeiten Stationen einer Ostfahrt darstellen. Dazu zählt auch die letzte der von Kirke erwähnten Schauplätze, die Helios-Insel Thrinakia, obwohl die Verse XII325 f. aufs erste besehen auf ihre Lage im Nordwesten der Welt schließen lassen. Als Odysseus und seine Gefährten über die von Kirke angekündigten Stationen tatsächlich nach Thrinakia gelangen, hält sie dort nämlich ein unablässig wehender, stürmischer Süd- bzw. Südostwind von der Weiterfahrt ab, der in der Folge zu dem für Odysseus' Gefährten so verderblichen Frevel an den Rindern des Helios führt. Doch abgesehen davon, daß diese Windangabe auch anders interpretiert werden kann, weist der mythische Kontext gerade Thrinakia besonders deutlich in den Osten der Welt. So befinden sich die Helios-Töchter mit ihren Lichtnamen Phaethusa und Lampetie auf ihr, die mit den Rossen der Morgenröte, Lampos und Phaethon, zusammengehören 107 und stellt sich die Verbindung zu Aiaia als besonders eng dar, ist Kirke doch die Tochter des Helios und somit die Halbschwester Phaetusas und Lampeties. 108 Dazu kommt, daß Odysseus nach dem Schiffbruch, bei dem er nach der Abfahrt von Thrinakia seine letzten Gefährten verloren hat, nochmals zu einer der Stationen der Ostfahrt, dem Schlund der Charybdis, getrieben wird. Der aufgrund des realen geographischen Wissens für die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka notwendige,Sprung' vom Osten der Welt zurück in ihren Westen wird daher, wie schon vorher der Wechsel in umgekehrter Richtung, nur vage angedeutet. Nach dem Charybdis-Abenteuer treibt Odysseus ein weiteres Mal in unbekannter Richtung neun Tage auf dem Meer, um am zehnten Tag auf Kalypsos Insel Ogygia zu stranden. Diese wird - wie durch ihre Assoziation mit Atlas und die nautische Anweisung Kalypsos an Odysseus klar wird, auf der Heimfahrt nach Ithaka die ,Bärin' zur Linken zu halten -

106 Vgl. Heubeck/Hoekstra 1990, 121. 107

108

12, 127-136: Phaetusa und Lampetie werden von Kirke als Hirtinnen der göttlichen Herden erwähnt; 23, 246: Lampos und Phaeton sind die Füllen, die Eos tragen. Eine detaillierte Argumentation findet sich bei Hölscher 1988, 156f.

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vom Dichter ganz bewußt im Westen der Welt lokalisiert. Odysseus befindet sich am Anfang des Epos dort, wo sich das Meer gegen Abend hin ins Ungemessene öffnet, am Nabel der Welt. Zu seiner endgültigen Rückkehr in den Raum des realen geographischen Horizontes bedarf es freilich noch der Überwindung jener Distanzen, die die Brücke in die imaginäre Welt seiner Abenteuer darstellten. Zweimal trieb er neun Tage lang auf dem Meer, um am zehnten Tag das Lotophagenland bzw. Ogygia zu erreichen. Seine Reise nach Scheria dauert daher achtzehn Tage, ehe ihn vor der Phäakeninsel ein Sturm erfaßt, der mit exakt denselben Worten beschrieben wird, wie jener, der ihn am Beginn seiner Irrfahrt beim Maleia-Gebirge zu den Schauplätzen seiner phantastischen Abenteuer verschlug. 109 Genau am zwanzigsten Tag trifft Odysseus dann auch tatsächlich auf Scheria ein. Dieses liegt damit außerhalb des phantastischen Raumes der Apologoi, obwohl es als Eiland mit wundersamen natürlichen Voraussetzungen und einer Gesellschaft beschrieben wird, die nicht nur ideal, sondern noch dazu mit technischen Wunderwerken ausgestattet ist und sich daher nicht minder phantastisch als die auf Odysseus' Route vom Lotophagenland nach Ogygia liegenden Örtlichkeiten ausnimmt. Trotzdem steht die Phäakeninsel auch in anderer Hinsicht in der Nähe zur real bekannten Welt. Die nahezu perfekte soziale Ordnung der Phäakeninsel ist das entscheidende Vorbild für Ithaka. Unter Odysseus' Ägide werden dort ähnlich gute Verhältnisse möglich sein. In diesem Sinn können die beiden Inseln gleichgesetzt werden, was nicht zuletzt auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß Odysseus' sichere Heimkehr auf Scheria endgültig garantiert und die Distanz zu Ithaka daher auch im geographischen Sinn gleich Null ist: In einer einzigen wundersamen Nacht wird Odysseus in seine Heimat geleitet werden. Scheria befindet sich so gesehen ähnlich wie Libyen, Syria oder die Äthiopen in einer Art Mittellage zwischen mythisch-phantastischer und real bekannter Welt.

IV. Zum ethnographischen Weltbild der Odyssee (WS) Die gegenüber der Ilias vielschichtigere geographische Gliederung in der Odyssee geht Hand in Hand mit einem klareren Bewußtsein von den,Anderen', die nun auch differenzierter gesehen werden. Innerhalb des real bekannten geographischen Raumes wird einmal das im älteren Epos noch sehr vage Bild vom Reichtum der altorientalischen Hochkulturen schärfer und bekommt zugleich eine negative Schattierung. Die Phönikier fungieren als Händler, die wertvolle Gegenstände feilbieten. Die eher beiläufige Erwähnung des Byblos-Bastes, der Erzreichtum Sidons und vor allem der silberne Mischkrug mit Rändern aus Gold, den Menelaos von dem König der Sidonier erhalten hat und der sein

109

Die Apologoi werden damit formal von dem übrigen Stoff des Epos abgegrenzt. Als dementsprechend in sich geschlossen erweisen sich auch sowohl ihr Aufbau als auch die aus ihnen hervorgehende Interpretation der Odysseus-Abenteuer, wie die Arbeiten von Most 1989, 15-30 und Garrison 1989, 117-123 deutlich machen.

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wertvollstes Kleinod darstellt, 110 sind Zeugnisse für die griechischerseits bewunderte Handwerkskunst und den Reichtum der Phönizier. Doch weisen die phönizischen Händler zugleich eine negative Kehrseite auf. In der Erzählung, in der Odysseus dem Eumaios überzeugend vorgibt, kretischer Herkunft und nach Ägypten und Phönikien verschlagen worden zu sein, und in Eumaios' Erzählung von seinem eigenen Lebensweg werden sie mehrmals ausdrücklich als Betrüger geschildert, die auf Menschenraub und Beute aus sind. Eine weitere, an Athene gerichtete fiktive Geschichte des Odysseus, in der Phönizier als besonders ehrliche Gesellen erscheinen, wirkt dagegen besonders unglaubwürdig. 111 Den Phöniziern sind daher sehr wohl auch typische Züge fremdländischer Tücke eigen, hinter denen die Konkurrenz-Situation zwischen Griechen und Phönikiern um die Handelshoheit im Mittelmeerraum anklingt. 112 Ägypten präsentiert sich als ein nur wenig bekanntes Land, dessen Einwohner bewundert, zugleich aber auch gefürchtet werden. In der Geschichte der Irrfahrten des Menelaos werden sie allesamt als Medizinmänner bezeichnet, die sich der in Ägypten so zahlreich vorhandenen guten wie ,bösen' Kräuter zu bedienen wüßten. 113 Nicht minder zwiespältig erweist sich Ägypten hinsichtlich seines in der Odyssee ganz besonders gelobten Reichtums. Menelaos und Helena kehren aus Ägypten mit Gaben zurück, die zu besitzen allzu wünschenswert erscheint. In der „ägyptischen Thebe..., wo die meisten Schätze in den Häusern liegen", erhielt Helena als Gastgeschenk der Alkandre neben anderen Schätzen einen silbernen Korb und eine goldene Spindel, während Menelaos von Polybos, dem Gemahl der Alkandre, zwei silberne Wannen, zwei Dreifüße und zehn Pfund Gold entgegennehmen durfte. 114 Daß andererseits Fremden, die es aufgrund seines legendären Reichtums nach Ägypten verschlägt, übel mitgespielt werden kann, geht aus den Lügengeschichten des Odysseus hervor. Ihnen kann eine binnen kürzester Zeit zusammengestellte Übermacht entgegentreten, die unter der Führung eines Königs wohlorganisiert, Tod und Verderben zu bereiten imstande ist. 115 Zum anderen finden sich innerhalb des real bekannten Raumes der Odyssee - freilich noch vage - Hinweise auf .primitivere' Völkerschaften, wovon etwa die Erzählung von

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21, 390f., 15,425 und 4 , 6 1 5 - 6 1 9 (= 15,115-119). 14, 191-359 (Odysseus' Lügengeschichte für Eumaios), insbes. 285-313; 15, 389-494 (Eumaios' Lebensweg), 13, 256-286 (Odysseus' Lügengeschichte für Athene, zu ihrer Interpretation vgl. Latacz 1990b). Zu dem schillernden Phönizierbild in der Odyssee vgl. Latacz 1990b, 11-21, und Bichler 1990b, 13f. Vgl. auch unten 151-154. 4,219-234. Zum medizinhistorischen Gehalt der Episode vgl. Lorenz 1990, 3 Iff. und 66 ff. Zur Aurades Unheimlichen, die hier mit anklingt, vgl. Schwabl 1962, 16f. 4,120-137. Die Episode, in der griechische Eindringlinge von einem starken ägyptischen Heer niedergemacht werden, wird in Odysseus' Lügengeschichte für Eumaios erzählt (14, 191-359, insbes. 14, 257ff.) und in einer weiteren Lügengeschichte für den Freier Antinoos verkürzt wiederholt (17,415-444,427-441 = 14, 258-272). Zum nicht zu hoch zu veranschlagenden historischen Hintergrund der Episode vgl. Haider 1988, 216-220.

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Odysseus' Plünderung der Kikonenstadt Ismaros zeugt. Diese verläuft in ihren großen Zügen parallel zu dem innerhalb der schon angesprochenen Lügengeschichte für Eumaios geschilderten Einfall in Ägypten. In beiden Fällen beginnen die Griechen, sofort nach der Landung die männliche Bevölkerung niederzumachen und das fremde Gebiet zu plündern. Beide Male halten sie sich dabei nicht an die Weisungen ihres Anführers und müssen in Folge katastrophale Niederlagen einstecken. Eine von den Kikonen bzw. den Ägyptern aufgestellte Heeresmacht vertreibt bzw. tötet oder versklavt die Eindringlinge. 116 Während die Kikonen aber der Hilfe ihrer Nachbarn bedürfen, um sich mit Streitwägen oder zu Fuß den Griechen entgegenzuwerfen, treffen letztere in Ägypten auf die wohlorganisierte, unter Führung eines Königs stehende Streitmacht einer einzelnen Stadt. Das ägyptische Heer tritt zu Fuß und zu Pferd an und läßt seinem Gegner anders als die Kikonen, vor denen sich Odysseus unter Verlusten retten kann, keine Chance. Die Autorität des Königs läßt dem von Odysseus erfundenen kretischen Anführer der Griechen in Ägypten aber immerhin die Möglichkeit, erfolgreich an das Gastrecht zu appellieren und so sein Leben zu retten - eine Möglichkeit, die er bei den nicht so gut organisierten Kikonen kaum wahrnehmen hätte können. Als Schützling des Königs kann der kretische Anführer in der Folge in Ägypten denn auch Schätze gewinnen, während sich die Beute im Kikonenland auf einfachere Güter beschränkt. 117 Den Kikonen fehlt dagegen sowohl eine feste Organisation als auch eine übergeordnete Institution und damit charakteristische Merkmale entwickelter Zivilisationen. Der Dichter hat sie daher möglicherweise als zivilisatorisch weniger entwickelt als die Ägypter und wohl auch die Griechen selbst betrachtet. Dasselbe mag darüber hinaus auch für die Sikeler gelten. Sie werden in der Odyssee freilich nur sehr knapp erwähnt, doch zeigt vor allem die beiläufige und daher als nicht besonders erklärenswert empfundene Nennung der „sikelischen Alten" am Hof des Odysseus, 118 daß sikelische Sklaven den damaligen Zeitgenossen geläufig waren. Die phantastische Welt der Abenteuer des Odysseus bietet mit ihren utopischen Schauplätzen die Möglichkeit, Extrembilder vom .Anderen' zu zeichnen. Dort wohnen zum einen die Kyklopen und Laistrygonen auf Eilanden, die beste natürliche Bedingungen aufweisen und die für die zeitgenössischen griechischen Seefahrer aufs erste besehen nur allzu verlockend erscheinen müssen. Beide Inseln weisen ideale Naturhäfen auf. Im Zuge des Laistrygonenabenteuers steuert Odysseus' Flotte auf einen herrlichen

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Kikonenepisode: 9, 39-61, Einfall in Ägypten: 14, 257-286. Zur Parallelität der beiden Erzählungen vgl. Heubeck/Hoekstra 1990, 15f. In Ägypten gewinnt Odysseus durch die Gunst des Königs π ο λ λ ά . . . χρήματ', was an den mit prunkvollen Reichtümern aus Gold, Silber und Edelsteinen aus Ägypten heimgekehrten Menelaos denken läßt (14, 285f.; vgl. Heubeck/Hoekstra 1990, 212). Bei den Kikonen gewinnt er κτήματα πολλά (9,41) dagegen auf einem Beutezug, dessen Ziel das bewegliche und wohl nicht so prächtige Gut der dortigen Bevölkerung darstellte. Die Bedeutung von χρήματα liegt denn auch stärker auf „Eigentum, Güter in Form von Geld" als die von κτήματα (vgl. Pape, 1902. Lidd.-Sc. s. ν. κτήμα, χρήμα). 24, 211, 366, 389, als „alte Dienerin" des Laertes wird sie schon in 1, 191 eingeführt (vgl. Russo/Fernandez-Galiano/Heubeck 1992, 383.

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Hafen zu, „... um den sich rings der Fels hinzieht, steil aufsteigend, fort und fort auf beiden Seiten, und vorspringende Gestade ragen vor, einander gegenüber an der Mündung, und schmal ist die Einfahrt".119 Bis auf Odysseus' eigenes Schiff gehen denn auch alle Schiffe der Ithakesier dort vor Anker. Die Kyklopeninsel wird zudem ausdrücklich als überaus fruchtbares Land gepriesen, dem die kundige Hand griechischer Siedler alle nur erdenkbaren Früchte entlocken könnte: „Diese hätten ihnen (seil, den Kyklopen) wohl auch die Insel zu einer gutbebauten machen können; denn sie ist gar nicht schlecht, und sie würde alles tragen nach der Jahreszeit. Denn auf ihr sind Wiesen an den Gestaden der grauen Salzflut, feuchte, weiche: da könnten recht wohl unvergängliche Reben sein. Und ebenes Ackerland ist darauf: dort könnte man recht wohl eine tiefe Saat jeweils zu den Zeiten der Ernte schneiden, denn sehr fett ist der Boden darunter. Und auf ihr ist ein Hafen, gut anzulaufen, wo kein Haltetau nötig ist und auch nicht nötig, Ankersteine auszuwerfen und eine Zeit zu warten, bis der Mut der Schiffer sie treibt und die Winde heranwehen. Doch am Kopf des Hafens fließt helles Wasser, eine Quelle, hervor aus einer Grotte, und Pappeln wachsen darum".120 Die erste Begegnung mit den Laistrygonen führt Odysseus' Späher zunächst in ein vertrautes Ambiente. Die Situation weist viele parallele wie konträre Züge zur Ankunft des Odysseus auf der Phäakeninsel auf. An einer Quelle treffen sie auf ein Mädchen, das dort, außerhalb der festen Siedlung, Wasser schöpft. Dieses geleitet die Gefährten zum Haus ihres Vaters Antiphates, des Anführers der Laistrygonen, der daraufhin von einer Versammlung auf der Agora weggerufen wird. Eine feste Siedlung mit Häusern, in denen Familien wohnen, eine Männerversammlung am Marktplatz sind Charakteristika einer Gesellschaftsform, die an die vertrauten griechischen Verhältnisse erinnern. Die weitere Handlung steht freilich in jähem Kontrast dazu. Antiphates erweist sich nämlich als riesenhafter, roher Menschenfresser, der sich sofort einen der Kundschafter zum Mahle bereitet, und daraufhin gemeinsam mit seinen nicht minder riesigen und zudem sehr zahlreichen Artgenossen Jagd auf die im Hafen ankernden Griechen macht: „ Und wie Fische spießten sie sie auf und trugen sie mit sich fort zur unlieblichen Mahlzeit".121 Die auf den ersten Blick so,griechisch' anmutenden Laistrygonen sind in Wahrheit grausame Menschenjäger, die weder Gastfreundschaft kennen noch Respekt vor den Göttern haben, die Recht und Ordnung schützen. Der ideale Naturhafen mit seiner engen Einfahrt entpuppt sich als tödliche Falle, der mit Ausnahme des vorsichtigen Odysseus niemand entkommen kann. Er steht für die Zwiespältigkeit der Laistrygonen, deren Beschreibung durch den Odysseedichter uns im Unterschied zu den noch vagen Schilderungen der am fernen Rand der Erde lokalisierten ,Anderen' in der Ilias ein recht konkretes Doppelbild ebenso faszinierender wie abstoßender Fremde vor Augen führt. Dieses Doppelbild tritt in der Schilderung der Kyklopen noch schärfer hervor. Denn so sehr ihre Heimatinsel einerseits als fruchtbares und ideal zu kultivierendes Land 119 120 121

10,87-90. 9, 130-141. 10,124.

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gepriesen wird, so sehr mangelt es den Kyklopen andererseits an jeglicher Zivilisation. Sie werden als völlig recht- und gesetzlose, brutale Menschenfresser beschrieben, denen im Unterschied zu den Laistrygonen auch feste Siedlungen mit Häusern, Ratsversammlungen und andere politische Institutionen total unbekannt sind. Jeder lebt für sich allein in Höhlen, in denen er über seine Familie herrscht. Ackerbau und Schiffahrt sind der Kyklopen Sache nicht, setzt beides doch technische Kenntnisse voraus, die die zivilisatorische Entwicklung dieses Volkes bei weitem übersteigen. Wenn ihnen „Weizen und Gerste und Reben, die einen Wein von großen Trauben tragen", trotzdem aufs beste gedeihen, sich die Ziegen und Schafe von selbst zum Melken drängen, sodaß es an Käse und Milch nicht fehlt, so geschieht das ausschließlich aufgrund der paradiesischen, für die Griechen im Kolonisationszeitalter so verlockenden natürlichen Bedingungen. 122 Die absolute Kulturlosigkeit der Kyklopen steht in schärfstem Kontrast dazu und wird in der Odyssee als abstoßend gewertet. Die Kyklopen, die sich weder um Zeus noch um die anderen der seligen Götter kümmern, freveln am Gastrecht. Dementsprechend ruft der nach der geglückten List fliehende Odysseus dem Polyphem denn auch zu, daß seine Blendung als Strafe der Götter zu verstehen sei. 123 In einem nicht minder utopischen Umfeld als Laistrygonen und Kyklopen leben schließlich die Phäaken. So ist etwa das Wasser des Flusses, an dem Nausikaa und ihre Mägde die Wäsche waschen, von einer derartigen Qualität, daß es jeglichen Schmutz entfernt und das Gras an seinen Ufern den Maultieren süß wie Honig schmeckt. 124 Geradezu als Paradiesgarten aber nimmt sich der Garten des Alkinoos inmitten der Phäakenstadt aus: „Da wachsen große Bäume, kräftig sprossend: Birnen und Granaten und Apfelbäume mit glänzenden Früchten, und Feigen, süße, und Oliven, kräftig sprossend. Denen verdirbt niemals die Frucht noch bleibt sie aus, Winters wie Sommers, über das ganze Jahr hin. Sondern der West bläst immerfort und treibt die einen hervor und kocht reif die anderen. Birne altert auf Birne und Apfel auf Apfel, Traube auf Traube und Feige auf Feige. Dort ist ihm, reich an Früchten, auch ein Weingarten gepflanzt, wovon der eine Teil als Trockenfeld auf einem ebenen Platz gedörrt wird in der Sonne; andere Trauben lesen sie und andere keltern sie. Und vorn sind Weinbeeren, die die Blüte abwerfen, andere bräunen sich schon ein wenig. Dort sind auch geordnete Gemüsebeete die letzte Reihe entlang gepflanzt, von aller Art, die prangen über das ganze Jahr hin ".125 In diesem Garten befinden sich zwei Quellen, deren eine für den Garten selbst Wasser spendet. Die zweite aber speist Alkinoos' Palast und dient zur Wasserversorgung der Phäaken, wodurch der König als Versorger seiner Untertanen ausgewiesen wird. 126 Ganz im Gegenteil zu den primitiven Laistrygonen und Kyklopen wird im Fall der Phäaken eine auf diesem eutopischen Umfeld aufbauende, hochentwicklte Kultur-

122 123 124 125 126

9, 105-115,216-223, Zitat 9, 109f. 9, 275 f. und 475-479. 6,85-90. 7,114-128. 7, 129-131; vgl. Ferguson, 1975, 14.

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gemeinschaft präsentiert, die sich vor allem in folgenden zwei Bereichen als vorbildhaft erweist: Sie ist zum einen durch glanzvolle technische Leistungen gekennzeichnet, wie sie für hochstehende Zivilisationen typisch sind. Damit sind - auch - kunstvolle Handwerksprodukte aus kostbaren Rohstoff gemeint, wie etwa das goldene Gefäß, aus dem Nausikaas Mägde dem gestrandeten Odysseus Salböl anbieten, insbesonders aber die von Odysseus bewunderte Stadt mit ihren Hafenanlagen, Schiffen und wohlbefestigten Mauern und vor allem Haus und Garten des Alkinoos. Letzterer hat zwar wundersame natürliche Voraussetzungen, sein Gedeihen bzw. seine Nutzung setzt aber - wie sich insbesonders anhand des Weingartens zeigt - entwickelte landwirtschaftliche Kenntnisse und Techniken voraus. Ebensolche sind auch für Alkinoos' Palast mit seinen goldenen Türen inmitten silberner Türstürze, den goldenen und silbernen Wachhunden des Hephaistos oder den goldenen, fackeltragenden Knaben Voraussetzung und werden am Ende der Beschreibung des Palastes auch konkret angesprochen: „ Und es sind ihm fünfzig dienende Frauen in dem Hause: die einen mahlen auf der Mühle apfelfarbenes Korn, die anderen weben Gewänder und drehen Wolle auf der Spindel, sitzend, wie die Blätter der schlanken Pappel, und von dem gutgeketteten Linnen träuft feuchtes Öl. So weit die Phaiaken geschickt sind vor allen Männern, ein schnelles Schiff auf dem Meer zu führen, so ihre Frauen kunstreich in Geweben, denn über die Maßen hat ihnen Athene gegeben, daß sie sich auf gar schöne Werke verstehen wie auch auf treffliche Gedanken." Sind die goldenen Knaben und die goldenen und silbernen Hunde wohl als Hommage an die Automaten-Mädchen des hinkenden Gottes in der Ilias zu denken, so erinnern sie gemeinsam mit dem gesamten hier ausgebreiteten palatialen Prunk auch an die Beschreibungen der Paläste des Menelaos und des Priamos in der Ilias. 127 Allesamt dürfen diese Beschreibungen aber wohl als poetisch verarbeiteter Reflex noch sehr vager Vorstellungen von dem Reichtum altorientalischer bzw. ägyptischer Residenzen verstanden werden, wie sie etwa in der bereits zitierten, kurzen Beschreibung des ägyptischen Theben anklingen. Dafür spricht denn auch, daß die Phäaken ebenso wie etwa die gleichfalls bewunderten Ägypter nicht durchwegs positiv gezeichnet sind. Fremden sind sie nämlich keineswegs von vorneherein freundlich gesonnen, wie Athene den Odysseus zu warnen weiß. Gemeinsam mit dem gelegentlich als allzu wunderbar charakterisierten Glanz ihrer technischen Kunstfertigkeit liegt darin eine - freilich nicht so ausführlich beschriebene - unheimliche Seite der ansonsten so bewunderten phäakischen Zivilisation. Scheria wird jedoch überdies durch die perfekte Harmonie seiner gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgehoben, die es - als letzte Station des Odysseus vor seiner Rückkehr in die Heimat - als quasi ideales Gegenbild zu Ithaka erscheinen lassen. Zwölf Könige stehen den Phäaken als Führer und Besitzer eines ihnen vom Volk übertragenen Amtes vor, während es auf Ithaka exakt zwölf Freier sind, die die Gastfreundschaft mißachten 127

4 , 7 1 - 7 5 (vgl. auch oben 127, 132); 6, 242-249; auf die Zahl fünfzig, mit der eine außerordentliche Fülle angezeigt werden soll, belaufen sich nicht nur die Dienerinnen des Alkinoos, sondern auch die Söhne und Schwiegertöchter des Priamos (vgl. Bichler 1995a, 35)

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und zusammen mit zahlreichen weiteren Freiern aus den Nachbarregionen nach Odysseus' Frau und Hab und Gut verlangen. 128 Über allen steht der dreizehnte und oberste König, Alkinoos. Er, der Gedanken weiß, die von den Göttern sind, herrscht weise und unumstritten über das Phäakenvolk, das ihn wie einen Gott verehrt. 129 Aber auch die anderen zwölf Könige sind ihm ganz im Gegensatz zu dem Verhältnis Odysseus - Freier auf Ithaka Untertan. So leisten sie zweimal seiner Forderung nach Geschenken für Odysseus Folge, erscheinen regelmäßig zu seinen Gastmählern und so werden bei der Volksversammlung des Alkinoos Beschlüsse auch von den anderen Basilees unwidersprochen akzeptiert. 130 Diese unumstrittene Herrschaft des Alkinoos garantiert den Frieden nach innen: Keiner der anderen basilees lehnt sich gegen ihn auf, die dienenden Frauen gehen nebeneinander sitzend ihrer Arbeit nach, während es viele Mägde auf Ithaka mit den Freiern halten. 131 Die Form des Zusammenlebens auf Scheria ist - um es auf einen Nenner zu bringen - so, wie man es sich für Ithaka, aber auch die übrige griechische Welt nur wünschen mag, grundsätzlich aber kaum anders als die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn Odysseus nach den Erzählungen seiner Abenteuer endgültig nach Ithaka zurückkehrt, werden die Gastgeschenke der Phäaken zumindest einen Abglanz vom Reichtum Scherias auf ihn werfen und seine Stellung als Oberbasileus der des Alkinoos ähneln. Grundsätzliche strukturelle Änderungen der Gesellschaft seiner Heimat werden damit aber nicht erwartet. Die Utopie des Phäakenlebens ist in ihren wesentlichen Zügen auf die gute Erfüllung der bereits bekannten Verhältnisse beschränkt.

V. Ausblick: Zur weiteren Entwicklung des historischen Bewußtseins (RB) *

Die nachhomerische Literatur der früharchaischen Zeit bietet eine Fülle von Indizien dafür, daß sich das,Weltbild' im schlichten Sinne des Wortes sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Sicht erweiterte. Das gilt schon für Hesiod, den zweiten Heros Ktistes der griechischen Literatur, der sich zwar thematisch in regional weit engeren Kreisen bewegt als die Großepik, vermutlich aber ganz besonders starke Impulse durch orientalische Vorbilder erfuhr. 132 128

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8, 390f. (zwölf Könige der Phäaken); 7, 150 (Ämter der Phäakenkönige), 16, 251 (zwölf Freier aus Ithaka); zur Zahl zwölf als Bezugspunkt zwischen Scheria und Ithaka vgl. Bichler 1995a, 36. 6, 12; 7, 11. 8, 389; 13, 13f. (Geschenke für Odysseus); 7, 136f., 8, 456 (Teilnahme an Gastmählern); 8, 2 7 ^ 5 (Akzeptanz der Beschlüsse); zur Bedeutung der Einladung zum Gastmahl durch den obersten Basileus und ihrer Folgeleistung durch die anderen Basilees für die Hierarchie unter den Führern der homerischen Welt vgl. Ulf 1990 195-202. 7 , 1 0 3 - 1 0 7 (Dienerinnen auf Scheria); 20,6f. (Mägde auf Ithaka). Alkinoos wird nicht nur als Garant des inneren Friedens dargestellt, die Dichter von Ilias und Odyssee erwarten sich von einem gerechten Oberbasileus wie Alkinoos (aber auch den Herrscher von Syria oder den der Schildbeschreibung) darüber hinaus auch die Lösung bestehender Probleme. Es geht dabei nicht nur um die bekannten literarischen Motive in Theogonie und Erga, sondern auch um die Gestalt des sozialen wie moralischen Mahners; vgl. dazu Seybold/Ungern-Stemberg 1993.

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Wie sehr die Hesiod'schen Gedichte ein Bewußtsein vom Bestehen langer zeitlicher Perioden, die zwischen den Anfängen der Welt und dem jetzigen Leben der Menschen liegen, vermittelten, ist wohlbekannt. Für ihre Systematik der Wirkkräfte in der Welt, von naturhaften Mächten und göttlichen Gestalten bis hin zur Personifikation menschlicher Triebe, Eigenschaften und Beziehungen mußte die Theogonie die mythische Vorzeit stärker schichten. 133 In der Sukzession von Göttergeschlechtern und der genealogisch geordneten Zeugung von personifizierten Wirkkräften werden dabei durchaus ,protohistorische' Elemente greifbar, ohne daß sie damit schon für die Strukturierung einer Geschichte des Menschengeschlechts umgesetzt worden wären. Auch die Rolle der kollektiven Erinnerung erhält ihren zentralen Platz primär durch ihre soziale und moralische Funktion. Denn durch Metis, die buchstäblich inkorporierte Klugheit abgesichert, vermählte sich Zeus mit Themis, der Personifikation der rechtlichen Satzungen, und zeugte mit ihr drei Töchter: Eunomie, Dike und Eirene. Als ihre Schwestern gesellten sich diesen die drei Moiren zu und als Stiefschwestern die drei Chariten und die neun Musen, Töchter der Eurynome, die den Nomos zur Geltung bringt, und der Mnemosyne (Theog. 886-917; vgl. zu Mnemosyne und den Musen 53ff.). Dient letztere auch noch nicht der Etablierung einer im engeren Sinne historischen, sondern der einer mytho-historischen Tradition, so ist doch durch diese ihre Plazierung im Kontext der elementaren Garantinnen der sozialen Ordnung mit Mnemosyne eine,memoire collective' als Begriff präsent. 134 In den Erga bekommt nun das Menschengeschlecht selbst eine geschichtete Vorgeschichte, wenngleich auch hier - stärker als im Epos - die Kluft zwischen der Vorzeit und der Gegenwart - als der Gegenwart des eisernen Geschlechts - so akzentuiert ist, daß diese gegenwärtige Zeit in sich noch kaum Elemente einer vergangenen Geschichte erhält. Umso stärker entwickeln aber die Erga - für die griechische Literatur für lange Zeit recht singulär - ein Bewußtsein gestaltbarer Zukunft zwischen zwei extremen Polen: einer apokalyptisch anmutenden Selbstzerstörung der Lebensordnung und dem fast eschatologisch-heilsgeschichtlich anmutenden Ausblick in eine Zukunft, die dem Leben des goldenen Geschlechts nahekommt. 135 In dieser Ausrichtung auf eine potentielle Zukunft liegt ein ebenso bedeutendes Element ,protohistorischer Historie' wie in der historisierenden Plazierung des HeroenGeschlechts in die Abfolge der Metall-Geschlechter.136 Denn mit beidem setzt Hesiod

133 Vgl. zum Aufbau der Theogonie bes. Marg Hesiod 2 1984, 83-303. 134

135 136

Caldwell 1987, 32 zu Theog. 53ff. weist generell auf die Rolle der Mnemosyne „to a poet whose tradition is entirely or largely orally transmitted". Lapidar West 1966, 174 zu V. 54: „The importance of memory to the oral poet needs no stressing"; ebd. auch weitere Stellen in der nachhesiodschen Tradition, die die Gestalt der Mnemosyne aufnahm. Sie dürfte vielleicht erst von Hesiod eingeführt worden sein; vgl. Marg 2 1984,92. Vgl. Bichler 1995a, 45ff. Die vielfach behauptete orientalische Provenienz des Bildes einer Zeitfolge in vier Stufen, die mit MetallWerten korrespondieren, ist umstritten. Die literarischen Gestaltungen des sogenannten Metall-Zeitalter-

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die Zeit unseres Menschengeschlechts in das Spannungsfeld zwischen einer schon von den epischen Dichtern literarisch vergegenwärtigten Vorzeit und einer prophetisch geschauten Zukunft. Die starke Trennlinie zwischen heroischer und nachheroischer Zeit, die die Erga suggerieren, wird nun in der früharchaischen Dichtung unter dem Einfluß des homerischen Vermächtnisses keineswegs so strikte gesehen. Schon die ältesten mit Homers Namen geadelten hymnischen Dichtungen vergewissern sich der kultischen Handlungen und der religiösen Erwartungen als einer gestifteten und gewachsenen Größe. Die Götter selbst haben die Sterblichen gelehrt. Dabei ist durchaus ein Bewußtsein für Älteres und Jüngeres, für eine geschichtliche Abfolge im Wirken der Götter zu spüren. Aber ebenso bedeutsam wie die zeitliche Tiefe in der göttergewirkten Vorzeit ist ihr unmittelbarer Konnex zu aktuellen religiösen Erwartungen und damit der Gegenwartsbezug dieser Dichtung. Im Einzelfall zeigen sich bereits verblüffende Denkfiguren, wenn der Hymnos an den delphischen Apollon aus der Vergangenheitsperspektive der göttlichen Prophetie selbst auf eine Zukunft verweist, in der gezwungenermaßen Veränderungen in der Situation des Heiligtums zu gewärtigen sind (Hymn. Apoll. 540ff.). Dabei geht es vermutlich um Veränderungen, in denen die Zeichen einer dem Dichter und seinem Publikum noch recht gegenwärtigen nahen Vergangenheit zu sehen sind. 137 Auch außerhalb der kultischen Dichtung sind mythopoetische Vergangenheit und poetische Gegenwartsreflexion dicht ineinander verwoben. Schon die Übertragung des episch-heroischen Gestus auf die Gegenwart oder die literarisch gestaltete jüngere Vergangenheit verschleift die Distanz zur Vorzeit. Im konkreten Fall kann dabei durchaus mit den epischen Formeln gespielt werden. Es kann ihnen auch - etwa in der jambischen Invektive des Archilochos - eine regelrechte Absage erteilt werden. Aber es sind im Grunde alle Schattierungen der Tonlage möglich. So hält Semonides (F 3 West) wunderbar die Schwebe zwischen Ironie und Pathos, wenn er - die Glaukosworte der Ilias im Ohr 138 - die Kürze des aktuellen Lebens der Dauer des Todes gegenüberstellt, in die alle Vergangenheit einmündet: „Die Zeit, die wir zum Totsein haben, die ist lang, am Leben sind wir wen'ge Jahre nur- und schlecht",139

Mythos im jüdisch-hellenistischen, indisch-hinduistischen und iranisch-zoroastristischen Schrifttum sind wesentlich jünger als Hesiod. Die Rekonstruktion eines - babylonischen - Urmythos von vier aufeinanderfolgenden Zeitaltern, die von vier Planeten-Göttern mit Metall-Symbolik beherrscht werden, entbehrt einer direkten Bezeugung. Vgl. zum kontroversen Thema etwa Gatz 1967,7-28, mit entsprechenden Verweisen auf die außergriechischen Parallel-Texte; Schwabl 1978, 783-850, bes. 784ff. und 812ff., mit einem lapidaren Urteil: „Die Frage bedarf der Neubehandlung" (ebd. 789); vgl. auch die quellenkritische Behutsamkeit bei Momigliano 1988 bes. 53ff. 137 Der Passus V. 540-543 schafft notorische Probleme. Ihn auf den „Heiligen Krieg" zu beziehen, verträgt sich nicht mit einer recht frühen Datierung des Hymnus; vgl. etwa Allen/Halliday/Sikes 1936,266f. - Für eine allgemeine Bezugnahme auf die Installierung der Amphiktyonen vgl. etwa Humbert 1936, 101; Cässola 1975,91f. und 515f. '38 Ilias VI 146-149; vgl. Semonides F 8 West Z. 1-2. 139 Übersetzung: Latacz 1991, F 3.

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Doch zeugt vor allem die Elegie und das in ihr entwickelte, über den engeren Symposiastenkreis hinaus und in die Vergangenheit zurückprojizierte kollektive ,wir' von der Anbindung der eigenen Zeit an die epische Vorbildlichkeit als einem konstitutiven Element, aus dem sich eine ,Protohistorie' speisen konnte, 140 eine Protohistorie, die freilich mit dem Bogen von der episch-heroischen Zeit zur jüngeren Vergangenheit und zur Gegenwart allemal ein,floating gap' überspannen mußte. 141 Wenn Kallinos oder Tyrtaios den Geist homerischer Kampf-Paränese auf eine Situation übertragen, in der es - sei es im Kontext der Abwehrkämpfe gegen die Kimmerier, sei es in der Geschichte des Streits um Messenien - um das nachwirkende Vorbild einer jüngsten Vergangenheit geht, 142 so ist schon der Boden für eine historisierende Darstellung bereitet. In ihr wird zum einen die Gegenwart von einer verklärten heroisierten Frühzeit her beleuchtet, zum anderen aber soll ihr auch durch das Vorbild der jüngsten Vergangenheit eine Norm vor Augen geführt werden. In der Tat weisen Indizien darauf hin, daß schon in früharchaischer Zeit auch eine Langform elegischer Dichtung entstand, die einen weiten Bogen von der Zeit der Ktisis aktueller Ordnung und von mythischen Vorbildern hin zu einer narrativen Präsentation jüngerer und jüngster Geschichte spannte. 143 Vielleicht ließe sich solcherart die Eunomie des Tyrtaios 144 schlüssig interpretieren, zu der dann die bekannte delphische Legitimation der Grundregeln des Gemeinwesens ebenso zählen könnte wie die Notation der Eroberung Messeniens und der Zeit des Königs Theopompos. 145 Einen analog diskutierten Fall bildet die Smyrneis des Mimnermos. 146 Auch wenn man F 9 West 147 traditionell nicht zur Smyrneis rechnen möchte, bleibt die Bedeutung des kollektiven ,wir', mit dem da Vergangenheit in einer - begrenzten - Öffentlichkeit erinnert wird, groß. 148 **

Die Notwendigkeit, sich mit den wandelnden Erfahrungen der eigenen Gegenwart in ein immer wieder neu überdachtes Verhältnis zur literarisch fixierten mytho-heroischen Zeit zu setzen, gilt auch für die darin zum Ausdruck gebrachte,Weltanschauung' im ethnographischen Sinn. Doch hatte das Epos mit seiner Kontrastierung zwischen reicher Zivilisiertheit und kruder Roheit des Lebens eine Kulturtheorie in nuce gestaltet, die sich

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„...sympotic mnemosyne is clearly one of the roots, hitherto little recognized, of the growth of historiography..."; Rosier 1990,236. 141 Vgl. dazu Ungern-Sternberg 1988, Anm. 64 zu 249. 142 Vgl. vor allem Latacz 1977. 143 Zum ursprünglichen Umfang dieser Dichtungs-Gattung und zu ihrem „Sitz im Leben" vgl. Bowie 1986, bes. 27ff.; Latacz 1990a. 144 Zum historischen Hintergrund von Tyrtaios' elegischer Dichtung generell vgl.u. a. Tigerstedt 1965,51 ff; Bringmann 1975; Thommen 1994, 25ff. 145 Argumente dafür, daß die Eunomie des Tyrtaios eine umfassendere Dichtung mit identitätsstiftendem mythisch-historischem Gehalt war, bietet Bowie 1986, 30f. 14 6 Vgl. Bowie 1986,28ff. 147 Mimnermos F 9 West; griechisch-deutsch bei Latacz 1991, 180f. ebd. F 1. 148 Vgl. in diesem Sinne Rosier 1990,235.

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als äußerst anpassungsfähig erweisen sollte. Bemerkenswerterweise zeigt sich dabei bereits in der Odyssee eine gewisse Ambivalenz der Bewertung an: die fremde Zivilisation ist bewundernswert und verlockend - sie ist aber auch mit einem unheimlichen Ambiente umgeben und man muß vor ihren Repräsentanten auf der Hut sein. 149 - Zum anderen gewinnt sogar das Bild der extremen Roheit und Normenlosigkeit des Lebens durch das idyllische Ambiente, in das es gestellt ist, einen eigentümlich suggestiven Aspekt: So scheint ein Glanz idyllisch-einfachen Hirtenlebens über der Kyklopeninsel zu liegen und deren monströse Wildheit fürs erste Hinsehen zu verschleiern. 150 Mit der wachsenden Befahrung des Mittelmeerraums rückten die Randbereiche der Oikumene und ihre vermeintlichen Anwohner in weitere Ferne. Ein hübsches Zeugnis dafür, wie das literarische Bewußtsein diese Ausweitung des Raums spiegelt, bildet die Geryoneis des Stesichoros. Sein mytho-poetisches Gedicht ist nicht mehr wie vermutlich die Odyssee durch ihre poetische Konstellation darauf verwiesen, die Gefilde eines mythischen Westens recht nahe an die griechische Welt heranreichen zu lassen. 151 So handeln die Abenteuer des Herakles in einem utopisch verbrämten Westen, in dem der silberreiche Tartessos-Fluß ein Grenzland darstellt, von dem aus Herakles auf die Insel Erytheia aufbricht, um die Rinder des dreileibigen Riesen Geryoneus zu rauben. Weiter draußen im Meer liegen dann die Inseln der Hesperiden mit ihren Häusern aus Gold. 152 Mit der Verschiebung des mythischen Raumes und der traditionellen Randvölker 153 eröffnet sich in den inneren Räumen des Weltbildes Platz für neue Wilde: Die Angehörigen der im Zuge der eigenen Akkulturation als zivilisatorisch unterlegen empfundenen Nachbarschaft im Raum der griechischen Kolonisation treten ins hellere Licht. Von elementaren, im Kampf-Erleben bestätigten' Stereotypen, wie sie etwa die „thrakischen Hunde" bei Archilochos 154 oder die „frevlerischen Kimmerier" bei Kallinos 155 veranschaulichen, führt der Weg zu den bekannten abwertenden Barbaren-Klischees der klassischen Literatur.156

149 150

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Vgl. auch Schwabl 1962, bes. 16f. in bezug auf das Ägypten-Bild; Latacz 1990 b zum Phönizier-Bild. Nicht umsonst konnte rund 300 Jahre später in Piatons Nomoi das Kyklopen-Leben seiner schrecklichen Züge entkleidet und zum Urbild eines integren und schlichten Lebens im Anfangsstadium des zivilisatorischen Prozesses umgeformt werden (vgl. Nomoi III 680 bff.). Vgl. zu diesem Prozeß Kipp 1990, Bd. 1, 105ff. Kipp legt freilich den Finger auf den horrenden Aspekt der homerischen Kyklopen-Episode. Dazu Sieberer oben 137ff. Stesichoros F 7 Page PMG 184 = übersetzt bei Latacz 1991, ebd. F 2; Stesichoros S 8 Page SLG = übersetzt bei Latacz 1991, ebd. F 3. - Latacz 1991,345ff. bietet einen Überblick über den vermutlichen Gehalt der Dichtung. Vgl. Romm 1992,9ff. F 51 Diehl = 98 Lasserre/Bonnard = F 93a West; zum Konnex vgl. den Kommentar bei Lasserre/Bonnard 1958,32. F 3 Diehl = F 5 West. Zum Kimmerier-Begriff vgl. Kammenhuber, 1976/80. Detailliertere Nachweise bei Bichler 1995b; vgl. generell zum Übergang vom Fremdvölker-Bild der homerischen Zeit zum Barbaren-Bild der Klassik Schmal 1995.

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Nun hatte aber schon von Beginn der griechischen Literatur weg das RandvölkerDasein ein Doppelbild des Kuriosen und des Edlen geprägt, so daß sich mit der Ausformung der Stereotype des Wilden - in denen sich oft genug die Schrecken der eigenen Zivilisation bergen - auch das Gegenbild des ,edlen Wilden' mitgeformt hatte, in dem sich die Sehnsüchte der eigenen Welt spiegeln. 157 Indes blieben die Prototypen eines idealisierten einfachen Lebens bis in die nachklassische Zeit hinein recht stark an ihre imaginäre Lage am Rand der Oikumene gebannt und sollten erst unter dem Einfluß kulturund staatskritischer Strömungen der Philosophie stärker auf die ethnographische Erfassung der Nachbarwelten einwirken. 158 Die analoge Ambivalenz im Bilde der hochzivilisierten Fremde hingegen bestimmte von der homerischen Zeit weg die Vorstellung von den Ländern des Orients (unter Einschluß Ägyptens). Diese Länder und ihre,Hochkulturen' ragten seit den ersten literarischen Reflexen der Kolonisationszeit aus den diversen Zonen der Fremde heraus und zeigten, wie bereits betont, ein zwiespältiges Antlitz: erfüllt von kostbaren Gütern und überlegener Machtanhäufung, zugleich gefahrvoll und unbeständig. Durch die räumliche und politische Nähe zur Ägäis und der Städtewelt an der kleinasiatischen Westküste trat nun in früh- und hocharchaischer Zeit vor allem das Königreich der Lyder als Verkörperung von Macht und Reichtum einer fremden, im Vergleich zu Ägypten oder dem Vorderen Orient aber doch nicht so fremden Zivilisation ins Gesichtsfeld der Griechen. Die fragmentarische Dichtung bewahrt noch - von Archilochos und Alkman bis zu Sappho, Alkaios und Hipponax - einige Stimmungsbilder, in denen kostbare Güter, Reichtum an Gold und imperialer Glanz recht auffällig mit Lydien verbunden werden, wobei die Bewertung durchaus ambivalent erscheint. 159 Besonders deutlich wird der skeptische Ton freilich erst bei Xenophanes: „...doch da sie Prunk und Putz gelernt, unnützen, von den Lydern,/ solang sie frei noch waren von verhaßter Tyrannei,/stolzierten zur Versammlung sie in Mänteln ganz aus Purpur,/ nicht weniger als tausend Mann im ganzen ungefähr,/ von Stolz geschwellt, mit Locken prangend herrlich ondulieret,/ durch ausgesuchte Cremes von Duft geradezu getränkt/"16° Betrachtet man dieses elegische Fragment in seinem Kontext, 161 darf es vielleicht als 157

Daß es dabei zu einer vielfältigen Durchmischung des Erlaubten und des Verbotenen kommen kann und im dystopischen Bild der Roheit ebenso geheime Wunsch-Phantasien stecken können, wie das eutopische Bild idealisierten Daseins auch fade und gebrechlich wirken kann, trägt nur zum perennen Reiz der antiken Topik und ihrem immensen Einfluß auf die Moderne bei. Freilich bleibt die Veredelung des Wilden viel stärker auf utopische Randzonen begrenzt, indes sich Klischees abwertender Roheit bestens dazu eignen, auf das nächstgelegene „Fremde" projiziert zu werden. Vgl. dazu das Kapitel über die Utopika bei Homer und über die Genese der ethnographischen Utopik in: Bichler 1995 a, 9ff. und 1 lOff. 158 Vg] dazu unter dem besonderen Aspekt der Geschlechter-Rollen in der ethnographischen Topik Said 1985. 159 Vgl. dazu Schwabl 1962, bes. 19ff.; Bichler 1995 b. 160 F Β 3 Diels Kranz = F 3 West; Übersetzung nach Latacz 1991, ebd. F 18. 161 Athenaios XII 526 a/b respektive Phylarchos stellt das Zitat in entsprechenden Dekadenz-Kontext; mit der angesprochenen Tyrannis dürfte die Regierung eines lyderfreundlichen Stadtherrn gemeint sein, wie Arist. Pol. 290 b. nahelegt.

154

Reinhold Bichler/Wido

Sieberer

Meilenstein auf dem Weg zu einer in nuce sichtbaren Dekadenz-Theorie angesehen werden: Der Luxus fremder, vornehmlich orientalischer Provenienz schwächt demnach die ursprünglich intakt-rigide Gesittung der kulturell Angepaßten; Verweichlichung kann in weiterer Folge zu einer Bedrohung der Freiheit führen - im Inneren wie gegen äußere Feinde. Zweifellos hatte der Fall berühmter Metropolen des Orients und Ägyptens - von Ninos bis Sardes und weiter bis Babylon und Memphis - die Vergänglichkeit und Anfälligkeit jener imperialen Machtfülle und jenes zivilisatorischen Reichtums, der diese Stätten vormals ausgezeichnet hatte, eindrucksvoll vor Augen gestellt: „Dies sagt Phokylides auch: Ein hoch in den Felsen gebautes/ Redliches Städtchen ist besser als Ninives törrichtes Treiben".162 Die Topik des Vorzugs heimischer Bescheidenheit auf kargem Boden und von Unabhängigkeit, die auf einer festen Ordnung gründet, ist durchaus ein Vermächtnis der archaischen Dichtung und trug das ihre zu einer allmählichen Differenzierung des Barbarenbegriffs bei. 163 ***

Die klassische Geschichtsanschauung hat dann diese Topik im Bewußtsein der Siege von Salamis und Plataiai ausgebaut und vorzugsweise am Beispiel des medisch-persischen Großreichs demonstriert. Die Tragödie hat dazu bekanntlich mit ihrer Konzeption von Verblendung und Hybris als den Antrieben, die ihre Protagonisten ins Verderben stürzen läßt, das ihre beigetragen. Die Klima- und Milieu-Theorie in Art der pseudohippokratischen Umweltschrift hat das begriffliche Instrumentarium und die leitenden Aspekte für die Geschichtsanschauung erweitert. Aber erst die herodoteische Historie in ihren spezifischen Entstehungsbedingungen am Vorabend des Peloponnesischen Krieges hat eine Art von Grundmuster des historischen Wandels erfaßt, 164 das sich als eine dialektische Spannung im Verhältnis von Akkulturation und Dekadenz, von Machtzuwachs und dem Verlust an Selbsteinschätzung bezeichnen läßt. Die herodoteische Historie hat zugleich auch das tradierte Doppelbild von edler Wildheit und wilder Roheit, in dem sich die faszinierende und die bedrohlich wirkende Seite des anderen spiegelt und von dem sich die Suche nach eigener kultureller Identität abgrenzt, in eine feste ethnographische Anschauung umgeformt. 165 Er stellt dabei eine abgestufte Skala differenzierter Formen von Wildheit vor, die grob gesprochen vom Zen-

162

Phokylides F 4 Diehl; übers, bei Franyo/Snell/Maehler Bd. 1, 1971. 163 Vgl. dazu Funck 1981, bes. 29ff.; zur ersten universellen Anwendung bei Heraklit und ihrem mutmaßlichen historischen Hintergrund ebd. 30f.; Weiler 1968,24f. 164 Vgl. auch Nicolai 1986. 165 In der antiken Ethnographie hat das Bild der Fremde als Spiegel und Hohlspiegel der eigenen Welt eine wesentliche Funktion; vgl. dazu - auf Herodot bezogen - bes. Hartog 1980. Daß Hartog sich nicht recht auf die heikle Frage nach der möglichen Faktizität der fiktional überhöhten „Wahrnehmung" des Fremden in ethnographischen Gegenbildern einlassen will, stellt sicher ein Problem dar. Doch die fundamentale Kritik Walter Burkerts - „Wenn Hartog voll und ganz Recht hätte, wäre seine These eben nur in Bezug auf französische Akademiker der 80er Jahre und nicht in Bezug auf Herodot von Belang" - halte ich für überzogen; Burkert 1990, 1-32, bes. 2f. - Nippel 1990 setzt andererseits zu sehr auf Autopsie

Die Welt in Raum und Zeit im literarischen

Reflex

155

trum zur Peripherie zunimmt und durch sehr spezifische Merkmale - Kleidung, Nahrung, Sexualität, Kult, Umgang mit Toten - ausgedrückt wird. 166 Zwar blieb dieses Bild zunächst noch statisch. Doch schon die konsequente Umkehrung des tradierten Bildes einer verlorenen intakten Frühzeit zugunsten des stolzen Bildes vom Weg aus primitivchaotischen Anfängen zu geordneter Zivilisiertheit, zu dem die sophistische Kulturentstehungslehre ganz erheblich beitrug, 167 gab dem historischen Bewußtsein neuen Raum: Ließ sich doch nunmehr im Bilde fremder Wildheit die vermeintlich überwundene eigene .barbarische' Vergangenheit wiederfinden. Doch von der früh- und hocharchaischen Zeit hatte noch ein anderer Weg in die klassische Historie geführt, der weniger zum Betrachten der fremden Welt als zum Räsonnement über die eigene Geschichte einlud. Er führt durch das bittere Erleben von innergriechischen Unruhen und Parteikämpfen und läßt den Beschauer die Wandelbarkeit und in der Folge auch die Gestaltbarkeit der tradierten Ordnung in den menschlichen Siedlungsgemeinschaften reflektieren. Alkaios, Solon, aber auch das Corpus des Theognis stehen repräsentativ für eine solche Erfahrung. 168 Im Ambiente von Athens See-Imperium und seiner demokratischen Verfassung und im Zeitgefühl der wachsenden inner-hellenischen Konfrontation seit den 60er Jahren des 5. Jahrhunderts intensivierte sich ein Interesse an Verfassungs-Debatten, Staats-Modellen und einer politischen Theorie, die über den Wandel von Staatszuständen räsonniert. 169 Auch und gerade dieses nun durchaus .politische' Interesse steht in einer Tradition jener elementaren Erfahrungen der Archaik. Und es bildet seinerseits eine ganz wesentliche Voraussetzung für die Ausformung der klassischen Historie. 170

166

168 169

170

Herodots. Vgl. für eine skeptischere Einschätzung der „Authentizität" herodoteischer Ethnographie auch Sieberer 1994. Dazu ausführlicher Bichler 1988 und 1995b. Vgl. dazu Kipp 1990 Bd. I64ff. Vgl. zum Beispiel Raaflaub 1988a, bes. 231ff.; Siewert 1992. Vgl. etwa Martin 1974; Bleicken 1979; Meier 1980a; Siewert 1986; Raaflaub 1988b und Raaflaub 1992, bes. lOff. zu Euripides' Hiketiden. Vgl. Meier 1980b, bes. 422ff.; Schuller 1991, bes. 108ff.

Altorientalische Motivik in der frühgriechischen Literatur am Beispiel der homerischen Epen. Elemente des Kampfes in der Ilias und in der altorientalischen Literatur (nebst Überlegungen zur Präsenz altorientalischer Wanderpriester im früharchaischen Griechenland) ROBERT ROLLINGER

„Das Erbe der älteren Kulturen ist unschätzbar, und man versteht auch die Griechen umso besser, je mehr bekannt wird, wieviel sie übernommen haben". Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Staat und Gesellschaft der Griechen. In: Ders. und B. Niese, Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer ( = Die Kultur der Gegenwart Teil II, Abteilung IV, 1), Berlin und Leipzig 1910, S. 25.

1. Grundsätzliche Überlegungen zu Thematik und methodischer Vorgangsweise Der vielfältige Einfluß des Alten Orients auf die griechischen Kultur des achten und siebten Jahrhunderts ist in neuerer Zeit wieder stärker ins Blickfeld der Forschung getreten. Zwar hatte man schon vor fast 100 Jahren auf Verbindungen der beiden Kulturkreise aufmerksam gemacht, doch verhinderte die einseitige Betrachtungsweise des Panbabylonismus auf längere Zeit eine differenzierte Behandlung der Thematik. Das Verdienst, das Tor zu einer ausgewogeneren Betrachtungsweise aufgestoßen zu haben, gebührt vor allem Walter Burkert, der in zahlreichen größeren und kleineren Arbeiten auch auf die vielfältigen motivgeschichtlich-literarischen Beziehungen zwischen dem Griechenland des achten und siebten Jahrhunderts und dem Vorderen Orient hingewiesen hat.1 So ist in den letzten Jahren ein deutlich gesteigertes Interesse an der Thematik feststellbar.2 Nicht 1

2

Burkert 1981. Burkert 1982. Burkert 1983a. Burkert 1983b. Burkert 1984. Burkert 1987. Burkert 1991a. Burkert 1992. Burkert 1993a. Burkert 1993b. Erwähnt seien etwa Cors i Meya 1985. Dossin 1979/1990. Duchemin o. J. Faraone 1987. Fauth 1990. Haas 1978. Haas 1980. Janowski et al. 1993. Matthäus 1993. Muhly 1970. Oettinger 1989/1990. Oberhuber 1965. Oberhuber 1974. Poljakov 1983. Powell 1989. Reichel 1994, S. 341-346. Seybold/Ungem-Stemberg 1993. Strasburger 1992. West 1988. Wilson 1986.

Altorientalische

Motivik in der frühgriechischen

Literatur

157

zuletzt dadurch scheint sich in letzter Zeit innerhalb der Forschung doch ein gewisser Konsens herausgebildet zu haben, der auch über Hesiod und Kumarbi hinaus einen Einfluß altorientalischer Motivik auf die frühe griechische Epik als gegeben ansieht, wenn auch in den Details keine einhellige Auffassung darüber besteht, wo diese Beeinflussung beginnt und wo sie aufhört. 3 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Berührungspunkte zwischen der Ilias und Motiven aus der altorientalischen Literatur. Dabei wird der zeitliche Rahmen für die Analyse der altorientalischen Literatur zwar vornehmlich, aber nicht ausschließlich auf die engere Zeit der wahrscheinlichen Entstehung der Ilias beschränkt. Darüber hinaus werden auch Werke in die Überlegungen miteinbezogen, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur aus früheren Epochen bezeugt sind. Diese Vorgangsweise birgt ohne Zweifel eine gewisse Problematik in sich,4 doch scheint meines Erachtens gerade durch jene wissenschaftlichen Vorarbeiten, wie sie etwa Burkert geleistet hat, ein solcher Schritt nicht ohne Berechtigung zu sein. Einerseits dürfte die bereits vorliegende große Menge an literarischen Parallelen auch den größten Skeptiker davon überzeugen, daß diese nicht auf bloßem Zufall beruhen können, sondern daß hier tatsächlich mit engsten Wechselwirkungen zu rechnen ist. Andererseits ist dadurch der Boden für eine breitere Untersuchung bereitet, die auf der Suche nach motivgeschichtlichen Parallelen auch den Blick über das erste Jahrtausend hinaus richtet. Zwar ist in mittelbabylonischer Zeit auf der literarischen Ebene mit einem bewußt vorgenommenen Kanonisierungsprozeß zu rechnen, der in entscheidender Weise in den uns greifbaren Überlieferungsstrom eingriff und diesen nachhaltig veränderte,5 doch muß andererseits davon ausgegangen werden, daß uns nur ein Bruchteil der vorhandenen literarischen Werke auch erhalten ist,6 sodaß die oft zufällige Errettung bis auf unsere Tage nicht selten nur ein verzerrendes Bild der Überlieferungsgeschichte geben mag. Zu beachten ist allerdings, daß motivgeschichtliche Parallelen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen auch auf eine gegenseitige Beeinflussung zu schließen erlauben. Dies gilt für literarische Werke aus allen Epochen, für jene, die ausschließlich vor dem ersten vorchristlichen Jahrtausend überliefert sind, aber ganz besonders. Empirisch nachprüfbare Kriterien zu erstellen, welche die Übernahme eines literarischen Motivs 3

4 5 6

„The consensus of opinion among scholars of ancient history at present is that the main aspects of Greek science, religion and literature, when not adopted directly from the Orient, at the very least were heavenly influenced by oriental traditions", Röllig 1992, S. 93. Vgl. dazu schon Stier 1950, v.a. S. 208-230. Siehe ferner Ulf 1990, S. 253-268. Bryce 1991. Kullmann 1991, S. 430-433. Vgl. auch das vorsichtig abwägende Statement von Graf 1991, S. 360 und die allgemeinen Bemerkungen von Raaflaub 1993 bzw. Flaig 1994, S. 419-421. Man beachte im Gegensatz dazu die noch deutlich zurückhaltendere Anschauung von Röllig 1957/1971, S. 646a. Auch in bezug einer Einwirkung altorientalischer Motivik auf das frühe Indien gibt es jetzt entsprechende Überlegungen. Vgl. etwa Pingree 1992. In besonderer Weise hat diesen Weg Penglase 1994 beschritten. Falkenstein 1964. Zu einem Versuch, den Prozentsatz der uns erhaltenen akkadischen Literatur zu rekonstruieren vgl. Oppenheim 2 1 9 7 7 , S . 13-18.

158

Robert Rollinger

mit letzter Gewißheit erkennen lassen, erweist sich in der Praxis allerdings als eine nahezu unmögliche Aufgabe. Die voneinander unabhängige Entstehung ein und desselben Motivs als eine Art Grundkonstante menschlichen Denkens in geographisch weit entfernten Örtlichkeiten und zu völlig unterschiedlichen Zeiten ist letzten Endes nie völlig auszuschließen.7 Erschwert wird diese Problematik im vorliegenden Fall durch die Angewohnheit der frühen Griechen, von fremden Kulturen übernommene Elemente in ein neues Ambiente einzubetten und diese wie frei verfügbare Bausteine in einer neuen Weise umzuformen, sodaß der Blick auf mögliche Verbindungen weiter getrübt wird.8 Aus diesem Grund scheint dem Aufzeigen motivgeschichtlicher Parallelen nur unter zwei Bedingungen auch eine entsprechende wissenschaftliche Relevanz zuzukommen. Zum einen muß ein in Frage kommendes Motiv über vage Entsprechungen hinaus auch strukturelle Verknüpfungen aufweisen.9 Dies geht in erster Linie aus dem entsprechenden Kontext und den handelnden Personen hervor, sodaß sich über das Einzelmotiv hinaus Berührungspunkte ergeben sollten.10 Zum anderen kommt der Dichte der motivlichen Parallelen ein bedeutender Stellenwert zu. Läßt sich für eine bestimmte Zeit eine große Anzahl solcher Verbindungen aufzeigen, so gewinnt dadurch auch das Argument einer gegenseitigen Beeinflussung stark an Überzeugungskraft, während im Gegenzug zufällige, voneinander unabhängige Parallelentwicklungen unwahrscheinlicher werden.11 Gerade in bezug auf den letzten Punkt sind auch die einschlägigen wissenschaftlichen Vorarbeiten zu sehen, von denen die vorliegende Arbeit abhängt und denen sie letztendlich auch ihre spezifische Fragestellung verdankt. Auch wenn unter diesen Gesichtspunkten selbst literarische Werke des zweiten Jahrtausends in die Überlegungen miteinbezogen werden, so ist der Zeitpunkt der Übernahme doch im ersten Jahrtausend zu suchen. Dies gilt im besonderen für die an dieser Stelle zu behandelnde Thematik, sind doch die beiden großen uns erhaltenen homerischen Epen kaum vor dem achten Jahrhundert entstanden. Für die Tradierung der literarischen Werke innerhalb des altorientalischen Literaturkreises ist diese Annahme mit keinen besonderen Problemen verbunden. Gerade bei literarischen Werken läßt sich oft implizit eine Tradierung über Jahrhunderte hinweg nachweisen, man denke neben den Beständen der Bibliothek Assurbanipals etwa an die Verknüpfungen der neubabylonischen Königsinschriften mit ihren teilweise über tausend Jahre älteren altbabylonischen Vorbildern.12

7

Man denke nur an den neuseelänischen Mythos von Rangi und Papa und an das altägyptische „Pendant" von Nut und Geb. Vgl. dazu Nilsson 3 1967, S. 34.

8

Vgl. dazu etwa Bichler 1995b, S. 4 - 6 (zitiert nach dem Manuskript). Dieses Phänomen scheint freilich nicht ausschließlich auf die Griechen beschränkt. Siehe dazu die Bemerkungen unten in den Schlußbetrachtungen.

9

Albright 1957, S. 67 fordert, daß „the motif is complex, forming a pattern". Ähnlich Warren u. Wellek

10

Man vgl. dazu etwa Hampl. 1987, S. 35-36. V g l . allgemein zur Übernahme von „Motivketten" in der Ilias

1956, S. 258: „. . . if the parallel is a highly intricate pattern rather than an isolated,motif' or word". Kullmann 1991, S. 426-427. 11

So mit Tigay 1993, S. 255.

12

Reiner 1978, S. 154.

Altorientalische Motivik in der frühgriechischen

Literatur

159

Neben der von Burkert wahrscheinlich gemachten Existenz orientalischer Wanderpriester und Gelehrter im griechischen Kulturkreis sowie dem griechischen Söldnerwesen im Alten Orient ist der Prozeß der Vermittlung - nicht nur der literarischen Motive, sondern überhaupt der Vielzahl der von den Griechen adaptierten materiellen Kulturgüter - vornehmlich in der nordsyrischen und südostkleinasiatischen Region 13 zu suchen, wobei auch Zypern 14 und Palästina 15 eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheinen. In dieser Zone wurden griechische Händler der Städte 16 Teil Sukas, Al Mlna und Tarsos mit der altorientalischen Kultur- und Geisteswelt konfrontiert, empfingen Impulse, die sie in direkter, abgewandelter oder veränderter Form an ihre Heimatstädte weitergaben. 17 Trotz all dieser Überlegungen muß auch diese Arbeit in jedem Einzelfall den letzten Beweis für eine Übernahme schuldig bleiben. Doch hat sie schon ihr Ziel erreicht, wenn der Blick für die große Fülle der Parallelen weiter geschärft wird.

2. Elemente des Kampfes in der Ilias und der altorientalischen Literatur Die folgenden Ausführungen gruppieren sich um einen spezifischen thematischen Aspekt der Ilias, der meines Erachtens in besonders deutlicher Weise die vielfältigen Vernetzungen mit der in altorientalischen literarischen Werken greifbaren Geistes- und Vorstellungswelt erkennen läßt. Es soll dabei besonders betont werden, daß die angeführten Beleg- und Parallelbeipiele nicht unbedingt als jene orientalischen Werke betrachtet werden müssen, von denen die betreffenden Motive in die griechische Welt flössen. Sie sind vielmehr als Elemente eines „Genpools" gedanklicher Konzepte, wie sie in der altorientalischen literarischen Welt greifbar sind, anzusehen, mit dem auch die Griechen der früharchaischen Zeit in irgendeiner Form in Berührung kamen und der sowohl für ihr Denken als auch für ihre literarische Formgestaltung nicht ohne Folgen blieb.

2.1 Zur Darstellung handelnder Personen im Kampfgeschehen: Die Auren der kämpfenden Helden Als eines der auffallendsten Charakteristika bei der Zeichnung der homerischen Helden im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen darf die Stilisierung derselben durch 13

14

15 16

17

So sind phönikische Inschriften jetzt bis in die Gegend von Alanya bezeugt (Cebel Ires Dagi). Siehe dazu und generell zur Bedeutung Kleinasiens als Vermittlungszone Röllig 1992. Vgl. femer Jasnik 1989. So wird das griechisch-phönikische Milieu Zyperns nicht zuletzt durch die Vasallenverträge Asarhaddons überdeutlich. Vgl. dazu Lipinski 1991. Vgl. dazu jetzt vor allem Waldbaum 1994. Diese Städte sind wohl kaum als Kolonien anzusprechen, sondern wahrten zu einem Großteil ihren syrischphönikischen Charakter. Vgl. dazu Nunn 1994 u. Waldbaum 1994, S. 54a. Vgl. dazu etwa Boardman 1981, S. 37-128 u. 1990, Wenning 1981 u. 1991, Riis 1982, Graham 1986, Herrera u. Balensi 1986, Coldstream u. Bikai 1988, Guralnick 1988 u. 1992, Lemos 1992, Courbin 1993, Curtis 1994 bzw. Haider in diesem Band.

160

Robert

Rollinger

eine Art von Aura gelten. So züngeln aus Diomedes' Helm und Schild Hammen empor, 18 die von einem ,Feuer' (πΰρ) an Haupt und Schultern begleitet werden, 19 bevor er zu seiner Arestie schreitet. Auch Hektar ist „von Feuer umstrahlt", 20 wenn er sich ins Kampfesgetümmel wirft. Die herausragende Persönlichkeit in diesem Zusammenhang stellt allerdings Achill dar. So umgibt neben einer goldenen Wolke (νέφος χρύσεον) eine ,hell leuchtende Flamme' (φλόξ παμφαινόωσα), ein Glänzen (σέλας) bzw. ein ,ruheloses furchtbares Feuer' (πΰρ άκάματον δεινόν) sein Haupt. 21 Auch seine Augen erstrahlen „so schrecklich wie Flammen des Brandes", 22 ebenso wie sein Arm 23 und sein Schild. 24 Ja seine ganze Gestalt scheint zu leuchten, wenn er „wie ein Stern" über die Ebene braust. 25 Der Zusammenhang dieser Aura mit dem Element des Kampfes ist meist evident. Im speziellen Falle wird sogar explizit auf ihren verderbenden Charakter aufmerksam gemacht. 26 Auch deren göttlicher Ursprung scheint klar zu sein. Zumindest in zwei Fällen ist es die Göttin Athene, die das Strahlen verleiht.27 Schon aus den angeführten Belegen geht eindeutig hervor, daß dieser Aura ein Moment des Tremendum anhaftet, das potentielle Gegner erschaudern läßt: „Auch die Lenker erschraken, sobald sie das furchtbare Feuer Rastlos über dem Kopf des hochgemuten Peliden Brennen sahen, entflammt von der strahlenden Göttin Athene." 28 Dieses Bild wird durch eine Reihe von Vergleichen oder vielleicht sogar Gleichsetzungen ergänzt, in denen das Wüten einzelner Krieger in der Schlacht mit einem Feuer bzw. einem Sturm in Verbindung steht.29 Dies gilt für Idomeneus (φλόξ), 30 Hektar (πΰρ), 31 (φλόξ) 32 und natürlich Achill (κλονέων άνεμος φλόγα είλυφάζει), 3 3 (πΰρ), 34 (καπνός), 35 (aöyfj ή πύργος αίΦομένου). 36 18

II. V 4. Die Zitate nach Η. Rupe. II. V 7. 20 II. X V 623. 21 II. X V I I I 2 0 5 - 2 1 4 , 2 2 5 - 2 2 7 . 22 II. XIX 16-17 23 II. X X 371-372. 24 II. XIX 379-380. 25 II. X X I I 2 6 - 3 1 . 2 6 Vgl. etwa II. X V I I I 2 0 7 - 2 1 3 ; X X I I 3 0 - 3 1 . V II. V 1-8; X V I I I 2 0 3 - 2 0 6 , 227. 19

28

II. X V I I I 2 2 5 - 2 2 7 . Ob im gegebenen Zusammenhang eine Gleichsetzung oder ein Vergleich vorliegen, ist nicht von Bedeutung und sei im folgenden dahingestellt. Vgl. zu diesen Fragen prinzipiell Frankel 1921. 30 II. XIII330. 31 II. X V 605-607; XVII565. 32 II. XIII53; XVIII154. 33 II. X X 4 9 0 - 4 9 5 . 34 II. X X I 1 2 - 1 6 . 35 II. X X I 5 2 2 - 5 2 5 . II. XXII 132-135. 29

Altorientalische

Motivik in der frühgriechischen

Literatur

161

Auch in diesen Fällen ist der Konnex zum Krieg und der der Aura anhaftende Charakter des Tremendum evident. In einem Fall wird Achill sogar expressis verbis mit dem Kriegsgott verglichen. Allzu oft hält der Gegner dem Schreckensglanz dieser Aura nicht stand und weicht, bevor es überhaupt erst zur eigentlichen Auseinandersetzung kommt: „Also sann er und blieb; da nahte bereits ihm Achilleus Gleich dem stürmenden Gotte des Krieges im zitternden Helme, Schwang er über der rechten Schulter der Pelischen Esche Furchtbaren Schaft, und das Erz umstrahlte ihn rings mit dem Glänze Lodernden Feuers oder der hell aufsteigenden Sonne. Hektor, sobald er ihn sah, erbebte und wagte nicht länger Auszuhalten; er wandte voll Schreck dem Tore den Rücken." 37 Die bereits mehrfach aufgezeigte Verbindung dieses „Schreckensglanzes" mit dem Element des Kampfes wird darüber hinaus durch direkte Verknüpfungen desselben mit den Waffen einzelner Helden 38 sowie durch die explizite Gleichsetzung des Kampfes selbst39 bzw. der anonymen Masse der Kämpfenden 40 mit einem wütenden Feuer oder Sturm weiter konkretisiert. Als Ergebnis kann demnach folgendes festgehalten werden: Nur wenige Helden der Ilias besitzen eine Art numinose Ausstrahlung, die sich als eine Aura beschreiben läßt. Dieser Nimbus scheint darüber hinaus stets einen direkten Bezug zum Kampfgeschehen aufzuweisen und göttlichen Ursprungs zu sein. Die Aura ist demnach charakterisiert durch ihre Verbindung mit einem unbeschreiblichen Glanz oder Feuer. Diese „Ausstrahlung" erzeugt beim Gegner Furcht und Schrecken. In nahezu allen oben angeführten Punkten sind nun vergleichbare Erscheinungen im Alten Orient nachweisbar. So begegnen uns im Akkadischen eine Reihe von Termini,41 die den „Lichtglanz" einer Gottheit charakterisieren, wie namrirrü, namurratu, rasubbatu, surip/bätu, salummatu, pululjtu und melammu. 42 Cassin definiert erstere als „des phenomenes lumineux d'origine", deren Gemeinsamkeit darin besteht, „de signifier tous l'eclat dont la divinite est couverte, dont eile est enveloppe, dont eile est revetue, dont eile est paree, dont eile est remplie. Leur charactere essentiel est de representer un etincellement qui peut aussi bien avoir son siege dans une partie determinee du corps de la divinite, qu'emaner de l'ensemble de sa personne." 43 Ein etwas differenzierteres Bild entwirft sie von dem Begriff melammu: „II s'agit la plupart du temps d'un scintillement

37

IL XXII131-137. 38 IL XX 423: Speer Hektars (φλόξ); XXII317-321: Speer Achills (αίχμής άπέλαμπε). 39 IL XVII737-739: πϋρ; XXI334-337: West- und Südwind als θ ύ ε λ λ α χαλεπός, der κήαι verbreitet 40 IL XIII40: φλόξ, θύελλα; XIII673, XVIII1: πϋρ α ΐ θ ο μ έ ν ο ν ; XVII 366-369: πϋρ; 41 Auf die sumerischen Äuqivalente soll hier nicht näher eingegangen werden. Man siehe dazu etwa FarberFlügge 1973, S. 97-198. Oberhuber 1963. Oberhuber 1979. Oberhuber 1991. 42 Vgl. dazu neben den Lexika Cassin 1968, v. a. S. 17-22,65-82. Zu „melammu" siehe jetzt auch Krebemik 1993. 43 Cassin 1968, S. 23.

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localise dans une partie du corps divin. II y a tout lieu de croire en effet que le melammu partait de la tete de la divinite." 44 Dabei erscheinen vor allem die Begriffe salummatu und pulutjtu in häufiger Verbindung mit melammu, sodaß letzteres als Sitz der ersteren, des Schauders, angesehen werden darf. 45 Daraus ergeben sich bereits deutliche Verknüpfungen zu den oben angeführten homerischen Exemplar die Konzentration einer Schauder erregenden Aura auf bestimmte Körperteile mit besonderer Betonung des Hauptes bzw. auf den Körper als ganzen. Dieses Bild kann darüber hinaus durch einen Blick auf konkrete Textbeispiele weiter vertieft und der Charakter der Aura in altorientalischen Texten weiter präzisiert werden. Dabei ist in erster Linie auf eine Verbindung der Aura mit sterblichen Personen/Königen zu achten. Schon Adadnäräri II. behauptet von sich schlichtweg: „Ich bin das Strahlen" (namurräku), 46 ähnlich meint Tukultlninurta II.: „Ich bin das Schaudern" (salummäfku]). 47 Assurna$irpal II. und Salmanassar III. sind „mit Glanz bekrönt" (äpir salummate). 48 Assurna$irpals II. Schaudern (puluhtu) reicht sogar bis Babylonien, sein Glänzen (namurratu) ist an den Ufern des Euphrat „ausgeschüttet."49 Sargon II. ist in „Glanz" (namurratu) eingehüllt. 50 Lassen sich die angeführten Beispiele zwar mit dem Anspruch auf Macht und Herrlichkeit verbinden, so ist der Aspekt des auf die Feinde wirkenden Tremendums hier doch nur angedeutet. Diese Verknüpfung scheint bei Asarhaddon evident zu sein.51 So gibt er vor, ein mit „Glanz" (namurratu) bekleideter Held zu sein, „dessen Waffen zur Vernichtung der Feinde Assyriens Assur, der König der Götter, sich erheben ließ." 52 Ein anderes Mal ist er mit „Glanz" bekleidet, einer, „der den Kampf nicht fürchtet, der vollkommene Held." 53 Noch deutlicher wird in diesem Sinne ein Beleg aus den Inschriften Tukultlninurtas I.: „Eljli-Tesub, König von Alzu, fürchtete sich vor der Kraft meines Schauders (puluhtu), nahm die Truppen seines Palastes sowie seine Söhne, gab sein ganzes Land auf und begab sich wahrlich heimlich zur (äußersten) Grenze von Nairi, einem Land, das keiner kennt." 54 Nahezu das gleiche Bild findet sich in einer Passage des Tukultininurta-Epos, sowie in einem literarischen Text Tiglatpilesars I.:

44

Cassin 1968, S. 23. Cassin 1968, S. 26. 4 6 Grayson 1991, S. 147, Z. 15. 45

47

Grayson 1991, S. 166, Z. 30. Grayson 1991, S. 195, Z. 19-20; S. 225, Z. 18; S. 276, Z. 13. Michel 1954, S. 410, Z. 3-A. 4 « Grayson 1991, S. 214, Z. 23-24. 50 Lyon 1883, S. 2, Z. 7: „ba-lip na-mur-ra-ti". 51 Auch hier reichen die Vorläufer dieses Bildes zumindest bis in die Ur-III Zeit zurück: Cassin 1968, S. 69. 52 Borger 1956, S. 81, §53 Z. 44. 53 Borger 1956, S. 96, § 65 Z. 2 1 - 2 2 = S. 100, Z. 3. 54 Grayson 1987, S. 236, Z. 6 - 1 1 . 48

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„Sein furchtbarer Schreckensglanz (galtu melammusu) warf alle Feinde nieder."55 „Der wilde Schreckensglanz (melammü ekdütu) bedeckte deren (seil, der Feinde) Gesicht." 56 Letzterer konnte sogar behaupten, daß sein „Schreckensglanz" (melammu) die vier Weltgegenden niederwerfe. 57 Unmißverständlich ist auch die folgende Aussage Tiglatpilesars I.: „Der Schreckensglanz meines Heldentums (melam qardütija) warf sie (seil, die Feinde) nieder, und, die Schlacht fürchtend, ergriffen sie daraufhin meine Füße." 58 Ähnliches findet sich auch im Inschriftencorpus Sanheribs, wo es anläßlich der dritten Kampagne des Königs gegen Syrien heißt: „Lule, den König von Sidon warfen die Schauder des Schreckensglanzes meiner Herrschaft (pulhl melamme belütija) zu Boden, und er floh in weite Ferne bis in die Mitte des Meeres." 59 Schließlich sei noch auf die zahlreichen gleichlautenden Formulierungen aus den Inschriften Assurbanipals hingewiesen. So erklärt der König etwa anläßlich seines Feldzuges gegen Taharqa nach Ägypten: „Der Lichtglanz (namrirü) Assurs und Istars warf ihn (seil. Taharqa) nieder und er wurde verrückt. 60 Der Schreckensglanz meines Königtums (melamme sarrütija), mit dem die Götter des Himmels und der Erde mich ausstatteten, bedeckte ihn, und er verließ Memphis, und er floh, um sein Leben zu retten nach Theben." 61 Eine ähnliche Situation ergibt sich beim Feldzug des Königs gegen Elam: „Der Lichtglanz (namrirü) Assurs und Istars, meiner Herren sowie der Schauder meines Königtums (pulujjti sarrütija) warf sie nieder." 62 Die Belege für diese Vorstellung sind für das ausgehende zweite und die erste Hälfte des erste Jahrtausends Legion und gehören zum Standardrepertoire assyrischer Königsideologie. 63 Aus dem bisher Dargelegten wird die Verbindung der Aura mit dem Moment des Tremendum mehr als deutlich. So hat auch schon Cassin festgehalten: „La presence ou la simple approche du roi guerrier, pare d'eclat, aura pour effet de paralyser l'ennemi ou de le contraindre ä la fuit." 64 Somit ergibt sich aus diesem Blickwinkel exakt derselbe Be55

Lambert 1957/1958, S. 48 Text F, Z. 12. Ebeling 1953, S. 85 Nr. 63, Rs. Z. 21: „me-lam-mu ek-du-tu bu-ni-äu-nu e-tar-mu". 57 Grayson 1991, S. 13, Z. 40-41. Dieser Anspruch läßt sich womöglich bis in sargonische Zeit zurückverfolgen, ist aber zumindest in der Ur-III und frühaltbabylonischen Zeit schon eindeutig belegbar. Vgl. dazu Cassin 1968, S. 66-69. 58 Grayson 1991, S. 17, Z. 2. » Luckenbill 1924, S. 29, II Z. 3 8 ^ 0 . 60 Vgl. zu „ma^ütiä aläku" AHw 583a. 61 Streck 1916, S. 8-11, Z. 84-88. 62 Streck 1916, S. 42-43, Z. 119-120. Freilich reicht dazu auch der göttlich Lichtglanz alleine aus: ibid., S. 62-63, Z. 75. 63 Vgl. etwa s. v. „safoäpu" die Belege in AHw 1004. 64 Cassin 1968, S. 73. 56

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fund wie in der Ilias. Ergänzt wird dies durch die erstaunliche Parallelität der Bilder, die diesen Aspekt des Helden/Königs unterstreichen sollen. So lassen sich im Sinne der oben geforderten Verknüpfung von Motiven zu größeren Komplexen in Verbindung mit der Aura Vergleiche mit dem Bild eines wütenden Sturmes bzw. einer Flut finden.65 Salmanassar III. brüstet sich in der Inschrift seines berühmten Obelisken: „Mit Feuer verbrannte ich deren Länder. Wie eine Flut vernichtete ich sie. Den Schauder des Schreckensglanzes (pulhe melamme) schüttete ich auf sie." 66 Ähnlich verhält es sich bezüglich des Konnexes zwischen Feuer und Nimbus/König. So hält Cassin in diesem Zusammenhang fest: „L'eclat divin est senti en quelque sorte comme une substance liquide et brülante qu' on peut repandre sur l'ennemi afin de le terrasser."67 In diesem Sinne verkündet Salmanassar III.: „Wie Feuer ( d GIS.BAR) verbrannte ich sie (seil, die Feinde); den Schreckensglanz (melammu) meiner Herrschaft habe ich auf sie geschüttet." 68 In dieser Hinsicht läßt sich auch ein berühmtes literarisches Vergleichsbeispiel anführen. Kurz vor der Schilderung des Flutgeschehens im Gilgames-Epos wird der Blick auf das Götterkollektiv der Anunnaki gelenkt, von denen es heißt: „Sie trugen Fackeln und versengten das Land durch deren (seil, wohl der Anunnaki 69 ) Glänzen (namrirrü)." 70 Schließlich bleibt noch, das in der Ilias greifbare Bild des von den Waffen ausgehenden Nimbus' auf altorientalische Vergleichsbeispiele hin zu hinterfragen. So verkündet Assurna§irpal II.: „Die Könige von Zamua fürchteten in ihrer Gesamtheit das Glänzen (namurratu) meiner Waffen und das Frösteln (surip/bätu)71 meiner Herrschaft." 72 Wenig später meint er: „Das Frösteln (surip/bätu) meiner Waffen warf Chaldäa nieder." 73 Und Salmanassar III. hält in der gleichen Tonart fest: „Das Frösteln (surip/bätu) meiner Waffen, den

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Selbst dieses Bild ist bis in die frühaltbabylonische Zeit zurückverfolgbar. Vgl. dazu Cassin 1968, S. 69. Michel 1954/1959, S. 226-227, Z. 158-159. Vgl. ferner ibid., S. 230-231, Z. 185. Cassin 1968, S. 19. Auch wenn die Etymologie von me-läm als „heiße Me" problematisch erscheint, geht die Verbindung mit dem Feuer doch aus dem Kontext hervor. Vgl. zur Frage der Etymologie ibid. S. 5-6. Krebernik 1993. Oberhuber 1990, S. 277 ad 74.4. Oberhuber 1991, S. 18-19. Sjöberg und Bergmann 1969, S. 59. Landsberger 1949, S. 286 Anm. 121. Michel 1947/1952, S. 472-473, Z. 6-7. Vgl. auch Schroeder 1922, S. 71, Nr. 113, Z. 15-16: „[klma] «GlS.BAR aq-mu me-lam-me EN"[-ja]/ [eli]-5u-nu at-bu-uk". In „nam-ri-ir-ri-su-nu" ist das Possessivsuffix formal ein PI. masc. Vgl. Soden 1969, S. 44, §42j. Groneberg 1987, Teil 1, S. 116. Ist „dipäru" mit AHw 172b als Femininum anzusetzen, muß sich das Glänzen zwingend auf die Anunnaki selbst beziehen. CADD 156b charakterisiert „dipäru" allerdings als „masc. and fem." In diesem Sinne sind wohl die Übersetzungen von Cassin 1968, S. 76 und Hecker TUAT III/4 (1994), S. 732 zu verstehen. Soden 1986, S. 97 bleibt indifferent. Thompson, R. C. 1930, S. 62, XIZ. 103-104. Vgl. zu diesem Terminus Cassin 1968, S. 75. Grayson 1991, S. 208 ad II 78. Grayson 1991, S. 207-208, Z. 77-78. Vgl. ferner ibid., S. 211, Ζ. 119-120; S. 248, Z. 104-105; S. 251, Z. 111-112; S. 261, Z. 86-87. Grayson 1991, S. 214, Z. 24.

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Schreckensglanz (melammu) meiner Herrschaft habe ich auf Namri ausgeschüttet." 74 Für letzteren findet sich auch folgender Beleg: „[Angesichts] des Glanzes (namurratu) meiner mächtigen Waffen [erbebte er (seil, der Feind)]." 75 Auch Assurbanipal erklärt in einer seiner Inschriften: „An den Ort, wohin er geflohen war, warf den Taharqa das Glänzen (rasubbatu) der Waffe Assurs, meines Herrn, nieder und das Schicksal seiner Nacht (=Todesschicksal) kam". 76 Selbst die Verleihung einer Aura durch bestimmte Gottheiten ist in den altorientalischen Texten greifbar 77 So beruft sich Adadnäräri II. auf die großen Götter, „die mir den Schreckensglanz (melammu) des Königtums auf den Kopf setzten." 78 Asarhaddon wird von Ninurta der Glanz (salummatu ), 79 von Nergal Zorn, Leuchten und Glanz (uzzu nammurratu salummatu) 80 verliehen. Auch umkleidet etwa Nabü Nebukadrezar II. mit Schaudern (puluhtu) bzw. läßt ihn Schreckens- und Lichtglanz (melammü namrirü) tragen, 81 Nusku schmückt Nabonid mit dem „Schreckensglanz" (melammu) des Königtums. 82 Letzterer richtet sich gar auffordernd an den Sonnengott Samas: „Schreckensglanz (melammu), dein flimmernder Glanz (birbirrü), Erscheinung der Herrschaft, Leuchten (salummatu) des Königtums laß an meiner Seite wandeln, um das Land meines Feindes zu plündern." 83 Natürlich kann die Gottheit einem König auf diese Weise auch die Aura wieder entziehen, wie eine Passage aus den Fluchformeln des Codex Hammurapi erkennen läßt. 84 Es darf demnach als Ergebnis dieser Untersuchung festgehalten werden, daß zwischen den altorientalischen und den homerischen Belegen bezüglich einer Aura bzw. eines Nimbus grundsätzliche Übereinstimmungen bestehen. 85 Diese beziehen sich nicht nur auf die Existenz einer derartigen Erscheinung, 86 sondern schließen darüber hinaus Charakter und Eigenschaften des Nimbus mit ein. Wie in der Ilias ist dieser nur

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Michel 1947/1952, S. 472-473, Z. 23-25. Vgl. ferner die Belege AHw 1284a. Michel 1947/1952, S. 9-10, Ζ. 11-12. Vgl. ferner die Belege CAD Ν1253b-254a. 76 Streck 1916, S. 14-15, Z. 20-21. 77 Dies läßt sich wiederum bis in die Ur-III Zeit zurückverfolgen: Cassin 1968, S. 69. 78 Grayson 1991, S. 147, Z. 8-9. ™ Borger 1956, S. 81, § 53 Rs. Ζ. 1. 8 » Borger 1956, S. 46, § 27 Z. 36. 81 Strong 1898, S. 157, Rs. Z. 10. Zimmem 1905, S. 8. Vgl. CAD Μ II 1 lb. 82 Dhorme 1914, S. 109, Z. 16. 83 Langdon 1912, S. 260-261, Z. 39^t0. 84 CH XXVIr, Z. 48: „ME.LAM sarrütim". Vgl. ferner für ein ähnliches Bild in einem jungbabylonischen Omen Virolleaud 1908-11, Supplement 15, Z. 9. 85 Angedeutet wurde dies schon von Cassin 1968, S. 76. 86 Zumindest die Existenz einer derartigen Aura ist durch Bildwerke auch für den Bereich der hethitischen Nachfolgestaaten gut bezeugt, soweit ich sehe, allerdings nur für Götter. Vgl. etwa Akurgal 1961, Abb. 104, 116. 75

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auf ganz wenige Personen beschränkt; im konkreten Fall ist dieser außer dem erlauchten Kreis der Götter nur der Spitze der sozialen Pyramide, nämlich den assyrischen Königen vorbehalten. 87 In beiden Fällen ist die Aura aufs engste mit dem Bild des Feuers und des Sturmes verbunden. Für beide Bereiche läßt sich eine göttliche Verleihung der Aura nachweisen. Sowohl in der Ilias wie in den oben angeführten altorientalischen Textbeispielen ist diese Aura vielfach mit einem Moment des Tremendum beladen, das allein schon auf den Gegner vernichtende Auswirkungen zeitigt. Diese große Dichte von Parallelen in der Existenz, Form und Gestalt einer solchen Erscheinung konstituiert einen Motivkomplex, der meines Erachtens kaum ohne entsprechende Kontakte zwischen beiden Kulturen erklärt werden kann, zumal, wenn man diese im Kontext weiterer möglicher Berührungspunkte sieht. W. Burkert hat in bezug auf diese Kontakte auf die Möglichkeit orientalischer Wanderpriester hingewiesen, deren Tätigkeit bis nach Griechenland selbst ausgestrahlt haben könnte. So braucht es auch nicht zu überraschen, daß man die oben festgestellten Verknüpfungen zwischen Aura, Feuer und Tremendum in einem Corpus findet, das zum festen Bestandteil der Bibliothek eines jeden Beschwörungspriesters gehört haben mag. So heißt es etwa in Surpu VII, 7-8: „Sie (seil, die Dämonen) haben ihren Glanz (melammü) in den vier Himmelsrichtungen ausgebreitet und sie verbrennen wie Feuer." 88 2.2 Das Kampfgeschehen selbst Neben den im vorhergehenden Kapitel angesprochenen Beispielen aus der Ilias finden sich im Epos auch zahlreiche Fälle, in denen das Kampfgeschehen mit den Elementen des Feuers oder des Sturmes verquickt erscheint, ohne daß von einer unmittelbaren Verbindung mit einer Aura bzw. eines Nimbus gesprochen werden kann. Feuer und Sturm scheinen in diesem Zusammenhang geradezu als die konstituierenden Elemente des Kampfes und der Kämpfenden zu gelten. Die dazu in der Ilias greifbaren Stellen betreffen Szenen auf beiden Seiten der Kämpfenden, sowie deren gegenseitiges Aufeinanderprallen: „Trojas Krieger folgten, der Flamme gleich oder dem Sturme, Hektor, dem Priamossohne, zu Haufen in lechzendem Eifer, Tosend, mit wildem Geschrei. . ," 89 „Also kämpften sie (seil. Griechen und Troer) dort wie lodernde Flammen des Feu-

Die von Cassin 1968, 79-82 zitierten Beispiele, wo auch Normalsterblichen „melammu" zuerkannt zu werden scheint, sind vornehmlich im magisch-religiösen Bereich angesiedelt und wohl im Sinne einer heilenden bzw. erlösenden Einwirkung des göttlichen „Schreckensglanzes" auf einen Kranken bzw. Verfluchten zu verstehen. 88 Vgl. dazu Reiner 1958, S. 36. 89 II. XIII 39-41a.

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„Also tobten sie (seil. Griechen und Troer) gleich dem Feuer.. ,"91. „. . . und um die beiden (seil. Ajas) entfesselt, Tobte die Schlacht, wie stürmendes Feuer die Stätte der Menschen, Plötzlich entbrannt, in Flammen verzehrt, daß die Häuser versinken Unter der Glut, und es braust noch des Windes Gewalt in die Lohe: So erscholl von den Rossen und speergerüsteten Männern Unaufhörlicher Lärm und verfolgte die schreitenden Krieger."92 „Also kämpften sie (seil. Griechen und Troer) dort und glichen dem lodernden Feuer." 93 In einem Fall wird die göttliche Urheberschaft dieser Erscheinungen deutlich. So stachelt die erregte Here Hephaistos mit folgenden Worten an, um dem von Xanthos/Skamandros bedrohten Achilleus zu Hilfe zu eilen: „Hilf doch schleunigst und laß die Lohe gewaltig entbrennen. Ich aber will mich beeilen, den West und den klärenden Südwind Aufzupeitschen vom Meere her zu gefährlichem Sturme, Welcher, die schreckliche Flamme verbreitend, die Häupter der Troer Samt den Waffen verbrenne . . ." 94 Die Topik der Kampfesdarstellung und die ihr innewohnende Systematik sind nur unschwer erkennbar. Genau dieselbe Sturm- bzw. Feuer-Metaphorik in fester Verbindung mit Kampfesschilderungen findet sich in einer Fülle altorientalischer Texte aus den verschiedensten Zeiten. Wenden wir uns zunächst dem Bild des Sturmes zu. Die Kombination von Sturm und Kampf an sich ist ein Motiv, dem man besonders in assyrischen Königsinschriften auf Schritt und Tritt begegnen kann. 95 So heißt es etwa bei Tiglatpilesar I.: „Mit der Wildheit meiner grimmigen Waffen trat ich ihnen (seil, den Feinden) entgegen und vollbrachte wahrlich die völlige Vernichtung96 ihrer weitgedehnten Truppen wie ein Gewittersturm (rihiltu) Adads." 97 Salmanassar III. hält in ähnlichen Worten fest: „Wie Adad ließ ich auf sie einen Gewittersturm (riljiltu98) niederprasseln." 99

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II. XIII673. II. XVII 366a. IL XVII 736b-741. II. XVIII1. II. XXI 333-337a. Zu beachten sind in den einschlägigen Lexika v. a. die Lemmata „abübu", „metjü", „ritystu/rityltu", „rij)su". „Sagaltu" hat eigentlich die Bedeutung „Tötung, Mord"; vgl. AHw 1127a. Grayson 1991, S. 21, Z. 87-91. AHw 983a gibt als Beteutung „Überschwemmung" bzw. zur Stelle „Gemetzel" an. Die Verbindung mit „suznunu", „regnen lassen" macht aber klar, daß hier ein breiteres Bedeutungsfeld angesprochen ist, das gerade hier den Sturm impiliziert. Rawlinson 1870, S. 7 , 1 Z . 46 = ibid., S. 8, II Z. 98: „GIM d Adad UGU-sii-nu ri-fci-il-ta ύ-sä-az-nin". Vgl. auch ibid. S. 8, II Z. 50: „GIM d Adad ina UGU-äü-nu ri-Jjil-tu u-ää-az-nin".

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Sargon II. erklärt: „Sam'una und Bäb-düri . . . warf ich wie das Aufkommen eines Orkans (klma tib mejie 10°) nieder." 101 Sanherib schildert sein Vorgehen gegen die Feinde in denselben Worten: „Auf Geheiß Assurs, des großen Gottes, meines Herrn, stürmte 102 ich auf den Feind wie das Aufkommen eines Orkans (klma tib mehe)." 103 Ähnlich verkündet Asarhaddon: „Wie das Aufkommen eines wütenden Orkans (klma ezzi tib mehe) riß ich ihre (seil, der Sutäer) Wurzeln aus." 104 Bei Assurbanipal findet sich ebenfalls ein entsprechendes Beispiel: „Wie das Aufkommen eines grimmigen Orkans (klma tib mehe ezzi) bedeckte ich Elam in seiner Gesamtheit." 105 Auch die Verbindung zwischen Kampf und Feuer ist in den altorientalischen Texten ein wohl vertrautes Motiv. Tiglatpilesar I. bezeichnet sich in einer seiner Inschriften als „prächtige Flamme (nablu), die wie das Aufkommen eines Regensturmes (rih§u106) auf das Feindesland niederprasselt 107 " 108 bzw. als „eilige, äußerst grimmige Flamme, Flut (abübu) der Schlacht." 109 Adadnäräri II. schildert die Belagerung einer feindlichen Stadt in entsprechender Metaphorik: „Meine Soldaten ließ ich wie Flammen ihren (seil, der Stadtmauer) Graben umzingeln." 110 Assurna§irpal II. verkündet aufbrausend: „Wie ,Adad des Regensturmes' (rih§u) brüllte ich gegen sie (seil, die Feinde) und ließ Flammen auf sie niederprasseln." 111 Assarhaddon, der sich in einer Inschrift als „entfachte Flamme, ruheloser Gira" 112 bezeichnet, hält in seinem Gottesbrief fest: 100

Vgl. zu diesem Terminus AHw 642a. CAD Μ II 6. Lie 1929, S. 52-53, Z. 15-16. Zu einem vergleichbaren Bild bei Adadnäräri II. siehe Grayson 1991, S. 148, Z. 22. 102 Der akkadische Terminus „ziäqu" bezeichnet dabei vornehmlich ein Stümen bzw. Wehen des Windes. Vgl. AHw 1523a. 103 Luckenbill 1924, S. 45, Z. 76-77. Vgl. ibid., S. 83, Z. 44. •W Borger 1956, S. 58, §27, V Z . 16. 105 Streck 1916, S. 26-27, Z. 34-35. 106 AHw 983a gibt als Beteutung „Überschwemmung" an. Die Verbindung mit „äuznunu", „regnen lassen" macht aber klar, daß hier ein breiteres Bedeutungsfeld angesprochen ist, das gerade hier den Sturm impiliziert. 107 AHw 1509b-1510a gibt für „suznunu" nur eine kausative Bedeutung an. Dies kann aber gerade im vorliegenden Fall nicht zutreffen. CAD Ζ 43b führt als Bedeutungsfelder an „to rain, to bring rain, to pour out, to drip". 108 Grayson 1991, S. 13, Z. 4 2 ^ 3 . 109 Grayson 1991, S. 23, Z. 4 2 ^ 3 . Ί0 Grayson 1991, S. 151, Z. 66. m Grayson 1991, S. 210, Z. 106. Vgl. ibid., S. 260, Ζ. 73. 112 Borger 1956, S. 97 § 65, Ζ. 14. 101

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„Als jener die Botschaft meines Königtums , die wie eine Flamme die Feinde verbrennt, hörte.. ," 113 In vielen Fällen ist es eine Gottheit, die das Element des Feuers in das Kampfgeschehen wirft. So heißt es bei Assurbanipal: „Istar, die in Arbela wohnt, die Gottheit, ist in Feuer gekleidet. Den Schreckensglanz trägt sie. Auf das Land der Araber regnet 114 sie Flammen." 115 Dieselbe Göttin verkündet in einem altbabylonischen literarischen Text: „Kämpfe, die wie Flammen sind, lasse ich im Kriege 116 niederprasseln." 117 Von Enlil heißt es im Tukultlninurta-Epos: „Es wirbelt Enlil in der Mitte der Feinde und läßt die Flamme qualmen." 118 Ähnliches gilt auch für Marduk: „Wütender Gira, Flamme, welche die Feinde verglüht." 119 In diesem Sinne sind auch jene Belege zu werten, in denen der Gott des Feuers selbst, Gira, ins Kampfgeschehen eingreift und die Gegner des Königs niederstreckt: „Der heldenhafte Gira brachte sie (seil, die feindlichen Araber) zu Fall." 120 „Der heldenhafte Gira organisierte 121 den Kampf (anuntu) und erschlug meine (seil. Assurbanipals) Gegner." 122 Besonders deutlich ist schließlich die Verbindung von Kampf und Feuer im Erra-Epos greifbar. 123 Dieses schildert das verderbliche Treiben des Pest- und Kriegsgottes Erra auf Erden, wobei das Element des Feuers in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt. Ist der Name Erra tatsächlich semitisch zu deuten und steht mit der gemeinsemitischen Wurzel *hrr, „heiß sein, brennen", akkadisch „ereru", „dürr sein", in Verbindung, 124 so weist diese Gottheit schon in ihrer Etymologie die oben angedeutete Verknüpfung auf. 125 Eine inhaltlich verwandte Etymologie scheint auch für den ständigen Begleiter Erras, Isum, „den ehrfürchtigen Schlächter, dessen beide Hände zum Tragen grimmiger Waffen bestimmt sind," 126 möglich, wurde dieser doch mit gemeinsemitisch 113

Borger 1956, S. 102 § 6 8 , 1 1 Ζ. 1. Zur transitiven Bedeutung von „zanänu" siehe C A D Ζ 43. H5 Streck 1916, S. 7 8 - 7 9 , Z. 79-80. 116 Wörtlich: „in Feindesangelegenheiten" (nakrätu). 117 Zimmern 1913, Nr. 213 (VAT 6656), Z. 5: ,,[u]-äa-az-na-an i-na-ak-ra-ti tu-uq-ma-ta sa ki na- r ab-li n ". 118 Thompson/ Hutchinson 1929, Plate XLIX, Z. 26: „i-sar-rü d B A D qa-ab-la-at a-a-bi ύ-sa-aq-tar nab-la". Zur korrekten Kolumnenzählung vgl. Lambert 1957-1958. Vgl. zu diesem Text jetzt auch Foster 1993, S. 209-229. 119 Craig 1895, Nr. 30, Z. 32-33: „GlS.BAR ez-zu nab-lu/ mu-sa^-mit za-i-ri". 12 ° Streck 1916, S. 7 6 - 7 7 , Z. 57. 121 Siehe zu dieser Bedeutung von „kussuru" AHw 55b. '22 Streck 1916, S. 7 8 - 7 9 , Z. 82-83. 114

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Vgl. dazu Cagni 1969. Cagni 1977. Hecker, TUATIII/4 (1994), S. 781-801. So Roberts 1972, S. 24. Vgl. ferner Roberts 1971, S. 11-12. Edzard 1965, S. 63-64. Cagni 1977, S. 14-16. Eine andere Möglichkeit wäre, den Namen Er(r)a auf ein Element GIR zurückzuführen. Vgl. dazu Schretter 1974, S. 30-60. Erra-Epos I Z . 4.

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*'s, „Feuer" verbunden. 127 Wie immer man diese Herleitungen bewerten mag, außer Zweifel steht, daß der Kriegs- und Pestgott Erra zu einem späteren Zeitpunkt auch mit dem Element des Feuers in enger Verbindung steht. So ist das Götterkollektiv der Sibitti, 128 die als Waffen Erras gelten und an dessen Seite wandeln, 129 mit zahlreichen zerstörerischen Eigenschaften ausgestattet, zu denen auch das Element des Feuers gehört, heißt es doch bei deren Schicksalsbestimmung u. a.: „Wie Gira brenne, gleiße wie eine Flamme." 130 Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang auch eine leider nur bruchstückhafte Passage aus der zweiten Tafel des Epos, in der Erra wohl über seine künftigen Pläne reflektiert: „Das Geschrei [der Menschheit werde ich unterbrechen und die Freude ihr wegnehmen. Wie [ . . . ] , wie [Gi]ra die Stätte des Feindes. [ . . . ] das Übel werde ich eintreten lassen. [ . . . ] , achten werde ich auf niemanden." 131 Das vernichtende Wirken Erras wird an dieser Stelle wohl unmißverständlich mit dem Feuer verquickt. Neben diesen Vergleichen findet sich in der Ilias in bezug auf das Schlachtengetümmel auch das Bild totaler Finsternis, wo Sonne und Mond nicht mehr sichtbar sind und eine Art Nebel die Kämpfenden umhüllt: „. . . Es hätte wohl niemand Jetzt gewußt, ob Sonne und Mond noch stünden am Himmel. Denn es waren vom Nebel umhüllt die Tapfersten alle." 132 Ein ähnliches Bild begegnet wenig später noch einmal: „Nebel bedeckt sie alle zugleich, die Männer und Rosse, Vater Zeus, befreie vom Nebel du doch die Achaier. Gib uns die Helle des Tags und laß mit den Augen uns sehen; Töte uns, weil es dir also beliebt, im Scheine der Sonne! Also sprach er (seil. Ajas, der Telamonide), und Zeus, den Vater, rührten die Tränen. Gleich zerstreut' er den finsteren Dunst und verdrängte den Nebel;" 133 Man könnte in diesem Zusammenhang an eine Verdunkelung der Wallstatt durch den aufgewirbelten Staub der Kämpfenden denken und dieses Bild auf allgemeine Beobachtungen zurückführen. Läge allein die Vorstellung einer über dem Kampfgeschehen vorherrschenden Finsternis vor, wäre zweifelsohne an eine voneinander unabhängige Schil-

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Roberts 1972, S. 40-41. Cagni 1977, S. 16. Skeptisch bleibt Edzard 1965, S. 90. Vgl. dazu Edzard 1965, S. 124-125. 129 So Erra-Epos IZ. 4 0 , 4 4 , 9 8 . 130 Erra-Epos IZ. 33. 131 Erra-Epos II C Z. 45-48. ]32 II. XVII 366b-368. 133 II. XVII644-649. 128

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derung entsprechender Kampfesdarstellungen zu denken. Doch ist Staub wohl nicht unbedingt mit Nebel gleichzusetzen. Es muß vielmehr von den durch die Ilias gebotenen spezifischen Bildern ausgegangen werden. Zuerst sei hier die Vorstellung einer Verdunkelung von Sonne und Mond angeführt. Dies mag zwar auch einem Gemeinplatz nahekommen, allerdings erstaunt eine fast wörtliche Parallele im Erra-Epos doch. In einer Passage, in welcher der Kriegsgott Erra über seine zukünftigen Pläne sinniert, erklärt derselbe u. a.: „Öffne den Weg! Ich will den Feldzug angehen. Der Tag neigt sich dem Ende, verstrichen ist der Zeitpunkt. Ich sage: Des Samas Strahlen werde ich zu Fall bringen. Des Sin Antlitz werde ich in der Nacht bedecken." 134 In eine ähnliche Richtung zielte schon folgende Skizzierung des Kampfgeschehens: „Ein böser [Wind] wird wehen und der Menschen und Lebewesen Sicht [verfinstern]." 1 ^ Noch spezifischer allerdings ist das Bild des das Kampfgeschehen überlagernden Nebels, der zudem einen äußerst bedrohlichen Charakter annimmt. In diesem Fall ist wohl kaum mehr an allgemeine Beobachtungen zu denken und eine gegenseitige Beeinflussung analoger Vorstellungen sollte primär nicht von der Hand gewiesen werden. Jedenfalls findet sich in den assyrischen Königsinschriften immer wieder das Moment des in den Krieg ziehenden Königs, wobei letzterer droht, „wie ein Nebel" (klma imbari) über seine Feinde hereinzubrechen. 136 Sargon II. behauptet von sich: „In meinem Zorn [warf ich] die Umgebung dieses Bezirkes wie Nebel [zu Boden]."13? Überdeutlich ist die Verbindung mit dem Kampf bei Sanherib: „Wie das Aufkommen eines Orkans stürmte ich und wie ein Nebel warf ich es (seil. Babylon) nieder." 138 Besonders anschaulich ist noch ein weiteres Beispiel aus den Inschriften Sanheribs: „Der Staub ihrer (seil, der Soldaten) Füße bedeckt wie ein schwerer Nebel . . . das Antlitz des weiten Himmels." 139 Auch Asarhaddon brüstet sich schließlich: „Marduk, der König der Götter, ließ den Schauder (puluhtu) meines Königtums wie einen schweren Nebel die Berge der Weltufer bedecken." 140

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Erra-Epos IIC, Z. 12-15. Vgl. dazu Cagni 1969, S. 86-87. Cagni 1977, S. 40-41 bzw. zur Rekonstruktion der zweiten Tafel des Epos generell Al-Rawi u. Black 1989. Erra-Epos IZ. 174. Man vgl. nur die in den Lexika angeführten Textbeispiele: AHw 375a. CAD I/J 107-108. Schroeder 1922, S. 90, Nr. 141, Z. 215: „i-na äu-(ju-ut lib-bi-ia li-mi-it na-gi-i su-a-ti ki-ma im-ba-r[i asbu-up]". Luckenbill 1924, S. 83, Z. 44. Vgl. ferner ibid., 28, Z. 15; 40, Z. 80. Luckenbill 1924, S. 44, Z. 58-59. Borger 1956, S. 46, §27, Z. 34-35.

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2.3 Die im Kampf vorauseilenden Götter Die Ilias ist geprägt von vielfachem direkten Eingreifen bestimmter Gottheiten in das Kampfgeschehen. Nun besteht in einer Reihe von Fällen dieses Eingreifen nicht nur darin, daß sich die Gottheit unterstützend an der Seite eines Helden ins Schlachtengetümmel begibt, sondern die göttliche Intervention nimmt vielmehr ganz spezifische Formen an. Diese sind dadurch gekennzeichnet, daß die Gottheit ihren Truppen bzw. ihrem Helden kämpfend vorauseilt und somit die ganze Kampfeslast bis zum siegreichen Ende auf sich lädt. So bestürzt Poseidon die Griechen, als die Troer die achäischen Schiffe bedrohen: „ . . . und dann, in den Fäusten die wuchtigsten Schäfte der Lanzen, Eilen wir, ich als Führer voraus; und schwerlich wird Hektor, Priamos' Sohn, uns dann widerstehen, so mutig er streitet." 141 Hier werden darüber hinaus zwei weitere Elemente göttlicher Intervention angedeutet. Zum einen handelt es sich dabei um den schon genannten Aspekt der äußersten Bedrohung, was eine rettende Intervention geradezu heraufbeschwört, zum anderen ist die Wirkung dieses Vorgangs evident: Nicht einmal der stärkste Gegner vermag dem göttlichen Ansturm zu widerstehen. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für Apollo und Athene anführen: „Auch die Troer kamen in Scharen; es führte sie Hektor, Mächtigen Schritts, und vor ihm wandelte Phoibos Apollon, Rings die Schulter von Wolken umhüllt, und hielt die beschwingte, Grausige Aigis, die zottige, prangende, welche Hephaistos Hatte geschmiedet als Gabe für Zeus, die Männer zu schrecken. Also sprach er (seil. Hektor) und schlug mit der Geißel den Rossen die Schulter, Scharenweise die Troer berufend, und alle zusammen Schrien mit ihm und trieben voran die Rosse der Wagen Unter betäubendem Lärm; voraus aber Phoibos Apollon Schüttete leicht mit den stampfenden Füßen die Ränder des Grabens Tief in die Mitte und dämmte ihnen darüber die Brücke, Ebenso lang und breit, wie der Wurf des geschleuderten Speeres Reicht, wenn ein Mann ihn schnellt, die eigene Kraft zu versuchen. Dort nun strömten sie vor in geschlossenen Scharen, Apollon Vorn mit der herrlichen Aigis! Er stürzte den Wall der Achaier Mühelos, so wie ein Knabe den Sand am Gestade des Meeres, Den er zum Haufen sich türmte zum Spiele in kindlicher Freude, Spielend wieder zusammenschüttet mit Händen und Füßen: So, du treffender Phoibos, verschüttest du der Achaier Müh- und leidvolles Werk und triebst sie zur Flucht in Verwirrung."142 1 4 ' II. XIV 373-375. 142 II. XV 306-310, 352-366.

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Wesentlich kürzer ist die auf Athene bezogene Passage, doch ist auch hier klar, daß die Göttin die treibende Kraft zum Sieg darstellt: „Fast unterlag ich (seil. Aineias) wohl da den Händen Achills und Athenes, Denn sie schritt ihm voraus, zum Sieg ihn leitend und mahnend, Troer und Leleger dort mit der ehernen Lanze zu töten." 143 Die Tatsache, daß bestimmte Götter vor dem König wandelnd das gegnerische Heer besiegen, ist den altorientalischen Texten wohl vertraut. So heißt es bei Assurbanipal: „Assur, Sin, Samas, Bei, Nanü, Istar von Ninive, die Königin von Kidmuri, Istar von Arbela, Ninib, Nergal, Nusku, welche vor mir wandelten und meine Gegner vernichteten, warfen den Sama§sumu'ukin, meinen feindlichen Bruder in einen brennenden Feuerschlund und vernichteten sein Leben." 144 Meist sind es allerdings nicht die Götter im Kollektiv, sondern ganz bestimmte Gottheiten, denen entsprechende Aufgaben zufallen. Hier nimmt nun Istar eine ganz besondere Rolle ein. Dies ist um so bemerkenswerter als diese Göttin mit ähnlich kriegerischen Aspekten wie Athene ausgestattet ist: „Istar, die in Arbela wohnt, ließ meine Truppen in der Nacht einen Traum schauen und teilte ihnen folgendes mit: Ich werde vor Assurbanipal, dem König, den meine Hände geschaffen haben, hergehen." 145 Eine ausführliche Traumschilderung an anderer Stelle, in der das furchterregende Aussehen Istars in ähnlichen Tönen geschildert wird wie in der Ilias jenes von Apoll, zeigt, daß die Göttin tatsächlich die Feinde im Alleingang niederwirft, während sich das eigentliche Heer hinter ihr aufhält: „In dieser Nacht, in der ich ihr gegenübertrat, legte sich ein „saprü" 146 nieder und sah ein Traumgesicht. Er wachte auf, und Istar ließ ihn ein Nachtgesicht schauen. Er erzählte mir (darüber) folgendes: Istar, die in Arbela wohnt, trat zu mir. Rechts und links war sie mit Köchern behängt, umfaßt hielt sie den Bogen an ihrer Seite, gezückt das spitze Schwert, (bereit), die Schlacht zu schlagen. 147 Vor ihr standest du. Sie sprach mit dir wie die Mutter, die Gebärerin. Es rief dir Istar, die Hoheit unter den Göttern, zu (und) erteilte dir folgendes Geheiß: ,(Wenn) du schaust, zu kämpfen, (dann beachte): Wohin mein 148 Antlitz gerichtet ist, (dorthin) bin ich im Aufbruch.' Du sagtest zu ihr folgendes: ,Wohin du gehst, (dorthin) will ich mit dir gehen'. Die Herrin der Herrinnen antwortete dir so: ,Du sollst an der Stätte Nabüs (Var. an deiner S.) verweilen. Iß Brot, trinke Feinbier, veranstalte Freudengesang, preise meine Gott-

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II. XX 94-96. Streck 1916, S. 26-37, Z. 46-52. Streck 1916, S. 48-49, Z. 97-101. Die Qualität des Dentals ist strittig. Vgl. AHw 1120a s. v. „äabrü" gegenüber Sollberger 1966, S. 171-172. Vgl. ferner CAD δ 114a. Es ist nicht ganz glar, ob sich „äa epeä tä^äzi" auf „namsäru" oder auf Istar bezieht. Die gewählte Übersetzung läßt bewußt beide Möglichkeiten offen. Mit Piepkom 1933, S. 66 „pa-nu-u-a".

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heit, bis ich hingehe, jenes Werk verrichte und ich (dich) deine Herzenswünsche erreichen lasse! Dein Gesicht soll nicht erbleichen! 149 Deine Füße sollen nicht wanken! Deine Tüchtigkeit soll nicht abreißen (?) 150 in der Schlacht!' In ihren süßen Arm nahm sie dich und schützte deine ganze Gestalt. In ihrem Antlitz leuchtete Feuer auf. In wildem Grimm zog sie aus nach den Seiten (Var. Grimmig und lefuchtend zog sie aus. Um [die/ihre Feinde] zu überwältigen [ging sie hin]). 151 Gegen Teuman, den König von Elam, über den sie sehr ergrimmt ist, wandte sie ihr Antlitz." 152 An dieser Stelle wird die Vorstellung göttlicher Intervention zweifelsohne auf die Spitze getrieben. Die Göttin kämpft nicht nur vor den Truppen ihres Schützlings Assurbanipal, sondern sie bestreitet den Feldzug quasi im Alleingang. Interessant erscheint in diesem Text auch die Tatsache, daß das göttliche Eingreifen mit dem Moment des Tremendum verbunden wird. In diesem Sinne ist wohl das im Antlitz Istars aufleuchtende Feuer zu deuten. Analog dazu war in den oben als Vergleichsbeispielen herangezogenen Passagen der Ilias von göttlichem Schauder die Rede, welcher allein schon die Feinde zum Weichen veranlaßt. In diesem Zusammenhang ist auf eine jüngst gemachte Beobachtung hinzuweisen, die das durch diesen Text vermittelte Wechselspiel zwischen göttlicher Aktivität (Istar) und königlicher Passivität (Assurbanipal) als die Umsetzung eines in neuassyrischer Zeit kursierenden Lehrbeispiels sieht, wie es die zeitgenössische „Kutlja-Legende Narämsins" vermittelte.153 Dieser sagenhafte Text gehört zu einem als „narü-Literatur" bezeichneten Genre, 154 das mit historischen Herrscherpersönlichkeiten, in diesem Fall dem altakkadischen König Narämsin, historisierende Exempla, eingewoben in eine moralisierende Botschaft, verknüpft. Narämsin hatte laut diesem Text in äußerster Not auf eine feindliche Invasion überhastet reagiert und seine persönliche Intervention mit der völligen Vernichtung seines Heeres bezahlt. Dabei hatte er ein göttliches Orakel mißachtet, das ihm beharrlich die Zustimmung zur Kampfestat verweigerte. Tatsächlich verkündet die „Kutjia-Legende Narämsins" als ultima Ratio königliche Passivität und delegiert die Entscheidung an die Gottheit. So spricht Istar zu Narämsin: „Laß ab! Du darfst 155 ,diese verlorene Brut' 156 nicht vernichten! In fernen Tagen wird sich Enlil ihrer für (deren) Bosheit annehmen. Des grimmigen Herzens Enlils dürfen sie gewiß sein" 157 (Z. 130-132).

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Die Form „urraq" ist etwas seltsam. Man neigt jedenfalls zu einer Verbindung mit „waräqu", doch würde man dann eher „irriq" erwarten. Demnach würde das Zustandsverbum „waräqu" wie ein fientisches Verbum Iw flektiert. Meines Wissens führt Soden 1969, S. 141 §103n lediglich Beispiele für die umgekehrte Möglichkeit an. „ta-§AM-MAD" hier mit „samätu", AHw 1155b, verbunden. Vgl. zu Z. 74 und der Variante Piepkorn 1933, S. 66-67. Streck 1916, S. 116-119, Z. 49-76. Vgl. zu diesem Text Gurney 1955. Vgl. dazu Galter 1986 u. Longman 1991. Der Prohibitiv „lä tujjallaq" unterstreicht das göttliche Verbot und ist hier bewußt dem Vetitiv vorgezogen.

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Auch die Schlußmoral des Textes ist ähnlich gehalten, wo es u. a. heißt: „Deine Waffen packe zusammen und lehne in die Ecken!" (Z. 162). Besteht nun tatächlich eine Verbindung zwischen Assurbanipals Inschrift und der „Kutlja-Legende Naräm-Sins", wie dies Glassner vorgeschlagen hat, 158 so impliziert dies nicht nur eine bewußte Ausrichtung des assyrischen Königs an einem vermeintlich altakkadischen Vorbild, sondern hat auch für die hier zu behandelnde Thematik Gewicht. Bezeugt würde dadurch nämlich eine im neuassyrischen Reich kursierende Idealvorstellung, die sich sicherlich einer entsprechenden Verbreitung erfreut hat. Dies würden vor allem auch die zahlreichen anderen Textbeispiele nahelegen, die von einer ähnlichen göttlichen Intervention zu berichten wissen. 159 Ein nahezu identes Bild, nur in einem weit umfassenderen Sinn, wird uns in einem neuassyrischen Orakel vermittelt: „Ich bin die Istar von Arbela! Deine Feinde schinde ich, übergebe (sie) dir. Ich bin Istar von Arbela! Vor dir, hinter dir gehe ich her. Fürchte dich nicht! Du liegst in Krämpfen - ich bin in Schmerzen. Ich erhebe mich und setze mich (zu dir)." 160 Deutlich wird an dieser Stelle die Not artikuliert, in der sich der königliche Schützling befindet und die den Anlaß zum Eingreifen der Göttin erst darstellt. Über diese doch beachtenswerten Parallelen zwischen der Schilderung einzelner Szenen der Ilias und altorientalischen Texten hinaus läßt sich die Vorstellung eines göttlichen Eingreifens zu Gunsten eines bedrohten Helden noch weiter präzisieren. Das bereits zitierte Einschreiten Poseidons zu Gunsten der arg in Bedrängnis geratenen Griechen wird im Epos konkretisiert: „Aber sobald sie die Leiber mit funkelndem Erze gewappnet, Drangen sie vor, geführt von dem Erdenerschütterer Poseidon, Der das gewaltige scharfe Schwert in der nervigen Rechten Hielt wie den flammenden Blitz (αστεροπή 1 6 1 ); mit ihm den Kampf zu beginnen, Bringt Verderben; der Schrecken allein schon hindert die Männer." 162

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„zer halqäti" heißt wörtlich „flüchtiger/verlorener Same" und bezieht sich auf die in das Land eingefallenen Nomaden. Vgl. AHw 313b. 157 Zu ,,qu' 'ü reäa" und zur Konstruktion der letzten Z. vgl. AHw 931b und CAD Q 33 lb. 158 Glassner 1986, S. 85. 159 Glassner ging auf diese Beispiele nicht ein. !«o Κ 43101 Ζ. 19'-28\ Vgl. dazu Weippert 1981, S. 81-82, 98. Weippert faßt „ussab" Z. 28' als Imperativ auf. Dies scheint mir schon allein wegen des Vokalismus kaum möglich. Mit Hecker TUAT II/l (1986), S. 57fasse ich die Form als G-Präs. 1. Pers. Sg. auf. 161 H. Rup£ übersetzt den Terminus als „flammender Blitz". Kullmann 1956, S. 123-124 sah darin ein „blitzendes Schwert". 162 II. XIV 383-387. Cauer 3 1921, S. 394 sah darin eine „Versgruppe von altertümlicher Gestalt" und bemerkte im besonderen zu Vers 385: „Das kann doch nicht von demselben erfunden sein, der ihn (seil. Poseidon) kurz vorher vorsorglich dreimal unter verschiedener menschlicher Gestalt verborgen hatte". Kritisch zu dieser Ansicht Kullmann 1956, S. 134-139, der generell in der Darstellung von Göttern als Führer eines Heeres bzw. Vorkämpfer einen Reflex auf den „Glauben an die Führung eines Heeres durch besondere Heroen" zu erkennen glaubte (ibid., S. 138).

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Nun erinnert das „scharfe Schwert in der „nervigen Rechten"(na%sTa χειρ) Poseidons nicht nur frappant an die oben vorgelegte Beschreibung der zum Kampfe gerüsteten Istar.163 Die Tatsache, daß die Gottheit mit einer Art gleißendem Blitz vor den Truppen herstürmt, gibt der Szene zweifelsohne einen weiteren spezifischen Charakter. Gerade die Verknüpfung zwischen der vor den Truppen hereilenden Gottheit und der von ihr verwendeten leuchtenden Waffe, die das Aussehen eines „Flammenschwertes" trägt findet man auch in altorientalischen Texten. So wird Assurbanipal durch einen Saprü-Offizianten ein Traumorakel mitgeteilt, in dem eine anonyme Gottheit ihre den König unterstützende Bereitschaft verkündet: „Wer gegen Assurbanipal, den König des Landes Assur, Böses plant und Streit beginnt, denen will ich einen schlimmen Tod bescheren. Durch ein Flammenschwert, 164 durch hereinbrechendes Feuer, 165 durch Hungersnot, durch die Pest 166 werde ich deren Leben auslöschen." 167 In einen ähnlichen Sinnzusammenhang gehört wohl eine Passage aus den Vasallenverträgen Asarhaddons, wo es in einer der Fluchformeln heißt: „Möge Mullissu (= Ninlil), die in Ninive wohnt, ein Flammenschwert 168 gegen euch umbinden." 169 Ist an diesen beiden Stellen eine Verbindung zum Vorauseilen der Gottheit nur zu erahnen, so stellt eine Passage aus dem schon zitierten Erra-Epos das feuergleiche Leuchten des Gottes in direkten Bezug zu seinem Voranschreiten: „Du 170 bist die Fackel. Man schaut dein Licht. Du bist derjenige, der vorangeht." 171 Ähnlich ist wohl in einer Inschrift Assurbanipals das Voranschreiten des Lichtgottes Nusku zu verstehen: „Nusku, der ehrfürchtige Wesir, der meine Herrschaft wirksam macht, der auf Geheiß Assurs und Ninlils, der kriegerischen Herrin [der Schlacht] an meiner Seite ging und

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Man vgl. in diesem Zusammenhang auch II. V 733-747, wie sich Athene zur Schlacht rüstet. „GIR. AN.B AR (lantu" wird hier mit CAD y 71b als „Flammenschwert" verstanden und damit ein Verbaladjektiv „Jjamtu", „heiß" von „bamätu", „brennen" postuliert. AHw 318b führt hingegen alle Belege auf ein Verbaladjektiv von „Jjamätu", „eilen" zurück und versteht die Stelle als „rasch zufahrendes Schwert". Meines Erachtns ist gerade durch das folgende „miqit iSäti" die Bedeutung Flammenschwert naheliegend. 165 Wörtlich: durch das Fallen des Feuers. 166 Wörtlich: durch den Eingriff Erras. Streck 1916, S. 32-33, Z. 125-126. 168 „patru bamtu" (Var. [Gf]R.AN.BAR [Jjan/m]tu). Die Passage plädiert für eine generelle Lesung des Ideogramms GIR.AN.BAR in Verbindung mit ()an/mtu als „patru han/mtu" gegen „nam$äru han/m{u". 169 Parpola u. Watanabe 1988, S. 48, Z. 457^158 übersetzen mit Wiseman 1958, S. 64: „ . . . tie a flaming sword at your side". Poblematisch erscheint dabei nicht nur der Sinn der Aussage, sondern auch die Bedeutung der Präposition „itti". Die Übersetzung erfolgt hier mit Borger, TU AT 1/2 (1982), S. 171. 170 Es ist nicht ganz klar, ob hier Erra selbst oder Isum angesprochen ist. 171 Erra-Epos 110-11. 164

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mein Königtum beschützte, ergriff die gegenüberliegende Seite meiner Truppen und brachte meine Gegner zu Fall." 172 Damit gewinnt das göttliche Leuchten vor dem eigenen Heer nicht zuletzt im Vergleich mit der Ilias deutlich Konturen. Doch ist dieses im Falle Poseidons wohl einseitig auf die Waffe des Gottes beschränkt, und es mag problematisch sein, dieses Phänomen auf die gesamte Gestalt auszudehnen und dazu noch mit dem Element des Feuers in Verbindung zu bringen. Doch scheint eine andere Passage der Ilias genau auf das eben angesprochene Bild anzuspielen. So heiß es von einer Erscheinung vor dem griechischen Heer: „Wie ein verzehrender Brand sich erhebt in unendlicher Waldung Hoch auf dem Kamm des Gebirges, daß fern die Flamme gesehn wird: Also erhob sich dem Heere voran, von dem göttlichen Erze Fernhinleuchtend ein Glanz empor durch den Äther zum Himmel." 173 Hier scheint genau jenes göttliche Feuerleuchten angesprochen zu sein, das in ähnlicher Form auch in altorientalischen Texten beschrieben wird. Es darf demnach festgehalten werden, daß bezüglich den Vorstellungen über spezifische Formen göttlichen Eingreifens in das Schlachtengetümmel auffallende motivliche Parallelen zwischen der Ilias und altorientalischen Bildern bestehen, die sich wiederum zu größeren Komplexen verdichten. Diese Vorstellungen beziehen sich einerseits auf ein göttliches Walten vor dem eigenen Heer und sind auf spezifische Gottheiten beschränkt, unter denen den Kriegsgöttinnen Istar/Athene sowie den Pestgöttern Erra/Apollo eine wichtige Rolle zukommt. Die Parallelen sind darüber hinaus durch die Verknüpfung des Feuer- und Lichtelements mit der voranschreitenden Gottheit charakterisiert, wobei in diesem Bereich wohl die weiter oben bereits angesprochene Wirkung einer göttlichen Aura ebenfalls ins Kalkül zu ziehen ist.

2.4 Das Kampfgeschehen in seiner letzten Konsequenz - Aspekte des Todes Im folgenden sollen drei verwandte Erscheinungen kurz angesprochen werden, bei denen Verbindungen zwischen iliadischem und altorientalischem Ideengut, zumindest im Kontext anderer Parallelläufe, doch erwägenswert erscheint. Zuerst sei in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf einen Gemeinplatz gelenkt. Sowohl in der Ilias als auch in altorientalischen Vorstellungen kommt einer ordnungsgemäß durchgeführten Bestattung eine eminente Bedeutung zu. In diesem Sinne ist etwa das Wirken der Göttin Thetis zu verstehen, die mit Erfolg ein Verwesen des Leichnams des Patroklos verhindern kann. 174 Die altorientalische Ideenwelt ist geradezu geprägt von einer verwandten Vorstellung.175 Es soll in diesem Zusammenhang lediglich an Inschriften Assurbanipals

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Streck 1916, S. 78-79, Z. 86-89. Zu ähnlichen Bildem im AT vgl. etwa Ps 97: 2 und Joel 2: 3 bzw. Watson 1995a und b. II. II 455-458. Vgl. ferner II 780-781. II. XIX 29-33, 38-39. Vgl. dazu allgemein Hutter 1985. Bottero 1980. Bottero 1987. Finet 1987.

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erinnert werden, in denen der assyrische König seinen politisch-militärischen Gegnern die Unterlassung einer ordentlichen Bestattung - mit allen damit verbundenen Implikationen - androht bzw. dieses Vorhaben dann auch tatsächlich in die Tat umsetzt. 176 In einem Fall wird auch die dahinterstehende Intention klar bekundet: „Seinen (seil, des Nabü-bel-sumäte) Leichnam übergab ich nicht dem Begräbnis. Über das Bisherige hinaus vergrößerte ich seinen Tod." 177 Dahinter steckt offenbar die Absicht, den persönlichen Feind mit der schlimmsten erdenkbaren Schmach heimzusuchen, ein Motiv, das Assurbanipal mit Achill verbindet und welches letztlich Priamos zu seinem Bittgang veranlaßt. 178 Diese verwandten Motive und Erscheinungen sind aber zweifelsohne zu allgemein, um von vornherein eine gegenseitige Beeinflussung nahezulegen. Teilweise entsprechen sich die hinter solchen Konzeptionen stehenden Vorstellungen allerdings bis ins Detail. So ist in der Ilias 179 die Angst vor bzw. die Schmach einer nicht durchgeführten regulären Bestattung allzu oft mit einem zweiten Motiv verbunden: dem Fressen des unbestatteten Leichnams durch Hunde und Vögel. 180 Ein derartiges Szenario mag zum Schrecklichsten gehört haben, was die menschliche Vorstellungskraft zu erfassen imstande war: „Wird jedoch das graue Haupt und das Kinn, das ergraute, Und die Scham dem getöteten Greis von den Hunden geschändet, Das ist wohl das kläglichste Bild für die elenden Menschen." 181 Auch das erfolgreiche Bemühen Aphrodites und Apollos, den Leichnam Hektars nicht nur vor Zerfall und Verletzung, sondern eben auch vor den Hunden zu schützen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. 182 Nahezu idente Vorstellungen lassen sich schon bei Asarhaddon ausmachen: „Die Leichen ihrer Helden ließ ich unbestattet die Geier 183 fressen." 184 Auch bei Assurbanipal findet sich Ähnliches:

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Streck 1916, S. 22-23, Ζ. 116-118 (Gyges); S. 24-25, Z. 8-9; S. 39-41, Z. 81-85; S. 55-57, Z. 70-76 (Schändung von Königsgräbern). 177 Streck 1916, S. 62-63, Z. 45-46. 178 Man vgl. dazu Hektors sehnlichen Wunsch nach einer entsprechenden Bestattung: II. VII76-91. 179 Vgl. dazu Segal 1971, der u. a. zeigt, daß das „theme of the mutilation of the corpse" seit II. XVI eine sukzessive Steigerung erfährt. 180 II. I 4 - 5 (Hunde und Vögel); II 393 (Hunde und Vögel); IV 237 (Geier); VIII 379-380 (Vögel und Hunde); X I 3 9 5 (Vögel), 453-455 (Vögel), XIII233 (Hunde), 831(Vögel und Hunde); XV 351 (Hunde); XVI 836 (Geier); XVII 127 (Hunde), 153 (Hunde), 241 (Hunde und Vögel), 255 (Hunde), 272-273 (Hunde), 558 (Hunde); XVIII 179 (Hunde), 271-272 (Hunde und Geier), 283 (Hunde); XXII 4 2 - 4 3 (Geier und Hunde), 66-68 (Hunde), 7 4 - 7 6 (Hunde), 89 (Hunde), 335-335 (Vögel und Hunde), 339 (Hunde), 348-354 (Hunde und Vögel), 508-511 (Hunde); XXIII 21 (Hunde), 183 (Hunde); XXIV 211 (Hunde), 409 (Hunde), 411 (Hunde und Vögel). 181 II. XXII74-76. 182 II. XXIII184-191; XXIV 18-21,414-423. 183 Zu „zlbu" vgl. CAD Ζ 106b. Neben der Bedeutung „Geier" ist in diesem Fall auch eine Gleichung mit „Schakal" möglich. 184 Borger 1956, S. 58 §27, Z. 6.

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Abbildung 1: „Orthostatenrelief Tiglatpilesars III. aus dem Südwestpalast in Nimrud: Geier stürzen sich auf die Eingeweide gefallener Krieger", aus Barnett u. Falkner 1962, S. 117, Plate LXVII

„Ihr zerschnittenes Fleisch ließ ich Hunde, Schweine, Geier, Adler, die Vögel des Himmels und die Fische des Süßwassers fressen." 185 Dabei ist die Tatsache hervorzuheben, daß das in der Ilias greifbare Bild des den Leichnam verzehrenden Tieres nahezu ausschließlich auf Hunde und Vögel beschränkt ist, wobei bei letzteren dem Geier eine besondere Rolle zukommt. 186 Zwar weisen die altorientalischen Textbeispiele einen etwas breiteren Kanon von Tieren auf, doch kommt auch hier neben dem Geier vor allem dem Hund eine dominante Rolle zu. Die Beschränkung auf Hunde und Vögel in der Ilias legt die Vermutung nahe, daß hier mit bereits festgefügten literarischen Bildern gespielt wird. Dies läßt auch die Häufigkeit der Belege vermuten. Derartig topisch verfestigte Bilder müssen freilich neben den angeführten inschriftlichen Zeugnissen aus dem Alten Orient auch in anderen Textkategorien greifbar sein, die auf eine entsprechende Verbreitung der damit verbundenen Vorstellungswelten schließen lassen. Tatsächlich lassen sich solche Textbeispiele anführen. Gerade

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Streck 1916, S. 38-39, Z. 74-76. Vgl. ferner ibid. Z. 81 (Hunde und Schweine). Zu den zu den Fischen geworfenen Toten siehe unten.

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bei den Fluchformeln kann von dem Gedanken festgefügt normierter Konzeptionen und Bilder ausgegangen werden, da dies ihre Wirksamkeit erhöhte. 187 So heißt es im Fluchformular eines neuassyrischen Vertrages, der die Nachfolge Asarhaddons regeln sollte: „Er (seil. Ninurta) möge die Steppe mit eurem Blut füllen und euer Fleisch die Adler und Geier fressen lassen." 188 In zwei Verträgen aus der Zeit Assurbanipals heißt es fast analog: „Hunde mögen seinen unbestatteten Leichnam zerfleischen." 189 Auch in einem neuassyrischen Kolophon eines Kommentars aus Assur findet sich dieselbe Vorstellung: „Wer auch immer diese Tafel abreibt oder ins Wasser wirft, oder sie liest, sie aber den, der sie nicht kennt, nicht hören läßt, den mögen Assur, Sin, Samas, Adad und Istar, Bei, Nabü, Nergal, Istar von Ninive, Istar von Arbela, Istar von Blt-Kidmurri, die Götter des Himmels, der Erde, die Götter des Landes Assur allesamt, mit einem schlimmen, unlöslichen Fluch verfluchen und, solange er lebt, kein Mitleid mit ihm bekommen; seinen Namen, seinen Samen aus dem Land entfernen, sein Fleisch in das Maul eines Hundes werfe[n]." 190 Selbst in die Beschwörungsserie Maqlü hat diese Vorstellung Eingang gefunden. 191 Analog zu dem oben zitierten Beispiel aus der Ilias, das die unsagbare Entsetzlichkeit eines solchen Vorfalls festhält, liest man in einem neubabylonischen Brief die fast schon flehentliche Bitte: „Was von meinem Körper und den Körpern meiner Familie übrigbleibt, 192 sollen die Hunde nicht fressen." 193 Unbestattete Leichen an Hunde (und andere Tiere) zu verfüttern, scheint somit in der mesopotamischen Vorstellungswelt und Praxis 194 einen festen Platz einzunehmen. 195 Frappierende Übereinstimmungen in der Ilias lassen demnach meines Erachtens zumindest eine Beeinflussung als wahrscheinlich erscheinen. Offenbar läßt sich hier eine Vorstellung greifen, die in einer unterlassenen Bestattung und bestimmten damit verbunde-

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Vgl. dazu jetzt auch die von Sommerfeld 1993 angestellten Überlegungen. Parpola u. Watanabe 1988, S. 46, Z. 426-427. Kohler u. Ungnad 1913, S. 16, Nr. 15 (= Johns 1898/1923, Nr. 647), Z. 61 bzw. S. 19, Nr. 16 ( = Johns 1898/1923, Nr. 646), Z.61. Zitiert nach Hunger 1968, S. 89-90 Nr. 291 = Soden 1955, S. 140-141, Z. 70-76. Maqlü VIII 87-88: „Hund und Hündin mögen dich (seil, die Hexe) zerreißen! Hund und Hündin mögen dein Fleisch zerreißen!" Zitiert nach Meier 1937, S. 56. Wörtlich: „Den Rest meines Körpers...". Figulla 1949, Nr. 190, Z. 12-14: „sit-ti ää-lam-di-ia/ sä-lam-du sä qin-ni-iä/ kal-ba-a-ni la ik-ka-lu". Vgl. dazu Heimpel 1972/1975, S. 495. Loth 1994, S. 775. In einem neuassyrischen Propagandatext, wahrscheinlich aus der Zeit Sanheribs, ist in der abschließenden Fluchformel u. a. ebenfalls angedroht: „. . .sein Fleisch möge man in den Rachen eines Hundes (oder: Löwen?) legen". Vgl. dazu Soden 1955, S. 140, Z. 76. Soden hat im Kommentar dazu ibid., S. 164 noch „ganz ohne Analogie" vermerkt. Wie die Beispiele oben zeigen, handelt es sich dabei aber um ein weitverbreitetes Bild!

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nen Faktoren vor allem deshalb ein schreckliches Übel erkennt, weil dies Auswirkungen auf das Leben nach dem Tode nach sich ziehen kann. Näher zu bestimmen ist das dadurch faßbare Gedankengut in der zwölften Tafel des Gilgames-Epos und dessen sumerischem Vorläufertext „Gilgames, Enkidu und die Unterwelt." 196 Im Zentrum dieser Dichtung stehen die Schicksale verschiedener Menschengruppen im Jenseits, die Gilgames von seinem dort gefangenen Freund Enkidu erfrägt. Dabei wird der Zusammenhang zwischen bestimmten Todesursachen und den damit ursächlich verbundenen Nachwirkungen im Jenseits evident. So erhält Gilgames in „Gilgames, Enkidu und die Unterwelt" auf seine Frage nach dem Schicksal dessen im Jenseits, der von einem Löwen gefressen wurde, folgende Antwort: „[Wehe mei]ne [Ha]nd, wehe, mein Fuß! klagt er bit[terli]ch." 197 Daraus wird klar, daß die Todesursache beträchtliche Auswirkungen für das Weiterleben des Toten im Jenseits nach sich zieht. Im konkreten Fall leidet der Tote ständig an den Bißwunden des Raubtieres. Die ninivitische Fassung des Gilgames-Epos gibt darüber hinaus einen Einblick in das jämmerliche Fortleben, das einem unbestatteten Toten drohte: ,„Dessen Leichnam in der Steppe liegt, sahst du den?' ,Ich sah ihn: Sein Totengeist findet in der Unterwelt keine Ruhe!',Dessen Totengeist keinen Versorger hat, sahst du den?' ,Ich sah ihn: Reste aus dem Topf und Brocken von Brot, die auf die Straße geworfen sind, ißt er!' ", 198 Die genannten Aspekte müssen wohl die wesentlichen Gründe dafür sein, weshalb das Verzehren des Leichnams durch Hunde und Vögel als derartig gräßlich empfunden wurde. Die hinter solchen Konzeptionen stehende Vorstellung wurde in der modernen Literatur als der „schlimme Tod" bezeichnet und als für die mesopotamische Geisteswelt typisch klassifiziert. 199 Die bisher aufgezeigten Parallelen zur homerischen Welt lassen sich noch um ein Detail erweitern. So scheint in diesen Zusammenhang auch der schmähliche Tod durch Ertrinken zu gehören: „Liege nur unten jetzt bei den Fischen; sie werden gefühllos Ab von der Wunde lecken dein Blut, und es legt dich die Mutter Nimmer mit Klagen aufs Totenbett; der Strom des Skamandros Führt dich strudelnd hinab zum räumigen Grunde des Meeres. Bald wird unter der Flut empor zum dunklen Gewoge Schießen ein Fisch, um zu fressen vom schimmernden Fett des Lykaon." 200

196

Vgl. zu ersterem Soden 1986 und zu letzterem Shaffer 1963. Wilcke 1976, S. 19-21. Römer, TUAT II/l (1986), S. 36-45.

197

Zitiert nach Römer, TUAT II/l (1986), S. 42, Z. 285. Zitiert nach Hecker, TUAT 111/4(1994), S. 744, Z. 150-154. Vgl. auch Soden 1986, S. 112. Bauer 1989. II. XXI 122-127.

198 199 200

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Noch deutlicher heißt es wenig später: „Jetzt aber ward mir bestimmt, des schmählichsten Todes zu sterben, Eingeengt in den Strom, wie ein schweinetreibender Knabe, Fortgerissen vom Bach, den er sucht zu durchqueren im Winter." 201 Die entsprechende Stelle in „Gilgames, Enkidu und die Unterwelt" verrät nicht nur eine analoge Vorstellung des „schlimmen Todes", sondern sie scheint auch den dahinter stehenden Grund näher zu beleuchten. So beschreibt Enkidu das Schicksal des Ertrunkenen mit folgenden Worten: „Wie ein Rind erzittert er, Ungeziefer frißt von ihm." 202 Die Parallele der Vorstellungen und die in altorientalischen Texten dazu faßbaren Erklärungsmodelle mögen somit verblüffend erscheinen, doch zeigen gerade die angeführten Beispiele auch die Eigenheiten der griechischen Vorstellungswelt, die zwar entscheidende Impulse aus dem Alten Orient empfangen haben mag, diese jedoch innerhalb ihres Kulturkreises eigenständig weiter verarbeitete. So wurde in der mesopotamischen Vorstellungswelt neben dem Ertrinken vor allem das Verbrennen zu den grauenvollsten Todesarten gerechnet, da es zur völligen Auflösung des Totengeistes führte. 203 Völlig konträr dazu erscheint der Geist des Patroklos dem Achill, und bittet seinen ehemaligen Mentor ihm Seelenfrieden zu schenken, den er erst durch die Verbrennung erlange! 204 Andererseits hat gerade wieder die Vorstellung der Kontaktnahme eines Lebenden mit dem Totengeist eines Verstorbenen ihre unmittelbare Parallele in den Geschichten um Gilgames und Enkidu. Diese ,Doppelgleisigkeit' soll unseren Blick nun kurz auf ein anderes Ereignis lenken, das ebenfalls mit dem Tod des Patroklos verbunden ist. Neben den üblichen Totenopfern für den verstorbenen Patroklos wird auch die Tötung von gefangenen Troianern am Scheiterhaufen des Helden erwähnt. 205 Auch wenn für diese Tötungen gerade in letzter Zeit wieder ein realer Hintergrund eingefordert und diese als „vengeance killing" im Sinne einer rituellen Tötung interpretiert wurden, 206 so verdient doch eine erstaunliche Parallele in den Inschriften Assurbanipals nähere Beachtung. 207 So berichtet der assyrische König anläßlich der Eroberung Babylons von einem ganz besonderen Totenopfer, das er für seinen ermordeten Großvater Sanherib veranstaltet hat: „Den Rest ihrer Überlebenden - bei den Stierkolossen, wo man Sanherib meinen Großvater und Erzeuger niedergeschlagen hatte, diese Leute habe ich jetzt bei der Totenpflege für ihn (seil. Sanherib) dort niedergeschlagen." 208 201

202 203 204 205 20« 207 208

II. XXI281-283. Vgl. ferner II. XXI202-204. Zitiert nach Römer, TUAT II/l (1986), S. 43, Z. 290. Römer, TUAT II/l (1986), S. 44, Z. 303. Bauer 1989, S. 23-24. Π. XXIII62-92. Ii. XVIII336-337; XXIII22-23, 175-178. Hughes 1991, S. 70. Kurz hingweiesen hat auf diese Parallele schon Burkert 1994, S. 98 Anm. 7. Streck 1916, S. 38-39, Z. 70-73. Vgl. zu der schwierigen Stelle die Ausführungen von Tsukimoto 1985, S. 112-114.

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Die Stelle hat große Beachtung gefunden, stellt sie doch das einzige schriftliche Zeugnis für das Phänomen des Menschenopfers in Mesopotamien dar. 209 In seiner Untersuchung zum Usus der Totenpflege (kispu) in Mesopotamien hat Tsukimoto diesen realen Hintergrund allerdings strikt in Abrede gestellt: „Das Hinschlachten der Leute ,bei der Totenpflege' ist hier meiner Meinung nach eine literarische Formulierung von dem Vergeltungsakt Assurbanipals für seinen ermordeten Großvater. Der Text soll nicht so gedeutet werden, daß Assurbanipal hier seine Feinde hingeschlachtet und sie als,Menschenopfer' zum kispu(m) für Sanherib dargebracht hat. Das Hinschlachten der Feinde und das Darbringen des kispu(m) für Sanherib sind zwei verschiedene Taten des Assurbanipals (sie). Auf jeden Fall kann man aus dieser Stelle des Textes das Ehrfurchtsgefühl Assurbanipals gegen seinen verstorbenen Großvater ablesen." 210 Nun mag der Text durchaus die Absicht in sich tragen, die Ehrfurcht Assurbanipals gegenüber seinem Großvater zu betonen, die Trennung der beiden Tatbestände des Hinschlachtens und der Totenpflege erscheint aber aus dem Text heraus nicht unbedingt einsichtig. Immerhin bringt Assurbanipal das inszenierte Niedermetzeln eines übriggebliebenen Restes von offensichtlich gefangenen Gegnern in deutlichen Konnex zum terminus technicus der Totenpflege, was mit der Intention einer literarisch-metaphorischen Überhöhung des Geschehens meines Erachtens kaum befriedigend erklärt werden kann. Die tatsächliche und auch als solche gedachte Opferung der gefangenen Gegner sollte deshalb nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Ernst zu nehmen ist allerdings die Singularität des Belegs, so daß selbst bei der positiven Annahme eines Menschenopfers von einem für mesopotamische Verhältnisse außergewöhnlichen Vorfall gesprochen werden muß. Interessant erscheint mir unter diesem Blickwinkel, daß auch die Menschenopfer für Patroklos nicht unbeträchtliche Interpretationsprobleme bezüglich ihres realen Hintergrundes in der frühgriechischen Welt aufgeben, wie überhaupt das Menschenopfer bei den Griechen ein besonderes Forschungsproblem darstellt. 211 Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daß in beiden Fällen das primäre Motiv zur Schlachtung der Gegner in der Rache für die Ermordung einer ehedem nahestehenden Person genannt wird. 212 Allerdings wird nur in der Ilias das Geschehen seitens des Dichters deutlich negativ konnotiert. 213 Dies ist meines Erachtens ein weiteres Indiz für die Fremdartigkeit des geschilderten Vorganges, der offensichtlich als extreme und abstoßend wirkende Grausamkeit bewertet wird. Genau dieses Phänomen läßt aber ein orientalisches Vorbild für die Gestaltung der Szenerie als möglich erscheinen, ganz gleich, ob sich ein solches Szenario auf einen einmaligen Vor-

209

Edzard 1993 hält rigoros fest: . f ü r das Thema Menschenopfer im Sinne der rituellen Tötung eines Menschen ist für das Zweistromland im Prinzip Fehlanzeige zu erstatten". Allerdings erwähnt er die vorliegende Stelle aus den Inschriften Assurbanipals nicht. 2"0 Tsukimoto 1985, S. 114. 211

212 213

Vgl. dazu jetzt Tierney 1989. Hughes 1991; zu einer universalhistorischen Betrachtung von Gefolgschaftsbestattungen Haider 1974. Vgl. II. X V I I I 3 3 6 - 3 3 7 . II. X X I I I 2 2 - 2 3 . II. XXIII176: κακά δέ φ ρ ε σ ϊ μ ή δ ε τ ο έ'ργα. Kirk 1985/1993, S. 189 erkennt zwar auch die „exceptional savagery of this action" an, läßt eine „moral condemnation" des Dichters allerdings offen.

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gang bei Assurbanipal bezieht oder einen erst zu erweisenden breiteren Hintergrund besitzt. Zumindest erscheint mir die Praxis orientalischer Hinrichtungs- und Bestrafungsarten bereits dem Dichter des Epos bekannt gewesen zu sein, wobei diese aber jedesmal entweder als besonders abstoßend erscheinen und zur Skizzierung einer despotisch ungezügelten Herrschaft dienen. In diesen Zusammenhang gehören nicht nur die eben geschilderten Totenopfer, die einmal mehr den hochmütigen und vor Haß verblendeten Charakter Achills demonstrieren, sondern auch das Bestreben Hektors, dem Leichnam des Patroklos das Haupt abzuschlagen und dieses auf einen spitzen Pfahl zu stecken 214 sowie die Schandstrafe des Ohrenabschneidens. 215 Die Belege für beide Handlungen aus dem alten Orient sind Legion; 216 neben schriftlichen Bezeugungen sind sie teilweise auch auf bildlichen Darstellungen nachweisbar.217 Ist man gewillt, die prägende Wirkung altorientalischer Hinrichtungs- und Strafmethoden auf den Dichter der Ilias zu akzeptieren, wobei dieser gerade hier mit dem rezipierten Stoff frei umgeht und diesen zur negativen Stilisierung einer despotischhybriden Gewaltherrschaft einsetzt, so ist in diesem Zusammenhang auch das schonungslose Vorgehen Agamemnons gegenüber den Feinden zu nennen, das gerade als eine weitere Facette in der zwielichtigen Skizzierung des Charakters des Königs bewertet werden darf. So verkündet Agamemnon lauthals: „. . . Keiner davon (seil, der Bewohner Troias) entfliehe dem jähen Verderben, Keiner von unserem Arm, auch nicht im Schöße das Knäblein, Welches die Schwangere trägt, auch das nicht! Alles zugleich nun Sterbe, was Ilios nährt, hin weggerafft und vernichtet." 218 Schon im Erra-Epos heißt es in ähnlicher Weise: „Groß und Klein zusammen töte! Weder Säugling noch Kind verschone." 219 Gerade das letzte Beispiel ist freilich in einem größeren, über den Alten Orient und Griechenland hinausreichenden Zusammenhang zu sehen. Dabei ist nicht nur an die bekannten Formen des Banns im Alten Testament zu denken, 220 sondern auch an verwandte

214

II. XVIII 176-177. IL XXI455. στεΰμαι bezeichnet im vorliegenden Fall wohl tatsächlich eine abstoßende Handlung i. S. v. ,sich vermessen'. Das nur an dieser Stelle im Epos vorkommende ά π ο λ έ ψ ε μ ε ν wird von Kirk 1985/1993, S. 92 gleichfalls als „a vivid and crude metaphor" bezeichnet. 216 Vgl. etwa die Belege in CAD Ν 175-176. CAD Q 102. CAD G 44. 217 Zu entsprechenden Abbildungen auf Orthostatenreliefs siehe etwa Barnett u. Falkner 1962, Plate XXXIII/ XXXIV, XXXVII/ XXXVIII, XLIII/ XLIV, XLVIII/ XLIX, LVIII/ LIX. Barnett u. Lorenzini 1975, S. 68, 144, 150, 151, 169, 171. Nagel 1967, Tf. 15/ 1, 19/ 2. Strommenger/Hirmer 1962, Abb. 206 oben, 235. Für den Bereich der hethitischen Nachfolgestaaten vgl. etwa Akurgal 1961, Abb. 117. 218 II. VI 57-60. Auch Kirk 1985/1993, S. 161 schätzt die Passage „rhetorical rather than realistic" ein. 219 Erra-Epos IV Ζ. 28-29. 220 Vgl. etwa Horst 3 1957. Ähnliches berichtet auch König Mesa von Moab in seiner berühmten Inschrift, Z. 15-18: „I went during the night. I fought angainst it (scil. Nebo) from the break of dawn to midday./1 took 215

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Erscheinungen anderer früher Natur- und Kulturvölker, die eine totale Vernichtung des Gegners implizieren. 221

2.5 Die Begleiterscheinungen des Kampfgeschehens Als ein wesentliches Element des Kampfes dürfen die vor dem eigentlichen Geschehen eingeholten ominösen Befunde gelten, die den Ausgang und den Verlauf der eigentlichen Kampfhandlung anhand der von den Göttern gewährten Vorzeichen erkunden sollen. Diese Praxis ist gerade für den Alten Orient vielfältig bezeugt und reicht zumindest bis in die altbabylonische Zeit zurück. 222 Neben den dabei angewandten technisch-induktiven Orakeln wie der Extispizin, der Beobachtung der natürlichen Umwelt und außergewöhnlicher Begebenheiten läßt sich gerade im ersten Jahrtausend 223 eine spezifische Form der Divination feststellen, die auf intuitiver göttlicher Eingebung charismatischer Persönlichkeiten beruht und als Prophetie bezeichnet werden kann. 224 Diese Methode der Zukunftsschau läßt sich für den betreffenden Zeitraum nahezu für den gesamten Vorderen Orient belegen, wobei für die Zeit Asarhaddons und Assurbanipals auch assyrische Exempla vorliegen.225 Es handelt sich bei letzteren um etwa 30 Sprucheinheiten, 226 die sich auf verschiedene Gottheiten sowie unterschiedliche Personen verteilen und meist in Form von Sammeltafeln überliefert sind. Die betreffenden Sprucheinheiten weisen dabei bestimmte formale Charakteristika auf. So stehen am Beginn meist typische Einleitungsformeln, unter denen die „Beruhigungs- bzw. Beschwichtigungsformer' „fürchte dich nicht"(lä tapallah) am häufigsten belegt ist. 227 Sie ist stets mit einer direkten Anrede gekoppelt und hat wohl die Funktion, das Vetrauen in die Macht und die Zusagen der Gottheit sowie der die Sprüche vermittelnden Person zu stärken. Gattungsgeschichtlich sind diese Texte als königliche Heilsorakel zu verstehen. 228

it and I killed all of (it), seven thousand m[e]n and [bo]ys/ besides women and [gir]ls and pregnant women, because I had dedicated it to Ashtar-Kemosh", zitiert nach Niccacci 1994, S. 229. Vgl. auch Müller, T U A T 1 / 5 (1985), S. 646-650. Zum Phänomen der Gewaltanwendung in verschiedenen Zivilisationen generell sei jetzt auf die Beiträge in Stietencron u. Rüpke 1994 verwiesen. 221 Dabei ist auch von „Vernichtungsraserei" gesprochen worden. Vgl. dazu Dobesch 1982, S. 63 Anm. 49. Siehe ferner Bichler 1987-1988, S. 15-17. Rollinger 1993b, S. 17. 222 Für Omina und Orakel an sich gibt es freilich ältere Belege, doch stehen diese nicht unbedingt in Verbindung mit bevorstehenden kriegerischen Handlungen. So vgl. man etwa neben Falkenstein 1965, die von Römer, TUAT II/l (1986), S. 17-55 angeführten Beipiele und die stolze Behauptung König Sulgis, diverser ominöser Praktiken kundig zu sein. Siehe zu letzterem Rollinger 1993c, S. 115, 139 mit Anm. 875. 223 Ein bisher isolierter Typus dieser Divinisationsart für die erste Hälfte des zweiten Jahrtausends stellen die Prophetien aus Mari dar. Vgl. dazu Dietrich, TUAT II/l (1986), S. 83-93. 224 Weippert 1981, S. 9 9 - 1 1 1 . Weippert 1988. 225 Vgl. dazu Weippert 1981 und künftig S A A I X . Siehe ferner Nissinen 1993. 226 v g l . Weippert 1981, S. 74. 227 Vgl. Weippert 1981, S. 7 8 - 7 9 .

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Nun begegnen in der Ilias zwei Sprucheinheiten, die in formaler und inhaltlicher Hinsicht starke Berührungspunkte mit den assyrischen Beispielen aufweisen. So ergeht folgender Spruch Poseidons an Achill: „Peleus' Sohn, verzage doch nicht und fürchte dich nimmer; Siehe wir zwei von den Göttern sind hier, um dich zu beschützen, Ich und Pallas Athene, mit Zeus', des Vaters, Erlaubnis. So ist's nicht dir beschieden, vom Strome bewältigt zu werden, Nein, er beruhigt sich bald, du selber noch wirst es erfahren. Das aber legen wir dir ans Herz, wenn du nur gehorchst: Laß nicht eher die Hände ruhen vom verderblichen Kampfe, Bis du die Scharen der Troer in Ilios' prangende Mauern Alle gedrängt, wer entkam, und erst, wenn du Hektor getötet, Kehr zu den Schiffen zurück; wir geben dir Ruhm zu gewinnen." 229 Die Situation ist klar. Achill gerät während seines Kampfes mit dem Flußgott XanthosSkamandros in höchste Not. Eine Niederlage droht. Dies führt zum Eingreifen der hilfreichen Gottheiten Poseidon und Athene, die sich beide Achill in Menschengestalt nähern. 230 Eine ähnliche Situation ergibt sich erneut wenig später, als Iris leise an Priamos herantritt und diesem den kurz zuvor erfolgten göttlichen Ratschluß mitteilt: „Faß dich, Priamos, Dardanos' Sohn, und fürchte dich nimmer; Denn mein Kommen soll dir gewiß nichts Böses bedeuten, Sondern ich bin dir geneigt und bringe von Zeus dir die Botschaft, Der in der Ferne sogar sich kümmert um dich, voll Erbarmen. Hektor los dir zu kaufen, gebietet dir Zeus vom Olympos, Gaben zu bringen dem Peleussohn, um sein Herz zu erweichen, Du allein; kein Mann von den Troern soll sonst dich begleiten; Folgen darf dir ein älterer Herold nur, der die Esel Lenkt und das prächtige Rädergefährt, damit er den Toten Führe zurück in die Stadt, den der hehre Achilleus getötet. Weder soll dich der Tod noch sonst ein Schrecken bekümmern; Solch einem Führer vertraut er dich an, dem Argosbesieger, Der dich geleite, bis daß er dich hingebracht zu Achilleus. Aber sobald er hinein dich geführt in das Zelt des Peliden, Wird dich dieser gewiß nicht morden und allen es wehren; Ist er doch wohl bei Verstand, nicht kopflos oder ein Frevler, Sondern er wird den flehenden Mann in Gnaden verschonen". 231 Auch diesem Spruch geht eine bedrohliche Notlage voraus. Das ungewisse Schicksal des Leichnams Hektars, die drohende Schändung und das Ausbleiben einer regulären 228 229 230 231

Weippert 1981, S. 92. IL XXI288-297. IL XXI285. IL XXIV 171-187.

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Bestattung dürfen durchaus mit einer Katastrophe gleichgesetzt werden. In beiden Fällen wird dieser Notsituation durch göttliches Eingreifen ein Ende verheißen, wobei der göttliche Beistand nicht durch einen kultisch-rituellen Akt erbeten und der Ausgang der Ereignisse nicht durch ein technisches Orakel erfragt worden sind. Die Gottheiten treten vielmehr ungefragt und unvermittelt an die jeweilige Person heran, die zudem noch von gehobenem sozialen Status ist (βασιλεύς). 232 Diese direkte und unvermittelte Kontaktnahme einer Gottheit mit einem in Not befindlichen menschlichen Wesen darf dabei durchaus - analog zu den erhaltenen assyrischen Beispielen - als ein segensspendendes Orakel mit Heilsverkündigung verstanden werden. Die Besonderheit des in diesem Zusammenhang beschriebenen Vorgangs wird dabei nicht nur durch die ausschließlich auf die beiden oben zitierten Beispiele beschränkte, äußerst spärliche Dokumentation in der Ilias offenkundig, sondern sie wird auch vom Dichter selbst reflektiert. So hebt er an anderer Stelle selbst den außergewöhnlichen Status dieser Form der göttlichen Weissagung hervor, indem er diese dezidiert von herkömmlichen Praktiken der technischinduktiven Zukunftsschau unterscheidet. Auf die Bedenken Hekabes, sich nicht in die Höhle des Löwen zu begeben und den Leichnam des getöteten Sohnes bei allem Schmerz vom sicheren Troia aus zu beweinen antwortet Priamos: „Halte mich nicht, wenn ich gehen doch will, und werde du selber Nicht mir zum Unglücksvogel im Hause; du hinderst mich nimmer. Hätte mir sonst einer dies von den Menschen auf Erden geraten, Einer der Seher, sei's Opferbeschauer, sei es ein Priester, Lügner hießen wir den und kehrten ihm besser den Rücken. Jetzt aber - hört' ich die Göttin doch selbst und sah in ihr Antlitz Geh' ich, und nicht umsonst sei das Wort!" 233 Auf diese Weise wird nicht nur der besondere Charakter der direkten und unvermittelten göttlichen Eingebung betont, sondern dieser wird unmißverständlich ein höherer Glaubwürdigkeitsanspruch zugemessen als jenen technisch-induktiven Praktiken 234 wie sie „Seher" (μάντις), „Opferschauer" (ϋυοσκόος) oder „Priester" (Ιερεύς) gemeinhin durchzuführen pflegen 235 . 236 Letzte Unklarheiten werden schließlich durch den Verweis des Primaos auf die direkte, durch Augen und Ohren wahrnehmbare Präsenz, der Göttin ausgeräumt. 237 Diese direkte Form der Kommunikation wurde selbst im Alten Orient als ein ganz außergewöhnlicher Vorgang bewertet, der nur ganz wenigen vorbehalten 232

Man beachte in diesem Zusammenhang das „Schaudern" (τρόμος), von dem Priamos, bedingt durch die göttliche Präsenz, ergriffen wird: II. XXIV 170. 233 II. XXIV 218-224a. 234 Dieser Charakter wird nicht nur aus dem zitierten Vergleich ersichtlich, sondern ergibt sich auch aus II. I 62-63, wo ausdrücklich von einer Befragung von μάντις, ιερεύς und ό ν ε ι ρ ο π ό λ ο ς die Rede ist. 235 Kirk 1985/1993, S. 296, möchte die Stelle im Konnex einer allgemeinen griechischen Skepsis gegenüber Prophezeiungen und religiösen Phänomenen sehen, doch geht die Stelle wohl eindeutig in die Richtung einer Unterscheidung einzelner mantischer Praktiken, μάντις und β υ ο σ κ ό ο ς sind dabei womöglich zusammenzuziehen und meinen eine Person, „one who examines a sacrifice", Kirk, ebenda. 236 Nebenbei greifen wir hier das schon alttestamentlich bezeugte Motiv der ungläubig-vorsichtig-abwartend agierenden Gattin, die sich gegen ihren, auf die göttliche Botschaft vertrauenden, Ehemann stellt.

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war. 238 Die Vermittlung der heilsverkündenden Botschaft scheint in diesem Zusammenhang allerdings für die Klassifikation der vorliegenden Textstellen und deren Verbindung mit assyrischen Orakeln essentiell. Vergleicht man etwa die gänzlich unterschiedliche Form der Annäherung und Kommunikation wie sie zwischen Hermes und Priamos greifbar wird, 239 so findet dies hier seine Erklärung in der spezifischen Funktion des Hermes als eine Art schützender Geist, die sich von der Übermittlung einer Frohbotschaft grundsätzlich abhebt. Aus den bisher dargelegten Übereinstimmungen ergeben sich erstaunliche Parallelen zwischen den beiden aus der Ilias angeführten Exempla und den uns erhaltenen neuassyrischen Orakeln. Diese reichen von der entsprechenden durch eine Notlage gekennzeichneten Ausgangssituation über die direkte, ohne entsprechende Anfrage erfolgte Kontaktnahme bis zur heilsverkündenden Botschaft durch die Gottheit, welche die vorgegebene Krise schließlich überwindet. Doch lassen sich über diese deutlichen strukturellen Anklänge hinaus auch weitere formale Verbindungslinien aufzeigen. Das auffallendste Bindeglied in dieser Hinsicht stellt wohl die Einleitungsformel dar. Dabei findet griechisch μηδέ / μήτε τι τάρβει 2 4 0 seine nahezu wörtliche Entsprechung in assyrisch lä tapallaj), das als die am häufigsten bezeugte Einleitungsformel assyrischer Orakel stets mit einer direkten Anrede kombiniert ist. 241 Bemerkenswert ist ferner, daß in den uns erhaltenen assyrischen Sprucheinheiten Istar von Arbela eine herausragende Rolle spielt. So figurieren immerhin etwa die Hälfte der erhaltenen Sprucheinheiten unter ihrem Namen. 242 Daneben lassen sich allerdings auch andere Gottheiten als ,Autoren' greifen, wobei einzelne Gottheiten gemeinschaftlich agieren können. Ergibt sich schon von diesem Blickwinkel aus ein deutlicher Bezug zu dem in II. XXI 288ff bezeugten Exempel, treten doch auch hier zwei Gottheiten gemeinsam auf, 243 so verstärkt die Ähnlichkeit zwischen Athene und Istar diesen Aspekt. Selbst die Bezeichnung dieses Spruches Z. 299 als έφετμή Auftrag/Gebot findet seine Ent-

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241 242 243

II. XXIV 223: ακουσα ιϊεοΰ και έσέδρακον αντην. Vgl. Num. 12: 6 - 8 für Moses. Womöglich sind zwei ähnliche Beispiele aus sumerisch-literarischen Texten von der Wende des dritten zum zweiten Jahrtausend v. Chr. bezeugt. Siehe dazu Klein 1976, S. 277. Berlin 1979, S. 67. PSD Β 54b. Rollinger 1993c, S. 78-79 mit Anm. 450. Vgl. II. XXIV 360ff, 680ff. Kirk 1985/1993, S. 76 stellt eine Verbindung zu Od. VII 50-51 her. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß die oben angeführten strukturellen Elemente in der betreffenden Passage ganz andere sind. Hier ist weder eine konkrete Notsituation erkennbar, die der göttliche Spruch auszuräumen trachtet noch wird dieser durch die entsprechende Formel eingeleitet. Vielmehr nimmt die Formel hier direkten Bezug auf den von der Gottheit hingewiesenen Tatbestand; sie ist in diesem Sinne also nicht als „Beschwichtigungsformel" zu verstehen. Womöglich weist das eingeschobene ι3υμω genau auf diese Situation hin. Weippert 1981, S. 78, 114: Typus 3. Weippert 1981, S. 75. Dies wird noch stärker betont, wenn man die Z. 287 und 290 als spätere Zusätze anzusehen geneigt ist. Vgl. Kirk 1985/1993, S. 76-77.

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sprechung in assyrischen Quellen. Zwar läßt sich für die erhaltenen Orakel, wie für die meisten literarischen Texte des Alten Orients, keine spezifische Gattungsbezeichnung ausmachen, doch wird daneben auch in assyrischen Annalen auf solche Orakel Bezug genommen. In einem Fall ergeht dabei ein Wort der Göttin Nanai an Assurbanipal, sie aus dem eroberten Elam nach Uruk zurückzuführen, wobei der göttliche Spruch als „Wort, Auftrag von deren Gottheit", „amat qiblt ilütisun(u)", bezeichnet wird. 244 Es ist immerhin beachtenswert, daß έφετμή und qibltu dabei in etwa identische Wortfelder abdecken. 245 Nun könnte man sich daran stoßen, daß in den beiden behandelten Orakeln der Ilias die vermittelnde Persönlichkeit eines Propheten bzw. einer Prophetin fehlt. Bei näherer Betrachtung lassen sich derartige Bedenken aber leicht ausräumen. So sind einerseits schon in den neuassyrischen Orakeln Beispiele ohne vermittelnde Personen greifbar. 246 Andererseits scheint die Bezugnahme auf solche Orakel im erzählenden Zusammenhang, wie er in den assyrischen Annalen erkennbar wird, in der Regel auf die Nennung des Vermittlers zu verzichten. 247 Dabei wird das Gotteswort direkt an den König übermittelt; genau den gleichen Vorgang geben die beiden Orakel der Ilias wieder. Die erstaunlichen Verbindungslinien zwischen beiden Kulturkreisen erfahren schließlich eine tiefere Bedeutung, wenn man bedenkt, daß die Form des intuitiv vermittelten Orakels im ersten vorchristlichen Jahrtausend nahezu im ganzen Vorderen Orient bezeugt ist. 248 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel findet sich dabei im aramäisch-syrischen Raum. In der Inschrift des Zakkur von Hamat, um 780 v. Chr., berichtet der König von einer gegen ihn gerichteten feindlichen Koalition, aus der ihm die Göttin Becelsemayn in einem Orakel die Rettung verkündet: „Fürchte dich nicht; denn [ich] habe [dich] zum Köni[g] gemacht, [und ich werde] dir [beiste]hen, und ich werde dich befreien von all [diesen Königen, die] eine Belagerung gegen dich eröffnet haben . . ," 249 Zwar ist schon mit einer durch die assyrische Expansion einhergehenden Ausstrahlung des in den Orakeln faßbaren Gedankengutes auf den syrischen Raum zu rechnen, die direkte Bezeugung eines derartigen Orakels aus diesem Raum verleiht dem Gedanken einer bis nach Griechenland reichenden Beeinflussung aber um so mehr Gewicht, als wir

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Vgl. dazu Streck 1916, S. 58-59 Ζ. 116. Liddell & Scott 1968, 743a geben als Bedeutung „command, behest" an. AHw 920a: „Ausspruch, Befehl". CAD Q 244a 2: „order, command". Vgl. dazu etwa Hecker, TUAT II/l (1986), S. 56. Weippert 1981, S. 74-76. Streck 1916, S. 24-25, Z. 4-7; S. 48^19, Z. 95-101; S. 114-117, Z. 46-49; S. 216-217, Κ 3065 b-h. Freilich gibt es auch hier Beispiele mit einer vermittelnden Person als die vornehmlich ein äaprü-Funktionär erscheint. Vgl. Streck 1916, S. 32-33, Z. 118-126 (Gottheit nicht namentlich genannt); 116-119, Z. 49-76. Zu Varianten siehe Weippert 1981, S. 97 Anm. 60-62.

& Vgl.dazu ausführlich Weippert 1988, S. 294-305. Delsman,TUAT 1/5(1985),S.627,A 13-15.Sader 1987,S.206-210.Vgl.fernerauchWesselius,TUAT II/6 (1991), S. 931-932, VII, 12-17.

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zu diesem Zeitpunkt und in dieser Gegend sicherlich auch mit einer griechischen Präsenz rechnen dürfen! 250 2.6. Achills Kampf gegen Xanthos/Skamandros Eines der zentralen Themata des XXI. Gesangs der Ilias stellt der Kampf des Achill gegen den Flußgott Xanthos/Skamandros dar.251 Dabei führt das frevelnde Wüten Achills gegen die Paionen und dessen Anführer Asteropaios, einen Nachkommen des Flußgottes Axios, zum Eintreten des Xanthos in den Kampf, tief erzürnt über das Treiben blutiger Leichen in seinem Wasser. Dieses göttliche Eingreifen gegen Achill ist mit zwei wesentlichen Aspekten verbunden. Einerseits ist der plötzliche Einsatz des Xanthos mit einem eindeutig frevelhaften Verhalten Achills verknüpft, der die mahnenden Worte des Flusses einfach in den Wind schlägt und sein Wüten fortsetzt. 252 Andererseits beschützt der Gott den verbliebenen Rest der Paionen „in tiefen gewaltigen Strudeln" vor dem Treiben Achills. 253 Der Gegenschlag des Xanthos hätte nun wohl Achill seiner verdienten Niederlage zugeführt, befand sich dieser doch schon in äußerster Verzweiflung und Bedrängnis. Allein Achills Appell an Zeus, auf die Einforderung des ihm bestimmten Schicksals pochend, nämlich noch den sehnlich erwünschten Sieg über Hektor feiern zu dürfen, bewirkt den Umschwung durch göttliche Intervention. Dabei führt zuerst der Einsatz Poseidons und Athenes nur bedingt zum Erfolg, erst jener Heres und Hephaistos' ist durchschlagend, wobei Xanthos durch das Feuer des Schmiedegottes bezwungen wird. 254 Dabei wird Hephaistos in der Anfeuerung Heres vorweg nicht als ein, sondern als der Bezwinger des Flußgottes vorgestellt: „Auf, du hinkender Fuß, mein Kind; dir haben wir immer Gleichgeachtet im Kampf als Gegener den strudelnden Xanthos." 255 Dies macht deutlich, daß Hephaistos als bereits bekannter und fest verankerter Gegenpol zum Flußgott zu verstehen ist, der letztlich auch dessen Bezwingung herbeiführt. Diese wird weder durch ein versiegen noch durch ein Austrocknen des Flusses erreicht, sondern das Feuer bewirkt vielmehr einen völligen Stillstand, ein Anhalten des fließenden Wassers. „Sprach's (seil. Xanthos) in der brennenden Glut, und es wallte sein schönes Gewässer. So wie ein Kessel im Inneren kocht auf reichlichem Feuer,

250 Vgl. dazu generell Haider in diesem Band. Wie intensiv differenzierte Vorstellungen und Äußerungen öffentlicher Propaganda durch offizielle assyrische Texte in das nur äußerst trümmerhaft erhaltne aramäische Schrifttum Eingang gefunden haben, hat gerade unlängst Kottsieper 1992 am Beispiel eines in demotischer Schrift abgefaßten literarischen Werkes um Assurbanipal und SamasSumu'ukTn (Papyrus Amherst 63, Kol. 18-23) nachgewiesen. 251

252 253 254 255

II. II. Ii. II. II.

XXI211-382. XXI212-232. XXI238-239. XXI273-382. XXI331-332.

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Schwitzend vom schmelzenden Fett des zartgemästeten Schweines; Überall brodelt es auf von den trockenen Scheitern darunter: Also brannte vom Feuer der Strom und es kochte sein Wasser. Stockend stand er und wollte nicht fließen." 256 Auf den ersten Blick mutet einmal die Niederwerfung des Xanthos durch Hephaistos an sich recht erstaunlich an, scheint doch die Bezwingung des Wassers durch das Feuer keine Selbstverständlichkeit. Ob sich der hier beschriebene Sachverhalt tatsächlich auf ein Wechselspiel der kosmischen Kräfte reduzieren läßt, erscheint mir jedenfalls sehr fraglich. 257 Richtet man hingegen den Blick auf das altorientalische Material, so läßt sich zunächst gerade die eigenartige Verbindung des Wassers mit dem Feuer ebenfalls nachweisen, mit der die oben zitierte Passage der Ilias (Z. 331-332) deutlich zu spielen scheint. Wie jede andere Gottheit ist auch der Flußgott im altorientalischen Weltbild mit einer mächtigen Aura ausgestattet. Letztere ist wiederum mit dem Element des Feuers verknüpft. 258 Andererseits können bestimmte Gottheiten durch Einsatz des Feuers das Wasser eines Flusses zum Kochen bringen. So heißt es vom Treiben des Dämons 259 Asakku 260 : „In seinem (seil, der Apsü) Inneren entfacht er Feuer, die/seine Fische bringt er zum Kochen." 261 Deutlich wird die Verbindung des Flußgottes mit dem Element des Feuers in einem neubabylonischen literarischen Text, wo unter anderem ein außergewöhnliches Flußordal geschildert wird. 262 Dabei wird der vermeintliche Delinquent nicht nur in den Fluß getaucht und somit seine Schuld festgestellt, sondern der Fluß verschlingt ihn, und der Leichnam wird erst einige Stunden später, am Ufer angespült, entdeckt. Damit hat in diesem Fall der Fluß auch die Bestrafung des durch sein Untertauchen als schuldig befundenen Delinquenten übernommen, was keineswegs die Regel bei der Durchführung von Ordalen war. 263 Für unsere Überlegungen von Bedeutung ist die Art der göttlichen Bestrafung, die durch die Beschreibung des angespülten Leichnams offenkundig wird: „Eingeschlagen ist der Kopf. Aus Mund, Ohren und Nasenhöhle fließt Blut, und der Schädel ist wie ins Feuer gelegt verbrannt. Sein Körper ist voll von Bläschen." 264 256

II. XXI 361-366a; Z. 366: ούδ' εϋελε π ρ ο ρ έ ε ι ν άλλ' ϊσχετο. Vgl. ferner Ζ. 345: σ χ έ τ ο δ'άγλαόν υδωρ. 25? So Buffiere 1956, S. 101-105. 258 vgl. dazu mit Belegen Cassin 1968, S. 80-81 mit Anm. 98-99. 259 Auch Achill wird II. XXI 227 als δαίμων bezeichnet, was zumindest eine negative Konnotation haben kann. Vgl. Kirk 1985/1993, S. 139 (ad II. IX 600). 260 Vgl. dazu etwa Edzard 1965, S. 48. 261 Schollmeyer 1912, S. 33 II Z. 4 3 ^ 4 . Die anderen bei Cassin 1968, S. 75-76 mit Anm. 74-75 angeführten Belege sind zu tilgen. Siehe dazu Oberhuber 1990, S. 277, Nr. 76.4. Man beachte darüber hinaus die verwandte Metaphorik zu II. XXI353-354, wobei ebenfalls das Leiden der vom Feuer gequälten Fische thematisiert wird. 262 „Nebuchadnezzar King of justice". Vgl. dazu Lambert 1965. Beaulieu 1992. 263 Vgl. dazu Beaulieu 1992. 264 „Nebuchadnezzar King of justice" IV Ζ. 18-20.

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Offensichtlich wurde der Körper des Delinquenten im Inneren des Flusses total verbrannt. Die Tatsache, daß der Fluß mit dem Element des Feuers verknüpft ist, geht auch aus einer neubabylonischen Beschwörung hervor, wo Ea diesen neben einer „unwiderstehlichen Flut" auch mit „Feuer, Grimm, furchterregendem Glanz (namurrtu) und Schauder (puluhtu)" ausstattet, auf daß „du das Urteil über die Menschheit richtest."265 Angesprochen ist dabei das Richteramt des Flußgottes, in dessen Kontext die Verknüpfung desselben mit dem Feuer einen tieferen Sinn erfährt. 266 Feuer und Wasser spielen so vor allem bei Reinigungs- und Löseriten eine bedeutende Rolle. 267 Wird eine Person als schuldig erachtet, so ist sie damit erst der „Gefahr" des läuternden Feuers ausgesetzt. Ist jemand allerdings unschuldig, so vermag ihm das Feuer nichts anzuhaben. 268 Läßt sich auf diese Weise die Verbindung zwischen Fluß und Feuer bzw. die mit Feuer wirkende Macht des Flusses nach außen für die assyrisch-babylonische Kultur als gesichert herausstellen, 269 so ist gerade in diesem Zusammenhang nicht nur an den Kampf zwischen Xanthos und Achill zu denken, sondern auch an dessen Rahmenbedingungen: das frevelnde Verhalten Achills und den Schutz der Paionen im Inneren des Flusses. Doch sind diese „Übereinstimmungen" immer noch sehr vage, was hier nicht verschwiegen werden soll, zumal ein für die Erzählung der Ilias konstituierendes Element bisher übergangen wurde: die Bezwingung des Flusses durch das Feuer. Bei der Betrachtung dieses Aspekts fällt der Blick auf eine Gruppe terrestrischer Omina, wobei eine für unsere Überlegungen relevante Passage kurz vorgestellt werden soll: 270 „54) Wenn im Monat Addaru aus dem Inneren von ständig fließendem Wasser andauernd Feuerflämmchen hervorspringen, dann wird eine Flut der Niederwerfung eintreten, eine Hochflut wird kommen und das ganze Land wegtragen. 55) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und aus seinem Inneren andauernd Feuerflämmchen hervorspringen,

265 King, 1902, Vol. I, S. 128-129,201. Vgl. dazu ferner Seux 1976, S. 366-368. Beaulieu 1992, S. 59. 266

In diesem Konnex ist wohl auch die Präsenz des Flußgottes in Fluchformeln zu sehen, wie sie gerade auch für die Zeit der hethitischen Nachfolgestaaten nachweisbar ist. Vgl. etwa Meriggi 1934, S. 54-57 (Inschrift Nr. 3, Z. 7). 267 Ebeling 1957/1971, S. 55-56. Michalowski 1993, S. 156-157. 268 Vgl. dazu Beaulieu 1992, S. 59-60. 269 D i e s e Verknüpfung ist auch für den syrisch-westsemitischen Bereich nachweisbar, wo in einer Szene des Baal-Zyklus aus Ugarit das Auftreten der Boten sowohl des Fluß- als auch des Meeresgottes vor Ilu als Erscheinen des Feuers beschrieben wird. Vgl. dazu Watson 1993. 210 Gadd 1927, Plate 17, Z. 54-60: 54) DlS ina ΙΤΙ §Ε Α ka-a-ma-nu-tu A§ SÄ -su-nu nab-li IZI is-ta-na-alj-Jji-tu a-bu-ub na-aä-pan-ti GAR ILLU DU-ma nap-(jar KUR ub-bal 55) DlS ID A ka- a-ma-nu-tu u-bil-ma A§ SÄ -su nab-li IZI is-ta-na-a^-lp-tu ID.BI is-sek-ker-ma URU A§ AS GAR A JJI.GAR IJUL DIB bat 56) DlS ID Α ka-a-ma-nu-tu u-bil-ma A§ SÄ-sü nab-li IZI ana Pl5 1 0 is-ta-na-a})-J)i-tu ID.BI A ύ-za-am-ma

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dann wird dieser Fluß abgesperrt werden und die Stadt . . . . 27 'wird ein bösartiger Aufstand erfassen. 56) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und aus seinem Inneren andauernd Feuerflämmchen auf das Ufer hinausspringen, dann wird dieser Fluß des Wassers entbehren. 57) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und aus seinem Inneren andauernd Kiesel zum Ufer springt, dann wird dieser Fluß abgesperrt werden und der Weide und Tränke entbehren. 58) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und aus seinem Inneren andauernd Scherben auf das Ufer springen, dann wird dieser Fluß des Wassers entbehren, eine Hungersnot über das Land kommen und die Leute werden ausgeplündert werden. 59) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und aus seinem Inneren andauernd ruhiges Wasser auf das Ufer springt, dann wird dieser Fluß, ein Feind, die Leute ständig angreifen. 60) Wenn ein Fluß ständig fließendes Wasser führt und sein Wasser wie ein Wolkenbruch hier und dorthin fließt, DETTO und zittern wird dieses Land und ein Blitz wird es niederstrecken". Deutlich wird auch aus diesem Text die Verknüpfung des Flusses mit dem Feuer. Betrachtet man die Möglichkeiten des Flusses, durch eine Flutwelle sowie angeschwemmten Schlamm die Umwelt in Schrecken zu versetzen, so wird das dabei geschilderte „aggressive Verhalten" desselben in einer ähnlichen Motivik geschildert wie jenes des Xanthos. Entscheidend erscheint mir allerdings der in den Z. 55-56 beschriebene Sachverhalt, der einen eindeutigen Konnex zwischen Feuer und einer „Niederlage" des Flusses, nämlich dessen Stocken herstellt. Dabei scheint wie in der Ilias an einen Stillstand des Wasserflusses gedacht zu sein. 272 Dies ist jener Aspekt, der auch im Kampf zwischen Achill und Xanthos letztendlich den Ausschlag gibt und zum

271 272

57) DlS ID A ka-a-ma-nu-tu ύ-bil-ma A § SÄ-δύ n a 4 PE$ 4 m r f ana PIS 1 0 is-ta-na-ab-fei-tu fD.BI is-sek-ker-ma ri-ta u mas-qi-ta u-za-am-ma 58) DlS ID Α ka-a-ma-nu-tu ύ-bil-ma A § SÄ-su SIKA.KUD.DA DlS kib-ri is-ta-na-ab-bi-it ID.BI u-za-am-ma KUR ub-bu-tü D U UN m e 5 is-sal-la-la 59) DlS ID A ka- a-ma-nu-tu u-bil-ma A § SÄ-SÜ A ne-hu-tu 4 ana PIS 1 0 is-ta-na-ab-bi-tu UN m e ä fD.BI KIJR i-sa-dir-ma iS-ta-na-ab-bi-U 60) DIS ID Α ka-a-ma-nu-tu ύ-bil-ma A-sa GIM ra-a-di i-qar-ru-rü KIMIN i-tär-ra-ru KUR.BI NIM.GIR i-bar-riq-si. Die Textpassage wurde bereits von Boissier 1905, S. 2 3 7 - 2 3 9 und Virolleaud 1910, S. 205 anhand von Duplikaten partiell behandelt. A § AS GAR Α bleibt mir unklar. „sekeru" bezeichnet in diesem Kontext konkret ein Absperren. Vgl. AHw 1035 u. C A D S 210-213. „zummü" ist diesbezüglich weniger deutlich. Vgl. AHw 1536b.

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Rückzug des Flusses führt, denn „stockend stand er und wollte nicht fließen."273 Es soll an dieser Stelle keinesfalls behauptet werden, der Iliasdichter hätte einen der hier angeführten Texte als direkte Vorlage benutzt. Vielmehr wird klar, daß er Eigenständiges geleistet hat und die Szenerie in einen völlig neuen Kontext gestellt hat. Wichtige Anregungen, motivgeschichtliche Einzelbausteine dürfte er aber doch in diesem Zusammenhang aus dem Orient erfahren haben. 2.7 Ares, Eds, Athene und „die Seile des Krieges" Im Zentrum der folgenden Betrachtungen steht eine Szenenfolge der Ilias, in der die Gottheiten Ares, Eris und Athene als die bestimmenden Handlungsträger auftreten. Ausgangspunkt des Ereignisablaufes ist die Rüstung der Göttin Athene zum Kampf, ein Vorgang, der vom Dichter breit angelegt geschildert wird: „Aber Pallas Athene, des Aigiserschütterers Tochter, Ließ das weiche bunte Gewand auf die Schwelle des Vaters Sinken, welches sie selber mit emsigen Händen gefertigt. Hüllte sich drauf in den Panzer des Wolkenversammlers Kronion, Rüstete sich mit den Waffen zur tränenbringenden Feldschlacht, Warf um die Schulter sodann die reich mit Quasten geschmückte Grausige Aigis, rund umkränzt von drohendem Schrecken: Drauf ist Streit und kräftige Wehr und grimme Verfolgung, Drauf auch der Gorgo Haupt, des entsetzlichen Ungeheuers, Furchterregend und gräßlich, das Zeichen des Aigiserschüttrers. Schließlich setzte sie auf den Helm mit doppeltem Bügel, Lauter aus Gold, verziert mit Kämpfern von hundert Gemeinden. Jetzt bestieg sie den flammenden Wagen und faßte die Lanze, Wuchtig und groß und gediegen, womit sie die Scharen der Helden Bändigt, welchen sie zürnt, die Tochter des mächtigen Vaters." 274 Wir haben bereits oben die Schilderung eines altorientalischen Textes kennengelernt, wo der Aufbruch der Göttin Istar zur Schlacht in ähnlich ausführlicher Weise und verwandter Topik gezeichnet wird. Ich möchte allerdings in diesem Zusammenhang das Augenmerk auf einen anderen Text lenken, dessen Handlungsträger und Handlungskonstellationen deutliche Bezüge zu der hier zu behandelnden Passage der Ilias aufweisen. Es handelt sich dabei um einen ausschließlich altbabylonisch auf zwei wohl miteinander in Verbindung stehenden Tafeln überlieferten Hymnus, der gemeinhin als Agusaialied bezeichnet wird. 275 Die Tatsache, daß es sich hierbei um eine altbabylonische, im hymnisch-epischen Dialekt verfaßte Dichtung handelt, muß eine Übernahme der dort greifbaren Motive und Erzählstrukturen in die Ilias nicht ausschließen, da der Hymnus ledig-

273

II. X X I 3 6 6 . Vgl. oben Anm. 256. II. V 733-748. Vgl. auch II. VIII384-391. 27 = Vgl. dazu Zimmern 1916. Scheil 1918. Groneberg 1981. Hecker, TUATII/5 (1989), S. 731-740. 274

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lieh als ein Repräsentant für die Existenz solcher Strukturen bewertet und keinesfalls eine direkte Entlehnung nahegelegt werden soll. Wie bereits erwähnt, schenkt auch dieser Hymnus der Rüstung einer Göttin, nämlich Istar, größte Aufmerksamkeit: „Das Szepter des Königtums, der Thron und die Krone sind ihr geschenkt - für sie ist alles geeignet (oder: geschenkt). Er (seil. Anu?) gab ihr Mannestum, Größe und Macht. Blitze flimmernden Glanzes (birbirrü) fügte er hinzu, von allen Seiten umgab er sie damit. Zum zweiten Mal fügte er (es) ihr hinzu; er änderte sie in ihrem furchterregendem Aussehen (puluhhü). Er ließ sie Schreckensglanz (melammu) tragen, Schauder und ehrfurchterregendes Aussehen (rasubbatu) sowie Kriegertum. Sie nahm sich Kriegertum vor. In ihrem Herzen bewahrte sie den Kampf. In der Wohnung des nissiku Ea bewahre den Schauder (pulufttu)! Sie zittert 276 mehr als ein Stier. Wie sein Grimm ist ihr Gebrüll. In Fetzen stand sie nicht da. Sie trat hervor in ihrer Stärke. Durch ihr Schreien erschrak der weise Gott Ea." 277 Auffallend bei der Gegenüberstellung der beiden Textpassagen sind nicht nur die bereits mehrfach angesprochene Verwandtschaft der beiden Göttinnen Athene und Istar, 278 die nahezu idente Szenerie, sondern auch die Ähnlichkeiten in den geschilderten Details. Bei beiden Göttinnen ist das kämpferische Moment ungleichmäßig stark betont. Beide werden als von einer Vielzahl von Schauder erregenden Epitheta umgeben beschrieben; das furcht- und schreckenerregende Aussehen ist in beiden Fällen unübersehbar. Zweifellos sind diese Parallelen allerdings noch immer von viel zu allgemeiner Natur, um vorderhand eine Verknüpfung zwischen beiden Texten vermuten zu können. Beachtenswert ist zudem, daß die weitere Folge der Ereignisse gleichfalls auf ähnlichen Ebenen abläuft. Zunächst trifft Athene auf ihren Gegner den Kriegsgott Ares, ein Ringen, das sie für sich siegreich beenden kann, wobei Ares verwundet die Walstatt verlassen muß. 279 Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gottheiten wird dabei nicht als etwas Alltägliches geschildert, sondern sie beruht auf einer innigen Feindschaft und scheint nahezu vorprogrammiert. 280 Betrachtet man die Etymologie des Götternamens Ares, so ist die Forschung zwar weit von einer einhelligen Ansicht entfernt, 281 doch läßt sich in etwa ein schmaleres Bedeutungsfeld eingrenzen, das in engem Konnex zum Element des Kampfes selbst zu stehen scheint. 282 Fauth hat gar „die appellativische Bezeichnung

276 277 278

279 280

281 282

Ich lese „ta-na-ar-ra-at". VS 10, 214, IV Z. 1-20. Beide Göttinnen können als Tochter bzw. Enkelin des Himmelsgottes Zeus bzw. Anu erscheinen. Vgl. dazu Edzard 1965, S. 82. Wilcke 1976/1980, S. 80. II. V 835-909. II. V 7 6 5 - 7 6 6 . Vgl. ferner II. X X 4 7 - 7 1 ; XXI 4 2 0 - 4 3 3 . Zur Opposition Athene-Ares vgl. etwa Erbse 1986, S. 157-159, 165-166. Vgl. etwa Tümpel 1895, Sp. 660 u. Erbse 1986, S. 166-168. Vgl. dazu die Beispiele bei Fauth 1964b, Sp. 526. Dieses reicht von indogermanisch räs- (Schreier) über griechisch ορνυμι bis zu άρή/δρος. Siehe ferner Gruber 1963, S. 47.

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einer personhaft zunächst nicht fest bestimmten dämonischen Schadensmacht" erkennen wollen. 283 Ähnlich hat schon Nilsson in dem Gott „nicht viel mehr als eine Personifikation des tobenden Kampfes,. . ., sozusagen ein gedachter Kriegsträger, ein Dämon" gesehen. 284 Nun zieht in dem eben erwähnten Agusaialied Istar ebenfalls gegen einen Feind, der nun unzweifelhaft den personifizierten Kampf bzw. die personifizierte Zwietracht darstellt, die Göttin $altum 285 Diese wurde eigens zum Kampf gegen Istar aus dem Schmutz der Nägel Eas erschaffen. 286 Zwar wird aus diesem Zusammenhang die natürliche Feindschaft zwischen Istar und ihrer Gegenspielerin ebenso deutlich wie jene zwischen Athene und Ares, doch handelt es sich im Falle der $altum immerhin um eine Göttin, die eindeutig als der personifizierte Kampf auftritt, während sich die Sachlage bei Ares doch etwas anders darstellt. Stellt man diesen Gesichtspunkt in Rechnung, so konzentriert sich der Blick auf eine Gruppe ständiger Begleiterinnen des Ares, die mit diesem innig verbunden sind: „Auch die Dämonen des Schreckens (Deimos), der Furcht (Phobos) 287 und die lechzende Zwietracht (Eris), Sie des mordenden Ares verbündete Freundin und Schwester."288 Eris wird daneben auch an anderer Stelle in Verbindung mit Ares genannt, wobei gerade auch hier Athene als die Gegenspielerin des Kriegsgottes eine Rolle spielt. 289 Sowohl bei Eris als auch bei $altum handelt es sich um eine weibliche Gottheit, die ebenso eindeutig als Personifikation des Kampfes bzw. der Zwietracht gelten darf. 290 Auch die Charakteristik der beiden Gottheiten ist nahezu identisch. Schon die Begleitung von Deimos und Phobos läßt den furchterregenden Charakter der „schrecklichen Eris"(Epig άργαλέη) deutlich werden. Ist sie auch nicht aus Gotteshand erschaffen, so wird sie doch zumin283 284 285

286 287

288 289 290

Fauth 1964b, Sp. 526. Nilsson 3 1967, S. 518-519. Vgl. A H w 1079a: „Zwietracht, Streit, K a m p f . C A D $ 86: „quarrel, disagreement, affray; fight battle, fighting". VS 10,214, V Z . 2 2 - V I Z . 4 9 . Phobos ist dabei vielleicht eher mit Erbse 1986, S. 30 als „Flucht" zu verstehen. Vgl. dazu ferner Gruber 1963, S. 19-25. II. IV 4 4 0 - 4 4 1 . Vgl. ferner II. XIII299; XV 119. II. X X 4 8 - 5 3 , 6 9 . ερις scheint etwas mehr auf ein Bedeutungsfeld Steit, Hader o. ä. eingeengt zu sein als „saltum", welches daneben wohl auch den Kampf bezeichnen kann. Trümpy 1950, S. 139-141 verteilt die Belege für Eris auf eine inimicus- und eine hostis-Sphäre und sieht dahinter zunächst einen Bedeutungsansatz „Kampfeslust, K a m p f einschließliiph der „psychologischen Voraussetzung für die Wörter mit denen es (seil, das Wort έ'ρις) verbunden ist". Für Homer möchte er die Belege ausschließlich auf die hostis-Sphäre verteilt sehen, wobei er bemerkt: „Nirgends ist sie (seil. Eris) aber die Verkörperung des Kampfes; vielmehr treibt sie dazu; personifiziert ist also gerade die psychologische Bedeutung". Als Grundbedeutung erkennt er „das Bedürfnis sich zu messen". Schadewald, 3 1966, S. 31 erklärt: „Eris ,ist' Kampfgeist und .bringt' den Krieg". Nach Erbse 1986, S. 25 „verköpert (Eris) die unheimliche, ständig anwachsende Gewalt des Krieges", ist als der „persönliche Aspekt des Streites" (S. 27) anzusehen und darf in dieser Erscheinungsform als Produkt des Dichters gelten (S. 28-29). Führer 1987 gibt jedenfalls folgende Bedeutungspektren an: „Streit, Konflikt, Auseinandersetzung, Kampf, Zweikampf, Wettstreit". Auch Gruber 1963, S. 50 hat

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dest von Zeus ins Kampfgeschehen geschickt. 291 Sie ist mit einer entsetzlichen Stimme ausgestattet292 und wird vom Kampf mit Freude erfüllt. 293 Auch Saltum ist vom Kampf beseelt: „Ihr Fleisch ist das Zu-Felde-Ziehen. Streiten ist ihr Haar."294 „Saltum - wie ein Gewand gürtet sie sich bezüglich des Kampfes." 295 Auch sie ist mit einem furchterregenden Aussehen ausgestattet, das ihre Umgebung in Entsetzten versetzt: „Fremdartig ist sie anzusehen. Sie ist furchterregend."296 Dabei betont Ea ausdrücklich: „Mit Furcht (puluhtum) sollst du bekleidet sein!" 297 . Ja, selbst das Schreien mit einer entsetzlichen Stimme läßt sich für $altum nachweisen: „Schillernd erhebt sich ihr Gebrüll."298 „. . . Gefürchtet ist ihr Gebrüll."299 „Saltum, [ihr] Gebrüll setzte sie gegen mich ein." 300 In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die folgende Aussage: „Das Wort, das aus ihrem Mund kommt, darf sich ihr (selbst) zuwenden." 301 Damit ist wohl gemeint, daß Saltum ihr Geschrei als wirksame Waffe gegen ihre Feinde einzusetzen vermag, selbst allerdings dagegen immun zu sein scheint. 302 Ob darüber hinaus das in altorientalischen Texten vielfach bezeugte Gebrüll im Kontext des Kamp-

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schon festgehalten, daß Eris „auch den konkreten Kampf bezeichnet und andererseits die Gottheit ist, die diesen Kampfesdrang verleiht" (vgl. ibid., S. 44). Liddell & Scott 1968, S. 689a vermerken gleichfalls neben den Grundbedeutungen „strife, quarrel, contention" bezüglich des semantischen Feldes in der Ilias ausdrücklich „mostly of battle-strife". Vergleicht man dazu das oben von den Lexika zu „saltum" verbuchte semantische Feld, so ergeben sich zwischen έρις und „saltum" in der Tat nahezu idente Bedeutungsspektren. II. XI 3-4. Bemerkenswert ist ferner, daß in beiden Fällen eine göttliche Unmutsbezeugung gegen Istar/Athene vorliegt. Ist dies im Agusaialied das Lärmen Istars (VS 10,214, IV Ζ. 18-21), das Ea erzürnt, so erfolgt die Rüstung Athenes II. VIII 387-391 eindeutig gegen den Willen des Zeus. II. XI 10-11. II. XI73. VS 10, 214, V Z. 43-44. VS 10, 214, VIZ. 6-7. VS 10, 214, VI Ζ. 9-10. VS 10,214, VI Z. 36. „pululjtum" deckt dabei wohl in etwa genau das gleiche Bedeutungsfeld wie φόβος ab. Vgl. auch ibid. VIIIZ. 27. VS 10,214, VI Z. 8. Vgl. auch ibid. V Z. 12-13. RA 15, 174ff,IZ.28. RA 15, 174ff, VII 2-3. Vgl. zu den Problemen, die mit der Lesung dieser Z. verbunden sind Groneberg 1981, S. 129-130. VS 10,214, VIZ. 13. AHw 1008a hat die Passage emendiert zu:"... darf sich nicht zu ihr umwenden". Bei dieser Interpretation scheint die Wirksamkeit des Gebrülls der Göttin noch stärker betont. Vgl. ferner VS 10,214, VIIZ. 8-9. Vgl. allgemein AHw s. v. „rigmu(m)". Jedenfalls ist auch das Gebrüll Iätars gerade im Agusaialied greifbar: VS 10,214, IV Z. 15, 18 (?). Das gleiche gilt für Erra: Erra-Epos IZ. 61, 115.

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fes 303 als literarisches Motiv Eingang in die Ilias gefunden hat 304 oder ob es sich in diesem Zusammenhang um allgemeine menschliche Beobachtungen handelt, muß dahingestellt bleiben. Wie Ens stellt auch §altum eine reine Personifikation dar, wobei die Tatsache, daß beide Göttinnen keinen Kult besitzen, 305 nicht nur diese künstliche Entstehung unterstreicht, sondern auch für das Bild der Eris einen äußeren Einfluß wahrscheinlich macht. Sind schon diese Parallelen recht erstaunlich, so erhält die Möglichkeit einer gegenseitigen Beeinflussung durch ein weiteres Detail deutliches Gewicht. So wird als eines der Güter, mit denen Eris ausgestattet ist, „das Zeichen des Kampfes" (πολέμοιο τέρας) genannt. 306 Dabei kommt τέρας die Bedeutung eines himmlischen Zeichens, eines Götterzeichens zu. 307 Mag diese Passage, isoliert betrachtet, Unklarheit hervorrufen, 308 so läßt sich diese durch einen Blick auf das Agusaialied womöglich erhellen: „Ea, der Weise, dessen Rat erhaben ist, fügt eine Sache an, gibt sie ihrem Inneren dazu. Das Zeichen der Istar (itti estar), der Königin, gibt er ihr." 309 Dabei scheint ittu genau das gleiche Bedeutungsfeld wie τέρας abzudecken. Neben den Bedeutungen „Zeichen, ominöses Zeichen" kommt ihm auch der Charakter eines speziellen Kennzeichens für Göttinnen zu, 310 womit ebenfalls ein Bedeutungsfeld Götterzeichen o. ä. gewonnen ist. „Götterzeichen der Istar" bedeutet im gegebenen Zusammenhang aber nichts anderes als „Götterzeichen des Kampfes", da hier wohl eindeutig jener Aspekt der Istar angesprochen ist. Wenn der Zusammenhang in der Ilias auch weniger klar ist, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß selbst dort die Ausstattung der Eris mit πολέμοιο τέρας gleichfalls durch einen der höchsten Götter, nämlich Zeus erfolgt. 311 Dies ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, daß die furchterregende Aigis Athenes einmal als „Zeichen des Zeus" (Διός τέρας) bezeichnet wird, 312 auf der ebenfalls Eris abgebildet ist. 313

304

Man beachte nur etwa das gegenseitige Anbrüllen von Athene und Ares vor der Auseinandersetzung: II. XX 49-51. 305 Waser 1907. Fauth 1967. 306 II. XI4. Waser 1907, Sp. 463 denkt dabei konkret an eine „brennende Kriegsfakel". 307 Liddell & Scott 1968, S. 1776a: „sign, wonder, marvel, portent". 308 Kirk 1985/1993, S. 214: „What Eris held in her hands it is impossible to say and perhaps was never precisely conceived". Vgl. auch schon Schadewald 3 1966, S. 31: „.. . dessen Aussehen näher zu bestimmen man sich vergebens den Kopf zerbricht". Ausgeschlossen war für Schadewald, ibid., S. 33 jedenlls die Aigis, für die andere wiederum vorsichtig plädierten. So etwa Kullmann 1956, S. 103. Gruber 1963, S.40 Anm. 1. Erbse 1986, S. 26. 309 VS 10,214, VIIZ. 10-13. Vgl. auch ibid. VI Z. 38. 310 AHw 406a. CAD I/J 304b verzeichnet „mark, sign, feature, characteristic, diagram; omen, ominous sign; password, signal, inside information; notice acknowledgment, written p r o o f ; wobei 305a die Stelle unter „mark, sign (in a physical sense)" angeführt ist. 311 Vgl. II. XI 3. Man beachte in diesem Zusammenhang, daß Zeus wie Ea auch als ein „wissender Gott" erscheinen kann: II. XIII355. 312 II. V 742. 313 II. V 740.

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Diese Übereinstimmungen bis in motivliche Details lassen sich noch um einen Baustein erweitern. In einer schwer deutbaren Passage, in der Menelaos die Griechen zum Kampf gegen Hektar anzustacheln versucht, verkündet der König von Sparta: „Wie ihr dasitzt, jeder so feig im Herzen und ruhmlos! Selber denn will ich mich rüsten zum Kampfe mit jenem! Da droben Werden die Seile des Siegs (νίκης πείρατα) von unsterblichen Göttern gehalten." 314 Nun stellt gerade die exakte Bedeutung von πεΐραρ ein eigenständiges Problem dar, wobei als Möglichkeiten „end, limit, boundary, bond" angeführt werden. 315 Auch wenn in der Übersetzung der oben zitierten Stelle eine Bedeutung „limits" gegenüber „bonds" vorgezogen wurde, 316 lohnt es sich doch, einen Blick auf das Agusaialied zu werfen. Dort heißt es in einer zentralen Passage: „Istar - in ihrer Hand hält sie das Seil der Menschen (§erret nlsl). 317 Es achten ihre (seil, der Menschen) Schutzgöttinnen 318 auf ihr Geheiß." 319 Der Zusammenhang mit dem Kampf ergibt sich im Agusaialied aus dem Kontext. Ferner wird gerade hier auch die Entscheidungsbefugnis der Göttin betont, die sich offensichtlich über die Schutzgöttinnen (istarätu) direkt auf die Menschen auswirkt. In diesem Konnex muß auch die Bedeutung von serret nlsl gesucht werden. Das Bedeutungsfeld von §erretu läßt sich deutlicher einengen. Es dürfte sich hierbei um eine spezielle Art von Seil handeln, nämlich ein Nasen- bzw. Leitseil. 320 Dabei kann durch diesen Terminus auch die göttliche Herrschaft und Entscheidungsbefugnis umschrieben werden. In diesem Sinne ist wohl nicht nur die oben angeführte Passage aus dem Agusaialied zu verstehen, sondern es lassen sich noch eine ganze Reihe anderer Belege anführen. So behauptet die Göttin Istar in einem mythologischen Fragment aus Assur: „Ich ergreife die göttlichen Riten und hal[te] das Seil des Himmels in meinen Händen." 321

314

IL V I I 1 0 0 - 1 0 2 .

315

Vgl. dazu Kirk 1985/1993, S. 1 7 5 - 1 7 6 (zu II. VI 143).

316

Kirk 1985/1993, S. 247: „Here the sense must be not bonds but limits - not that victory is manipulated as though on strings, but that the ends or decisions about w h o shall win are held above, in the sky, among the gods". Gibt es wirklich einen qualitativen Unterschied zwischen göttlicher Manipulation und göttlicher Bestimmung des Siegers?

317

Auch als Plural „serret nIST" interpretierbar.

318

Die Bedeutung „Schutzgöttin" ist meines Erachtens hier evident. Zwar kann „iätaru" neben „personal or protective goddess" auch einfach „goddess" bedeuten (vgl. C A D I/J 271b), doch verweist das Possessivsuffix -Sin in Z. 12 eindeutig auf „mäSü" in Z. 11. In diesem Sinne sind wohl Groneberg 1981, S. 112 und C A D I/J 272a zu korrigieren, die beide „iätaru" an dieser Stelle als „Göttin", „goddess" auffassen.

319

VS 10, 214, H Z . 10-13.

320

Vgl. A H w 1092b. C A D S 134b gibt als Bedeutungen an: „nose-rope, lead rope, halter; rope used as an

321

Ebeling 1920/1923, S. 250, Nr. 306, Vs. Z. 30: „^anT-ba-ku-ma PA.AN.MES $er-ret A N e i-na sa-ab-[ta-

oarlock; nose ring; leadrope (in transferred mngs.)". Vgl. ferner ibid. 136. ku]".

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Auch der assyrische Kriegs- und Reichsgott Assur ist mit einer analogen Machtvollkommenheit ausgestattet. Er ist der, „der die Seile des Himmels hält." 322 Selbst für Erra gibt es einen ähnlichen Beleg: ,,[Hel]d Erra, du hältst das Seil des Himmels. Die Gesamtheit der Erde beherrschst du vollkommen, über das Land bist du Herrscher. Das Meer störst du auf, das Gebirge beherrschst du vollkommen. Die Leute führst du, das Getier hütest du." 323 Die Verbindung mit dem göttlichen Führungsamt wird aus dem letzten Textbeispiel besonders deutlich, wie auch hier der größere Rahmen des Krieges evident ist. Dies wird neben den zitierten Textbeispielen324 auch aus jenen Passagen deutlich, die §erretu mit dem Königtum verknüpfen und so die königliche Herrschaft unterstreichen.325 In diesen Konnex gehört auch das bis dato älteste bezeugte Beispiel für „§erret nisi" innerhalb der Keilschriftliteratur. So berichtet der altakkadische König Naräm-Su'en nach Abschluß seines Feldzuges gegen Magan: „Naräm-Su'en, der Mächtige, hat im Auftrag der Istar, nachdem Enlil das Urteil über ihn gefällt hatte und dann die Leitseile der Menschen in seine Hand gelegt hatte, aber einen Widersacher ihm nicht gegeben hat, seine Statue angefertigt und dem Enlil in Nippur gestiftet." 326 Genau in diesem Sinne scheint mir nun auch νίκης πείρατα bzw. ολέθρου πείρατα 3 2 7 i. S. von Seil o. ä. zu verstehen zu sein, wobei gleichfalls neben der göttlichen Entscheidungsbefugnis auch der kriegerische Aspekt betont wird. Dies muß freilich nicht heißen, daß über das göttliche Seil nur Übel auf die Menschheit herniedergeht, wie es neben ολέθρου πείρατα auch ein altbabylonischer Text darstellt, der die menschlichen Krankheiten „vom Seil des Himmels" herabkommen läßt. 328 Vielmehr wird schon in den

322

Langdon 1927, S. 70 (K 8664), Z. 2. Lies dort mit AHw „se-rat AN e ". Daneben verzeichnet der neuassyrische Katalog Johns 1898/1923, Nr. 1053 ein eigenes Werk mit dem Titel „§arrät same". Vgl. dazu Parpola 1983a, S. 24 bzw. Fales u. Postgate 1992, S. 66 Nr. 51, II Z. 4. 323 Erra-Epos III D Z. 3-6. 324 Für weitere Beispiele siehe CAD 5 135b-136a. 32 5 CAD $ 136a. 326 Kienast 1994, S. 380 Z. 32-56 (*Nar C 30 = altbabylonische Abschrift). Einen noch älteren, vielleicht thematisch ähnlich gelagerten Beleg, allerdings in einer anderen Terminologie, stellt der schwierige literarische Text ARET 5, 7, ein Preislied auf die Göttin Nisaba, aus Ebla bereit. Dort heißt es Z. 3.6-4.1: „The birds (?) of the sky, the fishes of the sea are with her, (and) the account of all the goods, in (her?) hand is the lead-rope of the land (SAMAN X [KAL]AM.[T]IM). Zitiert nach Krebernik 1992, S. 87, 91. Z. 7.1 ist ferner von einem „Leitseil der Götter" (SAMAN X DINGIR.DINGIR) die Rede. Der Terminus SAMAN X kann allerdings auch eine Göttin bezeichnen. Vgl. dazu ibid., S. 91 Anm. 11. Krebernik 1986, S. 202. Jedenfalls bezeugen die zahlreichen Belege das Alter der Tradition und deren feste Verwurzelung im mesopotamischen Kulturkreis! 327 II. VI 143. 328 Goetze 1955, S. 8, 10 (Text Β), Z. 1-11. Der Text ist darüber hinaus in eine in der Bibliothek Assurbanipals überlieferte Serie eingegangen. Vgl. ibid. S. 11 (Text D), Z. 5-7. Man beachte in diesem Zusammen-

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νίκης πείρατα auch die positive göttliche Zuwendung impliziert, genauso wie es in einer dem Kassitenkönig Agum zugeschriebenen, in einer neuassyrischen Abschrift überlieferten, 329 Inschrift auch explizit ausgeführt wird: „Seine (seil. Agums) Herrschaft möge in Überfluß getaucht sein. Das Seil des weiten Himmels soll ihm geöffnet werden." 330 Trotzdem scheint gerade die Ilias die Vorstellung des „göttlichen Seiles" in besonderem Maße mit dem Kampfgeschehen zu verbinden, wobei das damit verbundene negative Los für die Menschen nicht zu übersehen ist. So wird auch auf diese Weise das Eingreifen der göttlichen Brüder Zeus und Poseidon in die Wirrnisse des Kampfes geschildert: „Siehe, das Seil des mächtigen Streits und verheerenden Krieges Spannten sie wechselnd aus um beide kämpfenden Völker, Unzerreißbar, unlöslich, das viele riß ins Verderben."331 Als Ergebnis dieses Kapitels darf demnach folgendes festgehalten werden. Einzelne Partien der Ilias weisen auffallende Parallelen zu einem altbabylonischen Götterhymnus, dem Agusaialied auf. Diese bestehen vorderhand in zwei göttlichen Wesen, Eris und Saltum, die beide den personifizierten Kampf bzw. die personifizierte Zwietracht darstellen. Beide sind darüber hinaus mit ähnlichen Charakteristika ausgestattet, die neben der Namensgleichheit aus verschiedenen Attributen bestehen, zu denen neben dem numinosen Schauder auch das „göttliche Zeichen" und ein Kampfgebrüll gehören. Beide scheinen ferner von einer höheren Gottheit gesandt zu sein und besitzen keinen Kult, sind also rein literarische Gebilde. Beide Gottheiten sind ferner mit zwei weiblichen Göttinnen verknüpft, Athene und Istar, denen wiederum beiden der Charakter einer Kriegsgöttin zukommt und die beide als Töchter eines Himmelsgottes figurieren. In beiden Texten wird der Rüstung dieser Göttinnen zur Schlacht größte literarische Aufmerksamkeit geschenkt, wobei hier besonders der kriegerische Aspekt in den Vordergrund tritt. Darüber hinaus scheinen die Parallelen bis in motivliche Details hineinzureichen, wofür sowohl die „göttlichen Zeichen" als auch die „göttlichen Seile" angeführt werden können. 332

hang auch die Varianten zu „serret same", nämlich „sikkürät same" (Text A, Z. 10, ibid., S. 8), „Riegel des Himmels" bzw. „kakkab same" (Text C, Z. 5, ibid., S. 11) „Stern des Himmels",. Die von Goetze ibid., S. 14 auf Grund letzterer Gleichung angebotene Verbindung von „serretu" mit „saräru" (CAD § 106) ist allerdings kaum zu halten. 329

Longman 1991, S. 83-88, 2 2 1 - 2 2 4 reiht den Text unter die „fictional Akkadian autobiographies" ein. Vgl. zu diesem Text Jensen 1892, Foster 1993, S. 2 7 3 - 2 7 7 und die kritischen Bemerkungen von Schramm 1995, Sp. 94-96.

330

Rawlinson 1884, S. 33, VIIZ. 14-18: „BALA-su inadum-qi/ lu bu-ul-lu-ul/