Die Bedeutung der »Keck«-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten: Ein Beitrag zur Konvergenz der Freiheiten [1 ed.] 9783428509614, 9783428109616

Die Autorin beschäftigt sich mit den Grundfreiheiten des Europarechts. Im Vordergrund steht dabei die Analyse der Rechts

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Die Bedeutung der »Keck«-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten: Ein Beitrag zur Konvergenz der Freiheiten [1 ed.]
 9783428509614, 9783428109616

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SONJA FEIDEN

Die Bedeutung der "Keck"-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 95

Die Bedeutung der "Keck"-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten Ein Beitrag zur Konvergenz der Freiheiten

Von Sonja Feiden

Duncker & Humblot . Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-10961-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Meinen Eltern

Vorwort Als ich 1996 mit den ersten Überlegungen zu dieser Arbeit begann, hätte ich nicht gedacht, daß sie erst zehn Jahre nach dem Urteil des EuGH in der Sache "Keck und Mithouard", das den Anstoß für die Untersuchung gab, erscheinen würde. Ein Blick in die aktuelle Literatur zu den Grundfreiheiten zeigt jedoch, daß die Diskussion zwar weniger aufgeregt geworden, aber keineswegs abgeschlossen ist. Ich hoffe deshalb, daß dieses Buch noch immer aufInteresse stößt. Die Arbeit wurde im Sommersemester 2000 an der rechts- und staats wissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation eingereicht und im Sommer 2001 angenommen. Sie ist daher im Kern auf dem Stand von Juni 2000. Rechtsprechung des EuGH wurde für die Drucklegung soweit wie möglich bis Ende Februar 2003 nachgetragen, neuere Literatur konnte nur vereinzelt berücksichtigt werden. Ich möchte mich an erster Stelle sehr herzlich bei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Wulf-Henning Roth, bedanken. Er hat nicht nur die Anregung zu diesem Thema gegeben, sondern überhaupt mein Interesse an internationalen Fragestellungen im allgemeinen sowie am Europarecht im besonderen gefördert, zuerst durch seine Vorlesungen und später während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl. Prof. Dr. Ulrich Everling gilt mein herzlicher Dank für die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonders danke ich auch Prof. Dr. Christian Joerges. Er hat mich während meines LL.M.-Studiums und bei zahlreichen späteren Aufenthalten am Europäischen Hochschulinstitut Florenz in vielfältiger Weise unterstützt und meinen (nicht nur europa-) rechtlichen Blickwinkel erweitert. Dank gebührt außerdem der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie dem European Public Law Center für die finanzielle Förderung. Neben fachlich-intellektueller und finanzieller Förderung war für mich die emotionale und "moralische" Unterstützung vieler Menschen um mich herum besonders wichtig. Danken möchte ich dafür vor allem Michael Klasen, Karen Weidmann, meinen Eltern und Florian Becker. Meinem Vater danke ich außerdem ganz besonders für die Hilfe beim Korrekturlesen des Manuskripts. Frankfurt am Main, im Mai 2003

Sonja Feiden

Inhaltsverzeichnis Einleitung Erster Teil

Die Pionierfreiheit: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

9

§ I Die Vorgeschichte - Kurzer Überblick über die EuGH-Rechtsprechung seit ,Dassonville' und ,Cassis de Dijon' ...................................................

9

I. Die klassische Linie: Dassonville und Cassis de Dijon .....................

10

11. Abweichende Argumentationslinien .......................................

11

I. Keine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels ... . . . . . . . . . . . .

12

a) Handel bleibt grundSätzlich möglich; .. kein Zusammenhang mit der Einfuhr der Waren" .................................................

12

b) "Zu ungewiß und zu mittelbar" .....................................

13

c) Preisregelungen ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . .

13

2. Rechtfertigung über "soziale und kulturelle Besonderheiten" - die "Sunday-Trading"-Fälle .....................................................

14

111. Zusammenfassung ...... . . . ........ . . . .....................................

16

§ 2 Die neuere Entwicklung - EuGH-Rechtsprechung seit ,Keck und Mithouard' ....

17

I. Verkaufsmodalitäten: Keck und Mithouard und die Folgeentscheidungen ..

17

11. Produktbezogene Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .

20

III. Sonstige als Beschränkung eingestufte Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1. Zulassungserfordemisse ................................................

22

2. Monopole ..............................................................

23

3. Gewerblicher Rechtsschutz.............................................

24

4. Direkt auf die Einfuhr bezogene Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

IV. Von Peralta bis Corsica Ferries France: zu ungewiß und zu mittelbar .......

25

V. Zusammenfassung ....... . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . .. .. . .. . . .. .. .. . .

26

x §3

Inhaltsverzeichnis Erklärungsversuche - Die wesentlichen Vorschläge in der Literatur und von seiten der Generalanwälte ..............................................................

27

I. Weit verstandenes Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

11. Von "circumstances" zu "Verkaufsmodalitäten" ........ . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .

29

I. White ........................................ .. ........................

29

2. Mortelmans ................. . . . ........ . ............ . ............ . .....

32

3. Tesauro .................................. . .............................

33

4. Befürwortung Keck-Konzept...........................................

33

111. Marktzugang und Durchdringung der nationalen Märkte statt Abschottung und Aufsplitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

IV. Spezifische Beschränkung des zwischenstaatlichen Handels ...............

38

V. Spürbarkeitserfordernis: de minimis non curat lex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

VI. "Binnenmarktvergleich" ...................................................

43

VII. Festhalten am klassischen Konzept; Ausscheiden nur von reinen Inlandsfallen ......................................................................

45

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck' -Rechtsprechung - Dogmatischer Hintergrund

und übertragbare Prinzipien ......................................................

46

I. Der Konflikt zwischen Binnenmarktziel und föderaler Kompetenzverteilung als dogmatischer Ausgangspunkt .....................................

46

11. Kriterien zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs .......................

52

I. Spezifische Belastung der Grenzüberschreitung ergibt sich aus der Natur der Maßnahme .........................................................

52

2. Der Test: EG-weite Regelung gleichen Inhalts / Regelungsunterschiede

53

a) Vorbemerkung......................................................

53

b) Die Testfrage .......................................................

54

c) Zwei Beispiele zur Verdeutlichung..................................

57

d) Verhältnis zum Begriffspaar der Keck-Entscheidung - und ein wichtiges Charakteristikum ..............................................

58

3. Gegenkontrollen ........................ .. .............................

59

a) Faktische Diskriminierung? ...................... . . . .......... . . . ...

60

b) Marktzugang darf nicht versperrt werden . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . .

61

4. Ein Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

5. Einordnung dieses Konzepts - und ein vorgezogenes "Fazit" ...........

65

Inhaltsverzeichnis

XI

III. Anwendung des Tests auf einige (weniger problematische) Fallgruppen ....

73

1. "Typische" Verkaufsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

2. Preisregelungen ................................. . . . .......... . .........

74

3. ,.zu ungewiß und zu mittelbar" - Fälle .................................

75

4. Verkaufsmodalitäten-Regelungen, die an Produktmerkmale anknüpfen

76

5. Produktbezogene Regelungen ..........................................

76

6. Verkaufs- und Nutzungsverbote ...... . .......... . ......................

76

§ 5 Kritische Fallgruppen - Werbung und Monopole als "Gretchenfragen" ...........

77

I. Werbung und Absatzförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

1. Einordnung und Beurteilung im Rahmen des hier entwickelten Systems

78

a) Produktbezogene Herstellerwerbung ................................

79

b) Werbung des Händlers ..............................................

83

aa) Nur innerstaatlich tätige Händler ........ . ......................

83

bb) Grenzüberschreitend tätige Händler ..... . ......................

84

c) Anwendung auf kritische Fälle vor Keck............................

87

2. Die Rechtsprechung nach Keck zu Werbung und Absatzmodalitäten insbesondere: Das Urteil De Agostini und TV-Shop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

a) Die Rechtsprechung des EuGH vor De Agostini und TV-Shop . . . . . ..

91

aa) Regelungen der Werbung seitens inländischer Wiederverkäufer

91

bb) Der Fall Ortscheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

cc) Produktbezogene Regelungen..................................

95

b) Das Urteil De Agostini und TV-Shop ................................

95

aa) Rs. C-34/95, De Agostini ......................................

96

bb) Rs. C-35/95 und 36/95, TV-Shop ................ . . ...........

99

11. Verkaufsmonopole und ähnliche Regelungen .............. . . . ............. 100 1. Einordnung nach dem hier vertretenen Konzept ........................ 100 a) Besonderheiten für Monopole; Verhältnis von Art. 31 zu Art. 28 EGV ................................................................ 100 b) Anwendung des Tests ............................................... 102 aa) Unmittelbare Belastung der Grenzüberschreitung; Offene Diskriminierungen ................................................ 102 bb) EG-weit-Test .................................................. 104 cc) Faktische Benachteiligung eingeführter Waren............ . .... 105 dd) Erhebliche Behinderung des Marktzugangs ............. . ...... 105

XII

Inhaltsverzeichnis 2. Überprüfung einzelner Fälle aus der Rechtsprechung des EuGH anhand dieser Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105 a) Einfuhr- und Vertriebsmonopole ............ . ....................... 106 b) Einzelhandelsmonopole ........... .. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. .. . .. . .. .. .. . 107 aa) Franzen (Alkoholmonopol) .......... . . . ....................... 107 bb) Banchero (Tabakmonopol) ..................................... 109 c) Beschränkung des Verkaufs auf bestimmte Berufsgruppen oder Geschäftstypen ..................................................... 111 aa) Apothekenvorbehalte und andere spezialisierte Geschäfte ......

111

(1) Babymilch .................................................

111

(2) Delattre, Monteil und Samanni; LPO, Quietlynn ............ 113 bb) TK-Heimdienst ................................................ 114 d) Lagerung und Transport ................................ .... ......... 116 aa) Ligur Cami (Beförderung von Frischfleisch) ...... . ............ 116 bb) Rinderbesamungsstationen ..................................... 117 3. Abschließende Betrachtung ............................................ 120

Zweiter Teil Die anderen Grundfreiheiten: Gemeinsamkeiten und Unterschiede § 6 Die Dienstleistungsfreiheit - Ein einheitliches Konzept für die Produktfreiheiten?

121 121

I. Systematische Einordnung der Dienstleistungsfreiheit ..................... 122 1. Verständnis des Art. 49 EGV ........................................... 122

2. Übertragbarkeit der Überlegungen zur Warenverkehrsfreiheit auf die Dienstleistungsfreiheit ................................................. 125

11. Anwendung des entwickelten Prüfungsschemas ............................ 126 1. Grundsätzliche Formulierung für die Dienstleistungsfreiheit ............ 126

a) Direktes Anknüpfen an Grenzüberschreitung ........................ 126 b) Formelle (offene) und versteckte Diskriminierungen ................ 127 c) EG-weit-Test/Regelungsunterschiede............................... 131 d) Gegenkontrollen ............................ . . . ........ . . . .......... 133 2. Fallgruppen ............................................................ 133 a) Leistungserbringer betreffende Regelungen ............ . ............ 133 aa) Qualifikation .... . ..................... . . . ........ . . . .......... 133

Inhaltsverzeichnis

XIII

bb) Finanzielle Garantien, Zulassungserfordernisse, Doppelkontrollen u.ä. ......................................................... 133 cc) Niederlassungs- und Anwesenheitserfordemisse ................ 134 dd) Sozialrechtliche Anforderungen....................... . ........ 137 ee) "Begleitrechte" ............................................. . .. 138 ff) Sonderfall- Unzulässigkeit der Dienstleistung überhaupt ...... 138

b) Leistungs(erbringungs)bezogene Regelungen ....................... 139 aa) Leistungsinhalt und "Leistungs modalitäten" ................... 139 (I) Auf den Leistungsinhalt bezogene Regelungen ............. 139 (2) "Leistungsmodalitäten" .................................... 144 (3) Zwischenfazit: Die Übertragbarkeit der Keck-Rechtsprechung ...................................................... 146 (4) "Weit überwiegender Auslandsbezug" ........ . .......... . .. 148 (5) Prüfungsmaßstab ........................................... 149 bb) Besondere Fallgruppen ......................................... 150 (I) Fernsehen - Demonstrationsfalle für den maßgeblichen

grenzüberschreitenden Bezug .............................. 150

(a) Die unterschiedlichen Leistungsbeziehungen ........... 150 (b) Grenzüberschreitende Leistung des nur inländisch tätigen Kabelanbieters? .................................... 152 (c) Grenzüberschreitend tätiger Kabel- bzw. Satellitenbetreiber ............................................... 156 (d) Leistung des Senders für den Werbetreibenden .......... 156 (e) Abschließende Bewertung................ . .......... . .. 159 (2) Werbung ................................................... 159 (3) Arbeitsrecht................................................ 161 c) Empfangerbezogene Vorschriften; Nachfragerfreiheit ............... 163 aa) Regelungen des Sitzlands ...................................... 163 bb) Regelungen des Gastlands (Sitzland des Leistenden) ........... 166 cc) "Fremdenführer"-Konstellationen .............................. 168 d) Dienstleistungsmonopole ........................................... 169 aa) Unmittelbare Beschränkung der monopolisierten Leistung ..... 169 bb) Mittelbare Beschränkung anderer Leistungen .................. 176 III. Fazit: Strukturelle Unterschiede, aber doch ein einheitliches Konzept ...... 177

XIV

Inhaltsverzeichnis

§ 7 Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit der Arbeitnehmer - abweichende Wer-

tungen bei den Personenverkehrsfreiheiten? ..... . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I. Die Niederlassungsfreiheit ................................................. 179

1. Die Funktion der Niederlassungsfreiheit ................................ 180

2. Spezifische Belastung der Grenzüberschreitung ........................ 181 a) Spezifische Belastung der Grenzüberschreitung aufgrund der Natur der Maßnahme ...................................................... 183 aa) Offene Diskriminierungen ..................................... 183 bb) Direktes Anknüpfen an die Grenzüberschreitung; Zuzugs- und Wegzugsregelungen ............................................ 188 b) Andere Beschränkungen: EG-weit-Test und Gegenkontrollen ....... 191 aa) Anforderungen des Berufs- und Gewerberechts ................ 192 (1) Objektive Zu1assungs- und Ausübungsbeschränkungen ..... 192

(2) Subjektive Zulassungs- und Ausübungsbeschränkungen .... 194 (a) Qualifikation ........................................... 194 (b) Genehmigungen, Kontrollen etc. ....................... 197 (c) Zulassungserfordemisse ............. . .................. 198 bb) Ausübungsregelungen ......................................... 198 (1) Produktions- und Vertriebsregelungen ... . .......... . ....... 199 (a) EG-weit-Test. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 199 (b) Keine Kombination mit Art. 28 EGV ................... 200 (c) "Glaubhaftmachung" des "Systemfalls" ................ 201 (d) Kontrollüberlegung: Begründung der Anwendung des Art. 43 EGV durch die Behinderung des Marktzutritts .. 201 (e) Rechtfertigung ......................................... 203 (f) Bedeutung dieser Einordnung ............ . ............. 203

(g) Eingrenzungen ......................................... 204 (3) Sonstige ausübungsbezogene Regelungen .... . ............. 206 cc) "Mittelbare" Beeinträchtigungen............................... 206 3. Fazit: Unterschiedliche Gewichtungen in einem einheitlichen Konzept 207 H. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ....................................... 209 1. Grundsätzlich gleiche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209

Inhaltsverzeichnis

xv

2. Abweichende Schwerpunktsetzung in der Praxis: Teilhabe statt Befreiung ................................................................. 211 3. Andere Beschränkungen................................................ 215 a) Zuzug, Wegzug und Aufenthalt: direktes Anknüpfen an die Grenzüberschreitung ...................................................... 216 b) Regelungen der Berufstätigkeit .......... . .......... . . . ............. 218 aa) Offene Diskriminierung........................................ 218 bb) EG-weit-Test .................................................. 221 (1) Ausbildung, Diplome ...................................... 222

(2) Doppelregelungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223 (3) Sonstige Fälle .............................................. 223 cc) Faktische Diskriminierung..................................... 225 dd) Erhebliche Zugangsbehinderung? .............................. 226 4. Fazit ................................................................... 227 § 8 Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit - Welche Maßstäbe gelten für die "Fünfte Freiheit"? ............................................................... 228

1. Funktion und Struktur der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit .......... 228 H. FaIlgruppen ............................................................... 230 1. Unmittelbar an die Grenzüberschreitung anknüpfende Regelungen ..... 231

2. Offene (vor allem "mittelbare") Diskriminierungen..................... 232 3. EG-weit-Test? .......................................................... 237 a) "Reine" KapitaIbewegungen ........................................ 240 aa) Behinderungen des Anlegers ................................... 240 bb) Behinderungen des Anbieters von Anlagefonnen ............... 242 b) Zahlungen .......................................................... 243 c) Andere Mischfonnen ............................................... 244 4. Faktische Diskriminierungen und extreme Zugangsbehinderungen? ..... 246 5. Rechtfertigung ......................................................... 246 IH. Fazit....................................................................... 247

Dritter Teil Zusammenfassung und Abrundung: Die Konvergenz der Grundfreiheiten

248

§ 9 Zusammenführung der Ergebnisse - Ein System der Grundfreiheiten ............. 249

1. Hintergründe und Aufbau des eigenen Konzepts ........................... 249

XVI

Inhaltsverzeichnis 11. Die Bedeutung der Keck-Rechtsprechung.. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .... . ... . .. 252 III. Die Konvergenz der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 256

§ 10 Abrundungen - Einige Anmerkungen zu den vernachlässigten Exportfreiheiten und zur Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen .......................... 258

I. Die Exportfreiheiten ....................................................... 258

11. Die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 263

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 267

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . .. .. .. .. . . . . .. .. 282

Abkürzungsverzeichnis AA a.A. AfP BB CDE CMLRev. OB DÖV DVBI DZWir EBLR EFfA EGV EU ELRev. EuGH EuGRZ EU! EuR EUV EuZW EWG EWS f. ff. Fordham Int' LJ. FS GA GS GRUR GRUR Int. Hrsg. ICLQ IPRax JBI 2 Feiden

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XVIII JuS JZ LebensV MDR m.E. MJ m.w.N. NJW NVwZ NZA RabelsZ Rdnr. RIW RL RMC RMUE Rs. RTDE SchadenV SEW SGb Slg. SZW/RSDA

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Einleitung Mit "Keck und Mithouard'" erging am 24. 11. 1993 eine Entscheidung, die sowohl in der Literatur2 als auch in der nachfolgenden Rechtsprechung 3 außergewöhnliche Beachtung fand. Nach seinen eigenen Worten hielt es der Europäische Gerichtshof in diesem Urteil für notwendig, seine Rechtsprechung zu Art. 28 EGy4 zu "überprüfen und klarzustellen"S; "entgegen der bisherigen Rechtsprechung,,6 führte er für die Frage der Anwendbarkeit des Art. 28 EGY die DifferenI EuGH, 24.11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993,1-6097, im Text meist verkürzt" Keck" genannt. 2 Vgl. nur die Auflistung in "References des notes de doctrine aux arrets de la Cour de justice et du Tribunal de premiere instance des Comrnunautes europeennes", Januar 2002, Band 2, 109 ff. (die längst nicht alle Arbeiten aufführt). 3 Z. B. EuGH, 16. I. 2003, Kommission/Spanien, Rs. C-12/00, noch nicht in Slg.; EuGH, 16. I. 2003, Kommission/ Italien, Rs. C-14/00, noch nicht in Slg.; EuGH, 22. I. 2002, Canal Satelite Digital, Rs. C-390/99, Slg. 2002, 1-607, 653; EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Slg. 2001,1-1795; EuGH, 13. I. 2000, TKHeimdienst, Rs. C-254/98, Slg. 2000, 1-151; EuGH, 3. 6. 1999, Colim, Rs. C-33/97, Slg. 1999,1-3175; EuGH, 9. 2. 1999, van der Laan, Rs. C-383/97, Slg. 1999,1-731; EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis 36/95, Slg. 1997, 1-3843; EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Slg. 1997, 1-3689; EuGH, 20. 6. 1996, Semeraro Casa Uno u. a., Rs. C-418/93 u. a., Slg. 1996, 1-2975; EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995, 1-4663; EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Slg. 1995, 1-1923; EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland ("Babymilch"), Rs. C-391/92, Slg. 1995, 1621; EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995, 1-179; EuGH, 2. 6. 1994, Punto Casa und PPV, Rs. C-69/93 und 258/93, Slg. 1994, 1-2355; EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Slg. 1993,1-6787; im Rahmen des Art. 39 EGV EuGH, 15. 12. 1995, Bosman, Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921; im Rahmen des Art. 49 EGV EuGH, 10. 5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Slg. 1995, 1141. Siehe dazu auch unten § 2. 4 Mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags vom 2. 10. 1997 am 1. 5. 1999 sind die früheren Art. 30 ff. EGV durch die neuen Art. 28 ff. EGVersetzt worden. Diese Arbeit verwendet durchgehend in allen Bereichen die neuen Artikel, und zwar auch dann, wenn es sich um die inhaltliche Wiedergabe von Stellungnahmen aus der Zeit vor dem Amsterdamer Vertrag handelt. Nur wenn wörtlich zitiert wird und bei der Zitierung von älteren Kommentierungen wird natürlich noch die alte Bezeichnung verwendet. Entgegen der neuen Praxis des Europäischen Gerichtshofs, vgl. Tätigkeitsbericht Nr. 21199, Woche vom 6. bis 10. September 1999, 35 f., wird weiterhin die Abkürzung "EGV" für den EG-Vertrag benutzt, nicht "EG". 5 EuGH,24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993,1-6097, 6131 Rdnr. 14. 6 EuGH,24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993,1-6097, 6131 Rdnr. 16.

2*

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zierung zwischen produktbezogenen Regelungen und bloßen "Verkaufsmodalitäten" ein, die seither Gegenstand der Diskussion ist: Während "Hemmnisse für den freien Waren verkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, daß Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen (wie etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer Zusammensetzung, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung und ihrer Verpackung)"

weiterhin entsprechend der Rechtsprechung seit Cassis de Dijon 7 auch bei unterschiedslos für alle Erzeugnisse geltenden Vorschriften als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen nach Art. 28 EGV verboten sind, soweit sie nicht über Art. 30 EGV oder die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt8 werden können,9 enthalten die Randnummern 16 und 17 des Urteils die entscheidende Neuerung: "Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville ( ... 10) unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 EWG-Vertrag." I I

Diese Differenzierung des EuGH konnte die zu dieser Zeit schon lange geführte Diskussion 12 über die umfangreiche und zumindest auf den ersten Blick uneinheitliehe Rechtsprechung zu Art. 28 EGV nicht beenden. Sie scheint im Gegenteil die Auseinandersetzung noch beflügelt zu haben. Muß jede staatliche Regelung, die möglicherweise Auswirkungen auf Importe hat, an den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen gemessen werden oder nicht? Anders formuliert - wieviel Re7 EuGH, 20. 2. 1979, Rewe / Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (" Cassis de Dijon"), Rs. 120178, Sig. 1979,649. 8 Zur Terminologie siehe unten Fn. 35. 9 EuGH,24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993,1-6097, 6131 Rdnr. 15. 10 EuGH, 11. 7. 1974, Dassonville, Rs. 8174, Sig. 1974,837. 11 EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993, 1-6097,6131 Rdnr. 16, 17. 12 Siehe dazu unten erster Teil, § 3.

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gelungsautonomie soll den Einzelstaaten verbleiben? Inwieweit kann der Gerichtshof politische Entscheidungen der nationalen Gesetzgeber ersetzen? Zwar scheint deutlich, daß der EuGH Art. 28 EGV auf bestimmte Fallkonstellationen nicht mehr anwenden will. 13 Uneinigkeit besteht jedoch nicht nur darüber, wo genau die Grenze zwischen erfaBten und nicht erfaBten Fallgruppen verlaufen soll, was "bestimmte Verkaufsmodalitäten" sind, sondern auch über die teleologische Rechtfertigung einer solchen Unterscheidung; das Meinungsspektrum reicht von kritikloser Zustimmung bis hin zur Ablehnung jeglicher Grenzziehung. 14 Damit sind die Grundlagen des Verständnisses der Warenverkehrsfreiheit angesprochen. Nachdem die Warenverkehrsfreiheit aber so etwas wie die "Pionierfreiheit" unter den Grundfreiheiten darstellt,15 können Antworten auf diese Fragen nicht ohne Folgen für die anderen Freiheiten bleiben. Dabei erfaBt die häufig aufgeworfene Frage, ob der Keck-Rechtsprechung über ihre konkrete Aussage zur Freiheit des Warenimports (Art. 28 EGV) hinaus Bedeutung auch für die anderen Freiheiten zukommt bzw. ob sie auf diese übertragbar sei,16 nur eine Dimension des Zusammenhangs zwischen den Grundfreiheiten und bleibt damit vordergründig. Notwendig ist vielmehr, diese Entwicklung beim Warenverkehr in Bezug zu setzen zu den Abgrenzungen und Differenzierungen, die sich auch zu den übrigen Grundfreiheiten finden lassen. Letztlich geht es damit um die Konzeption des Binnenmarktes, der, gekennzeichnet eben durch die Marktfreiheiten (vgl. Art. 3 Abs. 1 c) EGV), jedenfalls in der tatsächlichen Entwicklung eines der Kernelemente des Gemeinschaftsrechts 17 ausgemacht hat. 13 Oder, je nach Definition, in manchen Fallkonstellationen nur noch diskriminierende Maßnahmen kontrollieren. 14 Vgl. unten erster Teil, § 3, insbesondere II. 4. einerseits und VII. andererseits. 15 So wörtlich Müller-Graff, in: vdGroebenlThiesing I Ehlennann, Vorb. zu Art. 30 bis 37 Rdnr. 8, vgl. auch Rdnr. 2, "elementare Basis"; im Anschluß an diesen auch Classen, EWS 1995,97,98; Everling, in: GS Knobbe-Keuk (1997), 607, 613 ("Vorreiterrolle"); Kapteynl VerLoren van Themaat I Gormley, Introduction to the Law of the European Communities, 588 ("starting point"); Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 651 ("Herzstück der Grundfreiheiten" zusammen mit Dienstleistungsfreiheit). Vgl. auch die im Vertrag vorgesehene Ausrichtung anderer Freiheiten auf den freien Waren verkehr hin, z. B. Art. 44 Abs. 2 a), 52 Abs. 2 EGY. 16 Eberhartinger; EWS 1997,43,49 ff.; Everling, in: GS Knobbe-Keuk (1997), 607, 615; Füßer; DÖV 1999,96,98 (bejahend hinsichtlich des "ob", es sei jedoch "noch weitgehend ungeklärt, wie die Unterscheidung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Regelungen auf andere Grundfreiheiten zu übertragen" sei); Keßler; System der Warenverkehrsfreiheit (1997),261 ff.; Klinke, ZGR 1996,567,578; Krebber; in: Jb. Junger Zivilrechtswissenschaftler 1997, 129, 142 ff.; Ohler; WM 1996, 1801, 1806; Remien, ZfRV 1995, 116, 130 ff.; Solbach, Staatliche Regelungen von Verkaufsmodalitäten (1996), 209 ff.; vgl. auch BGH, NJW 1999, 1398; differenzierender Roth, in: FS Großfeld (1999),929,930 und auch schon in GS Knobbe-Keuk (1997),729,740 f.; ablehnend Tesauro, YEL 15 (1995), 1,7. 17 So besonders nachdrücklich die Vertreter einer "Europäischen Wirtschaftsverfassung", vgl. Behrens, EuR 1992, 145; Mestmäcker; RabelsZ 58 (1994), 615, 621 ff.; Mestmäcker; in: Mestmäcker; Recht und ökonomisches Gesetz (1984), 15, 29 sowie 86 ff.; Zu leeg, in: FS Everling (1995), 1717; Zuleeg, BB 1994,581,586 f.; vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 55.

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Inzwischen ergangene Nachfolgeurteile haben einige weitere Anhaltspunkte zu verschiedenen Aspekten der durch Keck aufgeworfenen Fragen geliefert. Zahllose Äußerungen in der Literatur haben versucht, einen Zusammenhang zwischen diesen notwendigerweise fragmentarischen Aussagen herzustellen. Es fehlt jedoch eine ausführliche Untersuchung, die ausgehend von der Keck-Rechtsprechung die verschiedenen Entwicklungen bei den Grundfreiheiten in Bezug zueinander setzt und ein einheitliches Konzept für das "System der Grundfreiheiten" anbietet. 18 Ein solches System ist nicht Selbstzweck, sondern kann vielmehr helfen, Schwierigkeiten im Umgang mit der auf Einzelfälle bezogenen Rechtsprechung des EuGH zu begegnen. 19 Das ist das Ziel dieser Arbeit. Sie ist damit gleichzeitig ein Beitrag zur vielfach beobachteten "Konvergenz der Grundfreiheiten,,2o; Der Gerichtshof hat in vielen Entscheidungen gezeigt, daß er die verschiedenen Grundfreiheiten nicht als separate Bereiche versteht, sondern als "Gesamtheit,,21. So hat er Argumentationsmuster von einer Freiheit - häufig war Die These einer prinzipiellen Vorrangigkeit oder gar ausschließlichen Berechtigung der wirtschaftlichen Integration, wie sie bei einigen dieser Autoren zugrunde liegt, soll damit allerdings nicht übernommen werden. 18 Zwar findet sich in den größeren Arbeiten zur Keck-Rechtsprechung jeweils ein Kapitel zur Übertragung auf die anderen Freiheiten (siehe Keßler, System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 261 ff.; Solbach, Staatliche Regelungen von Verkaufsmodalitäten (1996), 209 ff.). Zum einen gehen diese jedoch schon von einem anderen Verständnis der Keck-Rechtsprechung aus, als es hier für richtig gehalten wird, und zum anderen sind gerade die Überlegungen zu den anderen Freiheiten wesentlich knapper gehalten und können daher zwangsläufig keine umfassende Einordnung in die dort existierenden Differenzierungen leisten. Die verschiedenen Arbeiten hingegen, die die Konvergenz, ein System oder eine Dogmatik der Grundfreiheiten betreffen (siehe vor allem Behrens, EuR 1992, 145; Classen, EWS 1995,97; Eberhaninger, EWS 1996, 43; Eilmansberger, JBl 1999, 345 (1. Teil) und 434 (2. Teil); Jarass, EuR 1995, 202; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten (1999); Zuleeg, in: FS Everling (1995), 1717), unterscheiden sich durch die weiter angelegte Fragestellung und können dabei weniger auf die Details der Keck-Rechtsprechung eingehen, was aber durchaus lohnend ist. Einige Ansätze erscheinen zudem von der deutschen Grundrechtsdogmatik geprägt (Jarass, Kingreen), was m.E. in einem internationalen Kontext wie der Europäischen Gemeinschaft nicht unproblematisch ist. Auch das hier vorgeschlagene Prüfungsschema hat vielleicht wenig Aussicht, vom Europäischen Gerichtshof übernommen zu werden. Es vermeidet aber national geprägte Kategorien und versucht vielmehr, aus den entschiedenen Fällen ein sinnvolles System abzuleiten, statt sie in ein vorgefertigtes einzuordnen. 19 Vgl. die Schwierigkeiten bzw. Abweichungen bei der Anwendung der Keck-Rechtsprechung durch nationale Gerichte, wie sie von Lichtenwalder, Anwendung von Art. 30 EGV (1996),74 ff. und Jarvis, Application of EC Law (1998), 118 ff. festgestellt wurden. Zu Sinn und Nutzen einer solchen Systembildung vgl. Jarass, EuR 1995, 202 f. (mit dem Hinweis darauf, daß dies möglicherweise nicht in allen beteiligten Rechtskreisen für so wichtig gehalten wird); Snell / Andenas, in: Andenas / Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002),69, 79. 20 Um nur einige der bedeutendsten Beiträge aus der Literatur zu nennen: Behrens, EuR 1992, 145; Classen, EWS 1995,97; Eilmansberger, JB11999, 345 (1. Teil) und 434 (2. Teil); Jarass, EuR 1995,202. Siehe dazu unten Dritter Teil, § 9 III. 21 So wörtlich z. B. in EuGH, 20. 5. 1992, Ramrath, Rs. C-106/91, Sig. 1992, 1-3351, 3383 Rdnr. 24 zu Art. 39,43 und 49 EGV.

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das die Warenverkehrsfreiheit - auf andere Freiheiten übertragen,22 oder auch mehrere Freiheiten in einem Atemzug geprüft23 . Ein Höhepunkt dieser Rechtsprechung war das Urteil Gebhard, in dem der EuGH allgemein von den "durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten" spricht und einheitliche Kriterien für sie aufstellt. 24 Die Überlegungen zu einem System der Grundfreiheiten bauen auf diesen Beobachtungen auf und versuchen sie fruchtbar zu machen. Zunächst ist es erforderlich, eine tragfähige Interpretation des Keck-Urteils für den Warenimport als seinen eigentlichen Anwendungsbereich zu finden, die klare, handhabbare Kriterien für die Differenzierung verschiedener Fallgruppen bietet und auf einem nachvollziehbaren teleologischen Hintergrund beruht: Die vom EuGH eingeführte Differenzierung zwischen Verkaufsmodalitäten und produktbezogenen Regelungen erscheint schon für den Bereich des Art. 28 EGV zum einen nicht hinreichend begründet, um sie in Zweifelsfällen sicher anwenden zu können, 22 Vgl. zur Beeinflussung der anderen Freiheiten durch die Judikatur zu Art. 28 EGVetwa die Einbeziehung nichtdiskriminierender Beschränkungen, z. B. EuGH, 25. 7. 1991, Säger, Rs. C-76/90, Sig. 1991,1-4221 (Art. 49 EGV); EuGH, 31. 3. 1993, Kraus, Rs. C-19/92, Sig. 1993,1-1663 (Art. 43 EGV); EuGH, 15. 12. 1995, Bosman, Rs. C-415/93, Sig. 1995,1-4921 (Art. 39 EGV). Ein anderes Beispiel ist die Erwähnung der Keck-Entscheidung in Bosman und EuGH, 10.5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Sig. 1995,1-1141. Sehr deutlich auch neuerdings EuGH, 11. 5.1999, Pfeiffer, Rs. C-255/97, Sig. 1999,1-2835,2861 Rdnr.20, im Rahmen der Niederlassungsfreiheit zu dem Zwang, eine einheitliche Werbekonzeption bzw. ein einheitliches Erscheinungsbild wegen Regelungsunterschieden in den Mitgliedstaaten aufzugeben - vgl. dazu die Rechtsprechung zum Warenverkehr in EuGH, 18. 5. 1993, lVes Rocher, Rs. C-126/91, Sig. 1993, 1-2361, 2388 Rdnr. 10; EuGH, 16. 5. 1989, Buet u. a./ Ministere public (im folgenden Buet), Rs. 382/87, Sig. 1989, 1235, 1251 Rdnr. 7; EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575,4587 f. Rdnr. 15. Dabei greift der EuGH konsequenterweise, nachdem er für die Bestimmung der Anwendbarkeit an seine Rechtsprechung zu Art. 28 EGVangeknüpft hat, auch für die Rechtfertigung auf den aus Art. 30 EGV bekannten "Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums" sowie seine Markenrechtsrechtsprechung zurück, vgl. Rdnr. 21 f. der Entscheidung Pfeiffer. Auch Keck kann man in diesem Zusammenhang lesen: Der EuGH betont darin nach richtigem Verständnis die Notwendigkeit eines spezifisch grenzüberschreitenden Bezugs für die Anwendung des Art. 28 EGV, was bei den anderen Freiheiten unter anderem im Rahmen der Rechtsprechung zu den rein internen Sachverhalten vor Keck stärker als bei der Waren verkehrsfreiheit thematisiert wurde; vgl. dazu Roth, in: GS Knobbe-Keuk (1997),729,741. 23 EuGH, 27. 6. 1996, Asscher, Rs. C-107/94, Sig. 1996,1-3089,3121 f. Rdnr. 29; EuGH, 22.3.1994, Kommission/Spanien, Rs. C-375/92, Sig. 1994,1-923; EuGH, 3. 2.1993, Veronica Omroep Organisatie, Rs. C-148/91, Sig. 1993,1-487; EuGH, 20. 5. 1992, Ramrath, Rs. C-106/91, Sig. 1992,1-3351,3381 f. Rdnr. 17,3383 Rdnr. 24 und 28; EuGH, 30. 4. 1986, Kommission/ Frankreich, Rs. 96/85, Sig. 1986, 1475; EuGH, 7. 7. 1976, Watson und Belmann, Rs. 118/75, Sig. 1976, 1185, 1197 Rdnr. 8/10; EuGH, 12. 12. 1974, Walrave, Rs. 36/74, Sig. 1974,1405,1419 f. Rdnr. 16/19,20/24. Vgl. auch GA Tesauro in EuGH, 23. 2. 1995, Bordessa u. a., verb. Rs. C-358/93 und C-416/93, Sig. 1995,1-361,368 f. Tz. 12 f., 370 f. Tz. 18 f.; GATesauro in EuGH, 3. 2.1993, Veronica Omroep Organisatie, Rs. C-148/91, Sig. 1993,1-487,509 Tz. 8 (im Anschluß an Kommission); GA Wamerin EuGH, 18.3.1980, Debauve, Rs. 52/79, Sig. 1980,833,878. 24 EuGH, 30. 11. 1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Sig. 1995,1-4165,4197 f. Rdnr. 37.

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und zum anderen auch zu eng, um alle denkbaren Fallgestaltungen entscheiden zu können?5 Vor allem aber ist dieses Begriffspaar speziell auf den Warenimport zugeschnitten, so daß eine Übertragung etwa auf Fragen der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf den ersten Blick kaum in Frage kommt. Erst der Blick auf das dahinterstehende theoretische Konzept eröffnet die Möglichkeit, nach der Übertragbarkeit dieses Bezugsrahmens auf die anderen Grundfreiheiten und nach dort vorhandenen oder zu entwickelnden parallelen Differenzierungen zu fragen. Der Einstieg über Art. 28 EGVerscheint aber nicht nur deshalb angezeigt, weil zu diesem Bereich das Keck-Urteil ergangen ist. Er steht auch in der Tradition der schon angesprochenen besonderen Bedeutung der Warenverkehrsfreiheit 26 , die sich auch in einem wohl immer noch umfangreicheren Schrifttum und Rechtsprechungsmaterial, jedenfalls soweit es grundsätzliche Fragen betrifft, niederschlägt. Außerdem sind viele Konstellationen anhand des Waren verkehrs aufgrund ihres Gegenstands, nämlich der "greifbaren" Produkte, viel plastischer darstellbar. Ihre vorangestellte Behandlung in diesem Rahmen macht es daher bei den anderen Freiheiten leichter, Parallelen zu ziehen. Im ersten Teil der Arbeit wird deshalb versucht, die EuGH-Rechtsprechung zunächst für Art. 28 EGV zu analysieren und die dort vorgenommene Differenzierung zu begründen oder auch zu modifizieren, soweit das aufgrund teleologischer Erwägungen notwendig erscheint. Dabei soll schon hier eine abstrahierbare Formulierung das Ziel sein. Zur Einordnung des Keck-Urteils werden vorab kurz die in Rechtsprechung und Literatur vor und seit dieser Entscheidung verfolgten Ansätze dargestellt (§§ I bis 3). Darauf aufbauend wird ein eigener Erklärungsversuch entwickelt (§ 4). Dabei zeigt sich unter anderem, daß die schon klassisch zu nennende Dichotomie von Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot nicht nur einer feineren Untergliederung bedarf, sondern damit auch als solche überflüssig wird. Daß sie überdies vielfach der Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten zwischen den Grundfreiheiten im Wege steht, wird im späteren Verlauf der Arbeit deutlich. 27 Statt dessen wird ein mehrstufiges Prüfungssystem vorgeschlagen, mit 25 So hat der EuGH in einigen Fällen nach Keck zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 28 EGV auf die ältere Fonnel "zu ungewiß und zu mittelbar" zurückgegriffen, die m.E. mit einer richtig verstandenen Keck-Interpretation zu erfassen wären: Vgl. EuGH, 30. 11. 1995, Esso Espaiiola, Rs. C-134/94, Sig. 1995,1-4223,4249 Rdnr. 23, 24; EuGH, 17.10.1995, DIP u. a., Rs. C-140/94-142/94, Sig. 1995,1-3257,3297 Rdnr. 29; EuGH, 5. 10. 1995, Centro Servizi Spediporto, Rs. C-96/94, Sig. 1995, 1-2883, 2914 Rdnr. 41; EuGH, 14. 7. 1994, Peralta, Rs. C-379/92, Sig. 1994, 1-3453, 3497 Rdnr. 24. Vgl. auch EuGH, 20. 6. 1996, Semeraro Casa Uno u. a., Rs. C-418/93 u. a., Sig. 1996,1-2975,3004 ff. Rdnr. 9 ff. einerseits und 3009 Rdnr. 32 andererseits, wo der Gerichtshof für Art. 28 EGV zwar auf die Keck-Fonnel zurückgriff, zu Art. 43 EGV jedoch mit "zu ungewiß und zu mittelbar" argumentierte. 26 Oben Fn. 15; vgl. auch Snyder und Joerges, Vorwort zu Maduro, We, the Court (1998): "in many respects the core of the European Community Treaty". 27 Das gilt vor allem insoweit, als die Diskussion im Sinne eines "Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbot" geführt und das Beschränkungsverbot damit als ein umfassendes ver-

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dem Verstöße gegen die Warenverkehrsfreiheit festgestellt werden können. Schließlich werden zur Demonstration und Überprüfung zwei wichtige Fallgruppen ausführlich behandelt, an denen die vorgeschlagene Differenzierung besonders deutlich wird (§ 5). Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Übertragbarkeit der für die Importfreiheit des Art. 28 EGVentwickelten Grundsätze auf die anderen Grundfreiheiten des EG-Vertrags,z8 Dazu werden nacheinander die einzelnen Freiheiten untersucht, wobei jeweils von ihrer Funktion ausgegangen wird, um dann zum einen auf Abweichungen zum Waren verkehr und zu den anderen schon untersuchten Freiheiten in den tatsächlichen Fallkonstellationen aufmerksam zu machen, zum anderen aber die grundsätzliche Anwendbarkeit des gleichen Prüfungsschemas nachzuweisen. standen wurde (vgl. etwa erst kürzlich Lackhoff, Niederlassungsfreiheit (2000), 361 ff., 394 ff., der die Dassonville-Formel wörtlich auf die Niederlassungsfreiheit überträgt, siehe S. 431, 442; Niemöller; Das Verbraucherleitbild (1999), 134, 149, 153 [zu Art. 28]; nur so lassen sich auch Titel wie "Arbeitsrechtsstandards als' Aufenthaltsmodalitäten'" - Reichold, ZEuP 1998, 434 - und allgemein die Forderungen, Keck auf die anderen Grundfreiheiten zu übertragen, erklären; vgl. auch Füßer; DÖV 1999,96,98 [der EuGH verschmelze die Grundfreiheiten zu einem "Grundrecht auf wirtschaftliche Liberalität im Sinne eines umfassenden wirtschafts bezogenen Beschränkungsverbots"; dementsprechend sei Keck "auf die anderen Grundfreiheiten ... zu applizieren" - daß ohne eine entsprechende Anwendung von Keck z. B. Tempolimits und Promille-Grenzen als Beschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten angesehen werden könnten, wie Füßer S. 98 f. meint, darf allerdings bezweifelt werden]; Hintersteininger; Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot (1999), 40 Fn. 126; Klauer; Europäisierung des Privatrechts (1998), 74 f. ;,Beschränkungsverbot par excellence"; Müller; Kapitalverkehrsfreiheit (2000), 162 ff. "absolutes Beschränkungsverbot" [seine Beispiele sind allerdings sämtlich diskriminierende Regelungen]). Sieht man sich die Rechtsprechung des EuGH an, so war das schon für den Warenverkehr an sich nie zu halten, gab es doch immer schon Entscheidungen, die bei bestimmten "Beschränkungen" Art. 28 EGV nicht für anwendbar hielten (gegen ein "allumfassendes" Beschränkungsverbot auch Leible, in: Grabitz/ Hilf, Art. 28 Rdnr. 8). Noch viel weniger gab die Rechtsprechung etwa zu Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit dazu Anlaß, die zwar in bestimmten Fällen auch ohne Feststellung einer Diskriminierung zu einer Anwendung der Freiheiten kam, in den Bereichen, die nur mit dem Umfeld der Tätigkeit zusammenhängen, aber immer bei einem Diskriminierungsstandard geblieben ist. Insofern ist Roths Feststellung, nicht Beschränkungs- oder; sondern und Diskriminierungsverbot sei die Devise (in: GS Knobbe-Keuk (1997), 729, 741), nur nachdrücklich zu unterstreichen. Hat man damit aber grundsätzlich entschieden, daß die Freiheiten Diskriminierungen und darüberhinaus auch einige (eben nicht jegliche) Beschränkungen verbieten, so genügt es in der konkreten Überprüfung einer Maßnahme, nach einer relevanten Beschränkung (die Diskriminierung ist eine Form der Beschränkung) zu fragen, was mit dem hier vorgeschlagenen Test geschieht. 28 Die Arbeit beschränkt sich dabei an dieser Stelle auf die Funktion der Freiheiten als "Importfreiheiten" (wie auch im ersten Teil mit Art. 28 EGV nur der Waren import behandelt wurde). Exportkonstellationen werden im dritten Teil nur unvollständig behandelt; die Frage wäre eine eigene Untersuchung wert, zumal die Rechtsprechung hierzu sich zu wandeln scheint (vgl. einerseits EuGH, 8. 11. 1979, Groenveld, Rs. 15/79, Sig. 1979, 3409 und die folgende ständige Rechtsprechung zu Art. 29 EGV [nur Diskriminierungsverbot], andererseits EuGH, 10.5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Sig. 1995, 1141 zu Art. 49 EGV und EuGH, 15. 12. 1995, Bosman, Rs. C-415/93, Sig. 1995,1-4921 zu Art. 39 EGV [weiteres Verständnis ]).

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Dabei werden Fallgruppen gebildet, die sich einerseits an den tatsächlich vorkommenden oder in der Literatur diskutierten Fällen und andererseits an der Zuordnung zu den Kategorien des eigenen Prüfungsschemas orientieren (§§ 6 bis 8). Die hier deutlich werdende "Konvergenz der Grundfreiheiten" wird abschließend aus einem erweiterten Blickwinkel betrachtet in einen größeren Zusammenhang gestellt (dritter Teil). Hier sind nicht nur die Ergebnisse aus den beiden ersten Teilen zusammenzuführen, um das proklamierte "System der Grundfreiheiten" deutlich werden zu lassen (§ 9). Es werden darüber hinaus zur Abrundung zwei Bereiche beleuchtet, die im Hauptteil der Arbeit aufgrund einer bewußt vorgenommenen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands nur am Rande vorkommen, die aber doch zu einem solchen System unbedingt dazugehören (§ 10). Der erste betrifft die Exportfreiheiten, für die sich grundsätzlich das gleiche Prüfungsschema anwenden läßt, wenn man sich zu einem weiteren Verständnis dieser Freiheiten entschließt, als das die Rechtsprechung zu Art. 29 EGV bisher getan hat. Der zweite dagegen beschäftigt sich mit der Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen. In den bei den ersten Teilen wird diese Frage bewußt zurückgestellt, denn die eigentliche Aussage der Unterscheidung in Keck und damit der Ausgangspunkt dieser Untersuchung betrifft die Anwendbarkeit der Freiheit. Damit soll aber selbstverständlich nicht die enge Verzahnung beider Fragen geleugnet werden. Erstens wirft nämlich die Aufgabe der Unterscheidung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot unmittelbar die Frage auf, wonach sich dann die Anwendbarkeit der geschriebenen Rechtfertigungsgründe einerseits und der Cassis de Dijon-Rechtsprechung andererseits bestimmt. Und zweitens drängt sich die Frage auf, ob ein gestuftes Testsystem auf der Tatbestandsseite mit einer entsprechend (umgekehrt) gestuften Rechtfertigungsprüfung zu komplementieren ist. Dazu werden zwar keine detaillierten Vorschläge gemacht. Es wird jedoch auf die Möglichkeiten hingewiesen, den Besonderheiten und Unterschieden bei den verschiedenen Freiheiten trotz Anwendung eines einheitlichen Systems gerade im Rahmen der Rechtfertigung und dort vor allem bei der Verhältnismäßigkeit gerecht zu werden. Damit werden Sicherheit bei der Anwendung und Flexibilität im Ergebnis gleichzeitig gewährleistet.

Erster Teil

Die Pionierfreiheit: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV § 1 Die Vorgeschichte Kurzer Überblick über die EuGH-Rechtsprechung seit ,Dassonville' und ,Cassis de Dijon' In der Rechtsprechung des EuGH zum Verbot des Art. 28 EGV spielte von Anfang an die Bestimmung des Begriffs der "Maßnahmen gleicher Wirkung" wie mengenmäßige Beschränkungen die zentrale Rolle. Mengenmäßige Beschränkungen selbst, d. h. Regelungen, die unmittelbar die Einfuhr (bzw. Aus- oder Durchfuhr) von Waren ganz oder teilweise (etwa durch das Aufstellen von Kontingenten oder Quoten) verbieten,29 nicht aber nur belastend wirken,3o haben den EuGH nur selten beschäftigel; ihr Vorliegen ist unschwer festzustellen 32 , ihr Vorkommen heute aber unwahrscheinlich. Dagegen ist der Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung zum einen auslegungsbedürftig, und zum anderen gibt es nach wie vor eine Fülle staatlicher Regelungen, für die eine Subsumtion unter diesen Begriff in Betracht kommt. Hinter der Bestimmung dieser Tatbestandsmerkmale und damit des grundsätzlichen Anwendungsbereichs des Verbots des Art. 28 EGV steht immer auch die Frage nach Bereichen, in denen den Mitgliedstaaten Regelungsmöglichkeiten jenseits der europarechtlichen Legitimitätskontrolle der verfolgten Ziele erhalten bleiben. 29 EuGH, 12.7.1973, Geddol Ente Nazionale Risi, Rs. 2173, Sig. 1973,865,879 Rdnr. 7; Ehlermann, EuR 1973, I, 2, 7; Meier; in: EhlelMeier; EWG-Warenverkehr (1971), B 102; Müller-Graff, in: vdGroebenlThiesinglEhlermann, Art. 30 Rdnr. 16; Roth, Freier Warenverkehr (1977), 15. 30 Matthies Ivon Borries, in: Grabitzl Hilf, Altband I, Art. 30 (alt) Rdnr. 3; Müller-Graff, in: vdGroebenI Thiesing I Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 22; Roth, Freier Warenverkehr (1977), 15. 31 Vgl. Dauses, in: Dauses, C.I Rdnr. 81: "wenige, rechtsgeschichtlich bedeutungslose Urteile". Vgl. aber die Verfahren um die Einfuhrverbote für britisches Rindfleisch im Zusammenhang mit BSE, etwa EuGH, 13. 12. 2001, Kommission/ Frankreich, Rs. C-I IOD, Sig. 2001,1-9989; EuGH, 5. 12.2000, Eurostock, Rs. C-477 /98, Sig. 2000, 1-10695. 32 Roth, Freier Warenverkehr (1977), 15; vgl. auch Grabitz, in: FS lpsen (1977), 645, 648; "yattl Dashwood, European Community Law, 209: "The notion of a quantitative restriction is weil understood, and definition poses little difficulty".

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

I. Die klassische Linie: Dassonville und Cassis de Dijon Das klassische Konzept des EuGH ist hinlänglich bekannt: Maßnahmen gleicher Wirkung sind Handelsregelungen der Mitgliedstaaten, die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. 33 Solche Regelungen sind aber dennoch zulässig, wenn sie entweder einem der Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV unterfallen oder aber in Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, die im allgemeinen Interesse liegen und denen des freien Warenverkehrs vorgehen. 34 Letztere Einschränkung 35 gilt jedoch nur für Regelungen, die inländische und eingeführte Produkte unterschiedslos betreffen. 36 EuGH, 11. 7.1974, Dassonville, Rs. 8/74, Sig. 1974,837,852 Rdnr. 5. EuGH, 20. 2. 1979, Rewe / Bundesmonopolverwaltung für Branntwein ( .. Cassis de Dijon "), Rs. 120/78, Slg. 1979,649,662 und 664 Rdnr. 8 und 14. 35 Der Streit, ob das Vorliegen zwingender Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung zu einer Rechtfertigung der mitgliedstaatlichen Maßnahme führt oder aber die Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Art. 28 fallen läßt (vgl. z. B. einerseits (Rechtfertigung) Jarass, EuR 1995, 202, 223 ff., andererseits (tatbestandsausschließend) Dauses, in: Dauses, C.I Rdnr. 108; Müller-Graff, in: vdGroebenI Thiesing I Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 41, 190), ist für die folgenden Überlegungen unerheblich. Er hat seine Ursache vor allem darin, daß der Gerichtshof Art. 30 EGV von Anfang an eng ausgelegt und als abschließende Aufzählung verstanden hat, die aufgrund des Ausnahmecharakters der Vorschrift auch nicht analogiefähig sei (EuGH, 22. 6. 1982, Robertson, Rs. 220/81, Slg. 1982, 2349, 2360 Rdnr. 8; EuGH, KommissionIIrland, Sig. 1981, 1625, 1638 Rdnr. 7; EuGH, 19. 12. 1968, Salgoil, Rs. 13/68, Sig. 1968, 679, 694; vgl. zu dieser Erklärung auch Dauses, in: Dauses, C.I Rdnr. 108; Mortelmans, AA 42 (1993), 484, 489; Müller-Graff, in: vdGroebenlThiesingl Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 190, Art. 36 Rdnr. 23, 28. Gegen diese einengende Deutung des Art. 30 EGV als Ausnahmevorschrift, sondern für ein funktionales Verständnis im Sinne eines mitgliedstaatlichen Souveränitätsvorbehalts Roth, Freier Warenverkehr (1977), 19 ff., 26 f., 43 f.; Roth, in: Andenas/ Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), I, 11 f.; vgl. auch Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten (1999), 149 ff., 162 ff.; Oliver; CMLRev. 36 (1999), 783, 804 ff.). Strukturell erfolgt die Prüfung der "zwingenden Erfordernisse" in der Rechtsprechung des EuGH jedoch ebenso wie die des Art. 30 EGV in einem zweiten Schritt nach der Feststellung einer Behinderung des freien Waren verkehrs; daran schließt sich in der Regel eine mehr oder weniger ausführliche Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Damit liegt die Einordnung als Rechtfertigungsgrund nahe, zumal der EuGH selbst von "rechtfertigen" spricht und die zwingenden Erfordernisse häufig in einem Atemzug mit Art. 30 EGV nennt (vgl. z. B. EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Sig. 1997, 1-3843, 3891 Rdnr. 45; EuGH, 18. 5. 1993, Yves Rocher; Rs. C-126/91, Sig. 1993, 1-2361,2388 f. Rdnr. 12; EuGH, 21. 3. 1991, Monteil und Samallni, Rs. C-60/89, Sig. 1991, 1-1547,1570 Rdnr. 39; EuGH, 7.3.1990, GB-INNO-BM, Rs. C-362/88, Slg. 1990,1-667, 686 f. Rdnr. 10; EuGH, 11. 5. 1989, Strafverfahren gegen Wurmser u. a., Rs. 25/88, Sig. 1989, 1105, 1127 f. Rdnr. 10; EuGH, 23. 2. 1988, Kommissiolll Frankreich ( .. Kaffeeweißer"), Rs. 216/84, Sig. 1988,793,811 Rdnr. 7; EuGH, 26. 6. 1980, Gilli und Alldres, Rs. 788/79, Sig. 1980, 2071, 2078 Rdnr. 6; ähnlich die Analyse bei Jarass, EuR 1995, 202, 223 ff. Anders allerdings das Urteil Cassis de Dijon, in dem der EuGH zunächst gar nicht das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung feststellte, sondern erst nach dem Verneinen der zwingenden Erfordernisse; dies könnte auf eine Zuordnung zum Tatbestand des Art. 28 EGV schließen lassen). Wenn daher im folgenden von .. Rechtfertigung" gesprochen wird, so sind damit 33

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§ I Kurzer Überblick über die EuGH-Rechtsprechung

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Diesem Schema folgt eine ganze Reihe von Nachfolgeentscheidungen,37 darunter alle diejenigen, die klassische produktbezogene Regelungen zum Gegenstand haben,38 aber auch einige Urteile 39 zu Vorschriften, die sich nicht auf Eigenschaften, Bezeichnung, Verpackung etc. des Produkts selbst beziehen, sondern (im weitesten Sinne) auf dessen Absatz. Letztere werden in den späteren Überlegungen besonders interessieren.

11. Abweichende Argumentationslinien

Anlaß zur Diskussion gaben jedoch vor allem die auch für diese Untersuchung interessanten Urteile, in denen der EuGH von der klassischen Prüfung abwich. Sie betreffen ausnahmslos nicht-produktbezogene Regelungen. Diese abweichenden Urteile lassen sich in verschiedenen Gruppen zusammenfassen: 4o sowohl die Gründe des Art. 30 EGV als auch die zwingenden Erfordernisse im Sinne der Cassis de Dijon-Rechtsprechung gemeint, soweit sich nicht aus dem Zusammenhang etwas anderes ergibt. 36 Z. B. EuGH, 18. 5. 1993, Yves Rocher; Rs. C-126/91, Sig. 1993, 1-2361, 2388 f. Rdnr. 12; EuGH, 21. 3.1991, Monteil und Samanni, Rs. C-60/89, Sig. 1991,1-1547,1570 Rdnr. 39; EuGH, 7. 3.1990, GB-INNO-BM, Rs. C-362/88, Sig. 1990,1-667,686 f. Rdnr. 10; EuGH, 11. 5.1989, Strafverfahren gegen Wurmser u. a., Rs. 25/88, Sig. 1989, 1105, 1127 f. Rdnr. 10; EuGH, 26.6. 1980, Gilli und Andres, Rs. 788/79, Sig. 1980,2071,2078 Rdnr. 6. 37 Vgl. außer den in der vorigen Fußnote genannten z. B. EuGH, 25. 5. 1993, LPO, Rs. C-271 192, Sig. 1993, 1-2899; EuGH, 25. 7. 1991, Aragonesa de Publicidad Exterior und Publivia, verb. Rs. C-I 190 und C-176 190, Sig. 1991,1-4151; EuGH, 30. 4.1991, Boscher; Rs. C-239/90, Sig. 1991,1-2023; EuGH, 21. 3. 1991, Delattre, Rs. C-369/88, Sig. 1991, 1-1487; EuGH, 12. 12. 1990, SARPp, Rs. C-241 189, Sig. 1990,1-4695; EuGH, 16.5. 1989, Buet, Rs. 382/87, Sig. 1989, 1235; EuGH, 14. 7. 1988, Strafverfahren gegen Zoni, Rs. 90/86, Sig. 1988,4285; EuGH, 14. 7. 1988, 3 Glocken I USL Centro-Sud, Rs. 407 I 85, Sig. 1988, 4233; EuGH, 12. 3. 1987, Kommission I Deutschland ("Reinheitsgebot"), Rs. 178 I 84, Sig. 1987, 1227; EuGH, 13. 3. 1984, Prantl, Rs. 16 I 83, Sig. 1984, 1299; EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982, 4575; EuGH, 10. 11. 1982, Rau I De Smedt, Rs. 261 181, Sig. 1982, 3961. 38 Z. B. Prantl, Strafverfahren gegen Zoni, 3 Glocken I USL Centro-Sud, "Reinheitsgebot", Rau I De Smedt und Gilli und Andres. 39 Z. B. Yves Rocher; Aragonesa de Publicidad Exterior und Publivia, SARPp, GB-INNOBM, Buet, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij (Regelungen darüber, wie bzw. mit welchen Methoden Produkte verkauft und angepriesen werden dürfen); LPO, Monteil und Samanni, Delattre (Regelungen darüber, von wem bzw. wo Produkte verkauft werden dürfen); Boscher ist ein Mischfall (Verkauf im Wege der Versteigerung nur durch registrierte Händler). 40 Verschiedene Gruppen von Urteilen, die unterschiedlichen Ansätzen folgen, stellte Generalanwalt Tesauro in aller Deutlichkeit schon in seinen Schlußanträgen vom 4.3. 1993 in der Rechtssache LPO, EuGH, 25. 5. 1993, Rs. C-271 192, Sig. 1993, 1-2899, 2913 ff., Nr. 6 ff. fest; noch ausführlicher setzte er sich damit in seinen als Wegbereiter der Keck-Entscheidung berühmt gewordenen Schlußanträgen vom 27. 10. 1993 in der Rechtssache Hünermund u. a., EuGH, 15. 12. 1993, Rs. C-292 I 92, Sig. 1993,1-6787,6805 ff., Tz. 12 ff. auseinander.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

1. Keine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels

Die stärkste Abweichung zeigt sich in den Fällen, in denen der Gerichtshof Regelungen, die sicherlich zumindest "potentiell" und "mittelbar" geeignet waren, den zwischenstaatlichen Handel zu behindern (indem sie etwa durch örtliche oder zeitliche Beschränkungen des Verkaufs bestimmter Produkte deren Absatzzahlen und damit potentiell auch die Verkaufszahlen eingeführter Produkte beeinflußten), eben diese Eignung zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten abgesprochen hat. In den Formulierungen bei der Begründung dieser Erkenntnis und parallel dazu auch bei den zugrundeliegenden Sachverhalten zeigen sich Unterschiede, die eine weitere Aufteilung dieser Fallgruppe rechtfertigen: a) Handel bleibt grundsätzlich möglich; "kein Zusammenhang mit der Einfuhr der Waren" Zunächst ging es um Regelungen, die den Absatz bestimmter Produkte entweder direkt durch ein Verbot des Verkaufs zu bestimmten Zeiten (Oebel) oder an bestimmten Orten (Blesgen, Quietlynn und Richards, Sheptonhurst) oder mittelbar durch ein (teilweises) Verarbeitungsverbot (Forest) betrafen. Im ersten Urteil dieser Art, Oebel, stellte der Gerichtshof dazu fest, die "restriktive Wirkung" einer staatlichen Regelung sei "unter Berücksichtigung ihres Anwendungsbereichs zu beurteilen"; im konkreten Fall bleibe der innergemeinschaftliche Handel grundsätzlich jederzeit möglich, da das Verbot nur den Verkauf an den Endverbraucher bzw. die Abgabe an den Einzelhandel betreffe, so daß die Regelung keine Beschränkung der Einfuhr im Sinne des Art. 28 EGV bewirken könne. 41 Die folgenden Entscheidungen griffen diese Argumentation mit verbleibenden Möglichkeiten des Handels mit der Ware auf und fügten hinzu, die mitgliedstaatliche Maßnahme stehe "daher in Wirklichkeit in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr der Waren" und sei "aus diesem Grund nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen".42 In allen diesen Entscheidungen wird darauf hingewiesen, daß die Regelung inländische und ausländische Produkte in gleicher Weise betrifft. 43 EuGH, 14.7.1981, Oebel, Rs. 155/80, Slg. 1981, 1993,2010 Rdnr. 19,20. So wörtlich EuGH, 3l. 3.1982, Blesgen/Belgien, Rs. 75/81, Slg. 1982, 1211, 1229 Rdnr. 9; entsprechende Formulierungen finden sich in EuGH, 1l. 7. 1990, Quietlynn und Richards, Rs. C-23/89, Slg. 1990,1-3059,3081 Rdnr. 11 (und EuGH, 7. 5.1991, Shepton· hurst, Rs. C-350/89, Slg. 1991,1-2387, abgekürzte Veröffentlichung, Gründe nicht wiedergegeben, "dieselbe Antwort wie im Urteil ... Quietlynn und Richards"); EuGH, 25. 1l. 1986, Direction generale des impots/ Forest (im folgenden Forest), Rs. 148/85, Slg. 1986,3449, 3475 Rdnr. 19. 43 EuGH, 1l. 7. 1990, Quietlynn und Richards, Rs. C-23/89, Slg. 1990, 1-3059, 3081 Rdnr. 9; EuGH, 25. 1l. 1986, Forest, Rs. 148/85, Slg. 1986,3449,3475 Rdnr. 18; EuGH, 3l. 3. 1982, Blesgen/ Belgien, Rs. 75/81, Slg. 1982, 1211, 1229 Rdnr. 9; EuGH, 14.7. 1981, Oebel, Rs. 155/80, Slg. 1981, 1993,2010 Rdnr. 20. 41

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§ 1 Kurzer Überblick über die EuGH-Rechtsprechung

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b) "Zu ungewiß und zu mittelbar" Später44 wurde der EuGH mit Regelungen befaßt, deren Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Waren verkehr noch weniger auf der Hand lagen. Sie konnten lediglich dadurch begründet werden, daß für einen Verkäufer nachteilige gesetzliche Regelungen eines Mitgliedstaates (wie ein staatliches Pfändungsrecht auch unter Eigentumsvorbehalt stehender Sachen im Besitz des Käufers [Krantz] oder Aufklärungspflichten des Verkäufers über bestimmte Schwierigkeiten [CMC MotorradcenterD Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten davon abhalten könnten, Waren in diesen Staat zu liefern. Der Gerichtshof stellte zu diesen Regelungen fest, sie gälten unterschiedslos für alle Produkte und sollten nicht den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten regeln,45 und entschied, ihre beschränkenden Wirkungen auf den Warenverkehr seien "zu ungewiß und zu mittelbar, als daß ... (sie) als geeignet angesehen werden könnte(n), den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern,,46. Diese beiden Urteile sind besonders deshalb interessant, weil ihre Argumentation auch nach Keck noch mehrmals angewendet worden ist, um Regelungen aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGVauszunehmen. 47 c) Preisregelungen Schließlich gehören auch die zahlreichen Urteile zu Preisvorschriften in diese Fallgruppe. Der Gerichtshof hat hier stets festgestellt, unterschiedslos für inländische und eingeführte Erzeugnisse geltende Preisregelungen stellten "als solche" keine Maßnahme gleicher Wirkung dar. Sie könnten aber eine solche Wirkung entfalten, wenn die Preise so festgesetzt seien, daß dadurch importierte Produkte benachteiligt würden (z. B. durch Mindestpreise, die verhindern, daß Vorteile aus niedrigeren Herstellungskosten im Ausland genutzt werden oder durch Höchstpreise, die eine Einfuhr unrentabel machen).48 Letztlich ist hier derselbe Gedanke wie 44 Es gibt jedoch zeitlich Überschneidungen zwischen bei den Gruppen, der erste Ansatz wurde nicht etwa nach Entwicklung des zweiten aufgegeben. Gleiches gilt für die unter 2. beschriebene Gruppe. Hierauf weist auch Generalanwalt Tesauro in EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Slg. 1993,1-6787,6805 ff., Tz. 14 Fn. 21 hin. 45 EuGH, 13. 10. 1993, CMC Motorradcenter; Rs. C-93 192, Slg. 1993, 1-5009, 5021 Rdnr. 10; EuGH, 7. 3.1990, Krantz, Rs. C-69/88, Slg. 1990,1-583,597 Rdnr. 10. 46 In EuGH, 7. 3. 1990, Krantz, Rs. C-69/88, Slg. 1990, 1-583, 597 Rdnr. 11 lautet die Formulierung noch "so ungewiß und von nur mittelbarer Bedeutung"; wie im Text EuGH, 13. 10. 1993, CMC Motorradcenter; Rs. C-93 192, Slg. 1993,1-5009,5021 Rdnr. 12 und die in Fn. 105 zitierten Urteile nach Keck. 47 Vgl. unten § 2 IV. und dort insbesondere Fn. 105. Siehe auch zu Art. 43 EGV EuGH, 20. 6. 1996, Semeraro Casa Uno u. a., Rs. C-418/93 u. a., Slg. 1996,1-2975,3009 Rdnr. 32 (Sonntagsverkaufsverbot als Niederlassungshindernis). 48 EuGH, 13. 12. 1990, Kommission 1Griechenland, Rs. C-347 188, Slg. 1990,1-4747, 4796 Rdnr. 73; EuGH, 2. 7. 1987, Ministere public 1Lejevre, Rs. 188/86, Slg. 1987, 2963,

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

bei den zuvor genannten Urteilen nur andersherum formuliert: Einige Regelungen, die sich nicht auf das einzuführende Produkt selbst beziehen, sondern lediglich in irgendeiner Weise seinen Absatz betreffen, sollen nicht per se der Kontrolle im Rahmen des Art. 28 EGV unterstellt werden, sondern nur dann, wenn importierte Produkte durch sie in anderer, nachteiligerer Weise betroffen werden als heimische Waren. Eben diese Überlegung steht dahinter, wenn in den Urteilen der bei den vorangehend beschriebenen Gruppen jeweils betont wird, die Regelung gelte ohne Unterschied bzw. unterscheide nicht nach Herkunft des Produkts oder Niederlassungsort des Herstellers. 49 2. Rechtfertigung über "soziale und kulturelle Besonderheiten" die "Sunday-Trading" Fälle Zwischen der klassischen Prüfung und der Verneinung einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Waren verkehrs stehen die Urteile, in denen zwar eine grundsätzliche (Eignung zur) Behinderung des Handels anerkannt wird, im Rahmen der Rechtfertigung aber großzügiger als nach der klassischen Cassis-Formel 2978 Rdnr. 10; EuGH, 13. 11. 1986, Nederlandse Bakkerij Stichting/Edah, Rs. 80/85 und 159/85, Slg. 1986, 3359, 3380 Rdnr. 11; EuGH, 29. 1. 1985, Cullet / Leclere, Rs. 231183, Slg. 1985,305,322 Rdnr. 25; EuGH, 7. 6.1983, KommissionIItalien, Rs. 78/82, Slg. 1983, 1955,1969 Rdnr. 16; EuGH, 6.11. 1979, Joseph Danis, Rs. 16/79-20/79, Slg. 1979,3327, 3339 Rdnr. 7; EuGH, 24. 1. 1978, Niederländische Staatsanwaltschaft / Van Tiggele, Rs. 82/77, Slg. 1978,25,39 f. Rdnr. 13/15, 16/20; EuGH, 26. 2.1976, Tasca, Rs. 65/75, Slg. 1976,291,308 f. Rdnr. 26/28. 49 Die Preiskontroll-Urteile zeigen jedoch besonders deutlich, daß "unterschiedslos für einheimische wie eingeführte Erzeugnisse geltende" bzw. "unterschiedslos anwendbare" Regelungen keineswegs auch für alle Produkte gleich wirken müssen, mit anderen Worten: formal nicht gegenüber Importen diskriminierende Regelungen können materiell sehr wohl diskriminieren. Leider hat sich in der Rechtsprechung des EuGH in dieser Hinsicht noch keine eindeutige oder auch nur einheitliche Terminologie herausgebildet. Die Formulierungen reichen von "ohne Unterschied/unterschiedslos/in gleicher Weise gelten" (Krantz, CMC Motorradcenter, Forest, Quietlynn und Richards, die in der vorigen Fn. genannten Urteile zu Preiskontrollregelungen, Cinitheque, Torfaen) über "ebenso berühren" (so die Sunday Trading Urteile mit Ausnahme von Torfaen [Nachweise sogleich Fn. 50]) bis zu "keine Unterscheidung nach Herkunft bewirken" (Blesgen) bzw. "unabhängig vom Niederlassungsort beschränken" (Gebei). Während in den Urteilen zu Preisvorschriften offensichtlich ist, daß der EuGH zwischen (unterschiedslos) gelten und (möglicherweise dennoch Importe benachteiligender) Wirkung differenziert, ist bei den anderen Entscheidungen unklar, ob er nur an eine formale Ungleichbehandlung denkt (worauf insbesondere die Verwendung einer Formulierung mit "gelten" hindeutet) oder ob auch bloß materielle Ungleichbehandlungen bei der jeweils vorgenommenen Begrenzung der Kontrollintensität ausgeschlossen werden sollen (das wäre inhaltlich sinnvoll und liegt bei Formulierungen mit "berühren" oder "bewirken" vielleicht näher; dagegen spricht jedoch, wenn der Gerichtshof fortfährt, durch solche Regelungen werde nur im Grundsatz der Vertrieb ausländischer Erzeugnisse nicht stärker erschwert wie etwa in den Sunday Trading Urteilen). Vgl. dazu auch unten § 3 I. Zu den terminologischen Unterschieden in Rechtsprechung und Literatur und mit eindringlichem Plädoyer für eine Vereinheitlichung Hilson, ELRev. 24 (1999), 445.

§ 1 Kurzer Überblick über die EuGH-Rechtsprechung

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verfahren wird. 50 Laut dieser Rechtsprechung kann das Verbot, sonntags Waren zu verkaufen bzw. Arbeitnehmer im Einzelhandel zu beschäftigen, zunächst zwar negative Folgen für das Verkaufsvolumen und damit auch für das Einfuhrvolumen haben 5l , obwohl festgestellt wird, die nationalen Maßnahmen bezweckten keine Regelung des Warenverkehrs 52 und berührten den Absatz inländischer in gleicher Weise wie den importierter Produkte53 . Anstatt jedoch zur Rechtfertigung dieser Vorschriften nach zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses zu fragen, wird postuliert, die fraglichen Regelungen verfolgten "ein nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigtes Ziel", da sie "Ausdruck bestimmter politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen" seien und die Verteilung der Arbeitszeiten den "landesweiten oder regionalen sozialen und kulturellen Besonderheiten" entsprechend sicherstellen sollten, was "Sache der Mitgliedstaaten" sei. 54 Darauf folgt eine 50 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q (Couneil of the City of Stoke-on-Trent und Norwieh City Couneil), Rs. C-169/91, Sig. 1992,1-6635,6657 ff. Rdnr. 9 ff.; auf dieses Urteil verweisen zur Begründung EuGH, 16. 12. 1992, Anders (Roehdale Borough Council), Rs. C-306/88, Sig. 1992, 1-6457, 6491 Rdnr. 10 und EuGH, 16. 12. 1992, Payless DIY u. a. (Reading Borough Council), Rs. C-304/90, Sig. 1992,1-6493,6521 Rdnr. 10; EuGH, 28. 2.1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Sig. 1991,1-997, 1024 f. Rdnr. 8 ff.; EuGH, 28. 2. 1991, Marehandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027,1040 f. Rdnr. 9 ff.; EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen Borough Couneill B&Q pie (im folgenden Torfaen), Rs. C-145 188, Sig. 1989,3851, 3888 f. Rdnr. 13 ff. Ähnlich auch schon EuGH, 11. 7. 1985, Cinitheque I Federation nationale des cinemas franrais (im folgenden Cinetheque), verb. Rs. 60 184 und 61 184, Sig. 1985, 2605, 2625 ff. Rdnr. 20 ff. zu französischen Vorschriften, die die Verbreitung von Spielfilmen auf Videocassetten innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Kinostart des Films verbieten. Vgl. zu dieser Rechtsprechung u. a. Generalanwalt Tesauro in Generalanwalt Tesauro in EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993,1-6787,6805 ff., Tz. 14, 15; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 26 f. 51 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Sig. 1992, 1-6635, 6657 Rdnr. 10 (als Wiedergabe der bisherigen Rechtsprechung); EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Sig. 1991, 1-997, 1024 Rdnr. 7; EuGH, 28. 2. 1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027,1040 Rdnr. 9; in EuGH, 23.11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851,3888 Rdnr. 10 nur im Rahmen der Wiedergabe der Vorlagefrage enthalten. 52 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Sig. 1992,1-6635,6657 Rdnr. 9 (als Wiedergabe der bisherigen Rechtsprechung); EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Sig. 1991,1-997, 1024 Rdnr. 8; EuGH, 28. 2. 1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027, 1040 Rdnr. 9; EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851, 3889 Rdnr. 14; EuGH, 11. 7. 1985, Cinetheque, verb. Rs. 60 184 und 61 184, Sig. 1985, 2605, 2626 Rdnr. 21. 53 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Sig. 1992,1-6635,6657 Rdnr. 10 (als Wiedergabe der bisherigen Rechtsprechung); EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Sig. 1991, 1-997, 1025 Rdnr. 9; EuGH, 28. 2. 1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027, 1040 Rdnr. 10; EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851,3888 Rdnr. 11; EuGH, 11. 7.1985, Cinetheque, verb. Rs. 60/84 und 61 184, Sig. 1985,2605,2626 Rdnr. 21. 54 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Sig. 1992, 1-6635, 6658 Rdnr. 11 (als Wiedergabe der bisherigen Rechtsprechung); EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Sig. 1991, 1-997, 1025 Rdnr. 11; EuGH, 28. 2. 1991, Marehandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027,1040 f. Rdnr. 12; EuGH, 23.11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851,3888 f. Rdnr. 13, 14.

3 Feiden

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

ebenfalls mildere Verhältnismäßigkeitsprüfung, in der der Gerichtshof zwar verlangt, daß die Wirkungen bzw. Behinderungen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen,55 jedoch keine Abwägung vornimmt, sondern im ersten Urteil diese Frage dem nationalen Gericht überläßt56 und in den späteren Urteilen schlicht feststellt, die Wirkungen erschienen im Hinblick auf den verfolgten Zweck nicht als unverhältnismäßig. 57 ,58

IH. Zusammenfassung

Bei der Kontrolle nicht produktbezogener Regelungen der Mitgliedstaaten hat der Gerichtshof unterschiedliche Prüfungsansätze verfolgt, die von einer vollstänIm Urteil Toifaen wird in Rdnr. 13 noch aus der Entscheidung Debel zitiert, Regelungen der Arbeits- und Verkaufszeiten stellten berechtigte wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen dar, die den im allgemeinen Interesse liegenden Zielen des Vertrages entsprächen. Auch damit wird jedoch bei weitem nicht so streng nach dem konkret verfolgten Ziel der staatlichen Maßnahme und dessen Berechtigung gefragt, wie es sonst bei der Prüfung der zwingenden Erfordernisse geschieht. Vgl. dazu auch Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 26. 55 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Slg. 1992,1-6635,6658 f. Rdnr. 15; EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991, 1-997, 1025 Rdnr. 10; EuGH, 28.2. 1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Slg. 1991,1-1027, 1040 Rdnr. 11; EuGH, 23. 11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3889 Rdnr. 15; EuGH, 11. 7. 1985, Cinetheque, verb. Rs. 60/84 und 61/ 84, Slg. 1985, 2605, 2626 Rdnr. 22. Im Urteil Toifaen wird zusätzlich Art. 3 der Richtlinie 70/501 EWG (ABI. 1970, L 13/29) zitiert, wonach Art. 28 solche Maßnahmen über die Vermarktung von Waren erfaßt, deren beschränkende Wirkungen den Rahmen der solchen Handelsregelungen eigentümlichen Wirkungen überschreiten. Diese Formulierung ist in den späteren Urteilen (mit Ausnahme des Zitats aus Torfaen in B&Q) nicht mehr aufgegriffen worden. Im Grunde genommen handelt es sich also um eine reine Erforderlichkeitsprüfung. 56 EuGH, 23. 11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3889 Rdnr. 16. Ähnlich EuGH, 11. 7. 1985, Cinitheque, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Slg. 1985, 2605, 2626 f. Rdnr. 22 - 24 (Rdnr. 23 bezieht sich m.E. nur auf das grundsätzlich gerechtfertigte Ziel). 57 EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Slg. 1992,1-6635,6659 Rdnr. 16; EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991, 1-997, 1025 Rdnr. 12; EuGH, 28.2.1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Slg. 1991,1-1027,1041 Rdnr. 13. 58 Im Urteil B&Q versucht der Gerichtshof offensichtlich, die bis dahin ergangenen Urteile zu den Sonntagsregelungen zusammenzufassen, nochmals zu erläutern und Unstimmigkeiten zu bereinigen (vgl. zu den Schwierigkeiten der nationalen Gerichte z. B. die Vorlagefragen in diesem Verfahren sowie in EuGH, 16. 12. 1992, Payless DIYu. a., Rs. C-304/90, Slg. 1992, 1-6493): In Rdnr. 14 wird erläutert, weshalb in den späteren Entscheidungen die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht mehr offen gelassen wurde. Dabei läßt die indirekte Rede auf ein Zitat aus diesen Entscheidungen schließen - jedoch findet sich dort in den Entscheidungsgründen keine Entsprechung. Ähnlich werden in Rdnr. 15 Kriterien genannt, auf die bei der Abwägung abgestellt werden soll; auf diesen sollen laut Rdnr. 16 auch die Entscheidungen Conforama und Marchandise beruhen, weshalb "aus den nämlichen Gründen" dasselbe auch im Fall B&Q festzustellen sei. Auch dies kann nur als nachträgliche Erläuterung verstanden werden, in den genannten Urteilen kommen diese Erwägungen nicht vor.

§ 2 EuGH-Rechtsprechung seit ,Keck und Mithouard'

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digen Anwendung des klassischen Schemas, d. h. der Feststellung einer Behinderung des zwischenstaatlichen Handels und der anschließenden Prüfung der Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse sowie der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, über eine etwas losere Rechtfertigungsprüfung bis hin zur Verneinung einer Beeinträchtigung des freien Waren verkehrs reichen. Zwar lassen sich durchaus Unterschiede in der Art der Regelungen und möglicherweise der Intensität ihrer Auswirkungen auf den Warenverkehr feststellen, doch hat sich der Gerichtshof nie die Mühe gemacht, in seinen Urteilen festzuhalten, welches die Merkmale der jeweiligen Gruppe sind und aus welchen Gründen sie einer anderen Behandlung unterzogen wird als andere. 59 So blieb es zunächst der Literatur sowie verschiedenen Generalanwälten überlassen, nach Erklärungskonzepten für diese uneinheitliche Rechtsprechung zu suchen. 6o

§ 2 Die neuere Entwicklung - EuGH-Rechtsprechung seit ,Keck und Mithouard' I. Verkaufsmodalitäten: Keck und Mithouard und die Folgeentscheidungen Beginnend mit der Entscheidung Keck und Mithouard unterscheidet der Gerichtshof nunmehr Regelungen, die die Waren selbst "etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer Zusammensetzung, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung und ihrer Verpackung" bestimmten Anforderungen unterwerfen, und solchen, "die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten". Erstere, die produktbezogenen Regelungen, werden weiterhin entsprechend der klassischen Linie, die durch die Urteile Dassonville und Cassis de Dijon gekennzeichnet ist, behandelt: sie sind, auch wenn sie unterschiedslos für inländische wie für eingeführte Erzeugnisse gelten, als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen verboten, es sei denn, sie können gemäß Art. 30 EGVoder durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden. 61 Für die sogenannten Verkaufsmodalitäten wird dagegen S9 Bei einigen Fällen würde ihm eine solche Erklärung auch schwergefallen sein - so betreffen z. B. sowohl Oebel als auch die Sunday-Trading-Fälle Arbeitszeitregelungen (siehe aber noch unten Fn. 233). Vgl. GA Tesauro in EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund, Rs. C-292/92, Sig. 1993,1-6787,6804 Tz. 11,6811 f. Tz. 23 f. 60 Da jedoch die verschiedenen Ansätze dort zum größten Teil zwar schon vor Keck und Mithouard vorgebracht, danach aber weiterentwickelt wurden, wird zunächst die jüngere Entwicklung der Rechtsprechung seit dieser Entscheidung behandelt (§ 2), bevor anschließend (§ 3) auf die wesentlichen Reaktionen der Literatur (unter Einschluß der Stellungnahmen der Generalanwälte in verschiedenen Verfahren vor dem EuGH) im Zusammenhang eingegangen wird. 61 EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993, 1-6097,6131 Rdnr. 15.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

grundsätzlich eine Art Unschädlichkeitsverrnutung62 aufgestellt, die durch den Nachweis einer besonderen Belastung der Einfuhr widerlegt werden kann: "Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville ( ... 63) unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 EWG-Vertrag ...64

Als "Verkaufsmodalitäten" in diesem Sinne sind in der darauf folgenden Rechtsprechung65 Regelungen über Preise bzw. Gewinnspannen 66 , Regelungen über (Laden-) Öffnungszeiten67 , Regelungen über gewisse Werbeverbote 68 und Regelungen darüber, in welcher Art von Geschäften bzw. von wem bestimmte Waren verkauft werden dürfen 69 angesehen worden, weshalb in diesen Fällen Art. 28 EGV keine Anwendung gefunden hat. 62 Vgl. Ackennann, RIW 1994, 189, 193 f.; GA Van Gerven in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boennans, verb. Rs. C-401 /92 und 402/92, Sig. 1994,1-2199,2214 f. Tz. 20 f. und 1-2218 Fn. 53. 63 EuGH, 11. 7.1974, Dassonville, Rs. 8/74, Sig. 1974,837. 64 EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993, 1-6097,6131 Rdnr. 16, 17. 65 Ein Anspruch auf Vollständigkeit soll hier nicht erhoben werden; vgl. etwa auch die Auflistung der Fälle zum Waren verkehr (1995 - 1997) bei Mortelmans, SEW 1998, 226, 234 f. 66 Außer Keck und Mithouard selbst (Verbot des Verkaufs zum Verlustpreis) EuGH, 11. 8. 1995, Belgapom, Rs. C-63/94, Sig. 1995,1-2486 (Verbot des Verkaufs mit äußerst niedriger Gewinnspanne). 67 EuGH, 20. 6. 1996, Semeraro Casa Uno u. a., verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l1/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 und C-332/94, Sig. 1996, 1-2975 (Sonntagsverkaufsverbot); EuGH, 2. 6. 1994, Punto Casa und PPV, verb. Rs. C-69/93 und C-258/93, Sig. 1994,1-2355 (Sonntagsverkaufsverbot); EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boennans, verb. Rs. C-401 /92 und C-402/92, Sig. 1994,1-2199 (Öffnungszeiten von Tankstellen). 68 EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995, 1-179 (Werbung einer Superrnarktkette für von ihr verkaufte Mineralölprodukte); EuGH, 15. 12. 1993, Hünennund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993, 1-6787 (Werbung von Apothekern für bestimmte Produkte außerhalb der Apotheke). Vgl. dazu eingehend unten § 5 I. 69 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Sig. 1995,1-4663 (Verkauf von Tabakwaren nur in speziell zugelassenen Läden); EuGH, 29.6. 1995, Kommission/Griechenland

§ 2 EuGH-Rechtsprechung seit ,Keck und Mithouard'

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In einem Fall hat der Gerichtshof die fraglichen Regelungen (betreffend ein Werbeverbot für Arzneimittel, die aufgrund einer Ausnahmebestimmung eingeführt werden dürfen, obwohl sie die an sich erforderliche Zulassung für den Einfuhrmarkt nicht besitzen) zwar anscheinend als Regelungen der Verkaufsmodalitäten angesehen, aber Art. 28 EGV angewendet, da nur ausländische Arzneimittel von der Vorschrift erfaßt würden und somit der Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse nicht in gleicher Weise berührt sei, so daß die Unschädlichkeitsvermutung also nicht eingriff. 7o Ausdrücklich hat er in TK-Heimdienst Regelungen über Beschränkungen des Verkaufs von Lebensmitteln "im Umherziehen" als solche von Verkaufsmodalitäten eingestuft, aber sie dennoch an Art. 28 EGV gemessen (und im Ergebnis auch für unvereinbar erklärt), weil sie den Zugang zum Markt für eingeführte Waren stärker behinderten als für inländische?l

In De Agostini und TV-Shop72 bezeichnete der EuGH die umstrittenen Regelungen über an Kinder gerichtete und / oder irreführende Femsehwerbung unter Hinweis auf das Urteil Leclerc-Siplec73 als Vorschriften über Verkaufsmodalitäten, ließ jedoch das Endergebnis, d. h. ob Art. 28 EGV auf diese Fälle anwendbar ist oder nicht, offen, indem er dem nationalen Gericht aufgab, zu entscheiden, ob diese Verbote nicht stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten haben und deshalb Art. 28 EGV doch Anwendung finden muß74 .

(im Folgenden "Babymilch"), Rs. C-391/92, Sig. 1995, 1-1621 (Verkauf von Säuglingsanfangsnahrung nur in Apotheken). Vgl. hierzu aber auch unten 111. 2. zu Regelungen von Monopolen, die als Art. 28 EGV unterfallend angesehen wurden, sowie § 5 11. 70 EuGH, 10. 11. 1994, Ortscheit, Rs. C-320/93, Sig. 1994, 1-5243, insbes. 5261 f. Rdnr.9. Vgl. dazu ausführlich unten § 5 I. 2. a) bb). 71 EuGH, 13. I. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151,169 ff. Rdnr. 24 ff. Die Regelung bestimmte, daß diese Art von Verkauf nur Wirtschaftsteilnehmern in einem bestimmten Umkreis um eine eigene feste Betriebsstätte des gleichen Gewerbes erlaubt ist, und betraf damit das wer, wo und wie des Verkaufs dieser Produkte. Der Fall ist vor allem deshalb problematisch, weil in dem konkreten Verfahren weder eingeführte Waren noch grenzüberschreitend tätige Händler betroffen waren. (Was auch jedenfalls für die betroffenen Bäcker und Fleischer kaum vorkommen dürfte, wie GA La Pergola in EuGH, 13. I. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151,158 f. Tz. 12 bemerkt - ein Bäcker aus Paris wird kaum seine dort hergestellten Baguettes in Österreich mit dem Lieferwagen auf der Straße verkaufen wollen. Für die im Verfahren betroffene Tiefkühlkost ist das noch eher vorstellbar, aber auch hier ist zu bedenken, daß es nur um spontane Verkäufe, also nicht auf Bestellung, geht.) Siehe dazu § 5 11. 2. c) bb). 72 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Sig. 1997,1-3843. 73 EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995,1-179. 74 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Sig. 1997,1-3843,3890 f. Rdnr. 39 ff.; vgl. dazu § 5 I. 2. b).

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

11. Produktbezogene Regelungen

Eine ganze Reihe von Urteilen betrifft klassische produktbezogene Regelungen bzw. Maßnahmen, etwa über die Zulässigkeit der Verwendung eines bestimmten Produktnamens75, über Herkunftsbezeichnungen 76, über die Zusammensetzung oder Konstruktion eines Produkts und die damit zusammenhängenden erlaubten Produktbezeichnungen77 sowie entsprechenden Kontrollen78 , über die Pflicht zur 75 EuGH, 5. 12. 2000, Guimont, C-448!98, Slg. 2000, 1-10663, 10676 f. (Emmentaler Käse); EuGH, 2. 2. 1994, Verband sozialer Wettbewerb ("Clinique"), Rs. C-315!92, Slg. 1994, 1-317 (betraf Verpackung des Produkts und "selbständige" Werbung, vgl. dazu unten § 5 I. 1. a); ähnlich ist der Sachverhalt in EuGH, 13. 1. 2000, Estee Lauder Cosmetics, Rs. C-220!98, Slg. 2000, 1-117, allerdings überwiegend zur Kosmetikrichtlinie; vgl. auch EuGH, 26. 11. 1996, Graffione, Rs. C-313!94, Slg. 1996,1-6039 (wo es jedoch nicht unmittelbar um das Verbot der Benutzung eines (irreführenden) Markennamens, sondern um die gerichtliche Untersagung der Einfuhr des entsprechenden Produkts aus einem anderen Mitgliedstaat, in dem die Marke rechtmäßig benutzt wird, geht). Vgl. dazu auch BGH, NJW-RR 1994,619 (Mozzarella). Es erscheint jedoch sehr fraglich, ob Art. 28 EGV einer Untersagung der Verwendung dieser Bezeichnung wirklich auch in einem rein nationalen Fall, also bei nicht importiertem Käse, aus sich heraus entgegen steht, wie der BGH anzunehmen scheint. Vgl. dazu z. B. Lichtenwalder; Anwendung von Art. 30 (1996),76 f.; Sack, EWS 1994,37,44 f.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996),102; sowie unten § 4 11. 5. bei Fn. 268-271. 76 EuGH, 4. 3. 1999, Consorzio per la tutela delformaggio Gorgonzola, Rs. C-87!97, Slg. 1999, 1-1301 (i.V.m. Verordnung über Ursprungsbezeichnungen); EuGH, 7. 5. 1997, Pistre u. a., verb. Rs. C-321/94 bis C-324!94, Slg. 1997,1-2343 (Produkt(herkunfts)bezeichnung "montagne" wird festgelegten französischen Gebieten vorbehalten; allerdings reiner Inlandfall, vgl. dazu noch unten § 4 11. 5. bei Fn. 268 - 271. Vgl. zu Art. 29 (Exportbehinderung) auch die Schlußanträge von GA Alber vom 25. 4.2002 zu den noch anhängigen Rs. C-108!01, Concorzio dei Prosciutto di Parma u. a. (Parmaschinken muß in der Region geschnitten und verpackt werden) und Rs. C-469! 00, Sociere Ravil (Parmesankäse mit der Bezeichnung "grana padano" muß in der Region gerieben und verpackt werden), beide in Zusammenhang mit den Verordnungen (EG) 1107 !96 und (EWG) 2081/92. Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, 5.11. 2002, Kommission!Deutschland, Rs. C-325! 00, noch nicht in Slg.: Unzulässigkeit der Vergabe des CMA Gütezeichens "Markenqualität aus deutschen Landen". 77 EuGH, 16. 1. 2003, Kommission! Spanien, Rs. C-12!00, noch nicht in Slg. (Bezeichnung Schokolade bei Zusatz anderer pflanzlicher Fette als Kakaobutter); EuGH, 16. 1. 2003, Kommission!Italien, C-14!00, noch nicht in Slg. (Bezeichnung Schokolade bei Zusatz anderer pflanzlicher Fette als Kakaobutter); EuGH, 5. 4. 2001, Bellamy und English Shop Wholesale, Rs. C-123!00, Slg. 2001, 1-2795; EuGH, 22. 10. 1998, Kommission! Frankreich, Rs. C-184!96, Slg. 1998, 1-6197 (Zusammensetzung von Stopfleberzubereitungen); EuGH, 13. 3. 1997, Morellato, Rs. C-368!95, Slg. 1997, 1-1431 (Zusammensetzung von Brot); EuGH, 14.7. 1994, Van der Veldt, Rs. C-17!93, Slg. 1994,1-3537 (Zusammensetzung von Brot); Schlußanträge von GA Mischo vom 12. 12. 2002 in der noch anhängigen Rs. C-192!0I, Kommission! Dänemark (Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen); Schlußanträge von GA Mischo vom 26.6.2001 in der noch anhängigen Rs. C-24!00, Kommission! Frankreich (Zusatz von Vitaminen, Mineralstoffen und anderen Zusatzstoffen). 78 Vgl. EuGH, 22. 1. 2002, Canal Sate/ite Digital, Rs. C-390!99, Slg. 2002, 1-607 (Geräte für Satellitenempfang, Eintragung in Register und Genehmigung); EuGH, 5. 6. 1997, Celestini, Rs. C-105!94, Slg. 1997,1-2971 (Kontrolle von Wein auf Wasserbeimischung im Ein-

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Angabe bestimmter Zutaten79, über Inhalt und Gestalt des vorgeschriebenen Prägestempels bei Edelmetallen8o, über bestimmte Werbeaussagen auf der Verpakkung 81 , über die Angabe von Verfalldaten auf der Verpackung 82, über die Pflicht zur Angabe der Produktbezeichnung und anderer Informationen in der Landessprache,83 über die Zulässigkeit der Angabe bestimmter Produktdaten 84 und über den zulässigen Inhalt von Zeitschriften85 . In vielen dieser Entscheidungen wird dabei ausdrücklich (nur) auf die Aussage zu den produktbezogenen Regelungen im Urteil Keck und Mithouard in Rdnr. 15 Bezug genommen. 86 Im Urteil Familiapress fuhrstaat, Verkaufsverbot für solchen Wein; allerdings im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation, daher grundsätzlich Verordnungsrecht entscheidend, nur dessen Vereinbarkeit mit Art. 28, 30 EGV geprüft). 79 EuGH, 9.2.1999, van der Laan, Rs. C-383/97, Slg. 1999,1-731 (i.Y.m. Lebensmittelrichtlinie); EuGH, 26. 10. 1995, Kommission/ Deutschland, Rs. C-51 /94, Sig. 1995,1-3599. Vgl. auch EuGH, 16. 11. 2000, Kommission/ Belgien, Rs. C-217 /99, Sig. 2000, 1-10251 zur pflicht zur Angabe einer Anmeldenummer für bestimmte enthaltene Nährstoffe. 80 EuGH, 21. 6. 2001, Kommission/ Irland, Rs. C-30/99, Sig. 2001, 1-4619 (gleichzeitig Regelung über Feingehalt). 81 EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Sig. 1995,1-1923 (Verpackungsaufdruck 10% mehr Inhalt; auch hier war jedoch wohl auch die sonstige Werbung für dieses Produkt betroffen, vgl. unten § 5 I. 1. a). Vgl. auch zur erlaubten Form bzw. Größe von Verpackungen (Flaschen) EuGH, 12. 10. 2000, Cidrerie Ruwet, Rs. C-3/99, Sig. 2000, 1-8749 (allerdings war das konkrete Verfahren soweit ersichtlich ein rein interner Fall); zu einer Verpackungspflicht für aus (eingeführten) Vorprodukten fertiggebackenes Brot Schlußanträge von GA Ruiz-Jarabo Colomer vorn 6.6.2002 in der noch anhängigen Rs. C-416/oo, Morellato II. 82 EuGH, 1. 6. 1994, Kommission/ Deutschland, Rs. C-317 /92, Sig. 1994, 1-2039. Vgl. auch zur pflicht zur Angabe von Registriernummern EuGH, 14. 12. 2000, Kommission/ Frankreich, Rs. C-55/99, Sig. 2000, 1-1l499. Hingegen wird die Verpflichtung, beim Verkauf von Lebensmiteln, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, auf diesen Umstand hinzuweisen, eine Verkaufsmodalität darstellen, jedenfalls soweit sich diese Verpflichtung (nur) an die inländischen Händler wendet, vgl. Schlußanträge von GA Tizzano vorn 10. 10. 2002 in der noch anhängigen Rs. C-229/01, Müller, Tz. 40. 83 EuGH, 3. 6. 1999, Colim, Rs. C-33/97, Sig. 1999,1-3175; EuGH, 9. 8. 1994, Meyhui, Rs. C-51/93, Sig. 1994,1-3879. 84 EuGH, 27. 6.1996, Schmit, Rs. C-240/95, Sig. 1996,1-3179 (Jahresangabe bei PKW). 85 EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Sig. 1997,1-3689 (Verbot von Preisrätseln in Zeitschriften). 86 EuGH, 16. 1. 2003, Kommission/ Italien, Rs. C-14/00, noch nicht in Slg., Rdnr. 69; EuGH, 16. 11. 2000, Kommission/Belgien, Rs. C-217/99, Sig. 2000, 1-10251,10271 f. Rdnr. 16; EuGH, 9. 2.1999, van der Laan, Rs. C-383/97, Sig. 1999,1-731,759 Rdnr. 19; EuGH, 26. 10. 1995, Kommission/ Deutschland, Rs. C-51/94, Sig. 1995, 1-3599, 3627 f. Rdnr. 29; EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Sig. 1995,1-1923,1940 f. Rdnr. 12; EuGH, 1. 6. 1994, Kommission/Deutschland, Rs. C-317/92, Sig. 1994, 1-2039, 2060 Rdnr. 12; EuGH, 2. 2.1994, "Clinique", Rs. C-315/92, Sig. 1994,1-317,335 Rdnr. 13; siehe auch GA Ruiz-Jarabo Colomer in EuGH, 13.3. 1997, Morellato, Rs. C-368/95, Sig. 1997,1-1431, 1437 f. Tz. 14 ff. und GA Darmon in EuGH, 14.7. 1994, Van der Veldt, Rs. C-17/93, Sig. 1994,1-3537,3542 f. Tz. II ff., die beide (anders als der EuGH in diesen Fällen) Keck erwähnen und die betroffenen Regelungen als produktbezogen einstufen.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

hingegen werden die beiden in Keck und Mithouard gegenübergestellten Fallgruppen angesprochen, die betroffene Regelung jedoch nicht als eine über Verkaufsmodalitäten angesehen, da die verbotenen Preisrätsel Bestandteil der Zeitschriften seien und die Vorschriften sich damit "auf den Inhalt der Erzeugnisse selbst" bezögen. 87 Ähnlich wird auch in Kommission / Spanien die Regelung über die Bezeichnung "Schokolade" ausdrücklich als nicht nur Verkaufsmodalitäten betreffend eingeordnet, da Kennzeichnung und Verpackung des Produkts betroffen seien. 88 In den anderen Entscheidungen schließlich wird das Urteil Keck und Mithouard überhaupt nicht erwähnt. 89

111. Sonstige als Beschränkung eingestufte Maßnahmen

Darüber hinaus gibt es eine Anzahl weiterer Entscheidungen, in denen Art. 28 EGV auf staatliche Maßnahmen angewendet wurde, die sich nicht ohne weiteres als produktbezogene Regelung im klassischen Sinne verstehen lassen, bzw. die durch gewisse Besonderheiten jedenfalls eine gesonderte Aufführung gerechtfertigt erscheinen lassen. 1. Zulassungserfordemisse

So gibt es etwa Regelungen, die für bestimmte Waren eine Zulassung verlangen, ohne die sie im Inland nicht verkauft werden dürfen. 9o Diese lassen sich noch rela87 EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368!95, Sig. 1997,1-3689,3713 f., Rdnr. 8 ff.; außerdem beeinträchtige das Verbot den Marktzugang für die Zeitschrift, Rdnr. 12. Beide Fallgruppen nennt auch EuGH, 3. 6. 1999, Colim, Rs. C-33!97, Sig. 1999,1-3175; die auf Verpackung und Kennzeichnung des Produkts bezogene Regelung sei aber keine über Verkaufsmodalitäten, Rdnr. 37. 88 EuGH, 16. 1. 2003, Kommission! Spanien, Rs. C-12!00, noch nicht in Slg., Rdnr. 74 ff.; ähnlich EuGH, 22.1. 2002, Canal Satelite Digital, Rs. C-390!99, Sig. 2002, 1-607, 653 Rdnr. 30 (die Notwendigkeit, das Erzeugnis gegebenenfalls an die Vorschriften anzupassen, schließe eine Einordnung als Verkaufsmodalität aus). 89 Siehe z. B. EuGH, 13. 1. 2000, Estee Lauder Cosmetics, Rs. C-220!98, Sig. 2000, 1-117; EuGH, 5. 6. 1997, Celestini, Rs. C-105!94, Sig. 1997,1-2971; EuGH, 7. 5. 1997, Pistre u. a., verb. Rs. C-321!94 bis C-324!94, Sig. 1997,1-2343; EuGH, 13.3. 1997, Morellato, Rs. C-368!95, Sig. 1997, 1-1431, anders jedoch GA Ruiz-Jarabo Colomer; S. 1437 f. Tz. 14 ff.; EuGH, 26. 11. 1996, Graffione, Rs. C-313!94, Sig. 1996, 1-6039; EuGH, 27.6.1996, Schmit, Rs. C-240!95, Sig. 1996,1-3179; EuGH, 14.7.1994, Van der Veldt, Rs. C-17 !93, Sig. 1994,1-3537, anders jedoch GA Darmon, S. 3542 f. Tz. 1I ff. 90 EuGH, 17.9.1998, Harpegnies, Rs. C-400!96, Sig. 1998,1-5121; EuGH, 27. 6. 1996, Brandsma, Rs. C-293!94, Sig. 1996, 1-3159 (beide Zulassungserfordernis für Schädlingsbekämpfungsmittel; Verstoß gegen Art. 28 EGV, aber gerechtfertigt); EuGH, 24. 3. 1994, Kommission! Belgien, Rs. C-80!92, Sig. 1994,1-1019 (Zulassungserfordernis für Funkgeräte; Verstoß gegen Art. 28 EGV); auch EuGH, 30. 4. 1996, CIA Security International, Rs. C-194!94, Slg. 1996, 1-2201 (Genehmigungspflicht für Alarmanlagen) würde in diese

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tiv leicht als produktbezogene Regelungen verstehen, da sie zum einen meist dazu dienen, bestimmte Anforderungen an die Beschaffenheit der Produkte durchzusetzen,91 und zum anderen läßt sich das Vorliegen einer Zulassung selbst als ein Merkmal des Produkts verstehen. Das Urteil Keck und Mithouard wird in diesen Entscheidungen nicht erwähnt. 92

2. Monopole Eine weitere besondere Gruppe bilden diejenigen Vorschriften, die verschiedene Arten von Monopolen bzw. bestimmten Lizenzsystemen im Bereich etwa von Umschlag und Transport93 , Lagerung94 und Groß- und Einzelhandel95 errichten. Die entsprechenden Regelungen stellen nicht im eigentlichen Sinne Anforderungen an die Produkte auf, sie können also nicht ohne weiteres als produktbezogene Regelungen qualifiziert werden. Dennoch hat der Gerichtshof in allen drei Fällen Art. 28 EGV für anwendbar gehalten, und zwar jeweils ohne das Urteil Keck und Mithouard auch nur zu erwähnen. Das überrascht insofern, als etwa in der Rechtssache Centre d'insemination de la Crespelle Generalanwalt Gulmann angenommen hatte, es handele sich um einen Verkaufsmodalitäten entsprechenden Regelungsgegenstand96, und im Fall Franzen die Kommission sowie einige mitgliedstaatliche Regierungen ebenfalls eine Regelung von bestimmten Verkaufsmodalitäten vorliegen sahen97 , während Generalanwalt EImer zwar am Gruppe fallen, der Gerichtshof hat die diesbezüglichen Vorschriften jedoch wegen Verstoßes gegen eine Richtlinie für nicht anwendbar gehalten und daher ihre Vereinbarkeit mit Art. 28 nicht geprüft, 2249 Rdnr. 57, vgl. aber die Ausführungen des GA Eimer; 2213 ff. Tz. 26 ff. 91 So z. B. GA Eimer in EuGH, 30. 4. 1996, CIA Security International, Rs. C-194/94, Slg. 1996,1-2201,2214 Tz. 30, 31: Zweck einer Bauartgenehmigung sei, Anforderungen an die Ware festzulegen, es handele sich daher um einen Rdnr. 15 des Keck-Urteils zuzuordnenden Fall. Vgl. auch noch EuGH, 14.7.1998, Aher-Waggon, Rs. C-389/96, Slg. 1998,1-4473, zur Zulassung von Flugzeugen nur bei Einhaltung der Grenzwerte für Lärmemissionen (strengere Anforderungen als Mindestharmionisierungsrichtlinie, Bestandschutz nur für inländische frühere Zulassungen; laut EuGH gerechtfertigt). 92 Vgl. aber Generalanwalt Eimer in EuGH, 30. 4. 1996, CIA Security International, Rs. C-194/94, Slg. 1996,1-2201,2214 Tz. 30, 31. 93 EuGH, 15. 12. 1993, Ligur Carni u. a., verb. Rs. C-277 191, C-318/91 und C-319/91, Slg. 1993, 1-6621 (Ausschließliche Konzession eines Unternehmens in einer Gemeinde für Umschlag und Beförderung von frischem Fleisch; Pflicht zur Zahlung des Entgelts an dieses Unternehmen, wenn Importeur dies mit eigenen Mitteln vornehmen will). 94 EuGH, 5. 10. 1994, Centre d'insemination de la Crespelle, Rs. C-323/93, Slg. 1994, 1-5077 (Pflicht zur Lagerung von Rindersamen bei zugelassener Besamungsstation). 95 EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189 195, Slg. 1997, 1-5909 (Schwedische Vorschriften über Alkohol, streng gehandhabtes Lizenzsystem für Herstellung, Einfuhr und Großhandel, staatliches Monopolunternehmen für Verkauf auf Einzelhandelsebene ). 96 EuGH, 5. 10. 1994, Centre d'insemination de la Crespelle, Rs. C-323 193, Slg. 1994, 1-5077,5094 f. Tz. 51. 97 Vgl. EuGH, 23.10.1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5965 f. Rdnr. 33.

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Ende zum gegenteiligen Ergebnis gelangte, aber vorher ausführlich unter sorgfältiger Abgrenzung der verschiedenen in der Nachfolge von Keck und Mithouard ergangenen Entscheidungen zu der Frage Stellung genommen hatte98 . Außerdem stellt sich die Frage, wie diese Rechtsprechung mit den Urteilen "Babymilch " und Banchero99 zu vereinbaren ist, in denen der Gerichtshof Regelungen darüber, von wem bzw. aufgrund welcher Konzessionen bestimmte Produkte verkauft werden dürfen, als solche über Verkaufsmodalitäten und damit nicht Art. 28 EGV unterfallend angesehen hatte. Diese Unstimmigkeiten zeigen deutlich, daß die vom EuGH eingeführte Differenzierung einer näheren Beleuchtung und insbesondere einer stichhaltigen Begründung bedarf, wie sie im anschließenden Teil der Arbeit versucht werden soll.

3. Gewerblicher Rechtsschutz Eine eigene Kategorie bilden auch die Regelungen des gewerblichen Rechtsschutzes. Sie sind zwar in aller Regel ohne weiteres als produktbezogene Regelungen zu identifizieren, sie betreffen die Bezeichnung (z. B. Markenrecht), die Verpackung (z. B. Warenzeichenrecht), die Herstellungsweise (z. B. Patentrecht) etc. eines Produkts. Der Gerichtshof wendet in diesen Fällen jedoch gewöhnlich eine fallgruppenspezifische Art der Prüfung an, in der Art. 28 EGV kaum angesprochen wird, der Schwerpunkt vielmehr auf der Möglichkeit einer Rechtfertigung aus Gründen des Schutzes des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gemäß Art. 30 EGV liegt mit besonderen Überlegungen etwa zum spezifischen Gegenstand des Rechts, zur Erschöpfung etc. 1OO Diese Fallgruppe ist daher für die hier beabsichtigte Untersuchung wenig interessant (das Urteil Keck und Mithouard wird erwartungsgemäß in keiner der Entscheidungen angesprochen).

In EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189195, Sig. 1997,1-5909,5930 ff. Tz. 54 ff. EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Sig. 1995,1-4663; EuGH, 29. 6. 1995, "Babymilch Rs. C-391 192, Sig. 1995, 1-1621; auch EuGH, 13. I. 2000, TK-Heirruiienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000,1-151 gilt es damit in Einklang zu bringen. 100 EuGH, 11. 11. 1997, Loendersloot, Rs. C-349195, Sig. 1997,1-6227 (Markenrecht); EuGH, 4.11. 1997, Parfums Christian Dior; Rs. C-337/95, Sig. 1997,1-6013 (Markenrecht); EuGH, 9. 7. 1997, Generics BV, Rs. C-316/95, Sig. 1997, 1-3929 (Patentrecht); EuGH, 5.12.1996, Merck und Beecham, verb. Rs. C-267/95 und C-268/95, Sig. 1996,1-6285 (Patentrecht); EuGH, 11. 7. 1996, Bristol-Myers Squibb u. a., verb. Rs. C-427/93, C-429193 und C-436/93, Sig. 1996,1-3457; EuGH, 11. 7. 1996, Eurim-Pharm, verb. Rs. C-71 194 bis C-73/94, Sig. 1996,1-3603; EuGH, 11. 7. 1996, MPA Pharma, Rs, C-232/94, Sig. 1996, 1-3671 (alle drei Markenrecht, überwiegend Markenrichtlinie, die aber im Lichte von Art. 28 und 30 EGV auszulegen sei); EuGH, 30. 11. 1993, Deutsche Renault (" quattro I quadra H), Rs. C-317/91, Sig. 1993,1-6227 (Warenzeichenrecht). Im übrigen geht es bei allen Fällen dieser Gruppe ausschließlich um den Vertrieb eingeführter Waren. 98 99

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4. Direkt auf die Einfuhr bezogene Maßnahmen Schließlich gibt es noch Regelungen, bei denen sich schon aus ihrem Wortlaut ausdrücklich ein unmittelbarer Bezug auf Einfuhren bzw. grenzüberschreitende Transaktionen ergibt, wie bei Einfuhrverboten für britisches Rindfleisch lOl oder lebende Flußkrebse \02, einer Anmeldeverpflichtung für grenzüberschreitende Warenbewegungen 103 oder einer Genehmigungspflicht für im Ausland gekaufte Sehhilfen, um eine Erstattung der Kosten durch die Krankenversicherung erlangen zu können 104. In solchen Fällen bedarf es keiner weiteren Feststellung der Relevanz für den zwischenstaatlichen Warenverkehr und damit der Anwendbarkeit des Art. 28 EGY. Es überrascht daher nicht, daß in den Entscheidungen nicht auf die Unterscheidung in Keck und Mithouard zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 28 EGVeingegangen wird.

IV. Von Peralta bis Corsica Fernes France: zu ungewiß und zu mittelbar Auf der anderen Seite gibt es Regelungen, die zwar als nicht in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV fallend angesehen wurden, die aber auch nicht als "bestimmte Verkaufsmodalitäten" bezeichnet wurden. Vielmehr hat der Gerichtshof in den entsprechenden Entscheidungen das Urteil Keck und Mithouard gar nicht erwähnt, sondern auf die ältere Formulierung zurückgegriffen, die Auswirkungen auf den freien Warenverkehr seien "zu ungewiß und zu mittelbar". \05 Dies 101 EuGH, 5.12.2000, Eurostock, Rs. C-477 198, Sig. 2000, 1-10695; EuGH, 13. 12.2001, Kommission 1 Frankreich, Rs. C-I/00, Sig. 2001,1-9989. 102 EuGH, 13.7. 1994, Kommission 1Deutschland, Rs. C-131/93, Sig. 1994,1-3303. 103 EuGH, 25. 6. 1997, Kiefer und Thill, Rs. C-114/96, Slg. 1997,1-3629. 104 EuGH, 28. 4. 1998, DeckeT, Rs. C-120/95, Sig. 1998,1-1831. 105 EuGH, 18.6.1998, Corsica Ferries France, Rs. C-266/96, Sig. 1998,1-3949,3992 f. Rdnr. 31 (Pflicht zur Inanspruchnahme von Festrnachergruppen bei Benutzung eines Hafens; hier wird die Formel allerdings mit "zu ungewiß und zu indirekt" übersetzt); EuGH, 30. 11. 1995, Esso Espafiola, Rs. C-134/94, Sig. 1995,1-4223,4249 Rdnr. 24 (Pflicht, bei Belieferung einer Inselgruppe mit Mineralölerzeugnissen mehrere [nicht nur die größten, wirtschaftlich rentableren] Inseln zu beliefern); EuGH, 17. 10. 1995, DIP u. a., verb. Rs. C-140/94 bis C-142/94, Sig. 1995,1-3257,3297 Rdnr. 29 (Zulassungserfordernis für Einzelhandelsgeschäfte); EuGH, 5. 10. 1995, Centro Servizi Spediporto, Rs. C-96/94, Sig. 1995, 1-2883,2914 Rdnr. 41 (staatliche Festlegung der Tarife für Beförderungen im Güterkraftverkehr); EuGH, 14.7. 1994, Peralta, Rs. C-379/92, Sig. 1994,1-3453,3497 Rdnr. 24 (Einleitung von Schadstoffen ins Meer; für Schiffe unter italienischer Flagge strenger, was nach Meinung des beschuldigten Kapitäns den Transport von Waren nach Italien erschwerte). Ähnlich erscheint die Formulierung in der Entscheidung EuGH, 30. 4. 1996, CIA Security International, Rs. C-194/94, Sig. 1996,1-2201,2249 Rdnr. 58, nach der eine Genehmigungspflicht für Sicherungsunternehmen "nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich von Art. 30" (alt) EGV falle; bezüglich dieser vom EuGH allein geprüften Regelung (die anderen

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

zeigt, daß die Fonnulierung "bestimmte Verkaufsmodalitäten" zu eng ist, um eine Erfassung aller Fälle, die aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV ausgeschieden werden sollen, zu gewährleisten. 106 Dieses Manko soll mit der hier zu entwickelnden Unterscheidung behoben werden.

V. Zusammenfassung

Diese Übersicht zeigt, daß auch nach Keck viele Fragen offen bleiben. Die Rechtsprechung weist immer noch Unstimmigkeiten auf, für die der EuGH wenig bis gar keine Erklärungen anbietet. Ein wesentlicher Grund dafür scheint zu sein, daß die Unterscheidung in Keck nicht hinreichend teleologisch begründet iSt. 107 Die Stellungnahmen in der Literatur, auf die im folgenden einzugehen ist, waren daher von der Suche nach einer tragfähigen Begründung geprägt.

angegriffenen Regelungen wurden wegen Verstoßes gegen eine Richtlinie für nicht anwendbar gehalten) enthielten die Akten jedoch "nicht den geringsten Anhaltspunkt" für beschränkende Auswirkungen auf den Warenverkehr, es ist nicht einmal klar, was für Waren überhaupt betroffen sein sollen. Dies erscheint mir ein Fall zu sein, in dem eine Prüfung des Art. 28 EGV von vornherein ausgeschlossen ist, da selbst die Frage nach "Verkaufsmodalitäten" voraussetzt, daß bekannt ist, um welche Waren es gehen soll. GA Eimer hatte aber für "zu ungewiß und zu mittelbar" plädiert, 2213 Tz. 26. Ein Sonderfall ist EuGH, 22. 6. 1999, ED, Rs. C-412/97, Slg. 1999, 1-3845 (Ausschluß des Mahnverfahrens bei im Ausland ansässigem Schuldner), da es zum einen um einen Exportfall ging, und zum anderen gerade grenzüberschreitende Konstellationen anders behandelt wurden, während sonst gerade die unterschiedslose Anwendbarkeit wesentlicher Bestandteil dieser Argumentationsfigur war. Vgl. dazu noch unten Fn. 301. 106 Insbesondere die Tatsache, daß der Gerichtshof mit keinem Wort auf die Entscheidung Keck und Mithouard eingeht, obwohl sie in zwei der Verfahren von den Generalanwälten angesprochen wurde (so nahm im Verfahren DIP u. a. Generalanwalt Fennelly einen KeckFall an, 3286 Tz. 71, während die Kommission das Gegenteil vertrat, vgl. 3267 Tz. 28; in der Rechtssache Esso Espafiola diskutierte Generalanwalt Cosmas die Anwendung von Keck mit dem Ergebnis, daß keine der bei den dort genannten Fallgestaltungen vorliege(!), 4231 ff., Tz. 15 ff. insbes. Tz. 17), zeigt m.E., daß auch der Gerichtshof selbst sich über Grundlagen und Grenzen seiner Unterscheidung nicht vollkommen gewiß ist. 107 Man muß vielleicht nicht so weit gehen wie Gormley, Fordham Int'l LJ. 19 (1996), 866, der sie als "another nail in the coffin of systematic reasoning and coherent analysis" bezeichnet; vgl. auch Gormley, EBLR 5 (1994), 63: "reasoning renounced".

§ 3 Erklärungsversuche

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§ 3 Erklärungsversuche Die wesentlichen Vorschläge in der Literatur und von seiten der Generalanwälte I. Weit verstandenes Diskriminierungsverbot

Ein attraktiver Erklärungsversuch - am nachdrücklichsten vertreten von Marenco - sieht den Grund für die Differenzierungen darin, daß Art. 28 EGV nur solche nationalen Regelungen verbiete, die eingeführte Produkte in irgendeiner Weise benachteiligen. \08 Ein Problem der Diskriminierungstheorie ist die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der verwendeten Formulierungen. 109 In dieser Arbeit sollen folgende Begriffe verwendet werden: Formelle Diskriminierung: Unmittelbar an das Merkmal der Herkunft aus einem anderen Staat anknüpfende Ungleichbehandlung. Insbesondere im Zweiten Teil wird dieser Begriff durch "offene" Diskriminierung ersetzt, um den Unterschied zu dem häufig nur auf die Staatsangehörigkeit bezogenen Verständnis der formellen Diskriminierung bei den Personenfreiheiten deutlich zu machen. Versteckte Diskriminierung: Wie formelle Diskriminierung, aber Umgehung der Anknüpfung an ausländische Herkunft durch die Verwendung eines anderen, das gleiche bewirkenden Merkmals. 108 Amadeo, Diritto comunitario e degli scambi internazionali 1994, 671, 698 ff. (als zustimmende Interpretation von Keck); Bemard, ICLQ 45 (1996), 82 (der aber einen darüberhinausgehenden Anwendungsbedarf im Falle absoluter Zugangssperren einräumt, 97 ff.); Burrows, Free Movement (1987), 50 ff., 54; Defalque, CDE 23 (1987),471,481,490; larass, EuR 1995, 202; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten (1999); Koch, in: Grabitz/Hilj, Altband I, Art. 85 (alt) Rdnr. 217; Marenco, CDE 20 (1984), 291; Marenco/Banks, ELRev. 15 (1990), 224; GA Reischi, Schlußanträge in EuGH, 31. 3. 1982, Blesgenl Belgien, Rs. 75/81, Sig. 1982, 1211, 1235 ff.; Schroeder; EuGRZ 1994, 373, 380 (für alle Grundfreiheiten einheitlich); Snelll Andenas, in: Andenas 1Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002),69,84,95, 105; Weber; Schutznormen und Wirtschaftsintegration (1982), 109 f.; M. Waelbroeck, CDE 25 (1989),41,49 f.; M. Waelbroeck, in: Liber Amicorum Frederic Dumon (1983), Band 11,1329, 1342 f. Jedenfalls der Sache nach auch Grandpierre, Herkunftsprinzip und Marktortanknüpfung (1999), 37 ff., 43, 61; Heennann, GRUR Int. 1999,579 (in Befürwortung der Keck-Rechtsprechung; er verwendet den Begriff Diskriminierung allerdings nur für formell unterschiedlich anwendbare Regelungen); lestaedt 1Kästle, EWS 1994, 26, 28; GA Slynn in EuGH, 11. 7. 1985, Cinerheque, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Sig. 1985,2605, 2611; vgl. auch die "relative Spürbarkeit" bei Dubach, SZW 1RSDA 1994,219,225. Die in der frühen Literatur zur Warenverkehrsfreiheit vertretene Ansicht, es gehe nur um die Verhinderung formeller bzw. versteckter Diskriminierungen, ließ sich aufgrund der Rechtsprechung spätestens seit Cassis de Dijon nicht mehr halten. Vertreter dieser Ansicht waren etwa Graf, Der Begriff "Maßnahmen gleicher Wirkung ... " (1972),118 ff., 125; Seidel, NJW 1967,2081,2084 ff.; Steindorff, Gleichheitssatz (1965); Steindorff, in: Dienstleistungsfreiheit und Versicherungsaufsicht (1971), 79, 82 f. (Steindorffhat diese Ansicht jedoch später aufgegeben, vgl. unten IV). Noch enger Meier; in: Ehle / Meier; EWG-Warenverkehr (1971), B 106. Gegen diese enge Sicht und für ein umfassendes Beschränkungsverbot schon VerLoren van Themaat, SEW 1967,632. 109 Vgl. dazu schon oben Fn. 49.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV Materielle Diskriminierung: Jede sonstige Benachteiligung ausländischer Produkte, die sich bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände ergibt. Man kann hier noch einmal (in Anlehnung an Mareneo) materielle Diskriminierungen im engeren und im weiteren Sinne unterscheiden: Erstere sind solche Vorschriften, die in ihren Voraussetzungen geradezu darauf zugeschnitten sind, die heimische Produktion unbehelligt zu lassen und ausländische zu erfassen (die ist dann nahe an der versteckten Diskriminierung; der Unterschied liegt darin, daß hier eine Tendenz dazu ausreicht, während die versteckte Diskriminierung grundsätzlich ausländische Produkte anders behandelt). Im weiteren Sinne sind dann wieder alle sonstigen Vorschriften materiell diskriminierend, die zu einer (wenn auch möglicherweise unbeabsichtigten) stärkeren Belastung ausländischer Waren führen. Im Rahmen des eigenen Konzepts wird in der Regel von "faktischer Benachteiligung" gesprochen, weil der größte Bereich der materiellen Diskriminierung schon über eine andere, vorgezogene Kategorie erfaßt wird. 1 10

Dabei wird diese Ungleichbehandlung jedoch recht weit verstanden: Gemeint sind nicht nur formell nach der Herkunft der Waren diskriminierende Vorschriften, sondern auch materielle Diskriminierungen, d. h. Regelungen, die sich - beabsichtigt oder nicht - auf eingeführte Produkte im Ergebnis ungünstiger auswirken als auf inländische. So können Regelungen, die durch das Aufstellen bestimmter Anforderungen Importeure dazu zwingen, ausländische Produkte oder auch nur die Werbung für diese an das im Importland geltende Regime anzupassen, selbst wenn sie nicht speziell auf eine traditionelle inländische Produktionsweise zugeschnitten sind, nach dieser Ansicht als "subtile" Formen der Diskriminierung bezeichnet werden, da sich die Frage der Anpassung bei inländischen Produkten nicht (zumindest nicht auf dieselbe Weise) stellt. 111 110 Im Einzelnen können hier noch weitere Fragen und Probleme auftreten, etwa, ob eine Benachteiligung in einern einzelnen Fall ausreicht oder ob es sich um eine generelle Tendenz handeln muß. Dies kann hier nicht umfassend geklärt werden, siehe aber unten § 4. 11. 2. a), 3. a). Ausführlich zum Verständnis der Diskriminierung in Rechtsprechung und Literatur Weyer, Freier Warenverkehr (1997), Teil 2, Kapitel 4 (89 ff.), mit einern neuen eigenen Ansatz in Kapitel 5 (139 ff.). Vgl. auch Hilson, ELRev. 24 (1999), 445. 111 Vgl. Mareneo, CDE 20 (1984), 291, 312; Marenco/ Banks, ELRev. 15 (1990), 224, 240. Wenn Mareneo, CDE 20 (1984), 291, 309 (ff.), 312 sagt, daß diese zu einer Anpassung zwingenden Vorschriften nur dann eine den Anwendungsbereich des Art. 28 EGVeröffnende Diskriminierung im weiten Sinne darstellen, wenn sie entweder nicht berücksichtigen, daß das eingeführte Produkt aufgrund vergleichbarer Angaben, Eigenschaften, Kontrollen etc. den Anforderungen im wesentlichen entspricht, oder aber wenn die Mittel im Verhältnis zum verfolgten Zweck unverhältnismäßig sind, so bedeutet das nichts anderes, als daß bei diesen nur im weiten Sinne diskriminierenden Vorschriften die Cassis-Grundsätze zur Anwendung kommen (vgl. auch die entsprechenden Ausführungen bei Marenco/Banks, ELRev. 15 (1990), 224, 240 f.). Wahrend diese hier als Rechtfertigungsgründe eingestuft werden (vgl. oben Fn. 35), versteht Mareneo sie als tatbestandsausschließend, weshalb ein europarechtlich akzeptables Ziel, das mit verhältnismäßigen Mitteln (d. h. auch unter Berücksichtigung der Kontrollen etc. im Herkunftsland) verfolgt wird, die Anwendung des Art. 28 EGV ausschließt. So erklärt sich auch, daß das Urteil EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Slg. 1982,4575 bei ihm als Beispiel für eine nicht beanstandete Regelung genannt wird (S. 309), die keine solche Anpassung erforderte: Der Gerichtshof hat dort zwar festgestellt, die Regelung könne durch den Zwang, unterschiedliche Absatzförderungssysteme zu

§ 3 Erklärungsversuche

29

Die oben unter § 1 1. zusammengefaßten Urteile betreffen Vorschriften, die entweder dadurch, daß sie gezielt auf Charakteristika der einheimischen Produktion zugeschnitten sind, nach diesem Ansatz als materielle Diskriminierung im engeren Sinne bezeichnet werden müßten, oder aber sie erfordern die beschriebene Anpassung und wirken deshalb nachteiliger für eingeführte Produkte. Art. 28 EGV wurde hier also aus dieser Sicht zu Recht angewandt. Hingegen betrafen die unter § 1 11. 1. a) und b) aufgeführten Entscheidungen Maßnahmen, die gerade keine derartigen Auswirkungen hatten, so daß die Nichtanwendung des Art. 28 EGV die richtige Konsequenz war. In den unter c) genannten Urteilen schließlich fragte der Gerichtshof selbst, ob die Maßnahmen zu einer Benachteiligung der eingeführten Waren führte, um über die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV zu entscheiden. Die Sunday-Trading-Fälle 112 jedoch lassen sich mit dieser Auffassung nur vereinbaren, wenn man lediglich das Endergebnis betrachtet: Insofern die fraglichen Regelungen dort als gerechtfertigt angesehen wurden (mit Ausnahme der Entscheidung Torfaen, in der diese Beurteilung dem nationalen Gericht überlassen wurde), deckt sich das mit der nach dieser Auffassung zu erwartenden Beurteilung, da die Öffnungszeitenregelung weder im engeren Sinne diskriminierend wirkt noch irgendwelche Anpassungen erfordert.

11. Von "circumstances" zu "Verkaufsmodalitäten"

1. White

Ein zweiter Vorschlag, von White erstmals ausführlich vorgestellt, unterscheidet zwischen "characteristics", Merkmalen, die importierte Produkte aufweisen müssen, und "circumstances in which certain goods may be sold or used", den Umständen also, unter denen Waren verkauft oder benutzt werden dürfen. Während unterschiedslos anwendbare Regelungen, die characteristics betreffen, grundsätzlich an Art. 28 EGV zu messen sind, ist dies bei (ebenfalls unterschiedslos anwendbaren) circumstances regelnden Vorschriften in der Regel nicht der Fall. 113 White kann damit wohl als "Erfinder der Modalitäten" betrachtet werden - die Verwandtschaft zu den produktbezogenen Regelungen einerseits und den Verkaufsbenutzen, ein Einfuhrhindemis darstellen (EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575,4587 f., Rdnr. 15, vgl. das Zitat bei Marenco, CDE 20 (1984), 291, 308), dieses aber als aus Gründen des Verbraucherschutzes und der Lauterkeit des Handelsverkehrs gerechtfertigt angesehen (EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575,4588 f., Rdnr. 16 ff.). Dieser Unterschied wird im folgenden ignoriert, da es in jedem Fall dazu kommt, daß die Frage nach der Anerkennung des Zwecks und der Verhältnismäßigkeit der Mittel gestellt werden muß, was die entscheidende Einschränkung der staatlichen Regelungskompetenz darstellt. 112 Oben § 1 11. 2. 113 White, CMLRev. 26 (1989), 235; ebenso als Vertreter der Kommission in EuGH, 23.11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851, Sitzungsbericht, 3861 ff.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

modalitäten betreffenden Vorschriften andererseits aus dem Urteil Keck und Mithouard ist unverkennbar. 114 Die Kontrollbedürftigkeit von Regelungen, die bestimmte characteristics für ein Produkt vorschreiben, begründet er damit, daß diese Merkmale Folge und Ausdruck der rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen sind, unter denen das Produkt hergestellt wurde. Da der gemeinsame Markt bedeute, daß Waren dort hergestellt werden (können) sollten, wo diese Bedingungen am günstigsten sind, seien Vorschriften, die durch Anforderungen bezüglich der characteristics gerade die aus einem solchen anderen Produktionsumfeld stammenden Waren treffen, mit diesem grundlegenden Prinzip nicht zu vereinbaren. 115 Das sei anders bei Regelungen von circumstances des Verkaufs oder Gebrauchs: Solche Vorschriften regeln, wo, wann, von wem und wie ein Produkt verkauft oder benutzt werden darf sowie zu welchem Preis es verkauft werden darf. Sie beeinträchtigten damit nicht die Möglichkeiten, von den Vorteilen einer Herstellung in einem anderen rechtlichen Umfeld zu profitieren. 116 Im einzelnen macht White allerdings einige Einschränkungen dazu: Speziell für den Bereich der Werbung (als "wie" des Verkaufs) bezeichnet er mit Blick auf das Urteil Oosthoek's Uitgeversmaatschappi/ 17 solche Vorschriften als characteristics betreffend, die zugleich bzw. eigentlich die "Präsentation" der Ware betreffen. 118 Bei Preisregelungen kommt es auf die konkreten Umstände an, wie genau der Preis festgelegt ist; sie können leicht verhindern, daß eingeführte Produkte von den unterschiedlichen Bedingungen in ihrem Herkunftsland profitieren, wenn etwa niedrigere Herstellungskosten durch Mindestpreise nicht weitergegeben werden können oder Transportkosten durch Höchstpreise nicht umgelegt werden können.1\9 Allgemein sollen 114 Zwar unterschieden auch schon vor Whites Aufsatz z. B. Sack/Fasshold, WRP 1987, 519, 521 zwischen produktbezogenen Regelungen und Verrnarktungsregelungen (wobei sie innerhalb der letzteren Gruppe nochmals produktbezogen und nicht produktbezogen unterscheiden wollen, 521 f.); sie haben diese Unterscheidung aber nicht so umfassend ausgeführt und zur Grundlage ihrer Argumentation gemacht. In dem früheren Aufsatz Mortelmans', auf den er in CMLRev. 28 (1991), 115 Fn. 2 verweist (Revue europeenne de droit de la consommation/European Consumer Law Journal 1988,2-20), ist eine solche Differenzierung m.E. nicht zu finden. Eine ähnliche Unterscheidung traf aber schon Matthies, in: Schwarze/Bieber, Das europäische Wirtschaftsrecht (1985), 25, 28 f.: Es sei auf die Natur der Maßnahme abzustellen; bei einem unmittelbaren Bezug zu Einfuhren und Waren finde Artikel 28 EGV Anwendung, während Regelungen, die sich nur auf die Verwendung der Ware beziehen, aus dessen Tatbestand herausfielen - allerdings nur, wenn sie im Allgemeininteresse und von den Vertragszielen gedeckt seien, so daß unklar bleibt, inwieweit hier doch eine Art (erleichterte) Rechtfertigungsprüfung vorgenommen werden soll, was Matthies zuvor jedoch gerade ausschließen zu wollen scheint, S. 27 f. 115 White, CMLRev. 26 (1989), 235, 245 f. 116 White, CMLRev. 26 (1989), 235, 246 f. 117 EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Slg. 1982,4575. 118 White, CMLRev. 26 (1989), 235, 252 f. 119 White, CMLRev. 26 (1989), 235, 255 ff.

§ 3 Erklärungsversuche

31

solche Regelungen von circumstances wie characteristics-Regelungen behandelt werden, die sich auf characteristics beziehen, also etwa Verkaufszeitenregelungen, die nur für Produkte mit bestimmten Eigenschaften gelten. 120 Und schließlich könnten Regelungen von circumstances die Verkaufsmöglichkeiten so gravierend beschneiden, daß sie einem Verbot nahekämen; diese seien dann jedenfalls an Art. 28 EGV zu messen. 121 Die unter § I H. 1. a) und b) aufgeführten Entscheidungen haben also nach diesem Ansatz zu recht die in Frage stehenden Regelungen als nicht unter Art. 28 EGV fallend angesehen, weil diese circumstances des Verkaufs und Gebrauchs (als letzteres könnte man die Regelungen in Krantz und CMC Motorradcenter wohl gerade noch bezeichnen) betrafen. 122 Bei den unter c) behandelten Preisregelungen stellt auch der EuGH darauf ab, wie die Preise festgesetzt sind, so daß auch hier Übereinstimmung besteht. 123 In den unter § I 11. 2. beschriebenen Sunday-Trading-Fällen allerdings würde White Art. 28 EGV nicht angewendet haben,124 wie er das auch als Vertreter der Kommission in dem ersten dieser Verfahren, Torfaen, vorgeschlagen hat 125 . Auch die unter § I I. behandelten Urteile, in denen der EuGH Art. 28 EGV "klassisch" anwendete, sind nur teilweise mit diesem Erklärungsversuch in Einklang zu bringen. Soweit diese Entscheidungen produktbezogene Regelungen betrafen, ergeben sich keine Probleme, denn damit handelt es sich um characteristics im Sinne Whites, so daß die Anwendung von Art. 28 EGV nicht in Frage steht. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch bei den Entscheidungen aus dieser Gruppe, 126 die eben nicht Regelungen über Eigenschaften von Produkten betreffen, sondern darüber, wie Waren abgesetzt werden dürfen bzw. wie für sie geworben werden darf und auch darüber, von wem sie verkauft werden dürfen. Für das Urteil Oosthoek's Uitgeversmaatschappij hat White die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV darüber erklärt, daß es bei einer Regelung über Zugaben um die "Präsentation" des Produkts gehe. 127 Bei den anderen Entscheidungen, die alle erst nach Erscheinen des Aufsatzes ergangen sind, greift diese Begründung jedoch nicht. 128 Zwar könnte man möglicherweise versuchen, für jede dieser Entscheidungen eine andere Erklärung in dieser Art zu finden, aber es erscheint sinnvoller, nach einem alle diese Entscheidungen erfassenden Prinzip zu suchen, wenn man sie nicht für falsch entschieden halten will. 120 121 122 123 124 125 126 127 128

White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258 f. Vgl. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 248 ff. Vgl. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 255 ff. Vgl. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 248 ff. EuGH, 23.11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Sig. 1989,3851, Sitzungsbericht, 3861 ff. Siehe oben Fn. 39. Siehe oben Fn. 118. So auch Ackennann, RIW 1994, 189, 191 f.

4 Feiden

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

2. Mortelmans

Als ein solcher Versuch, auf der Basis des Ansatzes von White eine generellere Einschränkung zu finden, die die zuletzt genannten Entscheidungen zu absatzbezogenen Regelungen zu erklären vermag, könnten die Überlegungen von Mortelmans gesehen werden. 129 Er will nur solche unterschiedslos anwendbaren Regelungen von circumstances aus dem Anwendungsbereich von Art. 28 EGV ausnehmen, die ein "territoriales Element" haben, d. h. auf Handlungen Bezug nehmen, die in bestimmten festen Einrichtungen stattfinden, und bei denen die betroffenen Waren nur sekundär in den Blick genommen sind. l3o Regelungen dagegen, denen ein solcher räumlicher Bezug fehlt, könnten eine Bedrohung für den gemeinsamen Markt darstellen, da sie den freien Verkehr von Personen und Waren voraussetzten. 131 Damit lassen sich einige der oben genannten Urteile, die absatzbezogene Regelungen Art. 28 EGV unterworfen haben, erklären, nämlich diejenigen, die sich abstrakt auf bestimmte Werbe- bzw. Absatzmethoden beziehen. 132 Auch hiernach unvereinbar bleiben jedoch diejenigen Urteile, die Regelungen darüber betreffen, in welcher Art von Geschäften bestimmte Produkte verkauft werden dürfen, denn diese müssen wohl als auf eine Räumlichkeit bezogen betrachtet werden. 133 Ebenso 129 Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115; nur darauf verweisend Mortelmans, AA 42 (1993),484,487. Nach dem Keck-Urteil hat Mortelmans diese Überlegungen allerdings nicht mehr vorgetragen, sondern wohl im wesentlichen diesem Urteil zugestimmt, mit dem weiteren Vorschlag, das "potentiell" aus der Dassonville- Formel fallenzulassen (so daß "unmittelbar" sich auf diskriminierende Regelungen beziehen würde, "mittelbar" auf nichtdiskriminierende, und "tatsächlich" behindernd eine weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV bei nur mittelbaren Behinderungen darstellen würde), SEW 1994, 120, 125 f. Vgl. auch Mortelmans, SEW 1994,236. Daß Keck im wesentlichen das "potentiell" aus der Dassonville-Formel streiche meint auch Zuleeg, in: FS Everling (1995), 1717, 1721. 130 Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115, 130 f. 131 Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115, 130. Leider wird nicht näher erläutert, worauf diese Feststellung beruht. Eine mögliche Erklärung ist, daß im Fall der räumlichkeits-gebundenen Regelungen die Waren ihren Verkehr innerhalb der Gemeinschaft bereits abgeschlossen und ihr Endziel erreicht haben (wenn man voraussetzt, daß die entsprechenden Etablissements keinen Versandhandel betreiben und Bewegungen, die ein eventueller Käufer nach dem Erwerb mit der Ware vornimmt, außer Acht läßt), während die nicht an solche Räumlichkeiten gebundenen Regelungen Waren noch auf dem - möglicherweise grenzüberschreitenden - Weg an ihren eigentlichen Bestimmungsort treffen können. 132 Yves Rocher (Verbot von Preisgegenüberstellungen), Aragonesa de Publicidad (Werbeverbot für Alkohol), Boscher (Versteigerungen), SARPP (Werbung für Süßstoffe mit dem Wort Zucker), GB-INNO-BM (Verbot von Preis gegenüberstellung und Angabe der Dauer des Sonderverkaufs), Buet (Verbot des Haustürverkaufs für bestimmte Produkte) und Oosthoek's Uitgeversmaatschappij (Zugabeverbot). 133 Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115, 130 selbst konnte diese späteren Urteile noch nicht einbeziehen, er nennt jedoch als Beispiel für eine orts gebundene Regelung die über den Verkauf von Sexartikeln nur in Sexshops aus dem Urteil Quietlynn und Richards, CMLRev. 28 (1991),115,130.

§ 3 Erklärungsversuche

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sind auch nach Mortelmans die Sunday-Trading- Vorschriften entgegen der früheren Rechtsprechung des EuGH als nicht unter Art. 28 EGV fallend anzusehen. 134

3. Tesauro Generalanwalt Tesauros Schlußanträge in der Rechtssache Hünermund führen zu einer noch schärferen Eingrenzung derjenigen Umfeldregelungen, die nicht an Art. 28 EGV zu messen sind. Danach sind (unterschiedslos anwendbare) "Maßnahmen, die die Modalitäten der Ausübung der Handelstätigkeit betreffen, grundsätzlich als nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 fallend anzusehen ... , soweit sie keine Handelsregelung bezwecken, in keinem Zusammenhang mit der Unterschiedlichkeit ... der nationalen Rechtsvorschriften stehen und ... nicht so beschaffen sind, daß sie den Zugang zum Markt ... erschweren".135 Nach Tesauros eigener Aussage sind nach diesem Ansatz die Sunday-Trading-Fälle, die "Verkaufsmonopolfälle,,136 sowie Aragonesa falsch entschieden worden. 137 In Bezug auf Werberegelungen ist danach aber grundsätzlich zu differenzieren. 138

4. Befürwortung Keck-Konzept Schließlich gehören in diese Gruppe diejenigen Stimmen, die das Keck-Urteil mit seiner Unterscheidung zwischen produktbezogenen Regelungen und Verkaufsmodalitäten ohne größere Vorbehalte begrüßen. 139 Darüber, welche Regelungen Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115, 130. Schlußanträge des Generalanwalts Tesauro zu EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993,1-6787,6812 f. Tz. 25. Nach Keck hat Tesauro in der Rechtssache Familiapress insbesondere die Bedeutung der Erhaltung der Marktzugangs hervorgehoben (EuGH, 26.6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Sig. 1997,1-3689,3696 f. Tz. 9 f.). 136 Vgl. oben Fn. 39. m In EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993, 1-6787, 1-6813 Tz. 26 Fn. 37. 138 In EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993, 1-6787, 1-6811 Tz. 22. Diese Ansicht kommt in ihrem differenzierenden Ergebnis den unter 111. und IV. dargestellten Konzepten nahe und wird noch mehrfach Gegenstand der Erörterungen sein. 139 Adrian, EWS 1998, 288; Dauses, in: Dauses, Handbuch, C.I Rdnr. 125 ff.; Dubach, DVBI. 1995, 595; Ehricke, WuW 1994, 108, insbes. 112 ff.; Heermann, GRUR Int. 1999, 579 (den Unterschied zwischen bestimmten und sonstigen Verkaufsmodalitäten betonend und letzten Endes auf eine SchlechtersteIlung eingeführter Waren abstellend); loliet, GRUR Int 1994,979; Kotthoff, Werbung ausländischer Unternehmen (1995), 109 ff., 118 ff.; Lichtenwalder, Anwendung von Art. 30 (1996), 216; Matthies, in: FS Everling (1995),803; Mäschel NJW 94, 429; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2, 21 ff.; Oliver, CMLRev. 36 (1999), 783, 793 ff.; Oliver, Free Movement of Goods (1996), Tz. 6.55 ff., 6.69; Petschke, EuZW 1994, 107, 111; Remien, JZ 1994,349; Wainwright/Melgar, RMC 1994,533,538 f. (diese waren die Vertreter der Kommission in Keck). Im wesentlichen positiv auch Arndt, ZIP 1994, 188 (unter Hinweis auf die einer mengenmäßigen Beschränkung entsprechende bezweckte Regelung des 134

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4*

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

den beiden Kategorien jeweils zuzuordnen sind, gehen die Ansichten jedoch - vor allem im Bereich der Werbung und Absatzförderung - auseinander. 140

IH. Marktzugang und Durchdringung der nationalen Märkte statt Abschottung und Aufsplitterung Die in der Überschrift genannten Begriffe charakterisieren in dieser Kombination vor allem den Vorschlag von Generalanwalt Van Gerven in der Rechtssache Toifaen. Hintergrund seiner Überlegungen ist, daß Art. 28 EGV als "eine der wesentlichen Grundlagen der Einheit des Gemeinsamen Marktes" die "Integration der inländischen Märkte" anstrebe, was bedeute, daß "alle inländischen Märkte innerhalb der Gemeinschaft für die Unternehmen der anderen Mitgliedstaaten hinreichend zugänglich bleiben müssen".141 Zwei große Gruppen von Regelungen fallen nach seinen Ausführungen in jedem Fall in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV (und stehen also dem soeben beschriebenen Ziel immer entgegen), nämlich einerseits Diskriminierungen (und zwar formelle und materielle 142) von eingeführten Produkten und andererseits zwar unterschiedslos anwendbare, aber doch eingeführte Waren benachteiligende 143 Regelungen. Diese Benachteiligung ergibt sich bei den Regelungen der zweiten Gruppe daraus, daß Unterschiede in den nationalen Regelungen bei der Herstellung oder beim Inverkehrbringen eingeführter bzw. einzuführender Produkte "zusätzliche Anstrengungen" nötig machen; dabei können diese Vorschriften entweder Anforderungen an das Produkt selbst, d. h. seine äußeren und inneren Merkmale 144, oder aber auch Verkaufsmethoden betreffen. 145 "ob" des Imports gegenüber des bloßen "wie" des Verkaufs als maßgeblicher Begründung der Unterscheidung); Becker, EuR 1994, 162, 173 f.; Lenz, NJW 1994, 1633; Malaguti, Rivista italiana di diritto pubblico comunitario 1994,654,666 ff.; Stuyck, WRP 1994, 578. Ohne wirkliche Stellungnahme Lierow MDR 1995, 18,20; akzeptierend und interpretierend auch Schmidt, Art. 30 EG-Vertrag als Grenze (1999), 132 ff. Überwiegend positiv auch aus der Perspektive der Rechtssicherheit in der Anwendung durch nationale Gerichte, aber mit einigen Bedenken und Sympathie auch für einen de minimis Ansatz, Jarvis, Application of EC Law (1998), 118 ff., 129 ff. einerseits, 104 ff. andererseits. 140 Dazu näher unten § 5 I. 141 Schlußanträge des Generalanwalts Van Gerven zu EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145 188, Sig. 1989,3851,3872 Tz. 16 und 3874 Tz. 18. 142 Wobei angesichts der zweiten Gruppe nicht klar ist, was genau hier unter dem Begriff "materielle Diskriminierung" verstanden wird; vgl. dazu oben Fn. 49 und § 3. I. 143 Mit der Anerkennung dieser Regelungen als "benachteiligend" stimmt Van Gervens Vorschlag bis hierher in der Sache mit dem weiten Diskriminierungsbegriff, wie er etwa von Mareneo vertreten wird, überein. Van Gerven hält jedoch auch darüber hinaus nach Art. 28 EGV verbotene Behinderungen für möglich. 144 So Van Gervens Formulierung in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-40l/92 und C-402/92, Sig. 1994,1-2199,2211 Tz. 16,2220 Tz. 27. 145 In EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145 I 88, Sig. 1989,3851,3871 f. Tz. 14 f.; für die Verkaufsmethoden verweist Van Gerven auf das Urteil Oosthoek s Uitgeversmaatschappij.

§ 3 Erklärungsversuche

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Für alle restlichen Vorschriften jedoch stellt er die Frage, ob bzw. wann diese das genannte Ziel des "hinreichenden Marktzugangs" gefährden, wann sie also anhand Art. 28 und 30 EGV auf ihre Rechtfertigung hin überprüft werden müssen. Die Forderung nach Zugang zum inländischen Markt eines Mitgliedstaats für Unternehmen - oder besser: Produkte - aus den anderen Staaten bedeutet umgekehrt, daß die Staaten ihre Märkte nicht abschotten und damit eine Aufsplitterung des Gemeinsamen in verschiedene einzelstaatliche Teilmärkte bewirken dürfen. In Anlehnung an die Fallgruppenbildung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 81 EGV unterscheidet Van Gerven auch bei der Anwendung von Art. 28 EGV auf die nicht im oben genannten Sinne benachteiligenden Regelungen zwischen solchen, die eine völlige Marktabschottung bewirken, und anderen, die nur zu einer Erschwerung des Zugangs führen. Erstere seien Regelungen, die absolute (wenn auch ggf. zeitlich begrenzte) Vermarktungsverbote aussprechen, wie z. B. in den Rechtssachen Cinitheque und "Kajfeeweißer,,;146 auf sie sei Art. 28 EGVohne weiteres anwendbar. Im zweiten Fall dagegen müsse die Gefährdung der Durchdringung der Märkte unter Berücksichtigung der Gesamtheit der rechtlichen und wirtschaftlichen Begleitumstände mittels quantitativer Angaben hinreichend glaubhaft gemacht werden, und zwar in dem Sinne, daß "die Verdrängung des größten Teils der eingeführten Erzeugnisse vom Markt zu befürchten" sei. Beispiele dafür seien etwa die Fälle Buet l47 und Wamer Brothers l48 , in denen jeweils ein "wichtiges Vertriebsverfahren" verboten wurde, und Phannaceutical Society149, wo ein extremer Rückgang des Marktanteils ausländischer Produkte nachgewiesen werden konnte. 150 Damit werden nichtdiskriminierende und auch nicht im weiteren Sinne benachteiligende Vorschriften nur unter engen Voraussetzungen dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV unterstellt, nämlich wenn sie eine "schwere, nicht lediglich eine spürbare Behinderung" verursachen. 151 Ähnlich wie Generalanwalt Jacobs (unten V) fügt Van Gerven somit der späteren Keck-Lösung eine weitere Prüfungsstufe hinzu, jedoch in dem Sinne, daß die nach diesem Urteil als "Verkaufsmodalitäten" bezeichneten Vorschriften entgegen der dortigen Freistellung ausnahmsweise 152 146 EuGH, 11. 7. 1985, Cinhheque, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Slg. 1985,2605 und EuGH, 23. 2. 1988, "Kaffeeweißer", Rs. 216/84, Slg. 1988,793. 147 EuGH, 16.5.1989, Buet, Rs. 382/87, Slg. 1989, 1235. 148 EuGH, 17.5. 1988, Wamer Brothers 1Christiansen, Rs. 158/86, Slg. 1988,2605. 149 EuGH, 18.5. 1989, Royal Pharmaceutical Society, verb. Rs. 266/87 und 267/87, Slg. 1989,1295. 150 In EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3872 ff. Tz. 16 ff., insbesondere 3876 Tz. 21, 3877 f. Tz. 23 151 In EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3878 Tz. 24; vgl. auch 3884 Tz. 34: "ernsthaft erschwert" sowie die bereits zitierte "Verdrängung des größten Teils der eingeführten Erzeugnisse". 152 Vgl. Van Gerven, Columbia Journal of European Law 2 (1996), 217, 226 f. " ... only if it could be shown that they had, exceptionally, the effect of hindering the access ... " (Hervorhebung von mir).

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

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doch Art. 28 EGV unterfallen, wenn sie eine schwere Zugangsbehinderung darstellen (im Gegensatz zur Sichtweise lacobs', der für die Freistellung zusätzlich verlangt, daß keine spürbare Behinderung vorliegt). Darüber hinaus ist bemerkenswert, daß Van Gerven die "Benachteiligung" relativ weit versteht und offenkundig auch Regelungen über Werbung und andere Absatzförderungsmethoden darunter fallen läßt, wenn sie für einzuführende Produkte eine Anpassung dieser Methoden erforderlich machen. 153 In den späteren Verfahren zu Sonntagsregelungen hat Van Gerven, nachdem der Gerichtshof in Torfaen auf seine Vorschläge nicht eingegangen war, zunächst zwar noch auf diese verwiesen 154 und seine Kriterien der Durchdringung und Schwellenerhöhung zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung noch angesprochen l55 , später aber schien er zu resignieren und stützte sich nur noch auf die Formulierungen des Gerichtshofs selbst l56 . Nach Keck und Mithouard jedoch hat er in seinen Schlußanträgen zur Rechtssache 'f Heukske die Gelegenheit ergriffen, im Rahmen der Auslegung des KeckUrteils die Wichtigkeit seines Kriteriums des Marktzugangs erneut zu betonen und für das Verständnis der Keck-Differenzierung ganz in den Mittelpunkt zu rükken. 157 Danach sei bei den produktbezogenen Vorschriften eine ZugangsbeschränVgl. die Einbeziehung des Urteils Oosthoek's Uitgeversmaatschappij in Tz. 15. "Für den Fall, daß der Gerichtshof ... einen anderen Weg einschlagen" wolle (Schlußanträge in EuGH, 28. 2.1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991,1-997,1011 Tz. 6). 155 Schlußanträge in EuGH, 28. 2.1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991,1-997, 1011 Tz. 6, 1015 Tz. 12 (gleichzeitig Schlußanträge zu EuGH, 28. 2. 1991, Marchandise u. a., Rs. C-332/89, Sig. 1991,1-1027). 156 Schlußanträge in EuGH, 16. 12. 1992, Anders, Rs. C-306/88, Sig. 1992, 1-6457, 6470 ff. Tz. 13 ff. (gleichzeitig Schlußanträge zu EuGH, 16. 12. 1992, Payless DlYu. a., Rs. C-304/90, Sig. 1992, 1-6493 und EuGH, 16. 12. 1992, B&Q, Rs. C-169/91, Sig. 1992, 1-6635). Im Verfahren Keck und Mithouard selbst hat er in seinen zweiten Schlußanträgen ebenfalls noch einmal an seinen Vorschlag in Toifaen erinnert; angesichts der anderslautenden Rechtsprechung hat er seinem Entscheidungsvorschlag im folgenden jedoch die weite Dassonville-Formel zugrundegelegt, in EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993,1-6097,6121 Tz. 8. 157 Unter Hinweis auf Rdnr. 17 des Keck-Urteils, die nach seiner Ansicht selbst eine "Auslegung" (der vorhergehenden Urteilserwägungen) enthält, vgl. Tz. 20 seiner Schlußanträge in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92, Slg. 1994, 1-2199, 2214. Vorsichtiger hinsichtlich der Bedeutung dieser Aussage in Keck, doch weiterhin nachdrücklich für das Zugangskriterium und unter Hinweis auf die Unterstützung, die dieses durch das Urteil EuGH, 10.5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Sig. 1995,1-1141 erfahren habe, Van Gerven, Columbia Journal of European Law 2 (1996), 217, 230, insbes. Fn. 63. Auch GA Tesauro betont in seinen Schlußanträgen in EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Sig. 1997,1-3689 die Bedeutung des Marktzugangs, ebenfalls unter Hinweis auf Rdnr. 17 des Keck-Urteils sowie auf die Entscheidungen Alpine Investments und EuGH, 15. 12. 1995, Bosman, Rs. C-415/93, Sig. 1995,1-4921. Ähnlich auch GA Lenz in EuGH, 29. 6. 1995, "Babymilch", Rs. C-391 192, Sig. 1995, 1-1621, 1-1628 f., Tz. 13 ff. und GA Eimer EuGH, 23.10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Sig. 1997,1-5909,1-5931 ff., Tz. 57 ff. 153

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§ 3 ErkJärungsversuche

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kung quasi zu vermuten, da sie ihrer Art nach eine Anpassung in Hinblick auf die Einfuhr erforderlich machten, während ein solcher Zwang bei Regelungen über Absatzförderungsmethoden normalerweise nicht gegeben sei, weshalb diese grundsätzlich Art. 28 EGVentgingen, wenn nicht im konkreten Fall doch eine Beschränkung des Zugangs nachgewiesen werden kann. 158 Bei diesem Nachweis geht es in erster Linie darum, ob die Regelung nach der Herkunft entweder der Wirtschaftsteilnehmer oder der Produkte diskriminiert, wobei nach Van Gerven ein weiter Diskriminierungsbegriff anzuwenden ist, der jede zusätzliche Belastung umfaßt. 159 Van Gerven hält jedoch zumindest theoretisch auch darüber hinaus noch eine "andere" erhebliche Zugangsbehinderung für möglich, deren Nachweis dann auch zur Anwendung des Art. 28 EGV führen müßte. 160 Ähnliche Vorschläge finden sich mehrfach in der Literatur insbesondere nach Keck. 161 GA Leger sieht in den Schlußanträgen vom 5. 12. 2002 zu der noch anhängigen Rs. C-232/01, Van Lent, Tz. 14 und insbesondere Fn. 14 die Zugangsbeschränkung als das wesentliche in Keck entwickelte Kriterium, das mit Bosman und Graf auf Art. 39 übertragen worden sei. 158 In EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92, Sig. 1994,1-2199,1-2214 f., Tz. 20 f.; vgl. auch 1-2218 Fn. 53, wonach bei dieser Auslegung das Urteil für "andere als Produktvorschriften" im wesentlichen eine "Umkehrung der Beweislast" gebracht habe. Ähnlich auch Reich, ZIP 1993, 1815, 1818, der selbst aber wohl eine de minimis Prüfung vorziehen würde, siehe S. 1817. Den Begriff "Vermutung" verwendet auch Ehricke, WuW 1994, 108, 113, ohne allerdings inhaltlich damit eine einschränkende Auslegung der Keck-Entscheidung anzustreben. 159 In EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-40l/92 und C-402/92, Sig. 1994,1-2199,1-2215 ff., Tz. 21 ff. Dies entspricht den "sofern"-Voraussetzungen des Keck-Urteils in dessen Rdnr. 16: "sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren." 160 In EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-401l92 und C-402/92, Sig. 1994,1-2199,1-2218 Tz. 24, insbesondere Fn. 53. 161 Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 50 ff. (allerdings skeptischer gegenüber der Möglichkeit, Keck in diesem Sinne zu interpretieren); Chalmers, ELRev. 19 (1994), 385; Keßler, System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 206 ff., 255 ff., 260; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), 95 ff.; Steiner, CMLRev. 29 (1992), 749. Vgl. auch die Betonung des Marktzugangs bei Grabitz, in: FS lpsen (1977), 645; als "allgemeinen Rechtsgrundsatz" bezeichnet ihn Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht (1974), 49 f., 457. Unter Hervorhebung des Marktzugangs als maßgebliches Kriterium im wesentlichen der Keck-Entscheidung zustimmend (wenn auch in einer eher engen Interpretation) Becker, EuR 1994, 162, 173 f. Im Ergebnis sehr ähnlich wie Van Gervens ursprünglicher Vorschlag in Toifaen, aber in einer Formulierung, die gegenüber der Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 28 wesentlich skeptischer scheint, Müller-Graff, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 250. Insgesamt ist diese Ansicht (jedenfalls in ihrer ursprünglichen Formulierung durch Van Gerven in Toifaen) dem hier vertretenen Konzept sehr ähnlich. Hinsichtlich der zu erwartenden Ergebnisse für die verschiedenen Regelungskategorien kann auf die spätere Behandlung von Fallgruppen verwiesen werden (§ 4 111., § 5).

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

IV. Spezifische Beschränkung des zwischenstaatlichen Handels Andere Ansätze gehen ebenfalls von der Funktion des Art. 28 EGV für die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte zu einem europäischen Binnenmarkt aus und setzen dem die föderale Struktur der Gemeinschaft und den damit notwendig verbundenen Erhalt einzelstaatlicher Regelungsautonomie als zweites wesentliches Grundprinzip entgegen. 162 Es seien deshalb nicht alle mitgliedstaatlichen Regelungen, die negative Folgen für den Absatz eines in diesen Staat eingeführten Produkts haben können, an Art. 28 EGV zu messen, sondern nur solche, die eine spezifische Beschränkung des grenzüberschreitenden Handels bewirken. 163 Nicht spezifisch behindernde Regelungen brauchen hingegen nicht an Art. 28 EGV gemessen zu werden; sie sind ohne weiteres durch die den Einzelstaaten in einem föderalen System verbleibende Regelungskompetenz gerechtfertigt. 164 Der Begriff der spezifischen Beschränkung wird auf unterschiedliche Weise ausgefüllt: Steindorff bildet vier Gruppen, nämlich speziell gegen Einfuhren gerichtete Maßnahmen, gewerbliche Schutzrechte, doppelt auferlegte Belastungen und alle Qualitätsanforderungen an Waren, die bewirken, daß diese für jedes Bestimmungsland anders gestaltet werden müssen und damit die Vorteile der Massenproduktion verhindern. Nicht spezifisch behinderten hingegen etwa die vertragsrechtlichen Regelungen eines Staates l65 . Später hat er klargestellt, daß entsprechend den Qualitätsanforderungen an Waren auch Anforderungen an Werbung und Vertrieb unter gewissen Voraussetzungen zu einer Anpassung zwingen können, die eine Kontrolle anhand Art. 28 EGV rechtfertigt. 166 162 Zu diesem Spannungsverhältnis grundlegend Roth, Freier Warenverkehr (1977), insbes. 5 - 11; vgl. auch Steindorff, ZHR 148 (1984), 338, 344 ff. ("gleichgewichtiger Topos") und seinen Begriff des "Unvollkommenen Binnenmarkts", ZHR 158 (1994), 149, 160. Siehe dazu näher auch unten § 4 I. 163 Ackermann, RIW 1994, 189, 192 f.; Eilmansberger; JBI. 1995,345 und 434; Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 28 Rdnr. 8, 28, 30; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIWSymposion (1994), 21, 34 ff.; Roth, CMLRev. 31 (1994), 845, 853; Steindorff, ZHR 150 (1986),687,697 ff., (wo der Begriff wohl geprägt wurde); Steindorff, ZHR 148(1984),338, 344 ff. Ähnlich auch Classen, EWS 1995,97; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 68 ff.; Pe rau, Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht (1997), 127 ff., der darin aber keine wirkliche Einschränkung des eine Rechtfertigung erfordernden Anwendungsbereichs sehen will, sondern eine eigenständige Fallgruppe mit anderen Voraussetzungen für die Rechtfertigung; wie genau sich die "Unterausnahme" der Keck-Rechtsprechung (S. 128) dazu verhält, bleibt unklar. Den Begriff der spezifischen Beschränkung verwendet auch GA Reischi in EuGH, 31. 3.1982, Blesgenl Belgien, Rs. 75/81, Slg. 1982, 1211, 1235 ff., er füllt diesen jedoch mit einem weit verstandenen Diskriminierungsbegriff aus; ähnlich auch Grandpierre, Herkunftsprinzip und Marktortanknüpfung (1999), 37 ff., 43, 61. 164 Ackermann, RIW 1994, 189, 192 f.; Steindorff, ZHR 150 (1986), 687, 698; vgl. auch Leible, in: Grabitzl Hilf, Art. 28 Rdnr. 8. 165 Steindorff, ZHR 150 (1986), 687, 697 f. 166 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149, 163 ff.

§ 3 Erklärungsversuche

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Ackennann unterscheidet zwischen bloßen "Regelungskosten" und (Regelungs-)Unterschiedskosten: er nimmt eine spezifische Einfuhrbeschränkung dort an, wo sich die Belastungen (in Fonn von zusätzlichen Kosten) für die Einfuhr eines Produkts gerade daraus ergeben, daß unterschiedliche Regelungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehen. Soweit jedoch Kosten allein dadurch entstehen, daß der Einfuhrstaat überhaupt ein Regelung getroffen hat, unabhängig von Bestehen und Inhalt entsprechender Vorschriften in anderen Staaten, stellen diese keine spezifische Beschränkung dar, sondern sind unabdingbare Folge der föderalen Entscheidungsstruktur. 167 Die Differenzierung der Keck-Fonnel kann aus dieser Sicht so verstanden werden, daß bei Produktregelungen in der Regel unproblematisch eine spezifische Einfuhrbeschränkung im hier genannten Sinn vorliegt (da unterschiedliche Produktanforderungen zu Anpassungen und damit zusätzlichen [Unterschieds-] Kosten führen), während bei Verkaufsmodalitäten eine Vennutung für die Unbedenklichkeit besteht, die jedoch durch den begründeten Nachweis einer spezifischen Beschränkung (also einer Belastung aufgrund unterschiedlich geregelter Verkaufsmodalitäten) widerlegt werden kann. 168 Auch bei Roth spielt die Unterschiedlichkeit der Regelungen in den verschiedenen Staaten eine wesentliche Rolle bei der Bewertung der verschiedenen Fallgruppen. 169 Er will jedoch unabhängig davon auch solche Regelungen der vollen Kontrolle des Art. 28 EGV unterwerfen, die durch das Verbot bestimmter Methoden der Absatzförderung die Erschließung des Markts für neue Anbieter erschweren. 170

167 Ackennann, RIW 1994, 189, 193. Diese Unterscheidung von Regelungskosten und Regelungsunterschiedskosten scheint Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 45 völlig zu übersehen, wenn er sagt, dieser Ansatz stelle auf die Höhe der Kosten ab, und ihn deshalb als Spürbarkeitstest einordnet. Das erklärt auch, warum ihm "nicht wirklich klar" ist, was mit den eigentümlichen Wirkungen gemeint ist, als die bei Ackennann auf S. 194 ausdrücklich (nur) die Regelungskosten bezeichnet werden. Insgesamt ähnlich wie Ackennann auch Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 58 ff. Die Bedeutung von Regelungsunterschieden wird vielfach auch von anderen Autoren hervorgehoben, vgl. z. B. Classen, EWS 1995,97; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 68 ff.; KlaueT; Europäisierung des Privatrechts (1998), 95 ff.; Perau, Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht (1997),127; Steindorff, WRP 1993, 139, 141; Van Gerven (oben etwa bei Fn. 145); White CMLRev. 26 (1989) 235,246 und als Vertreter der Kommission EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851, Sitzungsbericht, 3862 f. Auf einen Kostenvergleich bzw. Anpassungskosten stellt z. B. auch Heennann, GRUR Int. 1999,579,584 ff. ab. 168 Ackennann, RIW 1994, 189, 193 f.; vgl. auch Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 28 Rdnr. 28; Reese, Grenzüberschreitende Werbung, 60. 169 Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 37 ff.; Roth, CMLRev. 31 (1994),845,853 f. 170 Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 39 f.; Roth, CMLRev. 31 (1994), 845, 854; nur für umfassende Werbeverbote, jedoch unter Ablehnung der Argumentation über einheitliche Werbestrategien Matthieslvon Borries, in: Grabitzl Hilf, Altband I, Art. 30 (alt) Rdnr. 30, 38.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Wie auch immer die "nicht spezifische Beschränkung" näher bestimmt wird, diskriminierende Regelungen müssen selbstverständlich in jedem Fall als den zwischenstaatlichen Handel spezifisch behindernd angesehen werden, auch wenn das nicht immer so deutlich gesagt wird. Der teleologische Ansatz der in dieser Gruppe zusammengefaßten Ansichten!7! wird auch hier den weiteren Überlegungen zugrunde gelegt. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dieser Argumentation und ihren Konsequenzen erfolgt daher unten § 4 I. und II., § 5.

v. Spürbarkeitserfordernis: de minimis non curat lex Ausgehend von der Feststellung, der "richtungs weisende Grundsatz" des Art. 28 EGV sei, daß alle Unternehmen, die eine rechtmäßige Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausüben, ungehinderten Zugang zum gesamten Markt der Gemeinschaft haben sollen, sieht Generalanwalt Jacohs das sachgerechte Prüfungskriterium für die 17! Am ehesten hier einzuordnen ist auch der Ansatz von Weyer, Freier Warenverkehr (1997): Zwar verwendet er den Begriff "spezifische Behinderung" in einern ganz anderen Sinn, nämlich als "spezifische Behinderung des Handels anderer Mitgliedstaaten", was der Diskriminierung entspricht und der erste Bereich ist, in dem die Anwendung von Art. 28 EGV seiner Ansicht nach gerechtfertigt ist. Ähnlich wie hier unter Betonung der Regelungskompetenzen der Einzelstaaten, allerdings sozusagen in umgekehrter Blickrichtung, kennzeichnet er die andere Gruppe von Art. 28 unterfallenden Regelungen durch einen "Eingriff in die Regelungskompetenz anderer Mitgliedstaaten", was in den Konstellationen des Herkunftsland- sowie des Einheitlichkeitsprinzips gegeben sei. Diese sind dadurch gekennzeichnet, daß eine einzelstaatliche Regelung Belange in einern anderen Staat mitregelt bzw. sich für die Wirtschaftsteilnehmer dort ein Zwang ergibt, die Regelungen dieses Staats mitzuberücksichtigen (vgl. nur die Zusammenfassung zum 3. Teil, S. 342 ff.). Das sind aber genau die Fälle, in denen spezifisch die Grenzüberschreitung im hier vertretenen Sinn betroffen ist, eine EG-weite Regelung der Frage mit diesem Inhalt anders wirken würde (vgl. dazu unten § 4 1., 11.). Generalanwalt Tesauros Schlußanträge in der Rechtssache Hünermund (siehe oben unter 11. 3.) könnten ebenfalls hier eingereiht werden, wenn er auch den Begriff der "spezifischen Beschränkung" nicht nennt und auch der Konflikt zwischen freiern Waren verkehr und föderaler Kompetenzverteilung nicht deutlich als Ausgangspunkt genommen wird. Sein Ergebnis, daß "Maßnahmen, die die Modalitäten der Ausübung der Handelstätigkeit betreffen, grundsätzlich als nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 fallend anzusehen sind, soweit sie keine Handelsregelung bezwecken, in keinem Zusammenhang mit der Unterschiedlichkeit ... der nationalen Rechtsvorschriften stehen und ... nicht so beschaffen sind, daß sie den Zugang zum Markt ... erschweren", stimmt auffallend mit den Formulierungen der hier dargestellten Meinungen überein. Vgl. auch noch GA La Pergola in EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000,1-151, 156 f. Tz. 9 (Keck wolle Art. 28 EGV auf den ursprünglichen Zweck der Vorschrift zurückführen, nämlich eine Regelung des Waren verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten; Art. 28 EGV könne im wesentlichen nur dann herangezogen werden, wenn "eine besondere Beeinträchtigung der Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten" vorliege [Hervorhebung im Original]); GA Lenz in EuGH, 5. 10. 1994, Kommission/ Frankreich, Rs. C-381 /93, Sig. 1994,1-5145,5156 Tz. 34 (zu einer "Konstante" aller Grundfreiheiten, vgl. Tz. 33).

§ 3 Erklärungsversuche

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Anwendung dieses Artikels darin, ob eine wesentliche Beschränkung dieses Zugangs vorliegt. 172 Er schränkt den Bereich, in dem diese Wesentlichkeitspriifung zum Zuge kommen soll, jedoch im folgenden im Interesse einer sicheren und nicht zu viele Maßnahmen ausschließenden Anwendung durch die nationalen Gerichte l73 stark ein: Zum einen seien offen diskriminierende Maßnahmen grundsätzlich verboten, unabhängig davon, wie geringfügig ihre Auswirkungen sind. 174 Zum anderen stellten produktbezogene Maßnahmen (die bestimmten, anderswo rechtmäßig vermarkteten Waren den Zugang zum Markt des Regelungsstaats ganz verwehren bzw. eine Veränderung dieser Waren dafür notwendig machen) als solche ein wesentliches Hindernis für den Marktzugang dar. 175 Die Spürbarkeitspriifung wird somit auf "Verkaufsmodalitäten" betreffende Regelungen (besser wäre: alle nicht-diskriminierenden, nicht-produktbezogenen Regelungen) beschränkt, deren Auswirkungen zwischen unbedeutend und Quasi-Verbot liegen könnten, so daß die de minimis-Priifung angebracht sei. 176 Dieser Test entspricht damit im Grundsatz dem der Keck-Entscheidung, nur daß für den Ausschluß der Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich als zusätzliche Voraussetzung verlangt wird, daß sie keine wesentliche Zugangsbeschränkung bedeuten. 177 Für die oben behandelten nicht diskriminierenden, nicht produktbezogenen Regelungen l78 ist anzunehmen, daß sie nach dieser Ansicht keine wesentliche Zugangs beschränkung darstellen würden. Die angesprochenen Regelungen über bestimmte Werbe- und Absatzmethoden 179 hingegen würden wahrscheinlich sehr wohl als wesentliche Beschränkungen angesehen werden, da dort entweder einheitliche Werbestrategien oder besonders gezielt einsetzbare Absatzmethoden auf dem Spiel standen. ISO Für die Entscheidungen über Regelungen, wer bestimmte 172 Schlußanträge in EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995, 1-179, 195 Tz. 41 f.; ähnlich Weatherill, CMLRev. 33 (1996), 885. Zustimmend auch Engel, JZ 1995,940,941. 173 In EuGH, 9.2.1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179,196 Tz. 42. 174 In EuGH, 9.2.1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179,196 Tz. 43. 175 In EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995, 1-179, 196 Tz. 44, wobei nicht ganz klar ist, ob die Formulierung "so kann vermutet werden" tatsächlich bedeuten soll, daß diese Vermutung im Einzelfall auch widerlegt werden kann; der Schlußsatz ("die Notwendigkeit, Waren zu verändern, stellt als solche ein wesentliches Hindernis für den Zugang zum Markt dar") spricht deutlich dagegen, ebenso die Aussage in Tz. 45 ("Durch das erstgenannte [Verbot in der Art von Cassis] wird unvermeidlich ein wesentliches Hindernis [ ... ] geschaffen ... "). 176 In EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179,196 f., Tz. 45. 177 GA Jaeobs zustimmend halten Todino / Lüder bei Regelungen, die nur allgemein die Tatigkeit der Wirtschaftsteilnehmer regeln, ein Wesentlichkeitskriterium für richtig, RMUE 1/1995,171,178. 178 § 1. 11. 179 Oben Fn. 39. 180 Vgl. die Ausführungen von GA Jacobs zur Bedeutung der Werbung im allgemeinen und zu unterschiedlich sensiblen Arten von Werberegelungen in EuGH, 9. 2. 1995, Leclere-

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Waren verkaufen darf, 181 fällt die Vorhersage hingegen schwer. Gleiches gilt für die nach Keck ergangenen Entscheidungen zu Werberegelungen einerseits und Regelungen darüber, in welcher Art von Geschäften bestimmte Produkte verkauft werden dürfen, andererseits. Ein Spürbarkeitstest bringt zwangsläufig einige Unsicherheiten mit sich. 182 Mit dem Absondern zunächst diskriminierender und sodann produktbezogener Regelungen, die beide in jedem Fall an Art. 28 EGV zu messen sind, und einer differenzierend abwägenden Behandlung der verbleibenden Regelungen kommt dieser Test der hier vorzuschlagenden Prüfung zwar sehr nahe. Die letztgenannte "Restgruppe" kann jedoch durch weitere Überlegungen noch verkleinert werden, und damit auch der unsichere Bereich der Abwägung, wie wesentlich eine Maßnahme den Marktzugang behindert. Überdies wird in diesen verbleibenden Fällen eine starke Vermutung für die Unbedenklichkeit sprechen, so daß nicht mehr ihre Unwesentlichkeit festgestellt werden muß, um die Unanwendbarkeit des Art. 28 EGV zu begründen, sondern umgekehrt nur bei Anzeichen dafür, daß die Regelung doch sehr wesentliche Behinderungen mit sich bringt, wird Art. 28 EGV doch anzuwenden sein. In dieser umgekehrten Argumentationsrichtung ist ein Wesentlichkeitskriterium m.E. wesentlich überzeugender anzuwenden. Andere Autoren formulieren pauschal, die Regelungen müßten geeignet sein, den zwischenstaatlichen Handel spürbar zu beeinträchtigen l83 , bloß hypothetische und spekulative Beeinträchtigungen reichten nicht aus l84 . Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179, 186 f. Tz. 19 ff., 198 ff. Tz. 50 ff. insbes. Tz. 53 und 54; siehe auch seine Schlußanträge in EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Slg. 1997,1-3843,3870 f. Tz. 96 ff. 181 Oben Fn. 39. 182 Vgl. nur die Anwendung des Tests durch GA Jacobs auf Keck selbst: "Wahrscheinlich keine wesentlichen Auswirkungen" (in EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179,197 f. Tz. 48). 183 Sack, EWS 1994, 37,45 (außerdem seien reine Inlandsfälle auszuscheiden, S. 37 u. 44); Sack, GRUR 1998,871,873; Sack, WRP 1998, 103, 116 ff.; Dubach, SZW/RSDA 1994,219,224 f. Uedoch kann danach der Anwendungsbereich auch dadurch eröffnet werden, daß die Maßnahme eine Behinderung des zwischenstaatlichen Handels bezweckt - in diesem Fall wird aber wohl immer gleichzeitig eine spürbare Behinderung gegeben sein. Spürbarkeit könne entweder absolut durch eine schwerwiegende Behinderung begründet werden oder aber relativ durch eine stärkere Beeinträchtigung importierter als heimischer Produkte, was einem Diskriminierungskriterium gleichkommt); vgl. auch Everling, EuR 1982, 301, 304 f. (zur Erklärung der Urteile Blesgen und Oebel); Fezer; JZ 1994, 317, 324 (zu Keck, wobei jedoch nicht ganz klar wird, ob ein solcher Test tatsächlich befürwortet oder nur für vertretbar gehalten wird); Oliver; Free Movement, 2. Auflage (1988), 6.44 ("rule of remoteness"), aufgegeben in 3. Auflage (1996), 6.49; D. Waelbroeck, CDE 19 (1983), (232) 241, 248 f. (der allerdings den de minimis-Test durch den Gerichtshof in Blesgen nur unter der Bedingung eingeführt sieht, daß die Maßnahme zumindest auf den ersten Blick ein legitimes Ziel verfolgt, so daß an sich doch eine - wenn auch sehr stark verkürzte - Rechtfertigungsprüfung vorgenommen wird, bei der die Verhältnismäßigkeitsprüfung völlig entfällt); für eine Spürbarkeitsschwelle von 5% EinfuhITÜckgang im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Chalmers, 1CLQ 42 (1993), 269, 293.

§ 3 Erklärungsversuche

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Solche "reinen" Spürbarkeitstests machen aufgrund der eher vagen Formulierungen Voraussagen über die Ergebnisse in konkreten Fällen sehr schwer. 185 Das ist auch schon das entscheidende Gegenargument l86 , denn gerade im Bereich der europarechtlichen Vorgaben des EuGH sollte die Rechtssicherheit eine besondere Rolle spielen: Es geht um die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte l87 . Die Vorgaben des EuGH sollten deswegen so präzise wie möglich sein. Daß letzten Endes immer eine Abwägung nötig ist, soll hier nicht bestritten werden. Wenn jedoch vor eine offene Abwägung mehrere schärfer umrissene Testfragen vorgeschaltet werden können, so wird dies der Rechtssicherheit dienlich sein. VI. "Binnenmarktvergleich"

Am Ziel der Errichtung des Binnenmarkts wollen auch Sack/Fasshold die Auslegung des Art. 28 EGV und damit die Begründung der EuGH-Rechtsprechung orientieren. Für die Feststellung, wann eine Maßnahme dem Binnenmarktkonzept widerspricht, schlagen sie den sogenannten "Binnenmarktvergleich" vor, mit dem geprüft werde, ob eine nationale Regelung den grenzüberschreitenden Warenverkehr anders beeinflusse, als das im Idealfall eines Binnenmarkts mit einheitlichen Regelungen der Fall wäre. Die Testfrage soll dabei sein, ob sich zugunsten des Absatzes importierter Waren im Regelungsstaat etwas ändern würde, wenn statt dessen eigener Regelung die entsprechende Vorschrift des Ausfuhrlands (als vereinheitlichte, für den ganzen Binnenmarkt geltende Regelung gedacht) gälte. 188 Bei produktbezogenen Regelungen soll das immer der Fall sein, wenn die Vorschriften des Importlands strenger sind als die des Herkunftslands. Bei Vermarktungsregelungen hingegen wird nochmals differenziert: produktbezogene Lauterkeitsregelungen seien Maßnahmen gleicher Wirkung, während bei nicht produktNur der Bezeichnung nach vertreten auch lestaedt / Kästle, EWS 1994, 26, 28 die Einführung einer Spürbarkeitsgrenze; tatsächlich schlagen sie ein Diskriminierungskriterium vor (so auch die Einordnung bei Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 42 Fn. 87). 184 Sack, EWS 1994,37,45; ähnlich auch Reich, ZIP 1993, 1815, 1817. Auch Schwintowski, RabelsZ 64 (2000), 38 könnte man hier zuordnen, wenn er z. B. Regelungen, die dazu führen, daß ein Produkt umetikettiert werden muß, dann nicht als "mengenmäßige Einfuhrbeschränkung" ansieht und Art. 28 EGV damit für nicht anwendbar hält, wenn aufgrund hoher Absatzzahlen die "economies of scale" dazu führen, daß "die Kosten für das Umetikettieren gegen Null tendieren", S. 49 f. 185 Vgl. nur Sack, EWS 1994,37,45: "Eine ganz andere, häufig damit vermengte Frage ist die nach dem Grad und der Feststellung der Spürbarkeit" - diese Frage wird auch dort nicht beantwortet. 186 Vgl. Z. B. auch Keßler, System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 22 ff.; aus "normtheoretischen Gründen" gegen einen solchen Test Schilling, EuR 1994, 50, 60 f. 187 Vgl. Z. B. Oliver; CMLRev. 36 (1999), 783, 793 ff., 799; Oliver; Free Movement of Goods (1996),15.02. 188 Sack/ Fasshold WRP 1987,519,520; Fasshold, Freier Warenverkehr (1986),29 f.

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

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bezogenen Vennarktungsregelungen anscheinend jeweils im Einzelfall die obige Testfrage beantwortet werden muß, tendenziell aber eher verneint wird. 189 Diese Auffassung begegnet vor allem einern grundsätzlichen Bedenken: Die vorgeschlagene Testfrage, die als Maßstab die europaweite Geltung der Regelung des Herkunftsstaats heranzieht, stellt nicht, wie in der abstrakten Fonnulierung des "Binnenmarktvergleichs" angekündigt wird, auf die Situation in einem Binnenmarkt ab, sondern auf die Situation nur in einern bestimmten Binnenmarkt, nämlich einern solchen mit der Rechtslage des Herkunftslands. 190 Damit wird in der Tat für ein "schrankenloses Ursprungsprinzip,,191 plädiert und für den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV - Rechtfertigungsmöglichkeiten werden zunächst außen vor gelassen - die weitest mögliche Interpretation gewählt, vor der letzten Endes bei konsequenter Anwendung dieses Tests auf Dauer nur die jeweils europaweit mildeste Regelung Bestand haben kann - es folgt das gefürchtete "race to the bottom,,192. Als wirklich ausschlaggebendes Kriterium bleibt allein die Frage, ob die Regelung Auswirkungen auf das Absatzvolumen hat oder haben kann. Dieser Test hat daher, auch wenn die Fonnulierung zunächst ähnlich klingt, nichts mit dem hier propagierten Test, ob eine EG-weit geltende Regelung gleichen Inhalts andere Auswirkungen hätte, 193 zu tun: Letzterer fragt nach den Folgen einer europaweiten Geltung der Importstaatregelung, mit dem Ziel, festzustellen, ob es nur um aus der Regelung als solcher folgende Belastungen geht, die bei einern entsprechenden Regelungsinhalt auch in einern einheitlichen Rechtsraum auftreten würden, oder ob es um gerade mit der Existenz unterschiedlicher Rechtsräume verknüpfte Handelsbehinderungen geht. Diese grundsätzliche Unzulänglichkeit zieht weitere Unstimmigkeiten nach sich: Zum einen stellt sich die Frage, weshalb (manche?) Vennarktungsregelungen keine Auswirkungen auf das Importvolumen haben sollen 194 - wenn dies etwa für Zugabe- und Rabattregelungen behauptet wird l95 , so kann das nach den obigen Sack/FassholdWRP 1987, 519, 520, 521 f. Das will zwar auch Fasshold, Freier Warenverkehr (1986),29 ff. gerade venneiden. Es ist aber nicht ersichtlich, wie das mit dem vorgeschlagenen dreischrittigen Vergleich (S. 30) gelingen soll. Wenn etwa auf S. 33 festgestellt wird, bei einer längeren Ladenöffnungszeit (entsprechend der Regelung des Herkunftsstaats) ändere sich zugunsten des Absatzes von Einfuhrwaren nichts, so kann das nur so zu verstehen sein, daß sich für diese kein Vorteil gegenüber den Inlandswaren ergibt. Bei konsequenter Anwendung des Tests ist das aber auch bei der S. 31 f. untersuchten Regelung über den Alkoholgehalt so - bei Geltung der Herkunftsstaatregelung würde sich auch hier nicht nur zugunsten des Absatzes der eingeführten Produkte, sondern auch der inländischen etwas ändern. (Es bleibt überdies unerfindlich, warum auf S. 33 letzter Absatz der Test auf einmal andersherum fonnuliert wird.) \9\ Vgl. die Kritik bei Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 47. \92 Vgl. z. B. Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 52 ff.; Maduro, EU 3 (1997), 55, 59 Fn. 18. \93 Siehe unten § 4 11. \94 So auch Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 47. \95 Sack/FassholdWRP 1987,519,522. 189

\90

§ 3 Erklärungsversuche

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Überlegungen nur bedeuten, daß derartige Werbernaßnahmen tatsächlich als Kaufanreiz gar nicht funktionieren, denn sonst müßten strengere Regelungen oder gar Verbote derselben zu einem niedrigeren Absatzvolumen führen. Zum anderen ist gerade in den kritischen Fällen die Frage, ob die staatliche Regelung zu einem Rückgang des Absatzvolumens führt, oft schwer zu beantworten. 196

VII. Festhalten am klassischen Konzept; Ausscheiden nur von reinen Inlandsfallen Schließlich wollen einige Autoren, am nachdrücklichsten Gormley, am klassischen Konzept von Dassonville festhalten und den Anwendungsbereich von Art. 28 EGV weit auslegen. Dadurch soll verhindert werden, daß nationale Maßnahmen von vornherein der Überprüfung in Hinblick auf eine Gefährdung des Binnenmarkts entgehen und nur auf den ersten Blick ungefährlich scheinende Maßnahmen durch die Hintertür doch zu einer Marktaufspaltung führen. Legitime Regelungsziele der nationalen Gesetzgeber sollen in aller Regel nur im Rahmen der Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses oder durch Art. 30 EGV berücksichtigt werden. 197 Lediglich in rein nationalen Fällen, in denen es nur um die Regelung der innerstaatlichen gesellschaftlichen Ordnung, sogenannte "police powers"-Fälle geht (im Unterschied zu "commercial regulation "), kann es danach gerechtfertigt sein, eine Prüfung anhand Art. 28 EGV von vornherein abzulehnen. 198 Als ein solches Ausscheiden Vgl. Keßler; System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 30. Dörr; RabelsZ 54 (1990), 677, insbes. 689 ff.; Gonnley, YEL 9 (1989), 197, 208; Gonnley, CMLRev. 27 (1990), 141, 149 f.; Gonnley, CMLRev. 27 (1990), 825, 857; Gonnley, EBLR 5 (1994), 63; Gonnley, Fordham Int'! LJ. 19 (1996), 866, 886; Idot, CMLRev. 33 (1996), 113, 121; Mattera, RMUE 1/ 1994, 117, 159; Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34, 73, vgl. auch Müller-Graff, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlennann, Art. 30 Rdnr. 250; Niemöller; Das Verbraucherleitbild (1999),151 ff.; vgl. auch Ress, EuZW 1993,745; Solbach, Staatliche Regelungen von Verkaufsmodalitäten (1996), 183 f., 246, 255 ff. Gegen eine formalisierte Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 28 EGV sprechen sich im Ergebnis auch Schilling, EuR 1994,50,60 ff. und Wils, ELRev. 18 (1993), 475 aus; sie versuchen statt dessen, unterschiedliche Gewichtungen in der Rechtsprechung durch eine Unterscheidung von "Regelkern" und "Begriffshof' (Schilling) oder durch eine Formel, die den Zusammenhang zwischen zunehmendem Integrationsgrad, Auswirkungen der Maßnahme und gemeinschaftsrechtlicher Bewertung der nationalen Regelung ausdrücken soll (Wils), zu erklären. Selbst die Rechtfertigungsmöglichkeit durch zwingende Erfordernisse hält Schwintowski, Rabe1sZ 64 (2000), 38 noch für eine zu weitgehende Einschränkung des Art. 28 EGY. 198 Gonnley, Prohibiting Restrictions (1985), 251 ff. (In den dortigen Überlegungen kommt die Begrenzung auf rein nationale Fälle nicht deutlich zum Ausdruck; auch ist nicht klar, welche Art Maßnahmen außer den genannten Fällen Blesgen und Oebel mit dem Begriff "police powers" erfaßt werden sollen. Gonnleys spätere Äußerungen dazu legen jedoch diese Beschränkung auf innerstaatliche Fälle nahe und machen es damit einfacher, diese Passage mit den sonstigen Aussagen zur Behandlung unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen etwa 196

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

von Fällen ohne jede Auslandsbeziehung wird dann teilweise auch die Keck-Entscheidung verstanden. 199 Insbesondere aufgrund der genannten Einschränkung und der eher großzügigen Anerkennung der Rechtfertigung nationaler Maßnahmen läßt sich diese Ansicht im Endergebnis mit den meisten abweichenden Entscheidungen vor Keck vereinbaren. Der Ausschluß bestimmter Arten von Maßnahmen aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV über die rein nationalen Fälle hinaus durch Keck und die Folgerechtsprechung wird jedoch entschieden abgelehnt, wenn sich auch im Einzelfall die Endergebnisse oft kaum unterscheiden werden. 2OO

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung - Dogmatischer Hintergrund und übertragbare Prinzipien I. Der Konflikt zwischen Binnenmarktziel und föderaler Kompetenzverteilung als dogmatischer Ausgangspunkt

Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, inwieweit mitgliedstaatliche Regelungen anhand der Art. 28 und 30 EGV zu kontrollieren sind und ob es Bereiche gibt, in denen eine solche EG-rechtliche Kontrolle ausgeschlossen ist, kann nur in der Funktion dieser Vorschriften innerhalb des Gesamtsystems der EG gesucht werden?OI Entscheidend für das Verständnis der Vorschriften ist das Spannungsauf S. 262 ff., 265 f. zu vereinbaren.); Gonnley, YEL 9 (1989), 197, 199 f. ("scarcely the most tenuous link with intra-Community trade"); Gonnley, CMLRev. 27 (1990), 141, 150 "genuine inter-state element"; Gonnley, EBLR 5 (1994), 63, 66; Gonnley, Fordham Int'1 L.J. 19 (1996), 866, 867, 871 - Fn. 22 zeigt jedoch ebenso wie Prohibiting Restrietions, 55, daß er auch in den "police-powers"-Fällen eine Lösung über die Rechtfertigung der Maßnahme vorziehen würde, die Rechtsprechung des EuGH jedoch mit dieser Überlegung für erklärbar hält. Vgl. auch Müller-Graff, in: vdGroebenI Thiesing I Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 250; Sack, EWS 1994, 37,44. Vielfach wird dabei bedauert, daß Keck nicht anhand dieses Kriteriums zurückgewiesen wurde, etwa Gonnley, Fordham Int'1 L.J. 19 (1996), 866, 867; Sack, EWS 1994,37 und 44 f. Die Anwendung des Art. 28 EGV auf reine Inlandsfälle mit (nur) inländischen Waren, inländischen Händlern etc. lehnt z. B. auch GA Van Gerven in EuGH, 28. 2. 1991, Conforama u. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991, 1-997, 1010 Tz. 5 und EuGH, 16. 12. 1992, Anders, Rs. C-306/88, Slg. 1992, 1-6457, 6485 Tz. 34, sowie in EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993,1-6097,6113 Tz. 5 ab; zur Vorsicht mahnt jedoch etwa wegen der Schwierigkeit, für verschiedene Bestandteile einer Ware deren Herkunft zu ermitteln, GA Eimer in EuGH, 30. 4. 1996, CIA Security International, Rs. C-194/94, Slg. 1996,1-2201,2213 f. Tz. 28. 199 Basedow, EuZW 1994, 225; bemerkenswert erscheint, daß die Unterscheidung zwischen Verkaufsmodalitäten und produktbezogenen Regelungen in dieser Stellungnahme nicht einmal erwähnt wird. 200 Vgl. Gonnley, Fordham Int'l L.I. 19 (1996), 866, 885.

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck '-Rechtsprechung

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verhältnis zwischen zwei grundlegenden Prinzipien dieses Systems, dessen Ausgleich die Art. 28 ff. EGV im Bereich des Warenverkehrs dienen?02 Einerseits ist grundsätzlich ein föderales System mit dem Prinzip der bürgernahen Entscheidung unter anderem in Art. 5 EGV, Art. lAbs. 2 EUV und der 12. 201 Wenn damit sogleich mit einer systematisch-teleologischen Interpretation begonnen wird, mag das vor dem Hintergrund des klassischen Auslegungskanons ungewöhnlich erscheinen. Vergleicht man aber andere Äußerungen zur Warenverkehrsfreiheit, so entspricht dieses Vorgehen der Regel. Das läßt sich auch leicht erklären: Die grammatikalische Auslegung hilft angesichts des knappen und wenig aussagekräftigen Wortlauts des Art. 28 EGV wenig weiter (vgl. aber die Überlegungen bei Fasshold, Freier Warenverkehr (1986), 22 ff.; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 17 ff.). Und die historische Auslegung spielt im Bereich des primären EG-Rechts generell keine große Rolle, da kaum verläßliche Materialien vorliegen (insbesondere der Spaak-Bericht zu den GTÜndungsverhandlungen erwähnt die Maßnahmen gleicher Wirkung nicht, vgl. dazu auch Fasshold, Freier Warenverkehr (1986), 25 - daraus wie Schwintowski, RabelsZ 64 (2000), 38, 46 ableiten zu wollen, die historische Auslegung spreche gegen eine Einschränkung entsprechend der KeckRechtsprechung, erscheint mehr als gewagt) und die Gemeinschaft außerdem sehr stark auf einer ständigen Weiterentwicklung beruht, so daß damalige Äußerungen und auch mögliche Rückgriffe auf Vorläufer wie das GATT heute ohnehin nicht mehr als Maßstab dienen könnten (vgl. dazu nur die eigene Dynamik, die Fragen wie die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten oder auch die Ausweitung zu Beschränkungsverboten insbesondere in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entfaltet haben). Vgl. dazu Bleckmann, NJW 1982, 1177 ff., 1178; Fasshold, Freier Warenverkehr (1986),25; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot (1999), 28 f.; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 22 (der außerdem den Kompromißcharakter völkerrechtlicher Verträge betont, der eine Bezugnahme auf einzelne Aussagen verbiete); Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573, 2574; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit (2000), 381; Schnichels, Reichweite der Niederlassungsfreiheit (1995), 128; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts (1993), 53 f. Zum Ganzen auch Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen (1995),81 f. 202 Dazu insbesondere Roth, Freier Waren verkehr (1977), 9 ff. Vgl. auch Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse (1997), 56; Bemard, ICLQ 45 (1996), 82; Ehlermann, in: FS lpsen (1977), 579; Fezer, JZ 1994, 317, 326 ("praktische Konkordanz", mitgliedstaatlicher Beurteilungsspielraum begrenzt durch Binnenmarktziel); Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 22, 54, 57, 59, 68; Joerges, in: Jachtenjuchs/ Kohler-Koch, Europäische Integration (1996), 73, 99; Joerges, in: Brüggemeier, Verfassungen für ein ziviles Europa (1994), 91, 117; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten (1999), 90 ff.; Roth, in: Andenas/ Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002),1,7 f.; SnelllAndenas, in: Andenasl Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 69, 82 ff. Vgl. auch die Formulierung bei GA Tesauro, in EuGH, 19.3. 1991, Frankreich/ Kommission ("EndgeräteH), Rs. C-202/88, Slg. 1991, 1-1223, 1243 Tz. 11 zweiter Absatz am Anfang: " ... daß dem gesamten Gemeinschaftsprojekt ... ein grundlegender Widerspruch innewohnt zwischen dem punktuell vorgesehenen Ziel eines Gemeinsamen Marktes und eines Systems freien Wettbewerbs einerseits und der Aufrechterhaltung der wirtschaftspolitischen Entscheidungsbefugnisse der Mitgliedstaaten außer im Fall von Koordinierungen andererseits." Vgl. als Gegenbeispiel die einseitige Betonung des Binnenmarktprinzips bei Schwintowski, RabelsZ 64 (2000), 38, die sogar zur Ablehnung der Rechtfertigungsmöglichkeit staatlicher Maßnahmen durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses führt - dementsprechend fehle es "bisher überhaupt an einer vertragszieladäquaten Interpretation von Art. 30 (28 neu) EGV" (S. 47).

5 Feiden

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Erwägung der Präambel zum EUV für die gesamte Union festgeschrieben, und damit keine vollständige Rechtseinheit gewollt. 203 Die Mitgliedstaaten behalten auch auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts ihre Regelungskompetenzen, sofern keine Gemeinschaftsregelung des jeweiligen Sachbereichs vorliegt. Andererseits ist es ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft, einen Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt204 zu errichten, in dem (u. a.) der freie Verkehr von Waren gewährleistet ist, Art. 2, 3 Abs. 1 c), 14 EGV. 205 Ein freier Verkehr der Waren allein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist aber optimal nur dann gewährleistet, wenn keine zusätzlichen Faktoren die Verteilung beeinflussen. Unterschiede in den rechtlichen Ordnungen der (Teil-)Märkte, wie sie ein föderales System zwangsläufig mit sich bringt, sind solche Faktoren und stehen damit einem "vollkommenen" Binnenmarkt entgegen?06 Diese Unvollkommenheit ist insoweit gewollt, wie die rechtliche Infrastruktur eines Staates als ein Parameter unter vielen die Entscheidungen von Marktteilnehmern, Waren in diesem Staat zu handeln, mit beeinflußt. Aus der Vogelperspektive betrachtet bedeutet dies, daß die Verteilung der Warenströme in der EG durch unterschiedliche Regelungsniveaus in den einzelnen Staaten gelenkt werden kann: Besonders "liberale" Regelungen in einem Staat mögen dazu führen, daß Wirtschaftsteilnehmer ihre Ware bevorzugt dort absetzen (oder auch, z. B. bei "bequemeren" Ladenöffnungszeiten, erwerben) werden und ihr Angebot (bzw. ihre Nachfrage) in anderen Staaten dadurch sinkt. Diese Konkurrenz der Rechtsordnungen ist die logische und gewollte Folge eines föderalen Systems. 20? Soll sie in einzelnen Bereichen ausgeschlossen werden, so muß die Materie durch eine Gemeinschaftsregelung vereinheitlicht oder angeglichen werden?08 Problematisch vor dem Hintergrund der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes sind jedoch solche Regelungen, die gerade die freie Verteilung in diesem System durch eine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung behindern. Das ist der Fall, wenn für die Entscheidung eines Wirtschaftsteilnehmers, mit einem Produkt "über die Grenze zu gehen", nicht nur die Bedingungen einschließlich insbesondere des rechtlichen Regelungsniveaus des Zielmarkts ausschlaggebend sind, son203 Zu den Vorzügen föderaler Entscheidungssysteme vgl. Ackermann, RlW 1994, 189, 192; Roth, Freier Warenverkehr (1977), 7 ff.; Snell / Andenas, in: Andenas / Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 69, 85 ff. 204 Zum Unterschied zwischen Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt vgl. etwa Bardenhewer/Pipkorn, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 7a Rdnr. 10 f.; Dauses, EuZW 1990, 8, 9 ff.; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindemden Maßnahmen (1997), 49 ff.; Müller-Graf!, EuR 1989, 122 ff. 205 Zu den wirtschaftlichen Vorteilen des freien Warenverkehrs vgl. Müller-Graf!, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 4 (dort auch zu politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen); Roth, Freier Warenverkehr (1977), 5 ff. 206 Vgl. Ackermann, RlW 1994, 189, 192; Roth, Freier Warenverkehr (1977), 9. 207 Vgl. auch Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 255 ff., 343. 208 Vgl. loliet, GRUR lnt 1994,979,987.

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dem sich gerade aus der Grenzüberschreitung, aus der Herkunft 209 aus einem anderen Markt, Probleme ergeben. Solche Regelungen bedürfen zur Sicherung des freien Waren verkehrs der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle. Eben dieser Kontrolle dient das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen sowie der Maßnahmen gleicher Wirkung der Art. 28 und 30 EGY. Für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage, auf welche mitgliedstaatlichen Regelungen diese anwendbar sind bzw. wann eine solche Kontrolle ausgeschlossen ist, läßt sich daher folgendes festhalten: Staatliche Maßnahmen, deren Einfluß auf den innergemeinschaftlichen Handel lediglich darin besteht, daß sie den jeweiligen Markt selbst für die Wirtschaftsteilnehmer mehr oder weniger attraktiv machen, sind direkte Konsequenz der Regelungsautonomie der Mitgliedstaaten und folglich im Grundsatz nicht zu beanstanden, sondern im Rahmen einer föderalen Wirtschaftsgemeinschaft sogar erwünscht. Selbst wenn sie unvernünftig erscheinen, sind solche Regelungen einer Kontrolle durch den Gerichtshof entzogen. 210 Eine zu weite Auslegung der Warenverkehrsfreiheit, die solche Regelungen mit einbezieht, würde die Aufgabenverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zugunsten der ersteren verschieben und damit den föderalen Charakter gefährden. 211 Sobald es jedoch gerade der Grenzübertritt ist, der durch die fragliche Maßnahme weniger attraktiv gemacht wird, wird die freie Wahl, sich auf einen Markt mit einem bestimmten wirtschaftlichen Profil samt seiner rechtlichen Ordnung zu begeben oder nicht, beeinträchtigt. Hier setzt das Ziel eines Gemeinsamen Markts der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten eine Grenze und verlangt eine Kontrolle ihrer Regelungen; Art. 28 und 30 EGV sind anzuwenden. 209 Weyer, freier Warenverkehr (1997), 139 ff. weist zu Recht darauf hin, daß zwischen den Begriffen "Herkunft" und "Ursprung" oft nicht hinreichend unterschieden wird bzw. nicht klar ist, ob damit unterschiedliche Konstellationen erfaßt werden sollen. Ebenso sei oft von einheimischen Erzeugnissen die Rede, wenn es richtigerweise um den inländischen Handel gehen müsse (S. 163 f.). Wie schwer eine solche sprachliche Genauigkeit durchzuhalten ist, zeigt sich schon daran, daß Weyer selbst z. B. auf S. 159 vor Fn. 61 inländische (und nicht "im inländischen Handel befindliche") und eingeführte Erzeugnisse gegenüberstellt. "Herkunft" jedenfalls soll hier wie bei Weyer so verstanden werden, daß damit eingeführte Erzeugnisse erfaßt werden unabhängig davon, wo sie hergestellt worden sind, also etwa auch Reimporte und Paralleleinfuhren. Dies erscheint auch im Hinblick auf die (wichtigere) inhaltliche Aussage stimmig, daß es für das sogenannte "Herkunftslandprinzip" nicht zwingend auf die Vorschriften des Herstellungslands ankommt, sondern auch die eines anderen Staats, wo das Produkt bereits vertrieben wird, relevant sein können (vgl. unten bei Fn. 214). 210 Dies sind die Regelungen über die White sagt "Member States can safely be allowed to take divergent paths without endangering this objective [i.e. establishment of the Common Market]", CMLRev. 26 (1989), 235, 242. Vgl. auch Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994),59. 211 Vgl. zu diesem allgemeinen "Strukturproblem der Gemeinschaft" Roth, in: GS Knobbe-Keuk (1997), 729, 736 f.; dort auch zu dem weiteren durch eine solche Auslegung berührten Problem der Rollenverteilung zwischen (Gemeinschafts-)ludikative und Legislative; außerdem Bemard, ICLQ 45 (1996), 82; Everling, DB 1990, 1853, 1858.

5*

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Für diesen Bereich beansprucht das sogenannte Herkunftslandprinzip212 Geltung: Produkte, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig gehandelt werden, müssen grundsätzlich auch Zugang zu den Märkten aller anderen Mitgliedstaaten haben. 213 Produkte können damit dort hergestellt werden, wo das gesamte rechtliche und wirtschaftliche Umfeld dem jeweiligen Wirtschaftsteilnehmer am günstigsten erscheint. In der Gestalt und Prägung, die sie durch dieses Umfeld entweder des Herstellungsstaats oder auch desjenigen Staats, in dem sie zuerst in Verkehr gebracht werden (was nicht notwendig der Herstellungsstaat sein muß 214 ), erhalten haben, sollen sie in der gesamten Gemeinschaft verkehrsfähig sein und damit Zugang zu 212 Die "Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit dem Herkunftslandprinzip" ist nur dann "loser Eurojargon" (vgl. von Wilmowsky, RabelsZ 62 (1998), 1, Il ff., insbes. Fn. 30), wenn man dieses Prinzip denkbar schlicht in dem Sinne versteht, daß grundsätzlich das Recht des Herkunftsstaates Anwendung finde. Das ist hier jedoch nicht gemeint. .. Herkunftslandprinzip" fungiert lediglich als Schlagwort, als Kurzformel für die sogleich im Text darzulegenden Erwägungen, nämlich insbesondere den für alle Grundfreiheiten (jedenfalls in ihrer Ausprägung als "Import"-Freiheiten) entscheidenden Gedanken, daß der Zutritt für Waren, Leistungen, Personen und Kapital zu allen Märkten der Gemeinschaft in der Prägung möglich sein soll, die sie in ihrem Herkunftsstaat erfahren haben. Damit ist keine grundsätzliche Kompetenzzuweisung an den Herkunftsstaat verbunden (so auch Roth, ZHR 159 (1995),78, 91; von Wilmowsky, RabelsZ 62 (1998), 1, Il ff.; vgl. auch EuGH, 13. 5. 1997, Deutschland/ Parlament und Rat, Rs. C-233/94, Slg. 1997,1-2405,2463 f. Rdnr. 64, dazu, daß die Herkunftslandkontrolle nicht primärrechtlich vorgeschrieben ist [wohl aber sekundärrechtlich vorgesehen werden kann]; gegen das Herkunftsprinzip als Kollisionsnorm auch Grandpierre, Herkunftsprinzip kontra Marktortanknüpfung (1999), 183 ff.). Darüberhinaus wird auch die so verstandene Geltung des "Herkunftslandprinzips" hier zum einen dadurch beschränkt, daß es eben nur den spezifisch den Grenzübertritt behindernden Regelungen Grenzen zu setzen vermag (vgl. bei Fn. 218), und zum anderen repräsentiert es auch innerhalb dieses Bereichs nur die Regel des freien Waren verkehrs, von der Ausnahmen im Wege der Rechtfertigung möglich sind. 213 Vgl. EuGH, 20. 2.1979, "Cassis de Dijon", Rs. 120/78, Slg. 1979,649,664 Rdnr. 14. Als Hintergrund dieses Prinzips kann man die Anerkennung ansehen, daß alle Mitgliedstaaten mit ihren Rechtsordnungen in den wesentlichen Fragen gleiche Interessen verfolgen und diese Rechtsordnungen dadurch grundsätzlich gleichwertig sind. In gegenseitigem Vertrauen soll daher die Entscheidung eines Mitgliedstaats, ein Produkt in seiner konkreten Ausprägung zum Verkehr zuzulassen, grundsätzlich von allen Mitgliedstaaten akzeptiert werden - in der Annahme, daß ihre legitimen Interessen, da sie denen des regelnden Staats entsprechen, bei dessen Entscheidung sozusagen mitberücksichtigt worden sind. Vgl. dazu Chalmers, ICLQ 42 (1993), 269, 281; Drasch, Herkunftslandprinzip (1997), 206 ("schutzäquivalente Bestimmungen"); Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 Rdnr. 26; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1299; Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 59. Sozusagen als die Kehrseite dieser Medaille will Maduro, We, the Court (1998), 169 ff. Art. 28 EGVals Instrument verstehen, das gerade diese Berücksichtigung der Interessen der Bürger anderer Mitgliedstaaten im politischen Entscheidungsprozeß eines Staats sicherstellt; siehe auch Maduro, ELJ 3 (1997),55,72 f., 76 und lrish Journal of European Law 1 (1994),30,41 ff.; vgl. dazu auch Joerges, EU 3 (1997), 378, 390. 214 Vgl. Chalmers, ELRev. 19 (1994), 385, 396; Drasch, Herkunftslandprinzip (1997), 205; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 38 Fn. 112. Vgl. auch Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 311, 324, allerdings von seinem etwas abweichenden Ansatz des Eingriffs in die Regelungskompetenz anderer Mitgliedstaaten aus und unter Unterscheidung von Herkunftsland- und Einheitlichkeitsprinzip.

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung

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jedem nationalen Markt haben?15 Dabei kommt es entgegen manchen Stimmen216 ganz entscheidend darauf an, daß das Produkt im Herkunftsstaat rechtmäßig produziert oder in Verkehr gebracht worden ist: Ohne eine solche positive Einordnung durch dessen Rechtsordnung fehlt es gerade an einer das Produkt zulassenden Entscheidung des Herkunftsstaats, deren Anerkennung durch die anderen Mitgliedstaaten erst die Grundlage für das Herkunftslandprinzip bildet. 217 215 Zum Herkunftslandprinzip bzw. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im wesentlichen so wie hier z. B. auch Bangemann, EuZW 1993,7; Behrens, EuR 1992, 145, 156 f.; Chalmers, ELRev. 19 (1994), 385, 396, 402; Chalmers, ICLQ 42 (1993), 269, 281; Drasch, Das Herkunftslandprinzip (1997), insbes. 205 ff. mit vielen weiteren Nachweisen; MüllerGraff, in: vdGroebenlThiesinglEhlermann, Art. 30 Rdnr. 190 f.; Roth, RabelsZ 55 (1991), 623,664 f.; Steindorff, ZHR 150 (1986), 687, 689, 697 f. (von dem der Begriff zu stammen scheint); Steindorff, ZHR 158 (1994),149,163. Zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung auch GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5930 Tz. 53; GA Van Gerven in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92, Slg. 1994,1-2199, 2214 f. Tz. 20, der dabei vor allem die wesentliche Bedeutung des Marktzugangs betont. Zu letzterem auch GA Van Gerven in EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851,3874 ff. Tz. 17 ff.; GA Jacobs in EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179,195 f. Tz. 40 ff. 216 Barents, CMLRev. 18 (1981), 271, 291 ff.; Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 28 Rdnr. 23; Matthies Ivon Borries, in: Grabitzl Hilf, Altband I, Art. 30 (alt) Rdnr. 23; Müller-Graff, in: vdGroebenlThiesing I Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 67 ff., vgl. auch Rdnr. 190, 235; ähnlich auch Hatzopoulos, CMLRev. 32 (1995), 841, 847. Richtig ist daran allerdings, daß nicht Herstellung und in Verkehr bringen in demselben Staat erforderlich sind. Für Zwecke des Herkunftslandprinzips genügt es, daß die genannte Interessenabwägung, die positive Entscheidung über die "Zulassung" eines Produkts zum Markt in einem Staat erfolgt ist. Dafür reicht es (z. B. im Fall von Drittlandwaren) aus, daß ein Produkt in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden ist. Die rechtmäßige Herstellung dagegen gewinnt dann Bedeutung, wenn das Produkt noch gar nicht in einem Mitgliedstaat in Verkehr gebracht worden ist. Richtig müßte also formuliert werden, daß ein Produkt nur dann aufgrund des Herkunftslandprinzips (von Rechtfertigungsmöglichkeiten abgesehen) Zugang zu allen Märkten der Gemeinschaft beanspruchen kann, wenn es entweder in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden ist, oder wenn es in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden ist und dort auch verkehrsfahig ist (letzteres, um reinen Exportproduktionen, die der Produktionsstaat ja ohne nähere Prüfung zulassen wollen mag, nicht ohne dieses positive Unbedenklichkeits-"Zertifikat" den Zugang zu garantieren). Wie hier Grandpierre, Herkunftsprinzip kontra Marktortanknüpfung (1999), 59 f., der auch darauf hinweist, daß die hier kritisierte Ansicht sich insofern nicht von der hier vertretenen unterscheidet, als sie nicht rechtmäßig im Herkunftsland produzierte oder vertriebene Waren nicht großzügiger behandeln will als die rechtmäßigen (57 ff.). Dafür ist aber gerade keine Rechtfertigung anhand des Allgemeininteresses, also eine Anwendung dieser Aussage der Cassis-Rechtsprechung, erforderlich, sondern auf solche Produkte ist das Recht des Bestimmungsstaates mangels Konflikt mit einer anderen Rechtsordnung bzw. spezifischer Belastung der Grenzüberschreitung von vornherein anwendbar, ohne daß eine Kontrolle anhand des Art. 28 EGV erfolgen würde (insofern ist schon die erste Aussage von Cassis, die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit auf unterschiedslos anwendbare Regelungen, in solchen Fällen nicht einschlägig, so daß sich die Frage nach der Rechtfertigung nicht stellt). 217 So auch Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 37 f.; Roth, CMLRev. 30 (1993),145,152 f.; SnelllAndenas, in: Andenas/Roth, Services

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Da das Herkunftslandprinzip den von einem Mitgliedstaat akzeptierten Produkten den Zugang zu allen anderen Märkten sichern will, steht es den Regelungen, die spezifisch den Grenzübertritt behindern, entgegen. Es trifft jedoch keine Aussage zu den Rahmenbedingungen, die für die weiteren Abläufe innerhalb eines Importmarktes gelten, jenen Regelungen, die diesen Markt im oben beschriebenen Sinn mehr oder weniger attraktiv machen. 218 Das so beschriebene Herkunftslandprinzip in seinem vollen Ausmaß entspricht allerdings - auch in seiner im eben erläuterten Sinne begrenzten Aussagekraft nur der Regel des freien Warenverkehrs. Kann ein Mitgliedstaat in einem konkreten Fall ein abweichendes, aber dennoch legitimes Interesse geltend machen, so kommen ihm die Ausnahmen des Art. 30 EGV und der Rechtsprechung zu den zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses zugute. Die hier erläuterte abstrakte Weichenstellung anhand der teleologischen Funktion gilt es im folgenden zu handhabbaren Kriterien zu konkretisieren. 11. Kriterien zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs

Eine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung ist in verschiedenen Abstufungen denkbar. 1. Spezifische Belastung der Grenzüberschreitung ergibt sich aus der Natur der Maßnahme

Ohne weiteres läßt sich eine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung feststellen, wenn die staatliche Maßnahme unmittelbar an den Vorgang der Grenzüberschreitung bzw. der Einfuhr anknüpft. 219 In diesen Fällen bedarf es für die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV keiner weiteren Überlegungen. and Free Movement in EU Law (2002), 69, 114 ("the idea is not that no rules apply but that one set of rules applies"); vgl. auch die Betonung bei White, CMLRev. 26 (1989), 235, 245; Wördemann, International zwingende Normen (1997), 271 f. Da aber eben diese grundSätzliche positive Entscheidung über das Produkt ausreicht, kommt es zum einen nicht darauf an, daß gerade das konkrete Stück schon im Herkunftsland im Verkehr war (insoweit zumindest mißverständlich Roth, in: GS Knobbe-Keuk (1997),729, 742 Fn. 76). Das würde auch nicht zusammenpassen mit der Ermöglichung der Realisierung von Größenvorteilen als einem der Anliegen, die mit einem Binnenmarkt verfolgt werden. Und zum anderen ist es auch unerheblich, wenn eine Zeitschrift mit gleichem Inhalt wie im Herkunftsland, aber natürlich in der Sprache des Importlands auf dessen Markt gebracht wird, genauso wenig, wie das etwa bei anderssprachig etikettierten Produkten der Fall ist (vgl. aber die Bedenken bei Roth, in: FS Großfeld (1999),929,940 Fn. 68). Wie hier auch Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 43 f. 218 Das verkennt Solbach, Staatliche Regelungen von Verkaufsmodalitäten (1996), 239 ff., 246. 219 Vgl. die Entscheidungen EuGH, 5. 12. 2000, Eurostock, Rs. C-477 198, Sig. 2000, 1-10695; EuGH, 13. 12. 2001, Kommission I Frankreich, Rs. C-l/00, Sig. 2001, 1-9989;

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung

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Eine besondere FOlm liegt auch bei fonnell nach Herkunft oder Ursprung der Waren diskriminierenden Vorschriften vor: 220 Indem im Ausland hergestellte oder jedenfalls von dort (wieder) eingeführte Produkte anders behandelt werden als entsprechende Waren im Inland, ist für die Entscheidung der Wirtschaftsteilnehmer nicht allein das allgemeine Regelungsniveau im Regelungsstaat ausschlaggebend, sondern sie sind von Sonderregelungen betroffen, die nur für grenzüberschreitende Fälle gelten. Gleiches gilt für versteckte Diskriminierungen, bei denen lediglich das Kriterium Ursprung bzw. Herkunft vennieden, durch andere Unterscheidungsmerkmale aber genau dieselbe Differenzierung erreicht wird. Die besondere Belastung der Grenzüberschreitung ergibt sich in all diesen Fällen unmittelbar aus der fraglichen Regelung des Bestimmungsstaats selbst.

2. Der Test: EG-weite Regelung gleichen Inhalts / Regelungsunterschiede a) Vorbemerkung Bisher handelte es sich um die eindeutigen Fälle von Regelungen, die ihrer Natur nach den Grenzübertritt besonders belasten, und deren Einordnung daher auch nicht strittig ist. Jenseits davon braucht man dagegen Kriterien bzw. einen Test, um diese besondere Belastung feststellen und gegenüber für Art. 28 EGV unerheblichen Belastungen abgrenzen zu können. Und damit beginnen die Uneinigkeiten zwischen den Vertretern verschiedener Erklärungsansätze. Vieles davon ist mehr ein Streit um Begriffe, häufig ausgelöst durch ein unterschiedliches Verständnis bzw. unterschiedlichen Gebrauch gleicher oder ähnlicher Fonnulierungen, als um materielle Ergebnisse. Hier soll daher versucht werden, den Gebrauch von Begriffen zu venneiden, die Anlaß für Mißverständnisse oder vorschnelle, vorurteilsbehaftete Kritik sein könnten. Obwohl sich nahezu alle Autoren darüber einig sind, daß "materielle Diskriminierungen" von eingeführten Produkten, bei vielen auch sonstige "Benachteiligungen", von Art. 28 EGV verboten werden,221 wird diese Überlegung hier zunächst EuGH, 13.7. 1994, Kommission! Deutschland. Rs. C-131/93, Slg. 1994,1-3303 und EuGH, 25.6. 1997, Kiefer und Thill, Rs. C-114!96, Slg. 1997,1-3629. Die drei erstgenannten betreffen Einfuhrverbote und damit mengenmäßige Beschränkungen (auf Null). Derartige Regelungen sind nicht sehr häufig, vgl. oben Fn. 31. Im erweiterten Sinne kann man hier aber solche Regelungen zuordnen, die zwar nicht unmittelbar an die Grenzüberschreitung anknüpfen, aber generell eine bestimmte Ortsveränderung verbieten, so daß in grenzüberschreitenden Fällen doch gerade diese Bewegung verhindert wird. Ein solcher Fall ist z. B. das Verbot von Tiertransporten weiter als bis zum nächsten inländischen Schlachtbetrieb, EuGH, 11. 5. 1999, Monsees, Rs. C-350!97, Slg. 1999,1-2921. Diese Kategorie von Regelungen wird vor allem bei den anderen Freiheiten interessant, vgl. dazu unten Zweiter Teil, § 6 11. 1. a), 2. a) cc); § 71. 2. a) bb); § 7 11.3. a). 220 Vgl. EuGH, 28. 4.1998, Decker, Rs. C-120!95, Slg. 1998,1-1831. 221 Siehe dazu oben § 3.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

zurückgestellt. Der Grund dafür liegt nach dem eben gesagten auf der Hand: Die Vorstellungen, die insbesondere mit dem Begriff der materiellen Diskriminierung verbunden werden, gehen weit auseinander. Jede Aussage dazu erfordert eine ausführliche Klärung, was genau unter dem Begriff verstanden werden soll, und sieht sich selbst dann noch schnell Angriffen aufgrund eines abweichenden Verständnisses ausgesetzt. Es mag ungewöhnlich erscheinen, wenn nach der formellen Diskriminierung hier zunächst nicht auf den Bereich der materiellen Diskriminierung eingegangen wird, und scheinbar leichter wiegende Formen der Beschränkung des freien Warenverkehrs vor der vollständigen Behandlung der Fallgruppe der Diskriminierung behandelt werden. 222 M.E. kann jedoch durch den hier vorgezogenen Test ein großer Bereich dessen, was auch als materielle Diskriminierung bezeichnet werden könnte, aufgrund eines weniger vieldeutigen und dadurch unsicheren Kriteriums eindeutig dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV zugeordnet werden. Das schließt nicht aus, daß danach dennoch auf diesen Begriff zurückzukommen sein wird;223 es verkleinert aber den Bereich, in dem diese Unsicherheit auftritt. 224 b) Die Testfrage Wie kann man nun feststellen, ob eine Regelung spezifisch die Grenzüberschreitung belastet (jenseits der unter 1. genannten "unmittelbaren" Belastungen)? Helfen sollte eine Überlegung, die zum Vergleich die Grenzüberschreitung sozusagen "ausschaltet": Würde eine EG-weit geltende Regelung gleichen Inhalts zu denselben Belastungen für die konkrete Transaktion führen?225 Anders gefragt, folgt die Belastung aus der bloßen Existenz der Regelung, oder erwächst sie gerade aus nationalen Regelungsunterschieden?226 222 Vgl. aber etwa auch Heermann, GRUR Int. 1999, 579, 580, 591, der aus ähnlichen Erwägungen nur die fonnell unterschiedlich anwendbaren Regelungen als Diskriminierungen behandelt. 223 Unten 3. a). 224 Damit nimmt dieser Ansatz seinen Ausgang nicht bei der Dichotomie von Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot, nach der zunächst sämtliche Diskriminierungen als zweifellos dem Anwendungsbereich zuzuordnen zu behandeln wären, und erst darüberhinaus die weitere Frage nach sonst maßgeblichen Beschränkungen gestellt werden könnte. Nach der hier vertretenen Ansicht ist diese Zweiteilung unnötig und für einen klaren Blick auf die verschiedenen Fonnen, in denen Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit erfolgen können, eher hinderlich. Um den folgenden Überlegungen nicht zu sehr vorgreifen zu müssen, wird die Begründung dieser Behauptung zunächst zurückgestellt. Es wird zunächst das eigene Konzept vollständig entfaltet. Im Anschluß daran erfolgt unter 5. eine Einordnung dieses Ansatzes, in der er mit den zuvor (§ 3) vorgestellten Meinungen verglichen wird und Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede aufgezeigt werden. In diesem Rahmen können dann auch die Abweichungen besser begründet werden. 225 Vgl. zu dieser Fragestellung schon Roth, ZHR 159 (1995), 78, 91. 226 Vgl. Ackermann, RIW 1994, 189, 192 ff.; White, CMLRev. 26 (1989), 235, 246. Die Bedeutung von Behinderungen gerade aufgrund von Regelungsunterschieden wird teilweise auch in der Rechtsprechung des EuGH deutlich, vgl. insbesondere EuGH,

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung

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Hinsichtlich der Bedeutung von (Regelungs-)Unterschieden lassen sich verschiedene Betrachtungsweisen unterscheiden: Einerseits kann man darauf abstellen, ob die Belastungen für eine konkrete grenzüberschreitende Transaktion allein aus der mitgliedstaatlichen Regelung selbst resultieren oder aber gerade auf einem Unterschied zwischen den Regelungen zweier beteiligter Staaten beruhen. Aus diesem Blickwinkel sind es die Regelungsunterschiede (und die aus ihnen folgenden Kosten, im Gegensatz zu den bloßen "Regelungskosten"), die für die Anwendung des Art. 28 EGVentscheidend sind,z27 Aus anderer Perspektive läßt sich jedoch auch sagen, wenn für die Entscheidung eines Wirtschaftsteilnehmers, nicht auf dem fraglichen Markt tätig zu werden, nur der Vergleich zwischen unterschiedlich günstigen Regelungen verschiedener Staaten entscheidend ist, so ist dies lediglich eine Folge der föderalen Kompetenzverteilung und damit nicht zu beanstanden (vgl. oben I.). Dem können aus dem Verständnis des Art. 28 EGVals weit verstandenes Diskriminierungsverbot heraus solche Regelungen gegenübergestellt werden, die aus sich selbst heraus eine Benachteiligung eingeführter Produkte bewirken und damit der Kontrolle bedürfen. 228 Beide Aussagen scheinen sich nur auf den ersten Blick zu widersprechen: Einmal wird auf die Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen zur Begründung der Anwendbarkeit des Art. 28 EGVabgestellt, im anderen Fall soll sie gerade zu dessen Ausschluß führen. Tatsächlich wird jeweils ein unterschiedlicher Aspekt betrachtet: Die erstgenannte Argumentation stellt auf Belastungen durch Regelungsunterschiede ab, die zweite auf unterschiedliche Belastungen aufgrund unterschiedlicher Regelungen. Die Belastungen durch Regelungsunterschiede entsprechen einer Teilgruppe der Benachteiligung eingeführter Produkte im Sinne der zweiten Sichtweise, denn nur eingeführte Produkte können für den fraglichen Vorgang einer weiteren Rechtsordnung neben der des Regelungsstaates unterliegen. Ebenso sind unterschiedliche Belastungen aufgrund unterschiedlicher Regelungen im Sinne der ersten Sichtweise rein aus der fraglichen Regelung selbst resultierende Belastungen. Diesen Unterschied übersieht z. B. Jickeli 229 , wenn er der hier verwandten Argumentation entgegenhält, der Test würde keine Entlastung bringen, denn praktisch bestünden immer unterschiedliche Regeln und theoretisch verursache dies immer steigende Kosten: Er argumentiert damit im Sinne der hier als zweite beschriebenen Sichtweise mit unterschiedlichen (höheren) Belastungen bzw. Kosten aufgrund unterschiedlicher Regelungen und hat damit gerade nicht die "Regelungsunterschiedskosten", sondern die bloßen "Regelungskosten" im Visier, die nach dem von ihm kritisierten Test gerade nicht entscheidend für die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV sein sollen. Insbesondere die sogenannten "Infortnationskosten" (Kosten, die dadurch entstehen, daß man sich über die im jeweiligen Staat geltenden Regelungen infortnieren muß), sind keine Regelungsunterschiedskosten: Sie entstehen auch, wenn sich am Ende herausstellt, daß die Regelung im Importstaat gleichlautend ist. Sie sind schlicht die Konsequenz daraus, daß überhaupt einzelstaatliche Regelungskompetenzen bestehen. 20. 2. 1979, "Cassis de Dijon", Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, 662 Rdnr. 8. Auch EuGH, 11. 7. 1985, Cinetheque, verb. Rs. 60/84 und 61 /84, Slg. 1985, 2605, 2626, Rdnr. 22, betont die Regelungsunterschiede. 227 Vgl. dazu insbesondere Ackermann, RIW 1994, 189, 193. 228 Vgl. zu dieser Sicht etwa Marenco, CDE 20 (1984), 291, 320 f. 229 JZ 1995,57,61 Fn. 51.

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Im ersten Fall können unterschiedliche Regelungen derselben Frage in verschiedenen Staaten existieren und zu einer unterschiedlichen Behandlung paralleler Prozesse in diesen Staaten führen, was die Entscheidungen der Wirtschaftsteilnehmer beeinflussen und damit Auswirkungen (auch) auf die Warenein- / ausfuhr haben kann, doch handelt es sich hier um die in einem föderalen System erwünschte regulative Konkurrenz der Mitgliedstaaten. Eine EG-weite Regelung gleichen Inhalts würde sich hier deshalb nicht anders für den konkreten Vorgang auswirken, weil ohnehin nur der Inhalt der Regelung entscheidend ist. Der EuGH ist hier nicht zu einer Überprüfung der nationalen gesetzgeberischen Entscheidung aufgerufen. Dagegen wird im anderen Fall ein und dasselbe Produkt nacheinander für dieselbe Frage unterschiedlichen Regelungen unterworfen, so daß ein Koordinierungsbedarf230 auf EG-Ebene besteht. Es entsteht eine besondere Belastung der Grenzüberschreitung, da nur in grenzüberschreitenden Fällen zwei unterschiedliche Rechtsordnungen die Frage erfassen können. Eine EG-weite Regelung des gleichen Inhalts wie der des Importlands würde hier anders wirken: Es gäbe dann kein Produkt, das in einem anderen Staat schon einer abweichenden Regelung unterlegen hat und nun beim Grenzübergang auf die anderslautende Vorschrift des Importstaats treffen könnte?31 Hier muß betont werden, daß es dabei ausschließlich um eine andere Wirkung geht, nicht darum, ob eine EG-weite Regelung für die Wirtschaftsteilnehmer günstiger wäre. Es geht um einen rein hypothetischen Vergleich, mit dem Ziel, festzustellen, ob gerade die Grenzüberschreitung besonders betroffen wird. Daher ist es unerheblich, daß bei tatsächlicher Einführung der entsprechenden Regelung auf EG-Ebene bestimmte Produkte oder Handlungen völlig verboten wären, so daß die nur auf einen nationalen Markt bezogene Vorschrift immer noch vorzuziehen wäre?32

Vgl. dazu auch Bernard, ICLQ 45 (1996), 82, 106 ff. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß dieser Test mit dem von Sack/ Fasshold vorgeschlagenen Binnenmarktvergleich tatsächlich kaum etwas gemeinsam hat, siehe dazu oben § 3 VI. 232 Dieses Argument hält aber etwa Joliet, GRUR Int 1994, I, 12 der Ansicht, die auf Regelungsunterschiede abstellt, entgegen. Nicht überzeugen kann dabei vor allem seine Unterscheidung zwischen Vorschriften aus dem Bereich des unlauteren Wettbewerbs sowie über "Typen" von Produkten einerseits und die Zusammensetzung von Produkten andererseits: Bei ersteren würde eine Ausdehnung der Regelung auf Gemeinschaftsebene "das Hindernis nur noch größer" machen, während im zweiten Fall das Hindernis selbst dann entfalle, wenn auf dem Niveau der strengsten Gesetzgebung angeglichen werde (unter 4., insbes. auch Fn. 88). Man kann genauso sagen, daß bei einer Angleichung auf italienischem Niveau Nudeln vom "Typ" Weichweizennudeln völlig eliminiert würden; andersherum hätte Yves Rocher, wenn gemeinschaftsweit die deutsche Regelung gegolten hätte, keine (rechtmäßig verfolgte) Strategie der Werbung mit Preisgegenüberstellungen gehabt, und daher eine solche beim Grenzübergang auch nicht aufgeben müssen. 230 231

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c ) Zwei Beispiele zur Verdeutlichung Zur Illustration dieser abstrakten Grenzziehung dienen zwei typische Fälle aus beiden Gruppen: Wenn die fragliche nationale Regelung Ladenöffnungszeiten betrifft, so beeinflußt diese Regelung sicherlich die Möglichkeit, ein importiertes Produkt in diesem Staat zu verkaufen. Es ist dafür jedoch unerheblich, ob in anderen Mitgliedstaaten dieselben Ladenöffnungszeiten gelten oder nicht. Waren werden nicht nacheinander in verschiedenen Staaten auf der Einzelhandelsebene verkauft, so daß divergierende Regelungen des Einzelhandels in zwei Staaten nicht nacheinander auf dasselbe konkrete Produkt angewendet werden. Eine eventuelle Behinderung des Imports eines Produkts folgt aus der Regelung selbst, nicht aus Regelungsunterschieden. Gälte dieselbe Öffnungszeitenregelung EG-weit, würde das für die konkreten Verkaufsmöglichkeiten eines importierten Produkts im Regelungsstaat nichts ändern. Möglicherweise würde sich an der Verteilung der Waren in der Gemeinschaft insgesamt etwas ändern, aber das ist wieder die erwünschte Konkurrenz der Rechtsordnungen. Es liegt keine besondere Belastung des Grenzübertritts vor, sondern ganz allgemein eine Belastung des gesamten Inlandsabsatzes?33 Anders liegt es, wenn die in Frage stehenden staatlichen Regelungen die Zusammensetzung eines Produkts 234 betreffen: Ein Produkt, das in einem Mitgliedstaat nach den dort geltenden Vorschriften über die Zusammensetzung produziert worden ist, oder das entsprechend diesen Vorschriften dort rechtmäßig in Verkehr ist, kann in einem anderen Mitgliedstaat auf Vorschriften treffen, die den Verkauf des Produkts in diesem Staat ebenfalls von dessen Zusammensetzung abhängig machen. Regelungen, die in verschiedenen, aufeinander folgenden Phasen im "Lebenszyklus" eines Produkts relevant werden, knüpfen an dasselbe Merkmal, nämlich die Zusammensetzung, des Produkts an. Wenn das Produkt also zwischen die233 Etwas anderes kann für Frischwaren gelten, wenn und soweit die Verkaufszeitenregelungen des Importstaates Rückwirkungen auf die Produktionszeiten, also einen im Herkunftsland stattfindenden und damit den dortigen Regelungen unterliegenden Vorgang entfalten: Ein Sonntagsverkaufsverbot für Brötchen würde EG-weit deshalb anders wirken, weil dann der Bäcker in seinem Herkunftsstaat sonntags auch nicht backen würde, es also keine rechtmäßig in Verkehr befindlichen Produkte gäbe, die am Grenzübertritt gehindert werden. (Vgl. dazu auch Heermann, GRUR Int. 1999, 579, 585; insofern mag auch der Fall Oebel doch Unterschiede gegenüber den späteren Sunday-Trading-Fällen aufweisen.) Soweit eine solche Rückwirkung auf die Produktion nicht feststellbar ist, bleibt es hingegen dabei, daß es für den inländischen Absatz unerheblich ist, welche Regelungen in anderen Staaten bezüglich der Öffnungszeiten gelten. Denkbar sind faktische Benachteiligungen insofern, als die Entfernung zwischen Produktionsstätte und Verkaufsstelle eine Rolle spielen kann (und ausländische Produkte überwiegend weitere Transportwege zurückzulegen haben). In der Regel wird es aber gerade bei Frischwaren so sein, daß rein faktisch ab einer bestimmten Entfernung von der Produktionsstätte ein Verkauf nicht mehr sinnvoll ist (ohne daß es darauf ankäme, wie die Ladenöffnungszeiten dort geregelt sind). 234 Vgl. zur Unschädlichkeit eines Reinheitsgebots auf EG-Ebene für den Warenverkehr schon Roth, VersR 1993, 129, 132.

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sen Phasen eine Grenze überschreitet, können divergierende Regelungen zweier Staaten in Bezug auf dieselbe Frage zur Anwendung kommen. Eine Beeinträchtigung der Verkaufsmöglichkeiten ergibt sich hier gerade daraus, daß die Anforderungen an die Zusammensetzung in den beteiligten Staaten divergieren, aus Regelungsunterschieden also. Bei einer EG-weiten Regelung mit dem Inhalt der Vorschrift des Importlands gäbe es keine aus anderen Mitgliedstaaten zu importierenden Produkte, die dort mit einer anderen Zusammensetzung rechtmäßig hergestellt oder in Verkehr gebracht worden sind. 235 Daher träten bei Warenbewegungen von einem Staat in den anderen keine derartigen Probleme auf. 236 Es liegt damit bei solchen mitgliedstaatlichen Regelungen eine besondere Belastung der Grenzüberschreitung vor. 237 d) Verhältnis zum Begriffspaar der Keck-Entscheidungund ein wichtiges Charakteristikum Das Begriffspaar der Keck-Entscheidung, Verkaufsmodalitäten und produktbezogene Regelungen, ist von dieser Unterscheidung im Grundsatz umfaßt: Regelungen über Verkaufsmodalitäten (auf Einzelhandelsebene) haben in der Regel Vorgänge zum Gegenstand, die nur in diesem Staat stattfinden und nicht auch Gegenstand der entsprechenden Regelungen eines anderen Staates sein können; dagegen betreffen produktbezogene Regelungen (z. B. über die Zusammensetzung) in Importfällen Waren, die schon im Produktionsstaat (bzw. dem Staat, wo sie vorher rechtmäßig gehandelt wurden) Regelungen derselben Frage unterlegen haben können. Damit ist ein wichtiges Charakteristikum derjenigen Fälle, die durch den EGweit-Test ausgesondert werden, benannt, das deshalb hier noch einmal wiederholt werden soll: Es handelt sich um Regelungen, die Vorgänge betreffen, die sich allein innerhalb dieses Staats abspielen und deshalb schon faktisch nicht gleichzeitig Gegenstand der entsprechenden Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats sein können,238 auch wenn es um eingeführte Produkte geht. Dadurch kommt Rege235 Um dem möglichen Einwand zu begegnen, daß es sich hier um einen Zirkelschluß handele, soll darauf hingewiesen werden, daß es sich hier nicht um eine Folgerung aus dem Herkunftslandprinzip handelt, sondern um eine Umformulierung desselben, um eine Formalisierung in einem Test. 236 Zu dem Einwand, daß das völlige Verbot von Produkten in dieser Zusammensetzung ja noch ungünstiger für die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer sei, vgl. Fn. 232 sowie den dazugehörigen Text. 237 Vgl. auch White, CMLRev. 26 (1989), 235, 246 f.: die unterschiedlichen characteristics eines Produkts seien gerade Ausdruck der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten, von denen die Wirtschaftsteilnehmer in dem Gemeinsamen Markt profitieren können sollten. 238 Möglicherweise läßt sich ein Hinweis darauf, daß dies von Bedeutung ist, auch aus der Formulierung im Urteil Keck "sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre 1ätigkeit im Inland ausüben" (Rdnr. 16) ableiten; vgl. Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 31.

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lungsunterschieden hier keine Bedeutung zu, würde die Regelung EG-weit nicht anders wirken, besteht keine Gefahr der Unterwerfung unter ein doppeltes Regelungsregime?39 Der EuGH erreicht also zwar in Keck im wesentlichen die gleiche Grenzziehung. Die hier getroffene Unterscheidung ist aber erstens umfassender, d. h. sie ist z. B. auch zur Lösung von Fällen geeignet, die der EuGH nicht mit der Keck-Formellösen konnte 24o , zweitens präziser zu handhaben, da sie teleologisch begründet ist (und erlaubt daher beispielsweise eine Antwort auf die Streitfrage, ob bzw. wann Werbung unter "Modalitäten" fällt oder nicht), und schließlich nicht zwingend auf Warenimportfälle beschränkt, sondern verallgemeinerbar.

3. Gegenkontrollen

Diese Unterscheidung bedeutet jedoch noch nicht, daß Maßnahmen vom ersten Typ, bei denen also eine EG-weite Regelung gleichen Inhalts dieselben Belastungen mit sich bringen würde, überhaupt keiner Kontrolle unterlägen. 241 Vgl. zur Bedeutung dieser territorialen Beschränkung der Regelungen auch GA Jacobs in EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995,1-179, 192 Tz. 34 "an der Verkaufs stelle wirksam werden", 199 Tz. 53 "Auswirkungen auf den Handel vorwiegend ( ... ) innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats". Der "territorial element" - Einschränkung bei Mortelmans dürfte eine ähnliche Überlegung zugrunde liegen, CMLRev. 28 (1991), 115, 130 f. Auch EuGH, 14.7.1981, Oebel, Rs. 155/80, Sig. 1981, 1993,2009 f. Rdnr. 17 ff. betont, daß die Regelung nur den Einzelhandel und die Lieferung direkt an den Endverbraucher (also typischerweise rein inländische Vorgänge) betrifft. Möglicherweise könnte so auch die Formulierung "sollen nicht den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten regeln" in EuGH, 13. 10. 1993, CMC Motorradcenter, Rs. C-93 192, Sig. 1993,1-5009,5021 Rdnr. 10 und EuGH, 7. 3. 1990, Krantz, Rs. C-691 88, Sig. 1990, 1-583, 597 Rdnr. 10. zu verstehen sein. Eine Tendenz des EuGH, Absatzvorschriften auf Einzelhandelsebene nicht Art. 28 EGV zu unterwerfen, sieht GA Van Gerven in EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267 191 und 268/91, Sig. 1993,1-6097,6113 Tz. 5 Fn. 9, 1-6119 Tz. 4, 5; ähnlich Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 104 ff. Vgl. zur Frage, inwieweit Art. 28 EGV die Händler schützt, auch unten § 5 I. 1. b) und 2. b) bb), § 5 11. 239 Vgl. Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 59 f.; siehe auch die ganz parallelen Erwägungen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit bei Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 129. Ebensowenig liegt deshalb ein "Kompetenzeingriff' in die Befugnisse eines anderen Mitgliedstaats vor, worauf es nach Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 291 ff., außerhalb der Fallgruppe der Diskriminierung maßgeblich ankommt. 240 Vgl. oben § 2 IV. und unten III. 3. 241 Insoweit ist die Entscheidung EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Sig. 1997,1-3843 sehr zu begrüßen, in der der EuGH die in der KeckEntscheidung angelegte Einschränkung der rechtlich wie tatsächlich gleichen Berührung sehr ernst nimmt und eine gründliche Prüfung anmahnt, wobei er auch Gesichtspunkte des Marktzugangs anspricht (Mittel, "um in den schwedischen Markt eindringen zu können"), 1-3890 f. Rdnr. 42 ff.; vgl. auch die Anwendung des Art. 28 EGVauf "Verkaufsmodalitäten" wegen

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

a) Faktische Diskriminierung? Durch die oben 1. vorgezogenen Überlegungen sind allerdings formelle und versteckte Diskriminierungen in der hier zu betrachtenden Kategorie von Regelungen nicht mehr enthalten. Fraglich ist dagegen, ob solche Regelungen faktisch doch eingeführte Produkte benachteiligen können. Die weitaus meisten Fälle, die unter den Stichworten materielle bzw. faktische Diskriminierung oder (tatsächliche) Benachteiligung diskutiert werden, sind in der Gruppe der Regelungen, bei denen eine EGweite Regelung gleichen Inhalts sich anders auswirken würde, enthalten, wie auch umgekehrt alle diese Regelungen auch als benachteiligend eingestuft werden können: Wenn Belastungen aus Regelungsunterschieden folgen, so benachteiligt das zwangsläufig die eingeführten Produkte, da Waren im inländischen Handel nicht mit zwei (oder mehr) Rechtsordnungen in Berührung kommen?42 Andersherum ist der Nachweis aufgrund der unscharfen Inhalte von "materieller Diskriminierung" und "Benachteiligung" schwerer zu führen. Um jedoch eingeführte Produkte zu benachteiligen, müssen diese in irgendeiner Weise von den im inländischen Handel befindlichen unterschieden werden können; da eine formelle Unterscheidung nach der Herkunft ohnehin ausscheidet, ergibt sich eine solche Unterscheidung in der Regel gerade aus dem Anknüpfen an bestimmte Vorgänge, die für eingeführte Produkte auch schon einer anderen Rechtsordnung unterlegen haben. Mit Sicherheit ist dies der Fall für die Regelungen, die Marenco als materielle Diskriminierungen im engeren Sinne bezeichnet, die nämlich gezielt auf bestimmte Parameter abstellten, die überwiegend von der inländischen Produktion erfüllt würden?43 Gleiches gilt für seine Diskriminierungen im weiteren Sinne, die (als unbeabsichtigte Folge) zu einer Anpassung eingeführter Produkte nötigen?44 Ebenso stellt Van Gerven bei seiner "Benachteiligung" auf Unterschiede in den staatlichen Regelungen, die für eingeführte Produkte zusätzlichen Anstrengungen erforderlich machen, ab. 245 Insofern scheint es, daß Regelungen, die durch den EG-weit-Test ausgeschieden werden, selten zu einer tatsächlichen Benachteiligung eingeführter Produkte führen werden. Wenn häufig angemahnt wird, der Gerichtshof (gleiches gilt für die nationalen Gerichte) solle seine für das Ausscheiden der "Verkaufs modalitäten" aufgestellte Bedingung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichbehandlung 246 ern(angeblich) stärkerer Behinderung des Marktzugangs für Waren aus anderen Mitgliedstaaten in EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151, 171 Rdnr. 29. 242 Diese Art der Diskriminierung kann man auch als ungerechtfertigte Gleichbehandlung unterschiedlicher Fälle bezeichnen. 243 Marenco, CDE 20 (1984), 291, 306 ff., "discrimination (materielle) intrinseque" (313). 244 Marenco, CDE 20 (1984), 291, 308 ff., 312 313 ("extrinseque"). 245 Schlußanträge des GA Van Gerven in EuGH, 23.11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3872 Tz. 15 (wobei bei ihm jedoch nicht klar ist, was unter der zuvor schon genannten "materiellen Diskriminierung" verstanden wird). 246 EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267/91 und 268/91, Sig. 1993, 1-6097, 6131 Rdnr. 16: "sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der

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ster nehmen,247 so hat das seinen Grund vor allem darin, daß die Keck-Unterscheidung stark formalisiert ist, so daß die nötigen Wertungen durch eine solche Gegenkontrolle sichergestellt werden müssen. Außerdem geht es oft um Überlegungen, die hier unter dem Stichwort der Erhaltung des Marktzugangs vorgenommen werden. 248 Dennoch soll nicht ausgeschlossen werden, daß im Einzelfall einmal begründet werden kann, daß eine Regelung tatsächlich diskriminierend wirkt, obwohl sie keine Belastung aufgrund ihrer Abweichung von anderen mitgliedstaatlichen Regelungen mit sich bringt. Solch eine Regelung müßte dann aus diesem Grund in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV fallen. Ein Beispiel dafür können etwa bestimmte Preisregelungen sein. 249 b) Marktzugang darf nicht versperrt werden Es bleibt aber jedenfalls noch eine Gegenkontrolle daraufhin nötig, ob die Auswirkungen einer solchen Regelung nicht so gravierend sind, daß der Zugang zum Markt (fast) völlig versperrt wird?50 Es sind Regelungen vom Typ der ersten Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren." Vgl. auch schon die entsprechenden Bedingungen in den früheren Entscheidungen, die von einer Anwendung des Art. 28 EGVabsahen, oben Fn. 43, 45 und 48. 247 Vgl. etwa Lüder; EuZW 1995, 87, 88. 248 Dazu sogleich b). 249 Unten III. 2. 250 Ein Anhaltspunkt für ein solches Kriterium läßt sich möglicherweise auch in Rdnr. 17 der Keck-Entscheidung entdecken: "Sind diese Voraussetzungen nämlich erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen ... nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut." Zwar scheint die Verwendung von "nämlich" darauf hinzudeuten, daß das folgende keine weitere Bedingung, sondern eine Begründung der zuvor erwähnten Kriterien ist (wobei diese dann in der Tat nach der in Rdnr. 16 aufgestellten Bedingung, daß der Absatz inländischer und ausländischer Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berührt sein muß, weitgehend tautologisch erscheint, vgl. Ackermann, RIW 1994, 189, 192). Die Formulierung "nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren" hat jedoch keinen Bezug zu den zuvor aufgestellten Kriterien und könnte dementsprechend einen zusätzlichen Gesichtspunkt enthalten. Ähnlich bezeichnet auch GA Van Gerven in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boermans, verb. Rs. C-401l92 und C-402/92, Sig. 1994, 1-2199, 2214 ff. Tz. 20 ff. diese Formulierung des Urteils als "Auslegung" (der vorhergehenden Urteilserwägungen) und sieht in der Behinderung des Marktzugangs das für die Unterscheidung wesentliche Kriterium (dazu auch oben § 3. IV.); vgl. auch GA La Pergola in EuGH, 13. 1. 2000, TKHeimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151, 156 f. Tz. 9; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 161; Leible, in: Grabitz/ Hilf, Art. 28 Rdnr. 28. Noch stärker wird die Bedeutung des Marktzugangs in EuGH, 10.5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Slg. 1995,1-1141, 1177 f. Rdnr. 37 f. sowie EuGH, 15. 12. 1995, Bosman, Rs. C-415/93, Sig. 1995,1-4921,5070 f. Rdnr. 103 betont. Vgl. auch die oben Fn. 241 zitierten Aussagen des Urteils De Agostini und TV-Shop. Unter Hinweis auf Keck, Alpine Investments und Bosman auch GA Tesauro in seinen Schlußanträgen in EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Sig. 1997,1-3689,3696 f.,

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Gruppe, die also durch ihre bloße Existenz und nicht erst aufgrund Regelungsunterschieden belastend für Importe wirken, denkbar, die in ihren Auswirkungen so weitgehend sind, daß sie aus dem Blickwinkel des Prinzips des freien Warenverkehrs als nicht hinnehmbar erscheinen: Wenn zum Beispiel für Geschäfte, die alkoholische Getränke verkaufen, Öffnungszeiten nur von 23.30 bis 0.00 Uhr zugelassen werden, so wird damit der Verkauf solcher Produkte in diesem Staat so gut wie unmöglich gemacht. 251 Ebenso kann den Marktteilnehmem eine so wesentliche Vermarktungsmethode genommen werden, daß sich die Erschließung eines neuen Markts nicht lohnt. 252 Im Zusammenhang insbesondere mit letzterem wird häufig gesagt, damit würden eingeführte Produkte benachteiligt und die heimische Produktion geschützt. 253 Tatsächlich werden zunächst nur die bereits auf dem Markt etablierten Produkte geschützt, und alle auf diesem Markt neuen Produkte, unabhängig davon, ob es einzuführende oder auch im Regelungsstaat produzierte Waren sind, benachteiligt. Daß die etablierten Produkte meist einheimischen Ursprungs seien,254 mag in vielen Fällen noch so sein, ob diese Aussage sich jedoch in dieser Allgemeinheit für alle Warenarten noch halten läßt, ist zu bezweifeln. In einem solchen Fall kann eine diskriminierende Wirkung als Zusatzargument angeführt werden. Art. 28 EGV erfaßt solche Regelungen aber unabhängig davon, da er zur Herstellung des Binnenmarkts für Produkte, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder vertrieben werden, grundsätzlich den Zugang zu allen anderen Märkten der Gemeinschaft sicherstellen will. Die Kompetenz der Einzelstaaten, ihr Marktumfeld zu regeln, kann daher nicht so weit reichen, daß bestimmte Produkte nahezu vom Markt ausgeschlossen werden. Allerdings fallen vollständige (ggf. zeitlich begrenzte) Verkaufs- oder Nutzungsverbote eines Produkts 255 schon nach dem EG-weit-Test in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV: Würde ein solches Verbot nämlich EG-weit gelten, so wäre das Tz. 9 f.; unter Hinweis auf Alpine Investments Van Gerven, Columbia Journal of European Law 2 (1996), 217, 230, insbes. Fn. 63; GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189195, Sig. 1997,1-5909,5931 ff., Tz. 57 ff. Vgl. auch GA Lenz in EuGH, 29. 6. 1995, "Babymilch", Rs. C-391 192, Sig. 1995,1-1621,1628 f., Tz. 13 ff. Ebenfalls unter Hinweis auf Alpine Investments und 1oder Bosman stellen auf den Marktzugang bzw. die Marktaufsplitterung Eberhartinger; EWS 1997,43,49 f.; Mortelmans, SEW 1998,226,232; Steindorf!, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 92 ff., 105 f. und besonders Weatherill, CMLRev. 33 (1996), 885, 889 ff., 896 ff. ab. 251 Vgl. Z. B. auch White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258. 252 Vgl. Becker; EuR 1994, 162, 173 f.; Keßler; System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 255; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FlW-Symposion (1994), 21, 39 f.; Steindorf!, WRP 1993, 139, 142. 253 So behandelt z. B. auch EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis 36/95, Sig. 1997,1-3843,3890 Rdnr. 43 das Argument von De Agostini, Fernsehwerbung sei für sie die einzige Möglichkeit, in den schwedischen Markt einzudringen, unter der Frage der "stärkeren Auswirkungen" auf ausländische Produkte. 254 Keßler, System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 340.

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entsprechende Produkt nirgendwo in der Gemeinschaft verkehrsfahig und stieße daher nicht erst bei der Grenzüberschreitung auf dieses Problem. Vollständige Verbote und Anforderungen an die Zusammensetzung liegen ohnehin nah beeinander: Je nach der Produktdefinition kann man auch sagen, für nicht aus Hartweizen hergestellte Nudeln herrschte in Italien ein vollständiges Verkaufsverbot. 256 Es bleiben jedoch unter diesem Prüfungspunkt erstens diejenigen Fälle in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV "zurückzuholen", in denen nach dem EGweit-Test als unbedenklich eingestufte Regelungen so exorbitant einschränkende Wirkungen haben, daß sie einem Verbot nahe kommen. 257 Zweitens können unter diesem Gesichtspunkt solche Regelungen an Art. 28 EGV gemessen werden, mit denen den Wirtschaftsteilnehmern eine so wichtige Absatz- bzw. Vertriebsmethode genommen wird, daß die Erschließung dieses Markts für sie erheblich erschwert, nahezu unrentabel gemacht wird?58 In vielen Fällen werden solche Regelungen allerdings gleichzeitig bedeuten, daß der Wirtschaftsteilnehmer ein von ihm sonst angewandtes Vertriebskonzept für diesen Staat aufgeben muß, so daß schon nach dem EG-weit-Test Art. 28 EGV anzuwenden ist, da gerade die Unterschiedlichkeit der Regelungen von dem Anbieter eine Umstellung verlangt. Soweit das aber nicht der Fall ist, kann die Anwendbarkeit dennoch mit einer schwerwiegenden Behinderung des Marktzugangs begründet werden. Beide Fallgruppen sind nicht streng voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über. Etwa bei strengen Konzessionssystemen kann man einerseits sagen, daß damit die Absatzmöglichkeiten durch eine an sich EG-weit gleich wirkende Regelung darüber, wer bestimmte Produkte verkaufen darf, exorbitant beschränkt werden, und andererseits werden dadurch bestimmte direkte Vertriebsmethoden wie etwa der Haustürverkauf abgeschnitten. Wesentlich ist bei beiden, wie die oben kursiv gesetzten Formulierungen zeigen, eine Wertung der Wirkungen der Regelung. Der EG-weit-Test bzw. das Kriterium 255 Dies ist bei GA Van Gerven, EuGH, 23. 11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851,3877 f. Tz. 23 eine der Fallgruppen, die er über das Zugangs- bzw. Marktabschottungskriterium erfassen will. 256 Vgl. EuGH, 14.7.1988,3 GlockenlUSL Centro-Sud, Rn. 407/85, Slg. 1988,4233; EuGH, 14.7. 1988, Strafveifahren gegen Zoni, Rs. 90/86, Slg. 1988,4285. 257 Vgl. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258; siehe auch GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189195, Slg. 1997,1-5909,5934 f. Tz. 65. Der EuGH hat ebenfalls angemerkt, Steuern, die im Rahmen einer Prüfung des Art. 90 EGV mangels vergleichbarer Inlandsproduktion nicht erfaßt werden könnten, dürften die fraglichen Waren nicht "so hoch ... belasten, daß der freie Warenverkehr ... in Frage gestellt wird.", EuGH, 11. 12. 1990, Kommission 1Dänemark, Rs. C-47/88, Slg. 1990,1-4509,4534 Rdnr. 12 f.; EuGH, 4. 4. 1968, Stier; Rs. 31/67, Slg. 1968, 351, 361. 258 Vgl. GA Van Gerven, EuGH, 23. 11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851, 3877 f. Tz. 23; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 39 f.

6 Feiden

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

der Belastung durch Regelungsunterschiede oder durch die bloße Regelung selbst enthalten aufgrund ihrer Ausrichtung auf die Feststellung einer spezifischen Behinderung der Grenzüberschreitung auch schon eine wertende Betrachtung, es ist keine rein formelhafte Unterscheidung. Dennoch handelt es sich bis dahin um eine recht fest umrissene Einordnung anhand generell formulierter Kriterien. Dies hat den Vorteil einer leichten und sicheren Anwendung. Um jedoch den vielfältigen Fallgestaltungen in der Realität gerecht zu werden, ist ein Ergebnis in dem Sinne, daß eine EG-weite Regelung nicht anders wirken würde, kein endgültiges, sondern eher eine Art Vermutung für die Unbedenklichkeit, die durch eine abschließende, wertende Gegenkontrolle widerlegt werden kann. 259 Dabei liegt die Meßlatte hoch - es handelt sich nicht um ein de minimis-Kriterium, sondern eher um einen "de rnaximis" Vorbehalt, der bei schwerwiegenden Behinderungen des Marktzugangs auch für generell als unbedenklich eingestufte Regelungstypen im Einzelfall Art. 28 EGV zur Anwendung bringt. Da es sich bei den hier noch zu untersuchenden Regelungen um solche handelt, die weder offen die Grenzüberschreitung behindern, noch als EG-weite Regelung anders wirken würden, noch faktisch eingeführte Produkte benachteiligen, die denkbaren Belastungen also rein in der Regelung als solcher wurzeln und inländische Produkte auf genau dieselbe Weise treffen, spricht sehr viel für ihre Unbedenklichkeit. Immerhin korrigiert man bei Anwendung der Art. 28 und 30 EGV gegebenenfalls, d. h. bei negativem Ausgang der Rechtfertigungsprüfung, die Entscheidung eines Mitgliedstaats über "Modalitäten" des Vertriebs bestimmter Produkte, die dieser genauso auch für seine eigenen Bürger getroffen hat. Um also die Vermutung der Unbedenklichkeit, die sich aus den zuvor verneinten Testfragen ergibt, ausnahmsweise zu widerlegen, muß die Zugangsbehinderung schwerwiegend sein und damit deutlich erkennbar. 26o Das hat bei der praktischen Anwendung des Tests den Vorteil, daß bei einer Maßnahme, die EG-weit keine anderen Auswirkungen hätte, eine weitere Prüfung nur dann erforderlich ist, wenn deutliche Anhaltspunkte vorliegen. 259 Vgl. Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 60; ähnlich Heennann, GRUR Int. 1999,579,587 f. (bei dem die Widerlegung dieser Vermutung sich allerdings auf den Nachweis einer [faktischen] SchlechtersteIlung eingeführter Produkte beschränkt). 260 Dazu paßt die oben (Fn. 250) zitierte Aussage aus Rdnr. 17 des Keck-Urteils: "Den Marktzugang stärker zu behindern" entspricht der faktischen Diskriminierung, ihn zu "versperren" dagegen der extremen Zugangsbehinderung. Ebenso verlangt der EuGH bei Art. 90 EGV, daß der freie Warenverkehr "in Frage gestellt" wird, um trotz fehlender Vergleichsproduktion im Inland nationale Steuerregelungen kritisieren zu können, vgl. oben Fn. 257. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258, unterwirft Regelungen über circumstances nur dann dem Art. 28 EGV, wenn sie einem Verbot nahe kommen. Vgl. auch nochmals Van Gerven, oben § 3 III., und insbesondere in EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851, 3877 f. Tz. 23 ("Markt derartig unzugänglich ... , daß die Verdrängung des größten Teils der eingeführten Erzeugnisse vom Markt zu befürchten ist"), sowie Columbia Journal ofEuropean Law 2 (1996), 217, 226 f.

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck '-Rechtsprechung

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4. Ein Prüfungsschema Das ganze kann man in einem Prüfungsschema wie folgt zusammenfassen: Wenn eine der folgenden Fragen mit "ja" zu beantworten ist, so ist Art. 28 EGV anwendbar, und es würde sich eine Rechtfertigungsprüfung anschließen. Bei "nein" geht es mit der nächsten Frage weiter. Ist die Antwort auf die letzte Frage ebenfalls nein, so ist die Regelung nicht zu beanstanden, die Legitimität der Ziele des nationalen Gesetzgebers sowie die Verhältnismäßigkeit der gewählten Maßnahme werden nicht überprüft. 1. Knüpft die Regelung direkt an die Grenzüberschreitung an?

2. Liegt eine formelle oder versteckte Diskriminierung vor? 3. Würde sich eine EG-weite Regelung des gleichen Inhalts wie die zu überprüfende Regelung des Importstaats für den betroffenen Vorgang anders auswirken? 4. Gegenkontrolle 1: Liegt eine faktische Benachteiligung eingeführter Produkte vor? 5. Gegenkontrolle 2: Ist eine schwerwiegende Behinderung des Marktzugangs gegeben? Dabei kann für den dritten Prüfungspunkt als Schlagwort ruhig "Verkaufsmodalitäten" verwendet werden, denn es handelt sich dabei um einen kurzen, anschaulichen Begriff, der zudem die häufigsten und typischsten Fälle umfaßt (s. dazu oben 2. d). Der Begriff wird auch hier in den folgenden Überlegungen häufig zur Kennzeichnung dieser Gruppe verwendet. Es muß dabei nur klar sein, daß die oben unter 2. entwickelten Überlegungen dahinterstehen; in Zweifelsfällen kommt es allein darauf an, nicht auf eine Subsumtion unter den Begriff Verkaufsmodalitäten. 261

5. Einordnung dieses Konzepts - und ein vorgezogenes "Fazit" Bevor dieser Test auf die verschiedenen Gruppen von Regelungen angewendet wird, soll das soeben vorgestellte Konzept rückblickend eingeordnet werden in das vorgefundene Meinungsspektrum 262 . Im Ausgangspunkt besteht ohnehin ganz weitgehend Einigkeit: Es geht darum, solche Fälle aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV auszuscheiden, die im Grunde genommen keinen Bezug zu mehreren mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen haben und damit gar keinen europarechtlich zu entscheidenden Konflikt aufwerfen. Die Belastung der wirtschaftlichen Tätigkeit als solche ist eine Grund261 262

6*

Vgl. Leible, in: Grabitzl Hilf, Art. 28 Rdnr. 28. Oben § 3.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

rechtsfrage, kein Fall für die Anwendung der Grundfreiheiten?63 Selbst diejenigen, die eine Eingrenzung des Anwendungsbereichs weitgehend ablehnen, sehen eine Ausnahme für reine Inlandsfälle vor?64 In der Betonung der Notwendigkeit eines wirklich grenzüberschreitenden Bezugs liegt auch die eigentliche Bedeutung der Keck-Entscheidung: Bei Regelungen über "Verkaufsmodalitäten", die sich an im Inland tätige Wirtschafsteilnehmer richten, ist ein solcher Bezug nämlich in der Regel nicht gegeben?65 Damit wird etwas betont, was bei den anderen Grundfreiheiten genauso gilt und dort auch insoweit ganz selbstverständlich so gehandhabt wurde, als diese nicht auf Betätigungen anwendbar waren, "deren wesentliche Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen".266 So bezeichnet es auch Generalanwalt Lenz als eine "Konstante aller Grundfreiheiten", daß ihre "Ausübung stets - mindestens - zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft berührt".267 Während aber bei den anderen Grundfreiheiten dieser generelle und selbstverständliche Ausschluß rein nationaler Fälle aus dem Anwendungsbereich des Europarechts soweit ersichtlich ausgereicht hat, um die notwendige Eingrenzung dieser Freiheiten zu bewirken, war beim Warenverkehr trotz an sich rein nationaler Streitigkeiten (mit nur inländischen Beteiligten und über auf das Inland beschränkte Vorgänge) ein grenzüberschreitender Bezug allein dadurch zu konstruieren, daß potentiell auch eingeführte Produkte betroffen sein konnten (vgl. etwa die Sunday-Trading-Fälle). Deshalb bedurfte es hier einer KlarsteIlung, daß diese allgemeine Betroffenheit auch ausländischer Produkte nicht ausreicht, sondern daß gerade ihre Grenzüberschreitung besonders belastet werden muß. Die beiden Fragen sind aber auseinanderzuhalten: Zum einen geht es darum, ob der konkret zu beurteilende Fall überhaupt Bezüge zu mehr als einem Mitgliedstaat aufweist. Diese Frage hat der EuGH im übrigen bei Art. 28 EGV, anders als insbesondere bei Art. 49 und 43 EGV, in einigen Entscheidungen nicht gestellt bzw. trotz Fehlens eines solchen Auslandsbezugs Art. 28 EGV geprüft. 268 Diese unterschiedliche Behandlung ist kaum zu erklären; m.E. ist der grenzüberschreitende Bezug Grundvoraussetzung dafür, daß der EuGH überhaupt tätig werden darf. So hatte auch noch 263 Vgl. Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 28 Rdnr. 8; Wördemann, International zwingende Normen (1997), 276. 264 Vgl. oben § 3 VII. 265 Vgl. Rdnr. 16 des Keck-Urteils sowie auch Rdnr. 14 ("auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist"). 266 Vgl. nur EuGH, 18.3. 1980, Debauve, Rs. 52179, Slg. 1980,833,855 Rdnr. 9. 267 In EuGH, 5. 10. 1994, Kommission 1Frankreich, Rs. C-381 193, Slg. 1994, 1-5145, 5156 Tz. 33; in Tz. 34 folgert er daraus, alle Mitgliedstaaten müßten daran mitarbeiten, daß das Überschreiten einer innergemeinschaftlichen Grenze nicht durch spezifische Hindernisse beeinträchtigt werde. 268 Vgl. vor allem EuGH, 12. 10.2000, Cidrerie Ruwet, Rs. C-3/99, Slg. 2000, 1-8749; EuGH, 7. 5. 1997, Pistre u. a., verb. Rs. C-321 194 bis C-324/94, Slg. 1997,1-2342,2374 f. Rdnr. 44 f. und auch EuGH, 24. 11. 1993, Keck und Mithouard, Rs. C-267 191 und 268/91, Slg. 1993,1-6097.

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung

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der EuGH in Oosthoek's Uitgeversmaatschappij entschieden?69 (Anders ist es allerdings, wenn ein nationales Gericht aufgrund nationalen Verfassungsrechts inländische Fälle den grenzüberschreitenden gleichstellen will und deshalb auch in einem internen Fall um eine Auslegung der europarechtlichen Vorschriften bittet. 27o In solchen Fällen muß der EuGH die gestellten Fragen beantworten.) Zum anderen kann, auch wenn dieser grundsätzliche grenzüberschreitende Bezug gegeben ist, bei Art. 28 EGV also eingeführte Waren betroffen sind, die Belastung nur eine ganz "allgemeine" sein, die also im beschriebenen Sinne nur aus der Regelung als solcher folgt, so daß die spezifisch die Grenzüberschreitung treffende Behinderung fehlt. Dieser über die Verneinung eines rein internen Sachverhalts hinausgehende grenzüberschreitende Bezug ist auch bei den anderen Grundfreiheiten erforderlich. Der Bedarf dafür ist dort bisher nicht so deutlich zutage getreten; es wird aber noch gezeigt, daß es ihn gibt. 271

269 EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575, 4586 Rdnr. 9; so jetzt auch wieder EuGH, 5. 12. 2000, Guimont, C-448/98, Sig. 2000, 1-10663,10688 Rdnr. 21. Vgl. aber die abweichende Auffassung - Anwendbarkeit auch in rein nationalen Fällen von Weyer, EuR 1998,435 (allerdings wohl nur für diskriminierende Maßnahmen); Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 66 ff.; unter Bezugnahme auf das Urteil Pistre auch GA Fenelly in seinen Schlußanträgen zu EuGH, 12. 10. 2000, Cidrerie Ruwet, Rs. C-3/99, Sig. 2000, 1-8749, 8755 Tz. 12; ebenso GA La Pergola in EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151, 155 f. Tz. 7 f. - seine Betonung darauf, daß Art. 28 EGVauch dann anwendbar sei, wenn alle personenbezogenen Umstände sich innerhalb eines Mitgliedstaats halten (vgl. Tz. 8 und insbes. Fn. 9, Hervorhebung von mir), stützt die im Text geäußerte Vermutung, daß die rein-intern-Rechtsprechung deshalb beim Warenverkehr keine große Rolle gespielt hat, weil über die potentiell betroffenen einzuführenden Produkte der grenzüberschreitende Bezug insoweit trotz an sich nationaler Fälle konstruiert werden konnte. Wenn in einem konkreten Fall aber auch die "produktbezogenen Umstände" nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, und so war es in Keck, Pistre und Cidrerie Ruwet, dürfte Art. 28 EGV danach keine Anwendung finden. Wie hier z. B. auch GA Saggio in seinen Schlußanträgen zu EuGH, 5. 12. 2000, Guimont, C-448/98, Sig. 2000, 1-10663, 10666 ff. Tz. 5 ff. (insbesondere Tz. 7 zur Unvereinbarkeit mit der Rechtsprechung zu den anderen Grundfreiheiten); wohl auch Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), 95 f.; vgl. auch die oben Fn. 75 zitierten Autoren. Zweifelnd (zu allen Grundfreiheiten) Tesauro, YEL 15 (1995), 1, 16. Zur Niederlassungsfreiheit die Rechtsprechung zu den rein internen Sachverhalten ablehnend Nachbaur, Niederlassungsfreiheit (1999),108 ff. (allerdings vor dem Hintergrund seines Verständnisses der Niederlassungsfreiheit als ein Diskriminierungsverbot); für eine Ausdehnung auf rein interne Sachverhalte im Wege der Rechtsfortbildung Lackhoff, Niederlassungsfreiheit (2000), 55 ff., 126; vgl. auch zur Arbeitnehmerfreizügigkeit Wölker, in: vdGroebenl ThiesinglEhlemumn, Art. 48 Rdnr. 12. 270 Dies war der Hintergrund in EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000,1-151, vgl. die Ausführungen von GA La Pergola, 1-155 Tz. 5; der EuGH selbst weist nur auf die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts hin, über die Erheblichkeit für sein Urteil zu entscheiden, 1-167 Rdnr. 13. In EuGH, 5. 12. 2000, Guimont, C-448/98, Sig. 2000, 1-10663, 10688 Rdnr. 22 f. beantwortet der Gerichtshof die Vorlagefragen ebenfalls mit dem Hinweis auf diese Zuständigkeit des nationalen Gerichts und weist dabei darauf hin, daß eine Antwort dann von Nutzen sein könne, wenn nationales Recht die Gleichbehandlung von Inländern vorschreibe. 271 Siehe z. B. unten Zweiter Teil, § 6 11.2. b) bb) (1).

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Im Rahmen des oben beschriebenen Spannungsverhältnisses dient diese Klarstellung dem Erhalt der föderalen und dezentralen Entscheidungsstruktur. In Hinblick auf diese ist auch eine Beschränkung der Ausnahme auf "rein nationale Fälle" in dem Sinne, daß auch keine eingeführten Produkte betroffen sein dürfen, nicht hinnehmbar. 272 (In diesem Sinne besteht eine Beziehung der Keck-Rechtsprechung zum Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGV - auch dieses führt das föderale Prinzip nicht neu in die Gemeinschaft ein, sondern betont es nur erneut. 273 ) Auch keine Neuerung des hier entwickelten Konzepts, sondern bei vielen der dargestellten Ansätze zu finden ist die Betonung der Ermöglichung des Zugangs zu den Märkten aller Mitgliedstaaten (und damit des "Herkunftslandprinzips") als Legitimation der Kontrolle mitgliedstaatlicher Regelungen anhand Art. 28 EGY. Auf dieser gemeinsamen Grundlage geht es dann nur noch darum, wie diese grundsätzliche Überlegung am besten konkretisiert werden kann, d. h. wie in einem konkreten Fall festgestellt werden kann, ob gerade der grenzüberschreitende Marktzugang betroffen ist. An dieser Stelle kommen auch Überlegungen der Rechtssicherheit ins Spiel. Das hier vorgeschlagene System abgestufter Testfragen läßt zum einen die dahinterstehende Überlegung der spezifischen Behinderung der Grenzüberschreitung erkennen, und macht den Test damit nachvollziehbar und auf beliebige Situationen übertragbar, und zum anderen bietet es soweit wie möglich klare Grenzziehungen und greift erst am Ende auf offene Abwägungen zurück. So werden mit den ersten bei den Prüfungspunkten zuerst diejenigen Regelungen herausgegriffen, denen die spezifische Belastung der Grenzüberschreitung sozusagen ins Gesicht geschrieben steht, weil man sie unmittelbar am Tatbestand der Regelungen ablesen kann: Sie regeln entweder Vorgänge, die nur bei der Grenzüberschreitung selbst vorkommen, oder sie diskriminieren offen eingeführte Produkte, entweder indem sie direkt an die ausländische Herkunft anknüpfen oder durch Verwendung eines anderen, aber nur für eingeführte Produkte zutreffenden Kriteriums. (Für letzteres sind zwar gewisse Zusatzinformationen erforderlich, die nicht der Regelung selbst zu entnehmen sind; es handelt sich aber dennoch um direkt festzustellende Benachteiligungen. Sobald Zweifel bestehen, sollte mit den weiteren Prüfungspunkten gearbeitet werden.) Der sich anschließende "EG-weit-Test" stellt eine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung dadurch fest, daß ein hypothetischer Vergleichsfall gebildet wird, in dem die rechtliche Bedeutung der Grenzüberschreitung entfällt. Würde dann die konkrete Belastung so nicht auftreten, sind grenzüberschreitende Fälle von der nationalen Regelung besonders betroffen. Anderenfalls unterfällt die Regelung nur dann dem durch Art. 28 EGV vermittelten Rechtfertigungszwang, wenn im Rahmen der Gegenkontrollen dennoch eine besondere Behinderung des grenzüberschreitenden Marktzugangs festgestellt 272 So sind aber wohl die Vertreter der oben unter § 3 VII. beschriebenen Ansicht zu verstehen. 273 Vgl. Ackermann, RIW 1994, 189, 193; Everling, in: GS Knobbe-Keuk (1997), 607, 620. Vgl. zur in Keck angelegten Rücksichtnahme auf die Identität der Mitgliedstaaten auch noch Steindorff, ZHR 163 (1999), 395, 422 f.

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werden kann. Das ist einerseits der Fall, wenn faktisch durch eine solche Regelung (überwiegend) eingeführte Produkte benachteiligt werden, und andererseits, wenn sie im konkreten Fall ein extremes Zugangshindemis bedeutet. Die Abfolge dieser Prüfungspunkte ist dabei zunächst durch die zunehmend schwieriger werdende Feststellung der spezifisch grenzüberschreitenden Behinderung bestimmt. Häufig werden die immer weniger direkten Eingriffe aber gleichzeitig auch entsprechend weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen für den Wirtschaftsteilnehmer bedeuten. In diesem gestuften System kommt die im Bereich aller Grundfreiheiten oft diskutierte Unterscheidung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot nicht vor?74 Man könnte zwar die verschiedenen Prüfungspunkte jeweils dem einen oder anderen zuzuordnen versuchen, wobei sich aber etwa bei dem EG-weit-Test schon Schwierigkeiten ergeben würden, da dieser (wie schon oben 3. a) angesprochen und sogleich noch einmal zu unterstreichen) einem weit verstandenen Diskriminierungsverbot entspricht, aber doch gerade viele der Regelungen erfaßt, die oft dem Beschränkungsverbot zugeordnet werden. Vor allem aber ist damit schon die Fraglichkeit der Unterscheidung dieser bei den Bereiche überhaupt angesprochen, denn sie lassen sich erstens nur bedingt gegeneinander abgrenzen. 275 Zweitens ist die Einteilung nicht ausreichend, um eine sinnvolle Kategorisierung nach wirklich ähnlichen Fallgestaltungen zu ermöglichen,276 wie auch die vielfach entwickelten Differenzierungen innerhalb dieser bei den Kategorien 277 zeigen. Gleichzeitig führt sie damit aber drittens auch eine überflüssige Abstraktionsebene ein: Um die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV zu begründen, bedarf es auf jeden Fall der Feststellung einer (ausreichenden) Beschränkung durch die fragliche nationale Regelung. Das sogenannte Beschränkungsverbot selbst will darauf jedoch keine Antwort geben. 278 Es besagt nur, ob bzw. in welchen Fällen auch eine "bloße Beschränkung" 274 Vgl. zu dieser Unterscheidung nur Everling, GS Knobbe-Keuk (1997), 607; KnobbeKeuk, DB 1990, 2573; Roth, in: FS Großfeld (1999), 929; Roth, GS Knobbe-Keuk (1997), 729. 275 Vgl. GA Lenz in EuGH, 5. 10. 1994, IV 10, Rs. C-23/93, Slg. 1994,1-4795,4808 Tz. 40; GA Jacobs in EuGH, 25. 7. 1991, Säger; Rs. C-76/90, Slg. 1991,1-4221,4233 f. Tz. 20 ff.; Behrens, EuR 1992, 145, 154; Knobbe-Keuk, DB 1990,2573,2577; Wägenbaur; EuZW 1991,427,430; Wölker; in: vdGroeben/Thiesing/Ehlennann, Art. 48 Rdnr. 6. 276 Vgl. die ähnliche Einschätzung bei Eilmansberger; JBl 1999,345,347. 271 Vgl. z. B. Mareneo, CDE 20 (1984), 291; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I; White, CMLRev. 26 (1989), 235. 278 Bezeichnend Lackhoff, Niederlassungsfreiheit (2000), der nach einer ausführlichen Behandlung der Frage, ob die Niederlassungsfreiheit ein Beschränkungsverbot beinhalte, schließlich zu der Erkenntnis findet, dies führe "zu einer weiteren Problematik, die noch wenig beleuchtet ist: Wenn Art. 52 EGV (Art. 43 EGV n.F.) ein Beschränkungsverbot ist, muß bestimmt werden, was alles eine Beschränkung ist." (So die Ankündigung auf S. 210, die Frage wird dann ab S. 382 behandelt. Im Ergebnis kommt es danach auf die Wirkung der Maßnahme an [416], was dann durch die Übertragung der Dassonville-Formel auf die Niederlassungsfreiheit "konkretisiert" wird [431, 442].)

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit begründen kann. Die Fälle, in denen es Anwendung finden soll, sind dann aber genau diejenigen, in denen (nach der Ansicht des jeweiligen Autors) eine Beschränkung vorliegt. Es geht also gerade nicht darum, zunächst einen Bereich abzustecken, in dem das Beschränkungsverbot gilt, um sodann zu fragen, ob die jeweilige Regelung eine solche Beschränkung darstellt. Vielmehr fallt beides zusammen: Wenn eine (maßgebliche) Beschränkung des Warenverkehrs vorliegt, soll das Beschränkungsverbot Anwendung finden, fehlt dagegen eine solche maßgebliche Beschränkung, so soll es beim Diskriminierungsstandard verbleiben. 279 Damit ist aber eine übergeordnete Kategorie wie das Beschränkungsverbot überflüssig. Vielmehr reicht es, die entscheidende Frage, ob eine maßgebliche Beschränkung vorliegt, zu beantworten. Ist das der Fall, ist die Grundfreiheit anwendbar, andernfalls wird die nationale Maßnahme nicht überprüft. Die Kategorie des Beschränkungsverbots hat darüber hinaus keine eigene Aussagekraft. 28o Das Diskriminierungsverbot bleibt zwar in gewisser Hinsicht als eine der verschiedenen Weisen, wie die Grenzüberschreitung spezifisch getroffen werden kann,281 erhalten, jedoch aufgeteilt in verschiedene Formen (1., 279 Vgl. z. B. Roth, in: FS Groß/eid (1999), 929, 944 ff., 948: "Beschränkungen des Marktzugangs bedürfen einer gesteigerten Kontrolle ... in Form eines Beschränkungsverbots"; Roth, in: GS Knobbe-Keuk (1997),729,737 ff., 739: " ... keine den Marktzugang spezifisch sperrenden oder erschwerenden Wirkungen. Damit greift ... nicht das Beschränkungs-, sondern nur das Diskriminierungsverbot ein" (zu Art. 43 EGV). Ähnlich begrenzen auch andere Autoren den Anwendungsbereich des Beschränkungsverbots auf den Marktzugang betreffende Regelungen, etwa Everling, in: GS Knobbe-Keuk (1997), 607, 619 ff., 625 (zu Art. 43 EGV); Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 52 Rdnr. 58. Damit soll natürlich nicht übersehen werden, daß im Vordergrund dieser Äußerungen die Bedeutung des Marktzugangs steht, und damit die spezifische Behinderung der Grenzüberschreitung, die auch in dieser Untersuchung den Dreh- und Angelpunkt für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten bildet. Das ändert aber nichts daran, daß neben dieser Erkenntnis die Kategorie des Beschränkungsverbots eine überflüssige Abstraktion darstellt. Regelungen, die den Marktzugang unberührt lassen, fallen deshalb nicht in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, weil sie keine relevanten Beschränkungen dieser Freiheiten darstellen, und nicht, weil das Beschränkungsverbot hier keine Anwendung fande. Wenn sie hingegen diskriminierend wirken, betreffen sie spezifisch die Grenzüberschreitung und fallen deshalb in den Anwendungsbereich. 280 Zur KlarsteIlung soll hier noch einmal festgehalten werden, daß der hier vertretene Ansatz selbstverständlich klar auf der Seite eines - richtig verstandenen, d. h. begrenzten Beschränkungsverbots steht. Der Topos war und ist wichtig für die Erkenntnis, daß Art. 28 EGV (bzw. allgemein die Grundfreiheiten) eben auch Maßnahmen erfassen kann, die nicht in dem einen oder anderen Sinne als diskriminierend zu bezeichnen sind. Ist diese Entscheidung aber grundsätzlich getroffen, so braucht nicht für jede konkret zu beurteilende Regelung zuerst untersucht zu werden, ob sie in den Bereich des Diskriminierungs- oder des Beschränkungsverbots fallt, sondern es genügt (und ist m.E. besser), direkt zu fragen, ob eine relevante Beschränkung vorliegt, wie das mit dem vorgeschlagenen Testsystem geschieht. Damit erübrigen sich auch Vorwürfe, der Gerichtshof verwische durch bestimmte Entscheidungen die Grenze zwischen Diskriminierungen und Beschränkungen, wie z. B. bei Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag (2002), 93. Vgl. dazu schon oben Einleitung, bei und vor allem in Fn. 27, sowie unten Dritter Teil, § 9 I. bei und in Fn. 949 bis 951.

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2. und 4. Prüfungsfrage, je nach Diskriminierungsbegriff auch die 3.). Damit wird auch weitgehend der Streit um Begriffe vermieden, der mit der Unterscheidung von Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot zwangsläufig verbunden ist und oft den Blick auf Gemeinsamkeiten verstellt. Für die Frage, weIche Rechtfertigungsmaßstäbe bei den verschiedenen Stufen jeweils gelten sollen, ist zunächst daran zu erinnern, daß auch bei der herkömmlichen Unterscheidung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot die Trennlinie keineswegs so verläuft, daß im Bereich des ersteren nur Art. 30 EGV in Betracht käme, während nur für letzteres auch die zwingenden Erfordernisse der Cassis-Rechtsprechung zur Verfügung ständen. Vielmehr ist anerkannt, daß letztere jedenfalls materielle Diskriminierungen ebenfalls rechtfertigen können. 282 Es bietet sich an, die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen entsprechend den verschiedenen Eingriffsqualitäten ebenfalls abgestuften (d. h. zunehmend leichteren) Maßstäben folgen zu lassen. Dabei muß es nur für offen oder versteckt nach der Herkunft der Waren diskriminierenden Vorschriften bzw. unmittelbar die Grenzüberschreitung verhindernden Maßnahmen bei einer Rechtfertigung nach Art. 30 EGV verbleiben. Für alle anderen Maßnahmen kommen grundsätzlich auch die Cassis-Gründe zur Rechtfertigung in Betracht, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird dabei aber je nach Schwere des Eingriffs unterschiedlich streng abzuwägen sein?83 Abschließend soll noch auf die weitreichenden Gemeinsamkeiten auch mit dem Ansatz, der Art. 28 EGV auf ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot reduzieren wi1l 284, hingewiesen werden: Schon der Ausgangspunkt einer spezifischen Belastung der Grenzüberschreitung impliziert, daß grenzüberschreitende Fälle anders getroffen werden als rein nationale und damit im weit verstandenen Sinne eine Diskriminierung der Einfuhr gegenüber dem rein inländischen HandeI. 285 Sieht 281 Daß die Diskriminierung nur eine (aber die wichtigste) Form der Beschränkung ist, wird verschiedentlich betont, vgl. Eilmansberger; JBI 1999,345,347; Jarass, EuR 1995, 202, 211; Kiemel, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 73b Rdnr. 14; Knobbe-Keuk, EuZW 1991,649,651; dies., DB 1990,2573,2575. Das allein wäre allerdings m.E. noch kein Argument gegen die Dichotomie von Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot, vgl. aber Eilmansberger a. a. O. Zu dem entscheidenden Gesichtspunkt, daß die Diskriminierung den erforderlichen grenzüberschreitenden Bezug herstellt, siehe auch Classen, EWS 1995,97, 105. 282 Das folgt daraus, daß die Cassis Rechtsprechung (nur) unterschiedslos anwendbare Regelungen betrifft. Vgl. Müller-Graf!, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 195 f., der allerdings zwar materiell diskriminierende Regelungen gerade aus dem Anwendungsbereich der Cassis-Formel ausnehmen will, jedoch dafür diesen Begriff entsprechend eng definiert. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll die Probleme, die sich aus den verschiedenen Diskriminierungsbegriffen ergeben. 283 V gl. dazu auch unten Dritter Teil, § 10 II. 284 Oben § 3 I. 285 Vgl. auch die gemeinsame Behandlung dieser Ansätze bei Keßler; System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 18 ff.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

man sich die einzelnen Testfragen an, so liegt für die unmittelbar an die Grenzüberschreitung anknüpfenden Maßnahmen wie für die offenen Diskriminierungen eingeführter Produkte die stärkere Betroffenheit eingeführter Produkte auf der Hand. Auch der EG-weit-Test führt dazu, solche Regelungen dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV zuzuweisen, die für grenzüberschreitende Fälle eine Belastung mit sich bringen, die in rein inländischen Fällen nicht besteht. Auch diese lassen sich also als materielle Diskriminierungen oder faktischen Benachteiligungen eingeführter Produkte verstehen?86 Die Gegenkontrolle der faktischen Diskriminierung stellt ohnehin offen darauf ab. Anders ist das nur bei den exorbitanten Zugangsbeschränkungen: Derartige Regelungen haben genauso belastende Wirkung für solche inländischen Wirtschaftsteilnehmer, die auch noch nicht auf diesem (Produkt-)Markt vertreten sind?87 Wie bereits dargelegt,28B läßt sich auch nicht ohne weiteres eine diskriminierende Wirkung damit begründen, daß die bereits etablierten Produkte in aller Regel oder zumindest überwiegend einheimische seien?89 Vielmehr ist an sich von einer Gleichbehandlung der noch nicht etablierten inländischen und eingeführten Produkte auszugehen. Erst dadurch, daß überhaupt ein grenzüberschreitender Fall vorliegt, wird die Marktzugangsschranke zu einer spezifischen Behinderung der Grenzüberschreitung. Es sind allein diese Fälle, in denen sich dieser Ansatz von dem eines weiten Diskriminierungsverbots unterscheidet, da sie von letzterem wohl nicht erfaßt werden könnten. Es ist daher mit Marenco und anderen festzuhalten, daß Art. 28 EGV "ganz überwiegend" verhindern will, daß grenzüberschreitende Warenbewegungen gegenüber rein inländischen in irgendeiner Form, beabsichtigt oder nicht, durch nationale Regelungen benachteiligt werden. 29o Nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn der Marktzugang allgemein durch bestimmte Regelungen extrem erschwert wird, weil sich der betroffene Produktmarkt etwa ohne eine bestimmte Absatzform kaum erschließen läßt, können auch in diesem weiten Sinne nichtdiskriminierende Regelungen an der Warenverkehrsfreiheit zu messen sein. 291

Vgl. oben 3. a). Eine Diskriminierung, auch in dem Sinne, daß ungleiche Fälle ungerechtfertigt gleichbehandelt würden, liegt hier eben nicht zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Fällen vor, sondern nur zwischen schon etablierten Produkten und "Newcomern". 288 Oben 3. b). 289 Die Situation ist auch anders als bei den (DienstIeistungs-) Monopolen, vgl. unten Zweiter Teil, § 6 11. 2. d), da dort der begünstigte Monopolist immer ein inländisches Unternehmen ist. 290 Vgl. Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 36 Fn. 102,39 f. Fn. 117. 291 Vgl. auch die von Bemard, ICLQ 45 (1996), 82,97 ff. festgestellten Grenzen des Diskriminierungsansatzes. 286 287

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IH. Anwendung des Tests auf einige (weniger problematische) Fallgruppen Im folgenden wird kurz die Anwendung dieses Tests auf die diskutierten Gruppen von Regelungen demonstriert. Dabei werden die beiden problematischsten Fallgruppen - nämlich Werbung und Absatzförderung auf der einen Seite sowie Monopole und Konzessionssysteme auf der anderen - zunächst ausgespart,z92 Die beiden ersten Prüfungsschritte des obigen Schemas kommen hier nicht vor die Einordnung solcher Regelungen ergibt sich von selbst. 293 J. "Typische" Verkaufsmodalitäten

Die "typischen Verkaufsmodalitäten" - am häufigsten charakterisiert durch wo, wann, von wem und wie (teilweise auch zu welchem Preis, dazu sogleich 2.) ein Produkt verkauft (teilweise auch benutzt) werden darf 94 - sind weniger einheitlich und unproblematisch zu beurteilen, als die Bezeichnung vermuten läßt. Leicht fällt die Beurteilung der Regelungen über das "wann": Öffnungszeiten wurden schon oben als das Paradebeispiel für Regelungen, die auch EG-weit nicht anders wirken würden, angeführt. Faktische Benachteiligungen sind nur denkbar, wenn dabei an bestimmte Merkmale von Produkten angeknüpft wird - dazu sogleich 5. Denkbar (wenn auch nicht allzu wahrscheinlich) ist allerdings eine exorbitante Zugangsbeschränkung, wenn nur extrem kurze Öffnungszeiten zugelassen werden. Hinsichtlich des "wo" und "von wem" ist der EG-weit-Test ebenfalls häufig mit "nein" zu beantworten: Bebauungsplanvorschriften (Wohn-, Misch-, Gewerbegebiete)295, bestimmte Anforderungen an Geschäftsräume oder Händler etc. finden nur auf rein inländische Vorgänge Anwendung, sie belasten den Verkauf von (auch importierten) Waren aus sich selbst heraus, nicht weil in anderen Staaten abweichende Regelungen dieser Fragen existieren. Zu faktischen Benachteiligungen und exorbitanten Zugangsbeschränkungen gilt dann dasselbe wie bei den Öffnungszeiten; insbesondere sind auch hier extreme Beschränkungen (theoretisch) denkbar, etwa wenn bestimmte Geschäfte nur sehr weit außerhalb dicht bewohnter Gegenden gelegen sein dürfen. Regelungen des wo und wer können aber auch einerseits Mit diesen beschäftigt sich ausführlich § 5 der Arbeit. Vgl. dazu aber noch unten § 5 I. 2. a) bb). 294 Ackermann, RIW 1994, 189, 193; GA Tesauro in EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund, Rs. C-292/92, Slg. 1993,1-6787,6803 Tz. 9; White, CMLRev. 26 (1989), 235, 247. 295 Vgl. Mortelmans, CMLRev. 28 (1991), 115, 121; GA Van Gerven in EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145 188, Slg. 1989, 3851, 3880 Fn. 45 (allerdings für die Niederlassungsfreiheit); vgl. auch EuGH, 8. 12. 1987, Gauchard, Rs. 20/87, Slg. 1987,4879 (zu Art. 43). 292 293

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

zur Aufgabe eines Vertriebssystems zwingen, wenn sie etwa den Verkauf nur in festen Geschäftsräumen zulassen und so sowohl Haustürverkauf als auch Versandhandel unmöglich machen?96 In diesem Fall würde eine EG-weite Regelung anders wirken, da dann diese Vertriebsformen nirgendwo rechtmäßig angewandt würden und dementsprechend auch keine solche Strategie aufzugeben wäre. Andererseits können sie, selbst wenn kein solches System vorliegt und der EG-weit-Test daher zu verneinen ist, eine wichtige Absatzmethode nehmen und dadurch zu einer schweren Zugangsbehinderung führen. Insbesondere bei Regelungen, die den Verkauf bestimmter Produkte bestimmten Berufsgruppen, bestimmten Arten von Geschäften oder besonders zugelassenen Geschäften vorbehalten bzw. Verkaufsmonopole errichten, ergeben sich leicht erhebliche Hindernisse für Anbieter, die diesen Markt neu erschließen wollen. 297 Die problematischen Regelungen aus dem Bereich des "wie" sind Gegenstand ausführlicher Überlegungen in § 5 I. unter dem Stichwort Werbung und Absatzförderung.

2. Preisregelungen Preisregelungen eines Staates würden sich grundsätzlich als EG-weite Regelung nicht anders auswirken: Die eventuelle Belastung ergibt sich aus dem Verhältnis von Produktionskosten und dadurch möglichem Verkaufspreis gegenüber dem erlaubten Preis; welcher Verkaufspreis in anderen Staaten zulässig ist, spielt dabei keine Rolle. In Einzelfällen mag eine Preiskampagne als Strategie auch grenzüberschreitend angewandt werden sollen; in einem solchen Fall kann man anders entscheiden?98 Denkbar ist in diesen Fällen jedoch eine faktische Benachteiligung eingeführter Produkte, auf die die Rechtsprechung schon immer abgestellt hat: 299 Preise können so festgelegt sein, daß Einfuhren z. B. aufgrund höherer Transportkosten, höherer Qualitätsstandards im Produktionsstaat etc. unrentabel werden oder aber auch dazu führen, daß niedrigere Produktionskosten im Ausland nicht in niedrigeren Preisen an den Verbraucher weitergegeben werden können.

296 Vgl. Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 39 f.; vgl. dazu auch die noch anhängige Rs. C-322/0l, Deutscher Apothekerverband, zum deutschen Arzneimittelversandhandelsverbot, sowie dazu Streinz, EuZW 2003,37. 297 Vgl. dazu unten § 5 H. 298 Vgl. dazu unten § 5 I. 1. a); solch ein System müßte zumindest hinreichend belegt werden. 299 Vgl. oben § 1 H. 1. c).

§ 4 Analyse und Bewertung der ,Keck'-Rechtsprechung

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3. "Zu ungewiß und zu mittelbar" - Fälle Interessant sind vor allem die Fälle, die der EuGH nach Keck unter Rückgriff auf die ältere Formulierung, die Wirkungen seien "zu ungewiß und zu mittelbar", entschieden hat. 3OO Sie lassen sich sämtlich mit dem EG-weit-Test lösen: 301 Warentransporte mit einem Schiff würden durch eine EG-weite Regelung, die das Einleiten von Schadstoffen ins Meer verbietet, genauso verteuert wie durch die entsprechende nationale Regelung (Peralta);302 genauso wirken sich festgelegte Tarife für den Güterkraftverkehr (Centro Servizi Spediporto)303 und Gebühren bei der Benutzung von Hafeneinrichtung bzw. (verpflichtender) Inanspruchnahme von Hafenunternehmen (Corsica Ferries France) auf den Verkauf von Waren aus; die Bedingungen für die Eröffnung eines Einzelhandelsgeschäfts beeinflussen den Verkauf eingeführter Waren auch nur aus sich selbst heraus, ob in einem anderen Staat Geschäfte unter anderen Voraussetzungen zugelassen werden, ist für den Verkauf von Waren in dem erstgenannten Geschäft unerheblich (DIP u. a.); und wenn ein Mineralölunternehmen gezwungen wird, mehrere Inseln einer Inselgruppe zu beliefern, wenn es überhaupt dort tätig werden will, so spielt es dafür ebenfalls keine Rolle, ob dies bei einer anderen Inselgruppe oder bezüglich bestimmter Regionen in anderen Staaten auch so vorgesehen ist oder nicht (Esso Espafiola). Genauso lassen sich auch die bei den Ausgangsentscheidungen dieser Gruppe erfassen: Verkäufe (unter Eigentumsvorbehalt) in einem Staat, der ein staatliches Pfändungsrecht unter Eigentumsvorbehalt stehender Gegenstände kennt, würden genauso erschwert, wenn dieses Recht auch in anderen Staaten bestände (Krantz).304 Und eine Aufklärungspflicht des Verkäufers steht seinen Verkäufen eingeführter Waren auf dieselbe Weise entgegen, wenn diese auch in allen anderen Staaten besteht Oben § 2 IV. einerseits und § 1 11. 1. b) andererseits. Das trifft auch zu für die Entscheidung EuGH, EuGH, 22. 6. 1999, ED, Rs. C-412/97, Slg. 1999, 1-3845, 3879 f. in der es aber um einen Exportfall ging (Rdnr. 11 enthält die zu ungewiß und zu mittelbar Formel, nachdem in Rdnr. 10 zunächst die seit Groenveld übliche Aussage zu Art. 29 EGV getroffen wird): Eine EG-weite Geltung des Ausschlusses von Mahnverfahren gegenüber Schuldnern im Ausland würde sich für den konkreten Fall nicht anders auswirken als die nationale. Das ist typisch für auf die Gegenleistung bezogene Regelungen. Dennoch bedeutet dieses Urteil einen gewissen Bruch in dieser Rechtsprechungslinie, da bisher immer betont wurde, daß die Regelung unterschiedslos anwendbar sei. Das ist bei der hier fraglichen Regelung kaum zu behaupten, sie gilt schließlich nur für Verfahren gegenüber im Ausland wohnhaften Schuldnern. Vgl. dazu auch noch unten Dritter Teil, § 10 I. Fn.988. 302 Vgl. allgemein zur Einordnung umweltrechtlicher Vorschriften als "market circumstances" auch Mortelmans, CMLRev. 28 (1991),115,116 Fn. 3. 303 Ähnliches könnte gelten für Geschwindigkeitsbegrenzungen für den Güterkraftverkehr, vgl. GA Van Gerven in EuGH, 23. 11. 1989, Toifaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3880 Tz. 26 Fn. 45. 304 Diesen Fall ordnet auch GA Van Gerven in GA Van Gerven, EuGH, 23. 11. 1989, Torfaen, Rs. C-145/88, Slg. 1989,3851,3880 Tz. 26 Fn. 45 genauso ein wie Öffnungszeitenregelungen. 300 301

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

(CMC Motorradcenter). Hierin liegt einer der wesentlichen Vorzüge dieses Tests: Er läßt sich umfassend anwenden, ohne dabei aber an Klarheit zu verlieren. 305 Zu faktischen Benachteiligungen und schwerwiegenden Zugangsbeschränkungen ergeben sich hier keine Besonderheiten. 4. Verkaufsmodalitäten-Regelungen, die an Produktmerkmale anknüpfen

Vorsicht ist geboten bei Modalitätenregelungen, die an bestimmte Merkmale von Produkten anknüpfen: 306 Sofern diese Merkmale die Folge von (in den Mitgliedstaaten unterschiedliche geregelten) Anforderungen an Produkte sind, ergibt sich evtl. doch eine Belastung aufgrund von Regelungsunterschieden; man muß dann die produktbezogene Regelung sozusagen mit in den Blick nehmen. Notfalls bleibt die Gegenkontrolle der faktischen Benachteiligung. 5. Produktbezogene Regelungen

Beschränkungen, die sich aus Anforderungen an Merkmale des Produkts ergeben, würden entfallen, wenn die Regelung EG-weit in dieser Form gälte, denn dann wären keine Produkte in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und / oder auf den Markt gebracht worden, die nicht dieser Regelung entsprechen und für die sie daher ein Hindernis darstellen könnte. Gleiches gilt für Zulassungserfordernisse. 6. Verkaufs- und Nutzungsverbote

Nichts anderes gilt auch für vollständige Verbote des Verkaufs oder der Nutzung eines Produkts: 307 Würde ein solches Verbot EG-weit gelten, so wäre das entspre305 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung EuGH, 20. 6. 1996, Semeraro Casa Uno u. a., Rs. C-418/93 u. a., Sig. 1996,1-2975,3004 ff. Rdnr. 9 ff. einerseits und 3009 Rdnr. 32 andererseits zu einer Regelung über Sonntagsverkaufsverbote, in der der Gerichtshof für Art. 28 EGV zwar auf die Keck-Formel zurückgriff, zu Art. 43 EGV jedoch mit "zu ungewiß und zu mittelbar" argumentierte. 306 Vgl. White, CMLRev. 26 (1989), 235, 258; siehe auch GA Jacobs, EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995,1-179, 196 Tz. 45 (Auswirkung hängt davon ab, ob die Regelung für alle oder nur für bestimmte Waren gilt). 307 Vgl. EuGH, 11. 5. 1989, Kommission/ Deutschland ("Milchersatzerzeugnisse"), Rs. 76/86, Sig. 1989, 1021; EuGH, 17.5. 1988, Warner Brothers/ Christiansen, Rs. 158/86, Slg. 1988,2605; EuGH, 23. 2. 1988, Kommission/Frankreich ("Kaffeeweißer"), Rs. 216/84, Sig. 1988,793; EuGH, 11. 7. 1985, Cinerheque, verb. Rs. 60/84 und 611 84, Sig. 1985,2605. Ähnlich liegen auch EuGH, 23. 10. 2001, Tridon, Rs. C-510/99, Sig. 2001, 1-7777 (Verbot jeglicher Nutzung von in Gefangenschaft geborenen Exemplaren wildlebender Tierarten) und EuGH, 3. 12. 1998, Bluhme, Rs. C-67/97, Sig. 1998, 1-8033 (Verbot, andere als eine bestimmte Bienenart zu halten).

§ 5 Kritische Fallgruppen

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chende Produkt nirgendwo in der Gemeinschaft verkehrsfähig (im Falle von Nutzungsverboten zumindest faktisch nicht auf dem Markt; bei zeitlich beschränkten Verboten jedenfalls im Verbotszeitraum nicht) und stieße daher nicht erst bei der Grenzüberschreitung auf dieses Problem. 308 Vollständige Verbote und Anforderungen an die Zusammensetzung liegen ohnehin nah beeinander: Je nach der Produktdefinition kann man auch sagen, für nicht aus Hartweizen hergestellte Nudeln herrschte in Italien ein vollständiges Verkaufsverbot. 309

§ 5 Kritische Fallgruppen - Werbung und Monopole

als "Gretchenfragen"

I. Werbung und Absatzförderung

Das oben entwickelte Konzept zur Begrenzung des Anwendungsbereichs des Art. 28 EGV wird im folgenden anhand der heftig umstrittenen Fallgruppe der staatlichen Regelungen betreffend Werbung und andere Methoden der Absatzförderung auf seine Tauglichkeit zur Einordnung auch schwieriger Fälle hin überprüft. Die in diesem Bereich ergangenen Entscheidungen 310 waren auch schon vor Keck nicht unumstritten 311 . In der Debatte um das richtige Verständnis der KeckEntscheidung ist "Werbung und andere Methoden der Absatzförderung" die wohl meistdiskutierte Fallgruppe: Wahrend einige Autoren diese Regelungen nunmehr als aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV ausgeschlossen ansehen (manche allerdings ohne dies selbst zu befürworten)312, mahnen andere zur Vorsicht 308 A.A. aber GA Van Gerven in EuGH, 2. 6. 1994, Tankstation 't Heukske und Boennans, verb. Rs. 401/92 und 402/92, Slg. 1994,1-2199,2220 Tz. 27 zu Cinerheque, der allein auf die Notwendigkeit der Anpassung abstellt. 309 Vgl. EuGH, 14.7.1988,3 Glocken/USL Centro-Sud, Rs. 407/85, Slg. 1988,4233; EuGH, 14.7. 1988, Strafverfahren gegen Zoni, Rs. 90/86, Slg. 1988,4285. In diesem Sinne ergeben sich also auch hier spezifische Probleme bei der Grenzüberschreitung: Genauso wie die Weichweizennudel "mit besonders vielen Eiern" deshalb behindert wird, weil sie in ihrem Herkunftsstaat erlaubt ist, im Bestimmungsland dagegen nur Hartweizennudeln, wird auch der Kaffeeweißer deswegen gerade an der Grenzüberschreitung gehindert, weil er in einem Staat erlaubt ist, in einem anderen nicht. Es geht gerade nicht nur um die Lenkung der an sich freien Verteilung innerhalb des Gemeinsamen Markts. 310 Vgl. vor Keck z. B. EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Slg. 1982,4575; EuGH Rs. 382/87, Buet, Slg. 1989, 1235; EuGH, 7. 3.1990, GBINNO-BM, Rs. C-362/88, Slg. 1990,1-667; EuGH, 18.5.1993, Yves Rocher; Rs. C-126/91, Slg. 1993,1-2361; nach Keck z. B. EuGH, 2. 2.1994, "Clinique", Rs. C-315/92, Slg. 1994, 1-317; EuGH, 9. 2.1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995,1-179; EuGH, 6. 7.1995, Mars, Rs. C-470/93, Slg. 1995,1-1923; EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Slg. 1997,1-3843; EuGH, 28. 10. 1999, ARD, Rs. C-6/98, Slg. 1999,1-7599; EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Slg. 2001, 1-1795. 311 Vgl. zum Beispiel die zweifelnden Bemerkungen bei Joliet, GRUR Int. 1994, 1, 11.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

und wollen das nur unter besonderen Umständen annehmen 3l3 . Die später ergangene Rechtsprechung des EuGH auf diesem Gebiet, insbesondere die Entscheidung De Agostini, könnte man auf den ersten Blick als Entscheidung der Frage im Sinne der ersten Gruppe ansehen wollen. Bei näherem Hinsehen bleiben aber einige Fragen offen, vor allem durch den großen Entscheidungsspielraum, der den nationalen Gerichten im Urteil De Agostini zugewiesen wird. Mit Gourmet International Products ist außerdem eine Entscheidung ergangen, die deutlich in die andere Richtung weist. Der hier vertretene Ansatz führt nicht zu einer generellen Einordnung als "Verkaufsmodalität", sondern zu einer differenzierten Lösung, die der besonderen Bedeutung der Werbung für den Handel mit Waren gerecht wird. Sie stimmt im wesentlichen mit den Ergebnissen der Rechtsprechung des EuGH überein, führt aber durch die klarere Grenzziehung zu mehr Rechtssicherheit und einfacherer Anwendung.

I. Einordnung und Beurteilung im Rahmen des hier entwickelten Systems

Nach dem oben Dargestellten ist die entscheidende Frage, ob die Belastung für die Wirtschaftsteilnehmer aus einem Unterschied in den verschiedenen nationalen Regelungen betreffend Werbung und Absatzförderung 3l4 folgt, ob also derselbe Vorgang nacheinander Gegenstand der Regelungen verschiedener Mitgliedstaaten sein kann - anders ausgedrückt, ob eine EG-weit geltende Regelung gleichen Inhalts sich auf den konkreten Vorgang anders auswirken würde. Dementsprechend hängt die Antwort von der konkreten Fallgestaltung ab: 312 Da Cruz Vilar;a, in: Andenas I Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 25, 36; lestaedtl Kästle, EWS 1994, 26, 28; loUet, GRUR Int. 1994, 979, 985 (allerdings "bestimmte Formen der Werbung und bestimmte Mittel der Verkaufspromotion"); Lüder, EuZW 1996,615, 620 f.; Maduro, Harrnony and Dissonance in Free Movement, in: Andenas I Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 41, 55 ff.; Meyer, GRUR Int. 1996,697,700; Petschke, EuZW 1994, 107, 111; Remien, JZ 1994,349,352; Sack, EWS 1994,37,43. So auch der BGH, vgl. BGH, NJWE-WettbR 1996, 266 (Händlerwerbung); BGH, NJW-RR 1996,554 (Händlerwerbung); BGH, NJW-RR 1995, 871 (Herstellerwerbung bzw. Yves Rocher-Konstellation); offengelassen dagegen in BGH, NJW 1999, 3267 (Händlerwerbung); BGH, NJW 1999, 1398 (zur Dienstleistungsfreiheit; Zugabeverbot). 313 Ackermann, RIW 1994, 189, 194; Axster, in: FS Rowedder (1994),21,39; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag (2002), 94 f.; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 33 f., 38 f.; Schroederl Federle, ZIP 1994, 1428; Steindorff, ZHR 158 (1994),149,163 ff.; Stuyck, WRP 1994,578,582,583 f.; geringere Einschränkungen macht Weyer, DZWir 1994, 89, 93 f.; vgl. auch die Zweifel bei Reich, ZIP 1993, 1815, 1817. 314 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im folgenden häufig einfach von "Werbung" gesprochen. Die Überlegungen gelten aber grundSätzlich für alle denkbaren Regelungen des "wie" in gleicher Weise.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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a) Produktbezogene Herstellerwerbung Wenn ein Hersteller ein bestimmtes Vermarktungskonzept für sein Produkt in einem Mitgliedstaat verwendet, kann er ein großes Interesse daran haben, dasselbe auch in anderen Mitgliedstaaten zu verfolgen. Wenn hier die rechtlichen Regelungen in Hinblick auf die angewandte Werbemethode divergieren, so wird ein und dasselbe Vermarktungskonzept zwei verschiedenen Regelungskomplexen unterworfen - und zwar nacheinander in dem Sinne, daß die Werbestrategie in Einklang mit der einen Rechtsordnung entwickelt worden ist und nun, nach einer "Grenzüberschreitung", auf eine andere trifft. Eine EG-weite Regelung würde anders wirken, denn es gäbe dann kein rechtmäßig entwickeltes Konzept, das dieser Regelung nicht entspricht. Allerdings ist es nicht das Produkt selbst, das hier betroffen ist, dessen Grenzüberschreitung behindert wird, aber Werbung und andere Methoden der Absatzförderung sind äußerst wichtige und eng mit dem Produkt verbundene Vorgänge, die es sozusagen beim Grenzübergang begleiten. Anschaulich zeigt das Generalanwalt Tesauros Ausdruck für Marketing "la veste commerciale,,315; Man kann das Produkt nicht einfach seiner Vermarktung entkleiden. In diesem wesentlichen Punkt ist Werbung deutlich von den (anderen) typischen "Verkaufsmodalitäten", also wann, wo und von wem ein Produkt verkauft werden darf, zu unterscheiden 316 ; Werbung ist etwas konkretes, das die Grenze zusammen mit dem Produkt überschreiten kann und dabei aufgrund unterschiedlicher Regelungsstandards eventuell geändert und angepaßt werden muß, während das etwa mit den Zeiten, während derer das Produkt verkauft werden darf, oder den Orten, an denen es verkauft werden kann, nicht der Fall iSt. 317 Diese Überlegung trägt im Grund315 So in der deutschen Fassung GA Tesauro in EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Slg. 1993, 1-6787, 6811, Tz. 22, die damit das italienische Original ,la "veste commerciale'" wiedergibt; in der englischen Fassung "commercial garb"; in der französischen Fassung ,I' "apparence commerciale"'. 316 Generalanwalt Tesauro zum Beispiel fügt hingegen (wie viele andere) dem wer, wo und wann das "wie" hinzu und erläutert, eine die Werbung betreffende Maßnahme könne zu den das "wie" betreffenden Maßnahmen gezählt werden, da Werbung die wirksamste Methode der Verkaufsförderung sei und deswegen Nachfrage und Verkauf spürbar beeinflussen könne, EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Slg. 1993,1-6787,6803 Tz. 9 mit Fn. 11. M.E. spricht jedoch diese besondere Bedeutung der Werbung gerade gegen eine Einstufung als bloße Verkaufsmodalität. Tesauro räumt an späterer Stelle auch selbst ein, daß bei "Maßnahmen, die die Verkaufsmethoden oder die Absatzförderung betreffen", mehr Gemeinsamkeiten mit produktbezogenen Regelungen bestehen als bei den anderen die Modalitäten des Verkaufs regelnden Vorschriften, S. 1-6811 Tz. 22. Zu einer differenzierenden Betrachtung mahnt er auch später in EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, 1-3689, 3695 ff. Tz. 7 ff. Zur besonderen Bedeutung der Werbung vgl. auch noch Di Fabio, AfP 1998,564, 567. 317 Diesen Unterschied übergehen diejenigen, die Werbung in jedem Fall als "Verkaufsmodalität" ansehen wollen (oder meinen, ansehen zu müssen): Dubach, DVBI. 1995, 595, 602; Engel/Seelmann-Eggebert, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.V Rdnr. 81; Greaves, ELRev. 23 (1998), 305, 308 ff.; loliet, GRUR Int 1994, 1; loliet, GRUR lnt 1994,979; ausdrücklich für eine größere Nähe der Werberegelungen zu Verkaufsmodalitäten als zu produktbezogenen Regelungen Kotthoff, Werbung ausländischer Unternehmen 7 Feiden

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

satz nach wie vor die Entscheidungen des EuGH,318 in denen er darauf abgestellt hat, daß derartige Regelungen Wirtschaftsteilnehmer dazu zwingen, ihre Vermarktungsstrategie zu ändern und entweder für verschiedene Staaten verschiedene Konzepte zu entwickeln oder ein besonders wirksames Mittel aufzugeben. 319,320 (1995), 110 ff.; Kotthoff, WRP 1995,473; Matthies, in: FS Everling (1995), 803, 812 f.; Möschel, NJW 1994,429,430 (mit der Ausnahme der "Systemeinheit" von Ware und Vertrieb, unter falscher Bezugnahme auf Steindorffs "Systemfälle" in WRP 1993, der damit den Zwang zur Aufgabe eines Konzepts in den Blick nimmt); Nicolaysen, Europarecht 11, 55 (der allerdings bei einem grenzüberschreitend verwandten Konzept eine faktisch stärkere Belastung für möglich hält); Oliver, Free Movement of Goods (1996), 6.63; Petschke, EuZW 1994, 107, Ill; Remien, JZ 1994, 349, 352; Remien ZfRV 1996, II 6, 130; Ress/Ukrow, in: Grabitz/ Hilf, Art. 56 Rdnr. 37 (außer wenn sich die Regelung acuh auf das physische Erscheinungsbild der Ware auswirke); Sack, EWS 1994, 37, 43 (so seine Interpretation der Keck-Entscheidung; zu welchem Ergebnis er selbst infolge seiner Spürbarkeitsprüfung käme, ist offen); Sack, GRUR 1998, 871, 872 f.; Schmidt, Art. 30 EG-Vertrag als Grenze (1999), 141 ff., 158; Solbach, Staatliche Regelungen von Verkaufsmodalitäten (1996), 150, 155 ff.; White, CMLRev. 26 (1989), 235 (mit der Ausnahme der mit der "Präsentation" der Waren verbundenen Werbung wie etwa in Oosthoek's Uitgeversmaatschappij). Ebenso BGH, NJW-RR 1995,871; allerdings ist nicht eindeutig zu sagen, ob das von der deutschen Firma verwendete Werbekonzept von der Muttergesellschaft übernommen ist; es ist jedoch wahrscheinlich. Vgl. dazu auch unten c). Genausowenig ist es aber richtig, wie Niemöller, Das Verbraucherleitbild (1999), 150, Beschränkungen der Werbung generell, ohne Rücksicht auf eine grenzüberschreitende Verwendung, der Kontrolle durch die Freiheiten zu unterstellen. Die Grundfreiheiten erfassen, wie oben dargelegt, nur spezifisch die Grenzüberschreitung behindernde Regelungen. Wird eine Absatzförderungsmethode nur innerstaatlich eingesetzt, ist das zunächst kein Anwendungsfall für die Freiheiten. Das kann, auch in Niemöllers Beispiel in Fn. 806, bei Vorliegen eines "Systemfalls" anders sein, bedarf dann aber einer ausdrücklichen Feststellung. 318 EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575, 4587 f. Rdnr. 15; EuGH, 16. 5. 1989, Buet, Rs. 382/87, Sig. 1989, 1235, 1251 Rdnr.7; EuGH, 18.5.1993, Yves Rocher, Rs. C-126/91, Sig. 1993,1-2361,2388 Rdnr. 10. Dabei besteht in Hinblick auf die konkreten Fallgestaltungen in lVes Rocher und vor allem Oosthoek's Uitgeversmaatschappij durchaus Anlaß zu Zweifeln bzw. zumindest Erklärungsbedarf; siehe dazu unten c). Vgl. auch EuGH, 13. I. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151 zu persönlichen und räumlichen Beschränkungen des Verkaufs von Lebensmitteln im Umherziehen: Zwar Verkaufsmodalität, die aber den Marktzugang für ausländische Produkte stärker behindere. Der Fall weist aber verschiedene Besonderheiten auf und wird aufgrund der Verbindung mit den Fragen des "wo" und "wer" unter II. 2. c) dd) behandelt. 319 Für eine solche differenzierende Betrachtung (und die Fortgeltung dieser Rechtsprechung) auch Ackermann, RIW 1994, 189, 194; Arndt, ZIP 1994, 188, 190 f.; Axster, in: FS Rowedder (1994), 21, 39; Classen, EWS 1995, 97, 100; Drasch, Herkunftslandprinzip (1997),100 ff.; Fezer, JZ 1994,317,323; Heermann, GRUR Int. 1999,579,584 ff., 591; Herdegen, Europarecht, Rdnr. 292; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 66, 179 ff., 193 (vor dem Hintergrund, daß Art. 28 EGVauch das System eines unverfälschten Wettbewerbs zu schützen habe); Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), 380 ff.; Leible, in: Grabitz/ Hilf, Art. 28 Rdnr. 28, 30; Lüder, EuZW 1995, 87, 88; Perau, Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht (1997), 129 ff.; Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 60 ff.; Schroeder/ Federle, ZIP 1994, 1428; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 102 f.; Stuyck, WRP 1994,578,583 f.; Todino/ Lüder, RMUE 1/1995, 171, 180 ff.; wohl auch Di Fabio, AfP 1998,564,566.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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Ein weiteres wichtiges Argument gegen den Ausschluß solcher Regelungen aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV ergibt sich daraus, daß Vermarktungskonzepte häufig einen Mix verschiedener Formen der Verkaufsförderung 321 umfassen. So werden viele Werbebotschaften einerseits selbständig in Form von Anzeigen, Femsehspots etc. verbreitet, sie finden sich andererseits aber auch auf dem Produkt selbst wieder. Da im letzteren Fall diesbezügliche Regelungen ohne Zweifel produktbezogen wären und damit in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV fallen,322 scheint es wenig sinnvoll, für die gleiche Botschaft in selbständiger Form anders zu entscheiden. So war etwa in der Rechtssache Clinique natürlich nicht nur die Verwendung dieses Namens auf der Verpackung des Produkts betroffen, sondern ebenso die gesamte Werbekampagne für dieses Produkt. Der Gerichtshof nennt Verpackungs- und Werbekosten in einem Atemzug und wendet Art. 28 EGVohne zu zögern an, er führt Keck nur für die dort getroffene Aussage zu produktbezogenen Regelungen, die auch bei unterschiedsloser Geltung Art. 28 EGV unterfallen, an. 323 In den Fällen Clinique und Estee Lauder Cosmetics könnte noch argumentiert werden, daß der Name eines Produkts untrennbar mit diesem verbunden ist und daher den Namen betreffende Regelungen grundsätzlich produktbezogen sind, auch wenn es um die Verwendung dieses Namens in Anzeigen etc., also nicht auf der Verpackung des Produkts selbst geht, so daß aus diesem Grunde eine unterschiedliche Behandlung nicht in Frage kommt. Der Fall Mars zeigt jedoch, daß auch jenseits dieses Sonderfalls Werbeaussagen wie z. B. über Mengen- oder Preisvorteile sowohl in direkter Verbindung mit dem Produkt als auch in einer unabhängigen Form verbreitet werden können. Wollte man also grundsätzlich Werbung, soweit sie nicht auf dem Produkt selbst angebracht ist, als "Verkaufsmodalität" ansehen und damit aus dem Anwendungsbereich des Ebenfalls für eine Differenzierung, ausdrücklich aber zunächst nur für Werbung auf dem Produkt die Anwendung des Art. 28 EGV bejahend GA Leger, EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-479 / 93, Slg. 1995,1-1923, 1927 ff. Tz. 17 ff. 320 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß für die Warenverkehrsfreiheit von Printmedien, in denen die fragliche Werbung enthalten ist, selbstverständlich Werberegelungen von vornherein nicht nur als Verkaufsmodalitäten anzusehen sind, sondern sich vielmehr gerade auf den Inhalt, die Gestalt des Produkts (Zeitung) beziehen. Insofern ist der Begründungsaufwand bei Stein, in: GS Grabitz (1995), 777, 781 für seine Fragestellung überflüssig. Vgl. dazu das Urteil EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. C-368/95, Slg. 1997,1-3689. 321 Vgl. Ackermann, RIW 1994, 189, 193; Reich, ZIP 1993, 1815, 1817; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 39; Roth, CMLRev. 31 (1994), 845,852; ähnlich auch Fezer, JZ 1994,317,323. 322 Vgl. Z. B. EuGH, 13. 1. 2000, Estee Lauder Cosmetics, Rs. C-220/98, Slg. 2000, 1-117; EuGH, 2. 2. 1994, "Clinique", Rs. C-315/92, Slg. 1994,1-317; EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Slg. 1995,1-1923. 323 EuGH, 2. 2. 1994, "Clinique", Rs. C-315/92, Slg. 1994,1-317, 336 Rdnr. 19,334 Rdnr. 13; ebenso auch EuGH, 6. 7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Slg. 1995, 1-1923, 1941 Rdnr. 13, obwohl es dort nicht ganz so offensichtlich ist, daß mit der fraglichen Aussage (10% mehr Eiskrem) auch unabhängig von der Aufmachung des Produkts selbst geworben wurde - es erscheint jedoch äußerst wahrscheinlich. 7*

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

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Art. 28 EGV ausnehmen, so würde man in derartigen Fällen zu einer unterschiedlichen Behandlung der gleichen Aussage kommen. Die Alternative, für gerade diese Fälle eine Sonderbehandlung der Werbung vorzunehmen und sie insgesamt Art. 28 EGV zu unterwerfen, würde hingegen zu ebensowenig einleuchtend erscheinenden Unterschieden in der Behandlung von Werbekonzepten, die die Produktaufmachung mit einbeziehen, und solchen, die dies nicht tun, führen. Diese Fallkonstellation ist vielmehr nur ein besonders anschauliches Beispiel für die schon oben vertretene These, daß produktbezogene Werbung so eng mit dem Produkt verbunden ist, daß eine Gleichstellung mit den "klassischen" produktbezogenen Regelungen angebracht ist. Schließlich spricht eine weitere Überlegung für eine Einbeziehung jedenfalls der produktbezogenen Werbung in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV: Werbung wird nicht immer vom Hersteller eines Produkts selbst entwickelt und betrieben, sondern kann auch einer Werbeagentur im Wege des "Outsourcing" übertragen werden. 324 Die Werbung wäre dann nicht mehr ein "Begleiter" der Ware, sondern selbst ein Produkt, nämlich eine Dienstleistung der Agentur gegenüber dem Hersteller. Regelungen, die die fraglichen Werbemethoden betreffen, würden dann im Lichte der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV zu betrachten sein. 325 Selbst wenn man auch im Rahmen des Art. 49 EGVeine der Keck-Rechtsprechung entsprechende Differenzierung einführen wollte, wären solche Regelungen in Bezug auf die Werbung als Dienstleistung in jedem Fall produktbezogen und damit nicht aus dem Anwendungsbereich dieser Freiheit ausgenommen. Dementsprechend käme man bei einer Einstufung der Werbung für Fragen der Warenverkehrsfreiheit als bloße "Verkaufsmodalität" zu einer unterschiedlichen Behandlung der gleichen Werbemaßnahme je nachdem, ob die Werbung vom Hersteller selbst oder aber von einer von ihm beauftragten Agentur betrieben wird. 326 Zwar ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, daß bei den beiden Freiheiten unterschiedliche Gesichtspunkte ausschlaggebend sind und damit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. In der hier beschriebenen Konstellation erscheint das aber wenig sinnvoll: 327 Es geht nicht nur um die gleiche Werbemaßnahme, sondern auch der grenzüberschreitende Bezug ist derselbe.

Vgl. Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994),21,33 f. Dafür ist nicht erforderlich, daß die Werbeagentur in einem anderen Staat ansässig ist als der auftraggebende Hersteller, es reicht, wenn die Dienstleistung selbst in einem anderen Staat erbracht wird (vgl. Roth, in: Dauses, Handbuch, E.I Rdnr. 104), was bei einem Werbekonzept für einen solchen anderen Markt der Fall ist. 326 So in der Tat EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, Slg. 1997,1-3843,3890 f. Rdnr. 39 ff. zu Art. 28 EGV für die jeweiligen Produkthersteller, 3892 f. Rdnr. 48 ff. zu Art. 49 EGV für den die Werbung ausstrahlenden Fernsehsender. (Allerdings endgültige Entscheidung offengelassen, vgl. dazu noch unten 2. b).) 327 Vgl. Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 33 f., 39; Roth, CMLRev. 31 (1994), 845, 853. 324 325

§ 5 Kritische Fallgruppen

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Die Tatsache, daß ein bestehendes Konzept grenzüberschreitend angewendet werden soll, muß jedoch in solchen Fällen zumindest vorgetragen und glaubhaft gemacht werden. 328 Ist das der Fall, ist grundsätzlich in vielen Bereichen eine solche Einordnung denkbar - es kann etwa auch eine grenzüberschreitend anzuwendende Strategie des Verkaufs zum Verlustpreis geben. 329 Es sollte dann aber verlangt werden, daß ein solcher spezifisch grenzüberschreitender Bezug nicht nur an den Haaren herbeigezogen ist. 33o Außerdem ist daran zu erinnern, daß selbst, wenn mangels grenzüberschreitenden Konzepts der EG-weit-Test negativ ausfällt, eine Anwendung des Art. 28 EGV dennoch aufgrund einer exorbitanten Zugangsbeschränkung begründet werden kann. Dies ist insbesondere dann denkbar, wenn für ein bestimmtes Produkt oder eine Produktkategorie überhaupt nicht geworben werden darf33 ! oder Verkaufsförderungsmethoden verboten werden, die dem Hersteller für eine Neuerschließung eines Marktes besonders geeignet erscheinen.

b) Werbung des Händlers aa) Nur innerstaatlich tätige Händler Anders sind Fälle zu beurteilen, in denen die fraglichen Regelungen die Werbung für den Einzelhandel im Regelungsstaat, nicht jedoch für das Produkt selbst betreffen?32 Unabhängig davon, ob der Händler eventuell (auch) für ausländische Produkte, die er verkaufen will, wirbt, geht es hier um einen nur im Inland stattfindenden Vorgang, denn es handelt sich nicht um die schon in anderen Staaten verwendete Werbung des Herstellers, sondern um eine eigene Werbung des inländischen Händlers. Diese kann zwar Auswirkungen auf die Zahl der Verkäufe eines Vgl. Weyer, DZWir 1995,502,505. Vgl. die Untersuchung verschiedener Regelungen des Lauterkeitsrechts bei Keßler, System der Warenverkehrsfreiheit (1997), 206 ff.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998),380 ff.; Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 66 ff. 330 So würde es m.E. zu weit gehen, zu behaupten, man wolle generell Kunden dadurch gewinnen, daß man seine Produkte an Sonntagen verkaufe, und diese "Strategie" wolle man nun auch grenzüberschreitend anwenden. 331 Vgl. EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Sig. 2001, 1-1795 zu den Werbe verboten für alkoholische Getränke in Schweden. 332 Vgl. unten 2. a) aa). Vgl. Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag (2002), 95; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 179 ff., der ebenfalls der Frage, ob nur der inländische Weitervertrieb betroffen ist, bei seinen Überlegungen besondere Bedeutung zumißt. Ähnlich wird auch die Verpflichtung, beim Verkauf von Lebensmitteln, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, auf diesen Umstand hinzuweisen, eine Verkaufsmodalität darstellen, jedenfalls soweit sich diese Verpflichtung (nur) an die inländischen Händler wendet, vgl. Schlußanträge von GA Tizzano vom 10. 10. 2002 in der noch anhängigen Rs. C-229 / 01, 328 329

Müller.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

importierten Produkts in diesem Staat haben, aber nur in derselben Weise, wie das etwa auch bei Ladenöffnungszeiten der Fall ist. Es kommt wie bei den Verkaufszeiten nur ein Staat zur Regelung in Frage; der zu regelnde Vorgang findet nur parallel in verschiedenen Mitgliedstaaten statt, es wird nicht nacheinander in zwei Staaten an denselben Vorgang eine rechtliche Folge geknüpft. Die Belastung ergibt sich nicht aus einem Regelungsunterschied, es wird nicht besonders die Grenzüberschreitung des Produkts oder der es begleitenden Werbung behindert. Vielmehr wird rein innerstaatlich das Verhalten der dortigen Wiederverkäufer im Wirtschaftsverkehr geregelt. Es ist unerheblich für die Verkaufsmöglichkeiten eines Produkts in diesem Staat, ob in anderen Staaten eine entsprechende Beschränkung gilt. Die Beschränkung trifft nicht die Bewegung von Waren innerhalb der Gemeinschaft, sondern die Geschäftsausübung der im Regelungsstaat tätigen Händler. 333 Es ist daher typologisch eher eine Frage aus dem Bereich des Niederlassungsrechts; mangels grenzüberschreitender Bezüge in Hinblick auf diese Geschäftstätigkeit wäre Art. 43 EGV jedoch ebensowenig einschlägig?34.335 bb) Grenzüberschreitend tätige Händler Damit stellt sich die Anschlußfrage, wie dann ein solches nationales Verbot bestimmter Werbeformen auf der Ebene des Einzelhandels zu beurteilen wäre, wenn es einen in mehreren Staaten tätigen Händler trifft, der also eine einheitliche Werbestrategie in diesen Staaten verfolgen wollen kann?36 "Grenzüberschreitend tätige Händler" soll hier als Sammelbegriff für verschiedene Konstellationen verstanden werden, die im einzelnen unten anhand entsprechender Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH besprochen werden. Denkbare Konstellationen sind im wesentlichen die Folgenden: Ein in einem Staat an333 Vgl. insgesamt zu dieser Einordnung Roth, in: FS Großfeld (1999), 929, 950 f.; zur Voraussetzung des tatsächlich grenzüberschreitenden Vertriebs auch Leible, in: Grabitz/ Hilf, Art. 28 Rdnr. 28. Insofern zutreffend die Einordnung als Verkaufsmodalität in BGH, NJWE-WettbR 1996, 266; BGH, NJW-RR 1996,554. 334 Vgl. dazu Generalanwalt Tesauro, EuGH, 15. 12. 1993, Hünennund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993,1-6787,6813 Tz. 27. 335 Erst recht keine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung von Waren liegt bei einer Regelung vor, die ganz allgemein die Häufigkeit bzw. Dauer von Werbeunterbrechungen im Fernsehen regelt. Der Gerichtshof hat diese daher in EuGH, 28. 10. 1999, ARD, Rs. C-6/98, Sig. 1999, 1-7599, 7636 Rdnr. 45 ff. zu Recht aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV ausgenommen - wobei selbst die Einordnung als "Verkaufsmodalitäten" noch fast zu weitgehend scheint. 336 Vgl. die Konstellation bei TV-Shop im Urteil EuGH, 9. 7.1997, De Agostini und TVShop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Sig. 1997,1-3843; siehe dazu auch unten 2. b) bb). Vgl. auch noch EuGH, 11. 5. 1999, Pfeiffer; Rs. C-255/97, Sig. 1999,1-2835, zur Verwendung des Namens einer grenzüberschreitend tätigen Supermarktkette; dort ist zwar nicht primär Werbung betroffen, aber - ähnlich wie bei Clinique - sicherlich auch diese.

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sässiger Händler spricht mit seiner (einheitlich gestalteten) Werbung gezielt Kunden aus verschiedenen Mitgliedstaaten an (GB-INNO-BM). Ein Konzern mit Tochterunternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten will in allen Staaten die gleiche (ggf. nur übersetzte) Werbung verwenden (Yves Rocher; De Agostini und TV-Shop, De Agostini Konstellation; ähnlich auch Pfeiffer Großhandel). Ein Unternehmen vertreibt teils von einem ausländischen Schwesterunternehmen bezogene, teils selbst hergestellte Waren in verschiedenen Mitgliedstaaten mit einer einheitlichen Vermarktungs strategie (Oosthoek Uitgeversmaatschappij). Ein Teleshopping-Unternehmen strahlt seine Sendungen in verschiedenen Mitgliedstaaten aus und verkauft seine Produkte entsprechend in diese Staaten (De Agostini und TV-Shop, TVShop Konstellation).337 Der grenzüberschreitende Bezug ist in einem solchen Fall nicht von der Hand zu weisen. Es ist jedoch fraglich, ob - bzw. wann - dies wirklich eine Frage des grenzüberschreitenden Warenverkehrs ist, oder ob das nicht in den Bereich der Niederlassungs- oder Dienst1eistungsfreiheit gehört. Der grenzüberschreitende Bezug wird in einem solchen Fall nicht so sehr durch die Herkunft der Ware, sondern die des Händlers bestimmt. 338 Nicht das Produkt oder die dieses begleitende Werbung werden nacheinander zwei Rechtsordnungen unterworfen, sondern die (Werbe- )Tätigkeit des Händlers. 339 Die Personen werden aber von Art. 28 EOV sozusagen nur akzessorisch zum Produkt erfaßt;340 so spielt etwa die Staatsangehörigkeit der beteiligten Wirtschaftsteilnehmer für Art. 28 EOV keine Rolle 341 . Man stelle sich 337 EuGH, 7. 3. 1993, GB-INNO-BM, Rs. C-362/88, Sig. 1990,1-667; EuGH, 18.5. 1993, Yves Rocher; Rs. C-126/91, Sig. 1993,1-2361; EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35195 und 36/95, Sig. 1997,1-3843; EuGH, 11. 5. 1999, Pfeiffer; Rs. C-255197, Sig. 1999,1-2835; EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982, 4575. Siehe unten c) und 2. b). 338 So prüft auch der Gerichtshof in EuGH, 11. 5. 1999, Pfeiffer; Rs. C-255197, Sig. 1999, 1-2835, 2860 ff. Rdnr. 17 ff. hauptsächlich die Niederlassungsfreiheit; die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV dagegen schließt er zwar nicht aus, er hält Auswirkungen auf den Waren verkehr aber anscheinend für unwahrscheinlich (und jedenfalls nur als mittelbare Folgen der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit für möglich, weshalb sie wie diese gerechtfertigt wären), Rdnr. 26 f. 339 Es kommt allerdings darauf an, wofür genau der Händler wirbt (für Produkte oder für sich), siehe dazu sogleich im Text. 340 Vgl. GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189195, Sig. 1997,1-5909, 5936 Fn. 56 (Art. 28 schütze den freien Warenverkehr selbst und nicht die daran beteiligten Wirtschaftsteilnehmer); Todinol Lüder; RMUE 111995, 171, 176 f., die bei Regelungen, die allgemein die Wirtschaftsteilnehmer betreffen, das Herkunftslandprinzip bzw. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung für nicht einschlägig halten. 341 Vgl. EuGH, 1. 7. 1969, Sociaal Fonds DiamantarbeiderslBrachfeld und Chougol, verb. Rs. 2/69 und 3/69, Sig. 1969,211,222 f. Rdnr. 24/26 (zu Art. 9 und 12 EGV); EuGH, 26.4.1994, KommissionIItalien, Rs. 272/91, Sig. 1994,1-1409,1436 Rdnr. 14 f. und GA Gulmann 1-1421 ff. Tz. 26 ff. (die Kommission hatte argumentiert, ausländische Gesellschaften seien von einer Ausschreibung faktisch ausgeschlossen; der Gerichtshof stellte ebenso wie der Generalanwalt fest, es sei nicht dargelegt, warum dadurch die Verwendung ausländischer Erzeugnisse gefahrdet sei).

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eine Regelung vor, die ausländischen Händlern nur kürzere Öffnungszeiten gestattet als inländischen: Das wäre sicher ein Fall für Art. 12 und 43 EGY. Für die Anwendbarkeit von Art. 28 EGV müßte jedoch festgestellt werden, daß eingeführte Waren betroffen sind, sei es im Sinne einer Diskriminierung oder auch "nur" im Sinne einer durch den EG-weit-Test oder aufgrund einer extremen Zugangsbeschränkung in den Anwendungsbereich fallenden Regelung. Es mag in einzelnen Fällen denkbar sein, daß dies gerade mit der ausländischen Herkunft des Händlers zusammenhängt, etwa wenn dieser (überwiegend) Produkte aus seiner Heimat verkauft; es bleibt jedoch dabei, daß dieses eigens festgestellt werden muß und letztlich die Benachteiligung der ausländischen Produkte ausschlaggebend ist - der Verweis allein auf die Diskriminierung der Person reicht für Art. 28 EGV nicht aus. Wenn dies aber schon bei der (formellen!) Diskriminierung als stärkster Form der Behinderung ausländischer Händler der Fall ist, so muß entsprechendes m.E. erst recht für andere Behinderungen der grenzüberschreitenden Tätigkeit ausländischer WirtschaJtsteilnehmer (Personen!) gelten: Derartige Behinderungen der geschäftlichen Tätigkeit können auch bei klarem grenzüberschreitenden Bezug als solche nicht für die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV ausreichen. Es ist vielmehr erforderlich, daß darüber hinaus gerade eingeführte Produkte (bzw. die sie begleitende Werbung) betroffen sind, und zwar im oben erläuterten Sinne, d. h. entweder durch einen direkten Einfuhrbezug der Regelung, durch eine formelle oder versteckte Diskriminierung eingeführter Produkte, durch eine aufgrund ihrer Abweichung von anderen mitgliedstaatlichen Regelungen belastende Maßnahme oder schließlich durch eine faktische Benachteiligung oder eine extreme Beschränkung des Zugangs zum Markt für eingeführte Produkte. Dabei ist es unerheblich, ob im Einzelfall diese Betroffenheit eingeführter Produkte gerade mit der Betroffenheit des grenzüberschreitend tätigen Händlers zusammenhängt; erstere muß in jedem Fall gesondert festgestellt werden. 342 Eine Anwendbarkeit des Art. 28 EGVauf Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 151 ff. Die von ihm S. 154 Fn. 48 für die gegenteilige Ansicht zitierten Autoren sind m.E. nur so zu verstehen, daß in Ausnahmefällen auch eine nach der Staatsangehörigkeit unterscheidende Vorschrift zu einer Behinderung des Warenverkehrs führen kann, nicht aber, daß in solchen Fällen die Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit das relevante Kriterium ist, das Art. 28 EGV zur Anwendung bringt. Vgl. MüllerGraf!, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 326 (in der von Weyer zitierten 4. Auflage Rdnr. 144); von Bogdandy, in: Grabitz/Hilj, Altband I, Art. 6 (alt) Rdnr. 57 f. In gewisser Weise läßt sich auch die Abgrenzung zwischen Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit als Argument heranziehen: Dort reicht es auch nicht, daß ein Dienstleistender ausländischer Staatsangehöriger ist, um die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit zu begründen. Vielmehr muß gerade die Leistung grenzüberschreitend erbracht werden; anderenfalls kommt auch dort nur die Niederlassungsfreiheit in Betracht. (Vgl. dazu Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 8; zu seinem Hinweis auf EuGH, 5. 10. 1988, SteymannlStaatssecretaris van lustitie, Rs. 197/87, Slg. 1988,6159,6173 Rdnr. 16 vgl. unten Zweiter Teil, § 6 I. 1. Fn. 488.) 342 Daß der einzelne Händler nicht von Art. 28 EGV geschützt ist, scheint auch GA Van Gerven anzunehmen, wenn er darauf verweist, der Umsatzverlust eines einzelnen Händlers könne durch den Mehrverkauf anderer ausgeglichen werden, siehe Schlußanträge in EuGH, 28.2.1991, Conforamau. a., Rs. C-312/89, Slg. 1991,1-997,1011 Tz. 6vorFn. 9 und in Fn. 15.

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Werbung eines grenzüberschreitend tätigen Händlers ist vor allem in Fällen des grenzüberschreitenden Versandhandels denkbar, da dort auch die Produkte die Grenze überschreiten und die Werbung sie begleitet bzw. ihnen vorausgeht. 343 c) Anwendung auf kritische Fälle vor Keck Im Fall GB-INNO-BM344 war ein belgischer Supermarkt betroffen, also nur ein Händler, der noch nicht einmal selbst in unterschiedlichen Staaten tätig war. Der grenzüberschreitende Bezug in Hinblick auf Warenbewegungen ergibt sich hier jedoch daraus, daß die von GB-INNO-BM in Luxemburg verbreitete Werbung gerade dazu führen sollte, daß Verbraucher von dort nach Belgien kommen, dort einkaufen und dann diese Produkte selbst nach Luxemburg einführen. Insofern steht das von GB-INNO-BM verwandte grenzüberschreitende Konzept in unmittelbarem Zusammenhang mit der Grenzüberschreitung der von ihr verkauften Produkte. Die Anwendung von Art. 28 EGV war daher gerechtfertigt: bei einer EGweit geltenden Regelung stünde GB-INNO-BM nicht vor der Frage, die in Belgien zulässige Werbung für den luxemburgischen Markt abändern zu müssen. Vgl. auch Roth. in: FS Großfeld (1999). 929, 950 f., nach dem sich inländische Wirtschaftsteilnehmer nur dann auf Art. 28 EGV berufen können, wenn es objektbezogen um die importierte bzw. zu importierende Ware geht. Schwer verständlich bleibt aus dieser Sicht die Formulierung in Keck. die Regelung müsse für alle Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, gelten - nach dem hier vertretenen Ansatz ist man versucht, den Schwerpunkt in dieser Aussage darauf zu legen, daß diese Teilnehmer ihre Tätigkeit (nur) im Inland ausüben, und nicht darauf, daß sie gleich betroffen sein sollen (vgl. dazu oben Fn. 238). Insgesamt läßt sich wohl sagen, daß der EuGH, wenn er auf die gleiche Betroffenheit von allen (inländischen und ausländischen) Wirtschaftsteilnehmem abgestellt hat, dies nur als zusätzliche Überlegung eingebracht hat, nicht aber als ausreichendes Kriterium. Vielmehr hat er in den in der vorigen Fußnote zitierten Entscheidungen klargestellt, daß diese Ungleichbehandlung nach der Herkunft der beteiligten Personen nicht ausreicht. Im übrigen läßt sich dieser Vorbehalt auch so verstehen, daß damit solche Regelungen erfaßt werden sollen, die durch Anknüpfung an bestimmte Händlergruppen, die nämlich etwa hauptsächlich importierte oder aber bevorzugt inländische Ware verkaufen, doch die Produkte unterschiedlich behandeln. Zumindest mißverständlich Streinz. EuZW 2003, 37, 43, wonach Art. 28 ganz allgemein auch die Handel treibenden Personen schütze. Die Parallele zur Dienstleistungsfreiheit, die in Fn. 92 sowie auf S. 39 Fn. 15 angesprochen wird. sollte nicht dahingehend verstanden werden, daß Art. 28 ebenso wie Art. 49 Behinderungen der grenzüberschreitenden Tätigkeit erfassen müsse. Vgl. zum Ganzen die eingehende Analyse bei Weyer, Freier Warenverkehr (1997), 151 ff. 343 Vgl. dazu die unten besprochene Teleshopping-Konstellation aus der Entscheidung De Agostini und TV-Shop. 2. b) bb).; außerdem die noch anhängige Rs. C-322/01, Deutscher Apothekerverband. zum deutschen Verbot des Arzneimittelversandhandels sowie entsprechender Werbung; dazu auch Streinz. EuZW 2003, 37. Allgemein zu denkbaren Beschränkungen des Warenverkehrs in solchen Fällen auch SnelllAndenas. in: AndenaslRoth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 69, 112. 344 EuGH, 7. 3.1993, GB-INNO-BM. Rs. C-362/88, Slg. 1990,1-667.

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Im Gegensatz dazu war das im Fall Aragonesa 345 m.E. zumindest sehr fraglich: Die Betroffenen waren hier rein inländisch tätige Firmen, die Werbetafeln an Straßen aufstellen und vermieten. Es ging also nicht um Händler, die mit dem Vertrieb der Ware selbst zu tun haben, sondern um in die Herstellerwerbung eingeschaltete Mittelspersonen, die nur innerstaatlich tätig sind?46 Das katalanische Verbot für solche öffentliche Werbung für höherprozentige Alkoholika betraf für sie die Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit, die keinerlei grenzüberschreitenden Bezug aufweist. Hinsichtlich der Waren sind nach den vorgetragenen Tatsachen zumindest die ersten drei Fragen des Prüfungs schemas mit nein zu beantworten; insbesondere war nichts zur Verwendung eines grenzüberschreitenden Konzepts ausgesagt (das könnte anders aussehen, wenn ein ausländischer Hersteller gegen dieses Verbot vorgehen wollte). Eine extreme Zugangsbeschränkung für diese Produkte wird auch kaum vorliegen. Die betroffenen Firmen hatten allerdings mit einer faktischen Benachteiligung eingeführter Produkte argumentiert. Dies scheint jedoch schon tatsächlich eine eher fragwürdige Argumentation zu sein, wie Generalanwalt Van Gerven 347 deutlich macht; auch der EuGH weist sie zurück348 . Darüber hinaus ist fraglich, ob eine solche Benachteiligung, wenn sie denn vorläge, von den Werbeflächen-Vermietern geltend gemacht werden kann. Man könnte daran denken, ihnen das sozusagen im Interesse ihrer Kunden zuzugestehen, die an den Verfahren nicht beteiligt sind. 349 Das könnte dann auch für ein grenzüberschreitendes Werbekonzept eines Kunden gelten. Beides war jedoch im konkreten Fall kaum hinreichend begründet. 35o Zu Yves Rocher351 könnte man deswegen Bedenken haben, weil die Verfahrensbeteiligte nicht das französische Mutterunternehmen war, sondern die deutsche Tochtergesellschaft. Die verwendete Werbung mit Preisgegenüberstellungen war jedoch keine eigene ("Händler"-) Werbung der Tochter, sondern vom Mutterunternehmen, das auch die betroffenen Produkte herstellt, einheitlich352 konzipiert. In345 EuGH, 25. 7. 1991, Aragonesa de Publicidad Exterior und Publivia, verb. Rs. C-1/90 und C-176/90, Slg. 1991,1-4151. 346 Das erinnert an die Konstellation der KabeIbetreiber im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, vgl. dazu unten Zweiter Teil, § 6 11. 2. b) bb) (1). 347 EuGH, 25. 7. 1991, Aragonesa de Publicidad Exterior und Publivia, verb. Rs. C-1/90 und C-176/90, Slg. 1991,1-4151,4176 Tz. 12. 348 EuGH, 25. 7. 1991, Aragonesa de Publicidad Exterior und Publivia, verb. Rs. C-l/90 und C-176/90, Slg. 1991,1-4151,4186 Rdnr. 23 ff. 349 Vgl. dazu EuGH, 7. 5.1998, Clean Car Autoservice, Rs. C-350/96, Slg. 1998,1-2521; EuGH, 14. 11. 1995, Svensson und Gustavsson, Rs. C-484/93, Slg. 1995,1-3955 sowie unten Zweiter Teil, § 6 11. 2. b) bb) (1) (b) Fn. 594. 350 Gegen eine Anwendung des Art. 28 EGV auf diesen Fall auch Ackennann, RIW 1994, 189, 194; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindemden Maßnahmen (1997), 191; dafür jedoch Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 62 f. 351 EuGH, 18.5. 1993, Yves Rocher, Rs. C-126/91, Slg. 1993,1-2361. 352 Daß die Werbung in den beiden Staaten unterschiedlicher Sprache verwendet wird, kann m.E. nichts daran ändern, daß es sich um eine einheitliche, grenzüberschreitend zu ver-

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sofern begleitet auch in einem solchen Fall diese Werbekonzeption die Produkte bei der Grenzüberschreitung. Das rechtfertigt aus den oben erläuterten Gründen die Anwendung des Art. 28 EGV, denn es wird so spezifisch die Grenzüberschreitung der Ware behindert. Darauf kann sich auch die inländische Vertriebsgesellschaft für die von ihr verwendete, aber übernommene Werbung berufen. 353 Etwas komplizierter liegt der Fall in Oosthoek's Uitgeversmaatschappij:354 Auch hier ist das betroffene Unternehmen im Regelungsstaat ansässig. Es vertreibt zwar teilweise auch die von einem Schwesterunternehmen im Nachbarstaat produzierten Bücher (und nur auf diese will der Gerichtshof seine Aussagen zu Art. 28 EGV bezogen wissen 355 ). Die Werbekonzeption wird jedoch nicht von dem ausländischen Herstellerunternehmen übernommen, sondern ist eine eigene des niederländischen Unternehmens. Diese verwendet es jedoch auch rechtmäßig in Belgien, wo es ebenfalls die fraglichen Nachschlagewerke vertreibt, und auch wieder teils aus eigener Herstellung, teils aus der des belgischen Schwesterunternehmens. Insofern ist zwar ein Interesse des Unternehmens an der Verwendung einer einheitlichen Werbekonzeption nicht von der Hand zu weisen. Es fehlt jedoch die gemeinsame Grenzüberschreitung der Werbung mit der Ware für die in den Niederlanden vertriebenen Produkte belgischer Herstellung. Insofern bedeutet die Anwendung des Art. 28 EGV in diesem Fall einen deutlichen Schritt über Yves Rocher hinaus (anders als dort sah der EuGH die Regelung in Oosthoek's Uitgeversmaatschappij jedoch als gerechtfertigt an). Das Herkunftslandprinzip allein reicht hier zur Erklärung nicht aus. Allein bezogen auf den Importfall würde sich das fragliche Zugabeverbot als EG-weite Regelung für den Absatz im Regelungsstaat nicht anders auswirken. Erst unter Hinzunahme der sonstigen Tätigkeit, nämlich des Exports gleichartiger Produkte, ergibt sich die andere Interessenlage. (An dem Export allein hingegen hindert die niederländische Regelung den Verlag auch nicht, sie ist nur auf den inländischen Markt bezogen.) Nach dem bisherigen Stand wird eine wendende Konzeption handelt. Auch Produktetiketten oder Verpackungen z. B. werden in unterschiedlicher Sprache in den Verkehr gebracht, trotzdem sind Vorschriften, die die Gestaltung des Etiketts oder der Verpackung betreffen, als behindernd einzustufen, wenn sie eine Anpassung erforderlich machen. Vgl. oben Fn. 217. 353 A.A. Roth, in: FS Großfeld (1999),929, 943 f. Seine eigene Argumentation S. 949 ff. spricht jedoch m.E. für die hier vertretene Ansicht: Es geht bei Art. 28 EGV um den Zugang der Ware (und nach hier vertretener Ansicht der sie begleitenden Werbung) zum Markt des Regelungsstaates, nicht primär um die beteiligten Personen. Gerade die Grenzüberschreitung der Waren ist in einem Fall wie Yves Rocher jedoch betroffen. Gleiches gilt im übrigen für die Konstellation De Agostini, dazu noch unten 2. b) aa). Wie hier Leible, in: Grabitzl Hilf, Art. 28 Rdnr. 28; Reese, Grenzüberschreitende Werbung (1994), 61 ff.; gegen eine Anwendung des Art. 28 EGVaber z. B. auch Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997),192 f. (aufgrund seines Kriteriums der "Behinderung an der Etablierung", das in dieser Anwendung an ein Spürbarkeitskriterium erinnert, vgl. die Formulierungen "mangels bedeutender Auswirkungen" und "nicht wirklich einschränken"). 354 EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Sig. 1982,4575. 355 EuGH, 15. 12. 1982, Oosthoek's Uitgeversmaatschappij, Rs. 286/81, Slg. 1982,4575, 4586 Rdnr. 9.

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solche Regelung m.E. von Art. 28 EGV nicht erfaßt. 356 Die Frage kann sich aber, vor allem, wenn man Exportfreiheiten in weiterem Maße anerkenne 57 , als das der Gerichtshof bisher zu Art. 29 EGV getan hat, zunehmend stellen: Ob nämlich nicht eine solche Ausdehnung des Herkunftslandprinzips auf ein "Einheitlichkeitsprinzip,,358 in einem gemeinsamen Markt Sinn machen könnte?59

2. Die Rechtsprechung nach Keck zu Werbung und Absatzmodalitäten insbesondere: Das Urteil De Agostini und TV-Shop Bis vor einigen Jahren war diese Interpretation des Art. 28 EGV in Bezug auf nationale Regelungen, die Werbung und andere Methoden der Absatzförderung betreffen, noch ohne weiteres jedenfalls mit den Ergebnissen der Rechtsprechung des EuGH nach Keck auf diesem Gebiet in Einklang zu bringen. Soweit Regelungen unter Hinweis auf die Keck-Entscheidung als nicht Art. 28 EGVunterfallend angesehen wurden, betrafen diese die Werbung inländischer Einzelhändler. Die Regelungen dagegen, die als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen angesehen wurden, waren im wesentlichen klassisch produktbezogen, betrafen jedoch gleichzeitig auch die Werbung des Herstellers. Dem scheint das Urteil De Agostini und TV-Shop vom 9. 7. 1997 zumindest auf den ersten Blick ein Ende zu setzen: Schwedische Vorschriften über die Fernsehwerbung werden auch für die Werbung eines italienischen Herstellers 360 für sein 356

reibt".

Vgl. auch Roth, in: FS Großfeld (1999), 929, 942 f., der sich "verwundert die Augen

357 Dann könnte nämlich zunächst die Ware mit der fraglichen Absatzmethode oder auch in einer im Inland nicht zulässigen Zusammensetzung ins Ausland vertrieben werden, unabhängig davon, ob der Regelungsstaat den Geltungsbereich seiner Regelungen von sich aus auf Inlandsflille beschränkt. Vor allem bei produktbezogenen Anforderungen stellt sich dann die Anschlußfrage, wie mit Reimporten solcher Waren zu verfahren ist. 358 Vgl. zu dem Begriff und dieser Thematik Weyer, Freier Warenverkehr (1997),322 ff., insbesondere 327 f. 359 Solche Fälle sind zwar von den rein im Inland tätigen Händlern noch deutlich unterschieden. Dennoch bestünde bei einer solchen Ausweitung des Binnenmarktverständnisses die Gefahr, daß sehr weitgehend mitgliedstaatliche Regelungsinteressen ausgehebelt werden. Diese Fragen verlangen daher m.E. eine bewußte politische Entscheidung und können nicht aus der bestehenden Systematik beantwortet werden. 360 Partei des Verfahrens C-34/95 ist zwar die schwedische Tochtergesellschaft der italienischen De Agostini - Verlags gruppe, sie vertreibt aber eine in Italien (in den verschiedenen EG-Sprachen) hergestellte Kinderzeitschrift und verwendet einen Werbespot, der auch in den anderen Mitgliedstaaten (in der jeweiligen Sprache) gezeigt und ebenfalls nur in Italien hergestellt wird, vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Jacobs, EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und IV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3850 Tz. 16. Bei den anderen Rechtssachen ist die Situation eine etwas andere: Zwar geht es auch hier um "importierte Waren" (vgl. die Schlußanträge des Generalanwalts Jacobs in De Agostini und IV-Shop, 1-3850 Tz. 18), der Werbetreibende ist hier jedoch nicht der Hersteller oder eine mit ihm verbundene Gesellschaft, sondern ein Teleshopping-Anbieter, der die fraglichen

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Produkt grundsätzlich als Verkaufsmodalitäten angesehen?61 Bei näherem Hinsehen ist dies aber möglicherweise noch nicht das letzte Wort. Der Gerichtshof schließt nämlich trotzdem die Anwendung des Art. 28 EGV nicht aus, sondern überläßt es dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die Maßnahmen nicht zu einer stärkeren Beeinträchtigung der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten führen, indem diesen das erstmalige Eindringen in den schwedischen Markt erschwert wird. 362 Außerdem bleibt zu fragen, inwieweit in diesem Fall die Verwendung eines grenzüberschreitenden Konzepts für die Werbung eine Rolle spielte, ob also die oben dargelegten Erwägungen greifen.

a) Die Rechtsprechung des EuGH vor De Agostini und TV-Shop aa) Regelungen der Werbung seitens inländischer Wiederverkäufer Der erste Fall nach Keck, in dem Vorschriften über Werbung zur Diskussion standen, war die Rechtssache Hünermund u.a. 363 Die angegriffene baden-württembergische standesrechtliche Vorschrift verbietet es Apothekern, außerhalb der Apotheke für nicht medizinische, aber apothekenübliche Waren zu werben. Die Apotheker sind in Bezug auf diese Waren Einzelhändler. Auch wenn sie im Einzelfall für ausländische Produkte werben wollen, handelt es sich dabei nicht um einen mit der Grenzüberschreitung der Waren zusammenhängenden Vorgang: es spielt keine Rolle, ob in anderen Mitgliedstaaten Apothekern eine solche Werbung erlaubt ist oder nicht. Es geht um einen rein innerstaatlichen Vorgang, der keinen Einfluß auf die Möglichkeit des Warenimports hat. Was immer die Motive für diese Regelung gewesen sein mögen, sie brauchen sich nicht an den europarechtlichen Maßstäben für die Rechtfertigung nationaler Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäProdukte in der Fernsehwerbung anpreist und dann telefonisch Bestellungen aufnimmt, die per Post ausgeführt werden. Es geht folglich nicht um eine das Produkt beim Grenzübergang begleitende Werbung, sondern um die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit des Teleshopping-Händlers. Dieser Fall ist, wie oben 1. b) bb) erläutert, möglicherweise nicht im Rahmen des Art. 28 EGV zu behandeln, sondern eine Frage der Niederlassungs- und 1oder Dienstleistungsfreiheit (s. dazu auch unten b) bb). 361 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3890 Rdnr. 39-41. 362 EuGH, 9.7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3890 Rdnr. 42-44. In EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Slg. 2001, 1-1795, 1824 Rdnr. 21 hat der Gerichtshof in Bezug auf das schwedische Verbot der Werbung für alkoholische Getränke selbst festgestellt, daß eine solche stärkere Behinderung des Marktzugangs für ausländische Produkte gegeben sei, da der Verbraucher mit den inländischen besser vertraut sei. In dieser Entscheidung überläßt er es dagegen dem nationalen Gericht, abschließend zu beurteilen, ob die Maßnahmen aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sind, S. 1-1827 Rdnr. 32 ff. 363 EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Slg. 1993,1-6787.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

ßige Beschränkungen messen zu lassen. 364 Die Entscheidung, die diese Vorschrift als aufgrund der in Keck aufgestellten Grundsätze nicht in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV fallend ansieht,365 stimmt daher mit den oben entwickelten Grundsätzen überein. Im Urteil Leclerc-Siplec war Gegenstand des Verfahrens eine französische Vorschrift, die für bestimmte Produkte bzw. Wirtschaftssektoren ein Verbot der Fernsehwerbung ausspricht, nämlich für fast alle alkoholischen Getränke, das Literaturverlagswesen, die Filmindustrie, die Presse und den Vertrieb. Der bei dem vorlegenden Gericht zur Entscheidung anstehende Fall betraf den Wunsch einer französischen Supermarktkette, im Fernsehen für den Vertrieb von Kraftstoffen durch diesen Supermärkten angegliederte Tankstellen zu werben. Einschlägig war damit nur der Teil der Vorschrift, der Fernsehwerbung für den Sektor des Vertriebs verbietet, und dementsprechend hat auch der Gerichtshof seine Aussage auf diesen Teil beschränkt. 366 Auch hier geht es also um Werbung für den Einzelhandel, d. h. um rein innerstaatliche Fälle, in denen die Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten keine Rolle spielt. 367 Die in Frage stehende Werbung ist keine das Produkt begleitende, die schon in anderen Staaten verwendet wird, sondern nur eine Werbung des innerhalb des Regelungsstaats tätigen Händlers. Auch in diesem Fall steht daher die Verneinung der Anwendbarkeit des Art. 28 EGV unter Hinweis auf die Keck-Entscheidung 368 mit dem hier vorgeschlagenen Konzept in Einklang.

364 Eine solche Rechtfertigung erschiene in der Tat kaum möglich, vgl. Generalanwalt Tesauro, EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993, 1-6787, 6814 f. Tz. 30 f. 365 EuGH, 15. 12. 1993, Hünermund u. a., Rs. C-292/92, Sig. 1993, 1-6787, 6823 Rdnr. 21 ff. 366 EuGH, 9. 2. 1995, Lec/erc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995,1-179,215 Rdnr. 15. Das vorlegende Gericht hatte auf Anregung einer der beteiligten Parteien die Frage allgemein auf die ganze Vorschrift bezogen, wenn auch "insbesondere" der Sektor des Vertriebs hervorgehoben wurde (vgl. S. 212 Rdnr. 3 und 4); der Gerichtshof hat sich insoweit aber für nicht zuständig erklärt. Das übersehen z. B. Engel/Seelmann-Eggebert, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.V Rdnr. 81, wenn sie die Entscheidung auch auf das Werbeverbot für die Filmindustrie beziehen. Auch der EuGH selbst nimmt in späteren Entscheidungen diese Beschränkung anscheinend nicht mehr ernst, vgl. dazu unten b) zu De Agostini und TV-Shop; außerdem EuGH, 28.10. 1999, ARD, Rs. C-6/98, Sig. 1999,1-7599,7636 Rdnr. 45. Wie hier dagegen z. B. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 102 f. 367 Diesen Unterschied zu der Entscheidung De Agostini und TV-Shop betont auch Stuyck, CMLRev. 34 (1997),1445,1464 f. 368 EuGH, 9. 2.1995, Lec/erc-Siplec, Rs. C-412/93, Sig. 1995,1-179,217 f. Rdnr. 21 ff.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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bb) Der Fall Ortscheit Eine gesonderte Behandlung verdient der Fall Ortscheit. 369 Die dort streitige deutsche Vorschrift verbietet die Werbung für den Bezug ausländischer Arzneimittel, die aufgrund einer Ausnahmevorschrift auch ohne die grundsätzlich nötige Zulassung nach Deutschland eingeführt werden dürfen. Der Gerichtshof scheint dies zwar für eine Verkaufsmodalitäten betreffende Regelung zu halten, stellt aber sodann fest, daß sie ausschließlich ausländische Arzneimittel betreffe und somit inländische und eingeführte Produkte nicht in der gleichen Weise berühre, so daß sie "nicht von vornherein dem Anwendungsbereich von Artikel 30 EWG-Vertrag entzogen" sei. 370 Der Fall ist rechtlich und tatsächlich komplex und daher zunächst nicht leicht einzuordnen. Die konkret umstrittene Vorschrift bezieht sich auf eine andere, die für Einfuhr bzw. Verkauf bestimmter Arzneimittel eine vorherige Zulassung in Deutschland verlangt. Diese fallt ohne Zweifel in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV,371 sie ist jedoch zum Schutz der menschlichen Gesundheit gemäß Art. 30 EGV gerechtfertigt. 372 Zu diesem Verbot gibt es eine (gemeinschaftsrechtlich nicht notwendige) Ausnahmebestimmung für Einzelbestellungen von Medikamenten in bestimmten Fällen. Nur auf Werbung für den Vertrieb aufgrund dieser Vorschrift eingeführter Medikamente bezieht sich das strittige Werbeverbot. Damit ist zum einen fraglich, ob diese Regelung überhaupt losgelöst aus ihrem regulativen Kontext betrachtet werden kann. Der Gerichtshof geht bei der Einstufung als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV nicht auf diesen Zusammenhang ein, sondern nimmt erst im Rahmen der Rechtfertigung gemäß Art. 30 EGV auf die zugrundeliegende Zulassungspflicht und die AusnahmeEuGH, 10. 11. 1994, Onscheit, Rs. C-320/93, Slg. 1994,1-5243. EuGH, 10. 11. 1994, Onscheit, Rs. C-320/93, Slg. 1994,1-5243,5261 f. Rdnr. 9. Generalanwalt Gulrrumn ist in seinen Ausführungen zu dieser Rechtssache deutlicher: Das fragliche Werbeverbot sei eine Bestimmung, die eine bestimmte Verkaufsmodalität im Sinne des Urteils Keck betreffe, was durch das Urteil Hünermund u. a. bestätigt werde (S. 1-5247 Tz. 7). Letzeres bedürfte m.E. einer näheren Begründung, da es in der Rechtssache Hünermund u. a. um die Werbung durch inländische Apotheker geht, im Fall Ortscheit dagegen um Werbung seitens eines Großimporteurs, was Folgen für die Beurteilung als Verkaufsmodalität oder nicht haben kann (siehe näher oben im Text). Gulmann versucht die beiden Fälle dagegen im Rahmen der weiteren Aussagen in der Keck-Entscheidung zu unterscheiden: Bezüglich der ungleichen Berührung stellt er fest, für inländische Produkte gelten strengere Vorschriften, da für sie ein Verkauf ohne Zulassung überhaupt nicht in Frage komme. Daher lasse sich die Auffassung vertreten, daß der Marktzugang für ausländische Erzeugnisse nicht versperrt oder stärker behindert werde. Entscheidend sei aber, daß die Vorschrift den Waren verkehr regele, indem sie die Einfuhr beschränke und ausdrücklich auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet sei, weshalb sie einer Prüfung der Rechtfertigung unterzogen werden müsse (S. 1-5247 Tz. 8, unter Hinweis auf Rdnr. 12 und 14 des Urteils Keck). 371 Vgl. oben § 4 III. 5. 372 Vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Gulmann in EuGH, 10. 11. 1994, Onscheit, Rs. C-320/93, Slg. 1994,1-5243,5250 f. Tz. 16. 369

370

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

bestimmung dazu Bezug. 373 Generalanwalt Gulmann dagegen greift das Argument der Klägerin auf, es handele sich insgesamt um eine, wenn auch begrenzte, binnenmarktfreundliche Ausnahme von dem EG-rechtlich gerechtfertigten Zulassungsgebot und folglich nicht um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung; er widerspricht dem jedoch und hält dennoch eine gesonderte Überprüfung des Werbeverbots für notwendig, da die Gründe für dieses prinzipiell andere sein könnten als für die grundsätzliche Zulassungspflicht, so daß auch eine abweichende Beurteilung in Hinblick auf die Rechtfertigung nach Art. 30 EGV denkbar sei?74 Wenn man das Werbe verbot isoliert betrachtet, stellt man zwar fest, daß es sich nicht um die Werbung eines Herstellers für sein Produkt handelt wie etwa in den Fällen Yves Rocher; Clinique oder Mars, sondern um die Werbung eines Vertreibers der fraglichen Produkte. Anders als in den Fällen Hünermund u. a. und Leclerc-Siplec jedoch geht es auch nicht um die Werbung eines Händlers, der allgemein für Waren wirbt, die er an den Endverbraucher verkauft, sondern speziell um die Werbung für die Einfuhr bestimmter Produkte durch einen Importeur, der diese an andere "Händler" (Apotheker, möglicherweise auch Ärzte in diesem Fall) weiterverkauft. Indem die Regelung an den Vorgang des Importierens anknüpft, ist zwangsläufig gerade die Grenzüberschreitung belastet. Es handelt sich also um einen Fall, bei dem schon Punkt 1.) des Prüfungsschemas375 zu bejahen ist. Auf die Frage nach Regelungsunterschieden, nach bloß parallel stattfindenden Prozessen oder nacheinander verschiedenen Regelungsregimen unterworfenen Vorgängen kommt es nicht mehr an. Sie würde auch keine weitere Erhellung bringen; der Vorgang findet zwar nur einmal statt, er wird nicht doppelt geregelt, Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen sind daher völlig unerheblich, aber es handelt sich dennoch nicht um eine unbedenkliche Regelung, da der geregelte Vorgang eben gerade die Grenzüberschreitung ist. Die Regelung belastet aus sich heraus unmittelbar die Grenzüberschreitung. Dieses Ergebnis kann dadurch, daß die Regelung in einem größeren Kontext steht, m.E. nicht geändert werden. Es bleibt bei einer Regelung, die jedenfalls in diesem Aspekt spezifisch die Einfuhr betrifft; überdies überzeugt das Argument von Generalanwalt Gulmann, daß die gesetzgeberische Motivation nicht zwangsläufig durchgehend für einen ganzen Regelungskomplex dieselbe ist. 376 373 EuGH, 10. 11. 1994, Ortscheit. Rs. C-320/93, Sig. 1994,1-5243,5261 f. Rdnr. 9 bis 12 einerseits (mit der Erwähnung von § 73 Abs. 3 AMG in Rdnr. 10 stellt der Gerichtshof nur rein tatsächlich einen Bezug zu dieser Vorschrift her, nicht rechtlich), 5265 Rdnr. 19 andererseits. 374 Schlußanträge des Generalanwalts Gulmann in EuGH, 10. 11. 1994, Ortscheit. Rs. C-320/93, Slg. 1994,1-5243,5249 Tz. 12. 375 Oben § 4 11. 4.; vgl. zu dieser Gruppe auch § 4 II. 1. 376 Selbst wenn man sich auf die Argumentation einließe, daß im Inland gehandelte Produkte überhaupt nicht von der Zulassung befreit werden können, läßt sich dagegen einwenden, daß diese auch nicht anderswo rechtmäßig in Verkehr sind, so daß kein Grund besteht, ihnen auch ohne Zulassung Zugang zum Markt zu gewähren.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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cc) Produktbezogene Regelungen

In diese Gruppe gehören die bereits oben ausführlicher vorgestellten Urteile Es-

tee Lauder Cosmetics, Clinique und Mars. 377 Der Gerichtshof hat in diesen Fällen

Art. 28 EGV für anwendbar gehalten. Dabei ging es zwar überwiegend um den Namen des Produkts bzw. um auf der Verpackung der Ware selbst angebrachte Werbeaussagen, es wurden aber jeweils auch die zusätzlichen Kosten für die Werbung, die durch die staatliche Maßnahme erforderlich würden, erwähnt. Selbst wenn in diesen Fällen die auf der Ware selbst angebrachte Werbung weggedacht würde, würde es sich doch immer noch um (Hersteller-)Werbung handeln, die zusammen mit dem Produkt die Grenze überschreitet, so daß durch abweichende Regelungen im Importland der Werbende zur Abänderung der bereits entworfenen und in einem anderen Mitgliedstaat auch rechtmäßig verwendeten Werbung gezwungen wird. Aufgrund der engen Verbindung zwischen Werbung und Produkt ist hier eine europarechtliche Kontrolle geboten. 378 b) Das Urteil De Agostini und TV-Shop Das Urteil De Agostini und TV_Shop379 beendet diese Übereinstimmung zumindest teilweise, indem dort jedenfalls in der Rechtssache C-34/95 (De Agostini)380 die grenzüberschreitend verwendete Werbung 381 eines Herstellers (bzw. die von dessen nationaler Tochtergesellschaft verbreitete, aber von der Muttergesellschaft übernommene Werbung) grundsätzlich als Verkaufsmodalität eingeordnet wird. Gegenstand dieses Verfahrens ist die Fernsehwerbung der schwedischen Tochtergesellschaft einer italienischen Verlagsgruppe für eine Kinderzeitschrift, die in italien in den verschiedenen EG-Sprachen hergestellt und in den einzelnen Staaten durch nationale Tochtergesellschaften vertrieben wird. Die gleiche (in Italien hergestellte) Werbung ist in verschiedenen Sprachen vorher schon in fast allen Mitgliedstaaten gezeigt worden. Die bei den anderen mit dieser verbundenen Rechtssachen hingegen betreffen die Tätigkeit eines Teleshopping-Anbieters, der Uedenfalls auch) importierte Produkte in der Fernsehwerbung anpreist und dann telefo377 EuGH, 13. 1. 2000, Estie Lauder Cosmetics, Rs. C-220/98, Slg. 2000, 1-117; EuGH, 6.7. 1995, Mars, Rs. C-470/93, Slg. 1995,1-1923; EuGH, 2. 2. 1994, "Clinique", Rs. C-315/92, Slg. 1994,1-317; siehe oben 1. a). 378 Vgl. oben 1. a). Ebenso Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), 414 ff. 379 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997, 1-3843. 380 Zu dieser Konstellation vgl. auch EFfA-Gerichtshof, 16.6. 1995, Mattel Scandinavia und Lego Norge, verb. Rs. E-8 194 und E-9 194, Report of the EFfA-Court 1 January 1994 - 30 June 1995, 115; dort wurde der Fall jedoch allein im Hinblick auf die Femsehrichtlinie geprüft, die Fragen zu Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit wurden danach als unerheblich betrachtet. 381 Vgl. dazu auch Stuyck, CMLRev. 34 (1997),1445,1464 f.

8 Feiden

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

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nisch Bestellungen aufnimmt, die per Post ausgeführt werden. Damit geht es in diesen Fällen "nur" um die Werbung eines Händlers, weshalb nach der hier vorgeschlagenen Differenzierung andere Überlegungen einschlägig sind. Der Gerichtshof hat die Rechtssachen dennoch nicht nur zu einem Verfahren verbunden, sondern geht auch in den Urteilserwägungen zu Art. 28 und 30 EGV nicht auf Unterschiede in den verschiedenen Verfahren ein, wodurch eine getrennte Untersuchung erschwert wird. Dennoch ist zum einen für den Vergleich mit den nach der hier vertretenen Ansicht zu erwartenden Ergebnissen, zum anderen m.E. aber auch unabhängig davon zum genauen Verständnis der Reichweite des Urteils eine gesonderte Behandlung der beiden Fallkonstellationen erforderlich. 382,383 aa) Rs. C-34/95, De Agostini Der EuGH gibt in Rdnr. 39 der Entscheidung zunächst die Feststellung aus dem Urteil Leclerc-Siplec384 wieder, eine Fernsehwerbung in einem bestimmten Sektor untersagende Regelung betreffe Verkaufsmodalitäten, "soweit sie eine Form der Förderung einer bestimmten Methode des Absatzes von Erzeugnissen verbietet"?85 Im folgenden zitiert er Keck und prüft sodann die dort genannten weiteren Voraussetzungen für die Unanwendbarkeit des Art. 28 EGV auf Regelungen von Verkaufsmodalitäten, subsumiert aber den hier zu entscheidenden Sachverhalt nicht unter die zitierte Aussage aus Leclerc-Siplec. 386 Die ,,(bestimmte) Form der Förderung" bezieht sich hier wie dort auf die Werbung im Fernsehen. Während jedoch mit der "bestimmten Methode des Absatzes" im Urteil Leclerc-Siplec ausdrücklich der Vertrieb angesprochen ist (und es folglich um Händlerwerbung geht, vgl. oben 1.1.), ist in der De Agostini Fallkonstellation nicht ersichtlich, daß für eine besondere Absatzmethode geworben würde; es wird vielmehr schlicht vom Hersteller für das Produkt selbst geworben. Allerdings wird im Urteil Leclerc-Siplec selbst nicht erläutert, warum es gerade auf dieses Kriterium ankommen soll;

382

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß etwa in der Urteilsbesprechung von

Novak, OB 1997,2589 die TV-Shop Konstellation überhaupt nicht erwähnt wird. Vgl. auch Roth, in: FS Großfeld (1999),929,942, der auch nur die De Agostini Konstellation erwähnt und auch dort nur die an Kinder gerichtete Werbung, die im Rahmen der Prüfung des Art. 28

EGV neben der in allen drei Verfahren betroffenen irreführenden Werbung nur am Rande eine Rolle spielt (sie wird zwar in Rdnr. 44 erwähnt, aber das steht in einem gewissen Widerspruch zu der Prüfung im Rahmen der zweiten Vorlagefrage in Rdnr. 55 ff., wo diese Regelung in Hinblick auf die Fernsehrichtlinie geprüft und schon danach als gegenüber ausländischen Fernsehsendern unzulässig angesehen wird, weshalb die Grundfreiheiten in diesem Zusammenhang gar nicht mehr geprüft werden). 383 Zu EuGH, 28. 10. 1999, ARD, Rs. C-6/98, Slg. 1999,1-7599 vgl. nur oben Fn. 335. 384 EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-4l2/93, Slg. 1995, 1-179 (dort 217 Rdnr. 22). 385 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3890. 386 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3890 f. Rdnr. 40-44.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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es läßt sich weder mit dem Wort Verkaufsmodalität in Verbindung bringen noch trifft es für die "klassischen" Beispiele für Verkaufsmodalitäten wie etwa Ladenöffnungszeiten zu. Außerdem ist zuzugeben, daß viele Formulierungen des Gerichtshofs sehr stark auf den konkret zu entscheidenden Fall zugeschnitten sind und daher nicht ohne weiteres auf den nächsten Fall übertragen werden können. Vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Differenzierung jedoch ist es genau dieses Merkmal, das einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Fallgestaltungen ausmacht. Es erscheint daher jedenfalls bemerkenswert, daß gerade dieses in der Entscheidung De Agostini übergangen wird. 387 Wenn damit auch die Werbung des Herstellers De Agostini grundsätzlich als Verkaufsmodalität eingestuft wird, so gelangt der Gerichtshof doch nicht zwangsläufig zur Unanwendbarkeit des Art. 28 EGY. Er gibt dem nationalen Gericht auf, zu prüfen, ob nicht durch das Verbot ausländische Erzeugnisse stärker betroffen werden als heimische. Dabei weist er auf die unterschiedliche Wirksamkeit verschiedener Absatzförderungsformen und das von De Agostini vorgebrachte Argument hin, Fernsehwerbung sei für sie die einzige Möglichkeit, die Kinder bzw. ihre Eltern zu erreichen und so in den schwedischen Markt einzudringen. 388 Sodann gibt er zur Frage der gegebenenfalls notwendigen Rechtfertigungsprüfung nur die allgemeinen, bekannten Grundsätze wieder, ohne auch nur im geringsten auf den konkreten Fall bezogen Stellung zu nehmen, und überläßt damit auch in diesem Bereich die Wertung vollständig dem nationalen Gericht. 389 Der EuGH hält sich damit insgesamt sehr stark zurück bei der Beurteilung dieses Falles; ob Art. 28 EGV nun anzuwenden ist oder nicht, bleibt letztlich offen. Noch einen Schritt weiter geht der EuGH in Gourmet International Products: In dieser Entscheidung stellt der Gerichtshof in Bezug auf das schwedische Verbot der Werbung für alkoholische Getränke selbst fest, daß eine solche stärkere Behinderung des Marktzugangs für ausländische Produkte gegeben sei, da der Verbraucher mit den inländischen besser vertraut sei. 390 Das Werbeverbot stelle daher ein Hemmnis für den Handelsverkehr dar, das in den Anwendungsbereich von Art. 28 EGV falle. Dagegen überläßt er es hier eben387 Auch Generalanwalt Jacobs übergeht dieses Merkmal in seinen Schlußanträgen in EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Sig. 1997,1-3843,3870 Tz. 97. 388 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Sig. 1997,1-3843,3890 f. Rdnr. 42-44. 389 EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Sig. 1997,1-3843,3891 Rdnr. 45-47; vgl. auch 3892 f. Rdnr. 48 ff. zu Art. 49 EGV, wo der Gerichtshof ebenfalls kaum fall bezogen argumentiert, sondern nur die anerkannten Grundsätze wiedergibt und die eigentliche Entscheidung dem vorlegenden Gericht aufträgt. 390 EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Sig. 2001, 1-1795, 1824 f. Rdnr. 21 ff. Es könne ohne eine genaue Untersuchung der die Lage in Schweden kennzeichnenden Umstände (die dem nationalen Gericht obliegen würde) festgestellt werden, daß der Genuß alkoholischer Getränke mit herkömmlichen gesellschaftlichen Übungen sowie örtlichen Sitten und Gebräuchen verbunden sei. Daraus leitet der EuGH her, daß eingeführte Erzeugnisse wegen ihrer geringeren Bekanntheit von dem Werbeverbot stärker betroffen werden. 8*

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV falls dem nationalen Gericht, abschließend zu beurteilen, ob die Maßnahmen aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sind, oder ob das angestrebte Ziel durch den Waren verkehr weniger beeinträchtigende Maßnahmen erreicht werden könnte. 391 Nach dem hier entwickelten Konzept würde der EG-weit Test noch nicht unbedingt zu einer Anwendung des Art. 28 EGV führen. Das Verbot gilt nicht ausnahmslos, so daß sich nicht sagen läßt, bei EG-weiter Geltung hätte der ausländische Hersteller auch dort keine Werbung entwickelt (auch schwedische Hersteller bewerben ihre Podukte, soweit es im Rahmen der schwedischen Vorschriften zulässig ist). Überdies läßt sich dem Sachverhalt nichts dazu entnehmen, ob eine gleiche oder ähnliche Werbung verwendet worden ist wie in anderen Mitgliedstaaten. Die Anwendung von Art. 28 EGV auf das Werbeverbot ist aber auch nach diesem Konzept über die besondere Behinderung des Marktzugangs zu begründen. Durch das nahezu vollständige Verbot, das nur wenige, in den Worten des EuGH unbeachtliche Ausnahmen vorsieht, ist der Zugang zum Markt für Produkte, die dort noch nicht etabliert sind, in besonderem Maße erschwert. Dies verlangt nach einer Rechtfertigungsprüfung. 392

Möglicherweise käme man daher auch nach der Lösung des EuGH zum gleichen Endergebnis wie nach der hier vertretenen Ansicht. Dennoch steht dieses Urteil dieser Ansicht insofern entgegen, als eine EG-weit geltende Regelung des schwedischen Inhalts zur Folge hätte, daß De Agostini keine derartige Fernsehwerbung in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig ausstrahlen würde (und wohl auch gar nicht erst produziert hätte), so daß beim Grenzübergang kein neues Problem entstände. Danach wäre die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV also in jedem Fall auf dieser Prüfungsstufe, unabhängig von einer erst danach zu prüfenden faktischen Diskriminierung, zu bejahen, eine Einordnung als "Verkaufsmodalität" in diesem Sinne "falsch": Es geht gerade nicht nur um im Inland stattfindende Vorgänge. Es ist jedoch einerseits zu bedenken, daß soweit ersichtlich in dem Verfahren dieses Argument von keiner Seite vorgebracht wurde; die Tatsachen dafür sind zwar vorgetragen, aber diese rechtliche Bewertung unterblieb. Andererseits ist nicht unbedingt gesagt, daß kommende Entscheidungen ebenso ausfallen werden, weil diese Einordnung möglicherweise auch durch die Vermischung der beiden unterschiedlichen Fallkonstellationen mitverursacht wurde. 393 Schließlich ist, wie schon erwähnt, im Ergebnis ohnehin noch Übereinstimmung möglich. Der hier vertretene Lösungsansatz wird daher nachdrücklich auch nach dieser Entscheidung aufrechterhalten - nicht zuletzt, weil auch der EuGH mit einem Ansatz einmal "unrecht haben" kann.

391 EuGH, 8. 3. 2001, Gourmet International Products, Rs. C-405/98, Slg. 2001, 1-1795, 1827 Rdnr. 32 ff. 392 Zu der Frage, inwieweit diese Beschränkung der Freiheit des Herstellers und Werbenden von dem im konkreten Verfahren betroffenen Verleger geltend gemacht werden kann, vgl. oben bei und in Fn. 349 zu der Konstellation in Aragonesa sowie unten zu der ähnlichen Problemstellung in den Monopolfallen, § 5 11. 2. passim. 393 Es ist allerdings zuzugeben, daß GA Jacobs zu derselben Einordnung gelangt, obwohl er die Fallkonstellationen getrennt behandelt.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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Begrüßenswert ist das Urteil in jedem Fall insoweit, als es gegenüber der rein formalen Einordnung als Verkaufsmodalität oder produktbezogene Regelung die besondere Bedeutung der weiteren in Keck aufgestellten Voraussetzungen für das Ausscheiden aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV hervorhebt. In den Erwägungen dazu sind der Sache nach - wie schon in Keck selbst - sowohl das Benachteiligungselement als auch die Erhaltung des Marktzugangs enthalten. bb) Rs. C-35/95 und 36/95, TV-Shop Da der Gerichtshof alle drei Rechtssachen gemeinsam und auch ohne jegliche innere Differenzierung behandelt, gelten für die beiden TV-Shop betreffenden Verfahren genau dieselben, oben geschilderten Urteilserwägungen. Versucht man jedoch hier, unter die aus dem Urteil Leclerc-Siplec übernommenen Kriterien für das Vorliegen einer Verkaufsmodalität zu subsumieren, so ergibt sich ein anderes Bild: Die bestimmte Form der Förderung bezieht sich auch hier auf Fernsehwerbung, und die bestimmte Methode des Absatzes ist hier der Verkauf von Produkten im Wege des Tele-Shopping. Insofern ist diese Argumentation also hier stimmig. Nach dem hier verfolgten Ansatz ist zu differenzieren: Ebenso wie im Verfahren Leclerc-Siplec geht es um die Werbung nicht eines ausländischen Herstellers für seine Produkte, sondern eines Händlers, der (unter anderem) eingeführte Produkte im Inland verkauft. Im Unterschied zu der Firma Leclerc-Siplec handelt es sich bei TV-Shop allerdings um die schwedische Tochtergesellschaft einer internationalen Gruppe, die weitere Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft hat. Die beanstandeten Werbesendungen scheinen wie im Fall De Agostini auch hier in anderen Mitgliedstaaten, zumindest jedenfalls in Dänemark, rechtmäßig gezeigt zu werden. 394 Damit liegt zwar eine Situation vor, in der ein Wirtschaftsteilnehmer ein nachvollziehbares Interesse daran haben kann, eine Verkaufsstrategie, die er in einem Mitgliedstaat rechtmäßig verfolgt, auch in anderen Mitgliedstaaten anwenden zu dürfen?95 Es ist jedoch fraglich, ob dies in einer derartigen Fallgestaltung eine Frage des Warenverkehrs ist: Anders als etwa in den Fällen Yves Rocher, Clinique oder Mars ist die fragliche Werbung nicht in erster Linie eine Begleiterscheinung eines importierten Produkts, die mit jenem zusammen über die Grenze gebracht werden soll. Die Verwendung der Werbung in (mindestens) einem anderen Mitgliedstaat hat nicht so sehr damit zu tun, daß das Produkt ein eingeführtes ist, sondern vielmehr damit, daß der Händler international, 394 Vgl. die Schlußanträge des Generalanwalts Jacobs in EuGH, 9. 7. 1997, De Agostini und TV-Shop, verb. Rs. C-34/95, 35/95 und 36/95, Slg. 1997,1-3843,3850 f. Tz. 15 und 18,3855 Tz. 32. 395 Tele-Shopping als Beispiel für eine Vertriebsart, bei der Regelungen über die Werbung für den Sektor des Vertriebs gemeinschaftsrechtlich nicht unbedenklich sind, hatte schon GA Jacobs in EuGH, 9. 2. 1995, Leclerc-Siplec, Rs. C-412/93, Slg. 1995, 1-179, 200 Tz. 54 genannt (er spricht von der Anwendung von Art. 28 oder Art. 49 EGV). In Anlehnung an Jacobs geht darauf auch Weatherill, CMLRev. 33 (1996), 885, 890 f., 894, 896 wiederholt ein.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

d. h. in mindestens einem anderen Mitgliedstaat, tätig ist. Das für die Anwendbarkeit der europarechtlichen Freiheiten entscheidende grenzüberschreitende Element liegt hauptsächlich hinsichtlich der Person des Tele-Shopping-Händlers bzw. seiner Tätigkeit / Leistung vor, nicht notwendig hinsichtlich der zu verkaufenden Ware. Damit liegt zunächst eine Behandlung im Rahmen der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit näher. Wenn allerdings diese Werbung gleichzeitig produktbezogene Aussagen macht und damit also sozusagen auch das Produkt bei der Grenzüberschreitung begleitet, findet Art. 28 EGV Anwendung, denn der EG-weit-Test ist dann auch hinsichtlich des Produkts (und nicht nur hinsichtlich der Tätigkeit des Anbieters) positiv (in dem Sinne, daß die EG-weite Regelung anders wirken würde) zu beantworten. In der Konstellation TV-Shop wäre das wohl zu bejahen: Es geht um nach Schweden einzuführende Produkte, die mit einer schon in anderen Staaten rechtmäßig verwendeten Fernsehwerbung angepriesen werden sollen.

11. Verkaufsmonopole und ähnliche Regelungen

1. Einordnung nach dem hier vertretenen Konzept

Ähnlich differenziert fallt die Betrachtung derjenigen Vorschriften aus, die sich darauf beziehen, "wo" bzw. "von wem" bestimmte Waren verkauft (teilweise auch transportiert und gelagert) werden dürfen. Die rein räumlichen Regelungen wurden bereits oben hinlänglich behandelt. 396 Problematisch sind dagegen die Fälle, in denen ein Vertriebsmonopol besteht oder sonst durch Regelungen darüber, wer eine Ware verkaufen (transportieren, lagern) darf, die Absatzwege beschränkt werden. a) Besonderheiten für Monopole; Verhältnis von Art. 31 zu Art. 28 EGV Anders als im Rahmen der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit397 betreffen bei der Warenverkehrsfreiheit Monopolregelungen zumindest nicht schon die Produktion selbst (auch wenn ein Produktionsmonopol vorliegt, kann dies natürlich keine unmittelbaren Auswirkungen auf Hersteller in anderen Mitgliedstaaten entfalten). Sie haben aber Auswirkungen auf den Absatz eingeführter bzw. einzuführender Ware. 398 § 4 III. 1. Vgl. Zweiter Teil, § 6 11. 2. d), § 7 I. 2. b) aa) (1). 398 Die Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen stellt sich daher im Bereich des Warenverkehrs nicht in derselben Weise wie etwa bei Dienstleistungen (unten Zweiter Teil, § 6 11. 2. d). Da Gegenstand der Warenverkehrsfreiheit die Produkte sind, nicht Tätigkeiten der Wirtschaftsteilnehmer, wären "unmittelbare Wirkungen" nur solche, die den Absatz eingeführter Ware überhaupt unmöglich machten. 396 397

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Dabei stellt sich in vielen Fällen angesichts der Sonderregelung in Art. 31 EGV für staatliche Handelsmonopole zunächst die Frage, inwieweit solche Regelungen überhaupt an Art. 28 EGV zu messen sind, also nach dem Verhältnis der beiden Vorschriften zueinander. Einigkeit besteht darüber, daß Art. 31 EGV nicht den Zweck hat, Handelsmonopole vor dem Zugriff des Art. 28 EGV zu schützen. Die Vorschrift ist vielmehr genauso Ausfluß des Grundgedankens des freien Warenverkehrs wie Art. 28 ff. EGV;399 sie soll dabei dessen Eingreifen insofern vorverlagern, als durch die Schaffung des Monopols eine Situation entsteht, die eigene den Waren verkehr behindernde Maßnahmen des Staates überflüssig macht, weil eben das Monopol der einzige vorhandene Wirtschaftsteilnehmer und damit Abnehmer für einzuführende Waren ist. 4oO Das Problem, daß sich aus der abweichenden Formulierung des Art. 31 EGVergibt (" ... jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ... "), wird dabei entweder dadurch gelöst, daß Art. 31 EGV dennoch weit ausgelegt wird, so daß er dieselben Maßnahmen erfaßt wie Art. 28 EGV,401 oder aber indem auf nicht von Art. 31 EGV verbotene Regelungen Art. 28 EGV zusätzlich angewandt wird402 ; teilweise wird auch ein alleiniges Abstellen auf Art. 28 EGV befürwortet403 . Da nach allen Ansätzen letztlich die zu Art. 28 EGV entwickelten Maßstäbe relevant sind, braucht die Frage nach der genauen 399 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995, 1-4663, 4692 Rdnr. 27; EuGH, 13. 12. 1990, KommissioniGriechenland, Rs. C-347/88, Slg. 1990, 1-4747, 4789 Rdnr. 42; EuGH, 7. 6. 1983, Kommission IItalien, Rs. 78/82, Slg. 1983, 1955, 1967 f. Rdnr. 11; EuGH, 3. 2. 1976, Staatsanwaltschaft 1Manghera, Rs. 59175, Slg. 1976,91, 100 f. Rdnr. 6/8 und 9/12; GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997, 1-5909,5935 Tz. 66 ff.; vgl. auch Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 131. 400 Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 1529; Castillo de la Torre, WBl. 1998, 13, 17; Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 31 Rdnr. 2; Matthieslvon Borries, in: GrabitzlHilf, Altband I, Art. 37 (alt) Rdnr. 2 f., 16; Müller, Dienstleistungsmonopole (1988), 115, 120 f.; Nicolaysen, Europarecht H, 83. 401 Leible, in: GrabitzlHilf, Art. 31 Rdnr. 15 f.; Matthieslvon Borries, in: GrabitzlHilf, Altband I, Art. 37 (alt) Rdnr. 15 ff.; Mestmäcker, RabelsZ 52 (1988), 526, 573; Müller, Dienstleistungsmonopole (1988), 120 f.; vgl. auch SchweitzerlHummer, Europarecht, Rdnr. 1149 (nicht ganz eindeutig ist, ob "dieselben Voraussetzungen" nun aus Art. 28 ff. EGVoder doch aus Art. 31 EGV folgen sollen). Auch der Gerichtshof zieht z. B. in EuGH, 7.6. 1983, KommissionIItalien, Rs. 78/82, Slg. 1983, 1955 im Rahmen einer Prüfung des Art. 31 EGV seine allgemeinen Grundsätze zu Preisregelungen aus der Rechtsprechung zu Art. 28 EGV heran (vgl. dazu oben Fn. 48). A.A. Slot, CMLRev. 35 (1998), 1183, 1194, nach dem es für Art. 31 EGV bei einem Diskriminierungstest bleiben soll. 402 Ehlermann, EuR 1991, 307, 321; Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole (1996), 108 ff., 113. Vgl. auch GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997, 1-5909, 5935 Tz. 66 ff.: Art. 31 EGVergänze die Bestimmung des Art. 28 EGV lediglich; er prüft daher beide Vorschriften gleichzeitig, aber mit deutlichem Schwerpunkt auf Art. 28 EGY. 403 Oliver, Free movement of goods (1996), 350; Tesauro, YEL 15 (1995), 1, 16: Art. 31 EGV sei obsolet (allerdings unmittelbar nur mit Blick auf Art. 86 EGV; letztere Vorschrift enthält jedoch selbst keine Beschränkungs- oder Verbotsregelung für Monopole, sondern verweist auf die Vorschriften des Vertrags und damit auch auf Art. 28 EGV).

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Abgrenzung bei der Vorschriften404 für diese Untersuchung nicht entschieden zu werden. Soweit nicht ausdrücklich auf Art. 31 EGV Bezug genommen wird, wird daher im folgenden die Anwendbarkeit von Art. 28 EGV unterstellt und das oben entwickelte Testsystem auf die hier zu untersuchenden Regelungen angewandt. Das erscheint auch deshalb angezeigt, weil die meisten der relevanten Vorschriften sich ohnehin nicht auf den Art. 31 EGV zugeordneten Bereich der "Existenz und Funktionsweise" des Monopols beziehen. b) Anwendung des Tests aa) Unmittelbare Belastung der Grenzüberschreitung; Offene Diskriminierungen Die hier zu diskutierenden Regelungen knüpfen in der Regel nicht unmittelbar an die Grenzüberschreitung der Ware an. Anders ist das nur bei ausschließlichen 404 Im Anschluß an EuGH, 20. 2. 1979, "Cassis de Dijon H, Rs. 120178, Slg. 1979, 649, 662 Rdnr. 7 (ebenso EuGH, 13. 3. 1979, Peureux / Services fiscaux de la Haute-Safme et du Territoire de Belfort, Rs. 86178, Slg. 1979,897,913 f. Rdnr. 34 ff. [Abgrenzung zu Art. 90 EGV]; EuGH, 17.2. 1976, Hauptzollamt Göttingen/ Miritz [im folgenden Miritz] , Rs. 91/75, Slg. 1976, 217, 229 Rdnr. 5) wird vielfach formuliert, soweit die spezifische Ausübung der Ausschließlichkeitsrechte durch das Monopol betroffen sei, gehe Art. 31 EGVals Spezial vorschrift vor, sonstige Vorschriften dagegen fielen unter Art. 28 EGV (Müller-Graf!, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 30 Rdnr. 329; ähnlich auch Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 1541; Castillo de la Torre, WBI. 1998, 13, 14 ff. [allerdings mit weiteren Einschränkungen]). Zu den sonstigen Vorschriften sollen alle diejenigen Maßnahmen zählen, die auch ohne das Monopol bzw. ohne ausschließliche Rechte bestehen könnten (Leible, in: Grabitz/ Hilf, Art. 31 Rdnr. 6; Matthies /von Borries, in: Grabitz/ Hilf, Altband I, Art. 37 (alt) Rdnr. 6; Müller, Dienstleistungsmonopole (1988), 101 f.). Ähnlich mißt EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997, 1-5909, 5966 Rdnr. 35 ff., 5967 ff. Rdnr. 37 ff. einerseits und 5974 ff. Rdnr. 67 ff. andererseits die Bestehen und Funktionsweise des schwedischen Alkoholmonopols betreffenden Bestimmungen an Art. 31 EGV (allerdings im wesentlichen nur mit einem Diskriminierungstest), die davon zu trennenden Regelungen hingegen an Art. 28 EGY. (Inwieweit dabei die Erwähnung des öffentlichen Interesses in Rdnr. 39 und 41 auch eine Überprüfung nichtdiskriminierender Wirkungen im Rahmen des Art. 31 EGV ermöglicht, bleibt unklar, vgl. dazu auch Castillo de la Torre, WBI. 1998, 13, 17 f. Eine Reduzierung der Prüfung auf einen Diskriminierungsmaßstab, sei es auch nur für den Bereich der Funktionsweise des Monopols, ist jedoch mit dem Prinzip des freien Warenverkehrs, dem nach dem oben gesagten auch Art. 31 EGV verpflichtet ist, nicht vereinbar, vgl. Castillo de la Torre, S. 16 ff., 19 f.) Ausschließliche Einfuhrrechte fallen unter Art. 28 EGV, EuGH, 19.3. 1991, Frankreich/ Kommission ("EndgeräteH), Rs. C-202/88, Slg. 1991,1-1223, 1267 ff. Rdnr. 33 ff.; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.l Rdnr. 131. (In EuGH, 13. 12. 1990, Kommission/Griechenland, Rs. C-347 /88, Slg. 1990,1-4747,4791 Rdnr. 50 wurde noch ein Verstoß sowohl gegen Art. 28 als auch gegen Art. 31 EGVangenommen, in EuGH, 3. 2. 1976, Staatsanwaltschaft/Manghera, Rs. 59175, Slg. 1976,91,100 f. Rdnr. 9112,13 nur Art. 31 EGV geprüft; ähnlich jetzt auch wieder EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/ Niederlande, Rs. C-157 /94, Slg. 1997,1-5699; EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/ Italien, Rs. C-158 /94, Slg. 1997, 1-5789; EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/ Frankreich, Rs. C-159/94, Slg. 1997, 1-5815.)

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Einfuhrrechten: Diese verbieten unmittelbar den Vorgang der Einfuhr, betreffen also direkt die Grenzüberschreitung der Ware, wenn sie auch nicht für alle Wirtschafts teilnehmer gelten. Ebensowenig werden eingeführte Waren durch derartige Regelungen offen diskriminiert. 405 Eine diskriminierende Wirkung ist - anders als im Bereich der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit - auch nicht durch den Hinweis darauf, daß einem oder mehreren inländischen Wirtschaftsteilnehmern der Handel erlaubt ist, zu begründen, denn im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit kann es allein auf Diskriminierungen nach der Herkunft der Produkte ankommen. Wo Handelsmonopole mit Produktionsmonopolen in einer Hand verbunden sind, mag eine Diskriminierung der Produkte anderer Hersteller und damit auch aller ausländischen Produkte zwar naheliegen;406 sie ist aber nicht zwangsläufig mit der Monopolregelung verbunden. 407 Anders wäre es natürlich, wenn die Regelung dem Monopol ausdrücklich nur den Verkauf der eigenen Produkte gestattet; das wird aber selten der Fall sein. 408 Es kommt daher zunächst auf die Einordnung im Rahmen des EGweit-Tests an.

405 Das könnte eventuell anders zu sehen sein, wenn das betreffende Produkt in dem regelnden Mitgliedstaat überhaupt nicht hergestellt wird, wie das in der Babymilch-Entscheidung der Fall war. In einem solchen Fall werden tatsächlich nur eingeführte Produkte von der belastenden Regelung betroffen. Gegen eine Einstufung der Regelung als diskriminierend läßt sich auch nicht einwenden, daß dies von tatsächlichen Umständen abhänge und sich auch im Lauf der Zeit ändern könne (so aber der EuGH in dieser Entscheidung); solche von Fall zu Fall unterschiedlichen Beurteilungen kommen auch sonst vor, etwa hinsichtlich des VorIiegens eines grenzüberschreitenden Bezugs. Bedenken bestehen jedoch deshalb, weil es in diesem Fall gar keine inländische Vergleichsgruppe gibt, so daß deshalb die Behauptung einer Diskriminierung eingeführter Erzeugnisse schwerfallt. Vgl. dazu näher unten 2. c) aa). 406 Vgl. dazu zuletzt EuGH, 21. 9. 1999, Läärä, Rs. C-124/97, Sig. 1999,1-6067,6115 Rdnr. 25 f.; der Gerichtshof hielt jedoch die tatsächlichen Angaben dazu für nicht ausreichend, um darüber zu entscheiden. (GA La Pergola hingegen ging anscheinend vom Vorliegen einer solchen unzulässigen Kombination mit einem zumindest faktischen Produktionsmonopol aus, vgl. seine Schlußanträge, S. 1-6081 ff. Tz. 20 ff.) Außerdem EuGH, 18.6. 1991, ERT, Rs. C-260/89, Sig. 1991,1-2925,2959 f. Rdnr. 21 ff. 407 Es handelt sich also um eine faktische Benachteiligung, siehe cc). 408 Vgl. aber (außerhalb des Monopolbereichs) EuGH, 20. 3. 1990, Du Pont de Nemours Italiana, Rs. C-21 188, Sig. 1990, 1-889, zu der Verpflichtung aller italienischen öffentlichen Einrichtungen, 30 % ihres Bedarfs bei Firmen aus dem Mezzogiorno zu decken. Der Gerichtshof stellte hier folgerichtig eine (offene!) Diskriminierung ausländischer Erzeugnisse fest; dem stehe auch nicht entgegen, daß die norditalienischen Erzeugnisse genauso betroffen seien; es reiche vielmehr aus, daß zwar nicht alle inländischen Erzeugnisse gegenüber eingeführten bevorzugt werden, wohl aber alle bevorzugten Erzeugnisse inländische sind (S. 1-920, Rdnr. ll ff.). Ähnlich hat EuGH, 10.7.1984, Campus Oil Limitedl Minister für Industrie und Energie, Rs. 72/83, Sig. 1984,2727,2746 f. Rdnr. 16 für die Verpflichtung aller Importeure, einen gewissen Prozentsatz an Erdölerzeugnissen bei der inländischen Raffinerie zu beziehen, entschieden. Vgl. dazu insbesondere noch die Argumentation zu Dienstleistungsmonopolen, unten Zweiter Teil, § 6 11. 2. d).

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bb) EG-weit-Test Regelungen darüber, von wem bzw. in welcher Art von Geschäften bestimmte Produkte verkauft werden dürren, oder welche sonstigen Zwischenstufen im Inland in den Vertrieb einzuschalten sind, betreffen zunächst nur Vorgänge innerhalb des Regelungsstaats. Sie regeln den inländischen Absatz der Waren und stellen nicht an diese selbst Anforderungen. Damit befindet man sich prinzipiell im Bereich der "Verkaufsmodalitäten". Im Grundsatz würden solche Vorschriften sich auf den Absatz von eingeführten Produkten im Regelungsstaat in derselben Weise auswirken, wenn sie EG-weit Geltung hätten: Es spielt für die Belastung des Absatzes einer Ware im Regelungsstaat dadurch, daß er nur über bestimmte inländische Wirtschaftsteilnehmer errolgen darr, keine Rolle, ob gleichartige Regelungen auch in anderen Mitgliedstaaten gelten. Das kann allerdings anders sein, wenn ein ausländischer Hersteller für den Absatz seiner Produkte ein bestimmtes Konzept entwickelt hat und in seinem Herkunftsland oder (mindestens) einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig betreibt. Zu denken ist dabei insbesondere an den Direktvertrieb der Ware durch den Hersteller, sei es auf dem Versandweg oder etwa durch Vertreter und Haustürverkauf. Wenn dann in einem anderen Land der Verkauf über (eine bestimmte Art) Einzelhandelsgeschäfte oder auch die Einschaltung einer anderen Zwischenebene wie bestimmter Lagerstellen oder Großhandelsunternehmen zwingend vorgeschrieben ist, so wird der Hersteller zur Aufgabe seines Konzepts für diesen Markt gezwungen. Wie im Bereich der Werbung erläutert409 begleitet das Absatzkonzept des Herstellers in diesen Fällen die Ware bei der Grenzüberschreitung. Damit behindern derartige Regelungen auch nicht nur die unternehmerische Tatigkeit des Herstellers, sondern gleichzeitig die Grenzüberschreitung der Ware. In Hinblick auf so erraßte Fallgestaltungen müssen solche Regelungen also auf ihre Rechtfertigung hin überprüft werden. All das ist dagegen nicht der Fall, wenn ohnehin der Einzelhandel eingeschaltet werden soll und die Regelung des Importlands nur vorschreibt, welche Geschäfte auf der Einzelhandelsebene die fraglichen Produkte verkaufen dürren. Ähnliche Situationen sind für einen grenzüberschreitend tätigen Händler, insbesondere im Versandhandel, denkbar; wie bei den Werberegelungen410 kommt es dabei jedoch auch hier darauf an, daß wirklich auch bezüglich der verkauften Produkte der grenzüberschreitende Bezug gegeben ist. Eine EG-weit andere Wirkung ergibt sich auch in dem Fall, daß mit einer inländischen Herstellungslizenz immer auch die Großhandelslizenz und für bestimmte Produkte auch die Einzelhandelslizenz verbunden ist: Würde diese Regelung EGweit gelten, so wären auch dort keine Produkte auf dem Markt, für deren Vertrieb im Regelungsland erst ein weiterer Zwischenhändler eingeschaltet oder eine eigene Großhandelslizenz erworben werden muß. 411 409 410

Oben I. 1. a). Vgl. oben I. 1. b) bb).

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cc) Faktische Benachteiligung eingeführter Waren Für die Regelungen bzw. Fallkonstellationen, für die nicht schon nach dem EGweit-Test die Anwendbarkeit des Art. 28 EGV begründet ist, geht es mit der Frage weiter, ob sie eine faktische Benachteiligung eingeführter Produkte bewirken. Möglich ist das z. B. durch eine tatsächliche diskriminierende Praxis der Monopolisten bzw. Inhaber einer Verkaufs-, Transport-, Lagerungs- oder sonst relevanten Erlaubnis. 412 Zu überlegen ist auch, ob dadurch eine faktische Diskriminierung begründet werden kann, daß keine nationale Vergleichsproduktion existiert. 413 Insbesondere in der letztgenannten Konstellation wird jedoch eine überzeugendere Argumentation über extreme Zugangssperren zu führen sein. dd) Erhebliche Behinderung des Marktzugangs Schließlich bleibt in den bis hierher noch nicht beanstandeten Fällen zu prüfen, ob die fragliche Regelung nicht eine erhebliche Marktzugangssperre für einzuführende Produkte errichtet. Dafür kann die Zahl der zugelassenen Groß- und Einzelhändler bzw. ihre Verteilung im gesamten Gebiet des Regelungsstaats maßgeblich sein, die Kosten, die für den Erwerb einer eigenen Lizenz entstehen, oder das Ausmaß der Belastungen, wenn dem Hersteller zusätzliche Zwischenebenen auf dem Weg zum Endabnehmer aufgezwungen werden. Schließlich ist auch hier denkbar, daß der Markt nur mit Hilfe bestimmter direkter Vertriebsmethoden ökonomisch sinnvoll erschlossen werden kann. Solche Behinderungen können grundsätzlich auch grenzüberschreitend tätige (Versand-)Händler treffen; dann muß aber wieder festgestellt werden, daß damit gleichzeitig die Grenzüberschreitung seitens der Produkte erschwert wird, und nicht nur die Händlertätigkeit. Das trifft im übrigen grundsätzlich auch für den Hersteller zu, auch dort ist denkbar, daß die eigentliche Behinderung nur dessen Tätigkeit, nicht die Warenbewegung betrifft.

2. Überprüfung einzelner Fälle aus der Rechtsprechung des EuGH anhand dieser Kriterien

Die Einordnung der tatsächlich entschiedenen Fälle des EuGH wirft häufig deshalb Schwierigkeiten auf, weil sowohl die Sachverhalte als auch die Regelungen komplex und den Entscheidungen nicht immer in aller Genauigkeit zu entnehmen sind. Insbesondere in den echten Monopolfällen wird oft ein großer Bereich sehr Fall Franzen, siehe unten 2. b) aa). So vor allem die frühen MonopolfaJle, vgl. zum deutschen Branntweinmonopol EuGH, 13. 3. 1979, Hansen / Hauptzollamt Flensburg, Rs. 91 /78, Sig. 1979,935; EuGH, 17.2. 1976, Miritz, Rs. 91/75, Sig. 1976,217. 413 Fall Babymilch, unten 2. c) aa) Cl). 411

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detailliert geregelt, ohne daß in dem konkret zu entscheidenden Fall unbedingt die gesamte Regelung relevant würde; eine angemessene Würdigung scheint aber in solchen Fällen trotzdem oft nur unter Einbeziehung auch der anderen Regelungsteile möglich. Die im folgenden vorgenommene Einschätzung der verschiedenen Fälle nach dem hier vertretenen Konzept hat daher nur begrenzte Aussagekraft für andere Fälle. Schon bei leicht veränderten Sachverhalten kann eine sehr ähnliche Regelung anders einzustufen sein. Das spricht nicht gegen das Konzept, sondern für seine Flexibilität. a) Einfuhr- und Vertriebsmonopole Ausschließliche Einfuhrrechte wie das des italienischen staatlichen Tabakmonopols aus der Entscheidung Manghera oder solche für Strom, Erdöl und Telekommunikationsendgeräte stellen einen Verstoß gegen Art. 28 EGV dar. 414 Für ausschließliche Vertriebsrechte kann zum einen schon nach dem EG-weit-Test die Anwendbarkeit begründet werden, wenn der ausländische Hersteller im Direktvertrieb verkaufen will. Soweit der Monopolist selbst Hersteller ist, liegt darüber hinaus eine faktische Diskriminierung nahe. Vor allem aber ist die Erschließung des Marktes auf diese Weise kaum möglich. 415 414 EuGH, 19. 3.1991, "Endgeräte", Rs. C-202/88, Sig. 1991,1-1223,1267 f. Rdnr. 33 ff. (Art. 28 EGV); EuGH, 3. 2.1976, Staatsanwaltschaft/Manghera, Rs. 59/75, Sig. 1976,91 prüft nur Art. 31 EGV; ähnlich EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/Niederlande, Rs. C-157 /94, Sig. 1997,1-5699; EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/ Italien, Rs. C-158/94, Sig. 1997,1-5789; EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/Frankreich, Rs. C-159/94, Sig. 1997, 1-5815 (alle zu ausschließlichen Einfuhr- [und Ausfuhr-] Rechten für Strom, teilweise auch Gas; im gleich gelagerten Verfahren EuGH, 23. 10. 1997, Kommission/Spanien, Rs. C-160/94, Sig. 1997,1-5851 wurde mangels genügender Substantiierung durch die Kommission nicht in der Sache entschieden); in EuGH, 13. 12. 1990, Kommission/ Griechenland, Rs. C-347 /88, Sig. 1990,1-4747 wurde das ausschließliche Einfuhrrecht für Erdöl für unvereinbar mit Art. 28 und 31 EGVerklärt. Die Angeklagten im Ausgangsverfahren zu Manghera hatten auch unter Verstoß gegen das ausschließliche Einfuhrrecht Zigaretten aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt; in den Verfahren der Kommission gegen einen Mitgliedstaat wird die Regelung ohnehin abstrakt und umfassend bewertet. Die zusätzliche Rechtfertigungsmöglichkeit über Art. 86 II EGV (vgl. dazu vor allem die genannten Entscheidungen vom 23. 10. 1997 sowie zu diesen Slot, CMLRev. 35 (1998), 1183, 1197 f.) wird hier wie auch sonst die Rechtfertigung nicht näher betrachtet. 415 Vgl. die Argumentation des Gerichtshofs in EuGH, 19. 3. 1991, "Endgeräte", Rs. C-202/88, Sig. 1991,1-1223, 1268 Rdnr. 34: Den Wirtschaftsteilnehmern werde die Möglichkeit genommen, "die Verbraucher zum Kauf ihrer Erzeugnisse zu veranlassen." Soweit es dort um sonstige ausschließliche Rechte ging, die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung der Telefongeräte betreffen (S. 1-1269 Rdnr. 40 ff.), hätten diese zwar möglicherweise besser im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit geprüft werden können, es ist aber andererseits auch nicht von der Hand zu weisen, daß auch diese für sich genommen die Einfuhr der Geräte aus denselben Gründen wie bei einem ausschließlichen Vertriebsrecht unmöglich machen, da entsprechende begleitende Leistungen in einem solchen technischen Bereich besonders wichtig sind.

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b) Einzelhandelsmonopole aa) Franzen (Alkoholmonopol) Die schwedische Regelung des Alkoholmonopols, die Gegenstand dieses Verfahrens war, enthält dagegen kein ausschließliches Einfuhr- und Vertriebsrecht mehr, sie war nämlich zum I. I. 1995, also dem Termin des Beitritts Schwedens zur EG, insoweit entschärft worden. 416 Es bestehen aber immer noch verschiedene Einschränkungen, die auf unterschiedliche Weise für Art. 28 EGVrelevant werden können. 417 Zum einen besteht ein Monopol auf Einzelhandelsebene. Dieses könnte, wie oben beschrieben, für einzuführende Waren insoweit nach dem EG-weit-Test eine Beschränkung darstellen, als es die Verwendung bestimmter Absatzkonzepte wie etwa den Direktvertrieb in Schweden unterbinden könnte,418 die in anderen Staaten aber rechtmäßig ausgeübt werden können. Nach der hier vertretenen Ansicht führt das in solchen Fällen zur Anwendung von Art. 28 EGV Der EuGH geht auf diese Möglichkeit allerdings (erwartungsgemäß) nicht ein. In dem konkreten Verfahren ist eine solche Konstellation auch nicht gegeben, und daß die bloße Möglichkeit solcher Fälle das gesamte Regelungssystem unzulässig macht, so daß Herr Franzen straffrei bleiben müßte, ist nicht anzunehmen. Außerdem könnte die Einkaufspraxis des Monopols, die sich nach der Regelung an der Nachfrage orientieren soll, zu einer faktischen Diskriminierung eingeführter oder jedenfalls noch nicht am Markt etablierter Produkte führen. Nach den Ausführungen des EuGH ist das nicht der Fal1. 419 Das ist hier schwer zu widerlegen, auch wenn die ausführlichen Überlegungen von Generalanwalt Eimer ein gegenteiliges Ergebnis nahelegen. 42o Kritik ist aber insoweit angebracht, als der EuGH zu wenig 416 Vgl. dazu den Bericht bei GA Eimer in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189195, Slg. 1997,1-5909,5911 ff. Tz. 2 ff., insbesondere Tz. 5. 417 Ein Problem dieser Entscheidung ist jedoch, daß sie im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens zu einem schwedischen Strafverfahren ergangen ist, in dem ein schwedischer Einzelhändler (der nicht zum Einzelhandelsmonopol gehört) wegen unerlaubten Besitzes und rechtswidrigen Verkaufs von Wein angeklagt ist. Damit sind viele der möglichen Behinderungen, die die schwedische Regelung für die Einfuhr von Alkoholerzeugnissen bewirkt, für diesen Fall nicht relevant, da der Betroffene weder ein ausländischer Hersteller noch ein grenzüberschreitend tätiger Händler ist. Da Herr Franzen aber den fraglichen Wein teilweise aus Dänemark eingeführt hat, ist eine Relevanz des Gemeinschaftsrechts auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht von vornherein ausgeschlossen. Außerdem würde eine Einordnung des Monopols als insgesamt unzulässig seinen Vergehen überhaupt den Boden entziehen. Auf dieses Argument stützt sich Herr Franzen, und es liegt auch den Vorlagefragen zugrunde. Vgl. aber dazu, daß dies nur in den seltensten Fällen der Fall ist, z. B. Lichtenwalder, Anwendung von Art. 30 (1996), 76 f.; Sack, EWS 1994,37,44 f.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), 102. 418 Es ist dem Sachverhalt nicht eindeutig zu entnehmen, ob z. B. der Versand an Endverbraucher in Schweden durch ausländische Hersteller zulässig ist. 419 EuGH, 23.10.1997, Franzen, Rs. C-189195, Slg. 1997,1-5909,5968 ff. Rdnr. 43 ff. 420 EuGH, 23.10.1997, Franzen, Rs. C-189195, Slg. 1997,1-5909,5944 ff. Tz. 98 f.

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auf die tatsächlichen Auswirkungen einer sicherlich nach den objektiven Fonnulierungen nicht diskriminierenden Auswahlpraxis eingeht. Diese tatsächlichen Auswirkungen betreffen zwar allgemein noch nicht auf dem Markt etablierte Produkte und nicht nur einzuführende, aber bei einem Marktanteil der in Schweden hergestellten Produkte etwa bei Bier von 83,1 % ist eine tatsächliche Benachteiligung einzuführender Waren zumindest eine Überlegung wert. 421 Sehr naheliegend ist darüberhinaus vor allem eine extreme Zugangsbehinderung durch die Ausgestaltung des Einzelhandelsmonopols und die (geringe) Verbreitung seiner "Boutiquen".422 Die andere, wichtigere und mit dem Monopol nur in Zusammenhang stehende Beschränkung ist diejenige, daß nur solche Wirtschafts teilnehmer Alkohol nach Schweden einführen dürfen, die eine Hersteller- oder Großhandels lizenz haben. Sie ist auch nach Ansicht des EuGH an Art. 28 EGV zu messen. 423 Ihre Einordnung fällt nicht schwer: Gälte eine solche Regelung EG-weit, so gäbe es keine einzuführenden Produkte, die ohne eine solche Lizenz rechtmäßig hergestellt wären und erst beim Grenzübergang auf ein solches Erfordernis stießen. (Die Herstellerlizenz ist gleichzeitig Großhandelslizenz und berechtigt auch zur Einfuhr.) Sie bedarf daher einer Rechtfertigung. 424 Betrachtet man die schwedische Regelung als Gesamtes (und unabhängig von der Relevanz für das konkrete Strafverfahren), so ergeben sich deutliche Beden421 Für den zu entscheidenden Fall des Herrn Franzen ist aber auch das nicht von Belang. Selbst wenn festzustellen wäre, daß das Monopol sich tatsächlich diskriminierend verhält, wäre es deshalb nicht als solches unzulässig. Der Verkauf durch Herrn Franzen wäre damit weiter unrechtmäßig. 422 Auch diese Behinderung ist jedoch für das konkrete Verfahren zumindest nicht direkt relevant. Der EuGH prüft, wie erwähnt, diesen Bereich hauptsächlich unter Diskriminierungsaspekten, und stellt außerdem fest, es ergebe sich aus den vorliegenden Angaben nicht, daß die Versorgung der Verbraucher gefährdet sei, EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5970 f. Rdnr. 54. 423 EuGH,23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5974 ff. Rdnr. 67 ff. 424 Der EuGH hat die Anwendung des Art. 28 EGV auf die Erlaubnisregelung damit begründet, daß dadurch "zusätzliche Kosten" anfielen (EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5975 Rdnr. 71), ohne genauer auszuführen, was er mit "zusätzlich" meint. Der Sache nach ist dies wohl eine Argumentation über die Behinderung des Marktzugangs. Er stützt das dann noch mit der Bemerkung, daß nur sehr wenige Erlaubnisse erteilt worden seien und diese fast alle an schwedische Wirtschaftsteilnehmer (S. 1-5975 Rdnr. 72). Inwiefern das für die Einfuhr ausländischer Waren relevant ist, erscheint fraglich. Eine Rechtfertigung wird im übrigen abgelehnt, da die schwedische Regierung die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme für den Gesundheitsschutz "nicht dargetan" habe (S. 1-5976 f. Rdnr. 74 ff.). Wie auch Slat, CMLRev. 35 (1998), 1183, 1195, 1196 festhält, ist das in einem Vorlageverfahren ein seltsames Argument - die Regierung ist hier gar nicht unmittelbar Verfahrens beteiligte, und der EuGH muß dem nationalen Gericht unabhängig von dem Verhalten der Regierung eine Antwort auf die vorgelegten europarechtlichen Fragen geben, wozu auch die Rechtfertigung der Maßnahme gehört. Damit dürfte zumindest der Besitz der eingeführten Weine für Herrn Franzen nicht strafbar sein.

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ken. 425 Insbesondere durch die Kombination des Einzelhandelsmonopols mit den Lizenzerfordemissen, wobei die Erteilung einer Großhandelslizenz auch noch an Lagermöglichkeiten im Inland gebunden ist, werden ganz erhebliche Zugangsschranken errichtet, die ein Fußfassen auf dem schwedischen Markt für ausländische Hersteller, die noch nicht zu den ständigen Belieferern des Monopols gehören, nahezu unmöglich machen. Die Regelung hat auch gerade zum Ziel, den Verbrauch von Alkohol einzudämmen. Es wäre daher besser gewesen, offen eine Rechtfertigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes zuzulassen, wenn man das Monopol nicht für unzulässig erklären wollte. 426 bb) Banchero (Tabakmonopol) Ein ähnlicher Sachverhalt war Gegenstand des Verfahrens in Banchero. 427 Dort ging es um die italienische Regelung, die den Einzelhandelsverkauf von Tabakwaren nur in solchen Läden zuläßt, die eine Zulassung des staatlichen Monopols besitzen. 428 Da der Einzelhandel nicht dem Monopol selbst vorbehalten ist, sondern durch von ihm zugelassene private Händler erfolgt, geht es nicht um die Ausgestaltung des Monopols, sondern um ein damit zusammenhängendes Lizenzsystem. 425 Vgl. auch die Ausführungen von GA Eimer, in EuGH, 23. 10. 1997, Franzen, Rs. C-189/95, Slg. 1997,1-5909,5937 ff., Tz. 74 ff., der die Regelung auch als Ganzes betrachtet und für unzulässig hält. 426 Angesichts der Vorlagefragen und der Betroffenheit auch eingeführter Produkte war eine Ablehnung der Entscheidung wegen mangelnden grenzüberschreitenden Bezugs wohl nicht möglich (vgl. außerdem oben § 4 11. 5. bei Fn. 268-271. 427 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387 /93, Slg. 1995,1-4663. 428 Nach dem Wortlaut des ersten Teils der ersten Frage des vorlegenden Gerichts sollte zwar die gesamte Regelung über das italienische Tabakmonopol, also auch soweit sie Herstellung, Vermarktung und Vertrieb betrifft, Gegenstand der Überprüfung sein (EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995,1-4663,4687 f. Rdnr. 11). Der Beschuldigte Banchero hatte diese Regelung insgesamt, auch ihre Bestimmungen über die Einfuhr, angezweifelt, um sich gegen die Strafverfolgung wegen des Besitzes eingeführter Zigaretten, deren rechtmäßiger Erwerb nicht nachgewiesen werden kann, zu wehren (S. 1-4686 Rdnr. 8). Generalanwalt Eimer prüfte die Regelung auch hier in ihrer Gesamtheit (S. 1-4672 ff. Tz. 22 ff.). Der Gerichtshof hingegen beschränkt die Fragen im wesentlichen auf die den Einzelhandel betreffenden Regelungen; trotz des sehr allgemein formulierten ersten Teils der ersten Vorlagefrage ergebe sich dies aus der darauffolgenden Konkretisierung und den übermittelten rechtlichen und tatsächlichen Angaben. Außerdem lägen bezüglich der übrigen Regelungsteile kaum tatsächliche Anhaltspunkte für eine sachdienliche Prüfung vor (S. 1-4691 Rdnr. 22 f.). Das erscheint auch deshalb sinnvoll, weil Herr Banchero gar nicht behauptet, den Tabak eingeführt zu haben, sondern ihn in Italien von einem Unbekannten gekauft haben will. Damit ist an sich nur die Zulassungspflicht für den Einzelhandel relevant. Allerdings führt das vorlegende Gericht aus, daß die fragliche Strafbestimmung dem Schutz des Monopols diene und deshalb dessen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit relevant sei (vgl. die Ausführungen von GA Eimer, S. 1-4670 ff. Tz. 13 ff.). Im Hinblick darauf, daß dieses Argument die Auslegung nationalen Rechts betrifft, die nicht Sache des Gerichtshofs ist, kann man die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands durch den Gerichtshof für unberechtigt halten. Sie ist jedoch für die dem Urteil zukommende Aussagekraft zu berücksichtigen.

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1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Deshalb wendet auch der Gerichtshof nicht Art. 31 EGV, sondern Art. 28 EGV an. 429 In Hinblick auf Art. 28 EGV ist zunächst festzuhalten, daß eine Regelung, die den Einzelhandel mit Tabakwaren lizensierten Händlern vorbehält, weder unmittelbar an die Grenzüberschreitung anknüpft noch offen eingeführte Waren diskriminiert. Grundsätzlich hätten Vorschriften über die im Inland zugelassenen Einzelhändler auch EG-weit keine andere Wirkung. Die Regelung könnte nur dann nach dem EG-weit-Test als Beschränkung einzustufen sein, wenn sie zur Aufgabe eines Absatzkonzepts zwingt, das den Direktvertrieb von einem ausländischen Hersteller an Endverbraucher vorsieht. Nach dem Sachverhalt scheint das jedoch möglich zu sein, wenn dabei die vorgesehenen Abgaben entrichtet werden. 43o (Falls das so ist, hätte der Gerichtshof die Regelung zu Recht zunächst als Verkaufsmodalität eingestuft,431 denn sie hätte dann auch als EG-weite Vorschrift keine anderen Auswirkungen.) Damit stellt sich die Frage, ob die Regelung dennoch zu einer faktischen Benachteiligung eingeführter Tabakwaren führt. Der Gerichtshof verneint das. 432 Das läßt sich ohne weitere Informationen hier weder fundiert anzweifeln noch bestätigen. Eher lohnt eine nähere Betrachtung der Frage, ob nicht der Zugang zum Markt durch eine solche Regelung zu erheblich beschränkt wird. In diesem Rahmen können auch die anderen mit dem Tabakmonopol zusammenhängenden Regelungen relevant werden; auch der Gerichtshof geht zum Abschluß noch auf das Argument (der Kommission) einer "Lenkung" der Verkäufe durch das staatliche Monopol im Wege der Kontrolle über die Einzelhändler und aufgrund eines faktischen Großhandelsmonopols ein433 . Dazu ist zunächst zu sagen, daß die Zahl der zugelassenen Einzelhandelsgeschäfte jedenfalls nicht so gering zu sein scheint, daß Schwierigkeiten beständen, die Verbraucher zu erreichen. 434 Zu den sonstigen Argumenten fällt eine abschließende Beurteilung schwer. Ein Einfuhrmonopol jedenfalls besteht nicht mehr. Es ist auch nicht klar, ob der Weg über den Großhandel, der im wesentlichen vom Staatsmonopol betrieben wird, vorgeschrieben ist. Wäre das der Fall, könnte darin eine erhebliche Behinderung des Marktzugangs liegen. Soweit das aber nicht so ist und sich die ausländischen Hersteller für ihre eingeführten Waren aus eigener Entscheidung der Großhandelslager des Monopols bedienen (auch die Einrichtung eigener GroßhanEuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387 /93, Slg. 1995,1-4663,4692 ff. Rdnr. 26 ff. Im übrigen stellt sich wie im Fall Franzen die Frage, ob ein solcher Verstoß zur Aufgabe des gesamten Systems zwingen würde (nur das würde Herrn Banchero helfen), oder ob nicht vielmehr nur entsprechende Ausnahmen eingeführt werden könnten. 431 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995,1-4663,4694 f. Rdnr. 35 f.\ 432 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995,1-4663,4695 ff. Rdnr. 37 ff. (wobei teilweise eher Fragen des Marktzugangs betroffen sind), insbesondere Rdnr. 37 und 40. 433 EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995,1-4663,4696 f. Rdnr. 41 ff. 434 Vgl. die Argumentation von GA Eimer, in EuGH, 14. 12. 1995, Banchero, Rs. C-387/93, Slg. 1995, 1-4663, 4678 Rdnr. 39, dort allerdings als Argument dafür, daß ein wirksamer Schutz der Gesundheit durch eine solche Regelung kaum erreicht werden könne. Im übrigen wird kaum jemand, der in Italien gewesen ist, Zweifel an der genügenden Verbreitung der Tabaccai anmelden wollen. 429

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§ 5 Kritische Fallgruppen

III

deislager ist ihnen unter Genehmigungsvorbehalt erlaubt), kann darin keine Behinderung der Waren verkehrs gesehen werden. Die Genehmigungspflicht für den Großhandel mag im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit relevant werden. Sie behindert aber, jedenfalls soweit nicht die Einschaltung einer solchen Zwischenebene des Großhandels zwingend vorgeschrieben ist, nicht spezifisch die Grenzüberschreitung der Produkte. Insgesamt scheint die italienische Regelung in Hinblick auf den freien Warenverkehr keine unzulässige Beschränkung einzuführen. Zumindest ist der Fall Banchero für deren Feststellung nicht geeignet, da er keinen konkreten Einfuhrvorgang betrifft. Es geht auch hier um einen inländischen Wirtschaftsteilnehmer (wobei nicht einmal klar ist, welche Art von "Einzelfirma" Banchero betreibt), der sich gegen Regelungen seines eigenen Staates wehrt, indem er einen ganzen Regelungskomplex als EG-rechtswidrig bezeichnet. Es ist verständlich, daß der EuGH sich in solchen Fällen nicht auf eine Prüfung aller Eventualitäten einläßt. c) Beschränkung des Verkaufs auf bestimmte Berufsgruppen oder Geschäftstypen aa) Apothekenvorbehalte und andere spezialisierte Geschäfte (1) Babymilch

In der Babymilch-Entscheidung geht es um eine griechische Regelung, die den Verkauf von verarbeiteter Milch für Säuglinge nur über Apotheken zuläßt. Ein unmittelbarer Bezug zur Grenzüberschreitung liegt nicht vor. Zu überlegen ist jedoch, ob es sich um eine versteckt formelle Diskriminierung eingeführter Waren handelt, weil im Inland keine Produktion dieser Ware existiert. Damit trifft die Regelung zwangsläufig nur Einfuhren. Der EuGH weist dieses Argument (im Rahmen der gleichen Berührung eingeführter und inländischer Erzeugnisse, nachdem er die Regelung zuvor als Verkaufsmodalität eingeordnet hat) aus dem Grund zurück, daß damit die Anwendbarkeit von Art. 28 EGV von einem tatsächlichen, rein zufälligen und im Laufe der Zeit wandelbaren Umstand abhängig gemacht würde, so daß Regelungen mit identischen Auswirkungen in verschiedenen Staaten unterschiedlich einzustufen wären. 435 Dieses Argument kann für sich genommen jedoch nicht überzeugen. Auch in anderen Bereichen können Unterschiede in den tatsächlichen Fallkonstellationen sehr wohl zu Unterschieden im Hinblick auf die Einordnung einer Maßnahme als EG-vertragswidrig führen, man denke nur an Fälle, in denen der notwendige grenzüberschreitende Bezug fehlt. 436 Die Annahme einer 435 EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland, Rs. C-391/92, Sig. 1995,1-1621, 1647 f. Rdnr. 17. Ähnlich auch allgemein Sack, WRP 1998, 103, 108. 436 Nach der hier vertretenen Ansicht kann z. B. auch die Frage, ob ein "Systemfall" vorliegt, ob also eine Ware in einem Staat mit einem besonderen Konzept vertrieben wird, das

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Diskriminierung setzt aber logisch zumindest einen Vergleichsfall im Inland voraus. Soweit überhaupt keine inländische Produktion vorhanden ist, fehlt es daran; da das einzige "Ersatzprodukt" die Muttermilch ist, gibt es auch keine andere, durch die Regelung geschützte inländische Konkurrenz. 437 Eine Diskriminierung liegt folglich nicht vor. Die Maßnahme würde auch als EG-weite Regelung gedacht nicht anders wirken, für die Absatzmöglichkeiten in Griechenland ist es unerheblich, ob in anderen Staaten ähnliche Vorschriften bestehen. 438 Etwas anderes würde auch hier dann gelten, wenn der Versandhandel oder andere Formen des Direktvertriebs einzuführender Produkte betroffen wäre. Dafür lagen aber keine Anhaltspunkte vor. 439 Eine faktische Diskriminierung liegt aus den gleichen Gründen ebensowenig wie eine formelle vor. Damit kommt es auf die Frage an, ob der Marktzugang für die erfaßten Produkte durch eine solche Regelung wesentlich erschwert wird. Auf diese Frage hätte der EuGH m.E. eingehen müssen, er hat es jedoch mit keinem Wort getan. Die griechische Regierung hat zwar ausgeführt, die streitige Maßnahme habe weder zu einem Rückgang des Verbrauchs noch zu Preiserhöhungen noch zu Beschaffungsschwierigkeiten für Verbraucher geführt. 44o Das hätte aber zumindest hinterfragt werden können. Es kommt dabei insbesondere darauf an, wie leicht Apotheken für Verbraucher z. B. in ländlichen Gegenden erreichbar sind. Allerdings darf die Säuglingsmilch in Gemeinden, in denen es keine Apotheke gibt, auch in anderen Geschäften verkauft werden. 441 Insgesamt ist die Entscheidung damit zwar diskussionswürdig und hinsichtlich der Vernachlässigung des Marktzugangsgesichtspunkts auch kritikwürdig, aber jedenfalls nach den vorliegenden Informationen nicht unbedingt falsch. Bezeichnend ist auch, daß nicht ausländische Hersteller von Babynahrung das Verfahren bei der nun auf den Importstaat ausgedehnt werden soll, in verschiedenen tatsächlichen Fallgestaltungen zu einer unterschiedlichen Antwort und damit einer abweichenden Bewertung in Hinblick auf Art. 28 EGV führen. Vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996),102. 437 Vgl. EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/ Griechenland, Rs. C-391/92, Sig. 1995,1-1621, 1648 Rdnr. 18 f., wonach die Kommission eine solche nationale Ersatzproduktion nicht nachgewiesen habe. Im übrigen scheint es nur um Milch für Säuglinge im Alter von bis zu fünf Monaten zu gehen, vgl. die Angaben der griechischen Regierung, S. 1-1644 Rdnr. 4, was die Annahme stützt, daß keine Ersatzprodukte in Betracht kommen. Dafür spricht auch, daß mit der Maßnahme das Stillen gefördert werden soll, vgl. die Wiedergabe bei GA Eimer, S. 1-1637 Tz. 49. 438 Die Einordnung des EuGH als "Verkaufsmodalität" ist also zutreffend, EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland, Rs. C-391/92, Sig. 1995, 1-1621, 1646 f. Rdnr. 10 ff., insbesondere Rdnr. 15. A.A. allerdings GA Lenz, S. 1-1629 f. Tz. 19 ff. 439 Anders etwa in der Entscheidung Delattre, siehe dazu unten (2), sowie die noch anhängige Rs. C-322/01, Deutscher Apothekerverband, zum deutschen Arzneimittelversandhandelsverbot, siehe dazu auch Streinz, EuZW 2003, 37. 440 EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland, Rs. C-391192, Sig. 1995, 1-1621, 1645 f. Rdnr. 8. 441 EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland, Rs. C-391192, Sig. 1995,1-1621, 1644 Rdnr. 2.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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Kommission angeregt hatten, sondern der griechische Verband der Unternehmen für Kindernahrung. 442

(2) Delattre, Monteil und Samanni; LPO, Quietlynn In den beiden hier zunächst zu behandelnden Verfahren geht es ebenfalls um den Vorbehalt, daß bestimmte Produkte nur in Apotheken verkauft werden dürfen. 443 Wie die griechische Regelung für Babymilch haben auch die französischen Regelungen weder einen unmittelbaren Bezug zur Einfuhr noch diskriminieren sie offen oder versteckt eingeführte Produkte. Auch EG-weit würden sie im Prinzip nicht anders wirken. Im Fall Delattre war allerdings ein Unternehmen betroffen, daß die fraglichen Erzeugnisse erstens einführt und zweitens im Versandhandel vertreibt. Im Unterschied zu den hier unter dem Stichwort "Versandhandel" angesprochenen Fällen betreibt Delattres Firma den Versandhandel jedoch gerade nicht grenzüberschreitend, sondern nur innerhalb Frankreichs. 444 Sie wird damit gerade nicht zur Aufgabe eines Systems gezwungen, das sie im Ausland für den Vertrieb dieser Waren rechtmäßig verwendet und in dessen Begleitung nun die Ware die Grenze überschreiten soll. Damit ist, entgegen der damaligen Einschätzung des Gerichtshofs,445 der EG-weit-Test nicht positiv zu beantworten, es liegt vielmehr eine bloße "Verkaufsmodalität" vor: Die rein innerstaatliche Tätigkeit des Unternehmens würde nicht anders betroffen, wenn in anderen Staaten (insbesondere im Herkunftsstaat der Waren) gleichartige Beschränkungen gälten. Im Unterschied zu der Situation bei produktbezogenen Regelungen könnten diese Produkte dann nämlich dort genauso rechtmäßig hergestellt und vertrieben werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Produkte dort nicht als Arzneimittel qualifiziert werden und deshalb im freien Verkauf erhältlich sind. Dies ist allein eine innerstaatliche Einordnung für den inländischen Einzelhandelsverkauf. Es geht ausschließlich um die in einem föderalen System möglichen Unterschiede bei parallelen Vorgängen; die unterschiedlichen Regelungen kommen aber nicht nacheinander auf das Produkt zur Anwendung. Behindert wird die innerstaatliche Tätigkeit des Händlers; diese wird aber nicht von Art. 28 EGV geschützt. 446 Im Fall Monteil 442 EuGH, 29. 6. 1995, Kommission/Griechenland, Rs. C-391192, Slg. 1995, 1-1621, 1644 Rdnr. 3. Damit scheint auch hier der Kern der Sache in einern internen Streit über die Sinnhaftigkeit einer politischen Entscheidung zu liegen. 443 Soweit teilweise außerdem ein Zulassungserfordernis für diese Produkte betroffen ist, fallen die Entscheidungen dagegen nicht in die hier diskutierte Fallgruppe. 444 Das übersieht Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 181 (es ist gerade nicht der beIgisehe Hersteller, der am Versandhandel gehindert wird). Dies ist anders in der anhängigen Rs. C-322/01, Deutscher Apothekerverband, zum deutschen Arzneimittelversandhandelverbot, da tatsächlich im Versandhandel tätige Apotheker aus anderen Mitgliedstaaten betroffen sind; siehe dazu auch Streinz, EuZW 2003,37. 445 EuGH, 21. 3.1991, Delattre, Rs. C-369/88, Slg. 1991,1-1487,1539 f. Rdnr. 50 f. 446 Wie schon zu den anderen Fällen bemerkt, kann die bloß prinzipielle Möglichkeit, daß in anderen Fällen dieselbe Regelung grenzüberschreitend tätige Versandhändler oder im

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I. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

und Samanni hat der EuGH dieselbe Argumentation verwandt. 447 Dort ist aber nicht nur tatsächlich kein Versandhandel betroffen, es ist nicht einmal ersichtlich, daß es sich überhaupt um eingeführte Waren handelt. 448

Faktische Diskriminierungen durch das Apothekenmonopol sind nicht ersichtlich. Extreme Behinderungen des Marktzugangs könnten unter denselben Gesichtspunkten wie im Babymilch- Verfahren gegeben sein, sind aber nicht wahrscheinlich. Diese bei den Entscheidungen sind also solche, die nach dem hier vertretenen Verständnis der Keck-Entscheidung bzw. ihrer Hintergründe heute anders entschieden werden sollten (zumindest was ihre Begründung angeht, die Rechtfertigung war vom EuGH nicht abschließend beurteilt worden). Es treten wiederum nur Händler des Importstaats auf, die sich für ihre innerstaatliche Tätigkeit auf EGRecht berufen. 449 Für die französische Regelung, die den Verkauf von Brillen und Kontaktlinsen Augenoptikern vorbehält, gilt sinngemäß dasselbe wie in den Apothekenfrillen. 45o bb) TK-Heimdienst Die in diesem Verfahren451 beanstandete Regelung beschränkt den Verkauf von Lebensmitteln "im Umherziehen" räumlich und persönlich - und läßt damit umgekehrt formuliert in den dabei ausgeschlossenen Fällen nur den Verkauf in festen Direktvertrieb tätige Hersteller trifft, nicht dazu führen, daß die gesamte Regelung für EGrechtswidrig erklärt wird und damit die Strafbarkeit der nationalen Händler entfällt. 447 EuGH, 21. 3. 1991, Monteil und Samanni, Rs. C-60/89, Sig. 1991,1-1547, 1570 Rdnr. 37 f. 448 In beiden Fällen hatten die Gerichte an sich nur nach der Auslegung der Arzneimittelund Kosmetikrichtlinien gefragt. 449 Ebenso Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 180 f. (zu Monteil und Samanni und LPO). 450 Auch hier hatte der EuGH jedoch eine Behinderung des freien Warenverkehrs im Sinne des Art. 28 EGVangenommen, EuGH, 25. 5. 1993, LPO, Rs. C-271 /92, Sig. 1993,1-2899, 2922 Rdnr. 7 f. Erst recht liegt übrigens keine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs vor, wenn nur der potentielle Abnehmerkreis von optischen Geräten dadurch eingeschränkt wird, daß Augenuntersuchungen Augenärzten vorbehalten werden, vgl. EuGH, I. 2. 2001, Mac Quen u. a., Rs. C-108/96, Sig. 2001, 1-837. Der EuGH meint hier zumindest, daß etwaige Auswirkungen auf den Warenverkehr hinzunehmen wären, wenn das Verbot in sonstiger Hinsicht (Art. 43) gerechtfertigt wäre, 1-865 Rdnr. 21. Strukturell die gleiche Regelung wie in den Apotheken und Augenoptiker-Fällen war Gegenstand der Verfahren Quietlynn und Richards und Sheptonhurst, in denen es nämlich um die Zulässigkeit des Verkaufs von Sexartikeln nur in konzessionierten Sexshops ging. In diesen Fällen hatte der EuGH jedoch auch damals schon die Anwendung des Art. 28 EGV abgelehnt, EuGH, 11. 7. 1990, Quietlynn und Richards, Rs. C-23/89, Slg. 1990,1-3059,3080 f. Rdnr. 9 ff.; EuGH, 7. 5.1991, Sheptonhurst, Rs. C-350/89, Slg. 1991,1-2387 (die EntscheidungsgTÜnde werden hier jedoch gar nicht wiedergegeben, da der Gerichtshof dieselbe Anwort gibt wie in Quietlynn und Richards). 451 EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151.

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Geschäften zu, wodurch die Zugehörigkeit zu dieser Fallgruppe deutlich wird. Konkret bestimmt die Regelung, daß Bäcker, Fleischer und sonstige Lebensmittelhändler ihre Waren nur in den Verwaltungsbezirken im Umherziehen (also im Verkauf auf der Straße oder auch an der Haustür) ohne vorherige Bestellung verkaufen dürfen, in denen sie entweder selbst in einer ortsfesten Niederlassung dasselbe Gewerbe betreiben oder die an eine Gemeinde angrenzen, in der sie eine solche Niederlassung haben.

In dem Vorlageverfahren waren zwar weder eingeführte Waren noch ein grenzüberschreitend tätiger Händler betroffen; es handelte sich um einen rein internen Fall. Das vorlegende Gericht stellte die Frage aber in Hinblick auf die nach nationalem Recht gebotene Gleichbehandlung rein interner mit grenzüberschreitenden Fällen. 452 Für die durchaus denkbaren grenzüberschreitenden Fälle, in denen also ein Bäkker, Metzger oder Lebensmittelhändler aus einem anderen Mitgliedstaat in Österreich im Umherziehen seine Waren verkaufen möchte, gilt Folgendes: Die Warenverkehrsfreiheit ist einschlägig, für die Bäcker und Metzger als Hersteller und Importeure der eingeführten Waren, und für den Lebensmittelhändler als grenzüberschreitenden Händler und Importeur, jedenfalls soweit er die von ihm angebotenen Waren mit über die Grenze bringt, was in diesen Fällen aber nahe liegt. Soweit die Betroffenen in an Österreich angrenzenden Gemeinden ansässig sind und dort ihre Waren ortsfest verkaufen, steht dem Straßenverkauf im angrenzenden österreichischen Verwaltungsbezirk anscheinend nichts entgegen. 453 In den anderen Fällen liegt dagegen im Grunde genommen schon eine offene Diskriminierung eingeführter Produkte vor, die also schon auf der zweiten Prüfungsstufe noch vor der Frage nach den "Modalitäten" bzw. dem EG-weit-Test festzustellen wäre: Wahrend im österreichischen Handel befindliche Produkte in mindestens einem österreichischen Verwaltungsbezirk auch im Straßen- oder Haustürverkauf verkauft werden dürfen, ist dieser Absatzweg allen eingeführten Produkten, die nicht aus den unmittelbaren Grenzgemeinden stammen, in ganz Österreich versperrt. 454 Die RegeVgl. dazu schon oben § 4 11. 5. bei Fn. 270. Vgl. EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heüruiienst, Rs. C-254/98, Sig. 2000, 1-151, 171 Rdnr. 28; GA La Pergola, 1-153 Tz. 2, 1-158 Tz. 11. Damit ist für den Verkauf von Frischwaren die Wahrscheinlichkeit von beschränkenden Wirkungen dieser Regelung reduziert. Erstens können aber auch etwas weiter entfernt ansässige Bäcker etc. diesen Absatzweg in Österreich nutzen wollen (bzw. die unmittelbar benachbarten ihre Tatigkeit auf weitere Verwaltungsbezirke ausdehnen), und zweitens sind auch z. B. Tiefkühlwaren wie im Vorlageverfahren von der Regelung erfaßt, bei denen die faktische räumliche Beschränkung nicht in derselben Weise gegeben ist. (Insofern stimmen die Überlegungen des Generalanwalts in Tz. 12 seiner Schlußanträge nur für einen Teil der von der Regelung erfaßten Sachverhalte und insbesondere nicht für die im Vorlageverfahren interessierenden, wenn er auf die "natürliche Grenze" des Aktionskreises dieser Vertriebsforrn hinweist.) 454 Das stimmt jedenfalls für die Back- und Fleischwaren, bei denen der Hersteller auch Verkäufer ist und die gleichen Waren in seiner festen (Produktions- und Verkaufs-) Niederlassung und im Umherziehen verkauft. Bei der Tiefkühlkost ist theoretisch denkbar, daß ein österreichischer Händler zwar an seiner festen Betriebsstätte nur bereits im inländischen Handel befindliche Waren verkauft, im Straßenverkauf dagegen eigens dafür eingeführte Produkte 452 453

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lung stellt für diese Vertriebsfonn quasi ein Niederlassungserfordernis im Inland (bzw. den unmittelbaren Grenzgebieten) auf, was den grenzüberschreitenden Direktvertrieb unmöglich macht. Abgesehen davon führt eine Anwendung des EGweit-Tests in einigen Fällen455 ebenfalls zu einer Anwendung des Art. 28 EGV: Die Regelung führt nämlich dazu, daß für den österreichischen Markt ein in anderen Mitgliedstaaten praktiziertes System des Verkaufs nur über Haustür- und Straßenverkauf, wie das insbesondere im Bereich der Tiefkühlkost, die auch Gegenstand dieses Verfahrens war, durchaus vorkommt, jedenfalls insoweit aufgegeben werden muß, als auch spontan, d. h. ohne vorherige Bestellung, derartige Waren verkauft werden. Letzteres ist gerade zur Gewinnung neuer Kunden wichtig. Würde die Regelung EG-weit gelten, würde eine solches System auch in anderen Mitgliedstaaten nicht praktiziert, und es ergäbe sich nicht erst bei der Grenzüberschreitung ein solches Umstellungsproblem. Im Ergebnis jedenfalls hat der EuGH damit, wenn man einen grenzüberschreitenden Fall zugrundelegt, zu Recht - trotz seiner Einordnung der Regelung als Verkaufsmodalitäten betreffend - Art. 28 EGVangewendet. 456 d) Lagerung und Transport aa) Ligur Carni (Beförderung von Frischfleisch) Die italienische kommunale Regelung, die Gegenstand dieses Verfahrens war, sieht vor, daß in einer Gemeinde die Beförderung und Lieferung von frischem Fleisch an den Endabnehmer nur unter Einschaltung der Genossenschaft, die den örtlichen Schlachthof betreibt, erfolgen darf; diese Pflicht kann nur umgangen werden, indem bei selbst durchgeführter Lieferung das Entgelt an die Genossenschaft trotzdem gezahlt wird. Die Vorschrift knüpft weder unmittelbar an die Grenzüberschreitung an, noch diskriminiert sie offen nach der Herkunft der Waren. Sie würde auch als EG-weite Vorschrift nicht anders wirken, denn die Belastung, die sich für den konkreten Liefervorgang ergibt, würde nicht anders ausfallen, wenn in allen anderen Mitgliedstaaten eine entsprechende Regelung existierte. 457 Die Regelung in aller Regel wird aber doch das Sortiment das gleiche sein, so daß auch im Umherziehen nur bereits vorher eingeführte Ware, im inländischen Handel befindliche Ware verkauft wird. 455 Und zwar gerade in den Fällen, in denen eine grenzüberschreitende Tatigkeit am ehesten denkbar ist. 456 Mit der Begründung, das Inverkehrbringen inländischer und eingeführter Erzeugnisse sei nicht in gleicher Weise berührt, der Marktzugang für letztere werde stärker behindert, EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Slg. 2000, 1-151,170 f. Rdnr. 25 ff. Anders der Generalanwalt, der die Vorschrift für eine unbedenkliche, nichtdiskriminierende Regelung von Verkaufsmodalitäten hielt, EuGH, 13. 1. 2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Slg. 2000, 1-151, Tz. 11 f. 457 In diesen Fällen ist auch ein grenzüberschreitendes Vermarktungskonzept, das eine Direktlieferung voraussetzt, kaum denkbar - Frischfleisch wird nicht über Vertreterbesuche an der Haustür oder im Versandhandel vertrieben.

§ 5 Kritische Fallgruppen

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führt sicherlich zu einer Erhöhung der Kosten, aber das folgt allein aus ihrer Existenz. Für eine faktische Benachteiligung eingeführten Fleischs kommt es darauf an, ob nachgewiesen werden kann, daß bei Nutzung des örtlichen Schlachthofs schon für die Schlachtung (also für die [überwiegende] heimische Produktion) etwa durch eine niedrigere Gesamtgebühr im Ergebnis die Kosten für den reinen Liefervorgang geringer ausfallen. Das ist nicht unwahrscheinlich, der Sachverhalt gibt hier aber nicht genügend Anhaltspunkte. Danach kommt es darauf an, ob der Marktzugang für einzuführendes Frischfleisch extrem erschwert wird. Die bloße Verteuerung der Einfuhr kann dafür entgegen der Ansicht des Gerichtshofs 458 nicht ausreichen. Es müßte sich um eine so erhebliche finanzielle Belastung handeln, daß die Einfuhr von Fleisch damit nahezu unrentabel gemacht würde. Das kann nicht behauptet werden. 459 Bezeichnenderweise sind es auch hier nur inländische Firmen, die sich gegen die Regelung ihres eigenen Mitgliedstaats wehren. Sie importieren zwar Fleisch aus anderen Mitgliedstaaten, es besteht also ein gewisser grenzüberschreitender Bezug, aber die Beschränkung trifft nicht spezifisch den grenzüberschreitenden Vorgang, sondern allein ihre innerstaatliche Tätigkeit. Die Regelung mag zwar protektionistische Wirkungen zugunsten der örtlichen Genossenschaft entfalten, aber diese sind - unter dem Vorbehalt der nichtdiskriminierenden Gebührenzusammenstellung, siehe oben - nicht im Hinblick auf den Warenverkehr relevant. Sie könnte wettbewerbs- oder beihilferechtlich interessant sein, vor allem aber könnte sie durch den Ausschluß anderer Unternehmen von den fraglichen Dienstleistungen, also auch aller ausländischen Unternehmen, im Hinblick auf Art. 49 EGV zu prüfen sein. Im zu prüfenden Fall ging es jedoch nur um ein italienisches Unternehmen, so daß die Dienstleistungsfreiheit nicht einschlägig war. 460 bb) Rinderbesamungsstationen Schließlich wurden in einer Reihe von Verfahren die französischen Regelungen zur Besamung von Rindern, die die Gewinnung und Lagerung von Rindersamen sowie die künstliche Besamung von Rindern bestimmten staatlich genehmigten 458 EuGH, 15. 12. 1993, Ligur Cami u. a., verb. Rs. C-277/91, C-318/91 und C-319191, Slg. 1993,1-6621,6661 Rdnr. 36 ff., 38. 459 Ähnlich ist die Konstellation in den Fällen zu dem italienischen Monopol der Hafenunternehmen. Hier scheint der Gerichtshof seine Meinung geändert zu haben: Während er in EuGH, 10. 12. 1991, Merci convenzionali porto di Genova, Rs. C-179190, Sig. 1991,1-5889, 5930 Rdnr. 22 ähnlich wie in Ligur Cami eine "Beeinflussung" der Einfuhr durch "zusätzliche Kosten" feststellte, hielt er ähnliche Regelungen in EuGH, 18.6. 1998, Corsica Ferries France, Rs. C-266/96, Sig. 1998, 1-3949, 3992 f. Rdnr. 30 ff. in ihren Wirkungen für zu ungewiß und zu indirekt, um den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. (Ein Grund dafür könnte allerdings gewesen sein, daß in diesem Verfahren nicht im selben Maße konkret Warenlieferungen in Frage standen). 460 Vgl. auch EuGH, 15. 12. 1993, Ligur Cami u. a., verb. Rs. C-277/9I, C-318/91 und C-319191, Sig. 1993,1-6621,6662 Rdnr. 40 ff. zu Art. 43 und 49 EGV.

118

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

Samenproduktions- und Besamungsstationen vorbehalten, untersucht. 461 Teilweise geht es auch um die Praxis bei der Lizenzerteilung für die Einfuhr von Samen. 462 An keinem dieser Verfahren waren ausländische Wirtschaftsteilnehmer beteiligt. Auch in dem Verfahren, das die Kommission gegen Frankreich angestrengt hatte, ging es nicht darum, ausländischen Unternehmen den Zugang zu den Tätigkeiten, die den zugelassenen Stationen vorbehalten sind, zu ermöglichen. In allen anderen Verfahren geht es darum, daß ein nicht zugelassener oder jedenfalls nicht für das fragliche Gebiet zugelassener französischer Wirtschaftsteilnehmer die fraglichen Handlungen durchgeführt hat, und deswegen entweder strafrechtlich verfolgt463 oder zivilrechtlich von den jeweiligen Rechtsinhabern auf Schadenersatz verklagt464 wird. In diesen Verfahren werden den Warenverkehr betreffende Vorschriften erstens insofern aufgeworfen, als die Ausschließlichkeitsrechte bzw. die MonopolsteIlung der Stationen zu einer Diskriminierung ausländischen Samens führen und damit gegen Art. 28 oder Art. 30 EGV verstoßen könnte;465 zweitens wird geltend gemacht, die französische Praxis der Vergabe von Einfuhrlizenzen führe de facto zu einem ausschließlichen Einfuhrrecht für die zugelassenen Stationen und mit ihnen in Verbindung stehende Einrichtungen, was gegen Art. 31 EGV verstoße;466 und schließlich wird behauptet, die Pflicht, eingeführten Samen bei einer der zugelassenen Stationen zu lagern, verstoße gegen Art. 28 und 30 EGV467 . Zu dem ersten Vorwurf ist nur zu sagen, daß eine tatsächliche diskriminierende Praxis eines Dienstleistungsmonopols in der Tat dazu führen müßte, daß die Vorschriften, die es errichten, als Beschränkung des freien Warenverkehrs im Sinne einer faktischen Benachteiligung einzuführender Produkte gegen Art. 28 EGV468 verstießen. 469 Als EG-weite Regelung würden die Vorschriften über das Dienstlei461 EuGH, 7. 12. 1995, Gervais u. a., Rs. C-17 /94, Slg. 1995,1-4353; EuGH, 5. 10. 1994, Centre d'insemination de la Crespelle, Rs. C-323 / 93, Slg. 1994, 1-5077; EuGH, 28. 6. 1983, Kommission / Frankreich, Rs. 161 /82, Slg. 1983, 2079; EuGH, 28. 6. 1983, Amelioration de l'elevage / Mialocq (im folgenden Mialocq), Rs. 271/81, Slg. 1983,2057. 462 EuGH, 28. 6. 1983, Kommission / Frankreich, Rs. 161/82, Slg. 1983, 2079. Die Lizenzpflicht selbst hingegen ist soweit ersichtlich nie angegriffen worden. 463 Gervais. 464 Centre d'insemination de la Crespelle, Mialocq. 465 Gervais und Mialocq. 466 Kommission / Frankreich. 467 Centre d'insemination de la Crespelle; es ist allerdings unklar, inwiefern das in dem fraglichen Verfahren relevant sein sollte, in dem es um die Tätigkeit einer nicht zugelassenen Gesellschaft, die Besamungen durchführt, geht. Zwar lagert diese auch Samen, es ist aber soweit ersichtlich nicht vorgetragen worden, daß es gerade um eingeführten Samen geht. 468 Und nicht gegen Art. 31 EGV, wie der Gerichtshof in EuGH, 28. 6.1983, Mialocq, Rs. 271 /81, Slg. 1983, 2057 2072 f. Rdnr. 10 ff. noch anzunehmen schien. 469 Ebenso der Gerichtshof in den beiden Verfahren (in Mialocq über Art. 31 EGV), ohne die Frage jedoch zu entscheiden, EuGH, 7. 12. 1995, Gervais u. a., Rs. C-17 /94, Slg. 1995, 1-4353,4380 f. Rdnr. 36 ff., 38; EuGH, 28. 6. 1983, Mialocq, Rs. 271/81, Slg. 1983,2057 2072 f. Rdnr. 10 ff.

§ 5 Kritische Fallgruppen

119

stungsmonopol jedoch für die Einfuhr von Samen in den betroffenen Staat nicht anders wirken als die nationale Regelung. 47o In dem Verfahren Kommission / Frankreich war das behauptete ausschließliche Einfuhrrecht nach Ansicht des Gerichtshofs nicht nachgewiesen, da unter anderem auch einer privaten Firma Einfuhrlizenzen erteilt worden waren. 471 Daß ein solches verboten wäre, wurde oben bereits festgestellt. 472 Ansonsten stellt auch das Lizenzerfordernis als solches eine unmittelbar an die Grenzüberschreitung anknüpfende Regelung dar und ist damit an Art. 28 EGV zu messen. Das war aber nicht Gegenstand des Verfahrens. In Centre d'insemination de la Crespelle schließlich geht es um die Pflicht zur Lagerung von Samen bei einer zugelassenen Station. Die konkrete Regelung betrifft zwar eingeführten Samen, dieselbe Pflicht trifft aber inländischen Samen, da ohnehin nur die zugelassenen Stationen im Inland zur Erzeugung und Lagerung befugt sind. Damit kann die Regelung weder als unmittelbar den Vorgang der Grenzüberschreitung betreffend noch als offen eingeführten Samen benachteiligend angesehen werden. Eine derartige Pflicht würde sich auch EG-weit gleichartig auswirken, da es für die Belastung der konkreten Einfuhr (durch die Lagerungskosten) unerheblich ist, ob in anderen Staaten ebenfalls solche Lagerpflichten bestehen. Eine tatsächliche Benachteiligung eingeführter Produkte ist auch nicht festgestellt worden. 473 Hier läßt sich allerdings fragen, ob nicht die Lagerungskosten nur für eingeführten Samen entstehen, da der im Inland produzierte Samen sich ohnehin immer in einer zugelassenen Station befindet. Insofern kommt es darauf an, ob die erhobenen Entgelte über die Kosten hinausgehen, die den Stationen bei der Lagerung tatsächlich entstehen und die also auch für ihren selbst produzierten Samen anfallen. Ein Anhaltspunkt könnte auch sein, ob für Samen von einer französischen Samenproduktionsstation, der dann zu einer anderen Besamungsstation geschickt und dort gelagert wird, andere Entgelte erhoben werden. Beides mag naheliegen, ist aber dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. (Außerdem ist daran zu erinnern, daß nicht einmal vorgetragen worden ist, daß die nicht zugelassene Station überhaupt eingeführten Samen lagerte; das Verfahren drehte sich hauptsächlich um ihre Ausübung der Besamungstätigkeit ohne Zulassung.) Außerdem könnte sich eine Anwendbarkeit des Art. 28 EGV darauf gründen lassen, daß eine extreme Erschwerung des Marktzugangs vorliegt. Auf eine Argumentation über den Marktzugang läuft auch die Begründung des Gerichtshofs hinaus, daß mit diesem Erfordernis in einem "unmittelbar auf die Einfuhr folgenden Stadium" Der Direktvertrieb scheidet auch in diesem Wirtschaftsbereich praktisch aus. EuGH, 28. 6.1983, Kommission/Frankreich, Rs. 161/82, Sig. 1983,2079,2095 f. Rdnr. 16 ff. 472 Vgl. oben 1. b). 473 Es soll nochmals daran erinnert werden, daß die mögliche Benachteiligung der ausländischen Wirtschaftsteilnehmer gegenüber den inländischen zugelassenen Stationen zwar im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, nicht aber unabhängig von einer Benachteiligung des eingeführten Samens im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit relevant ist. 470 471

120

1. Teil: Funktion und Anwendungsbereich des Art. 28 EGV

wirtschaftliche Belastungen auferlegt würden. 474 Wie erläutert reicht jedoch die bloße Auferlegung zusätzlicher Kosten insofern, daß sie zwar ohne die fragliche Regelung nicht beständen, nicht aber, daß sie gerade im Falle der Einfuhr entständen, nicht aus. Es müßten dann schon erhebliche Kosten sein, die den Marktzugang nahezu unrentabel machten. 475

3. Abschließende Betrachtung

Auch für den Bereich der Monopole, Lizenzsysteme und der Beschränkung des Verkaufs auf bestimmte Berufsgruppen läßt sich somit festhalten, daß es in den dort auftretenden Verfahren sehr häufig um Wirtschaftsteilnehmer geht, die sich durch eine Regelung ihres eigenen Mitgliedstaats in ihrer rein inländischen Geschäftstätigkeit beschränkt sehen. Da ihnen mangels grenzüberschreitenden Bezugs weder Art. 43 noch Art. 49 EGV, die thematisch oft eher einschlägig wären, zur Verfügung stehen, berufen sie sich auf Art. 28 EGV, mit dem Argument, es seien auch eingeführte Produkte betroffen. Es muß daher in diesen Fällen besonders auf die Feststellung geachtet werden, daß ein grenzüberschreitender Bezug gerade in Hinblick auf das betroffene Produkt vorliegt, und daß gerade dessen Grenzüberschreitung auch von der fraglichen Regelung betroffen wird. Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Händler, Transporteure, Lagerstationen etc. hingegen wird von Art. 28 EGV nicht geschützt. 476

474 EuGH, 5. 10. 1994, Centre d'insemination de la Crespelle, Rs. C-323/93, Slg. 1994, 1-5077,5107 Rdnr. 29. In dem Verfahren verwundert übrigens der Tenor: Nachdem zuvor ein Verstoß gegen Art. 28 EGV festgestellt wurde und die Rechtfertigungsprüfung mit dem Verweis darauf beendet wurde, das nationale Gericht müsse feststellen, ob nicht in der Praxis eine Diskriminierung vorliege, die die Regelung unverhältnismäßig werden lasse, heißt es im Tenor plötzlich, die Vorschriften stünden einer solchen nationalen Regelung nicht entgegen. 475 Im übrigen läßt sich in diesen Fällen auch nicht darüber argumentieren, daß eine zusätzliche Zwischenebene aufgezwungen werde. Die möglichen Endabnehmer, also die einzelnen Züchter, können teilweise schon tatsächlich, zumindest aber aufgrund der Regelung, die eine Besamung nur in den zugelassenen Stationen erlaubt, mit dem eingeführten Produkt direkt gar nichts anfangen. 476 Vgl. dazu Roth, in: FS Großfeld (1999), 929, 950 f.; Roth, in: Marktwirtschaft und Wettbewerb, 27. FIW-Symposion (1994), 21, 34 f.; allgemein auch Eilmansberger, JBI. 1995, 345, 434, 452; Hödl, Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen (1997), 68; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 Rdnr. 8. Insofern greift die Feststellung von Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole (1996), 88 Fn. 455, die Keck-Entscheidung habe "keine Bedeutung für die Problematik staatlicher Monopole, da solche Monopole allen anderen Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit zur Ausübung der monopolisierten Tätigkeit nehmen und deshalb niemals eine bloße 'Verkaufsmodalität' darstellen" (Hervorhebung von mir), für die Warenverkehrsfreiheit zu kurz - diese Tätigkeit ist nicht ihr Gegenstand.

Zweiter Teil

Die anderen Grundfreiheiten: Gemeinsamkeiten und Unterschiede § 6 Die Dienstleistungsfreiheit - Ein einheitliches

Konzept für die Produktfreiheiten?

Auch bei der Dienstleistungsfreiheit geht es primär um den freien Verkehr von Produkten, nicht von Personen, wenn auch hier eine wesentlich engere Verknüpfung zwischen der Leistung als Produkt und der Person des Leistenden besteht. 477 Aufgrund dieser engen Verwandtschaft478 bietet es sich an, als erstes nach der Übertragbarkeit des oben entwickelten Konzepts auf diese Freiheit zu fragen (anstatt z. B. der numerischen Ordnung des Vertrages folgend zuerst Art. 39 EGV zu betrachten). Ist dieser Schritt geglückt, kann von da aus möglicherweise auch noch leichter die Brücke zu den Personenverkehrsfreiheiten geschlagen werden.

477 Vgl. dazu und zur "Emanzipation" der Dienstleistungsfreiheit gegenüber der Niederlassungsfreiheit im Laufe der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 2 ff., 100; Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Vorb. zu Art. 59 bis 66 Rdnr. 2 ff., 12 f., 20 ff.; siehe auch Jarass, EuR 1995,202,205; Wördemann, International zwingende Normen (1997),271. Selbstverständlich werden bei der Dienstleistungsfreiheit insoweit andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen als beim Waren verkehr, als grenzüberschreitende Dienstleistungen oft auch mit einem Ortswechsel von Personen verbunden sind, der beim Warenverkehr keine Rolle spielt und der andere Probleme hervorrufen kann. Das ändert aber nichts daran, daß es die Leistungen sind, die im Vordergrund stehen. 478 Vgl. Z. B. GA Wamerin EuGH, 18.3.1980, Debauve, Rs. 52/79, Slg. 1980,833,878: "entspricht der Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Vertrag genau dem des freien Warenverkehrs"; GA Tesauro in EuGH, 25. 7. 1991, Collectieve Antennevoorziening Gouda (im folgenden Gouda), Rs. C-288/89, Slg. 1991,1-4007,4025 Tz. 6 (letzter Absatz dieser Tz.) und 4028 Tz. 12; deutlich wird die Parallele auch in der Formulierung in EuGH, 25.7. 1991, Säger, Rs. 76/90, Slg. 1991,1-4221,4243 Rdnr. 12, die weitgehend der Formulierung zu Art. 28 EGVetwa in EuGH, 20. 2. 1979, "Cassis de Dijon", Rs. 120/78, Slg. 1979,649,664 Rdnr. 14 entspricht. Vgl. auch GA Jacobs in EuGH, 25. 7. 1991, Säger, Rs. 76/90, Slg. 1991,1-4221,4235 f. Tz. 26 (allerdings nur für das eine "Ende des Spektrums" der Dienstleistungen, das dem Warenverkehr nahe ist). Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 4; Roth, CMLRev. 30 (1993), 145, 152; Schlappa, Die Kontrolle von AVB (1987), 106 ff.; Snell/Andenas, in: Andenas/Roth, Services and Free Movement in EU Law (2002), 69, 70 ff.; Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlemumn, Vorb. zu Art. 59 bis 66 Rdnr. 4, 22 ff.

122

2. Teil: Die anderen Grundfreiheiten

Anders als im ersten Teil beginnt diese Untersuchung nicht induktiv mit der Darstellung und Analyse der Grundaussagen in Rechtsprechung und Literatur. Statt dessen versucht sie eigenständig, das zu Art. 28 EGY entwickelte Konzept auf Art. 49 EGY zu übertragen. Dazu muß zunächst untersucht werden, ob die dieses tragenden Überlegungen zur Ratio der Warenverkehrsfreiheit als Grundlage für jede Differenzierung auch für die Dienstleistungsfreiheit zutreffen (1.). Sodann folgt - ähnlich wie schon bei den ausführlich untersuchten Fallgruppen zu Art. 28 EGy479 - die eigentliche Anwendung des oben beschriebenen Tests (11.), und zwar zuerst in abstrakter Form (1.). Anschließend werden auf der Grundlage dieser Überlegungen, aber auch orientiert an den in Rechtsprechung und Literatur vorgefundenen Beispielen und Kategorisierungen, Fallgruppen gebildet und die abstrakt gefundenen Ergebnisse überprüft (2.). I. Systematische Einordnung der Dienstleistungsfreiheit

1. Verständnis des Art. 49 EGV

Nicht erneut in Frage gestellt und erörtert werden soll hier der gesicherte Bestand der Rechtsprechung dazu, was von Art. 49 EGY überhaupt umfaßt wird. So ist spätestens seit dem Urteil Säger geklärt, daß das Verbot des Art. 49 EGY grundsätzlich wie Art. 28 EGYauch Beschränkungen erfassen kann und nicht von vornherein nur für Diskriminierungen gilt. 48o Erster Teil, § 5 I. und H. EuGH, 23. 11. 1999, Arblade u. a., verb. Rs. C-369/96 und C-376/96, Sig. 1999, 1-8453,8513 Rdnr. 33; EuGH, 5. 6. 1997, SEITG, Rs. C-398/95, Sig. 1997,1-3091,3119 Rdnr. 16; EuGH, 12. 12. 1996, Reisebüro Broede, Rs. C-3/95, Sig. 1996, 1-6511, 6537 Rdnr. 25; EuGH, 28. 3.1996, Guiot, Rs. C-272/94, Sig. 1996,1-1905, 1920 Rdnr. 10; EuGH, 30.11. 1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Sig. 1995,1-4165,4197 f. Rdnr. 37; EuGH, 9. 8. 1994, Vander Eist, Rs. C-43 /93, Sig. 1994, 1-3803, 3823 f. Rdnr. 14; EuGH, 24. 3. 1994, Schindler, Rs. C-275/92, Sig. 1994,1-1039,1093 Rdnr. 43; EuGH, 25. 7.1991, Säger, Rs. C-76/90, Sig. 1991,1-4221,4243 Rdnr. 12. Eine solches weiteres Verständnis des Art. 49 EGV hatte sich aber auch schon vorher angedeutet, vgl. etwa EuGH, 25.7. 1991, Kommission/ Niederlande ("Mediawet"), Rs. C-353/89, Sig. 1991,1-4069,4093 Rdnr. 16; EuGH, 25. 7.1991, Gouda, Rs. C-288/89, Sig. 1991,1-4007,4040 Rdnr. 12; EuGH, 30. 4.1986, Kommission/Frankreich, Rs. 96/85, Sig. 1986, 1475, 1485 f. Rdnr. 11; EuGH, 4. 12. 1986, Kommission/ Deutschland ("Deutsches VersicherungsurteiI Rs. 205/84, Sig. 1986,3755,3802 Rdnr. 25; EuGH, 4. 12. 1986, Kommission / Dänemark (" Dänisches Versicherungsurteil"), Rs. 252/83, Sig. 3713, 3747 f. Rdnr. 16; EuGH, 18. 3. 1980, Debauve, Rs. 52179, Sig. 1980, 833, 856 Rdnr. 12; EuGH, 18. I. 1979, Ministere Public und ASBLI Van Wesemael (im folgenden Van Wesemael), verb. Rs. 110178 und 111178, Sig. 1979,35,52 Rdnr. 28; EuGH, 26.11. 1975, Coenen / Sociaal-Economische Raad (im folgenden Coenen), Rs. 39175, Sig. 1975, 1547, 1554 Rdnr. 517 (wobei allerdings fraglich ist, ob dies nicht ein Fall für Art. 43 gewesen wäre). Diese weite Auffassung war schon in dem frühen Urteil EuGH, 3. 12. 1974, Van Binsbergen/ Bedrijjsvereniging Metaalnijverheid (im folgenden Van Binsbergen), Rs. 33174, Sig. 1974, 1299, 1309 Rdnr. 10/12 angelegt, wenn auch der Gerichtshof sich dort für die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit nur bei Diskriminierungen festlegen wollte, 1311 Rdnr. 24/26. 479

480

H

),

§ 6 Die Dienstleistungsfreiheit

123

Ebenso gesichert ist die Erkenntnis, daß die Dienstleistungsfreiheit nicht nur für den in Art. 49 Abs. 1 EGVerwähnten Fall gilt, bei dem Dienstleistungsempfänger und Leistender in zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind. Vielmehr ist diese Beschreibung als ein Versuch zu verstehen, das für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts notwendige grenzüberschreitende Element zu erfassen, wobei jedoch nur ein typischer Fall herausgegriffen wurde.48 I Tatsächlich ist die Dienstleistungsfreiheit für alle "Sachverhalte mit Gemeinschaftsrelevanz,,482 gewährleistet, also diejenigen, wie in "umgekehrter Anlehnung" an eine Formulierung des EuGH483 gesagt werden könnte,484 von deren wesentlichen Elementen mindestens eines über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. 485 Insofern ist auch die häufig zitierte Formulierung des EuGH, nach der Art. 49 EGV immer Anwendung findet, "wenn ein Leistungserbringer Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen anbietet, in dem er niedergelassen ist, und zwar unabhängig vom Niederlassungsort der Empfänger dieser Dienstleistungen,,486, Das weite Beschränkungsverbot ist auch im Schrifttum ganz überwiegend anerkannt: Hailbronner; in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graf!, Art. 60 Rdnr. 28 ff.; Müller; Dienstleistungsmonopole (1988), 134 ff., 142 ff.; Nicolaysen, Europarecht 11,177 ff.; Schlappa, Die Kontrolle von AVB (1987), 106 ff.; Schöne, Dienstleistungsfreiheit (1989),113 ff.; jetzt auch Randelzhofer/ Forsthof!, in: Grabitz/ Hilf, Art. 49/50 Rdnr. 54, 88 ff.; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 117; Roth, Internationales Versicherungsvertragsrecht (1985), 659 f., 663 ff.; SteindorJf RIW 1983, 831; Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 59 Rdnr. 3 ff., 17 ff., 29 ff. A.A. noch Buchmeier; Schranken der Dienstleistungsfreiheit (1984),115 ff.; Fikentscher; Wirtschaftsrecht I (1983), 560; enger (nur für Korrespondenzdienstleistungen) auch Weber; EWS 1995,292. 481 Vgl. Troberg, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 19. 482 Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 104; Roth, Internationales Versicherungsvertragsrecht (1985),658; Schöne, Dienstleistungsfreiheit (1989), 75. 483 "Die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr [sind] nicht auf Betätigungen anwendbar [ ... ], deren wesentliche Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen." EuGH, 18.3. 1980, Debauve, Rs. 52/79, Slg. 1980,833, 855 Rdnr. 9; ebenso bzw. im gleichen Sinne z. B. EuGH, 21. 10. 1999, Jägerskiöld, Rs. C-97/98, Slg. 1999, 1-7319, 7345 Rdnr. 42; EuGH, 9. 9. 1999, RI.sAN., Rs. C-108/98, Slg. 1999,1-5219,5246 Rdnr. 22; EuGH, 16. 1. 1997, USSL JVO 47 di Biella, Rs. C-134/95, Slg. 1997,1-195,210 Rdnr. 19; EuGH, 12. 12. 1996, Reisebüro Broede, Rs. C-3/95, Slg. 1996, 1-6511,6534 Rdnr. 14; EuGH, 7. 12. 1995, Gervais u. a., Rs. C-17/94, Slg. 1995, 1-4353, 4377 f. Rdnr. 24 und 26; EuGH, 5. 10. 1994, TV /0, Rs. C-23/93, Slg. 1994, 1-4795, 4830 f. Rdnr. 14; EuGH, 15. 12. 1993, Ligur Cami u. a., verb. Rs. C-277/91, C-318/91 und C-319191, Slg. 1993,1-6621,6662 Rdnr. 41 ff.; EuGH, 23. 4. 1991, Höfner und Elser; Rs. C-41 190, Slg. 1991,1-1979,2020 Rdnr. 37. 484 Vgl. Troberg, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 16 und auch Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 104. 485 Zur Rechtsprechung des EuGH vgl. Fn. 483, 486 und 487. Aus dem Schrifttum vgl. etwa Buchmeier, Schranken der Dienstleistungsfreiheit (1984), 90 f.; Hailbronner; in: Hailbronner/ Klein/ Magiera/ Müller-Graf!, Art. 60 Rdnr. 4 ff.; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 104; SCHÖNE, Dienstleistungsfreiheit (1989), 74 ff.; Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 13 ff. 486 So zuerst die Fremdenführer-Entscheidungen EuGH, 26. 2. 1991, Kommission 1 Frankreich, Rs. C-154/89, Slg. 1991, 1-659, 685 Rdnr. 10; EuGH, 26. 2. 1991, Kommissionl

124

2. Teil: Die anderen Grundfreiheiten

noch nicht umfassend genug. Der Leistende kann nämlich etwa auch im Staat seiner Niederlassung Leistungen an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Empfänger erbringen, auch diese Konstellation unterfällt der Dienstleistungsfreiheit. 487 Allerdings muß der grenzüberschreitende Bezug gerade in Hinblick auf die Leistung vorliegen, es reicht nicht, daß die Parteien eine unterschiedliche Staatsangehörigkeit besitzen oder zumindest eine von ihnen nicht die des Regelungsstaats; in diesen Fällen kommt eventuell Art. 43 und jedenfalls Art. 12 EGV in Betracht. 488

Italien, Rs. C-180/89, Sig. 1991,1-709,721 Rdnr. 9; EuGH, 26. 2.1991, Kommission/Griechenland, Rs. C-198/89, Slg. 1991,1-727,739 Rdnr. 10; vorausgesetzt in EuGH, 22. 3.1994, Kommission/Spanien, Rs. C-375/92, Sig. 1994,1-923,943 Rdnr. 21; wiederholt in EuGH, 5.6. 1997, SE1TG, Rs. C-398/95, Slg. 1997,1-3091,3117 Rdnr. 8 (auch zu Fremdenführern). Ähnliche Formulierungen finden sich auch in Entscheidungen zu anderen Bereichen, so z. B. EuGH, 5. 10. 1994, Kommission/ Frankreich, Rs. C-381/93, Slg. 1994,1-5145,5168 Rdnr. 14; EuGH, 14.7.1994, Peralta, Rs. C-379/92, Sig. 1994,1-3453,3501 Rdnr.41. Als weitere Beispiele werden in der Literatur etwa Auslandsreportagen von Journalisten, Maklergeschäfte über im Ausland belegene Objekte oder Auslandstätigkeiten von Architekten und Rechtsanwälten genannt, vgl. Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 104; Troberg, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 13. Gegen die Anwendbarkeit des Art. 49 EGV in diesen Fällen Kugelmann, Rundfunk und Dienstleistungsfreiheit (1991), 114 f. 487 EuGH, 31. 1. 1984, Luisi und Carbone / Ministero dei Tesoro (im folgenden Luisi und Carbone), verb. Rs. 286/82 und 26/83, Sig. 1984, 377, 401 Rdnr. 10 und 403 Rdnr. 16. Dort findet sich auch die für diesen gesamten Fragenkomplex relevante Argumentation, dieser Fall sei in Hinblick auf das Ziel, jede entgeltliche Tätigkeit, die nicht schon unter die anderen Freiheiten fällt, zu liberalisieren, eine notwendige Ergänzung zu dem ausdrücklich erwähnten Fall des Art. 60 III EGY. 488 Vgl. Troberg, in: vdGroeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 60 Rdnr. 8. Der Verweis auf EuGH, 5. 10. 1988, Steymann/Staatssecretaris van lustitie (im folgenden Steymann), Rs. 196/87, Slg. 1988,6159 stimmt nur bedingt; der EuGH hat dort auf die unbestimmte Dauer der Tätigkeit abgestellt und festgehalten, damit komme nur Art. 39 oder 43 EGV in Betracht, siehe S. 6173 f. Rdnr. 16 f. Es ist allerdings die Frage, wie der Sachverhalt beurteilt worden wäre, wenn Herr Steymann seinen Hauptaufenthalt im Ausland gehabt hätte, die Tätigkeit aber als selbständige zu qualifizieren gewesen wäre, so daß der Weg über Art. 39 EGV versperrt gewesen wäre. Würde man dann das Dauer-Argument anwenden, so fiele die Tätigkeit aus allen Freiheiten heraus, was kaum gewollt sein kann. (Vgl. dazu, daß eine zeitliche Beschränkung der Leistung für den Dienstleistungsbegriff nicht konstitutiv ist, auch Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 99.) Damit läßt sich das Urteil möglicherweise doch so lesen, daß der grenzüberschreitende Dienstleistungs-Bezug fehlte. Ähnlich ist für den umgekehrten Fall, daß die Dienstleistungsempfänger zwar ausländische Staatsangehörige sind, aber auf Dauer im Staat des Leistenden ansässig sind, die Unanwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit festgestellt worden, EuGH, 17. 6. 1997, Sodemare u. a., Rs. C-70/95, Sig. 1997,1-3395,3435 f. Rdnr. 38 f. Zur Notwendigkeit des grenzüberschreitenden Bezugs gerade in Hinblick auf die Leistung vgl. auch Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit (1990), 90 ff., 171 f., 183 sowie Zusammenfassung 217 ff. Thesen 5a), 8, 9. Siehe außerdem noch 11. 1. b).

§ 6 Die Dienstleistungsfreiheit

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2. Übertragbarkeit der Überlegungen zur Warenverkehrsfreiheit auf die Dienstleistungsfreiheit

Das unter § 4 I. beschriebene Spannungsverhältnis besteht nicht nur im Bereich der Warenverkehrsfreiheit: Das föderale System mit dem Prinzip der bürgernahen Entscheidung ist unter anderem in Art. 5 EGV, Art. 1 Abs. 2 EUV und der 12. Erwägung der Präambel zum EUV für die gesamte Union festgeschrieben. Mit dem Binnenmarktziel, Art. 2, 3 Abs. 1 c), 14 EGV, wird der freie Verkehr von Waren genauso wie der von Dienstleistungen, Personen und Kapital angestrebt. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Prinzipien wohnt damit dem "gesamten Gemeinschaftsprojekt" inne, wie Generalanwalt Tesauro einmal festgestellt hat. 489 Die grundsätzlichen Überlegungen zur Funktion der Warenverkehrsfreiheit im System des EG-Vertrags, die als Ausgangspunkt und Bezugsrahmen für die weiteren Folgerungen zum Anwendungsbereich und schließlich für die Entwicklung eines eigenen Prüfungsschemas dienten, sind nicht warenverkehrsspezifisch, sondern haben den Binnenmarkt im Blick. Dieser wird durch alle Grundfreiheiten konstituiert. Die genannten Überlegungen haben daher für alle Freiheiten Bedeutung. Auch bei den anderen Freiheiten wird es also darum gehen müssen, eine spezifische Belastung der Grenzüberschreitung von solchen Regelungen zu unterscheiden, die nur dadurch die Bewegungen innerhalb des gemeinsamen Marktes zu beeinflussen vermögen, daß sie den jeweiligen Teilmarkt mehr oder weniger attraktiv machen. 49o Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß bei dieser Unterscheidung unterschiedliche Gesichtspunkte und Gewichtungen eine Rolle spielen werden. Der maßgebliche Bezugsrahmen ist jedoch derselbe. Bei der Dienstleistungsfreiheit reichen die Gemeinsamkeiten mit der Warenverkehrsfreiheit aber noch weiter: Mit der Einordnung als Produktverkehrsfreiheit und der Anwendung des Herkunftslandprinzips 491 stimmt die Struktur dieser 489 GA Tesauro in EuGH, 19.3. 1991, Frankreich/ Kommission, Rs. C-202/ 88, Slg. 1991, 1-1223, 1243 Tz. 11 zweiter Absatz am Anfang: "dem gesamten Gemeinschaftsprojekt ... ein grundlegender Widerspruch innewohnt zwischen dem punktuell vorgesehenen Ziel eines Gemeinsamen Marktes und eines Systems freien Wettbewerbs einerseits und der Aufrechterhaltung der wirtschaftspolitischen Entscheidungsbefugnisse der Mitgliedstaaten außer im Fall von Koordinierungen andererseits." 490 So hält auch Generalanwalt Lenz fest, es sei "eine Konstante dieser (= aller) Grundfreiheiten", daß ihre Ausübung "stets - mindestens - zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft berührt"; für ihre Verwirklichung komme es darauf an, "daß das Überschreiten einer innergemeinschaftlichen Grenze nicht durch spezifische Hindernisse beeinträchtigt wird." GA Lenz in EuGH, 12.7. 1994, Kommission/ Frankreich, Rs. C-381 /93, Slg. 1994,1-5145,5156 Tz. 33 und 34. 491 Vgl. EuGH, 5. 6. 1997, SETTG, Rs. C-398/95, Slg. 1997, 1-3091, 3119 Rdnr. 16; EuGH, 12. 12. 1996, Reisebüro Broede, Rs. C-3/95, Slg. 1996, 1-6511, 6537 Rdnr. 25; EuGH, 28. 3. 1996, Guiot, Rs. C-272/94, Slg. 1996, 1-1905, 1920, Rdnr. 10 f.; EuGH, 24.3.1994, Schindler, Rs. C-275/92, Slg. 1994,1-1039,1093 Rdnr. 43; EuGH, 25. 7.1991, Säger, Rs. C-76/90, Slg. 1991,1-4221,4243 Rdnr. 12; EuGH, 25. 7.1991, "Mediawet", Rs. C-345/89, Slg. 1991,1-4069,4093 Rdnr. 16; EuGH, 25. 7.1991, Gouda, Rs. C-288/89, Slg.

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2. Teil: Die anderen Grundfreiheiten

Freiheit so weitgehend mit der des freien Waren verkehrs überein, daß jedenfalls theoretisch kein Grund für eine unterschiedliche Bewertung erkennbar ist. 492 Aufgrund tatsächlicher Unterschiede der Gegenstände beider Freiheiten werden Unterschiede in den konkreten Fallgestaltungen bzw. zumindest der Häufigkeit ihres Auftretens festzustellen sein. Eine generell andere Abgrenzung erschiene jedoch systemwidrig. Es wird also auch hier, sofern nicht eine direkte Anknüpfung an die Grenzüberschreitung bzw. eine formelle Diskriminierung "importierter" Dienstleistungen vorliegt, im Kern darauf ankommen, ob eine EG-weite Regelung des gleichen Inhalts anders wirken würde. Als Gegenkontrolle wird nach einer tatsächlichen Benachteiligung oder einer schwerwiegenden Zugangsbehinderung zu fragen sein.

11. Anwendung des entwickelten Prüfungsschemas 1. Grundsätzliche Formulierung für die Dienstleistungsfreiheit

a) Direktes Anknüpfen an Grenzüberschreitung Auch bei der Dienstleistungsfreiheit gibt es Fälle, in denen die spezifische Behinderung der Grenzüberschreitung keiner besonderen Feststellung bedarf, da sie der Regelung quasi ins Gesicht geschrieben, also an ihrer Formulierung unmittelbar ablesbar ist. Dazu gehören zum einen die formellen Diskriminierungen, bei denen Dienstleitungen gerade aufgrund ihrer "Herkunft" aus dem Ausland (meist wird das über Anknüpfungen an Staatsangehörigkeit oder Sitz des Anbieters, manchmal auch des Empfängers,493 erreicht, siehe dazu sogleich) anders behandelt werden (unten b). Zum anderen aber gibt es die hier gemeinten Regelungen, die 1991, 1-4007, 4040 Rdnr. 12; EuGH, 4. 12. 1986, "Deutsches Versicherungsurteil", Rs. 205/84, Slg. 1986,3755,3803 f. Rdnr. 27, 29, 3804 ff. Rdnr. 34 ff., 3808 Rdnr. 47; EuGH, 4. 12. 1986, "Dänisches Versicherungsurteil", Rs. 252/83, Slg. 1986,3713,3748 Rdnr. 17, 19; EuGH, 3. 2. 1982, Seco/ EVI (im folgenden Seco), verb. Rs. 62/81 und 63/81, Slg. 1982, 223,235 Rdnr. 9; EuGH, 17. 12. 1981, Webb, Rs. 279/80, Slg. 1981,3305,3325 Rdnr. 17 und 3326 Rdnr. 20; EuGH, 18.3. 1980, Debauve, Rs. 52/79, Slg. 1980,833,856 Rdnr. 12; EuGH, 18. 1. 1979, Van Wesemael, verb. Rs. 110/78 und 111/78, Slg. 1979,35,52 Rdnr. 28. GA Jacobs in EuGH, 25. 7. 1991, Säger; Rs. C-76/90, Slg. 1991,1-4221,4235 Tz. 26 a.E.; GA VerLoren van Themaat in Seco, Slg. 1982,223,242. Nicolaysen, Europarecht H, 178; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1301, 1620; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I Rdnr. 121; Roth, RabelsZ 55 (1991),623, 651 ff., 664 ff.; Steindorff, in: FS Lorenz (1991), 561, 567 ff.; vgl. auch Troberg, in: vdGroeben/Thiesing / Ehlermann, Art. 59 Rdnr. 26, 31. 492 Auch der Gerichtshof geht in EuGH, 10.5. 1995, Alpine Investments, Rs. C-384/93, Slg. 1995,1-1141, 1177 f. Rdnr. 36 ff. offensichtlich davon aus, daß einer Übertragung der Keck-Rechtsprechung zu Art. 28 auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich nichts im Wege steht. 493 Dazu unten 2. d).

§ 6 Die Dienstleistungsfreiheit

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direkt den Vorgang der Grenzüberschreitung erfassen. 494 Beide Gruppen haben fließende Übergänge; häufig wird auch der Vorgang der Grenzüberschreitung dadurch beschrieben sein, daß an die Ansässigkeit der Parteien angeknüpft wird. Deswegen können beide auch zusammengefaßt werden als diejenigen Regelungen, bei denen sich die spezifische Belastung der Grenzüberschreitung unmittelbar aus der fraglichen Regelung ergibt. Dennoch macht es Sinn, diese Unterscheidung einzuführen. Sie ermöglicht es, bestimmte typologisch besonders ähnliche Fälle schnell zu erkennen und zuzuordnen. Ein gutes Beispiel ist die französische Regelung der Hafengebühren aus der Entscheidung Kommission/ Frankreich 495 . Danach wurden höhere Gebühren erhoben, wenn Schiffe Personen zwischen einem französischen Hafen und einem anderen Mitgliedstaat beförderten, als wenn es um eine Beförderung innerhalb Frankreichs ging. Dabei wird nicht nach der Staatsangehörigkeit oder der Ansässigkeit des Leistenden (oder des Empfängers) unterschieden. Es läßt sich auch sonst nicht eine "ausländische Herkunft" der Leistung feststellen. Es wird aber ein grenzüberschreitender Vorgang besonders geregelt. Ein anderes Beispiel wären etwa Anmelde- oder Genehmigungspflichten. Mit einer gewissen Erweiterung dieses Kriteriums können so auch Regelungen sinnvoll erfaßt werden, die zwar nicht direkt die Grenzüberschreitung nennen, wohl aber gerade an einen Ortswechsel anknüpfen, so daß, sobald überhaupt ein grenzüberschreitender Bezug vorliegt, dieser auch spezifisch betroffen wird. 496 b) Formelle (offene) und versteckte Diskriminierungen Formelle Diskriminierungen werden bei Dienstleistungen betreffenden Regelungen häufig dadurch charakterisiert sein, daß an die Staatsangehörigkeit oder die Ansässigkeit des Anbietenden (evtl. auch des Empf