Queer im Übergangssystem: Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis Sozialer Arbeit 9783839461167

Junge lesbische, schwule, bisexuelle, trans und queere Personen werden nach wie vor erheblich diskriminiert und benachte

196 28 2MB

German Pages 308 Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Queer im Übergangssystem: Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis Sozialer Arbeit
 9783839461167

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
(Un)angepasst – queer im Übergangssystem. Heteronormativitätskritische Perspektiven
Zu den Beiträgen
I Jugendtheoretische, institutionelle und rechtliche Rahmungen
Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen
Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen
Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem
II Queer im Übergangssystem: Forschungsergebnisse
»Ich wünschte, wir müssten nicht so Angst davor haben, wie andere Menschen darauf reagieren«
Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«: Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung aus der Perspektive von Fachkräften im Übergangssystem
»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«
»Wir wollen nicht diskriminieren«
III Jugendarbeit und berufliche Bildung: Erkenntnisse aus benachbarten Bereichen
Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …
Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren (LSBT*Q) Jugendlichen in der beruflichen Bildung
Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem
Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen
Autor*innen

Citation preview

Maria Bitzan, Jasmin Brück, Susanne Dern, Thomas Nestler, Utan Schirmer, Bettina Staudenmeyer, Ulrike Zöller (Hg.) Queer im Übergangssystem

Pädagogik

Editorial Bildung und Erziehung sind – trotz wechselnder Problemlagen – ein konstantes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Erziehungswissenschaft erweist sich in dieser Situation zugleich als Adressat, Stimulanz und Sensorium verschiedenster Debatten, die ins Zentrum sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fragen zielen. Die Reihe Pädagogik stellt einen editorischen Ort zur Verfügung, an dem innovative Perspektiven auf aktuelle Fragen zu Bildung und Erziehung verhandelt werden.

Maria Bitzan war bis 2021 Professorin an der Hochschule Esslingen mit den Schwerpunkten Gemeinwesenarbeit, Sozial- und Jugendhilfeplanung sowie Gender in der Sozialen Arbeit. Jasmin Brück ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda am Fachbereich Sozialwesen. Im Rahmen ihrer Promotion forscht sie zu jungen Queers im Übergangssystem. Susanne Dern ist Juristin und lehrt Recht der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Existenzsicherung und Jugendhilfe sowie im Bereich von Schulrecht und Antidiskriminierung. Thomas Nestler ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Fulda am Fachbereich Sozialwesen. Im Rahmen seiner Promotion forscht er zu Widerstandspraxen queerer Menschen. Utan Schirmer ist Professor für Soziologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechtersoziologie sowie der Trans* und Queer Studies. Bettina Staudenmeyer ist freiberufliche Sozialwissenschaftlerin in Jena, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda im Projekt »(Un)angepasst – junge LSBT*Menschen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf« und arbeitet für das Forschungsinstitut tifs e.V. Ulrike Zöller ist Diplom-Sozialpädagogin (FH), Diplom-Pädagogin und Professorin für Theorie, Methodik und Empirie Sozialer Arbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (Saarbrücken). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Migrations- und Integrationsforschung mit dem Schwerpunkt auf ethischen Fragestellungen.

Maria Bitzan, Jasmin Brück, Susanne Dern, Thomas Nestler, Utan Schirmer, Bettina Staudenmeyer, Ulrike Zöller (Hg.)

Queer im Übergangssystem Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis Sozialer Arbeit

Für die finanzielle Unterstützung danken wir dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem gFFZ – gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen sowie der Hochschule Fulda und der htw saar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Steffen Schröter, text plus form, Dresden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839461167 Print-ISBN 978-3-8376-6116-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6116-7 Buchreihen-ISSN: 2703-1047 Buchreihen-eISSN: 2703-1055 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung ........................................................................ 9 (Un)angepasst – queer im Übergangssystem. Heteronormativitätskritische Perspektiven Zur Einführung Maria Bitzan/Utan Schirmer ......................................................... 11

Zu den Beiträgen .............................................................. 35

I Jugendtheoretische, institutionelle  und rechtliche Rahmungen Queere Jugend und ihre Übergänge –  Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler ...................................... 41

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan ............................................ 67

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem Ulrike Spangenberg ................................................................ 97

II Queer im Übergangssystem: Forschungsergebnisse »Ich wünschte, wir müssten nicht so Angst davor haben, wie andere Menschen darauf reagieren« Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette Jasmin Brück ...................................................................... 121

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«:  Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung  aus der Perspektive von Fachkräften im Übergangssystem Ergebnisse des Forschungsprojekts »(Un)angepasst« Bettina Staudenmeyer.............................................................. 141

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.« Queerness und Widerstand von Adressat*innen  in Erzählungen von Fachkräften Thomas Nestler ................................................................... 175

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche – ethnografische Eindrücke bei einem Träger des Übergangssystems Ulrike Zöller/Tabea Hust ........................................................... 199

III Jugendarbeit und berufliche Bildung:  Erkenntnisse aus benachbarten Bereichen Qualität der Jugendarbeit weiterdenken … Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba...................................................... 231

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren (LSBT*Q) Jugendlichen in der beruflichen Bildung Claudia Krell/Nora Gaupp .......................................................... 253

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem Ergebnisse, Schlussfolgerungen, Empfehlungen Maria Bitzan/Jasmin Brück/Susanne Dern/Thomas Nestler/Utan Schirmer/Bettina Staudenmeyer/Ulrike Zöller ........................................................ 277

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems  und ihren Akronymen ........................................................ 295 Autor*innen ................................................................... 303

Einleitung

Seit mehreren Jahren arbeiten einige feministisch und queertheoretisch orientierte und mit Fragen der Sozialen Arbeit befasste Forscher*innen aus Hochschulen in Fulda, Saarbrücken, Esslingen und Berlin zusammen. Unser Arbeitszusammenhang verfolgt in loser Kooperation Forschungsperspektiven zu ›queer im Übergangssystem‹: das heißt zur Bedeutung gesellschaftlicher Differenzlinien im Zusammenhang mit unterschiedlichen Sexualitäten, Begehrensweisen, geschlechtlichen Identifizierungen und Verkörperungen im Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung bzw. Beruf. Ausgehend davon, dass bisherige Forschungen zu queerer Jugend vorwiegend in Schule oder Jugendarbeit angelegt sind, stärkte sich unser Interesse, auch in Strukturen, die per se von Benachteiligung ausgehen, nach den Wirkungsweisen von Heteronormativität zu forschen: Welche Sichtbarkeit, Unterstützungen oder Diskriminierungen erfahren queere Lebensweisen in einem System, das extra geschaffen wurde für junge Menschen, die mindestens einmal infolge der Normalitätserwartungen an eine Bildungsbiografie auf Hürden getroffen sind? Hierzu führte das an der Hochschule Fulda angesiedelte Projekt »(Un)angepasst – Junge lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*-Menschen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf« ein Gruppengespräch mit Fachkräften aus verschiedenen Maßnahmen des Übergangsbereichs in der Region Fulda/Vogelsberg durch und erhob so primär deren Erfahrungen und Einschätzungen dazu, inwiefern die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung im Übergangssystem zum Thema gemacht wird. Demgegenüber nahm ein Forschungsprojekt an der htw saar konkret einen Maßnahmenträger in den Fokus, um insbesondere Praxen vor Ort in einer Innenperspektive zu erschließen. Mit einem ethnografischen Ansatz wurden hier teilnehmende Beobachtungen durchgeführt und Fachkräfte interviewt.

10

Einleitung

Leider ist es nicht gelungen, in diesen mit wenig Ressourcen ausgestatteten (Teil-)Projekten Interviews mit sich selbst als queer verortenden Teilnehmer*innen zu realisieren. Dafür wurden keine weiteren Gelder bewilligt. Die Schwierigkeit, in dieser Hinsicht geeignete Interviewpartner*innen ausfindig zu machen, hängt aber auch mit der weitgehenden Unsichtbarkeit queerer Lebensweisen in diesem Kontext zusammen. Es sind daher vor allem Perspektiven von Fachkräften, die in den Beiträgen zum Übergangssystem vorgestellt und analysiert werden. In einem an der Hochschule Fulda angesiedelten und in Verbindung mit »(Un)angepasst« durchgeführten Dissertationsprojekt mit dem Titel »Jung, queer und im Übergang von Schule in Ausbildung und Beruf« konnten jedoch junge queere Menschen im beruflichen Ausbildungssystem für Interviews gewonnen werden, darunter auch ein*e Teilnehmer*in von Übergangsmaßnahmen. Der vorliegende Band versammelt Berichte zu den hier genannten Untersuchungen, verbindet sie mit einführenden Texten zum Thema ›queer im Übergangssystem‹ und ergänzt sie um Beiträge, die Perspektiven auf benachbarte Felder wie Jugendarbeit und Berufsschule und entsprechende Forschungsergebnisse vorstellen. Insgesamt ist diese Sammlung als unabgeschlossenes Projekt und somit als eine erste Sondierung zu denken, die mit weiteren Forschungen – ganz besonders zu Perspektiven von jungen queeren Menschen selbst – bereichert und weiter geschärft werden könnte. Wir danken den teilnehmenden Fachkräften und den interviewten Jugendlichen für ihre Bereitschaft zu Gruppengesprächen und Interviews und den offenen Zugang zu den Einrichtungen. Für die finanzielle Unterstützung danken wir dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem gFFZ – Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen sowie der Hochschule Fulda und der htw saar. Bei Steffen Schröter bedanken wir uns für das sorgfältige Lektorat. Besonderer Dank gebührt Tabea Hust für die so geduldig lotsende und unterstützende Koordination des Publikationsprozesses, sowie Elsa Reuther für die große Unterstützung bei der Formatierung des Bandes.   Die Herausgeber*innen Maria Bitzan, Jasmin Brück, Susanne Dern, Thomas Nestler, Utan Schirmer, Bettina Staudenmeyer, Ulrike Zöller   Fulda, Saarbrücken, Esslingen, Berlin im Juli 2022

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem. Heteronormativitätskritische Perspektiven Zur Einführung Maria Bitzan/Utan Schirmer

Das vorliegende Buch bündelt Erkenntnisse und Forschungsergebnisse zur Wahrnehmung und zu den Bedingungen der Lebbarkeit queerer Lebensweisen im Kontext des Übergangssystems. In diesem – von uns hier (vorwiegend) als Bereich der Sozialen Arbeit thematisierten – System werden Hilfen für junge Menschen angeboten, die im normativ dominanten Erwartungshorizont der glatten Übergänge von Schule zu Ausbildung/Studium bzw. Erwerbstätigkeit nicht ›genügen‹, nicht zurechtkommen, scheitern. Im Folgenden skizzieren wir einführend den Rahmen, in dem die in diesem Band vorgestellten Forschungen angesiedelt sind und in dem sich daraus ergebende Schlussfolgerungen und Impulse eingeordnet, verstanden und weitergedacht werden können und sollen. Queertheoretische Ansätze zur Analyse von Sexualität und Geschlecht stellen dabei zentrale Bezugspunkte dar. Ebenso rekurrieren wir auf kritische Konzepte der Adressat*innenkonstruktion in der Sozialen Arbeit. Wir schließen an Studien zu Jugend(angeboten) im LSBTIQ-Spektrum1 an, die etwa in den Bereichen schulischer Sozialisation oder der Jugendarbeit und Jugendbildung erarbeitet wurden und werden. Zugleich beziehen wir uns auf Überlegungen zu strukturellen Konstruktionen von Benachteiligung und Normativität in den Feldern der Sozialen Arbeit bzw. des Übergangssystems, in denen sich unterschiedliche, vor allem klassenbezogene, rassistische und geschlecht-

1

S. zur Bedeutung des Akronyms ›LSBTIQ‹ sowie zu weiteren Bezeichnungen im Feld sexueller und geschlechtlicher Begehrens- und Seinsweisen die Erläuterungen im Kasten unter Abschnitt 2 (Heteronormativität im Übergangssystem: Fragen und Perspektiven).

12

Maria Bitzan/Utan Schirmer

liche Diskriminierungs- und Einspurungsverhältnisse in komplexer Weise verschränken. Um zu erläutern, wie sich diese Perspektiven zu einem Bezugsrahmen für Forschungen zu ›Queer im Übergangssystem‹ verbinden lassen, beleuchten wir zunächst strukturelle Ambivalenzen Sozialer Arbeit mit ›benachteiligten‹ Jugendlichen im Handlungsfeld des Übergangssystems (Abschnitt 1) und skizzieren anschließend grundlegende Fragen und Perspektiven zur Wirkungsweise von Heteronormativität in diesem Bereich (Abschnitt 2). Überlegungen zur möglichen Bedeutung neoliberaler Anrufungen für queere Jugendliche im Übergangssystem sowie zur Ambivalenz von Normalitätsversprechen und Selbstpositionierungen im Horizont aktueller Diskurse zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sind Gegenstand der darauffolgenden Abschnitte (3 und 4). Wir schließen mit einem kurzen Ausblick auf Möglichkeiten und Fallstricke der Forschung, die sich aus den dargestellten heteronormativitäts- und normalitätskritischen Perspektiven folgern lassen (Abschnitt 5).

1.

Soziale Arbeit mit ›benachteiligten‹ Jugendlichen im Übergangssystem

Mit dem Übergangssystem werden alle jungen Menschen in Deutschland angesprochen, denen nach der allgemeinbildenden Schule der Einstieg in Ausbildung oder Erwerbsarbeit nicht gelingt oder verwehrt wird (vgl. Stauber/ Walther 2018: 1791). Neben den unterschiedlichen berufsschulischen Maßnahmen und denen der Jobcenter gehören zu diesen Bildungsstrukturen vor allem sozialpädagogische Angebote der Jugendberufshilfe bzw. der arbeitsweltbezogenen Jugendhilfe (vgl. ebd.: 1792). Trotz der dadurch fraglos möglichen individuellen Unterstützung muss konstatiert werden, dass mit diesen Angeboten strukturelle Hürden eines begrenzten Bildungs- und Arbeitsmarktes übersetzt werden in vermeintlich individuelle Benachteiligungen bzw. mangelnde Kompetenzen. Denn weder kann der erste Arbeitsmarkt alle Arbeits- und Ausbildungswilligen aufnehmen noch sind Inhalte und Formen dieser Angebote so ausgelegt, dass sie individuellen Entwicklungsbedarfen und Persönlichkeitscharakteristika gerecht zu werden vermögen. Ein Grunddilemma besteht folglich darin, dass Angebote des Übergangssystems in unterschiedlicher Weise strukturelle Grenzen in individuelle Passungsprobleme umwandeln (müssen). So erhalten Adressat*innen erst Unterstützung bzw. Teilhabe an weiterführenden

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

Maßnahmen, wenn Defizite diagnostiziert werden bzw. sie sich selbst als bedürftig labeln – und dies von einer Fachkraft bestätigt wird.2 Somit trägt das Übergangssystem zur (Re-)Konstruktion und Verfestigung von Normalität und Abweichung bei, gleichwohl es genau an den Bruchstellen dieser Normalität angesiedelt ist. Solche Bruchstellen ergeben sich beispielsweise aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die in unterschiedlichem Zusammenspiel ein Scheitern an der unhinterfragten Norm hervorbringen. Zu nennen sind hier vor allem Klasse/soziale Herkunft/ Bildungsbenachteiligung, aber auch Rassismus/institutionelle Diskriminierung im Bildungssystem im Zusammenhang mit Migrationsgeschichten bzw. Fluchterfahrungen, Ableismus/Normalitätsstandards im Zusammenhang mit Gesundheit, Leistungsfähigkeit etc. sowie Diskriminierung in den Geschlechterverhältnissen. Adressat*innen (nicht nur des Übergangssystems, sondern in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit) sind somit als Subjekte definiert, deren biografische Verläufe und Bewältigungen aus dem herausfallen, was üblicherweise erwartet wird. Sie streben subjektiv nach Unterstützung für das ›Hineinkommen‹ oder aber betonen, teils nach Abweisungen, widerständig eigene (trotzige?) ›Identitäten‹.3 Der Maßstab des ›Erfolgs‹ bleibt sowohl für Adressat*innen als auch für Fachkräfte hier das ›Normale‹. Zwar gerieren sich Fachkräfte teilweise offen für ›besondere Probleme‹ einzelner Jugendlicher, die etwa im Zusammenhang mit ›schwierigen‹ familiären Verhältnissen, mit Migrationsbiografien oder eben auch mit normabweichenden sexuellen Orientierungen oder geschlechtlichen Identitäten vermutet werden. Die Norm bleibt jedoch als Selbstverständlichkeit bestehen, wenn Jugendliche, die ihr nicht entsprechen wollen oder können, besonders beachtet und unterstützt werden (müssen) – eben als Einzelfall mit besonderen Problemen. Werden andererseits Abweichungen von der Norm nicht benannt (um zum Beispiel Stigmatisierungen zu vermeiden), wird die Norm auch nicht kenntlich, sie bleibt unkritisierbar. Nur wenn Benachteiligungen benannt sind, können Angebote der Sozialen Arbeit zur Unterstützung, aber auch politische Veränderungen angegangen werden – nicht selten zu dem Preis,

2 3

Zum rechtlichen Rahmen, zu den Maßnahmen, Förderlogiken sowie Kritiken daran s. ausführlich Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band. Genauer zur Adressat*innenkonstruktion als relationaler Prozess vgl. Bitzan/Bolay (2018), zu den Prozessen der widersprüchlichen Aneignung des Adressat*innenstatus vgl. Bitzan/Bolay (2017: 32ff.).

13

14

Maria Bitzan/Utan Schirmer

dass damit zugleich individuelle Defizite konstruiert werden.4 Dies ist ein Grunddilemma Sozialer Arbeit, das sich im Übergangssystem ebenso wiederfindet wie im Kontext LSBTIQ-bezogener Angebote (vgl. Schirmer 2017; 2022). Soziale Arbeit beinhaltet in der Regel die individualisierende Bearbeitung gesellschaftlich bedingter Problemlagen, im schlechten Fall macht sie aus strukturell benachteiligten Menschen problembehaftetes Klientel (vgl. Bitzan/Bolay 2017: 18, 25). Aber auch kritische Ansätze, die übliche Benachteiligungen gerade nicht verdoppeln möchten, können sich diesem Dilemma nicht vollständig entziehen. Benennungen von Benachteiligungen bewegen sich in dem doppelten Spannungsfeld zwischen Stigmatisierungen und konkreter Hilfestellung, zwischen Konstruktionen und Dekonstruktionen, im Spagat zwischen Benennungen spezifischer ›Problemgruppen‹ und zugleich offener Thematisierung von gesellschaftlichen Ungleichheiten und Zumutungen in den Institutionen und deren ›Bearbeitung‹ auf politischer Ebene. Aus kritischer Perspektive dürfen also die strukturellen Benachteiligungsverhältnisse nicht außer Acht gelassen werden, denn diese rahmen die Handlungsspielräume, in denen sich die individuellen bzw. gruppenbezogenen Kämpfe um und Politiken der Benennung und Anerkennung abspielen (vgl. Fraser 1994). Solche (begriffs)kritischen Analysen reiben sich mit den konkreten Erscheinungsweisen der Praxis, in der sich Menschen immer – je situativ durchaus verschieden – als bestimmte Personen vor- und darstellen (und auch behandelt werden möchten), auch wenn es ihnen grundsätzlich um beides geht: Anerkennung ihrer spezifischen Situation und zugleich deren Normalisierung. Diese Fragen sind nicht auflösbar, sondern müssen im Zugleich, in der Spannung angegangen werden.

2.

Heteronormativität im Übergangssystem: Fragen und Perspektiven

Zur Frage nach der Bedeutung von ›queer im Übergangssystem‹ – oder anders formuliert: nach der Relevanz gesellschaftlicher Differenzlinien im Zusammenhang mit unterschiedlichen Sexualitäten, Begehrensweisen, geschlechtlichen Identifizierungen und Verkörperungen in diesem Kontext – gibt es bis4

Zur Problematik der Definition sozialer Probleme zwischen Politik und Sozialer Arbeit vgl. Groenemeyer (2018).

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

lang keinerlei wissenschaftliche Literatur. Zunächst einmal drängt sich diese Frage auch nicht unmittelbar auf: Während sich die Relevanz etwa von rassistischen und klassenbezogenen Machtverhältnissen im Übergangssystem auch als statistischer Zusammenhang manifestiert (als deutliche Überrepräsentanz von jungen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund und mit einer als ›niedrig‹ eingestuften sozialen Herkunft; s. dazu Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band), ist von einer Überrepräsentanz von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen und anderen queeren Menschen bislang nichts bekannt – vielmehr werden sie in der Fachliteratur zum Übergangssystem bislang vollständig ausgeblendet. Geschlechtliche und sexuelle (Selbst-)Bezeichnungen sind stets im Wandel begriffen und werden auch in entsprechenden Communitys unterschiedlich verwendet. In Ermangelung unstrittiger Definitionen entscheiden wir uns für die folgenden Begriffe bzw. Verwendungsweisen: Als selbstbewusste Aneignung eines Schimpfwortes stand queer im Kontext sexual- und geschlechterpolitischer Bewegungen seit den 1980er Jahren zunächst für eine radikale Absage an assimilatorische Politiken sowie für eine kritische Auseinandersetzung mit Identitätspolitiken und -kategorien. Mittlerweile hat sich in vielen Bereichen aber eine eher deskriptive Verwendung als Oberbegriff für Lebensweisen und Verkörperungen durchgesetzt, die den dominanten Normen der Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen. Auch wir verwenden den Begriff im Folgenden meist in dieser Weise, auch wenn dies angesichts der Heterogenität von Selbstverhältnissen und Lebenslagen des damit bezeichneten Spektrums eine Verkürzung darstellt. Mit trans* oder (synonym) transgeschlechtlich beziehen wir uns auf Menschen, die sich geschlechtlich anders als in dem ihnen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht verorten und sich selbst so oder auch als transsexuell, transgender, nichtbinär, genderqueer, agender und vieles mehr bezeichnen (zu Geschichte und Debatten um Trans*-Begrifflichkeiten vgl. exemplarisch Fütty 2019: 42ff.). Inter* bzw. intergeschlechtlich steht für ein breites Spektrum an angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale und bezieht sich damit auf Menschen, deren Körper dominanten medizinischen Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht entsprechen (vgl. TrIQ o.J.). Das Akronym LSBTI steht für ›lesbisch, schwul, bisexuell, trans* und inter*‹, teils auch erweitert auf LSBTTIQ, wobei das zweite T für ›transsexuell‹ steht und das Q für ›queer‹. (Teils werden auch Akronyme aus dem angloamerikanischen Sprachraum direkt übernommen, dann

15

16

Maria Bitzan/Utan Schirmer

wird das S für ›schwul‹ in der deutschsprachigen Fassung ersetzt durch ein G für ›gay‹.) Die Studien, auf die wir uns hier und im Folgenden beziehen, setzen unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich der untersuchten Lebenslagen; insbesondere die Situation intergeschlechtlicher Menschen wird häufig nicht explizit berücksichtigt – eine Ausblendung, die wir hier aufgrund der Forschungslage teilweise reproduzieren (zu Ansätzen und Perspektiven, die auf eine Überwindung dieser Ausblendung im Kontext Sozialer Arbeit zielen, vgl. aber Groß/ Niedenthal 2021). Cisgeschlechtlich fungiert als Gegenbegriff zu trans* und bezieht sich auf Identifizierungen und Lebensweisen gemäß dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht. Endogeschlechtlich bezeichnet – als Gegenbegriff zu inter* – solche bei der Geburt angelegten Verkörperungen, die medizinischen Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit entsprechen. Als explizite Bezeichnungen dessen, was in der Regel als unmarkierte Norm wirkt, stellen diese Begriffe herrschende Selbstverständlichkeiten infrage.

Um sowohl den Gründen für diese Unsichtbarkeit als auch möglichen Bedeutungen der genannten Differenzlinien im Übergangssystem auf die Spur zu kommen und dabei zugleich das oben beschriebene, mit Benennungen im Kontext von Normalität und Abweichung verbundene Dilemma bewusst zu halten, bietet sich eine heteronormativitätskritische Perspektive an: Als zentrales queertheoretisches Konzept zur Analyse herrschender Sexualitäts- und Geschlechterordnungen (vor allem in sogenannten westlichen Gegenwartsgesellschaften) steht Heteronormativität für eine Umkehrung der dominanten Perspektive. Nicht die als abweichend konstituierten Subjekte rücken in den problematisierenden Blick, sondern die Normen der Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit und ihre Naturalisierung, ihre gesellschaftsstrukturierende Wirkung sowie die damit verbundenen Ausschlüsse, Privilegierungen und Benachteiligungen. Die Wirkmächtigkeit dieser Normen beruht wesentlich darauf, dass sie kaum als solche sichtbar werden, sondern als unhinterfragte Selbstverständlichkeit, als »Grundlage von menschlicher Gesellschaft schlechthin« (Woltersdorff 2019: 324) fungieren, als »Gefühl der Richtigkeit, das in widersprüchlichen Manifestationen – oft unbewusst, und den Praktiken und Institutionen selbst immanent – produziert wird« (Berlant/Warner 2005 [1998]: 78, Fußnote 2).

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

Heteronormativität reguliert daher auch grundlegend Sozialisations- bzw. Aufwachsensprozesse insgesamt, in allen Phasen, auf allen Ebenen, von allen Sozialisationsinstanzen und in allen institutionellen Kontexten vermittelt. Der Erwartungshorizont, in den Kinder (in Deutschland im 21. Jahrhundert) von Anfang an hineinwachsen, setzt ihre heterosexuelle und zweigeschlechtlich vereindeutigte Entwicklung in der Regel nach wie vor als unbenannte Selbstverständlichkeit voraus und ist zudem oft verbunden mit mehr oder weniger subtilen oder auch expliziten ›Korrekturen‹ oder Drohungen (der Abwertung, Stigmatisierung, des Ausschlusses bis hin zu physischer Gewalt) bei Anzeichen und Manifestationen des Abweichens von diesen Erwartungen. Geschlechtliche und sexuelle Entwicklungen werden so grundlegend und für alle Kinder und Jugendlichen kanalisiert und begrenzt. Dass Fachkräfte in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe häufig berichten, nur heterosexuelle und cis- bzw. endogeschlechtliche5 Nutzer*innen zu kennen (vgl. etwa die schon etwas ältere Studie der Landeshauptstadt München 2012; s. hierzu für den Kontext des Übergangssystems auch Staudenmeyer sowie Zöller/Hust in diesem Band) liegt in mehrfacher Hinsicht an dieser Strukturierung: an der heteronormativen Wahrnehmung von Fachkräften, die Heterosexualität und eine eindeutig männliche oder weibliche Verkörperung und Verortung der Nutzer*innen unterstellt, solange dem nicht deutliche Zeichen oder Äußerungen entgegenstehen; an der Begrenzung für Kinder und Jugendliche, eigene Intuitionen oder Wünsche, die von gesellschaftlichen Normen der Heterosexualität und binärer bzw. zugeschriebener Geschlechtlichkeit abweichen, überhaupt wahrzunehmen bzw. zu entwickeln (s. Brück/Brodersen/Nestler in diesem Band); und für diejenigen, die sie dennoch wahrnehmen, an der begründeten Angst, sie zu leben und nach außen zu zeigen. Inwiefern diese Angst begründet ist, hat Bettina Kleiner in einer qualitativen Studie für den Kontext Schule herausgearbeitet: Die schulische Situation zeige sich »insofern als eine widersprüchliche, als sie einerseits von der Unsichtbarmachung von LGBTTIQ Lebens- und Erfahrungsweisen in Unterrichtsdiskursen und Lehrmaterial gekennzeichnet ist und andererseits von ihren Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen auf der schulischen Hinterbühne, in informellen und unbeaufsichtigten Räumen« (Kleiner 2020: 49; Herv. i. O.). Dass solche Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen, die von Beschimpfungen, Beleidigungen, Lächerlichmachen, übergriffigen Fragen,

5

S. Kasten.

17

18

Maria Bitzan/Utan Schirmer

Tabuisierungen, Abwertungen vor Dritten bis hin zu körperlicher Gewalt reichen, in schulischen Kontexten häufig auftreten, wird auch von quantitativen Studien belegt (vgl. Krell/Oldemeier 2017: 108, 168; Sielert/Timmermanns 2011; FRA 2020). Gerade in schulischen Kontexten werde ein Coming-out daher häufig vermieden. Allerdings schütze auch diese Vermeidung nur bedingt vor Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen, die viele Jugendliche, so Kleiner, teilweise machen, »bevor sie ihr Begehren oder ihre Geschlechtsidentität selbst artikulieren (können), z.B. aufgrund einer von Mitschüler*innen als abweichend interpretierten Genderperformance« (Kleiner 2020: 42; Herv. i. O.). Die genannten Studien werfen so ein Licht darauf, wie heteronormative Strukturierungen sowohl eine weitgehende Unsichtbarkeit queerer junger Menschen in institutionellen Kontexten konstituieren – gerade auch in der Wahrnehmung durch Lehr- und Fachkräfte – als auch (gleichzeitig) vielfältige Sanktionen für Abweichungen von dominanten geschlechtlichen und sexuellen Normen auf den Plan rufen (s. Brück in diesem Band). Ein ›Comingout‹ – die vereindeutigende Selbstzuordnung zu einer als Abweichung konstituierten geschlechtlich-sexuellen Kategorie – ist eine mögliche Strategie, sich aktiv dazu ins Verhältnis zu setzen; eine Strategie, mit der Jugendliche »versuchen, im Rahmen heteronormativer Verhältnisse für sich und andere sozial verständlich bzw. lesbar zu werden« (Kleiner 2015: 36). Aus einer heteronormativitätskritischen Perspektive erweist sich eine solche Strategie, die eine (begrenzte) Handlungsmacht konstituiert, zugleich als ein »ambivalenter Prozess, der sich in sozialen Praktiken zwischen Zwängen, Zuschreibungen und Positionierungsmöglichkeiten abspielt« (ebd.: 35). Damit ist auch die Frage verbunden, »für wen ein Coming-out in welchem Kontext eine Möglichkeit darstellt und sich als ein aussichtsreicher Umgang mit heteronormativen Verhältnissen erweist« (ebd.: 36) – und für wen nicht. Die Ergebnisse sowohl von Kleiner als auch anderer Studien (vor allem LesMigraS 2012) legen nahe, dass die Möglichkeiten eines Coming-out und anderer Strategien des Sichtbarwerdens insbesondere durch Mehrfachbenachteiligung im Kontext von rassistischen und Klassenverhältnissen zusätzlich eingeschränkt werden: etwa weil die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit allgegenwärtigem Alltagsrassismus eine gleichzeitige Bearbeitung der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Verortung erschwert (vgl. ebd.: 187); weil ein Mangel an sozialem und kulturellem Kapital oder auch eine Schlechterbewertung schulischer Leistungen im Kontext von institutionellem Rassismus einen möglichen schutzgebenden Status als ›gute*r Schüler*in‹ konterkariert (vgl. Kleiner 2020: 49);

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

oder aufgrund anderer komplexer Verschränkungen, die eine Prekarität hinsichtlich unterstützender sozialer Kontexte, psychischer Ressourcen, Sicherheit, stabiler Lebensumstände etc. bedingen können. Dies lässt vermuten, dass die Möglichkeiten eines annähernd selbstbestimmten Sichtbarwerdens gerade im Kontext des Übergangssystems, das sich an sogenannte benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene richtet, in besonderem Maße erschwert bzw. eingeschränkt sind. Die genannten und weitere Studien (vgl. FRA 2020; s. auch Krell/Gaupp in diesem Band) legen zudem nahe, dass schulische und ausbildungs- bzw. berufsbezogene Bildungswege von queeren Jugendlichen in besonderem Maße mit Hürden verbunden und von Brüchen begleitet sind, etwa von Schulabbrüchen oder -wechseln. Ganz besonders gilt dies für inter* und trans* Jugendliche (vgl. FRA 2020): Neben den oben genannten Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen liegen mögliche Gründe dafür unter anderem in langwierigen rechtlichen und medizinischen Verfahren im Rahmen einer Transition (vgl. Fütty et al. 2020: 29) sowie in direkten und indirekten Folgen von medizinischen Eingriffen, die im Falle von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen oft ohne deren Einwilligung und ohne medizinische Notwendigkeit erfolgen (vgl. Nachtigall/Ghattas 2021: 120). Es ist daher zu vermuten, dass LSBTIQ-Jugendliche tatsächlich überproportional häufig im Übergangssystem landen, auch wenn sich das bislang nicht belegen lässt. Und schließlich zeigt sich die Bedeutung von Heteronormativität im Übergangssystem bei genauerem Hinsehen auch in den institutionellen Logiken selbst: Erfolgreiches Erwachsenwerden wird in den Institutionen und Konzepten des Übergangssystems in der Regel zumindest implizit mit einem heterosexuellen und zweigeschlechtlich vereindeutigten Normalisieren und Funktionieren gleichgesetzt. Auch im Zusammenhang mit der nach wie vor wirksamen Vergeschlechtlichung von Berufen und Ausbildungen (als ›Frauen‹- bzw. ›Männerberufe‹), für die eine ›Passung‹ hergestellt werden soll, sind binäre Geschlechter- sowie heterosexuelle Normen daher den Anforderungen und Erwartungen im Übergangssystem eingeschrieben. Die auf das Normalisieren und Funktionieren der Teilnehmenden ausgerichtete institutionelle Struktur im Übergangssystem bestärkt – so die Schlussfolgerung – neben den Benachteiligungen im Kontext von Klasse, Rassismus u.a. also auch solche im Kontext von Heteronormativität (wenn auch eher implizit bzw. verdeckt).

19

20

Maria Bitzan/Utan Schirmer

3.

Neoliberale Anrufungen, Flexibilisierung und Selbstverantwortung

In den letzten circa 20 Jahren lässt sich eine zunehmende gesellschaftliche Anerkennung von Vielfalt sowie ein (wieder) erwachtes Bewusstsein für Benachteiligung konstatieren. Dies wird jedoch gerahmt durch dominante neoliberale Anrufungen an Selbstverantwortung, die suggerieren, jede*r könne aus dem eigenen Leben machen, was sie*er nur wolle. Die ambivalenten Effekte dieser Entwicklungen sollen im Folgenden skizziert werden. Für den Kontext der Jugendberufshilfe haben Galuske und Rietzke (2008) kritisch formuliert, dass sich die Anforderung der Aktivierung der Adressat*innen durchgesetzt hat, gelabelt als ›gerechtes‹ Fördern und Fordern.6 Als Tendenz findet sich diese neoliberale Verbindung zwischen Bedarf und Aktivierung (das heißt, die Subjekte sollten selbst mehr für ihre Integration tun) auch in anderen Kontexten Sozialer Arbeit (vgl. etwa Seithe 2021; Otto 2020) und der Arbeitsförderung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden als offene ›Chance‹ für alle ideologisiert (und somit eine strukturelle Ungleichheit wegdefiniert), mit dem Gebot, dass jede Person sich so entwickeln könne und müsse (!), wie sie mag. Das aber verstärkt die oben erwähnte Defizitorientierung (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band), indem sie das Nicht-Gelingen noch stärker individualisiert und es als Frage des Willens bzw. des Commitments der Teilnehmenden thematisiert. Die neoliberal propagierte gesellschaftliche Offenheit für eine größere Diversität in den Lebensweisen erzeugt ein neuerliches (modernes) Tabu, individuelles Scheitern an den strukturellen Ungleichheiten und Normen zu thematisieren. Da die ›Maßnahmen‹ des Übergangssystems seit den sogenannten Hartz-Reformen aber zunehmend Erwerbsarbeitsfähigkeit und -willigkeit (employability) als prioritäres Ziel setzen (damit gerade nicht ›Offenheit‹ herstellen), entsteht eine deutliche Spannung zwischen den neoliberalen Versprechungen und den strukturellen Einspurungen. Wende stellte dies schon 2005 für die Jugendberufshilfe fest, als er beobachtete, dass entgegen einer unterstützenden Begleitung »es nun darum

6

Deutlichster Ausdruck der Neoliberalisierung – mit den Stichworten: mehr Markt und Selbstverantwortung – sind die sogenannten Hartz-Gesetze, die »prototypisch für den Wandel von ›welfare‹ zu ›workfare‹ [stehen], d.h. zu einem sozialpolitischen Modell, das nicht die Sicherung eines Minimums an soziokultureller Teilhabe ins Zentrum der Bemühungen stellt, sondern die Förderung der Arbeitsfähigkeit« (Galuske/Rietzke 2008: 403).

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

[gehe], junge Menschen durch Training und Qualifizierung beschäftigungsfähig zu machen« (Wende 2005: 41). Diese Spannung erzeugt subjektiv nicht selten Ängste, mangelndes Zutrauen, Selbstabwertung, Schuldgefühle oder Aggression und Abwehr. Jede zusätzliche Herausforderung, die einer Positionierung als ›nicht normal‹ entspringt, kann das Gefühl, in dieser Gesellschaft ›nicht richtig‹ zu sein, verstärken.7 Eine solche Individualisierung des Scheiterns an normativen gesellschaftlichen Erwartungen im Zuge neoliberaler Selbstverantwortungsideologien lässt sich auch im Kontext des Wandels der Wirkungsweisen von Heteronormativität feststellen. Eine verstärkte mediale Sichtbarkeit, öffentliche Bekenntnisse prominenter Persönlichkeiten oder Ähnliches könnten den Anschein erwecken, queeres Leben sei heute problemlos möglich. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Flexibilisierungs-, Beharrungs- und Renaturalisierungstendenzen heteronormativer Verhältnisse, die mit neuen Ein- und Ausschlüssen verbunden sind (vgl. etwa Woltersdorff 2019; Herrera Vivar et al. 2016). Die partielle Integration vormals ausgeschlossener Lebensweisen in zentralen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe8 lässt sich als »flexible Normalisierung« (Engel 2002: 72ff.) fassen, die emanzipatorische Bestrebungen sozialer Bewegungen durchaus aufgenommen hat, zugleich aber die weiterhin bestehenden heteronormativen Grundstrukturen umso mehr verdeckt.9 So richtet sich das Versprechen der Normalisierung vor allem an solche Lebensweisen, die eine größtmögliche Nähe zu heterosexuellen und strikt zweigeschlechtlich 7 8

9

Zur Kritik an der Jugendberufshilfe, die zu wenig auf Jugendliche eingeht, vgl. auch Verlage und Walther (2021). Eine solche partielle Integration geht einher mit der Entkriminalisierung und (im Falle von Trans- und vor allem Intergeschlechtlichkeit allerdings eher tendenziellen) Entpathologisierung queerer Lebensweisen und zeigt sich etwa in Bezug auf die politische und mediale Repräsentation, im Kontext von marktwirtschaftlichen DiversityStrategien oder auch in einer zunehmenden rechtlichen Anerkennung. Dies zeigt sich z.B. auch (für den hier interessierenden Kontext des Übergangssystems von besonderem Interesse) bei der jüngsten Reform des SGB VIII: Mit der am 10.06.2021 wirksam gewordenen Reform wird die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen nicht nur von Mädchen und Jungen, sondern auch von »transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen« erstmals explizit als gesetzlicher Auftrag im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe verankert (§ 9 Nr. 3 SGB VIII). Das gilt im Übrigen generell für das Geschlechterverhältnis, etwa in den Bereichen der Care-Zuständigkeiten, der sexualisierten Gewalt, der unterschiedlichen Entlohnung, der Hierarchien, … (zum Verdeckungszusammenhang vgl. Bitzan 2020).

21

22

Maria Bitzan/Utan Schirmer

strukturierten Modellen aufweisen, die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen auch in anderen Hinsichten möglichst entsprechen und heteronormative Institutionen und Strukturen nicht infrage stellen (vgl. Duggan 2002; Hark/Laufenberg 2013).10 Geschlechter-, Klassen- und rassistische Verhältnisse strukturieren Art und Ausmaß heteronormativer Ein- und Ausschlüsse so nicht nur weiterhin, sondern teils in verschärfter Weise, etwa im Zuge der ethnisierenden und kulturalisierenden Zuschreibung einer bei bestimmten (insbesondere als muslimisch gelesenen) Migrant*innengruppen angeblich besonders ausgeprägten Homo- und Transfeindlichkeit (vgl. Yilmaz-Günay 2011; Saadat-Lendle/Çetin 2014). Dies entnennt nicht nur die Existenz und vielfältigen Artikulationen rassismuserfahrener queerer Menschen, sondern legitimiert zudem rassistische Diskriminierungs-, Disziplinierungsund Ausgrenzungspraktiken, etwa hinsichtlich einer restriktiven Einwanderungspolitik (vgl. ebd.). Zur widersprüchlichen Gleichzeitigkeit der aktuellen Entwicklung gehören zudem explizit antifeministische und antiqueere Bestrebungen der Restaurierung einer naturalisierten, strikt binären, komplementär-hierarchischen, heterosexuellen Geschlechterordnung (vgl. Engelmann 2019), die die genannten Tendenzen flexibler Normalisierung zu konterkarieren versuchen. Die ideologische Behauptung einer vermeintlich freien Gestaltbarkeit auch queeren Lebens trägt somit dazu bei, die strukturelle Dimension der oben benannten Ausgrenzungserfahrungen queerer Jugendlicher zu verdecken, sie in die Anforderung einer selbstbewussten Bewältigung zu verkehren und das Scheitern an dieser Anforderung zu individualisieren. Eine intersektionale Perspektive auf das komplexe Zusammenwirken gesellschaftlicher Machtverhältnisse, damit verbundener Anforderungen sowie der Bedingungen des Scheiterns daran ist daher gerade für eine Einschätzung der Lage von benachteiligten Jugendlichen im Übergangssystem besonders wichtig: Inwiefern haben sie denn eigentlich eine Chance zur Neuverhandlung ihrer Subjektivität, wenn sie auf breiter Linie als gescheitert adressiert sich behaupten müssen.

10

Prominentes Beispiel hierfür ist die in Deutschland 2017 erfolgte Öffnung der Ehe für einige vormals davon ausgeschlossene Paarkonstellationen.

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

4.

Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Normalitätsversprechen und die Ambivalenz von Selbstpositionierungen

Aktuelle bildungs- und sozialpolitische Programmatiken und pädagogische Fachdebatten bezüglich des Umgangs mit queeren Lebensweisen propagieren zunehmend die Anerkennung ›sexueller und geschlechtlicher Vielfalt‹. Jedoch ist auch diesem Diskurs eine Ambivalenz zwischen einer emanzipatorischen Intervention in heteronormative Machtverhältnisse und deren ideologischer Verdeckung eingeschrieben. So greift das Konzept ›sexuelle und geschlechtliche Vielfalt‹ heteronormativitätskritische Impulse insofern auf, als damit der Anspruch verbunden ist, Verschiedenheit ohne Hierarchisierung und Besonderung anzuerkennen und auf diese Weise in die herrschende Ordnung von ›Normalität und Abweichung‹ zu intervenieren. Allerdings, so Hartmann und Busche (2018), stehe die Bezeichnung in weiten Teilen der Fachdebatte weiterhin für die ›Anderen‹ der dominanten sexuellen und geschlechtlichen Normen – das heißt, heterosexuelle, cis- und endogeschlechtliche Lebensweisen werden nicht als ›Vielfalt‹ adressiert, sondern bleiben unmarkierte Normalität: »Dies reproduziert das Grundmuster von Norm und Abweichung, überschreitet die zugrundeliegende Dichotomie letztlich nicht und lässt Vielfalt quasi zum modernisierten Code für Abweichung werden.« (Ebd.: 22) Das emanzipatorische Potenzial des Konzepts droht daher umzuschlagen in eine ideologische Rechtfertigung und zugleich Verdeckung heteronormativer Strukturen, wenn mit dem Versprechen der Inklusion zugleich eine Reproduktion der Besonderung (und damit letztlich ein Ausschluss von gleichberechtigter Teilhabe) einhergeht. Zudem entnennt der Terminus der ›Vielfalt‹ die Spezifizität und Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Lebenslagen und Verortungen der damit adressierten ›Anderen‹: also zum Beispiel Unterschiede zwischen der Situation von Schwulen und von Lesben im Kontext einer hierarchischen Geschlechterordnung; zwischen schwulen, lesbischen, bisexuellen jungen Menschen auf der einen und trans- und intergeschlechtlichen Jugendlichen auf der anderen Seite bezüglich der Persistenz von Pathologisierungen, institutioneller Zumutungen sowie Abhängigkeiten von Erziehungsberechtigten bei Entscheidungen hinsichtlich der entsprechenden sexuell-geschlechtlichen Lebensweisen; zwischen trans* und inter* Jugendlichen hinsichtlich der erfahrenen Gewalt im Gesundheitssystem sowie ihrer gesellschaftlichen Repräsentation bzw. Tabuisierung.

23

24

Maria Bitzan/Utan Schirmer

Der oben benannte Spagat zwischen der Notwendigkeit der Benennung spezifischer Bedarfe (im Kontext Sozialer Arbeit oft gerahmt als ›Probleme‹) und dem Ziel umfassender, nicht-besondernder Inklusion bleibt daher bestehen, insofern es nicht (allein) die Bezeichnungen sind, sondern die heteronormativen Verhältnisse, die – strukturell und institutionell wirksam und Wahrnehmungsweisen, Selbst- und Weltverhältnisse grundlegend prägend – dieses Dilemma begründen. Heteronormativität als Herrschaftsstruktur (vgl. Woltersdorff 2019) konstituiert und hierarchisiert in dieser Weise grundlegend Subjektpositionen; sie produziert auch Zustimmung bei den ›Beherrschten‹. Deutlich wird, dass die Normalität der heterosexuellen Zuordnung eine privilegierte Position erzeugt bzw. bestärkt. Das fördert subjektiv den Wunsch, dazuzugehören, selbst auch die (unausgesprochenen) Privilegien genießen zu können (und eines der wichtigsten ›Privilegien‹ besteht darin, sich nicht erklären zu müssen!). In der Jugendhilfe hat die Adressat*innenforschung herausgearbeitet, wie stark Jugendliche mit ›abweichenden‹ Lebenssituationen (etwa Heimaufenthalte, schwierige Eltern, Gewalterfahrungen etc.) den Wunsch verfolgen, ›normal‹ zu sein, dazuzugehören (vgl. Bitzan/Bolay 2017: 101f.). Der Normalitätswunsch kann also sowohl das Bestreben stark machen, so zu sein wie vermeintlich alle anderen (›ich bin genauso normal‹), als auch das Begehren meinen, dass das eigene Sein nicht als ›anders‹, sondern eben als ›normal‹ behandelt wird. In ihren Studienergebnissen kommt Kleiner zu dem Schluss, dass Schüler*innen eher in der Lage sind bzw. es sich eher leisten können, herrschende Normalitätsvorstellungen zu kritisieren, wenn sie sich als »anerkennbare Schüler_innen präsentieren können« (Kleiner 2015: 348f.) – um wie viel schwieriger ist dies dann vermutlich in einem aufgrund von Nichtanerkennung konstruierten (Übergangs-)System! Normalität wird also zu einem erstrebenswerten Privileg. Das Begehren dazuzugehören kann dann auch zu Selbst- und Fremdtäuschungen führen, indem die eigene Situation entsprechend passend konstruiert wird. Soziale Arbeit bringt mit ihren Institutionen und Interventionen permanent Subjektpositionen hervor und ›bietet‹ diese den Adressat*innen an, was ambivalente Selbstbilder bei ihnen erzeugen kann (vgl. Bitzan/Bolay 2017) – etwa als defizitär, weil hilfebedürftig, und zugleich als privilegiert, weil Hilfe bekommend. Es kommen hier also mehrere Positionierungsprozesse zusammen. In heteronormativen Verhältnissen werden queere Jugendliche als ›nicht normal‹ positioniert; im Definitionsmuster sozialer Probleme werden nicht erfolgreiche Jugendliche als (extrem gesprochen) ›Versager‹ oder ›Opfer‹

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

positioniert. Diese beiden – oft sich bedingenden – Positionierungen sind der Boden, auf dem junge queere Menschen in den Maßnahmen des Übergangssystems ihre eigenen Selbstpositionierungen finden müssen – in der Negation, im Trotz, in der Annahme der angebotenen Bilder/Rollen etc. (vgl. Bitzan/Bolay 2017: 32ff.). Die Praxis Sozialer Arbeit ist oftmals gerade durch die Unausgesprochenheit (und damit oft auch Unreflektiertheit bei Fachkräften) dieser Positionierungsprozesse geprägt: Nicht immer werden die zugrunde liegenden dilemmatischen Strukturen der Privilegierung und Missachtung erkannt, sodass die Selbstpositionierungen der Jugendlichen diesen dann wahlweise als compliance oder Verweigerung, als Unfähigkeit oder Bemühtheit etc., als selbstverantwortet oder selbstverschuldet ausgelegt werden. Emanzipatorische Bewegungen und kritische Soziale Arbeit versuchen hier gerade für junge Menschen, mehr und diversere Identifizierungsmöglichkeiten und Anerkennungserfahrungen ihres Seins zu vermitteln und ihnen somit Versagenserlebnisse zu ersparen. Nicht zuletzt hat die Erweiterung und teilweise gesellschaftliche Akzeptanz queerer Realitäten gerade für junge Menschen auch ein – durchaus bedeutungsvolles – Möglichkeitsfenster geöffnet, Impulse aus nicht heterosexuellem Begehren und nicht cisgeschlechtlicher Identifizierung auch wahrzunehmen, auszuleben und zu zeigen. In einer Studie des DJI nutzte knapp ein Viertel der befragten Jugendlichen aus dem LSBTIQ-Spektrum Selbstbeschreibungen jenseits binärer Definitionen, wie zum Beispiel queer, polysexuell, genderfluid oder non-binär. Weitere 6 Prozent lehnten eine kategoriale Zuordnung insgesamt ab (vgl. Krell/Oldemeier 2015: 16).11 Somit wird deutlich, wie wichtig es auch und gerade in der Arbeit mit Jugendlichen ist, nicht (nur) den Kategorien zu ihrem Recht zu verhelfen und diesen entsprechend akzeptierend zu arbeiten, sondern auch dem Fluiden, Veränderbaren Raum zu geben. Wie sich in den im vorliegenden Band vorgestellten empirischen Studien zeigt, sind die Fachkräfte von solchen Öffnungen zum Teil wesentlich weiter entfernt als die Peers untereinander. Eine heteronormativitätskritische Perspektive zielt damit, wie Hartmann und Busche (2018) es für den Kontext der Jugendbildungsarbeit formulieren, auf »mehr als Sichtbarmachung und Antidiskriminierung« in Bezug auf schwule, lesbische, trans- und intergeschlechtliche und (andere) queere Lebensweisen, insofern sie eine »kritisch-dekonstruktive Perspektive auf 11

Zur Ablehnung bzw. Ausdifferenzierung von Identitätskategorien vgl. auch Hartmann (2018: 26) sowie LesMigraS (2012).

25

26

Maria Bitzan/Utan Schirmer

vorherrschende Strukturen, Normalitätserwartungen und Natürlichkeitsvermutungen heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit« impliziert (ebd.: 22). Das kann unter anderem bedeuten, notwendige Strategien der Antidiskriminierung zu ergänzen um eine Perspektive auf die Voraussetzungen dafür, überhaupt als ›jemand‹ in Erscheinung treten zu können, der oder die dann Diskriminierung erfährt. Das heißt, der Blick muss auch auf die herrschaftsförmigen gesellschaftlichen und je kontextuell und institutionell konkreten Strukturen und Normen gerichtet werden, die regulieren, disziplinieren und begrenzen, wer wir geschlechtlich und sexuell überhaupt sein können – im Interesse daran, das Feld dieser Möglichkeiten zu erweitern.

5.

Zur Forschung im Übergangssystem – heteronormativitätsund normalitätskritische Perspektiven

Der vorliegende Band ist nicht zuletzt entstanden, um Ergebnisse eigener Forschungen von einigen der Herausgeber*innen zu ›Queer im Übergangssystem‹ vorzustellen. Das Interesse galt und gilt dabei Strukturen, die so selbstverständlich erscheinen, dass ihre Funktionsweisen (und die damit verbundenen Einschränkungen, Zurichtungen und Diskriminierungseffekte) nicht offen zutage treten, sondern erst herausgearbeitet werden müssen. Wie oben angesprochen, handelt es sich um einen Verdeckungszusammenhang, in welchem subjektive Positionierungen, symbolische Repräsentationen und gesellschaftliche Erwartungsstrukturen als unausgesprochene Normalität zusammenwirken (vgl. Bitzan 2020). Methodologisch bringt dies einige Schwierigkeiten mit sich, weil es darum geht, Zusammenhänge in den Blick zu bekommen, die sich jenseits der konkreten Verhaltensweisen und Bewusstheiten verstecken. Insbesondere zwei methodologische ›Fallen‹ sollen hier angesprochen werden: Erstens: Es ist eine grundsätzliche Herausforderung, Strukturen und ihre Interdependenzen über Erfahrungen und aus Selbsterzählungen herauszuarbeiten. Unhinterfragte Selbstverständlichkeiten sind gerade nicht offen in ihrer Macht- und Gewaltförmigkeit erkennbar. »Denn es geht um das verdeckte Wirken von Strukturen durch uns hindurch« (Bitzan 2016: 104; Herv. i. O.) – auch Forscher*innen leben nicht außerhalb der Machtverhältnisse. Diese Strukturen zu erforschen bedeutet, eher mehrere, vornehmlich qualitative, Wege zu beschreiten und zu triangulieren: etwa Gespräche mit Be-

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

troffenen, Feldbeobachtungen, Interviews zu Sichtweisen der Fachkräfte, die Durchsicht rechtlicher Vorschriften und Konzepte der Hilfeangebote etc. Einige Wege davon wurden in kleinen Forschungsprojekten beschritten, deren Ergebnisse im vorliegenden Band vorgestellt werden, andere sind noch offen. Aus den Fachkräftebefragungen in diesen Forschungsprojekten lässt sich erkennen, dass gerade im Übergangssystem dieser Themenbereich kaum sichtbar und im Feld noch wenig reflektiert ist: Queere Lebensweisen sind hier tendenziell unsichtbar und wenn sie doch einmal sichtbar werden sollten, werden sie individuell als subjektive Besonderheit wahrgenommen, sodass sogenannte Betroffene für Interviews schwer auffindbar sind. Dies ist auch in den hier vorgestellten Forschungen, von denen zwei die Absicht dazu hatten, wenig gelungen.12 Deutlich wird in ihnen eher, wie die (Nicht-)Kommunikation über diesen Themenbereich stattfindet. Selbstdeutungen betroffener Adressat*innen oder von Fachkräften (in Interviews oder Ähnlichem) liefern zwar wichtiges Material über die je eigenen Wahrnehmungen, jedoch ist es wichtig, sich als Forschende darüber klar zu sein, dass diese Ergebnisse nicht ›für sich selbst‹ sprechen (vgl. ebd.). Eine kritische Forschung verlangt auf der Subjektebene die größtmögliche (vorurteilsfreie) Offenheit für Selbsterzählungen der adressierten Subjekte (hier: Teilnehmende der Maßnahmen und in diesen arbeitende Fachkräfte) und auf der strukturellen und institutionellen Ebene wissenschaftlich fundiertes Wissen über historisch-gesellschaftliche Prozesse der Bedarfsdefinitionen sowie über subjektive Dimensionen von Bewältigungshandeln und Kontexte begrenzender Lebenslagen (vgl. Bitzan/Bolay 2017: 129). Konkret gesprochen: Wenn etwa Fachkräfte berichten, dass sie im Zusammenhang mit ›Queerness‹ keine Probleme sehen, so ist das vermutlich kein Abbild der Realität, schon gar nicht des subjektiven Erlebens der LSBTIQ-Jugendlichen, sondern zeugt letztlich möglicherweise eher von der Übereinstimmung der Fachkräfte mit dem herrschenden Blick, der ›nichts sieht‹. Zweitens: Feministische (und andere kritische) Analysen zu Diskriminierungskontexten haben immer mit unterschiedlichen, auf den ersten Blick gegenläufigen Begriffsaufladungen (und -politiken) umzugehen, sobald es

12

S. Zöller/Hust in diesem Band. Für eine Ausnahme, aber auch zur Reflexion der Schwierigkeit des Erreichens s. Brück in diesem Band. – Vermutlich spielt es bei dieser Schwierigkeit auch eine Rolle, dass die hier vorgestellten Forschungen nicht in den Metropolen stattfanden, in denen (wie beispielsweise in Berlin oder in Köln) queeres Leben insgesamt deutlicher sichtbar ist.

27

28

Maria Bitzan/Utan Schirmer

um die Konstruktion von ›Identitäten‹ (Betroffenengruppen) geht: denn diese kann zugleich eine (herrschaftsförmige) Zuweisung sein, eine Anrufung, die verandert und oftmals abwertet,13 sowie eine emanzipatorische Benennung von bisher Verdecktem, als Hervorbringung von ›anderem‹ als Teil des Allgemeinen. Engagierte Forschung, die darauf zielt, herrschaftliche Zuordnungen und hierarchische Einteilungen aufzubrechen, kommt nicht umhin, zu befragende Gruppen zu benennen, will sie nicht einfache Verdeckungen wiederholen. So muss deutlich werden, welche je spezifischen, gegebenenfalls diskriminierenden Zuordnungen erfolgen (in der Praxis und durch die Forschung), und zugleich müssen die Konstruktionsprozesse als solche als Herrschaftsprozesse enttarnt und kritisiert werden. Diese Fragen sind in kritischer Forschung nicht neu14 und thematisieren immer wieder die Anforderung, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion hin und her zu wechseln – und immer beides zu denken. Ansonsten läuft Forschung Gefahr, diskriminierende Kategorisierungen zu wiederholen und zu reifizieren. Die in unserem Band versammelten Beiträge nähern sich der Erforschung von Heteronormativität im Übergangssystem auf unterschiedlichen Zugangswegen an: Fachkräftebefragungen bringen Wahrnehmungen zum Vorschein, die sowohl mögliche Offenheiten für die Thematik zeigen als auch Normalitätsmuster des Verdeckens, Besonderns, Ignorierens – Wahrnehmungen, die so oder so mitstrukturieren, wie und als wer Jugendliche hier potenziell in Erscheinung treten können. Aber auch anhand der wenigen Interviews mit (queeren und anderen) Jugendlichen lässt sich die Wirkmächtigkeit der heteronormativen Verhältnisse nachvollziehen – sowohl in Form der Anpassung als auch in Form mutiger Selbstpositionierung. Allerdings sollten sich Forscher*innen immer der (forschungsethischen) Schwierigkeit bewusst sein, dass diskriminierende Haltungen oder unhinterfragte Selbstverständlichkeiten von Befragten auch als Ausdruck eines strukturellen Problems zu analysieren sind, ohne dadurch diese Haltungen zu relativieren oder zu entschuldigen: Es ist eine Gratwanderung.

13

14

Ein solches besonderndes, die entsprechenden jungen Menschen (teils in einer als gewaltvoll zu bezeichnenden Weise) zu ›Anderen‹ machendes Sprechen findet sich auch in den Aussagen vieler wohlmeinender, an individueller Unterstützung interessierter Fachkräfte in den hier versammelten Studien wieder (s. Zöller/Hust, Staudenmeyer sowie Nestler in diesem Band). Vgl. die schon früh erfolgten Reflexionen zu diesem Forschungsproblem in Hagemann-Whites (1993) Text Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen?.

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

Auch die in diesem Band vorgestellten Forschungen bewegen sich auf diesem Grat bzw. in den schon dargestellten Grenzen von Benennungen. Sie verfolgen auch nicht den Anspruch, eine vollständige oder gar abschließende Analyse der komplexen Wirkungsweisen von Heteronormativität im Übergangssystem zu leisten. Trotz ihrer begrenzten Reichweite machen die Beiträge aber doch einen Anfang, ein bisher noch nicht erforschtes Thema zu bearbeiten und liefern unseres Erachtens wichtige Hinweise und Anregungen zum Weiterdenken. Sie können und sollen einladen zu weiteren Forschungen und zur Weiterentwicklung einer emanzipatorischen Praxis Sozialer Arbeit.

Literatur Berlant, L./Warner, M. 2005 [1998]: Sex in der Öffentlichkeit. In: Haase, M./ Siegel, M./Wünsch, M. (Hg.): Outside. Die Politik queerer Räume. Berlin: b_books, S. 77-103. Bitzan, M. 2016: Adressat_innen zwischen Konstruktion und Eigensinn – zur Vermittlung eines kritischen Adressatenbegriffs mit methodologischen Fragen der Genderforschung. In: Zipperle, M./Bauer, P./Stauber, B./Treptow, R. (Hg.): Vermitteln. Eine Aufgabe von Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 99-112. Bitzan, M. 2020: Zur Relevanz von Verdeckungszusammenhängen im Kontext der sozialarbeitswissenschaftlichen Geschlechterforschung – methodologische Herausforderungen partizipativer Ansprüche. In: Rose, L./ Schimpf, E. (Hg.): Sozialarbeitswissenschaftliche Geschlechterforschung: Methodologische Fragen, Forschungsfelder und empirische Erträge. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 75-98. Bitzan, M./Bolay, E. 2017: Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Theoretische Klärung und Handlungsorientierung. Leverkusen: Barbara Budrich. Bitzan, M./Bolay, E. 2018: Adressatin und Adressat. In: Otto, H.-U./Thiersch, H./Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 6. überarb. Auflage. München: Ernst Reinhardt, S. 42-48. Duggan, L. 2002: The New Homonormativity: The Sexual Politics of Neoliberalism. In: Castronovo, R./Nelson, D. D. (Hg.): Materializing Democracy: Toward a Revitalized Cultural Politics. Durham/London: Duke University Press, S. 175-194.

29

30

Maria Bitzan/Utan Schirmer

Engel, A. 2002: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a.M./New York: Campus. Engelmann, H. 2019: Antiqueere Ideologie. Die Suche nach identitärer Sicherheit – und was politische Bildung dagegen ausrichten kann. Münster: Unrast. FRA – European Union Agency for Fundamental Rights 2020: A Long Way to Go for LGBTI Equality. Data Explorer. https://fra.europa.eu/en/data-and-maps/2020/lgbti-surve y-data-explorer [Zugriff: 25.03.2022]. Fraser, N. 1994: Der Kampf um die Bedürfnisse. In: Dies.: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 249290. Fütty, T. J. 2019: Gender und Biopolitik. Normative und intersektionale Gewalt gegen Trans*Menschen. Bielefeld: transcript. Fütty, T. J./Höhne, M. S./Llaveria Caselles, E. 2020: Geschlechterdiversität in Beschäftigung und Beruf. Bedarfe und Umsetzungsmöglichkeiten von Antidiskriminierung für Arbeitgeber_innen. Berlin. https://www.antidis kriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expe rtisen/geschlechterdiversitaet_i_beschaeftigung_u_beruf.html [Zugriff: 25.03.2022]. Galuske, M./Rietzke, T. 2008: Aktivierung und Ausgrenzung – Aktivierender Sozialstaat, Hartz-Reformen und die Folgen für die Soziale Arbeit und Jugendberufshilfe. In: Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (Hg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. 2.überarb. u. erw. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 399– 416. Groenemeyer, A. 2018: Soziale Probleme. In: Otto, H.-U./Thiersch, H./ Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt, S. 1492-1507. Groß, M./Niedenthal, K. (Hg.) 2021: Geschlecht: divers. Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit. Bielefeld: transcript. Hagemann-White, C. 1993: Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht. In: Feministische Studien, 11, 2, S. 68-78. https://doi.org.10.1515/fs-1993-0 208. Hark, S./Laufenberg, M. 2013: Sexualität in der Krise. Heteronormativität im Neoliberalismus. In: Appelt, E./Aulenbacher, B./Wetterer, A. (Hg.): Gesell-

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

schaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 227-245. Hartmann, J. 2018: Jugendbildung queer(en) – Zur Relevanz einer heteronormativitätskritischen Pädagogik. In: Busche, M./Hartmann, J./Nettke, T./ Streib-Brzič, U.: Heteronormativitätskritische Jugendbildung. Reflexionen am Beispiel eines museumspädagogischen Modellprojekts. Bielefeld: transcript, S. 19-48. Hartmann, J./Busche, M. 2018: Mehr als Sichtbarmachung und Antidiskriminierung. Perspektiven einer Pädagogik vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen. In: Sozial Extra, 5, S. 21-25. Herrera Vivar, M. T./Rostock, P./Schirmer, U./Wagels, K. 2016: Über Heteronormativität – eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Über Heteronormativität. Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Verhältnisse und konzeptuelle Zugänge. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 7-30. Kleiner, B. 2015: subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. Kleiner, B. 2020: Lebenslagen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und inter*geschlechtlichen sowie genderqueeren (Kindern und) Jugendlichen. In: Timmermanns, S./Böhm, M. (Hg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 40-54. Krell, C./Oldemeier, K. 2015: Coming-out – und dann …?! Ein DJIForschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: Deutscher Jugendinstitut e. V. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Coming-outVerläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich. Landeshauptstadt München (Hg.) 2012: »Da bleibt noch viel zu tun …!« Befragung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zur Situation von lesbischen, schwulen und transgender Kindern, Jugendlichen und Eltern in München. München. LesMigraS (Hg.) 2012: »… Nicht so greifbar und doch real«. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutsch-

31

32

Maria Bitzan/Utan Schirmer

land. https://lesmigras.de/wp-content/uploads/2021/11/DokumentationStudie-web_sicher.pdf [Zugriff: 24.03.2022]. Nachtigall, A./Ghattas, D. C. 2021: Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule. Perspektiven und Forderungen für die Schulsozialarbeit. In: Groß, M./Niedenthal, K. (Hg.): Geschlecht: divers. Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit. Bielefeld: transcript, S. 113-147. Otto, H.-U. (Hg.) 2020: Soziale Arbeit und Kapitalismus. Gesellschaftstheoretische Verortungen, professionspolitische Forderungen, politische Herausforderungen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Saadat-Lendle, S./Çetin, Z. 2014: Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen. In: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript, S. 233-250. Schirmer, U. 2017: Zwischen Ausblendung und Sozialpädagogisierung? Dilemmata bei der Konstruktion von LSBT*-Jugendlichen als Zielgruppe Sozialer Arbeit. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 12, 2, S. 177189. Schirmer, U. 2022: Trans*aktivistische Bewegungen und Soziale Arbeit – Rekonstruktion eines emanzipatorischen Potenzials. In: Kasten, A./Bose, K. v./Kalender, U. (Hg.): Feminismen in der Sozialen Arbeit. Debatten, Dis/ Kontinuitäten, Interventionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 92-115. Seithe, M. 2021: Widerstand der Sozialen Arbeit gegen ihre Neoliberalisierung – nötig? möglich? sinnvoll? http://meinglashaus.de/soziale-arbeit/ [Zugriff 20.06.2022]. Sielert, U./Timmermanns, S. 2011: Expertise zur Lebenssituation schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland. Eine Sekundäranalyse vorhandener Untersuchungen. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Stauber, B./Walther, A. 2018: Übergänge im Lebenslauf und Übergangsforschung. In: Otto, H.-U./Thiersch, H./Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 6. überarb. Auflage. München: Ernst Reinhardt, S. 1790-1802. TrIQ o.J.: Inter* bei TrIQ. http://inter.transinterqueer.org/ [Zugriff: 25.03.2022]. Verlage, T./Walther, A. 2021: Ausschluss durch Einschluss im Übergang in Arbeit. Widersprüche sozialpädagogischen Handelns in der Jugendberufshilfe. In: Anhorn, R./Stehr, J. (Hg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Band 2. Wiesbaden: Springer VS, S. 1087-1104.

(Un)angepasst – queer im Übergangssystem

Wende, L. 2005: 4 Thesen zu Möglichkeiten und Risiken der Integration benachteiligter junger Menschen im Kontext der Hartz-Gesetzgebung. In: Jugend, Beruf, Gesellschaft. Dokumentation der Jahrestagung Jugendsozialarbeit im Spannungsverhältnis aktueller Arbeitsmarktpolitik vom 13.–14. Oktober 2004 in Magdeburg. Bonn, S. 39-43. Woltersdorff, V. 2019: Heteronormativitätskritik: ein Konzept zur kritischen Erforschung der Normalisierung von Geschlecht und Sexualität. In: Kortendiek, B./Riegraf, B./Sabisch, K. (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 323-330. Yılmaz-Günay, K. (Hg.) 2011: Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre »Muslime versus Schwule«. Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001. Münster: edition assemblage.

33

Zu den Beiträgen

Der erste Teil des Bandes liefert eine Einführung in jugendtheoretische, institutionelle und rechtliche Rahmungen der Situation junger queerer Menschen im Übergangssystem: Unter dem Titel Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen diskutieren Jasmin Brück, Folke Brodersen und Thomas Nestler die Bedeutung von Übergängen für das Jugendalter und zeigen die Herausforderungen, Möglichkeiten und Bedingungen queerer Jugendlicher darin auf. Entlang der Dimensionen der Sozialbeziehungen, der schulischen und beruflichen Institutionen, Geschlecht und Sexualität sowie juristischer und politischer Kontexte verdeutlichen sie, wie Jugendliche ihre Lebenswelten und sich selbst adressieren und transformieren und welche Herausforderungen junge queere Menschen in diesem Zusammenhang bewältigen müssen. Der Artikel Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen von Susanne Dern, Ulrike Zöller und Maria Bitzan ist als Übersichtsartikel angelegt. Der Artikel stellt das Übergangssystem als Handlungsfeld vor und ordnet es kritisch ein. Dabei werden juristische Festlegungen und die darin sich manifestierenden Förderlogiken diskutiert. Die auftauchenden Spannungsfelder werden in ihrer Relevanz für die Soziale Arbeit und ihr Professionsverständnis skizziert. Spezifische Herausforderungen für Fachkräfte Sozialer Arbeit in diesem Handlungsfeld werden aufgezeigt. Ulrike Spangenberg skizziert in ihrem Beitrag Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem, über welche Regelungen den Teilnehmenden im Übergangssystem Schutz vor Diskriminierung zukommt, und deckt zugleich Lücken und Reformbedarfe auf. Hierzu stellt sie zunächst den grund- und menschenrechtlichen Rahmen vor, der bisher primär auf geschlechtsbezogene Diskriminierungen in einem eher binären Verständnis rekurriert. Sodann analysiert sie die konkreten Regelungen der Sozialgesetzbücher, die für die verschiedenen Träger des Übergangsystems greifen.

36

Zu den Beiträgen

In den vier Beiträgen des zweiten Teils werden die Ergebnisse dreier empirischer Studien zu ›queer im Übergangssystem‹ ausführlich dargestellt: Jasmin Brück rekonstruiert unter dem Titel »Ich wünschte, wir müssten nicht so Angst davor haben, wie andere Menschen darauf reagieren.« Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette das subjektive Erleben einer queeren Person – hier Elia genannt – im Übergangssystem. Am Beispiel dieser Fallvignette, die im Rahmen ihres Dissertationsprojekts an der HS Fulda entstanden ist, wird aus einer subjektorientierten Perspektive aufgezeigt, wie normative Annahmen über Geschlecht, Körper und Sexualität Einfluss auf die Situation von Elia im Übergangssystem nehmen können. Der Beitrag geht damit den Fragen nach, ob und wie Elia aufgrund des Queerseins Diskriminierung und Benachteiligung im Übergangssystem erfährt und welche Handlungsstrategien sich aus diesen Erfahrungen bei Elia ableiten lassen. Im Beitrag Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«. Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung aus der Perspektive von Fachkräften im Übergangssystem stellt Bettina Staudenmeyer Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt »(Un)angepasst« vor. In dem an der Hochschule Fulda bei Susanne Dern angesiedelten Projekt wurden Fachkräfte aus der Region Fulda/Vogelsbergkreis über die Methode des World Cafés dazu befragt, inwiefern die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung im Übergangssystem thematisiert wird. Der Artikel gibt einen Überblick darüber, wie die Fachkräfte über den Themenkomplex rund um sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sprechen, welche Perspektiven auf Diskriminierung und Anerkennung sich zeigen und inwiefern professionelles Handeln sichtbar wird. Ein Schwerpunkt des Artikels liegt auf der Frage, welche Ansatzpunkte die Fachkräfte für die Verankerung von Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung identifizieren, indem beleuchtet wird, wie sie den Themenkomplex in bestehende Konzepte und Maßnahmelogiken des Übergangssystems einordnen. Im Beitrag »Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.« Queerness und Widerstand in Erzählungen von Fachkräften analysiert Thomas Nestler einige der im Projekt »(Un)angepasst« erhobenen Erzählungen von Fachkräften aus dem Übergangssystem nochmals aus einer anderen Perspektive: Im Fokus stehen hier die Verschränkungen von Vulnerabilität, Macht und Widerstand im Sprechen über queere Adressat*innen. Theoretische Bezüge werden anhand dreier Fallbeispiele verdeutlicht. Daraus wird ersichtlich, wie bedeutsam die Perspektive auf Widerstand und Handlungsmächtigkeit queerer Adressat*innen ist und welche Rückschlüsse sich daraus für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit ergeben können.

Zu den Beiträgen

Ulrike Zöller und Tabea Hust stellen Eindrücke eines zwölfmonatigen Forschungsprojekts im Übergangssystem der Jugendberufshilfe im Saarland vor. Das Forschungsprojekt war an der Fakultät für Sozialwissenschaften der htw saar angesiedelt. Ziel des Forschungsprojekts war es, die Situation von LSBT*-Jugendlichen im Übergangssystem hinsichtlich diskriminierender Erfahrungen und Bildungsbenachteiligung im Rahmen einer qualitativen ethnografischen Erhebung zu untersuchen und besondere Bedarfe von jungen LSBT* im Übergangssystem herauszuarbeiten. Der Artikel »Wir wollen nicht diskriminieren.« Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche – ethnografische Eindrücke bei einem Träger des Übergangssystems skizziert in erster Linie Perspektiven von Fachkräften auf die Situation von LSBT*-Jugendlichen im Übergangssystem. Herausgearbeitet wird, dass LSBT*-Jugendliche in der untersuchten Einrichtung vor allem institutionell benachteiligt sind und der Schutzauftrag ihnen gegenüber in der Einrichtung noch umgesetzt werden muss. Die im zweiten Teil dargestellten Forschungsergebnisse zum Übergangssystem ergänzend, kontextualisierend und erweiternd, widmet sich der dritte Teil Erkenntnissen zur Situation junger queerer Menschen bzw. zu professionellen Umgangsweisen damit in den benachbarten Bereichen der Jugendarbeit sowie der beruflichen Bildung: Der von Maria Bitzan und Gerrit Kaschuba erstellte Beitrag Qualität der Jugendarbeit weiterdenken… erörtert Entwicklungslinien von und neue Herausforderungen an Theorie und Praxis geschlechterreflektierender Jugendarbeit hin zu Angeboten für queere junge Menschen. In den damit unauflösbar verbundenen Spannungsfeldern zwischen Besonderung und Verallgemeinerung bleiben Sichtbarkeit und Anerkennung von Vielfalt Herausforderungen, die für die gesamte Jugendarbeit gelten. Die Darstellung empirisch erarbeiteter Qualitätskriterien macht deutlich, dass Qualität nicht nur bezogen auf den pädagogischen Prozess, sondern auch bezogen auf gesellschaftspolitische und institutionelle Ebenen zu entwickeln ist. In dem Beitrag Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren (LSBT*Q) Jugendlichen in der beruflichen Bildung stellen Claudia Krell und Nora Gaupp zentrale Ergebnisse eines gleichnamigen Projekts des Deutschen Jugendinstituts e. V. (DJI) sowie daraus entwickelte Handlungsbedarfe vor. Auf der Basis von siebzehn Interviews mit jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren, die hier mit eindrücklichen und anschaulichen Zitaten zu Wort kommen, werden deren oftmals ambivalente Erfahrungen in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umgangsweisen mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt rekonstruiert: Erfahrungen etwa mit häufigen Brüchen und Wendungen in Bildungswegen, mit Reaktionen des Umfelds auf

37

38

Zu den Beiträgen

›geschlechtsuntypische‹ Berufswahlen, Erfahrungen im Ausbildungsalltag im Kontext eines Coming-outs, hinsichtlich sozialer Beziehungen sowie struktureller Bedingungen. Der Beitrag schließt mit daraus abgeleiteten Überlegungen dazu, was Schulen und Betriebe tun können, um die Situation für LSBT*Q Jugendliche zu verbessern. Basierend auf einer Diskussion der Herausgeber*innen werden abschließend Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem. Ergebnisse, Schlussfolgerungen, Empfehlungen vorgestellt. Dieser Beitrag stellt den Versuch dar, aus den zuvor vorgestellten Forschungsergebnissen und Überlegungen Impulse zu generieren, die zur Erprobung und zum Weiterdenken anregen sollen und die damit auf eine Verbesserung der Situation (nicht nur) von jungen queeren Menschen im Übergangssystem zielen. Am Ende des Bandes findet sich ein Glossar, in dem die im Übergangssystem üblichen Akronyme und die darunterfallenden Maßnahmen erläutert werden.

I Jugendtheoretische, institutionelle  und rechtliche Rahmungen

Queere Jugend und ihre Übergänge –  Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen1 Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

1.

Jugendliche Übergänge – queere Übergänge?

Das Jugendalter ist von vielfältigen Übergängen geprägt, die den Lebenslauf junger Menschen wie auch ihr Erleben strukturieren. In ihrer institutionellen Einbindung wie auch in ihrer individuellen Entwicklung finden zahlreiche Transformationen statt: Übergänge von der schulischen Bildung in Ausbildung und in Erwerbstätigkeit ebenso wie innerhalb sozialer Kontakte, in denen zentrale Beziehungen über die Familie hinaus auf Freundschaften und weiter auf Partnerschaften erweitert und teilweise verlagert werden. Junge Menschen intensivieren und verändern Interaktionen mit Medien und setzen sich mit gesellschaftspolitischen Zielen auseinander. Sie vergrößern ihren Aktivitätsradius und verlagern das Zentrum ihrer Lebensgestaltung, wechseln und vervielfältigen Freizeitaktivitäten (vgl. BMFSFJ 2020: 267-274). Solche Übergänge sind in institutionelle, formale, informelle, soziale und ritualisierte Prozesse eingebettet, werden durch sie strukturiert und angestoßen (aber auch begrenzt) – zugleich sind sie in die Lebenssituation und das Handeln junger Menschen eingebettet (vgl. Schröer 2013). Junge Menschen erfahren Übergänge teilweise als äußerliche Gegebenheiten und strukturieren sie zugleich teilweise selbst – und schaffen durch Annahme und Differenz in ihnen einen Raum für ihre Subjektivität. So erscheinen Heranwachsende in der Gegenwart zunehmend als selbstorganisierte Subjekte, insofern sie Verantwortung für die Gestaltung ihrer Lebensphase übernehmen (müssen) (vgl. Ecarius 2012: 30). Und dennoch sind sie wegen formaler, rechtlicher, sozial-emotionaler sowie ökonomischer Verhältnisse in ihren Entschei1

Wir danken den Herausgebenden für ihre Begleitung und Unterstützung sowie Cosima Hartmann für das aufmerksame Lektorat.

42

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

dungen eingeschränkt und in der Gestaltung bestehender Übergänge nur bedingt oder vor dem Hintergrund negativer Konsequenzen handlungsfähig (vgl. Schierbaum 2018: 38ff.). Jugendliche bewältigen die damit einhergehenden Entscheidungen, Kontaktaufnahmen und Abschiede, indem sie sich mit Strukturlogiken, Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzen und sich zu diesen verhalten. Sie reagieren darauf je unterschiedlich mit Verselbstständigung und Selbstgestaltung, Abwehr und Zurückhaltung, Rebellion und Politisierung, Konformität und Protest, erleben Selbstwirksamkeit und Ohnmacht (vgl. u.a. Ecarius 2020; Prescher/Walther 2018). So vielfältig und zahlreich Übergänge sind, so unterschiedlich sind auch ihre theoretisch-konzeptionellen Einordnungen in das Leben junger Menschen. Boris Zizek (2020: 158) diskutiert Adoleszente im Übergang etwa als ›Bewährungssucher‹, die aktiv Übergangsherausforderungen annehmen – Matthias Grundmann (2020: 14) ordnet derartige Darstellungen einer Transitionsphase dahingegen als alltäglichen, interaktiven Prozess eines ›Doing Youth‹ ein. Jutta Schierbaum (2020: 102) fragt danach, ob Jugend als »biographisches Projekt« begriffen werden muss, das anhand von unterschiedlichen Übergangsnarrationen hergestellt wird und durch ein ›Doing Transition‹ (vgl. Walther et al. 2020: 12) zum Ausdruck gebracht werden kann, wohingegen Ullrich Bauer (2020: 54) die Jugendphase insofern als »signifikant« benennt, als sie als altersgebundener Lebensabschnitt durch zahlreiche Übergänge geprägt ist. Es ist dann eine empirische Frage, welche dieser Einordnungen eine passende Beschreibung darstellt – so oder so gilt, dass das Alter zwischen Kindheit und Erwachsensein für junge Menschen beides bedeutet: eine Lebensform mit einer eigenen Systematik, einer eigenen Struktur und einem eigenen Recht und zugleich eine »Lebenslage des Übergangs« (Stauber/Walther 2013: 270), die geprägt ist durch zahlreiche mikro- und makrostrukturelle Veränderungen. Jung zu sein bedeutet damit nicht, Übergänge als undefinierte Heraushebung aus allen Verortungen zu erleben – Übergänge konstituieren an sich ein komplexes und reichhaltiges Jugendalter, das sich nicht auf einzelne Aspekte (vgl. Becker 2020: 63f.) reduzieren lässt. Jugend ist ein einziger Übergang und zugleich lässt sich die Jugendphase nicht auf die zahlreichen Übergänge reduzieren, die in ihr stattfinden. Die Frage nach der strukturellen, subjektiven und biografischen Bedeutung jener Übergänge für Jugendliche stellt sich in besonderer Weise vor dem Hintergrund geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Junge queere

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

Heranwachsende2 sind mit (oft impliziten) heteronormativen Strukturen und Anrufungen innerhalb von Übergangsprozessen konfrontiert. Sie müssen sich in diesen mit ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Zugehörigkeit zurechtfinden und sich zu Annahmen über und zu Idealen von Geschlecht und Sexualität positionieren. Entlang von institutionellen Ordnungen und persönlichen Beziehungen handeln sie Repräsentation, Anerkennung und Schutz vor Diskriminierung aus. Ebenso etablieren sie soziale Beziehungen und formulieren thematische Anregungen, die vielfältige Lebens-, Beziehungs- und Körperformen einschließen (vgl. Hark 2002). Im Folgenden vertiefen und differenzieren wir die Bedeutung von Übergängen für junge queere3 Menschen. Wir verorten Übergänge dafür zunächst als Teil einer spätmodernen Jugend, die durch eine Pluralität von Entwicklungsmöglichkeiten, entsprechende Erwartungen an die Selbstgestaltung sowie eine Entstandardisierung und Entgrenzung (vgl. Böhnisch/Schröer 2008: 49f.) gekennzeichnet ist (Abschnitt 2). Weiter unterscheiden wir die (Er-)Lebenssphären der Sozialbeziehungen, Bildungs- und Arbeitskontexte, der geschlechtlichen und sexuellen Entwicklung sowie der juristischen und politischen Person: Deren je eigene Übergangsstrukturen diskutieren wir in ihrer allgemeinen und spezifischen Bedeutung für junge queere Menschen (Abschnitt 3). Wir schließen den Beitrag mit einer Situierung queerer Jugend-

2

3

Jugendliche sind Heranwachsende im besten Sinne (ungeachtet der gesetzlichen Grenzziehungen beim 14. und 18. Lebensjahr). Innerhalb dieser spezifischen Lebensphase gestalten sie Übergänge, wobei wir hier nicht von linearen oder progressiven Entwicklungen ausgehen. Heranwachsen bedeutet aus unserer Sicht, sich mit der eigenen Vergangenheit als Kind, der Gegenwart als Jugendliche*r und mit einer Zukunft als Erwachsene*r auseinanderzusetzen, diese Elemente in ihrer Komplexität zueinander in Stellung zu bringen und dabei soziale, institutionelle, rechtliche, körperliche und persönliche Entwicklungen zu gestalten, teilweise mit Bezug auf, teilweise aber auch unabhängig von rechtlichen und sozialen Zuordnungen zu diesen Altersstufen. In Anlehnung an den Beitrag von Bitzan und Schirmer in diesem Band verstehen wir junge queere Menschen als einen sich in der adoleszenten Lebensphase befindenden Personenkreis mit vielfältigen Selbstbezeichnungen und Lebenswirklichkeiten, der sich nicht in hetero-/cis- und oder endonormativen Rastern wiederfindet. Die folgenden Ausführungen beziehen sich nicht explizit auf intergeschlechtliche junge Menschen. Begründet ist diese Limitierung darin, dass es bislang wenig Forschung zu intergeschlechtlichen Jugendlichen gibt (für Ausnahmen vgl. Gregor 2015; Groß/ Niedenthal 2021) und diese Personengruppe im vorliegenden Sammelband nicht systematisch in den Blick genommen wurde. Hier sehen wir eine große Leerstelle und entsprechend großen Forschungsbedarf.

43

44

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

licher in Übergängen ab und kontrastieren diese mit dem normativen Anspruch an eine Übergangsgestaltung (Abschnitt 4).

2.

Jugenden – Lebensphasen in (der) Entgrenzung

Die Frage danach, wer oder was Jugend sei, bedarf sowohl einer historischen als auch einer gegenwärtigen Einordnung. So haben sich die Bedingungen, unter denen sich Jugend entwickelt und Übergänge gestalten kann, immerwährend verändert. Spätestens seit den 1980er Jahren ist mit der Diagnose einer Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten und Lebensgestaltung (vgl. Beck 1986) eine neue Perspektive auf die Gestaltung von Jugend notwendig. Zu beobachten sind Entstrukturierungsprozesse, die zu einer Destandardisierung des strukturierten Lebenslaufmodells (vgl. Olk 1984) führen (vgl. Mey 2011: 34ff.). Die Frage nach der Bedeutung von Jugend wirft damit in der Spätmoderne zweierlei Perspektiven auf: Einerseits ist Jugend ein Alter, in dem junge Menschen als Lernende und Schüler*innen adressiert werden (vgl. Bitzan/ Bolay 2017: 38f.), sodass Jugend »als Objekt und Bedingung schulischer Bildung und Qualifizierung« (Bock et al. 2020: 4) gefasst werden kann. Andererseits werden Prozesse der Entgrenzung und Entstrukturierung mit dem Jugendalter in Zusammenhang gebracht: Jugend wird vielfältiger (vgl. Böhnisch et al. 2005: 147), das Verständnis von Jugend öffnet sich für Differenzen und zugleich entsteht ein neuer Bedarf nach einer Strukturierung von Lebens- und Bildungswegen (vgl. Schröer 2013: 66ff.). Vor dem Hintergrund von Individualisierung und Pluralisierung muss ›Jugend‹ in sich pluralisiert werden, da eine eindeutige Definition nicht möglich ist. Es bedarf konsequenterweise einer Perspektive auf »Jugenden« (Scherr 2016: 150), um die unterschiedlichen Persönlichkeitsentwicklungen, Lebenschancen, Lebensbedingungen und -lagen zu erfassen. Jedoch lassen sich zentrale Herausforderungen für junge Menschen in der Zeit des Heranwachsens ableiten. So gehören die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit und einer Identität (vgl. Erikson 1973) zu jenen Entwicklungsaufgaben, die unabhängig von der Lebenssituation zu bewältigen sind und sich aus normativen gesellschaftlichen Erwartungen heraus an Heranwachsende ergeben (vgl. Scherr 2016: 151). Der 15. Kinder- und Jugendbericht bestimmt weiter, dass Jugendliche gefordert sind, »eine Allgemeinbildung sowie soziale und berufliche Handlungsfähigkeit zu erlangen (Qualifizierung),

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

für sich selbst Verantwortung zu übernehmen (Verselbstständigung) und eine Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Zugehörigkeit und Verantwortung zu entwickeln (Selbstpositionierung)« (BMFSFJ 2017: 6). Eine damit einhergehende »Auseinandersetzung mit Selbstökonomisierung und Selbstvermarktung bei flexibler Anpassung und einem guten Wellbeing sind die Anrufungen spätmoderner Jugend« (ebd.: 46), die bei jungen Menschen durchaus Spannungen zwischen den institutionalisierten Anforderungen und der eigenen Verantwortlichkeit hinsichtlich eines zu gestaltenden Lebens hervorrufen können. Dabei erfahren Heranwachsenden für die von ihnen vollzogenen Übergänge Zuspruch und Lob, sofern sich diese innerhalb einer auf Selbstökonomisierung (Mansel/Kahlert 2007) aufbauenden Gesellschaft progressiv einer entwickelnden (Selbst-)Transformation zuordnen lassen und somit Voraussetzungen für eine Verselbstständigung erfüllen, indem sie sowohl beruflichen als auch persönlichen Erfolg verzeichnen. Doch umgekehrt kann ein ›Nichterfolg‹ bei Übergängen eine Problematisierung im Sinne einer Mahnung und Nichtanerkennung nach sich ziehen. Vermeintlich fehlgehende Übergänge hinsichtlich einer Qualifizierung oder Verselbstständigung können gesellschaftliche Reaktionen auslösen, die sich unter anderem in institutionellen Präventionsbemühungen und einer damit einhergehenden Passungsforderung äußern – wie beispielsweise an den institutionellen Systemen der Jugendberufshilfe oder des Übergangssystems zu erkennen ist (s. hierzu weitere Beiträge in diesem Sammelband). Die Entgrenzung und Destandardisierung implizieren entgegen der auf den ersten Blick assoziierten oberflächlichen Offenheit eine starke normative Vorgabe bezüglich eines Gelingens von Jugend und einer damit einhergehenden Zielrichtung von Übergängen. Diese werden teilweise implizit vermittelt, etwa durch die geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation; teilweise werden sie auch explizit kommuniziert, wie dies beispielsweise anhand des meritokratischen Systems deutlich wird. Eine (als Forderung meist unausgesprochene) Einpassung in ein dominantes Geschlechter- und Qualifizierungsbild erscheint hierbei am reibungsärmsten und fungiert weiterhin als Folie für Normalität und gelungene Bewältigung. Für junge queere Menschen stellt diese Entgrenzung und Pluralisierung eine spezifische Chance (und eine Herausforderung) bei ihren Übergängen dar. Innerhalb einer Vielgestaltigkeit von Jugenden gibt es auch einen, wenngleich teilweise abgetrennten, separaten Raum, um eine queere Jugend auszugestalten. Gleichzeitig werden sie jedoch weiterhin mit cis-heteronormati-

45

46

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

ven Annahmen konfrontiert. Um sich wenigstens dieser (permanenten) Erinnerung an eine zu erfüllende Norm zu entziehen, nutzen junge queere Menschen gerade neue soziale Situationen im Anschluss an institutionelle Übergänge – vor allem hin zur beruflichen Bildung – als Gelegenheiten, in denen sie sich selbst auf andere Art und Weise darstellen, neue Namen und Pronomen einführen und ein sexuelles Begehren kommunizieren (vgl. Krell/ Oldemeier 2016, 2017; Oldemeier 2021). Weiter beinhaltet ein queeres Leben im Jugendalter selbst multiple Übergänge: Junge Menschen grenzen sich im Coming-out von der Unsichtbarkeit in der Hetero- und Cisnorm ab und gehen qua Differenzmarkierung (zunächst) in eine herausgehobene Sichtbarkeit über. Möglich wird für sie damit eine anderslogische Gestaltung ihrer Sozialbeziehungen und eine weitere Aushandlung über die Sichtbarkeit ihres eigenen Queerseins (vgl. Brodersen 2019, 2020). Gleichzeitig machen sie sich dadurch in ihrer Integrität verletzlich, werden angreifbar und setzen sich den Reaktionen ihres Gegenüber aus (vgl. Kleiner 2015; Brodersen 2018a). Queere junge Menschen positionieren sich damit auf vielfältige Weise in einer spätmodernen Gesellschaft: Sie kommunizieren, erkunden, entwickeln eine Queerness anhand von und in Übergängen. Dies kann sowohl als Herausforderung als auch als Ressource für junge queere Menschen gedeutet werden, indem sie einerseits Klarheit für sich und ihre Umwelt schaffen und andererseits durch die Infragestellung und das Aufbrechen normativer Lebenskonzepte auf etwas Neues aufmerksam machen.

3.

Dimensionen des Übergangs

Übergänge durchziehen und strukturieren das gesamte Jugendalter. Eine analytische Unterscheidung zur besseren Darstellung lässt sich entlang von jugendlichen (Er-)Lebenssphären vollziehen (wenngleich das Erleben in einer Sphäre immer auch dasjenige in den anderen Sphären beeinflusst). Welche Anforderungen darin an junge Menschen gestellt werden und welche Möglichkeiten sich ihnen in einer pluralisierten Gesellschaft eröffnen, hängt von der jeweiligen Sphäre ab. Ebenso organisiert die jeweilige Sphäre das Erleben von Heranwachsenden wie auch die Einbindung in gesellschaftliche Ordnungen. Wir betrachten im Folgenden vier schematisch zusammengefasste Übergangsdimensionen und die im Jugendalter allgemein darin

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

stattfindenden Übergänge.4 Wir fragen: Unter welchen Bedingungen finden welche Übergänge wie für queere junge Menschen statt?

3.1

Sozialbeziehungen

Ein zentrales Entwicklungsmoment junger Menschen ist die Ablösung oder Neugestaltung sozialer Beziehungen. Die Bedeutung von Peers nimmt zu und es stellt sich die Frage, inwiefern die durch ein gemeinsames Aufwachsen bestimmten Familienverhältnisse zunehmend durch neue Sozialbeziehungen in Gestalt mindestens temporär stabiler Freundschaftskonfigurationen erweitert werden. Hinzu kommt die Frage, wie die Ablösung von der Herkunftsfamilie erprobt, revidiert oder vollzogen wird. Weiter sind Familien, Freundschaften und Partnerschaften als – im besten Falle – konsistente, belastbare soziale Beziehungen für junge Menschen bei der Gestaltung pluraler Übergänge bedeutsam. Soziale Beziehungen sind im Jugendalter also selbst Umbrüchen und Neugestaltungen ausgesetzt (etwa durch den Beginn von Berufsausbildungen, den Besuch weiterführender Schulen, Umzüge, wechselnde Wohngemeinschaften etc.) und können damit potenziell krisenhaft sein. Gleichzeitig stellen sie essenzielle Ressourcen für die Bewältigung von jugendtypischen Herausforderungen und die Freisetzung von Kreativität bei der Gestaltung von Identitätsbildungsprozessen dar (vgl. Stauber 2020b: 150). Im Jugendalter findet in jedem Fall eine Veränderung der Familienverhältnisse statt. Ist die Familie in der Kindheit die primäre Sozialisationsinstanz, verselbstständigen sich junge Menschen nun zunehmend und bilden eigene und gegebenenfalls im Verhältnis zur Familie differente Interessen aus. Damit einhergehend vergrößert sich ihr Handlungsradius und ihr Lebensmittelpunkt verlagert sich weg von der Herkunftsfamilie. In diesem Zusammenhang entstehende Ablösungsprozesse können – angefangen mit einfachen Neustrukturierungen sozialer Beziehungen über Konflikte bis hin zu Distanzierungen – sehr vielgestaltig sein und müssen entsprechend aktiv gestaltet werden. Im Zuge dieser Ablösungsprozesse gewinnen Peerbeziehungen an Bedeutung (vgl. Reißig 2019: 370), die von relativ losen Konstellationen bis hin zur

4

Der Zuschnitt der dargestellten (Er-)Lebenssphären und Übergangsdimensionen orientiert sich an den thematischen Schwerpunkten des vorliegenden Bandes. Eine andere Zuspitzung, etwa auf die separate Betrachtung von Medien, Körperlichkeit oder Ähnlichem, ist grundsätzlich möglich.

47

48

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

Formierung von Ersatzfamilien reichen können und damit auch Orientierungspunkte und Schutzräume bieten, die in der Herkunftsfamilie eventuell nicht oder nicht in ausreichendem Maße erlebbar waren. Diese Peerbeziehungen bilden sich interessengeleitet im privaten Bereich aus (etwa ausgeprägt nach Musikgeschmack, gemeinsamen Hobbys, identitätsähnlichen Orientierungen oder der örtlichen Nähe) – oder entwickeln sich im Kontext von institutionell markierten Stationen im Lebenslauf wie in Schulen, in Ausbildungsbetrieben, an Hochschulen oder in ersten Arbeitsstellen. Claudia Krell und Kerstin Oldemeier (2016) konnten überzeugend herausarbeiten, dass gerade für junge Menschen, die sich in Coming-out-Prozessen befinden, Familienzusammenhänge relevante und spezifisch gerahmte Bezugskontexte darstellen und somit eine große Bedeutung haben. Spätestens für Coming-out-Prozesse ist der Rückhalt oder die Ablehnung in diesen Beziehungen von zentraler Bedeutung. Darin liegt zum einen die Chance, ein positives Selbstbild zu entwickeln und Akzeptanz und Wertschätzung zu erleben – zum anderen können ablehnende Reaktionen durch die Familie weitreichende Folgen für die Lebensführung, die psychische Gesundheit und die Verwirklichung von Qualifikations- und Berufszielen haben (vgl. Sauer/Meyer 2020: 38; Fuchs et al. 2012: 149; Focks 2014: 17f.). In bildungsbezogenen Institutionen finden komplexe (Neu-)Bildungen sozialer Beziehungen anhand von Interessen, durch Zugangsselektionen, die Überschneidung verschiedenster Herkünfte und die Verfügbarkeit von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital statt und sorgen sowohl für Homogenitäts- als auch für Heterogenitätsdynamiken. Diese komplexen Sozialbeziehungen zeigen, dass hier nicht einfach in der Binarität ›positive Sozialbeziehungen – hinderliche Sozialbeziehungen‹ gedacht werden kann, sondern dass diese vielmehr situativ, kontextabhängig und prozesshaft sind. So müssen Freundschaften, die zu Beginn einer Ausbildung entstanden sind, diese nicht zwangsläufig überdauern, Koalitionen können sich zu bestimmten Themen bilden und Klassen- oder Kurszusammenhänge sind immer auch abhängig von Interaktionen mit Lehrenden. Ein wichtiger Faktor bei der Auseinandersetzung mit diesen potenziellen Spannungsfeldern und bei deren Bewältigung sind auch die jeweiligen Ressourcenausstattungen der Jugendlichen – die die institutionellen Anforderungen und die Positionierung in Peerbeziehungen maßgeblich beeinflussen können (vgl. Reißig 2019: 370). Durch häufig vermehrte Diskriminierungserfahrungen in Schule, Ausbildung und Beruf (vgl. Kleiner 2015; Franzen/Sauer 2010) entwickeln junge queere Menschen ein besonderes Gespür dafür, in welchen Kontexten und

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

in welchen Beziehungsstrukturen ein offener Umgang mit bzw. ein offenes Sprechen über Queerness möglich ist und wo eben nicht. Sie wägen ab, in welchen Kontexten, unter welchen Bedingungen und im Verhältnis zu welchen Personen sie als queer erkennbar sein wollen und wo nicht (Nestler 2018). Die Auseinandersetzung mit und Aushandlung von romantisch-sexuellemotionalen Beziehungen sowie deren Anbahnung und Ausgestaltung gehören schließlich ebenfalls zu den bedeutenden Themen des Jugendalters. Erste Male – Verliebtsein, sexuelle Kontakte, Konflikte, Trennungsschmerz – stellen im sozialen Kontext zentral verhandelte Erfahrungen in dieser Zeit dar. Gerade in queeren Kontexten ist die Aufnahme solcher romantisch-sexuellemotionalen Beziehungen im Vergleich zur heterosexuellen Beziehungsanbahnung mitunter deutlich komplizierter. Die komplexe Gestaltung von Beziehungen im Jugendalter pluralisiert sich vor diesem Hintergrund nochmals in queeren Kontexten – je nachdem, ob sich im Coming-out-Prozess Bezugspersonen distanzieren oder verloren gehen oder sich als verlässliche Ratgeber*innen und Begleiter*innen zeigen (vgl. Sauer/Meyer 2020: 34f.). Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung einer queeren Community, in der Akzeptanz und konkrete Hilfestellung erlebt werden kann (vgl. ebd.: 38), die aber zugleich auch die Aushandlung neuer sozialer Beziehungen, Annäherung, Auseinandersetzung und Differenzierung erfordert und ermöglicht. Die Gestaltung von Übergängen in und durch soziale Beziehungen ist für junge queere Menschen mit einer erhöhten konstitutiven Unsicherheit verbunden. Insbesondere der ›Halt‹, den familiäre, institutionelle und in gewissem Maße freundschaftliche Beziehungen als konstitutiven Ausgangspunkt versprechen, ist für sie noch weniger gewiss als für cis-heterosexuelle Jugendliche. Der Aufbau von (romantischen, emotionalen und/oder sexuellen) Beziehungen ermöglicht dann eine anderslogische Selbstgestaltung – zugleich ist sie, je mehr ein Abweichen von der Hetero- und Cisnorm im Fokus steht, mit der Frage der Initiierung und Strukturierung dieser Beziehungen behaftet. Für junge queere Menschen bleibt offen, wie sich queere soziale Beziehungen gestalten lassen.

3.2

Schule, Ausbildung und Beruf

Institutionell zeichnet sich das Jugendalter vor allem durch den Übergang von der schulischen und beruflichen Bildung bzw. dem Studium zur ersten Arbeitstätigkeit aus. In Bezug auf berufliche Übergänge lässt sich festhalten,

49

50

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

dass die Phase des Heranwachsens gegenwärtig von längeren (Aus-)Bildungszeiten geprägt ist, die auch mit einer späteren finanziellen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit einhergehen als zu Beginn der Moderne. Wenngleich der Lebenslauf mittlerweile hochgradig flexibilisiert ist, wird die chronologische Übergangsabfolge Schule–Ausbildung–Beruf noch immer vorausgesetzt. Heranwachsende sehen sich sowohl in informellen als auch in formalen Settings mit der Erfüllung normativer Vorstellungen vom Leben konfrontiert (vgl. Ecarius 2020: 44). Vor allem die Übergänge von der Ausbildung in den Beruf werden »in einer so stark auf Erwerbsarbeit bezogenen wohlfahrtsstaatlichen ›Umgebung‹« (Stauber 2020a: 5) normativ gerahmt, sodass sich Heranwachsende in dieser Phase mit gesellschaftlichen, strukturellen und institutionellen Bedingungen auseinandersetzen müssen. Im Kontext dieser Bildungsanforderungen scheint ein sogenanntes »Entwicklungsmoratorium im Jugendalter« (Reißig 2016: 14) für manche jungen Menschen kaum mehr umsetzbar zu sein. So erfordern die vermeintlichen Möglichkeitsräume im Übergang von der Schule in den Beruf bestimmte Ressourcen, auf die nicht alle Heranwachsenden zurückgreifen können. Insbesondere für junge Menschen mit niedrigem oder ohne Schulabschluss stellt der Übergang von der Schule in die Ausbildung und den Beruf ein Risiko dar. Aufkommende Passungsprobleme und/oder eine fehlende ›Ausbildungsreife‹ sind Konfliktanlässe, die den Einstieg und den damit verbundenen institutionellen Übergang in eine Ausbildung für junge Menschen nicht friktionsfrei verlaufen lassen (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Diese durchaus widersprüchlich wirkende Entgrenzung des Lebenslaufs fordert von jungen Menschen, sich auf den Weg zu machen und den Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf sowohl gemessen an ihren eigenen Erwartungen, Wünschen und Ressourcen als auch gemessen an gesellschaftlichen (An-)Forderungen aktiv zu gestalten (vgl. Gildemeister/Robert 2008: 110f.). So stellt der Übergang von der Schule in Ausbildung bzw. Beruf noch immer eine »zentrale Weichenstellung im Leben« (ebd.: 114) hinsichtlich einer gesellschaftlichen Positionierung dar. Junge Menschen müssen hierbei eine Entscheidung treffen, welchen beruflichen Weg sie einschlagen. Dies gilt jedoch nicht für alle jungen Menschen gleichermaßen: Es hängt von den Ressourcen und Ausgangslagen, den institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ab, inwiefern und ob von Wahlmöglichkeiten und Erprobungsräumen gesprochen werden kann oder es sich um Sackgassen handelt, in denen ein eingeschlagener Weg nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und Zielperspektiven teilweise begrenzt sind. In diesem Zusammen-

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

hang »wäre es zweifellos naiv, eine Übergangsentscheidung als freie Wahl souveräner Subjekte zu interpretieren« (Dausien 2014: 43). Insbesondere benachteiligte junge Menschen können den »Effekte[n] der Positionierung im sozialen Raum« (ebd.: 44) ausgeliefert sein. Damit erfahren junge Menschen im Übergang von der Schule in Ausbildung bzw. Beruf unterschiedliche biografische Bedingungen, in denen jeweils spezifische Anforderungen vermittelt und zugleich unterschiedliche Möglichkeiten und Wege hinsichtlich einer Individuierung begünstigt oder auch gehemmt werden (vgl. Ecarius 2012: 41). Für junge queere Menschen vermehren sich diese Anforderungen an eine Gestaltung bildungs- und berufsbezogener Übergänge. Sie stehen einerseits vor den schon genannten Herausforderungen. Andererseits sind sie mit cis-heteronormativen Ordnungen konfrontiert, die Strukturen und Möglichkeiten vordefinieren und damit das eigene queere (Er-)Leben durchaus irritieren, wenn nicht sogar einschränken können. Neben Diskriminierungserfahrungen sowohl bei der Stellensuche als auch bei der Beschäftigung selbst (vgl. FRA 2013: 16ff.) müssen sich junge queere Menschen in besonderer Weise mit als passend erlebten, aber geschlechtlich-sexuell markierten, Berufen auseinandersetzen. So erfährt beispielsweise das Handwerk eine geschlechtsspezifisch konnotierte Zuordnung, während Berufsgruppen wie Servicekräfte und in der Gastronomie Tätige sexuell stigmatisiert sind (vgl. Krell 2021). Ferner schwingen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstkonzept und der Umwelt bei jungen queeren Menschen häufig die Fragen mit, »ob sie so sein dürfen, wie sie sind bzw. ob sie so, wie sie sind, ›richtig‹ und anerkannt sind« (Timmermanns et al. 2017: 11). Dies kann unter anderem beinhalten, das eigene Queersein zu verbergen und nicht anzusprechen und sich im Ausbildungs- oder Arbeitskontext nicht nur eine berufliche Professionalität zu geben, sondern eine Scheinidentität aufbauen und das eigene Handeln und Sprechen kontrollieren zu müssen (vgl. Frohn 2013). Dies stellt junge queere Menschen vor die Herausforderung, auszuhandeln, was und wie viel sie von sich in den jeweiligen Kontexten zeigen wollen (vgl. Krell 2021). So macht in diesem Zusammenhang die Studie »Out im Office« (vgl. Frohn/Schmidt 2017) deutlich, dass queere Menschen Ängste haben, die Ausbildungs- und/oder Arbeitsstelle aufgrund ihres Queerseins verlieren zu können. Übergänge zwischen Bildung, Ausbildung und Beruf sind für queere junge Menschen so insbesondere mit Fragen nach der eigenen Integrität, der Diskriminierungsvermeidung und der Selbstpositionierung behaftet.

51

52

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

3.3

Geschlecht und Sexualität

Das Jugendalter zeichnet sich weiter durch Übergänge im Kontext von Geschlecht, Sexualität und Körper aus. Diese Veränderungen werden vielfach besprochen: In Talkshows und Elternratgebern, in Kinofilmen und auf Websites, unter Peers und mit dem Tagebuch werden geschlechtliche und sexuelle Übergänge im Jugendalter intensiv ausgehandelt (vgl. Buschmeyer et al. 2016; Gaupp/Buschmeyer 2017). In die jugendliche Entwicklung von Körpern, Sex, Beziehungsformen und emotionalem Erleben fließen so auch diskursive Ideale und institutionelle Skripte ein, die im eigenen Erleben ausgehandelt, ausgebildet und transformiert werden. Junge Menschen setzen sich mit der Frage heterosexueller Geschlechterbinarität auseinander, erkunden ihre sexuellen Wünsche und Fantasien und positionieren sich dazu. Sie erarbeiten sich Konzepte von Sex und Sexualität, Konsens und Übergriffigkeit, Idealen und Realität. Schließlich entwickeln sie Vorstellungen über ›richtige‹ Beziehungen und das ›erste Mal‹ und erarbeiten sich eine (Be-)Deutung von ›Liebe‹, Aufregung und Liebeskummer als Empfindung (vgl. Wendt/Walper 2013; Bauer Media Group 2016; BzgA 2015). Von der (vermeintlich) asexuellen Kindheit gehen sie durch die (vermeintlich) hypersexuelle Pubertät in ein sexuell normalisiertes Erwachsenenalter über – bzw. handeln aus, wie sie sexuell leben möchten. Auch geschlechtlich setzen sich junge Menschen mit ihrer Körperlichkeit und deren Entwicklung auseinander – deren Darstellung und Inszenierung wird dabei in einer Materialität als Empfindung wie auch als Selbstausdruck relevant. So wirkt der Körper und seine Gestaltung durch Kleidung, Sport und (semi)permanente Techniken von Make-up bis hin zu Piercings (vgl. Ganterer 2019): Junge Menschen verhalten sich durch diese Selbststilisierungen zu zahlreichen geschlechtlichen Rollenanforderungen und sind dabei gegenwärtig mit einer Vielzahl von geschlechtlich aufgeladenen Figuren und deren gegenläufigen Anforderungen konfrontiert – von aufrechter Schüchternheit bis zur Diva, vom Athleten bis zum einfühlsamen Popstar. Olaf Stuve und Katharina Debus (vgl. 2012) diskutieren, dass sich in Bezug auf Jungen weiterhin ein weißes bildungsbürgerliches Leitideal hält, das in der Gegenwart aber nicht mehr nur durch Stärke und Fitness, Selbstbewusstsein und Dominanz geprägt ist, sondern auch Elemente der Empathie, des Respekts, des Intellekts und der Emotionalität umfasst. Diese Öffnung zur Welt und zum (vor allem jugendlichen) Gegenüber ist zugleich daran gebunden, dass Jungen sich weiter selbst beherrschen, Initiative zeigen und aktiv sind – auch wenn sich der

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

Bereich anerkennbarer Aktivitäten und Erfolge ausgeweitet hat (vgl. Aktan et al. 2015; Götsch 2015; Koch-Priewe et al. 2009). Bildungsbürgerliches, weißes Mädchen-Sein stellt ebenso ein Ideal dar, neben dem aber im öffentlichen Diskurs auch andere, etwa migrantisierte oder ›bildungsferne‹ Konzepte bestehen, die anders als in der Verhandlung um Jungen als ernsthafte Konkurrenz auftreten können (vgl. Wesemüller 2010). Gemein ist diesen Leitidealen zugleich, dass sie Mädchen in ein Double Bind aus moderner Eigenverantwortung und traditionellen Geschlechterrelationen setzen: Mädchen sollen selbstbestimmt und selbstbewusst sein, aber nicht zu offensiv; stark und aktiv, aber nicht stärker als Jungen; unterstützend – untereinander, aber auch zu Jungen –, aber nicht zu mütterlich; sexuell, aber nicht zu sexy; klug, aber nicht besserwisserisch (vgl. Debus 2012; Rohmann 2007). Der Öffnung der Rollenangebote für Mädchen steht so eine Deckelung gegenüber, deren Verhältnis von den jungen Menschen selbst in ihrem geschlechtlichen Ausdruck austariert werden muss, um nicht als ›Mannsweib‹, ›Glucke‹, ›Schlampe‹ oder ›Bücherwurm‹ abgewertet zu werden. Wo entsprechende Codierungen für Jungen, etwa ›Nerd‹ oder ›Angeber‹, teilweise positiv konnotiert sind oder entsprechend angeeignet werden können, setzen sie für Mädchen eine gesellschaftliche Abwertung fort und begrenzen die Möglichkeiten ihres Selbstausdrucks. Die Komplexität eines Übergangs in der (Er-)Lebenssphäre von Geschlecht und Sexualität im Jugendalter steigt weiter durch die Anforderung der Authentizität. Junge Menschen sind nicht nur gefordert, ein annehmbares sexuelles und geschlechtliches Selbst zu entwickeln, sondern müssen – für sich selbst und andere – ein authentisches und aus sich selbst heraus evidentes ›Ich‹-Konzept präsentieren. Dieses erscheint einerseits unbestreitbar und ist in der Gegenwart zumeist als Faktum indiskutabel – es kann durch Institutionen, Freund*innen oder die eigene Kernfamilie höchstens kritisiert, aber nicht verändert werden. Andererseits sind junge Menschen dadurch genötigt, diese Selbstverständlichkeit und Anerkennung auch einzufordern (vgl. Budde et al. 2011). Sie müssen beständig daran arbeiten, ausstellen und beweisen, dass sie wirklich so sind, wie sie sich selbst zeigen. Gerade geschlechtlich und sexuell sind sie so mit einer konstitutiven Verunsicherung konfrontiert, die sie nicht auflösen können, aber beständig aushandeln und zu verschieben versuchen. Junge queere Menschen wirken unter diesen Bedingungen ebenfalls darauf hin, sich selbst geschlechtlich und sexuell so zu positionieren, dass sie sich sowohl für sich als passend erleben als auch von ihrem Umfeld aner-

53

54

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

kannt werden. Mit der dargestellten Pluralisierung von geschlechtlichen Rollenmustern und sexuellen Skripten ergeben sich dabei Spielräume, die mehr als nur die Existenz von Binärgeschlechtlichkeit und Heterosexualität denkbar machen. Mehr und mehr erscheinen burschikose Weiblichkeiten und hybride, empathische Männlichkeiten, nonbinäre Coolness und trans* Realness lebbar – es wird verhandelbar, gleichgeschlechtlich, beidgeschlechtlich, unabhängig von Geschlecht oder auch gar nicht sexuell und romantisch zu begehren. Gleichzeitig bleiben diese Positionen mit einer Differenz verbunden und erscheinen als spezifische und ›andere‹ Geschlechtlichkeiten und Sexualitäten. Undenkbar und teilweise unverfügbar für junge queere Menschen bleiben damit wiederum queere, lesbische Femme-Weiblichkeiten, die eine spezifische Weiblichkeit ins Zentrum der Selbstdarstellung rücken, wie auch geschlechternonkonforme und nichtheteronormative Männer in ihrer Männlichkeit angefochten werden. Auch ist noch keine Selbstverständlichkeit von Nichtbinarität gegeben und eine vermeintliche Inkohärenz oder Uneindeutigkeit von Namen, Körper, Pronomen und Kleidung erregt weiter Aufsehen. Trotz der verbreiteten Vorstellung, dass es sich beim Jugendalter um eine Entwicklungsphase handelt, auf deren Karenz Jugendliche teilweise bauen und in der sie sich ausprobieren können, gibt es so Fixpunkte für entsprechende Übergänge: Eine klare sexuelle und geschlechtliche Selbstverortung erscheint als Voraussetzung für Anerkennung und einen das Handeln betreffenden Entwicklungsraum. Für trans* Jugendliche bedeutet dies etwa, zwar Anerkennung zu erfahren, sich aber beständig mit den Eindeutigkeitsannahmen auseinandersetzen zu müssen, die eine umfassende körperliche Transition verlangen, eine gendernonkonforme Selbstdarstellung kritisieren und Nichtheterosexualität infrage stellen. Im Kontext sexueller Orientierung hat diese doppelte Anforderung der Authentizität und Kohärenz etwa zur Folge, das deren Unsicherheit, Veränderung und Verschiebung nur als Phase adressiert, infrage gestellt und als Problem verhandelt wird. Junge queere Heranwachsende sehen sich bei ihrer Auseinandersetzung mit Geschlecht und Sexualität weiter grundlegenden Ambivalenzen ausgesetzt, mit denen sie täglich zurechtkommen müssen. Einer Vielzahl von institutionellen Bekenntnissen und der Öffnung von Bildungseinrichtungen und Angeboten der Jugendhilfe für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt (vgl. Queerformat 2021; Kleiner 2016) steht zugleich eine Abwesenheit gleichaltriger und alltagsweltlicher Rollenvorbilder gegenüber (vgl. Krell/Oldemeier 2017): Junge queere Menschen sollen so in Schule, in Ausbildung und in Jugendzentren willkommen geheißen werden, ihnen fehlen aber zugleich

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

lokale Vorbilder, welche ähnliche Herausforderungen zu bewältigen haben. Entgegen der Selbststilisierung ökonomischer, ethnischer und rechtlicher Integrationsprozesse als völlig offen und inklusiv (vgl. Engel 2008) fehlt die Einbindung queerer Körperlichkeit und Sexualität, queerer sexueller Praxen und Wünsche in den entsprechenden Institutionen oder Angeboten. Weil queere Heranwachsende stets mit binären und heterosexuellen Normalitätsvorstellungen konfrontiert sind, sind sie auf die explizite Markierung einer Differenz im Prozess des Coming-out angewiesen, um sich selbst anderslogisch geschlechtlich und sexuell verständlich machen zu können (vgl. Brodersen 2018a). Sie können damit ihre Umwelt umgestalten, andere Bezugsweisen einfordern und sich neu inszenieren (vgl. Kleiner 2015) – zugleich sind sie wiederum gefordert, ihre Authentizität sich selbst und ihrem Umfeld gegenüber zu beweisen, indem sie erneut eine Differenz zu diesem markieren. Mehr noch verschärfen politische Darstellungen einer queeren Community, psychologische Konzepte gesunder Identität (vgl. Brodersen 2018b) und sozialpädagogische Konzepte der Problemunterstützung (vgl. Schirmer 2017) diesen Konflikt und verlangen eine eindeutige Entscheidung zwischen Sichtbarkeit und Verworfenheit. Junge queere Menschen scheinen so zwischen einer (unsichtbaren) Selbstverständlichkeit und einer differenzmarkierenden Chance auf Anerkennung wählen zu müssen.

3.4

Juristische und politische Dimension

Schließlich kommt es im Jugendalter zu Übergängen bezüglich der politischen und rechtlichen Dimension. Birgit Reißig (2019: 367) konstatiert dazu, dass das Jugendalter »vor allem von Übergängen in ein selbstverantwortetes Leben geprägt [ist]«. Relevant werden damit die Institutionalisierungen der benannten komplexen Abhängigkeitsgeflechte etwa durch Rechte und Pflichten sowie die zur Verfügung stehenden Optionen, sich politisch zu engagieren. So sind Jugendliche weitestgehend noch abhängig von den Wahlentscheidungen ihrer Mitmenschen oder von der Zustimmung ihrer Eltern zu bestimmten Entscheidungen, beispielsweise wenn es darum geht, sich piercen zu lassen oder Hormone einzunehmen. Erst mit zunehmendem Lebensalter ergeben sich für sie juristische Selbstbestimmungsmöglichkeiten – etwa die

55

56

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

formale Option, Verträge zu schließen, Alkohol zu kaufen, Sex zu haben5 , wählen zu gehen. Gleichzeitig schwingen dabei gesellschaftliche Erwartungen an Heranwachsende (vgl. ebd.: 368) – speziell die normative Anforderung, Verantwortung zu übernehmen – mit und beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung von Jugend. Sie sind nun diejenigen, die zu selbst gefällten Entscheidungen auch stehen und ihre Konsequenzen tragen müssen. Junge Menschen äußern zugleich immer wieder selbst den Wunsch nach Verantwortungsübernahme. Sie wollen über ihr eigenes Handeln und ihren Körper bestimmen und sie mischen sich in öffentliche Debatten ein: Sie wollen ihre Zukunft gestalten, indem sie sich zu gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Themen positionieren. Dafür finden sie sich regelmäßig in politischen Organisationsformen zusammen und stimmen ihre Positionen ab wie auch den Umgang mit Medienvertreter*innen und öffentlicher Kritik. Als markantes Beispiel lässt sich die Fridays-for-Future-Bewegung anführen, an der sich weltweit zahlreiche junge Menschen aktiv beteiligen. Sie sehen sich in der selbst erkannten Pflicht, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen. Junge Menschen übernehmen hierbei eine Verantwortung, die aus ihrer Perspektive von vielen Erwachsenen – und nicht zuletzt von Politiker*innen – nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen wird. Der Wunsch nach Freiheit und einer lebbaren Zukunft geht für junge Menschen mit der Notwendigkeit einher, Verantwortung für diese Prozesse zu übernehmen, indem sie aktiv ihren Protest und ihre Forderungen zum Ausdruck bringen und diese »in den Aushandlungsraum der demokratischen Öffentlichkeit« (BMFSFJ 2020: 271) hineintragen. Junge Menschen eignen sich schließlich öffentliche Räume an und fordern Teilhabe an der Gesellschaft ein. Sie wollen nicht mehr Begleitung von und Anhang zu Erwachsenen sein, sondern als Personen eigenen Rechts auch eine geteilte Öffentlichkeit nutzen können – gerade wenn ihnen eigene private Räume nicht zur Verfügung stehen oder diese beschränkt werden. Bei der interaktiven Aushandlung und der Einforderung von Selbstbestimmungsrechten, politischer wie auch öffentlicher Teilhabe ist jedoch auch jeweils die Ressourcenausstattung von Jugendlichen entscheidend. Junge weiße Menschen aus der oberen Mittelschicht, die eine hohe Bildungsnähe aufweisen und sozioökonomisch gut aufgestellt sind, erleben daher weniger Barrieren, wenn 5

Gemeint sind dabei rechtliche Rahmenbedingungen, in denen mehr oder weniger genau auf Sexualität und jugendliche Altersgrenzen eingegangen wird und die von jungen Menschen ernst genommen, verhandelt oder unterlaufen werden können.

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

sie sich, ihre Zukunft und die Gesellschaft (mit)gestalten wollen (vgl. Sommer et al. 2019: 11-14). Auch junge queere Menschen setzen sich mit ihren Rechten auseinander. Sie erleben dabei, dass sie sich auf diese beziehen und sie einfordern können. Rechtsordnungen bieten ihnen eine Rückfalloption im Fall von Diskriminierungserfahrungen oder wenn sie spezifische Unterstützungsbedarfe haben. Gleichzeitig zeigt sich für sie dabei ihre eigene Abhängigkeit. Der Besuch von Konzerten, Partys oder von potentiellen Partner*innen können von Erziehungsberechtigten ermöglicht oder auch verwehrt werden. Weiter sind insbesondere trans* Jugendliche nicht nur auf das Gewähren-Lassen, sondern auch auf die Unterstützung ihrer Erziehungsberechtigten angewiesen, wenn sie im schulischen Kontext ein Passing etablieren, Hormonblocker einnehmen oder eine therapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen müssen/möchten. So stellt sich insbesondere für sie das Recht über den eigenen Körper und dessen Vertretung durch Erwachsene (Eltern, Mediziner*innen) in einem verschärften Maße als Herausforderung und gegebenenfalls als Hürde dar. Weiter sind auch junge queere Menschen politisch aktiv und beteiligen sich an der Aushandlung einer lebenswerten Gesellschaft (s. Brodersen/ Brück/Nestler i.E.). Dies tun sie unter teilweise prekären Verhältnissen, unter Vorzeichen von (möglicher) Isolation und Exklusion – und trotzdem übernehmen sie für sich und andere Verantwortung. Junge queere Menschen eignen sich breite Wissensbestände an und werden sichtbar, geben ihr Wissen und teilweise auch ihre Erfahrungen zu Geschlecht und Sexualität an nichtqueere Menschen weiter – jeweils mit dem Ziel, Strukturen zu schaffen, die nachfolgenden jungen queeren Menschen Chancen auf Resonanz und Anerkennung eröffnen. Reaktionen auf dieses Engagement in Form von Zuspruch, Bestätigung und authentischem Interesse können positiv als Anerkennung erlebt werden, können aber zugleich auch eine Belastung darstellen, wenn grenzüberschreitende und exotisierende Fragen an sie herangetragen werden.

4.

Queere Übergänge – Ein Fazit

Der Beitrag hat aufgezeigt, dass junge queere Menschen zunächst wie alle jungen Menschen mit unterschiedlichen komplexen Übergängen konfrontiert sind und ihnen dabei eine Bewältigung auch krisenhafter Tendenzen abver-

57

58

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

langt wird. Insbesondere bei queeren Menschen ist davon auszugehen, dass diese krisenhaften Situationen verstärkt zutage treten. So können und müssen sie sich anders als cis-heterosexuelle junge Menschen mit beruflichen und schulischen, sozialen und beziehungsbezogenen, sexuellen und geschlechtlichen, rechtlichen und politischen Veränderungen auseinandersetzen und diese gestalten. Dabei stehen sie wie alle jungen Menschen vor verschiedenen Herausforderungen, nutzen ihre Ressourcen, erweitern und transformieren ihr Handeln oder scheitern daran. Es sind jedoch ihre spezifischen Lebensumstände und die gesellschaftlichen Reaktionen auf ihre Queerness, die sie mit zumeist zusätzlichen und teilweise veränderten Übergangsbedingungen konfrontieren, sie in eine prekäre Lage versetzen oder sie bestenfalls auch stützen und entlasten. Auch wenn junge Menschen diese Übergänge in unterschiedlichen (Er-)Lebenssphären selbst bewältigen müssen (vgl. Stauber 2014; Schlimbach 2019; Reißig et al. 2018), entstehen innerhalb von formalen (vgl. Braun et al. 2011) und non-formalen Bildungseinrichtungen (vgl. Zeller/Köngeter 2013) institutionalisierte Strukturen und Angebote, die Übergänge begleiten und dabei helfen sollen, den Lebenslauf zu organisieren (vgl. Amos 2013). Je nach Ausrichtung und Zielsetzung können hierbei Prozesse der Selbstbildung wie auch Passungsprozesse hinsichtlich gesellschaftlicher und eigener Bildungsorientierungen angestoßen und befördert werden (vgl. Hermes 2018: 21). Neben Formaten wie den Freiwilligendiensten oder der offenen Jugendarbeit gibt es auch gezielt auf das Passungsverhältnis ausgerichtete Angebote und Maßnahmen wie beispielsweise in der Jugendsozialarbeit oder im Übergangssystem (vgl. Reißig 2012; Walther 2016; Walther/Weinhardt 2016; s. zudem Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Diese beispielhaft aufgeführten gesellschaftlichen Systeme sind Teil eines institutionellen Lebenslaufs, da die in ihnen verankerten Ziele und Inhalte sich spezifisch auf Übergänge beziehen, diese fördern und ermöglichen – und damit eine sozialstaatliche Gewährleistung der Transitionsmöglichkeiten und der (gesellschaftlich anvisierten) Transitionsergebnisse darstellen. Im Fokus stehen hierbei berufliche und bildungsbezogene Kompetenzen, denen gleichzeitig weitere soziale, emotionale und intellektuelle Entwicklungen zugeordnet werden. Diese institutionelle Rahmung konfrontiert junge queere Menschen einmal mehr mit Herausforderungen: Sie müssen sich mit den Anforderungen und Erwartungen einer gesellschaftlichen Modernisierung auseinandersetzen und sich innerhalb dieser qualifizieren. Sie müssen Verantwortung für das eigene Lebenskonzept übernehmen und sich zugleich gegenüber cis-heteronorma-

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

tiven Annahmen positionieren. Und sie müssen innerhalb eines wiederum institutionalisierten Übergangs mit dessen Eigenlogiken, Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen umgehen. Welche Erfahrungen junge queere Menschen dabei speziell in diesem gesellschaftlichen Teilsystem machen und wie diese Erfahrungen institutionell und rechtlich gerahmt werden, diskutieren die weiteren Artikel in diesem Band.

Literatur Aktan, O./Hippmann, C./Meuser, M. 2015: »Brave Mädchen«? Herstellung von Passfähigkeit weiblicher Peerkulturen durch Schülerinnen und Lehrkräfte. In: Gender, 7, 1, S. 11-28. Amos, K. S. 2013: Übergänge und Governance im Bildungssystem. In: Schröer, W./Stauber, B./Walther, A./Böhnisch, L./Lenz, K. (Hg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 912-928. Bauer, U. 2020: Wodurch bleibt die Jugendphase signifikant? Die theoretische Verortung der Jugendphase zwischen Habitusgenese, Autonomiebestreben und intensiver Mentalisierung. In: Heinen, A./Wiezorek, C./Willems, H. (Hg.): Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Zur Notwendigkeit einer »Neuvermessung« jugendtheoretischer Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 54-70. Bauer Media Group 2016: Bravo Dr. Sommer Studie. Hamburg: Bauer Media Group. Beck, U. 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Becker, B. 2020: Lebensverlaufsforschung und Übergangsforschung. In: Walther, A./Stauber, B./Rieger-Ladich, M./Wanke, A. (Hg.): Reflexive Übergangsforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Herausforderungen. Opladen/Berlin: Barbara Budrich, S. 63-80. Bitzan, M./Bolay, E. 2017: Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Opladen/Toronto: Barbara Budrich. Bock, K./Grunert, C./Pfaff, N./Schröer, W. 2020: Einleitung: Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung – ein Aufbruch. In: Bock, K./Grunert, C./Pfaff, N./Schröer, W. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-12. Böhnisch, L./Schröer, W. 2008: Entgrenzung, Bewältigung und agency – am Beispiel des Strukturwandels der Jugendphase. In: Homfeldt, H. G./

59

60

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

Schröer, W./Schweppe, C. (Hg.): Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 47-57. Böhnisch, L./Schröer, W./Thiersch, H. 2005: Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim/München: Juventa. Braun, F./Reißig, B./Richter, U. 2011: Regionales Übergangsmanagement Schule–Berufsausbildung. Handlungsempfehlungen der wissenschaftlichen Begleitung. München/Halle: Deutsches Jugendinstitut e.V. Brodersen, F. 2018a: Gestalt(ung) des Coming-out. Lesbische und schwule Jugendliche und junge Erwachsene in der Ökonomie der Sichtbarkeit. In: Gender, 10, 3, S. 85-100. Brodersen, F. 2018b: Zum sozialpsychologischen Konzept internalisierter Homophobie. Eine Rekonstruktion »integrierter Identität« als Emanzipationsvision. In: Open Gender Journal, 2. Brodersen, F. 2019: Form und Verjugendlichung von Coming-out als Statuspassage. Zum produktiven Verhältnis von Jugendforschung und Diversitätsorientierung. In: Heinen, A./Wiezorek, C./Willems, H. (Hg.): Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Zur Notwendigkeit einer »Neuvermessung« jugendtheoretischer Positionen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 144-157. Brodersen, F. 2020: Strategien des ›I _ gay‹. Coming-out und Politiken der Sichtbarkeit. In: Open Gender Journal, 4. Brodersen, F./Brück, J./Nestler, T. i.E.: »Wir sind hier, wir sind queer!« Auseinandersetzungen queerer Jugendlicher mit Sichtbarkeit, Coming-out und Selbstbezeichnungen. In: Trau, K./Baglikow, S. (Hg.): Anders, Außen, Avantgarde. Zwischen Ohnmacht und Stärke, Mainstream und Subkultur. Hamburg: Männerschwarm Verlag. Budde, J./Debus, K./Krüger, S. 2011: »Ich denk nicht, dass meine Jungs einen typischen Mädchenberuf ergreifen würden.« Intersektionale Perspektiven auf Fremd- und Selbstrepräsentationen von Jungen in der Jungenarbeit. In: Gender, 3, 3, S. 119-127. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017: Der 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020: Der 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin.

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

Buschmeyer, A./Schutter, S./Kortendiek, B. 2016: Gemachte Verhältnisse. Forschungsperspektiven auf Kindheit, Jugend und Geschlecht. In: Gender, 8, 3, S. 7-11. BzgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2015: Jugendsexualität – Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Köln. Dausien, B. (2014): »Bildungsentscheidungen« im Kontext biografischer Erfahrungen und Erwartungen. Theoretische und empirische Argumente. In: Miethe, I./Ecarius, J./Tervooren, A. (Hg.): Bildungsentscheidungen im Lebenslauf. Perspektiven qualitativer Forschung. Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 39-61. Debus, K. 2012: Und die Mädchen? Modernisierungen von Weiblichkeitsanforderungen. In: Dissens e.V./Debus, K./Könnecke, B./Schwerma, K./ Stuve, O. (Hg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin: Dissens e.V., S. 103-124. Ecarius, J. 2012: ›Generationenordnung‹ der Jugendphase: Zum Wandel von Jugendkonzeptionen und gegenwärtigen Sozialisationskontexten. In: Ecarius, J. (Hg.): Jugend und Differenz. Aktuelle Debatten der Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 27-50. Ecarius, J. 2020: Jugend: Moderne und spätmoderne Generationsmuster. In: Grunert, C./Bock, K./Pfaff, N./Schröer, W. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 35-52. Engel, A. 2008: Gefeierte Vielfalt. Umstrittene Heterogenität. Befriedete Provokation. Sexuelle Lebensformen in spätmodernen Gesellschaften. In: Bartel, R./Howarth, I./Kannonier-Finster, W./Mesner, M./Pfefferkorn, E./ Ziegler, M. (Hg.): Heteronormativität und Heterosexualitäten. Innsbruck: Studienverlag, S. 43-64. Erikson, E. H. 1973: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Focks, P. 2014: Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews. Berlin: Katholische Hochschule für Sozialwesen. FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2013: LGBTErhebung in der EU – Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg. Franzen, J./Sauer, A. 2010: Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

61

62

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

Frohn, D. 2013: Subjektive Theorien von lesbischen, schwulen und bisexuellen bzw. transidenten Beschäftigten zum Umgang mit ihrer sexuellen bzw. ihrer Geschlechtsidentität im Kontext ihrer beruflichen Tätigkeit – eine explorative qualitative Studie. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum Qualitative Social Research, 14, 3. Frohn, D./Meinhold, F./Schmidt, C. 2017: Out im Office. Sexuelle Identität und Geschlechtsidentität, (Anti-)Diskriminierung und Diversität am Arbeitsplatz. Köln: Schwules Netzwerk NRW e.V. Fuchs, W./Ghattas, D. C./Reinert, D./Widmann, C. 2012: Studie zur Lebenssituation von Transsexuellen in Nordrhein-Westfalen. Köln: Lesben- und Schwulenverband – Landesverband Nordrhein-Westfalen. Ganterer, J. 2019: Körpermodifikationen und leibliche Erfahrungen in der Adoleszenz. Eine feministisch-phänomenologisch orientierte Studie zu Inter-Subjektivierungsprozessen. Opladen: Barbara Budrich. Gaupp, N./Buschmeyer, A. 2017: Lebenssituation und Alltagserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen. In: Diskurs, 12, 2, S. 127-130. Gildemeister, R./Robert, G. 2008: Geschlechterdifferenzierungen in lebenszeitlicher Perspektive. Interaktion – Institution – Biografie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Götsch, M. 2015: Modernisiertes Patriarchat? Von der heterosexuellen Liebe zwischen ›Schlampen‹, ›Prinzessinnen‹ und ›(Nicht-)Rittern‹, wie sie Jugendliche erzählen. In: Gender, 8, 1, S. 27-42. Gregor, J. 2015: Constructing Intersex: Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie. Bielefeld: transcript. Groß, M./Niedenthal, K. 2021: Geschlecht: divers. Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit. Bielefeld: transcript. Grundmann, M. 2020: Doing Youth. Eine Bestimmung von Jugend als sozialisatorische Praxis. In: Heinen, A./Wiezorek, C./Willems, H. (Hg.): Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Zur Notwendigkeit einer »Neuvermessung« jugendtheoretischer Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 14-27. Hark, S. 2002: Junge Lesben und Schwule. Zwischen Heteronormativität und posttraditionaler Vergesellschaftung. In: Diskurs, 12, 1, S. 50-58. Hermes, M. 2018: Übergänge im Bildungssystem. Vermessungen subjektorientierter Forschung. In: Soziale Arbeit, 67, 1, S. 20-25.

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

Kleiner, B. 2015: subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. Kleiner, B. 2016: Komplizierte Verhältnisse. Geschlecht und Begehren in schulbiographischen Erzählungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und Trans-Jugendlichen. In: Gender, 8, 3, S. 12-28. Koch-Priewe, B./Niederbacher, A./Textor, A./Zimmermann, P. 2009: Jungen – Sorgenkinder oder Sieger? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Krell, C. 2021: Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. Krell, C./Oldemeier, K. 2016: »I am what I am?« – Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans und queeren Jugendlichen in Deutschland. In: Gender, 8, 2, S. 46-64. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Coming-outVerläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen/Berlin: Barbara Budrich. Mansel, J./Kahlert, H. 2007: Arbeit und Identität im Jugendalter. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Strukturkrise auf Sozialisation. Weinheim: Juventa. Mey, G. 2011: Immer diese Jugendforschung! In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 35, 2, S. 27-49. Nestler, T. 2018: Wider der Anpassung – Queere Perspektiven auf Widerstand. »This is what trans looks like!« – Eine qualitative Forschung zu Trans*personen in Deutschland. Unveröffentlichte Masterarbeit. Hochschule Esslingen. Oldemeier, K. 2021: Geschlechtlicher Neuanfang. Narrative Wirklichkeiten junger divers* und trans*geschlechtlicher Menschen. Opladen/Berlin: Barbara Budrich. Olk, T. 1984: Jugend und gesellschaftliche Differenzierung – Zur Entstrukturierung der Jugendphase. In: Heid, H./Klafki, W. (Hg.): Arbeit – Bildung – Arbeitslosigkeit. Beiträge zum 9. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 26. bis zum 28. März 1984. Weinheim: Beltz, S. 290-301. Prescher, J./Walther, A. 2018: Jugendweihefeiern im Peerkontext. Ethnografische Erkundungen zur Gestaltung eines Übergangsrituals am Beispiel

63

64

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

des Rundgangs am Jugendabend. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 3, S. 307-320. Queerformat 2021: Queer-inklusives pädagogisches Handeln: Eine Praxishilfe für Jugendeinrichtungen. Berlin. Reißig, B. 2012: Die Potenziale berufsvorbereitender Angebote. Welche Kompetenzen erwerben Jugendliche im sogenannten Übergangssystem? In: DJI-Impulse. Der andere Blick auf Bildung. Über die unterschätzten Potenziale außerschulischer Bildung, 100, 4, S. 17-19. Reißig, B. 2016: Übergänge von der Schule in den Beruf. Forschungsbefunde und Herausforderungen. In: Kühnel, W./Zifonun, D. (Hg.): Übergänge erfolgreich gestalten. Übergangsmanagement Schule – Ausbildung – Studium. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 12-28. Reißig, B. 2019: Übergänge im Jugendalter – Alte Anforderungen, neue Herausforderungen?! In: Jugendhilfe, 57, 4, S. 367-373. Reißig, B./Tillmann, F./Steiner, C./Recksiedler, C. 2018: Was kommt nach der Schule? Wie sich Jugendliche mit Hauptschulbildung auf den Übergang in die Ausbildung vorbereiten. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. Rohmann, G. 2007: Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen. Berlin: Archiv der Jugendkulturen. Sauer, A./Meyer, E. 2020: Wie ein grünes Schaf in einer weißen Herde. Lebenssituationen und Bedarfe von jungen Trans*-Menschen in Deutschland. Berlin. Scherr, A. 2016: Jugenden. In: Scherr, A. (Hg.): Soziologische Basics. Wiesbaden: Springer VS, S. 147-155. Schierbaum, A. 2018: Herausforderungen im Jugendalter. Wie sich Jugendliche biographischen und gesellschaftlichen Anforderungen zuwenden. Eine rekonstruktive Studie zu weiblicher Adoleszent und Sozialisation. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Schierbaum, A. 2020: Jugend – ein ›biographisches Projekt‹? In: Heinen, A./ Wiezorek, C./Willems, H. (Hg.): Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Zur Notwendigkeit einer »Neuvermessung« jugendtheoretischer Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 102-117. Schirmer, U. 2017: Zwischen Ausblendung und Sozialpädagogisierung? Dilemmata bei der Konstruktion von LSBT*-Jugendlichen als Zielgruppe Sozialer Arbeit. In: Diskurs, 12, 2, S. 177-189. Schlimbach, T. 2019: Berufswege verhandeln. Übergangsbezogene Austauschprozesse zwischen migrantischen Jugendlichen und ihren Eltern. In: Geisen, T./Iller, C./Kleint, S./Schirrmacher, F. (Hg.): Familienbildung in

Queere Jugend und ihre Übergänge – Aufwachsen unter ambivalenten Anforderungen

der Migrationsgesellschaft. Interdisziplinäre Praxisforschung. Münster: Waxmann, S. 205-222. Schröer, W. 2013: Entgrenzung, Übergänge, Bewältigung. In: Schröer, W./ Stauber, B./Walther, A./Böhnisch, L./Lenz, K. (Hg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 64-79. Sommer, M./Rucht, D./Haunss, S./Zajak, S. 2019: Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perpsektiven der Protesbewegung in Deutschland. Ipb working papers 2/2019. Berlin. https://www.boell.de/sites/default/files/fr idays_for_future_studie_ipb.pdf [Zugriff: 03.05.2022]. Stauber, B. 2014: Zur Gestaltung biografischer Übergänge im jugendkulturellen Bereich. Wiesbaden: Springer VS. Stauber, B. 2020a: Jugend, Ausbildung und Beruf. In: Krüger, H./Grunert, C./ Ludwig, K. (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS. Stauber, B. 2020b: Jugendkulturelle Praktiken als Formen der Übergangsgestaltung. In: Grunert, C./Bock, K./Pfaff, N./Schröer, W. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung. Ein Aufbruch. Wiesbaden: Springer VS, S. 145-163. Stauber, B./Walther, A. 2013: Junge Erwachsene – eine Lebenslage des Übergangs? In: Schröer, W./Stauber, B./Walther, A./Böhnisch, L./Lenz, K. (Hg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 270-290. Stuve, O./Debus, K. 2012: Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In: Dissens e.V./Debus, K./Könnecke, B./Schwerma, K./Stuve, O. (Hg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin: Dissens e.V., S. 43-60. Timmermanns, S./Thomas, P. M./Uhlmann, C. 2017: Dass sich etwas ändert und sich was ändern kann. Ergebnisse der LSBT*Q-Jugendstudie »Wie leben lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche in Hessen?«. Wiesbaden: Hessischer Jugendring e.V. Walther, A. 2016: Übergangsberatung: Grundlagen und Perspektiven. In: Gieseke, W./Nittel, D. (Hg.): Handbuch Pädagogische Beratung über die Lebensspanne. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 644-656. Walther, A./Stauber, B./Rieger-Ladich, M./Wanke, A. (Hg.) 2020: Reflexive Übergangsforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Herausforderungen. Opladen/Berlin: Barbara Budrich.

65

66

Jasmin Brück/Folke Brodersen/Thomas Nestler

Walther, A./Weinhardt, M. 2016: Organisation und Organisationen von Beratung im Übergang. In: Althans, B./Engel, J. (Hg.): Responsive Organisationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 307-327. Wendt, E.-V./Walper, S. 2013: Sexualentwicklung und Partnerschaften Jugendlicher. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 15- bis 17Jährigen. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 33, 1, S. 62-81. Wesemüller, E. 2010: »Du Gymnasium-Mädchen!« Zur Relevanz der Kategorie Klasse. In: Busche, M./Maikowski, L./Pohlkamp, I./Wesemüller, E. (Hg.): Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Bielefeld: transcript, S. 5984. Zeller, M./Köngeter, S. 2013: Übergänge in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schröer, W./Stauber, B./Walther, A./Böhnisch, L./Lenz, K. (Hg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 568-588. Zizek, B. 2020: Adoleszente als Bewährungssucher – Charakteristika, Tendenzen und Probleme im Prozess des Erwachsenwerdens anhand eines internationalen Vergleichs. In: Heinen, A./Wiezorek, C./Willems, H. (Hg.): Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Zur Notwendigkeit einer »Neuvermessung« jugendtheoretischer Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 158-176.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

Im folgenden Beitrag wird das Übergangssystem als Handlungsfeld, auf das sich die im vorliegenden Band versammelten Forschungen und Ausführungen beziehen, vorgestellt und kritisch eingeordnet. Dabei werden juristische Festlegungen und die darin sich manifestierenden Förderlogiken diskutiert. Die im Zuge dieser Diskussion deutlich werdenden Spannungsfelder sind auch für die Soziale Arbeit und ihr Professionsverständnis im Übergangssystem relevant. Da in diesem Bereich wesentlich Fachkräfte der Sozialen Arbeit tätig sind, ergeben sich spezifische Herausforderungen für diese.

1.

Einführung in das Übergangssystem in Deutschland

Mit dem Übergangssystem werden Bildungsstrukturen für junge Menschen in Deutschland bezeichnet, denen nach der allgemeinbildenden Schule der Einstieg in Ausbildung oder Erwerbsarbeit nicht gelingt (vgl. Stauber/Walther 2018: 1791). Das Übergangssystem wurde nach dem ersten Erscheinen des Nationalen Bildungsberichts (2006) in Deutschland zusätzlich zum dualen System und zum Schulberufssystem in den Katalog der beruflichen Bildung aufgenommen. Es bietet zahlreiche Bildungsangebote, die jedoch – anders als die Angebote im dualen und im (berufs)schulischen System – nicht zu einem anerkannten Ausbildungsabschluss führen (vgl. Schultheis et al. 2020: 1). In Deutschland dominiert im Gegensatz zu den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union die duale Berufsausbildung (vgl. ebd.). In dieser wird die Berufsausbildung an zwei Lernorten durchgeführt. Die praktischen Ausbildungsinhalte werden vom Ausbildungsbetrieb vermittelt, die theoretischen Elemente in der Berufsschule erarbeitet. Bei zahlreichen Berufen erfolgt die

68

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

Ausbildung jedoch im Schulberufssystem, bei dem die Schule als Lernort vorherrscht. Für junge Menschen, die keinen direkten Zugang zum dualen oder (berufs)schulischen Ausbildungssystem finden, bildet das Übergangssystem ein verzweigtes Geflecht, das sie im Übergang unterstützt und nachqualifiziert. Die Angebote zielen in erster Linie auf die Verbesserung der für die Aufnahme einer Ausbildung oder einer Beschäftigung erforderlichen individuellen Kompetenzen von Jugendlichen ab und sollen zum Teil das Nachholen eines (weiteren) allgemeinbildenden Schulabschlusses ermöglichen (vgl. Maier 2021: 1). Nach deutlichen Rückgängen der Anfänger*innenzahlen im Übergangsbereich zwischen 2005 (417.600) und 2014 (252.700) ist die Zahl der Teilnehmenden in den Jahren 2015 und 2016 in erster Linie wegen der zunehmenden Zahl geflüchteter Menschen in den Maßnahmen wieder gestiegen. Danach ist die Zahl der Teilnehmenden wieder gesunken. Nach dem Datenreport zum Berufsbildungsbericht (BIBB 2020: 88) sind im Jahr 2019 unter allen neu Teilnehmenden 38,6 Prozent weibliche Personen in die Maßnahmen des Übergangssystems eingemündet. Anzumerken ist hier, dass die Personen mit Signierung des Geschlechts als ›divers‹ bzw. ›ohne Angabe‹ nicht separat aufgeführt, sondern dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. 32,0 Prozent besaßen keinen deutschen Pass. Im Jahr 2018 haben 30,6 Prozent der Teilnehmenden die Maßnahmen ohne einen Hauptschulabschluss besucht. 41,4 Prozent besaßen einen Hauptschulabschluss, 19,5 Prozent einen mittleren Abschluss und 1,8 Prozent die (Fach-)Hochschulreife. Die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020: 10) weist darauf hin, dass zwar die Zahl der jungen Menschen im Übergangssystem gesunken sei, die sozialen Disparitäten aber weiterhin bestünden. Lediglich ein Viertel der Jugendlichen ohne Schulabschluss und drei Fünftel der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss hätten im Jahr 2018 eine vollqualifizierende Ausbildung begonnen. Anhaltende Schwierigkeiten im Ausbildungszugang seien außerdem für junge Menschen ohne deutschen Pass festzustellen. Weiterhin spiegelten sich diese Disparitäten in stark ausdifferenzierten Übergangswegen mit wiederholten Schleifen im Übergangssektor oder in fragmentierten Verläufen mit häufigen Wechseln zwischen Bildungs-, Erwerbs- und Erwerbsarbeitslosigkeitsphasen wider (vgl. ebd.). Anhand dieser Befunde lässt sich festhalten, dass trotz vielfältiger sozialpolitischer Bemühungen das Übergangssystem nicht hinfällig geworden ist. Auch im Jahr 2020 mündete eine nicht unbeträchtliche Zahl von jungen Menschen (250.000) in das Übergangssystem ein – zuzüglich zu den jungen Menschen, die sich dort schon in Maßnah-

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

men befanden. Nach dem Verlassen der Schule beginnen diese sich im Übergangssystem befindlichen jungen Menschen ihren Start ins Berufsleben mit Unsicherheit und ohne konkrete Berufsbildungsperspektive. Dabei wird jungen Menschen ein hohes Maß an motivationaler Stabilität abverlangt. Die Befürchtung der Autorengruppe Bildungsberichterstattung von 2006, dass Jugendliche, je länger die Unsicherheit anhalte, die Ausbildungsmotivation verlieren würden, resignierten und dadurch von sozialer Ausgrenzung bedroht seien (vgl.Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006: 82), bleibt virulent. Diese sozial- und bildungspolitische Herausforderung muss im Besonderen – jetzt auch durch die auftretenden Verwerfungen im Lichte der Corona-Pandemie – sehr ernst genommen werden.1 Hinzu kommt, dass die Lebenslagen junger Menschen in der Bundesrepublik durch erhebliche soziale Ungleichheiten gekennzeichnet sind und die soziale Herkunft weiterhin eng mit dem Bildungserfolg verknüpft ist (BMFSJ 2017: 54). Auch sind letztlich noch rassistische Hürden für junge Menschen mit Migrationshintergrund zu vermuten, da diese über Jahre hinweg überproportional im Übergangssystem aufzufinden waren. »Deutlich öfter als Bewerber/-innen ohne Zuwanderungsgeschichte gingen Migranten und Migrantinnen weiter auf eine allgemeinbildende Schule, besuchten eine teilqualifizierende berufsbildende Schule oder nahmen an anderen teilqualifizierenden Bildungsarten teil. Hierbei handelte es sich um ein Berufsvorbereitungsjahr o.Ä., eine berufsvorbereitende Maßnahme der Arbeitsagentur, eine betriebliche Einstiegsqualifizierung (EQ) oder ein anderes Praktikum. Ein Verbleib in Schule oder Teilqualifizierung war besonders häufig bei Migranten und Migrantinnen ohne eigene Zuwanderungserfahrung oder mit türkisch-arabischer Herkunft zu verzeichnen.« (Beicht 2017: 25)2 Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung des Übergangssystems durch die pandemiebedingten Veränderungen auf dem Ausbildungsmarkt noch verstärkt werden wird (vgl. Fuchs/Gellermann 2021: 284).

1 2

Wie sich die Situation durch junge Geflüchtete aus der Ukraine verändert, lässt sich momentan noch nicht empirisch abgesichert sagen. In der vom Bundesinstitut für Berufsbildung herausgegebenen Studie von Ursula Beicht (2017) wurden Verläufe von 2004 bis 2016 untersucht und verglichen.

69

70

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

2.

Maßnahmen und Förderlogiken des Übergangssystems

Die Angebote des Übergangssystems strukturiert und kurz darzustellen, ist insofern mit einer gewissen Herausforderung verbunden, als schon der Begriff und die Grenzen dessen, was noch zu den Übergangsmaßnahmen zählt, nicht trennscharf zu definieren sind. Nebeneinander existieren vielzählige Maßnahmen unterschiedlicher Träger, zu denen insbesondere die Agentur für Arbeit (Rechtskreis der Arbeitsförderung [SGB III]), das Jobcenter (Rechtskreis der Grundsicherung für Arbeitssuchende [SGB II], zukünftiges Bürgergeld) und nicht zuletzt die Jugendämter (Rechtskreis der Kinder- und Jugendhilfe [SGB VIII]) zählen. Obwohl der überwiegende Teil der Übergangsmaßnamen inzwischen aus den Töpfen der Arbeitsförderung und Grundsicherung finanziert wird (vgl. Münder/Hofmann 2017: 46), hält sich alltagssprachlich weiter auch der Begriff der Jugendberufshilfe (JBH) für das gesamte Übergangsspektrum, auch wenn mit der JBH eigentlich nur die wenigen Angebote der Jugendhilfe nach § 13 SGB VIII erfasst sind. Dieser Sprachgebrauch ist historisch begründet, da in den Zeiten hoher Jugenderwerbslosigkeit (insbesondere Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre; vgl. Raithel 2012: 121f.) gerade der JBH eine tragende Rolle zukam. Seit Einführung der Hartz-IVGesetze regeln die §§ 10 Abs. 1 und 13 Abs. 2 S. 1 SGB VIII jedoch den Vorrang des SGB II/III, wenn die Maßnahmen primär auf die arbeitsmarktbezogene Teilhabe zielen (detailliert zu den Schnittstellen: Münder/Hofmann 2017: 32; Schruth 2018). Infolgedessen haben sich die Jugendhilfeträger deutlich aus dem Bereich zurückgezogen, wenngleich sie weiterhin primär für sozialpädagogische, entwicklungsbezogene Maßnahmen in der Verantwortung sind. In diesen Fällen, in denen es im Sinne des SGB II/III nicht reicht, junge Menschen ›fit für die Teilhabe am Arbeitsmarkt‹ zu machen, sind die von einem ganzheitlicheren Ansatz geprägten Angebote der JBH nicht nachrangig und Jugendliche mit Förderbedarf können so nicht auf die primär arbeitsmarktbezogenen Maßnahmen des SGB II verwiesen werden (vgl. Schruth 2018: 91). Über alle Träger hinweg gruppieren sich die Angebote des Übergangsbereichs vorrangig um berufliche Ausbildung und Erwerbsarbeit. Alle regionalen Träger sind zu einer Kooperation und Abstimmung der Maßnahmen verpflichtet, wie gerade die Präzisierung zu § 13 Abs. 4 SGB VIII in der KJSG-Novelle 2021 noch einmal deutlich macht. Hiernach besteht eine Abstimmungsverpflichtung (vgl. Kepert/Dexheimer 2022: § 13, Rn. 24) bezüglich der JBH-Angebote mit den Maßnahmen der Schulverwaltung, der

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Bundesagentur für Arbeit, der Jobcenter, der Träger betrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildung sowie der Träger von Beschäftigungsangeboten (vgl. die allgemeinen Kooperationsverpflichtungen nach § 18 SGB II und § 81 SGB VIII). Ein Beispiel für die rechtskreisübergreifende kommunale Zusammenarbeit sind etwa die Jugendberufsagenturen, in denen sich die verschiedenen Träger in örtlichen Kooperationsprojekten zusammenschließen, um jungen Menschen Integrationsleistungen aus einer Hand anzubieten. Für zusätzliche Verwirrung sorgt die praktische Ausgestaltung der Umsetzung der Maßnahmen, da diese meist nicht von den drei oben genannten öffentlich-rechtlichen Sozialleistungsträgern direkt, sondern vielmehr von freien Trägern mit unterschiedlichsten Rechtsformen (etwa als Verein, GmbH, GbR, Genossenschaft) angeboten werden – lediglich die Bereitstellungsverpflichtung und Finanzierung obliegen den Sozialleistungsträgern. Viele Maßnahmen sind zudem in (beruflichen) Schulen (etwa infolge der fortbestehenden Schulpflicht) angesiedelt. Daneben legen Bund und Länder oder auch die EU unterschiedliche Programme auf (zum Beispiel »Jobstarter« des BMBF, »Willkommenslotsen« über den ESF oder das baden-württembergische »Kümmerer-Programm«), die zum Teil spezifische Zielgruppen wie etwa »Geflüchtete« adressieren. Es wundert also nicht, dass für diesen Übergangsbereich häufig die Metaphern des Dschungels, Labyrinths, Flickenteppichs oder – in Anspielung auf die unklaren Zuständigkeiten – auch des ›Bermudadreiecks‹ verwendet werden. Die vielzähligen Akronyme, mit denen die Maßnahmen abgekürzt werden (EQ, BGJ, BVB, BerEB etc.), trennen noch einmal informierte Insider von ihren überforderten Gegenübern. Erläuterungen zu den Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen können im Glossar zum vorliegenden Band nachgelesen werden. Den inhaltlichen Zielsetzungen des Maßnahmenkatalogs nähern wir uns in einem weiten Verständnis des Übergangsbereichs mit Mairhofer (2017) sowie Enggruber/Fehlau (2018b). 3

3

Nach dem engen Begriff zählt beispielsweise die Berufsorientierung nicht zum Übergangssystem, da sie kein Bildungsangebot darstellt. Auch bei den sozialpädagogischen Begleitungsangeboten lässt sich zweifeln, ob sie noch dazugehören. Da jedoch all diese Maßnahmen der Unterstützung des Übergangs von jungen Menschen dienen, greifen wir sie hier mit auf.

71

72

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

a.

Zuständigkeiten nach Rechtskreisen

Agenturen für Arbeit (SGB III): Maßnahmen des Übergangssystems werden zum Großteil über die Arbeitsförderung der Bundesagentur für Arbeit nach dem SGB III finanziert. Für unter 25-Jährige können neben der Beratung (§ 29 SGB III) und der Vermittlung in Ausbildungsstellen (§§ 35ff. SGB III) beispielsweise Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (§ 45 SGB III), berufsorientierende sowie berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (§§ 48, 51ff. SGB III) gefördert werden. Jobcenter (SGB II): Für Jugendliche, die existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II beziehen (ALG II), greifen insbesondere die Eingliederungsleistungen nach §§ 16a–h SGB II. Während die kommunalen Leistungen nach § 16a SGB II etwa auch die Sucht- oder Schuldenberatung sowie die psychosoziale Betreuung vermitteln, erlaubt § 16h SGB II spezifische Förderleistungen für schwer zu erreichende junge Menschen, mit dem Ziel, eine schulische, ausbildungsbezogene oder berufliche Qualifikation abzuschließen oder anders ins Arbeitsleben einzumünden und Sozialleistungen zu beantragen oder anzunehmen. Insbesondere geht es bei diesen Leistungen darum, über zusätzliche niedrigschwellige Betreuungs- und Unterstützungsangebote sogenannte entkoppelte Jugendliche wieder an die Hilfesysteme heranzuführen. Über die Überleitung gemäß § 16 SGB II stehen den SGB II-Bezieher*innen auch die Arbeitsförderungsangebote des SGB III zur Verfügung. Schließlich erlaubt § 16f SGB II Jobcentern, im Rahmen der freien personen- oder projektbezogenen Förderung spezifisch zugeschnittene Programme aufzulegen. Jugendämter (SGB VIII): Die Jugendberufshilfe im engeren Sinne wird über § 13 SGB VIII als Teil der Jugendsozialarbeit gewährt. § 13 Abs. 1 SGB VIII zufolge sollen jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Maßnahmen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, ihre Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern.   Nach § 13 Abs. 2 SGB VIII können zudem geeignete sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen angeboten werden, die den Fähigkeiten und dem Entwicklungsstand der Jugendlichen Rechnung tra-

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

gen, soweit die Ausbildung nicht durch Maßnahmen und Programme anderer Träger sichergestellt wird. § 13 Abs. 3 SGB VIII ermöglicht überdies die Finanzierung einer Unterkunft in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen wie auch des notwendigen Lebensunterhalts.

b.

Förderlogiken und -praxen des Übergangssystems

Allen Maßnahmen des Übergangssystems (auch denen des SGB II und III) ist zunächst gemeinsam, dass sie auf die Überwindung von ›Integrationshemmnissen‹ zielen. Die Regelungen stellen hierfür meist direkt oder zumindest vermittelt auf individuelle Gründe, teilweise aber auch auf soziale Benachteiligungen ab. Neben primär berufs- bzw. arbeitsweltbezogenen Fertigkeiten und Kompetenzen nehmen die Maßnahmen oft auch personen- und verhaltensbezogene Aspekte in den Blick. Im Maßnahmenkatalog der Agentur für Arbeit und des Jobcenters sind daher ebenfalls sozialpädagogische Anteile integriert. Gleichwohl stehen hinter den Maßnahmen unterschiedliche Grundorientierungen, denen sich die Leistungssysteme und damit die Sozialleistungsträger verpflichtet sehen. SGB II und SGB III sind zunächst der Arbeitsmarktintegration als zentralem Ziel verpflichtet, die Agenturen für Arbeit primär der Verhinderung, Verkürzung und Beendigung von Arbeitslosigkeit (vgl. § 1 SGB III), die Jobcenter insbesondere auch der Reduzierung oder Beendigung des Hilfebezugs durch eine eigenständige Unterhaltssicherung der Leistungsberechtigten (vgl. § 1 Abs. 2 SGB II). Entsprechend regelt § 3 Abs. 1 S. 2 SGB II aktuell noch einen Vorrang von Maßnahmen, die die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen, der dann für Personen ohne Berufsabschluss in Satz 2 zugunsten der Vermittlung in eine Ausbildung durchbrochen wird. Im Rahmen des Bürgergeldes soll dieser abgeschwächt werden. Die Maßnahmen, die nach SGB II und III an die Bildungseinrichtungen freier Träger vergeben werden, werden von sogenannten Regionalen Einkaufszentren (REZ) der Bundesagentur für Arbeit bundesweit ausgeschrieben (vgl. Enggruber 2019: 487). Das Verlassen des Leistungssystems und die Beendigung der Arbeitslosigkeit stellen bedeutsame Messkriterien für Erfolg in Grundsicherung und die Arbeitsförderung dar. Somit ist auch die Vergabepraxis nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung), UVgO (Unterschwellenvergabeordnung) und § 130 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) an diesen Kriterien der ›erfolgreichen‹ Integration der Maßnahmeteilnehmenden in Ausbildung oder Beschäftigung

73

74

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

ausgerichtet (vgl. Hofmann 2020: 53; Mende 2018; Droste-Franke et al. 2022; Schruth 2018: 106f.). Relevant sind für die Entscheidungen der REZ somit wesentlich die Eingliederungs- und Abbruchquoten bzw. die erreichten Bildungsabschlüsse (vgl. Fülbier et al. 2019: 21). So wird es durchaus nachvollziehbar, dass bei freien Trägern angestellte Fachkräfte – infolge des Risikos, im Wettbewerb mit anderen Anbietern zu verlieren – ein großes Interesse daran haben, hohe Vermittlungsquoten zu erzielen (vgl. Enggruber 2019: 484, 488). Die erneute Förderung der Maßnahmeträger hängt damit auch von diesen Kennzahlen ab (vgl. Hofmann 2020). Jugendliche können im Rahmen der Grundsicherung zwar Berufswünsche/Lebensentwürfe anführen. Bei der Entscheidung stellen die Sozialleistungsträger aber primär auf die bloße Zumutbarkeit der Beschäftigung ab (vgl. § 10 SGB II). Individuelle Präferenzen können allenfalls in den Potenzialanalysen zu den Eingliederungsmaßnahmen Relevanz entfalten (vgl. § 15 SGB II). Demgegenüber zielt die Jugendhilfe in erster Linie auf die Förderung der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit ab. Die Maßnahmen der Jugendhilfe sollen daher – so § 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII – junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung unterstützen und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. Entsprechend ist die Unterstützung bei der Teilhabe am Erwerbsleben ein wesentlicher Bestandteil eines eher ganzheitlich auf die Persönlichkeitsentwicklung gerichteten Ansatzes – jedenfalls dem Gesetz nach. Die nachfolgende Tabelle fasst die Trägerschaften und ihre Zielsetzungen noch einmal überblicksartig zusammen.4

4

Gekürzte Fassung der von Ulrike Spangenberg für das Projekt »(Un)angepasst« entwickelten Darstellung.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Tabelle: Träger und Zielsetzungen im Übergangssystem SGB III

SGB II

SGB VIII

Ziele

Verhinderung von Arbeitslosigkeit

Vermeidung von Hilfebedürftigkeit

Verwirklichung des Rechts auf Förderung und Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten

Leistungsgrundsätze

• u.a. Transparenz auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt • Überwindung des geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkts • Förderung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit

• Unterstützung bei der Aufnahme bzw. Beibehaltung von Erwerbstätigkeit

• Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung • Vermeidung und Abbau von Benachteiligungen • Ausgleich sozialer Benachteiligungen und Überwindung individueller Beeinträchtigungen

Leistungsberechtigung

Arbeitssuchende, Auszubildende; nicht SGB II

§§ 7ff. SGB II, insb. finanzielle Hilfebedürftigkeit

junge Menschen unter 27 Jahren

Verortung

Drittes Kapitel SGB III

§§ 16ff. SGB II SGB-III-Maßnahmen werden zu Leistungen des SGB II

§ 13 SGB VIII

Zuständigkeit für Gewährung

Bundesagentur für Arbeit (BA), § 19 Abs. 1 SGB I

Jobcenter (Kommunale JC/ gemeinsame Einrichtungen der Kommune mit BA), § 19a SGB I

Kreise, kreisfreie Städte, § 27 Abs. 2 SGB I

75

76

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

  Durchführung der Maßnahmen

SGB III

SGB II

SGB VIII

BA, freie Träger, allgemein- und berufsbildende Schulen, Betriebe Voraussetzung: AZAV-Zertifizierung; Anwendung Vergaberecht: Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit

Jobcenter, freie Träger, allgemeinund berufsbildende Schulen, Betriebe Voraussetzung: AZAV-Zertifizierung; Anwendung Vergaberecht: Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit

öffentliche und freie Träger der Jugendhilfe Trägervereinbarungen; Entscheidung nach Eignung und regionaler Verankerung

3.

Kritik der Förderlogiken

a.

Defizitorientierung und Stigmatisierungsgefahren

Ein Grunddilemma unterstützender Sozialleistungen besteht meist darin, dass Adressat*innen diese Unterstützung erst erhalten können, wenn sie Defizite offenlegen und sich beispielsweise einer benachteiligten Gruppe zuordnen. Präventive Ansätze, die bereits im Vorfeld des Auftretens eines Problems oder bei nur latentem Risiko greifen, finden sich demgegenüber wesentlich seltener. Dieser Befund trifft auch in hohem Maße auf die Angebote des Übergangssystems zu, lediglich die Berufsorientierung steht allen Schüler*innen primärpräventiv offen. Die übrigen Maßnahmen hingegen stehen jungen Menschen nur zu, »wenn sie (1) voraussichtlich keinen betrieblichen oder schulischen Ausbildungsplatz bekommen oder keinen gefunden haben oder (2) der erfolgreiche Abschluss ihrer Berufsausbildung zu scheitern droht und/oder (3) eine individuelle oder soziale Benachteiligung nachweisen können« (Enggruber/Fehlau 2019: 44). Leistungen der Jugendberufshilfe nach § 13 SGB VIII knüpfen an soziale Benachteiligungen oder individuelle Beeinträchtigungen an, die überwunden werden sollen. Sie greifen also erst, wenn schon ein negativer Zustand eingetreten ist. Das heißt, ohne Defizitdiagnose bzw. -zuschreibung werden

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

die Leistungen nicht gewährt (vgl. Fülbier et al. 2019: 16). Ähnlich bedient sich der Großteil der einschlägigen Regelungen des Arbeitsförderungsrechts defizitärer Umschreibungen der förderungsberechtigten Zielgruppe. So ist es etwa das Ziel berufsvorbereitender Maßnahmen nach § 51 SGB III, die Ausbildungs- und Berufsreife der Teilnehmenden herzustellen. Junge Menschen sind diesbezüglich nach § 52 SGB III förderungsberechtigt, wenn ihnen die Aufnahme einer Berufsausbildung wegen in ihrer Person liegender Gründe nicht möglich ist. Die in § 54a SGB III verortete Einstiegsqualifizierung enthält in Abs. 4 gleich drei – mit defizitären Zuschreibungen verbundene Zielgruppenkategorien: »(4) Förderungsfähig sind 1. bei der Agentur für Arbeit gemeldete Ausbildungsbewerberinnen und -bewerber mit aus individuellen Gründen eingeschränkten Vermittlungsperspektiven, die auch nach den bundesweiten Nachvermittlungsaktionen keine Ausbildungsstelle haben, 2. Ausbildungssuchende, die noch nicht in vollem Maße über die erforderliche Ausbildungsreife verfügen, und 3. lernbeeinträchtigte und sozial benachteiligte Ausbildungssuchende.« 5 Bis heute stehen die Maßnahmen des Übergangsbereichs damit in der Tradition des 1980 vom Bildungs- und Wissenschaftsministerium aufgelegten Benachteiligtenprogramms, mit dem erstmals in breitem Umfang sozialpädagogisch unterstützte Maßnahmen für den Übergang in die Ausbildung angeboten wurden, zunächst beispielsweise 600 außerbetriebliche Ausbildungsplätze, kurz darauf ausbildungsbegleitende Hilfen (vgl. BMBF 2005). Angesichts aktueller umfassender Gerechtigkeitsdiskurse zu den Bildungschancen sind die Begrifflichkeiten der individuellen Beeinträchtigung, der sozialen Benachteiligung (sofern diese auf individuelle Gründe bezogen wird) und der Ausbildungsreife kritisch zu betrachten. So ist die vom Gesetz nahegelegte zuschreibende Sortierung in unterschiedliche Zielgruppen für die Teilnehmer*innen der Maßnahmen mit erheblichen Stigmatisierungsrisiken verbunden. »Denn bei ihnen sind zunächst entsprechende Defizite zu diagnostizieren, damit sie dann gewissermaßen mit diesem Etikett 5

Die Thematik der Lernbeeinträchtigung wird nicht näher aufgegriffen, um diesen Beitrag nicht zu überfrachten und ihn vielmehr primär auf die in den Forschungsprojekten thematisierten Aspekte zuschneiden zu können.

77

78

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

versehen in die passende Maßnahme vermittelt werden können.« (Enggruber/Fehlau 2019: 46) Auch vor dem Hintergrund der menschenrechtlichen Vorgaben seitens der UN-Behindertenrechtskonvention erscheint eine solche Begriffswahl unpassend. Kategorisierungen von Adressat*innengruppen sind danach kontextuell und somit auf Verhältnisse bezogen zu bestimmen, sodass für die Förderung von jungen Menschen zwar maßgeblich ist, dass sie Unterstützung benötigen, jedoch ohne die Zuschreibung individueller Defizite (zu Recht jüngst: Enggruber et al. 2021). Maier und Vogel (2013), die sich ebenfalls mit den Diskursverschiebungen im Übergangssystem beschäftigten, konstatieren unter anderem, dass »der Benachteiligungsdiskurs selbst stigmatisierende Wirkung« entfaltet (ebd.: 17). Denn, so die Autor*innen, ›Benachteiligung‹ als Sammelbegriff zum Beispiel für Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Berufsstart zu nehmen, impliziert, dass Benachteiligung als biografisches Risiko interpretiert wird und somit nicht mehr den Strukturen, sondern den Personen selbst anhaftet, selbst dann noch, wenn sie etwa in der Schule keine Probleme hatten. Damit ist ein allgemeinerer Kern der Adressat*innenproblematik in der Sozialen Arbeit angesprochen: Adressat*in zu werden, bedeutet fast immer, dass ein individueller Bedarf festgestellt werden muss, der auf ein entsprechend formuliertes Defizit rekurriert (Ausnahme: Bereitstellung von Infrastruktur für eine kollektive Nutzung, zum Beispiel Jugendhaus). Somit wird eine als Adressat*in identifizierte Person in der fachlichen Beschreibung aus dem ›Normalen‹ herausgehoben, wird als ›anders‹, ›schwierig‹ oder ›bedürftig‹ (weil es nicht allein schaffend) bezeichnet – und wiederholt dies in der demgemäß entwickelten (gegebenenfalls zunächst nur präsentierten) Selbstzuschreibung. Damit zeigt sich eine Orientierung an einer (impliziten und letztlich nur scheinbaren) Normalität, die das Gelingen – hier des beruflichen Übergangs – als einfach leistbar voraussetzt und auf die Stigmatisierung der Zielgruppen bestärkend wirkt. Obwohl also Unterstützung auf den Fahnen der Maßnahmen steht, bedeuten sie zugleich eine Definition von Ungenügen, zu der sich die Subjekte dann möglichst passend verhalten sollen, indem sie positiv ›mittun‹ (vgl. genauer zum relationalen Adressat*innenbegriff und zum Bezug zur Normalisierung Bitzan/Bolay 2017). Schon ein kurzer Blick in die juristische Kommentarliteratur oder auch in die Rechtsprechung zeigt, wie leicht – selbst gut gemeinte – fürsorgerisch motivierte Konzepte in stigmatisierende Zuschreibungen einmünden können. Statt den Begriff der sozialen Benachteiligung inhaltlich zu füllen, werden in den Kommentaren eher Personengruppen beispielhaft aufgelistet. So

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

findet sich etwa die folgende exemplarische Gruppenumschreibung sozial Benachteiligter im Sinne von § 54a Abs. SGB III Nr. 3: »junge Alleinerziehende, ehemals drogenabhängige oder straffällig gewordene Jugendliche, Personen mit Teilleistungsschwächen, Verhaltensgestörte, Personen mit gravierenden persönlichen und/oder psychischen Problemen sowie ausländische Jugendliche, die aufgrund von Sprachdefiziten oder bestehenden sozialen Eingewöhnungsschwierigkeiten in einem fremden soziokulturellen Umfeld besonderer Unterstützung bedürfen« (Bay LSG v. 12.06.2018 – L 2 U 11/16). Diese Auflistung macht implizit die Stoßrichtung deutlich: Es werden Lebensweisen reguliert und somit wird deutlich suggeriert, was als ›normal‹ oder eben als nicht ›normal‹ zu betrachten ist. Damit wird zugleich (fälschlicherweise) ›versprochen‹: Wer sich an die erwarteten Formen hält, schafft die Anforderungen unseres Leistungssystems. An einigen (juristischen) Kommentierungen ist zu bemerken, wie schwierig es doch ist, eine Abgrenzung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen bzw. strukturellen in Bezug auf den Benachteiligungsbegriff und seine damit gemeinten Inhalte trennscharf umzusetzen, ein Befund, der sich auch in der Jugendberufshilfe bestätigt, wenngleich dort stärker um ein problemals ein personenbezogenes Begriffsverständnis gerungen wird. Unter anderem Kepert und Dexheimer (2022) kommen zu dem Schluss, dass es infolge der Formulierung in § 13 SGB VIII, die beides gleichberechtigt einbezieht, letztlich auf eine trennscharfe Abgrenzung nicht ankäme. Dadurch aber verschwimmen die ausgrenzenden sozialen Verhältnisse in einer diffusen ›Benachteiligung‹, die letztlich dann doch individuell verstanden wird. Für Maßnahmen, die explizit (nur) individuelle Gründe für Vermittlungshemmnisse und Barrieren akzeptieren (wie etwa § 16h SGB II), finden sich statt klarer Zielgruppendefinitionen eher negative Abgrenzungen. Das hat zur Folge, dass Schwierigkeiten, die nicht direkt mit der Person der Leistungsberechtigten in Verbindung gebracht werden können, keine Förderung auslösen (vgl. Schön/Thie 2021: § 16h, Rn. 6f.). Demgegenüber erscheint die (fehlende) Ausbildungsreife auf den ersten Blick objektiv bzw. wertfrei feststellbar zu sein: Sie gilt herkömmlich als gegeben, wenn die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in eine Berufsausbildung vorhanden sind (vgl. Kühl 2021: § 54a, Rn. 7). Förderberechtigt sind damit Personen, wenn sie teilweise Eignungsdefizite (bezüglich der schulischen Grundqualifikation, fachlicher Kenntnisse oder auch sozialer Kompetenzen) aufweisen – mithin den ›üblichen Standard‹ eines die Ausbildung beginnen-

79

80

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

den Menschen noch nicht erreicht haben (vgl. Herbst 2022: § 54a, Rn. 34). Schon der Vergleich mit dem ›üblichen Standard‹ entlarvt hier jedoch, dass sich – auf den zweiten Blick – auch der Begriff der Ausbildungsreife untrennbar daran bemisst, was als ›Norm‹ gilt. Und diese Norm wiederum wird als üblicherweise erreichbar gesetzt – ganz ohne ihre unterschiedlichen Voraussetzungen zu problematisieren.

b.

Individualisierung und Pädagogisierung

Es ließe sich einwenden, dass sich in den Regelungen doch auch Hinweise auf Hemmnisse in gesellschaftlichen Teilhabebereichen erkennen lassen, die auch strukturell interpretiert werden könnten (vgl. Verlage/Walther 2021: 1094). Allerdings wird diese Deutungsoption über die Funktion als individuelle Zugangsvoraussetzung, mit denen die Aufnahme in den Kreis der förderberechtigten Personen bestimmt wird, wieder überformt. Gesellschaftliche Ungleichheiten und Zugangsbarrieren werden so individualisiert und pädagogisiert (vgl. Fülbier et al. 2019: 22). Fehlende Ausbildungsplätze, unzureichender Schulunterricht, die Auslesefunktion des mehrgliedrigen Schulsystems und nicht zuletzt die Entscheidungsmacht der Betriebe darüber, ob sie ausbilden und wen sie als ausbildungsfähig akzeptieren, treten hierbei in den Hintergrund, eine Kritik, die letztlich an den Grundfesten des Übergangssystems rüttelt. Auch die marktwirtschaftliche Steuerung des Ausbildungszugangs wird kaum hinterfragt, stattdessen wird ein Übergangssektor etabliert, der zunächst – in einer zeitintensiven Schleife – oftmals nur für eine Berufsausbildung qualifiziert, statt sie direkt anzubieten (vgl. Enggruber/ Fehlau 2019: 45). Junge Menschen werden in bestehende Ausbildungs- und Arbeitsplätze vermittelt, aber es werden kaum zusätzliche Plätze geschaffen (zu diesem Nullsummenspiel vgl. Verlage/Walter 2021). Verallgemeinert bedeutet dies, dass Passungsschwierigkeiten des Systems nicht zuletzt mit dem etablierten Übergangssystem auf die Betroffenen abgeschoben werden, weil diese mit ihren Wünschen und Lebenslagen nicht ›hineinpassen‹. Benachteiligung wird so unter der Hand zu einer Frage der individuellen Hilfsbedürftigkeit bzw. eines Defizits, sie wird der Person als Merkmal angeheftet (vgl. Walther 2002). Gerade der Begriff der Ausbildungsreife versperrt so »die Sicht auf strukturelle Schieflagen und lässt einzig den Blick auf das defizitäre Individuum frei, das so alleiniger Ansatzpunkt für Intervention bleibt« (Verlage/Walther 2021: 1094). Anstelle einer näheren Betrachtung der Ausbildungsfähigkeit von

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Betrieben geht es um die Ausbildungsreife der Jugendlichen, die sich dem Arbeitsmarkt anzupassen haben. An dieser Verschiebung auf die Subjekte »lässt sich auch die Kehrseite dieses Mechanismus [gemeint ist die von außen erfolgende Verschiebung] in der Rückwirkung auf das subjektive Bewusstsein von Adressat*innen zeigen: Gerade, wenn der Jugendstatus prekär ist, weil die gängige Weise der gesellschaftlichen Teilhabe nicht gelingt, […], erachten sie [die gesellschaftlichen Widersprüche] als individuelle Schwierigkeiten, die sie selbst zu bewältigen haben« (Bitzan/Bolay 2017: 25). Das ›Relationale‹ im Adressat*innenbegriff – zum Beispiel der ›benachteiligte Jugendliche‹ – »betont [jedoch], dass die Konstituierung von Adressat*innen kein einseitiger Prozess der Formung durch das Professionssystem der Sozialen Arbeit ist, sondern als ein interaktives Wechselspiel der gegenseitigen Formung (Adressierung und Readressierung) – wenngleich unter unterschiedlichen Machtmöglichkeiten – zu verstehen ist« (ebd.: 37). Wie die Adressatentheorie geht auch die Nutzerforschung (vgl. Oelerich/Schaarschuch 2005a) davon aus, dass Adressat*innen weder ›Opfer‹ sozialpolitischer Zuschreibungen und Regulationen sind noch dem institutionalisierten Hilfesystem unproblematisch ihre Eigensicht entgegensetzen können, sondern in der aktiven Auseinandersetzung mit sozialstaatlichen und sozialarbeiterischen Regulierungsweisen sich konstituieren und konstituiert werden. Es lässt sich leicht vorstellen, dass weitere ausgrenzende Strukturmerkmale der ›Normalität‹ (wie Heteronormativität; s. Bitzan/ Schirmer in diesem Band) für Jugendliche ein weiteres Risiko bzw. eine große Herausforderung für die Selbstdefinition (und Außendarstellung) bedeuten. Der ›neue‹ Modus der Vergesellschaftung seit Mitte der 2000er Jahre steht im Zeichen »einer vermehrt an die Individuen und Familien delegierten und politisch aufgeherrschten ›Eigenverantwortung und Selbstsorge‹« (Anhorn 2021: 4; Hervorh. im Orig.) unter zugleich gesteigerten existenziellen Unsicherheiten und zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit. Fehlende ›Ausbildungsreife‹ ist der ideale Ansatzpunkt für eine seither verfolgte Politik des Förderns und Forderns, die mit der Reform der sozialen Leistungen im neoliberalen Gewand der angeblichen Chancengleichheit etabliert wurde. Sie fand in der Ideologie des aktivierenden Sozialstaats mit der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ihren Ausdruck (vgl. Verlage/Walther 2021: 1094). Neben die individuell festzustellende Bedürftigkeit (›Defizit‹) tritt nun auch die Prüfung der Bereitschaft, des subjektiven Willens zur Eigenverantwortung. Damit werden widerständige (Selbst-)Erkenntnisse und Verhaltensweisen verstellt (die aber

81

82

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

dennoch immer wieder zu finden sind – aber als potenzieller Grund des Ausschlusses negativ zurückwirken).

c.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Eine weitere Problematik besteht darin, dass die in den Leistungsvoraussetzungen so betonten Individualisierungs›versprechen‹ infolge der aktuellen Vergabegestaltung insbesondere im Arbeitsförderungsrecht nicht eingehalten werden können. Die Nachrangigkeit der Jugendhilfe bei gleichgearteten Leistungskonzepten und die Tatsache, dass die kommunalen Jugendhilfeträger sich zunehmend der Verantwortung entziehen, ganzheitliche Angebote bereitzustellen, verschärfen dies noch zusätzlich. Die meist bundesweite Ausschreibung für die Trägerschaft von Maßnahmen über die Regionalen Einkaufszentren lässt kaum Raum für spezifische regionale Programme von Jobcentern und Agenturen im Übergangsbereich. Zudem enthalten die Ausschreibungsunterlagen der REZ stark standardisierte Vorgaben. Auch wenn dies in der Vergabepraxis der Vergleichbarkeit und Qualitätskontrolle dient, führt es »zu pädagogischen Standardprodukten« (Enggruber 2019: 484, 487), die den heterogenen Bedarfslagen der Adressat*innen im Übergang nicht gerecht werden (vgl. Fülbier et al. 2019: 21). Sozialpädagogische Unterstützung sollte jedoch prozesshaft sein, Inhalte und Gestaltung lassen sich dadurch erst im Kontakt zwischen Adressat*in und Fachkraft bestimmen, sodass sie nur in geringem Umfang vorher beschreibbar sind. In Umkehrung der eigentlichen Intention werden so die Teilnehmer*innen an die bereitgestellten Maßnahmen angepasst; Kurse werden »aufgefüllt« oder das Profiling wird »kreativ angepasst«, wie Statements aus den Jobcentern schon 2013 verlauten ließen (vgl. BMAS 2013). »Die Folge sind Maßnahmekarrieren junger Menschen […], denen auch die x-te Maßnahme nicht ›auf die Sprünge‹ helfen konnte. Aus einem System, das die Aufgabe hat, korrigierend in die Lebensläufe der jungen Menschen einzugreifen, droht damit ein System zu werden, das soziale Ausschließung produziert […].« (Verlage/Walther 2021: 1095)

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

4.

Die Bedeutung des Übergangssystems für die Soziale Arbeit

Das Übergangssystem stellt für die Soziale Arbeit ein bedeutendes Arbeitsund Handlungsfeld dar. Fachkräfte Sozialer Arbeit sind dabei in multiprofessionelle Teams eingebunden, weil die Angebote in Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen (zum Beispiel Lehrkräfte, Ausbilder*innen, Psycholog*innen, Verwaltungskräfte) und mit verschiedenen Organisationen (Träger der freien Wohlfahrtspflege, Jugendämter, Arbeitsagenturen und Jobcenter, Schulen und Betriebe) erbracht werden müssen (vgl. Mairhofer 2017: 8). Sie befinden sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen des sozial- und arbeitsmarktpolitischen Auftrags und dem professionellen Selbstverständnis Sozialer Arbeit (vgl. Enggruber/Fehlau 2018a: 13). Einerseits treten Auswirkungen der Sozialpolitik, zum Beispiel im Rahmen der Bildungsungleichheit durch ein selektives Bildungssystem, zutage. Andererseits steht Soziale Arbeit im Übergangssystem häufig zwischen dem öffentlichen Auftrag, nämlich dem Erfordernis der schnellen und wenig nachhaltigen, aber kostengünstigen Vermittlung der Teilnehmenden in die Ausbildung des ersten Arbeitsmarkts (work first), und den multikomplexen Problemlagen der Teilnehmenden, die eine langfristige Begleitung bei deren Bewältigung benötigen. Hinsichtlich der Entwicklung des Bildungssystems und den damit verknüpften Disparitäten konstatiert die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2006: 13), dass trotz positiver Entwicklungen beim Bildungsstand weiterhin – gerade auch für Migrant*innen, die immer wieder auf Bildungsbarrieren stoßen – große Ungleichgewichte im Bildungssystem der Bundesrepublik bestehen. Die Aufgaben, die daraus für Soziale Arbeit im Rahmen eines bildungs- und sozialpolitischen Auftrags im Übergangssystem erwachsen, sind vielfältig. Die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (ebd.: 14) betont dabei das Erfordernis der Neugestaltung der Schnittstelle zwischen dem ersten allgemeinbildenden (Haupt-)Schulabschluss, der Berufsvorbereitung im Übergangssystem und der Berufsausbildung. Diese Schnittstelle erhalte auch in Anbetracht einer hohen Zahl an Schutz- und Asylsuchenden, die aufgrund ihrer vorhandenen Qualifikationen stärker auf Anpassungs- und Brückenmaßnahmen angewiesen seien, einen neuen Stellenwert (vgl. ebd.). Skrobanek hat schon im Jahr 2015 bemängelt, dass umfassende sozialwissenschaftliche Forschungen zu Übergangsprozessen an dieser Schnittstelle fehlen würden, auf deren Basis sich die herkunftsspezifischen Disparitäten im Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf

83

84

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

erklären ließen (vgl. Skrobanek 2015: 69). Auf der Grundlage der Recherchen zum vorliegenden Artikel kann diese Feststellung auch für das Jahr 2022 bekräftigt werden. Zwar gibt es die jährlichen quantitativen Analysen des Bundesinstituts für Berufsbildung, doch es fehlen vor allem qualitative Untersuchungen, die die Perspektiven der Fachkräfte im Handlungsfeld wie auch der Teilnehmenden sichtbar machen würden. Eine der wenigen Ausnahmen sind zwei Dissertationsstudien aus dem Jahr 2020: die Studie von Katharina Peinemann (2020) zu den professionellen Handlungsstrategien von Lehrkräften im Handlungsfeld Berufsorientierung und im Übergangssystem sowie die Studie von Ulrich Weiß (2020) zu Anerkennungsstrategien Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr. Hier ergeht ein Auftrag an die Disziplin Soziale Arbeit, die Forschungsbestrebungen zu intensivieren (die im Teil II des vorliegenden Bandes vorgestellten empirischen Analysen setzen an eben diesem Desiderat an). Zusätzlich zu diesem Desiderat bemängelt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf die Profession Soziale Arbeit, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren »fiskalisch wie auch konzeptionell zunehmend aus der Jugendsozialarbeit zurückgezogen« habe (AGJ 2020: 1). Für die Soziale Arbeit bedeuten die mit Blick auf das Übergangssystem skizzierten strukturellen Herausforderungen, dass auch hier – wie in anderen Feldern der Sozialen Arbeit – eine professionelle Haltung entwickelt werden muss, für die es den Status und das Selbstverständnis Sozialer Arbeit mindestens zwischen den beiden Bezugsgrößen der Hilfe und der Kontrolle auszubuchstabieren gilt (vgl. Zöller 2015: 28). Wegweisend ist an dieser Stelle die Analyse von Galuske (2002), die aufzeigt, dass mit den im Übergangssystem als einer »Brücke zur Arbeitswelt« (ebd.: 1196) anzutreffenden Konzepten und Handlungsstrategien Normalitätsmuster der Vollbeschäftigungsgesellschaft wie die Vorstellung eines linear zu entwickelnden Lebenslauf konserviert werden. Dies habe aber mit der Lebenswelt der Adressat*innen des Übergangssystems häufig wenig zu tun (vgl. ebd.: 1188f.). Die Lebenswelt junger Menschen ist heute vielmehr durch Entgrenzungen gekennzeichnet, die sich nicht zuletzt darin zeigen, dass ›standardisierte‹ Lebensläufe zunehmend aufgebrochen werden (vgl. Böhnisch et al. 2009: 9f.; s. auch Brück in diesem Band). Bedeutsam ist an dieser Stelle die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in der heutigen Gesellschaft durch die Zunahme und Normalisierung von Beschäftigungsformen, die oftmals nur bedingt ein existenzsicherndes Einkommen und stabile Perspektiven bieten und mit einem eingeschränkten arbeits- und sozialrechtlichen Schutz einhergehen. Zusammen mit Er-

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

werbslosigkeit tragen diese Beschäftigungsformen zur Ausbreitung diskontinuierlicher Erwerbsbiografien bei, die nur noch in unzulänglichem Maße Ansprüche an das System der sozialen Sicherung begründen, das noch auf dem Normalarbeitsverhältnis aufbaut (vgl. sowi-online 2016). Diese ambivalenten Ungleichzeitigkeiten lassen sich mit dem Begriff des »Orientierungsdilemma[s] der Jugendberufshilfe« auf den Punkt bringen (Galuske 2002: 1187f.). Damit ist Soziale Arbeit im Bereich des Übergangssystems aufgefordert, einerseits die Orientierung am ersten Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten und andererseits tragfähige Konzepte zur Lebensbewältigung zu entwickeln, die die jungen Menschen im Übergangssystem als »eigensinnige, kreative biografische AkteurInnen« stärker in den Blick nehmen (Stauber/Walther 2004: 63). Dabei ist für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ein fachliches Verständnis von Selbstexklusions- bzw. Selbstinklusionsprozessen als zentrales Moment bei der Einmündung in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zentral (vgl. Skrobanek 2015: 84). Skrobanek bezieht sich dabei auf das von Goffman (1952) entwickelte Konzept der Cooling-out- und Cooling-in-Mechanismen. Mit diesen Begriffen können Fälle beschrieben werden, bei denen die an Maßnahmen im Übergangssystem Teilnehmenden zunächst hochmotiviert sind und viel investieren, um ein bestimmtes Ziel, zum Beispiel das Einmünden in eine Ausbildung im Wunschberuf, zu erreichen, jedoch auf dem Weg zu diesem Ziel scheitern. In diesen Momenten wird es notwendig, vom ursprünglichen Plan abzuweichen bzw. diesen möglicherweise zu revidieren, um ein positives Selbstkonzept aufrechtzuerhalten. Mit relativierenden Erklärungen, Beschwichtigungen und neuen Optionen kommen dann sogenannte Coolingout-Agenten (vgl. Skrobanek 2015: 84) ins Spiel (etwa Fachkräfte der Sozialen Arbeit), die den betreffenden Personen helfen, sich an die neue Situation anzupassen und Alternativen zu entwickeln. Erreicht wird so eine ›allmähliche Abkühlung‹: Die vergebliche Suche nach einem Ausbildungsplatz im Wunschberuf wird in eine allmähliche Ablehnung umgewandelt, indem die Teilnehmenden dazu gebracht werden, quasi von sich aus die ursprünglichen Ziele zu verwerfen und weniger attraktive in den Blick zu nehmen (vgl. Diezinger 2015: 78). Mit Bezug auf Bourdieu (2001) erläutert Skrobanek (2015: 85f.) die damit verknüpften Begriffe der Selbstexklusion bzw. Selbstinszenierung. Selbstexklusion meint, dass die Jugendlichen gelernt haben, Misserfolge auf eigene Unzulänglichkeiten zurückzuführen und sie nicht der unglei-

85

86

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

chen strukturellen Verteilung von Macht in der Gesellschaft zuzuschreiben.6 Sie streben deswegen nur das an, was ihnen in ihrer eigenen (Klassen-)Lage zugänglich ist (vgl. ebd.). Skrobanek geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass insbesondere die an Maßnahmen im Übergangssystem Teilnehmenden von Cooling-out-Strategien betroffen sind, da sie wegen ihrer Ausstattungsmerkmale hinsichtlich des Übergangs von der Schule in die Ausbildung als potenziell integrationsgefährdet gelten. Das bedeutet, dass Cooling-out- und Selbstexklusionsprozesse letztlich auf die Integration in bzw. die Assimilation an das bestehende System ausgerichtet sind (ebd.: 87). Die ursprünglich aus der Kritik an der engen Arbeitsmarktorientierung herrührende Forderung, auf die lebensweltlichen Bedürfnisse von Jugendlichen einzugehen, verdreht sich aber in ein fachlich verbrämtes Verständnis von Subjektorientierung in der Jugendberufshilfe, die »zunehmend die Funktion hat, dass sich Jugendliche ihre Einmündung in nicht präferierte, statusniedrige Berufe als eigene Entscheidung zuschreiben« (Verlage/Walther 2021: 1096). So kann beispielsweise die JBH sowohl Definitionen der Benachteiligung der Adressat*innen füllen als auch deren Mittun, ihr Einverständnis mit der zugewiesenen Position, erreichen. Sie ist somit ein zentraler Gatekeeper am Übergang von der Schule in den Beruf (vgl. ebd.: 1094). Diesen Prozessen können Fachkräfte Sozialer Arbeit entgegenwirken, indem die jungen Menschen im Sinne einer nicht ausschließlich an der Integration in die Arbeitswelt ausgerichteten Lebensbewältigung und selbstständigen Lebensführung unterstützt werden. Fachkräfte können so eine professionelle Mediator*innenfunktion zwischen den Anforderungen des Staates und den spezifischen Lebenslagen von jungen Menschen erfüllen. Hilfreich ist ebenso politische Lobbyarbeit, die auf die Lebenslagen junger Menschen im Übergangssystem in den Kommunen aufmerksam macht und für diese sensibilisiert.

5.

Anforderungen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit im Übergangssystem

Der bildungs- und sozialpolitische Auftrag für die Profession Soziale Arbeit im Übergangssystem spiegelt sich nicht ausreichend in Angeboten, etwa der Jugendsozialarbeit, wider. So ergeben sich Anforderungen an die Fachkräfte 6

Vgl. die oben angesprochene Relationalität im Adressat*innenbegriff, die ebendiese Prozesse als sich bildende Selbstbilder anspricht.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

der Sozialen Arbeit: Erstens bedürfen sie im Übergangssystem einer »professionstheoretische[n] Grundlage« (Enggruber/Fehlau 2018a: 54) bzw. eines sozialisations- und arbeitsmarkttheoretischen Fundaments, um gut begründet und fachlich anerkannt handeln zu können. Daneben benötigen sie zweitens spezifische Fachkenntnisse und ein Wissen über präventive und nachhaltige Unterstützungsformen. Enggruber und Fehlau (ebd.: 54f.) stellen überzeugend dar, dass die lebensweltorientierte Soziale Arbeit eine zentrale professionstheoretische Basis für das Übergangssystem liefert. An dieser Stelle soll der Blick aber noch auf zwei weitere theoretische Konzepte gelenkt werden, die das fachliche Handeln zwischen den Bezugsgrößen der Hilfe und der Kontrolle unterstützen können, ohne dass dabei der bildungs- und sozialpolitische Auftrag aus den Augen verloren wird. Das theoretische Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch (2012: 219f.) bietet eine Perspektive für das fachliche Handeln im Übergangssystem. Es verknüpft einerseits einen eigenständigen sozialpädagogischen Bildungsansatz mit Sozialpolitik, andererseits wird im Kontext lebenslanger Sozialisation und des gesellschaftlichen Strukturwandels die Lebenslage der Adressat*innen mit ihrer Biografie und dem Lebensverlauf verknüpft (ebd.). Das Konzept der Lebensbewältigung schlüsselt den gesellschaftlichen Rahmen auf, der psychosoziale Probleme für den modernen Menschen entstehen lässt. Hier ist sozialpädagogisches Handeln angesiedelt, das Böhnisch als Hilfe zur Lebensbewältigung umschreibt. Stets am Subjekt orientiert, ermöglicht es, die Betroffenheiten und Befindlichkeiten der Adressat*innen zu erkennen und ihr darauf bezogenes Bewältigungsverhalten verstehbar zu machen (vgl. Böhnisch 2018: 24f.). Der gesellschaftliche Kontext und der sozialpolitische Auftrag werden mit diesem Konzept im Blick behalten. Die partizipativen dienstleistungsorientierten Ansätze kritisieren besonders die sozialdisziplinierenden Effekte von mittels Zwang und Kontrolle operierenden Interventionen Sozialer Arbeit und können für Soziale Arbeit daher hilfreiche Impulse mit Blick auf das im Abschnitt 4 angesprochene Orientierungsdilemma liefern. Diese Ansätze verweisen auf die Notwendigkeit einer bedürfnisgerechten Bereitstellung von sozialen Leistungen, die durch eine angemessene Verhältnisbestimmung zwischen den Hilfeleistungen der Sozialen Arbeit und den bestehenden Bedürfnissen ihrer Adressat*innen erreicht werden soll (vgl. Oechler 2011: 258). Dabei wird herausgearbeitet, dass Soziale Dienste auf die Mitwirkung und aktive Beteiligung der Adressat*innen angewiesen sind, was begrifflich als Uno-actu-Prinzip, das heißt

87

88

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

als Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumption sozialer Dienste, gefasst wird (ebd.: 263). Insbesondere das theoretische Konzept der Sozialen Arbeit als Dienstleistung (vgl. Schaarschuch 1999: 543f.) knüpft an die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses an und postuliert daher einen Perspektivenwechsel von der Professionellen- zur Nutzer*innenperspektive. Als wichtige Voraussetzung für die Optimierung der Dienstleistungserbringung wird dabei die Einflussnahme der Nutzer*innen auf den Dienstleistungsprozess gesehen. Der Etablierung demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten (»Zentrierung Sozialer Dienstleistung auf soziale Bürgerrechte«) kommt in diesem Zusammenhang ein hoher Stellenwert zu (ebd.: 557). In Auseinandersetzung mit dem 15. und 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (BMFSJ 2017, 2020) haben die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ 2018, 2020) und der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (2021) aktuelle Anforderungen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit im Übergangssystem herausgearbeitet. Im Folgenden werden zentrale Punkte aufgeführt, die sich an die Überlegungen im vorliegenden Beitrag anschließen lassen. Die rechtskreisübergreifende Arbeit im Zusammenhang mit dem SGB II, dem SGB III und dem SGB VIII ist gerade im Übergangssystem sehr bedeutsam. Hervorgehoben wird, dass es wichtig sei, dass sich die Jugendsozialarbeit nicht ausschließlich für das SGB VIII zuständig fühle, sondern ebenso die Erfordernisse und Bedarfe der jungen Menschen in den Blick nehme, die Leistungen gemäß SGB II und SGB III beziehen (vgl. AGJ 2020). Zwischen der Vielzahl an Hilfeleistungen, die im Kontext der unterschiedlichen Rechtskreise erbracht werden, seien Schnittstellen zu identifizieren und Kooperationen sollten – auch im Hinblick auf multiprofessionelle Teams – aufgebaut werden. Sinnvoll sei es, niederschwellige Beratungsstellen zu etablieren, die zur Stabilisierung und Stärkung der Lebenslage der jungen Menschen beitragen können und Unterstützung bei Übergängen geben. Für die Arbeit mit jungen Menschen im Übergangssystem sei der Fokus auf eine ganzheitliche Förderung und auf verlässliche Beziehungen unabdingbar (vgl. ebd.). Der sozial- und bildungspolitische Auftrag Sozialer Arbeit im Übergangssystem bestehe in der Umsetzung von Partizipation und der Entwicklung von politischer Bildung und Demokratiebildung im Sinne ganzheitlicher, menschenrechtsorientierter Konzepte (Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2021). Die empirischen Befunde im vorliegenden Band, die Diskriminierungsrisiken für queere Personen im Übergangssystem aufzeigen, belegen diesen Aspekt im Besonderen.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

6.

Ausblick

Die Recherche zum vorliegenden Artikel hat – neben den inhaltlichen Erkenntnissen – deutlich ein Forschungsdesiderat hinsichtlich der Wirksamkeit und der Qualität des Übergangssystems offenbart (vgl. Ehlert et al. 2018: 41; Mairhofer 2017: 98). Sowohl am Ausbau der Forschungsbestrebungen als auch an der Entwicklung weiterer tragfähiger Konzepte für Jugendliche mit und ohne Bildungsabschluss könnte die Soziale Arbeit entsprechend weiterarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass unter anderem wegen der pandemischen Lage in der Bundesrepublik die Relevanz des Übergangssystems weiter steigen wird, da es vermehrt zu Ausbildungsabbrüchen kommt und zudem eine geringere Nachfrage der Betriebe nach Auszubildenden zu verzeichnen ist (vgl. ifo Institut 2021; Sell 2021).

Literatur AGJ – Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe 2020: Jugendsozialarbeit in Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.agj.de/positionen/artikel.html?tx_news_ pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_ne ws_pi1%5Bnews%5D=7241&cHash=cadd31da8c73d879c40eb8c60bff2335 [Zugriff: 15.01.2022]. Anhorn, R. 2021: Gesellschaftliche Grundlagen sozialer Ausschließung. In: Anhorn, R./Stehr, J. (Hg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 3-190. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006: Bildung in Deutschland 2006. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: wbv. Online verfügbar unter: https://www.bildungs bericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2006 [Zugriff: 07.01.2022]. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: wbv. Online verfügbar unter: https://www.bild ungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdf -bildungsbericht-2016/bildungsbericht-2016 [Zugriff: 24.08.2022].

89

90

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020: Bildung in Deutschland kompakt 2020. Zentrale Befunde des Bildungsberichts. Bielefeld: wbv. Online verfügbar unter: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsber ichte-seit-2006/bildungsbericht-2020 [Zugriff: 07.01.2022]. Beicht, U. 2017: Ausbildungschancen von Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen mit Migrationshintergrund. Aktuelle Situation 2016 und Entwicklung seit 2004. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung. Beierling, B. 2019: Zeit für eine Profilschärfung der Jugendberufshilfe. In: Sozialmagazin, 44, 7+8, S. 76-84. BIBB – Bundesinstitut für Berufsbildung 2020: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2020. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn. Online verfügbar unter: https://www.bibb.de/d okumente/pdf/bibb_datenreport_2020.pdf [Zugriff: 07.01.2022]. Bitzan, M./Bolay, E. 2017: Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Theoretische Klärung und Handlungsorientierung. Opladen: Barbara Budrich. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005: Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf. In: Handbuch »Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf – Benachteiligtenförderung«. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.inbas.com/fileadmin/user_upload/veroeffentlichungen/ 2005/2005_Handbuch_BNF_Winter600dpi.pdf [Zugriff: 12.05.2022]. BMFSJ – Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend 2017: 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/bm fsfj/service/publikationen/15- kinder- und- jugendbericht- 115440 [Zugriff: 19.01.2022]. BMFSJ – Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend 2020: 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.b mfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/16-kinder-und-jugendbericht-162 238 [Zugriff: 19.01.2022]. Böhnisch, L. 2012: Lebensbewältigung. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 219-234. Böhnisch, L. 2018: Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 8. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Böhnisch, L./Lenz, K./Schröer, W. 2009: Sozialisation und Bewältigung: Eine Einführung in die Sozialisationstheorie der zweiten Moderne. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. Bundesagentur für Arbeit 2009: Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs. Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife. Nürnberg. Online verfügbar: https://hbx.fhhrz.net/open/MkhuZFZLemVman NOenNhWFU2YUJ1/literatur/kriterienkatalogdok_ba015275.pdf [Zugriff: 12.05.2022]. Conrads, R./Freiling, T./Ulrich, A. 2019: Benachteiligte Jugendliche in Ausbildung und Beruf individuell begleiten. Empfehlungen zur Umgestaltung der »Assistierten Ausbildung«. Bielefeld: wbv Publikation. Online verfügbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/documen t/70330/ssoar-2019-conrads_et_al-Benachteiligte_Jugendliche_in_Ausb ildung_und.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2019-conra ds_et_al-Benachteiligte_Jugendliche_in_Ausbildung_und.pdf [Zugriff: 18.01.2022]. DBSH – Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. 2016: Definition der Sozialen Arbeit. Online verfügbar unter: https://www.dbsh.de/profession /definition-der-sozialen-arbeit.html [Zugriff: 09.01.2022]. Diezinger, A. 2015: Übergänge in den Beruf: Institutionelle und individuelle Rahmenbedingungen. In: Müller, B./Zöller, U./Diezinger, A./Schmid, A. (Hg.): Lehrbuch Integration von Jugendlichen in die Arbeitswelt. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 45-81. Droste-Franke, A./Momm, C./Wenning, P. 2022: Instrumentenkasten für die Finanzierung sozialer Dienstleistungen. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit, 1, S. 62-73 Ehlert, M./Holtmann, A./Menze, L./Solga, H. 2018: Besser als ihr Ruf. Übergangsmaßnahmen erhöhen Ausbildungschancen bei leistungsschwachen Jugendlichen. In: WZB Mitteilungen, 162, S. 41-43. Online verfügbar unter: https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2018/f-21707.pdf [Zugriff: 12.05.2022]. Enggruber, R. 2013: Jugendberufshilfe. In: EEO – Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim: Beltz Juventa. Enggruber, R. 2019: Jugendberufshilfe im Spannungsfeld zu Arbeitsagentur und Jobcenter. In: Jugendhilfe, 57, 5, S. 484-489. Online verfügbar unter: https://research.wolterskluwer-online.de/document/e0119354-3bed-3 95c-81ea-06748450c6fa [Zugriff: 12.05.2022].

91

92

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

Enggruber, R./Fehlau, M. (Hg.) 2018a: Jugendberufshilfe: Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Enggruber, R./Fehlau, M. 2018b: Jugendberufshilfe. In: socialnet Lexikon. Online verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/Jugendberufshilfe [Zugriff: 19.02.2022]. Enggruber, R./Fehlau, M. 2019: Jugendberufshilfe. In: Sozialmagazin, 7+8, S. 42-48. Online verfügbar unter: https://hbx.fhhrz.net/open/MkhuZF ZLemVmanNOenNhWFU2YUJ1/literatur/Jugendberufshilfe.pdf [Zugriff: 19.02.2022]. Enggruber, R./Fehlau, M. 2020: Digitalisierung im Handlungsfeld der Jugendberufshilfe. In: Kutscher, N./Ley, T./Seelmeyer, U./Siller, F./Tillmann, A./Zorn, I. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 598-609. Enggruber, R./Neises, F./Oehme, A./Palleit, L./Schröer, W./Tillmann, F. 2021: Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive. Expertise im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikatio nen/expertise_uebergang-schule-beruf_2021.pdf [Zugriff: 12.05.2022]. Fuchs, P./Gellermann, J. 2021: »Bevor ich den Müll hier weitermache, gehe ich lieber arbeiten.« Entkoppelte Jugendliche in Maßnahmen des Übergangssystems. Deutungen und Entwicklungen. In neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 51, 4, S. 282-297. Fülbier, P./Hampel, C./Wende, L. (2019): Das Aufgabengebiet Jugendsozialarbeit im Spannungsfeld verschiedener Rechtskreise. Ein Blick auf Schule Jugendhilfe und Beruf. In: Sozialmagazin, 7+8, S. 14-27. Galuske, M. 2002: Perspektiven der Jugendsozialarbeit in der Krise der Arbeit. In: Fülbier, P./Münchmeier, R. (Hg.): Handbuch Jugendsozialarbeit. Band 2. Münster: Votum, S. 1187-1200. Goffman, E. 1952: On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaptation to Failure. In: Psychiatry, 15, 4, S. 451-463. Heisler, D./Meier, J. 2020: Digitalisierung am Übergang Schule–Beruf. Ansätze und Perspektiven in Arbeitsdomänen und beruflicher Förderung. Bielefeld: wbv. Herbst, S. 2022: Kommentierung zu § 54a. In: Schlegel, R./Voelzke, T. (Hg.): jurisPK-SGB III. 2. Auflage. Saarbrücken: juris.

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Hofmann, T. 2020: Zum Paradoxon qualitätsgerechter Arbeitsförderung in Vergabemaßnahmen. In: info also. Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht, 2, S. 51-56. Icking, M. 2021: Jugendsozialarbeit und Offene Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. 5. Auflage. Wiesbaden: Springer VS. S. 1737-1747. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22563-6 _144 [Zugriff: 09.01.2022]. ifo Institut 2021: Ausbilden während der Covid-19-Pandemie − Hürden für Betriebe und Auszubildende (3. Quartal 2021). Online verfügbar unter: ht tps://www.ifo.de/node/65532 [Zugriff: 22.02.2022]. Kepert, J./Dexheimer, A. 2022: Kommentierung zu § 13 SGB VIII. In: Kunkel, P.-C./Kepert, J./Pattar, A. (Hg.): LPK-Kommentar SGB VIII. 8. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2021: Diskussionspapier. Überlegungen zu einer Standortbestimmung Jugendsozialarbeit, Demokratiebildung und Politische Bildung – eine Annäherung. Online verfügbar unter: https://jugendsozialarbeit.de [Zugriff: 16.01.2022]. Kühl, M. 2019: Kommentierung zu § 54a. In: Brand, J. (Hg.): SGB III. 9. Auflage. München: Beck. Maier, M. S./Vogel, T. 2013: Blinde Flecke der Debatte zum Übergangssystem Schule–Beruf. In: dies. (Hg-): Übergänge in eine neue Arbeitswelt? Blinde Flecke der Debatte zum Übergangssystem Schule–Beruf. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-23. Maier, T. 2021: Die drei Sektoren der beruflichen Bildung – Übergangssystem. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/332647/ uebergangssystem [Zugriff: 07.01.2022]. Mairhofer, A. 2017: Angebote und Strukturen der Jugendberufshilfe. Eine Forschungsübersicht. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Online verfügbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/64_Ju gendberufshilfe.pdf [Zugriff: 19.01.2022]. Mögling, T./Tillmann, F./Reißig, B. 2015: Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland. Düsseldorf: Vodafone Stiftung Deutschland. Online verfügbar unter: https://www.vodafone-sti

93

94

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

ftung.de/wp-content/uploads/2019/06/Entkoppelt-vom-System.pdf [Zugriff: 18.07.2022]. Münder, J./Hofmann, A. 2017: Jugendberufshilfe zwischen SGB III, SGB II und SGB VIII. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Online verfügbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_353.pdf [Zugriff: 19.01.2022]. Oechler, M. 2011: Dienstleistungsorientierung. In: Otto, H.-U./Thiersch, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt, S. 258-267. Peinemann, K. 2020: Professionelle Handlungsstrategien von Lehrkräften im Handlungsfeld »Berufsorientierung und Übergangssystem«. Eine regionale Untersuchung der berufsvorbereitenden Bildungsgänge an beruflichen Schulen in Mecklenburg-Vorpommern. Rostock. https://doi.org/10. 18453/rosdok_id00002737 [Zugriff: 15.01.2022]. Philipp, A. 2022: Vergaberecht in der Sozialen Arbeit: Ziele, Vorgaben für die Anwendbarkeit und tatsächliche Bedeutung. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit, 1, S. 4-13 Raithel, T. (2012): Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre. München: Oldenbourg. Ricken, N. 2013: Anerkennung als Adressierung. In: Alkemeyer, T./Budde, G./ Freist, D. (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript, S. 65-95. Schaarschuch, A. 1999: Theoretische Grundelemente Sozialer Arbeit als Dienstleistung. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 29, 6, S. 543-560. Schön, M. 2019: Kommentierung zu § 54a. In: Böttiger, W./Körtek, Y./ Schaumberg, T. (Hg.): Sozialgesetzbuch III. 3. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Schön, M./Thie, S. 2021: Kommentierung zu § 16h. In: Münder, J./Geiger, U. (Hg.): Sozialgesetzbuch II. 7. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Schruth, P. 2018: Sozialrechtliche Grundlagen der Jugendberufshilfe. In: Enggruber, R./Fehlau, M. (Hg.): Jugendberufshilfe: Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 78-96. Schultheis, K./Sell, S./Becher, L. 2020: Die drei Sektoren der beruflichen Bildung – Einleitung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktp olitik/325324/einleitung [Zugriff: 07.01.2022].

Übergangssystem – Institutionelle Logiken und Praxen

Sell, S. 2021: Berufsausbildung: Gekommen, aber nicht geblieben. Ausbildungsabbrüche und ein Teil ihrer möglichen Folgen. Online verfügbar unter: https://aktuelle-sozialpolitik.de/2021/09/21/ausbildungsabbrecher / [Zugriff: 22.02.2022]. Skrobanek, J. 2015: Ethnisierung von Ungleichheiten. Disparitäten, Benachteiligungswahrnehmung und Selbstethnisierungsprozesse im Übergang Schule–Ausbildung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. sowi-online 2016: Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Online verfügbar unter: https://www.sowi-online.de/reader/berufsorientierung/erosio n_normalarbeitsverhaeltnisses.html [Zugriff 11.01.2022]. Stauber, B./Walther, A. 2004: Übergangsforschung aus soziologischer Perspektive: Entstandardisierung von Übergängen im Lebenslauf junger Erwachsener. In: Schumacher, E. (Hg.): Übergänge in Bildung und Ausbildung: gesellschaftliche, subjektive und pädagogische Relevanzen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 47-67. Stauber, B.; Walther, A. 2018: Übergänge im Lebenslauf und Übergangsforschung. In: Otto, H.-U./Thiersch, H./Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit : Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, 6., überarbeitete Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag, S. 1790-1802. Steinberg, L./Dingeldey, I. 2020: Wer ist hier schwer zu erreichen? Herausforderungen im Übergang Schule–Beruf. Bremen: Institut für Arbeit und Wirtschaft. Online verfügbar unter: https://media.suub.uni-bremen.de/ bitstream/elib/5924/1/IAW_31_Übergang_Schule_Beruf_web.pdf [Zugriff: 18.07.2022]. Verlage, T./Walther, A. 2021: Ausschluss durch Einschluss im Übergang in Arbeit. Widersprüche sozialpädagogischen Handelns in der Jugendberufshilfe. In: Ahorn, R./Stehr, J. (Hg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 1087-1104. Walther, A. 2002: ›Benachteiligte Jugendliche‹: Widersprüche eines sozialpolitischen Deutungsmusters. Anmerkungen aus einer europäisch vergleichenden Perspektive. In: Soziale Welt, 53, 1, S. 87-107. Weiß, U. 2020: Jenseits des Scheiterns. Anerkennungsstrategien Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr. Wiesbaden: Springer VS. Wende, L. 2018. Träger der Jugendberufshilfe – Institutioneller Wandel und Ökonomisierung. In: Enggruber, R./Fehlau, M. (Hg.): Jugendberufshilfe: Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer, S.96-109. Zöller, U. 2015: Soziale Arbeit in der Integrationshilfe: multidisziplinäre Annäherung. In: Müller, B./Zöller, U./Diezinger, A./Schmid, A. (Hg.): Lehrbuch

95

96

Susanne Dern/Ulrike Zöller/Maria Bitzan

Integration von Jugendlichen in die Arbeitswelt. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 15-43. Zöller, U./Bairit, N./Pfeiffer, C./Schonske, L./Theiss, M. 2012: »Ich hab’s trotzdem geschafft.« Portrait eines türkischen Jugendlichen. In: Deutsche Jugend, 60, 12, S. 527-534.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem Ulrike Spangenberg

1.

Schutz vor Diskriminierung im Übergangssystem: Einführung

In Deutschland ist der Schutz vor Diskriminierung auf unterschiedlichen rechtlichen Ebenen verankert. Das Grundgesetz setzt den verfassungsrechtlichen Rahmen für den Schutz vor Diskriminierungen durch den Staat. Weitere Anforderungen ergeben sich aus europarechtlichen Regelungen und völkerrechtlichen Verträgen, die Deutschland ratifiziert hat.1 Das vermutlich bekannteste Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung ist das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Das AGG schützt dabei grundsätzlich auch vor Diskriminierungen, die LSBTI*Jugendliche erfahren. Der Schutz des AGG beschränkt sich allerdings weitgehend auf den Bereich Beruf und Beschäftigung. Im Übergangssystem gehören dazu zum Beispiel Maßnahmen in Betrieben, die Jugendlichen durch die Bundesagentur für Arbeit vermittelt werden. Der überwiegende Teil von Entscheidungen und Maßnahmen im Übergangssystem fällt jedoch in die Bereiche der sozialen Sicherung und der schulischen Bildung, in denen das AGG nicht anwendbar ist. Der verfassungsrechtlich normierte Schutz vor Diskriminierung kann diese Lücke nicht ausgleichen. Das Gleiche gilt für spezielle Regelungen im Sozialrecht oder im (hier untersuchten) hessischen Schulrecht. Der Beitrag erläutert die Reichweite der rechtlichen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierungen wegen der sexuellen und geschlechtlichen Identität mit Blick auf den Zugang und die Durchführung von Maßnahmen im Übergangssystem. Dabei wird deutlich, dass der Schutz vor Diskriminierung im Übergangssystem nur sehr unzureichend geregelt ist. So fehlt es

1

Ratifizierte Verträge haben den Rang eines Bundesgesetzes.

98

Ulrike Spangenberg

nicht nur an expliziten und in allen Bereichen des Übergangssystems geltenden Diskriminierungsverboten. Es fehlt weitgehend auch an konkreten rechtlichen Vorgaben für Regelungen und Mechanismen, die dazu dienen, (strukturelle) Diskriminierungen zu sanktionieren bzw. abzubauen.

2.

Vorgaben im Grundgesetz

Grundrechte vermitteln Abwehr- und Schutzrechte gegenüber dem Staat. Grundrechte schützen demzufolge auch bei Entscheidungen und Maßnahmen im Übergangssystem.

a)

Schutz vor Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung

Das Grundgesetz (GG) enthält in Art. 3 Abs. 3 GG ein Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Der Schutz vor Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität einer Person ist demgegenüber nicht explizit genannt.2 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat an diese Kategorien anknüpfende Benachteiligungen jedoch im Laufe der Zeit in den verfassungsrechtlich verankerten Schutz vor Diskriminierung einbezogen. Benachteiligungen wegen der sexuellen Orientierung wurden zunächst ausschließlich unter Bezug auf den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verhandelt (vgl. ausführlich Adamietz 2011). Erst seit 2009 leitet das BVerfG den Schutz vor Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG und dem besonderen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 3 GG her. Letzterer zielt auf den Abbau von strukturellen Ungleichheiten und knüpft dafür an Kategorien an, die unter anderem historisch bedingt als besonders schützenswert gelten. Die sexuelle Orientierung – so die Argumentation des Gerichts in Entscheidungen zur Gleichbehandlung von Ehe und eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuer- und Sozialrecht – gleiche den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kategorien (BVerfGE 124, 199, 220; 126, 400, 419; 133, 377, 408).

2

Gesetzesentwürfe zur Ergänzung von Art. 3 Abs. 3 GG um die Kategorie sexuelle Identität wurden bislang abgelehnt. Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht vor, Art. 3 Abs. 3 GG um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität zu ergänzen.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

Auch der Schutz der geschlechtlichen Identität wurde in frühen Entscheidungen zu Rechten von trans* Personen zunächst im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verhandelt (z.B. BVerfGE 49, 286). Später leitete das BVerfG den Schutz vor Diskriminierungen wegen der geschlechtlichen Identität ebenso wie bei der sexuellen Orientierung aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 3 GG her (z.B. BVerfGE 88, 87, 96). Die Argumentation des Gerichts änderte sich nochmals mit der Entscheidung zur sogenannten Dritten Option in 2017.3 Das Gericht argumentierte hier erstmals, dass der Schutz vor Diskriminierung wegen des Geschlechts in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht nur Personen umfasst, die als Männer oder Frauen gelten. Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG sei es, »Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen. […] Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch. […] Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG spricht ohne Einschränkung allgemein von ›Geschlecht‹, was auch ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich sein kann.« (BVerfGE 147, 1) Während die sexuelle Orientierung nach wie vor als Sonderrecht für homosexuelle Menschen konstruiert bleibt, rückt das Gericht mit dieser Argumentation von einer binären Konstruktion der Kategorie Geschlecht ab und öffnet den Schutzbereich geschlechtsbezogener Diskriminierung für trans* und intergeschlechtliche Menschen. Dieses Verständnis hat rechtsdogmatisch weitreichende Konsequenzen. Der Schutz vor geschlechtsbezogener Diskriminierung in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG umfasst sowohl ausdrücklich an ein Geschlecht anknüpfende Benachteiligungen als auch Regelungen, die nur faktisch bzw. mittelbar an ein Geschlecht anknüpfen (vgl. BVerfGE 113, 1, 16 unter Bezug auf Art. 3 Abs. 2 GG). Dieses sogenannte Verbot mittelbarer Diskriminierung wendet sich generell gegen mittelbare Differenzierungen oder faktische Benachteiligungen (s. auch BVerfGE 104, 373, 393ff.; 109, 64, 89ff.; 97, 35, 43f.). Beispielsweise ist die Beitragsbemessung in berufsständischen Versorgungswerken mittelbar diskriminierend, wenn bei der Berechnung die vor allem Frauen betreffenden kinderbedingten Auszeiten nicht berücksichtigt werden (BVerfGE 113, 1, 3

Die intergeschlechtliche beschwerdeführende Person wurde bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Sie fühlt sich dauerhaft weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig.

99

100

Ulrike Spangenberg

15). Ebenso unzulässig ist es, unterhalbzeitig Beschäftigte, bei denen es sich überwiegend um Frauen handelt, aus der zusätzlichen Altersvorsorge auszuschließen (BVerfGE 97, 35, 43f.) oder Teilzeitbeschäftigte bei der Berechnung des Ruhegehalts schlechterzustellen (BVerfGE 121, 241, 254f.). Entsprechendes gilt beispielsweise für Teilzeitmaßnahmen im Übergangssystem, soweit daraus geschlechtsbezogene Nachteile resultieren. Inwieweit der Schutz vor mittelbaren Diskriminierungen auch für die anderen über Art. 3 Abs. 3 GG erfassten Kategorien einschließlich der sexuellen Orientierung gilt, ist bislang nicht entschieden. In der Rechtsprechung des BVerfG wird das Verbot mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sowohl aus Art. 3 Abs. 2 GG als auch aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG hergeleitet (u.a. BVerfGE 121, 241, 257; 113, 1, 20). Dies spricht für eine Erweiterung auf alle unter Art. 3 Abs. 3 GG fallenden Kategorien. Angesichts des auch vom BVerfG betonten Zwecks von Art. 3 Abs. 3 GG, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen, wäre es nicht gerechtfertigt, den Schutz vor mittelbarer Diskriminierung auf geschlechtsbezogene Diskriminierungen zu beschränken (so bereits Klose/ Wrase 2011: 89). Vielmehr muss der Schutz vor mittelbarer Diskriminierung für alle über Art. 3 GG geschützten Kategorisierungen gelten.

b)

Recht auf diskriminierungsfreie Bildung und Ausbildung

Weitere für das Übergangssystem relevante Grundrechte sind der für das Schulwesen geltende Art. 7 GG, für die Berufswahl und die betriebliche Ausbildung Art. 12 GG und für die Ausgestaltung sozialer Leistungen das in Art. 20 GG normierte Sozialstaatsprinzip. Diese Grundrechte begründen für das Übergangssystem ein diskriminierungsfreies Recht auf Bildung und Ausbildung. Dieses umfasst zum einen den im Übergangssystem durch Sozialleistungen oder andere Formen der Finanzierung vermittelten Zugang zu schulischer und beruflicher Ausbildung. Zum anderen erstreckt sich dieses Recht auf eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Leistungen im Übergangssystem. Dazu gehört etwa der Schutz vor Diskriminierungen durch Lehr- oder Ausbildungspersonal, diskriminierungsfreie Lehr- und Lernmaterialien sowie die diskriminierungsfreie Gestaltung von Verwaltungsregelungen für die Durchführung der Maßnahmen im Übergangssystem (vgl. mit Bezug zum Schul- und Ausbildungssystem insgesamt Dern et al. 2014).

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

Die Grundrechte binden allerdings ausschließlich staatliche Akteur*innen. Im Übergangssystem gehören dazu zum Beispiel die Sozialleistungsträger (Agentur für Arbeit, Jugendamt), die über Maßnahmen entscheiden, oder staatliche Einrichtungen, in denen die Maßnahmen durchgeführt werden (etwa staatliche Schulen). Andere Jugendliche im Übergangssystem sind demgegenüber nicht an Art. 3 GG gebunden, weil es sich um Bürger*innen und nicht um staatliche Akteur*innen handelt. Allerdings können den Staat aufgrund der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte Schutzpflichten treffen. Während Grundrechte Eingriffe des Staates in Form eines Unterlassungsanspruchs abwehren, also eine Sphäre der privaten Selbstbestimmung schützen, begründen Schutzpflichten eine Handlungspflicht des Staates, Einzelne vor Übergriffen Privater zu schützen und durch geeignete Maßnahmen Verletzungen des jeweiligen Schutzgutes zu verhindern (vgl. Isensee 2000: § 111, Rn. 3). Der Staat ist in diesem Sinne gefordert, sich »schützend und fördernd« vor die Grundrechte zu stellen (Dreier 2004: Art. 1 GG, Rn. 62). Ebenso wie im Schulwesen kann es daher im Rahmen des Übergangssystems geboten sein, institutionelle Mechanismen zu implementieren, die LSBTI*-Jugendliche beispielsweise vor Anfeindungen oder Erniedrigungen der anderen Jugendlichen bewahren bzw. derartige Formen der Diskriminierung sanktionieren.

3.

Europa- und völkerrechtlicher Rahmen

Anforderungen an eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung des Übergangssystems können sich weiterhin aus europäischem Recht und aus völkerrechtlichen Verträgen ergeben. Das europäische Primärrecht beinhaltet verschiedene Regelungen zum Schutz vor Diskriminierung, die die sexuelle Orientierung bzw. Ausrichtung und die Geschlechtsidentität umfassen. Diese Regelungen wirken sich allerdings nur mittelbar im nationalen Recht aus. Art. 19 AEUV ermöglicht es dem Rat zum Beispiel, europäische Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierung zu erlassen, die dann im nationalen Recht umgesetzt werden müssen. Seit dem Vertrag von Lissabon ist zudem die Grundrechtecharta Teil des europäischen Primärrechts, die in Art. 21 ein Verbot der Diskriminierung enthält, das die sexuelle Orientierung einbezieht. Gleichzeitig sind die Rechtssetzungsbzw. Regelungskompetenzen der Europäischen Union beschränkt. Im Bereich der Beschäftigung einschließlich der beruflichen Bildung hat die EU sehr weitreichende Kompetenzen. In den für das Übergangssystem wichtigen Be-

101

102

Ulrike Spangenberg

reichen der (schulischen) Bildung und des Sozialschutzes sind die Kompetenzen demgegenüber sehr begrenzt, was sich im nationalen Recht bemerkbar macht (s. dazu die Ausführungen zum AGG). Völkerrechtliche Verträge wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), die UN-Kinderrechtskonvention oder der UN-Sozialpakt enthalten zwar Rechte und Pflichten für die Bereiche Bildung und soziale Sicherung (vgl. Dern et al. 2014: 12ff.). Diese Regelungen schützen jedoch vor allem vor geschlechtsbezogenen Diskriminierungen, die auf einem binären Verständnis von Geschlecht beruhen. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität einer Person sind demgegenüber völkerrechtlich bislang kaum geschützt (vgl. Chebout 2014: 136). Auch in der europa- und völkerrechtlichen Rechtsprechung werden sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität nur selten und in begrenztem Umfang als Bestandteil des Schutzes vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts begriffen.4 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) fasst Benachteiligungen aufgrund einer beabsichtigten oder vollzogenen Geschlechtsangleichung unter den Schutz vor geschlechtsbezogenen Diskriminierungen (C13/94, P gegen S und Cornwall County Council [1996] ECR 1-2143; C-117/01 [2004] ECR 1-541; C-423/04, Richards gegen Secretary of State for Work and Pensions [2006] ECR 1-3585; C-451/16, MB gegen Secretary of State for Work and Pensions [2018] C 451/16 ECLI:EU:C:2018:49). Diskriminierungen jenseits von Geschlechtsangleichungen im Sinne eines umfassenden Schutzes der geschlechtlichen Identität scheinen demgegenüber nicht einbezogen zu werden. Vielmehr legen die Entscheidungen, die allerdings auch nur Geschlechtsangleichungen betreffen, nach wie vor ein binäres Konzept von Geschlecht zugrunde. In einem solchen begrenzten Konzept werden beispielsweise Intergeschlechtlichkeit, Crossdressing oder allgemein Verhalten, das den sozialen Normen eines geschlechteradäquaten Verhaltens nicht entspricht, nicht eingeschlossen (vgl. van den Brink/Dunne 2018).

4

Zum Beispiel Menschenrechtsausschuss (MRA) vom 04.04.1994 Nr. 488/1992 (Toonen gegen Australien); anders MRA vom 30.03.2007, Nr. 1361/2005 (X gegen Kolumbien); vgl. UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (CEDAW), General Recommendation No. 28 on the Core Obligations of States Parties under Article 2 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 16.12.2010.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

Dieses eingeschränkte Verständnis von geschlechtlicher Identität widerspricht den »Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität«5 . Diese Prinzipien wurden im November 2006 von namhaften internationalen Menschenrechtsexpert*innen auf einer Konferenz im indonesischen Yogyakarta entwickelt und 2017 ergänzt. Sie sind ein Versuch, völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen LGBTI*-inkludierend auszulegen und umzusetzen (vgl. Chebout 2014: 135). In den Prinzipien wird der Begriff »sexuelle Orientierung« verstanden als die Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen desselben oder eines anderen Geschlechts oder mehr als eines Geschlechts hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen. Unter »geschlechtlicher Identität« wird das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht verstanden, das mit dem Geschlecht, das der Person bei der Geburt zugewiesen wurde, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt. Dies schließt die Wahrnehmung des eigenen Körpers (darunter auch die freiwillige Veränderung des äußeren körperlichen Erscheinungsbilds oder der Funktionen des Körpers durch medizinische, chirurgische oder andere Eingriffe) sowie andere Ausdrucksformen des Geschlechts (zum Beispiel durch Kleidung, Sprache und Verhaltensweisen) ein. Die Prinzipien sind rechtlich nicht verbindlich, sondern sollen die durch völkerrechtliche Verträge entstandenen staatlichen Pflichten konkretisieren. Nach Prinzip dreizehn hat beispielsweise »[j]eder Mensch […] das Recht auf soziale Sicherheit und andere soziale Schutzmaßnahmen ohne Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität«. Demzufolge sollen die Staaten dafür sorgen, dass Kinder im Sozialversicherungssystem oder bei der Bereitstellung von Sozialleistungen nicht aufgrund ihrer eigenen oder der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität eines ihrer Familienmitglieder diskriminiert werden. In den Yogyakarta-Prinzipien wird auch das diskriminierungsfreie Recht auf Bildung unter Berücksichtigung der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität benannt. Die dazu angeführten staatlichen Maßnahmen sind – neben den Pflichten für Sozialleistungen – als Rahmen

5

Vgl. http://yogyakartaprinciples.org/principles-en/. Die Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität wurden von der Hirschfeld-Eddy-Stiftung (2008) übersetzt.

103

104

Ulrike Spangenberg

für die Konkretisierung einer diskriminierungsfreien Ausgestaltung des Übergangssystems geeignet. Prinzip 16: Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung unter Berücksichtigung seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität und ohne aufgrunddessen diskriminiert zu werden. DIE STAATEN MÜSSEN A. alle erforderlichen gesetzgeberischen, administrativen und sonstigen Maßnahmen ergreifen, um ohne Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität den gleichberechtigten Zugang zu Bildung für Studierende, Schülerinnen und Schüler,6 Beschäftigte und Lehrende und deren Gleichbehandlung im Bildungssystem sicherzustellen; B. sicherstellen, dass Bildungsmaßnahmen auf die bestmögliche Weiterentwicklung der Persönlichkeit, Begabungen und geistigen und körperlichen Fähigkeiten jedes und jeder Studierenden, jeder Schülerin und jeden Schülers abzielen und auf die Bedürfnisse von Studierenden und Schülerinnen und Schülern aller sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten eingehen; C. dafür sorgen, dass durch Bildungsmaßnahmen die Achtung vor den Menschenrechten und vor den Eltern und Familienangehörigen, der kulturellen Identität, der Sprache und den Werten jedes Kindes in einer von Verständnis, Frieden, Toleranz und Gleichberechtigung geprägten Atmosphäre und unter Berücksichtigung und Achtung der unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten gestärkt wird; D. sicherstellen, dass die Lehrmethoden, Lehrpläne und Lehrmaterialien dazu geeignet sind, Verständnis und Respekt unter anderem für unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten zu fördern, wobei die damit in Zusammenhang stehenden besonderen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler bzw. Studierenden sowie ihrer Eltern und Familienangehörigen einbezogen werden; E. dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende, Beschäftigte und Lehrende mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität durch Gesetze und politische Maßnahmen vor allen Formen sozialer Ausgrenzung und Gewalt im schulischen Umfeld, einschließlich Schikanierungen und Übergriffen, angemessen geschützt werden;

6

Anders als in der deutschen Übersetzung der Hirschfeld-Eddy-Stiftung wird in der englischen Fassung einheitlich der Begriff »students« verwendet.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

F. sicherstellen, dass Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende, die Ausgrenzung und Gewalt ausgesetzt sind, nicht durch Schutzmaßnahmen marginalisiert oder isoliert werden und ihre Interessen gemeinsam mit ihnen festgestellt und geachtet werden; G. alle erforderlichen gesetzgeberischen, administrativen und sonstigen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Disziplin in Bildungseinrichtungen in einer Art und Weise geregelt wird, die mit der Würde des Menschen vereinbar ist, d.h. ohne Diskriminierung oder Bestrafung aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität der Studierenden bzw. der Schülerinnen und Schüler oder des Ausdrucks derselben; H. dafür sorgen, dass allen Menschen ohne Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Möglichkeiten und Mittel für lebenslanges Lernen zur Verfügung stehen. Dies gilt auch für Erwachsene, die im Bildungssystem bereits derartige Diskriminierungen erfahren haben. Übersetzung: Hirschfeld-Eddy-Stiftung (2008: 26f.)

4.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

a)

Umfang des Schutzes in Bezug auf LSBTI*

Das AGG setzt vier auf den Schutz vor Diskriminierung zielende europäische Richtlinien im deutschen Recht um.7 Das Gesetz zielt nach § 1 auf die Verhinderung und Beseitigung von Benachteiligungen, unter anderem aus Gründen des Geschlechts und der sexuellen Identität. Inwieweit dieser Begriff nur die sexuelle Orientierung oder auch die geschlechtliche Identität meint, wird unterschiedlich beurteilt (vgl. u.a. Thüsing 2018: § 1 AGG; Däubler/Bertzbach 2018: § 1 AGG). Nach dem Gesetzentwurf soll der Begriff »homosexuelle Männer und Frauen ebenso wie bisexuelle, transsexuelle oder zwischengeschlechtliche Menschen« erfassen (vgl. BT-Drucks. 16/1780 S. 31). Der 7

Die sogenannte Antirassismusrichtlinie (2000/43/EG), die Rahmenrichtlinie Beschäftigung (2000/78/EG), die »Gender-Richtlinie« (2002/73/EG), die inzwischen durch die Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Abl. EG Nr. L 204 S. 23) neugefasst wurde, sowie die Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter auch außerhalb der Arbeitswelt (2004/113/EG).

105

106

Ulrike Spangenberg

Rechtsprechung des EuGH und des BVerfG folgend, fällt die geschlechtliche Identität, das heißt Diskriminierungen von trans* und intergeschlechtlichen Personen, jedoch in den Anwendungsbereich geschlechtsbezogener Diskriminierungen. Letztlich kommt es auf die Differenzierung im AGG nicht an. Im Anwendungsbereich des AGG werden die sexuelle Orientierung und die geschlechtliche Identität in gleicher Weise geschützt. Das AGG bestimmt darüber hinaus nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern benennt die Rechtsfolgen, die ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach sich zieht (unter anderem Schadenersatz), normiert Beschwerderechte der Beschäftigten und verpflichtet Arbeitgeber*innen zudem, die zum Schutz vor Benachteiligung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Dazu gehören etwa die Schulung von Beschäftigten sowie die Einrichtung einer Beschwerdestelle.

b)

(Begrenzte) Reichweite im Übergangssystem

Das AGG greift im Übergangssystem allerdings nur dann, wenn es um Regelungen bzw. Sachverhalte geht, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fallen. Der in § 2 AGG definierte Anwendungsbereich des AGG nennt zwar neben dem Bereich der Beschäftigung auch den Sozialschutz (Nr. 5) und die Bildung (Nr. 7). Die in den §§ 7 und 19 AGG definierten Diskriminierungsverbote betreffen jedoch nur den Bereich Beruf und Beschäftigung und in eingeschränktem Umfang das Zivilrecht. Zum Bereich von Beruf und Beschäftigung gehört laut § 2 AGG der »Zugang zu allen Formen und allen Ebenen […] der Berufsbildung einschließlich der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung […]«. Bei Maßnahmen des Übergangssystems greift das AGG demzufolge bei der Durchführung der Maßnahmen in Betrieben etwa im Hinblick auf Arbeitsbedingungen, den Schutz vor Gewalt durch Mitarbeitende oder Mobbing durch andere Auszubildende. Die schulische Bildung fällt demgegenüber nicht in den Anwendungsbereich des AGG. Die Gesetzgebungskompetenzen für das schulische Bildungswesen liegen im Wesentlichen bei den Bundesländern. Das AGG ist ein Bundesgesetz (vgl. Baer 2010: 35, 54f.; Dern et al. 2013: 26). Das für das Zivilrecht geltende Diskriminierungsverbot in § 19 AGG bindet zwar private Bildungsträger und damit unter anderem Vereine, die Maßnahmen im Übergangssystem anbieten. Der Anwendungsbereich ist jedoch

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

auf sogenannte Massengeschäfte beschränkt, die typischerweise ohne besonderes Ansehen der Person in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (vgl. kritisch dazu Berghahn et al. 2016: 115; Dern 2012: 191). Dies trifft auf die Bildungsmaßnahmen des Übergangssystems, die individuell gewährt werden und den spezifischen Bedarfen der Leistungsberechtigten angepasst sind, nicht zu. Für das Verhältnis zwischen Sozialleistungsträger und Leistungsempfänger*innen, das heißt die Entscheidung über den Zugang zu Maßnahmen des Übergangssystems auf der Grundlage sozialrechtlicher Regelungen, greift das AGG nicht. § 2 Abs. 2 Satz 1 AGG verweist für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch vielmehr auf die besonderen Benachteiligungsverbote in § 33c SGB I (Allgemeine Vorschriften für das gesamte Sozialrecht) und § 19a SGB IV (Allgemeine Vorschriften für die Sozialversicherung).

5.

Schutz vor Diskriminierung im Sozialgesetzbuch

Selbst diese speziellen im Sozialgesetzbuch geregelten Diskriminierungsverbote vermitteln LSBTI*-Jugendlichen im Übergangssystem einen sehr eingeschränkten Schutz. Dazu kommt, dass die sozialrechtlichen Regelungen – im Gegensatz zum AGG – lediglich Diskriminierungsverbote formulieren. Konkrete Regelungen zu institutionalisierten Informations- und Beschwerdemechanismen, wie das AGG sie etwa für die Arbeitgebenden formuliert, fehlen.

a)

§ 33c SGB I

§ 33c SGB I schützt vor Diskriminierungen bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte. Die Regelung gilt damit für Entscheidungen und Maßnahmen im Übergangssystem, die auf der Grundlage des SGB II, III und VIII getroffen oder durchgeführt werden. Der Wortlaut der Regelung ist jedoch auf Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen der ethnischen Herkunft und einer Behinderung beschränkt. Benachteiligungen wegen des Geschlechts, der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung sind nicht erfasst. Dieser auf ausgewählte Kategorien begrenzte Diskriminierungsschutz hängt mit den von der EU erlassenen Richtlinien zusammen, die das AGG umsetzt. Die Richtlinien regeln unterschiedliche Anwendungsbereiche und betreffen unterschiedliche Kategorien. Der Schutz vor Diskriminierung im Bereich des Sozialschutzes und der sozialen Sicherheit ist lediglich in der Antirassismus-

107

108

Ulrike Spangenberg

richtlinie geregelt, die sich jedoch auf rassistische und an die Herkunft anknüpfende Diskriminierungen beschränkt. Mit der Aufnahme der Kategorie Behinderung geht § 33c SGB I über die Vorgaben der Richtlinie hinaus. Weitere Kategorien hat die deutsche Gesetzgebung demgegenüber nicht einbezogen. Geschlechtsbezogene Diskriminierungen können allenfalls über die 1978 verabschiedete Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/ EWG) einbezogen werden. Die Richtlinie verbietet geschlechtsbezogene Diskriminierungen in den gesetzlichen Systemen der sozialen Sicherheit, die Schutz gegen die Risiken Krankheit, Invalidität, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit sowie Alter bieten. Demzufolge sind zumindest die über das SGB II und III finanzierten Maßnahmen des Übergangssystems erfasst, die auf den Schutz vor Arbeitslosigkeit zielen (vgl. Dern 2012: 237ff.). Dennoch werden damit nur Diskriminierungen einbezogen, die – nach der Rechtsprechung des EuGH bzw. des BVerfG – als geschlechtsbezogene Diskriminierungen gelten. Demzufolge ist zumindest die sexuelle Orientierung nicht umfasst.

b)

§ 19a SGB IV

§ 19a SGB IV verbietet Benachteiligungen bei der Inanspruchnahme von berufsbezogenen Maßnahmen. Im Gegensatz zu § 33 SGB I erfasst § 19a SGB IV Diskriminierungen wegen des Geschlechts und der sexuellen Identität. Der Grund ist, dass die Regelung nicht nur die Antirassismusrichtlinie, sondern auch die Rahmenrichtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf umsetzt (2000/78/EG). Mit den Begriffen »Geschlecht« und »sexuelle Identität« könnten Diskriminierungen von LSBTI*-Jugendlichen umfassend erfasst werden. Im Übergangssystem ist aber auch § 19a SGB IV nur begrenzt anwendbar. Erstens schränkt die Verortung im SGB IV (Gemeinsame Vorschriften für Sozialversicherungsträger) den Anwendungsbereich ein. Zu den in § 1 SGB IV genannten Sozialversicherungszweigen gehören unter anderem die Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit (§ 1 Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Nach § 1 Abs. 2 SGB IV gilt § 19a SGB IV zudem für die Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die nach dem SGB VIII zuständigen Jugendhilfeträger sind demgegenüber nicht erfasst. Nach Dern (vgl. 2012: 186f.) widerspricht diese Beschränkung allerdings europäischen Vorgaben: Die Rahmenrichtlinie fordere den Schutz

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

vor Diskriminierung für den gesamten Bereich der Beschäftigung einschließlich der berufsbildenden Leistungen. Demzufolge könne es nicht darauf ankommen, wer die Leistungen gewährt. § 19a SGB IV sei richtlinienkonform auf alle Sozialleistungsträger anzuwenden (vgl. ebd.). Zweitens gelten die sozialrechtlichen Benachteiligungsverbote nach überwiegender Ansicht nur im Verhältnis zwischen Sozialleistungsträgern und Leistungsberechtigten (vgl. Schifferdecker o. J.: § 33c, Rn. 30; Mrozynski 2019: § 33c, Rn. 10; Dern 2012: 184, 188f.; a. A. Zieglmeier o. J.: § 19a SGB IV, Rn. 14ff.). Die Durchführung der Maßnahmen ist daher nicht erfasst, es sei denn, es handelt sich um private Einrichtungen, für die das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 19 AGG gilt. Dieses ist bei Benachteiligungen wegen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung wiederum auf Massengeschäfte ohne Ansehen der Person beschränkt. Ausnahmen sind betriebliche Maßnahmen, für die § 7 AGG gelten kann. Allerdings lässt sich argumentieren, dass die Sozialleistungsträger dafür zu sorgen haben, dass die sozialrechtlichen Benachteiligungsverbote in den Verträgen mit den Leistungserbringenden beachtet werden (vgl. Schifferdecker o. J.: § 33, Rn. 30). Soweit die Erbringung der Maßnahmen im Übergangssystem durch private Träger erfolgt, bestünde damit eine Einwirkungs- und Steuerungspflicht der öffentlichen Träger (vgl. Dern 2012: 189). Drittens erfasst § 19a SGB IV nur berufsbezogene Maßnahmen, die auf der Grundlage des Sozialgesetzbuchs erbracht werden. Ausdrücklich genannt sind neben der Berufsberatung die Berufsbildung, die berufliche Weiterbildung, die Umschulung und praktische Berufserfahrungen, wie zum Beispiel Praktika. Allgemeinbildende Maßnahmen, zu denen etwa das Nachholen des Schulabschlusses zählt, oder aber Maßnahmen an beruflichen Schulen fallen nicht in den Anwendungsbereich der Regelung. Ebenso wenig sind Leistungen des SGB VIII erfasst, mit denen in erster Linie die Entwicklung der Persönlichkeit unterstützt wird.8

8

Der mit der Reform des SGB VIII erweiterte § 9 Nr. 3 SGB VIII verlangt, dass bei der Ausgestaltung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur Bedarfe von Mädchen und Jungen, sondern ebenso von transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen sind. Die Vorschrift vermittelt aber kein einklagbares Recht.

109

110

Ulrike Spangenberg

6.

Schulgesetz Hessen

Das Schulgesetz Hessen (HSchG) fängt diese Lücken nicht auf.9 Das Schulgesetz ist im Übergangssystem zwar auf Maßnahmen anwendbar, die in Bildungseinrichtungen durchgeführt werden, die allgemeinbildenden oder berufsqualifizierenden Unterricht anbieten (§ 2 HSchG). Die spezifischen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierung bzw. zur Förderung der Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen (§§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 5, 3 Abs. 3 und 4 HSchG) folgen jedoch in erster Linie einem binären Konzept von Geschlecht. Die in den §§ 2 und 3 HSchG formulierten Bildungsund Erziehungsziele und die Grundsätze zu ihrer Verwirklichung nennen nur die Gleichberechtigung von Mann und Frau bzw. Schülern und Schülerinnen. Lediglich in den §§ 1 Abs. 2 und 3 Abs. 3 HSchG wird der umfassendere Begriff Geschlecht verwendet. Ein umfassender Schutz der geschlechtlichen Identität oder der sexuellen Orientierung ist nicht verankert. § 1 HSchG – Recht auf schulische Bildung […] (2) Für die Aufnahme in eine Schule dürfen weder Geschlecht, Behinderung, Herkunftsland oder Religionsbekenntnis noch die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung der Eltern bestimmend sein.   § 2 HSchG – Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule (2) Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler befähigen, in Anerkennung der Wertordnung des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Hessen […]  5. die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zu erfahren […]. (3) Die Schule soll den Schülerinnen und Schülern die dem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen, […]

9

Exemplarisch wird auf Hessen eingegangen, weil zwei der in diesem Band vorgestellten Untersuchungen in Hessen durchgeführt wurden.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

2. eine gleichberechtigte Beziehung zwischen den Geschlechtern zu entwickeln […]. § 3 HSchG – Grundsätze für die Verwirklichung […] (2) Um dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern Rechnung zu tragen, ist darauf hinzuwirken, dass Ausschüsse, Beiräte, Kommissionen, sonstige Gremien und Kollegialorgane, die aufgrund dieses Gesetzes zu bilden sind, paritätisch besetzt werden. […] (3) Die Schule darf keine Schülerin und keinen Schüler wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, einer Behinderung, des Glaubens und der religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligen oder bevorzugen. (4) Die Schule soll Voraussetzungen zur Förderung der Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen schaffen. […]

7.

Zusammenfassung

Der rechtliche Rahmen für den Schutz vor Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität weist im Übergangssystem weitreichende Schutzlücken auf (s. Tabelle unten).

a)

Schutzniveau differiert in Abhängigkeit von der betroffenen Kategorie

Erstens unterscheiden sich die Schutzniveaus von Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität. Der Schutz der geschlechtlichen Identität geht verfassungsrechtlich über den Schutz der sexuellen Orientierung hinaus, weil er gerichtlich in den Anwendungsbereich geschlechtsbezogener Diskriminierungen einbezogen wurde. Während die sexuelle Orientierung nach wie vor als Sonderrecht für homosexuelle Menschen konstruiert bleibt, ist das BVerfG in der Entscheidung zur sogenannten Dritten Option von einer binären Konstruktion der Kategorie Geschlecht abgerückt und hat damit den Schutzbereich geschlechts-

111

112

Ulrike Spangenberg

bezogener Diskriminierungen für trans* und intergeschlechtliche Menschen geöffnet. Gleichzeitig sind die konkreten Inhalte eines Schutzes vor Diskriminierung wegen der geschlechtlichen Identität wie auch wegen der sexuellen Orientierung im Bereich Bildung, Ausbildung und Sozialschutz und demzufolge im Übergangssystem wenig ausdifferenziert. Die relevanten gerichtlichen Entscheidungen betrafen bislang in erster Linie die Rechte von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Vergleich zur Ehe bzw. die Rechte von trans* und intergeschlechtlichen Menschen im Personenstandsrecht. Tabelle: Nationaler antidiskriminierungsrechtlicher Rahmen für Maßnahmen im Übergangssystem  

Art. 3 GG

§ 33c SGB I

§ 19a SGB IV

§7 AGG

§ 19 AGG

§ 36 SGB III

HSchulG

Geschlecht einschließlich geschlechtlicher Identität

Art. 3 Abs. 3 GG

(x)

x

x

x

x

(x)

Sexuelle Identität bzw. Orientierung

Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 3 GG

 

x

x

x

x

 

Leistungsträger

 

 

 

 

 

 

 

Bundesagentur für Arbeit (SGB III)

x

x

x

 

 

x

 

Kommunale Jobcenter (SGB II)

x

x

x

 

 

 

 

Jugendämter (SGB VIII)

x

x

(x)

 

 

 

 

Leistungserbringende

 

 

 

 

 

 

 

Körperschaften des öffentlichen Rechts (z.B. BA)

x

 

 

x



 

 

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

  Art. 3 GG

§ 33c SGB I

§ 19a SGB IV

§7 AGG

§ 19 AGG

§ 36 SGB III

HSchulG

Freie Träger/private Bildungseinrichtungen (eingetragene Vereine/gGmbH)







 

(x)

 

 

Außerbetriebliche Einrichtungen







 

(x)

 

 

Allgemeinbildende und berufsqualifizierende Schulen

x





 

 

 

x

Private (Ausbildungs-)Betriebe







x

 

 

() – rechtlich nicht eindeutig geregelt

b)

Schutz differiert in Abhängigkeit vom Rechtskreis und Rechtsverhältnis

Zweitens sind die im Übergangssystem agierenden Akteure (Leistungsträger, Leistungserbringende, Dritte) aufgrund der Rechtskreise, in denen sie agieren (unter anderem SGB II, III, VIII), und aufgrund der jeweiligen Rechtsverhältnisse (Leistungsgewährung, Leistungserbringung in betrieblichen oder schulischen Einrichtungen) an unterschiedliche diskriminierungsrechtliche Vorgaben gebunden (AGG, HSchulG, SGB). Jugendliche sind demzufolge – je nach Rechtskreis und Rechtsverhältnis – in unterschiedlicher Weise vor Diskriminierung geschützt. Beispielsweise ist § 19a SGB IV dem Wortlaut nach auf die Gewährung von Leistungen im Übergangssystem nach dem SGB II und III beschränkt. Demzufolge fallen die berufsbezogenen Maßnahmen nach dem SGB VIII nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Regelung. Dies kann dazu führen, dass gerade Jugendliche, die zum Ausgleich von strukturellen Benachteiligungen mit pädagogisch begleiteten Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen nach § 13 SGB VIII unterstützt werden, weniger vor Diskriminierung geschützt sind als Jugendliche, die »nur« über das SGB III gefördert werden,

113

114

Ulrike Spangenberg

obwohl § 9 Nr. 3 SGB III inzwischen verlangt, bei der Ausgestaltung der Leistungen nach dem SGB VIII die Bedarfe von transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen. Die speziellen sozialrechtlichen Diskriminierungsverbote greifen zudem nur für die Leistungsgewährung, also den diskriminierungsfreien Zugang zu Maßnahmen des Übergangssystems. Für die Durchführung der Maßnahmen gilt hingegen das AGG, allerdings nur dann, wenn es sich um Maßnahmen in Betrieben handelt, für die § 7 AGG gilt. Im Hinblick auf Maßnahmen im schulischen Bereich greift allenfalls das Schulgesetz, das jedoch kaum konkrete Regelungen zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität enthält. Mit dem besonderen Schutz der beruflichen Bildung über das AGG geht daher eine Privilegierung der dualen Ausbildungen einher – weil schulische Ausbildungen nicht in den Anwendungsbereich des AGG fallen.

c)

Schutz vor Diskriminierungen durch staatliche Akteure wenig konkretisiert

Drittens ist der Schutz vor Diskriminierung durch staatliche Akteure, insbesondere die Sozialleistungsträger, aufgrund der Bindung an das Grundgesetz, aber auch durch die sozialrechtlichen Diskriminierungsverbote zwar besonders ausgeprägt. Gleichzeitig fehlt es hier an konkreten rechtlichen Bestimmungen, vor allem im Hinblick auf Durchsetzungsmechanismen. Die Diskriminierungsverbote im SGB definieren beispielsweise nicht, was als Diskriminierung zu verstehen ist10 und welche Rechtsfolgen sich aus einem Verstoß ergeben. Weiterhin fehlt es an institutionellen Maßnahmen, die – ebenso wie im AGG – etwa Informationspflichten und Beschwerdemechanismen normieren. Offen bleibt, inwieweit die Benachteiligungsverbote strukturimmanente Korrekturen erlauben, etwa wenn die Anforderungen für die Leistungsgewährung mittelbar diskriminierend wirken und ein Wegfall der Anforderungen den Kreis der Anspruchsberechtigten erweitern würde (vgl. Dern 2012: 224f.). Über die Grundrechte lässt sich für das Übergangssystem ein diskriminierungsfreies Recht auf Bildung und Ausbildung begründen. Dennoch fehlt 10

Da die Regelungen aber keine expliziten Beschränkungen enthalten, ist von einem umfassenden Benachteiligungsverbot auszugehen, das mittelbare Diskriminierungen einschließt.

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

es an konkretisierenden Regelungen für das Übergangssystem, vor allem im Hinblick auf den Schutz vor Diskriminierungen durch Dritte. Hier können die Yogyakarta-Prinzipien als Rahmen für grundlegende Regelungen dienen.

d)

Forschungslücke: Diskriminierende Kriterien und Normen des Übergangssystems selbst

Inwieweit die Regelungen der unterschiedlichen Rechtskreise selbst benachteiligend wirken, muss unter Bezug auf Diskriminierungserfahrungen bzw. besondere Lebensrealitäten von LSBTI*-Personen genauer untersucht werden. Mögliche Ansatzpunkte sind beispielsweise Auswahl- oder Förderkriterien11 einschließlich der im Rahmen der Arbeitsförderung und Grundsicherung üblichen Potenzialanalyse (§ 37 SGB III12 ), Erfolgsprognosen sowie Vermittlungspraxen, die zum Beispiel auf stereotypen Geschlechterrollen basieren, können Einfallstore für mittelbare Formen der Diskriminierung sein, wenn sich die Kriterien oder Praxen faktisch zulasten von LSBTI*Jugendlichen auswirken. Ebenso kann die Ausgestaltung von Unterrichts-/ Lehrmaterial diskriminierend sein.

Literatur Adamietz, L. 2011: Geschlecht als Erwartung. Baden-Baden: Nomos. Baer, S. 2010: Schutz vor Diskriminierung im Bildungsbereich in Berlin aus juristischer Sicht. Gutachten im Auftrag der LADS Berlin. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs /downloads/DE/newsletter_pdf/lads_gutachten.pdf?__blob=publicationF ile&v=1 [Zugriff 12.07.2022].

11

12

Siehe etwa die in den §§ 30, 31 SGB III geregelten Inhalte und Grundsätze und deren Verständnis, zum Beispiel Berücksichtigung der Neigung, der Eignung und der Leistungsfähigkeit der Ratsuchenden. »Die Agentur für Arbeit hat unverzüglich nach der Ausbildungsuchendmeldung oder Arbeitsuchendmeldung zusammen mit der oder dem Ausbildungsuchenden oder der oder dem Arbeitsuchenden die für die Vermittlung erforderlichen beruflichen und persönlichen Merkmale, beruflichen Fähigkeiten und die Eignung festzustellen (Potenzialanalyse). Die Potenzialanalyse erstreckt sich auch auf die Feststellung, ob und durch welche Umstände die berufliche Eingliederung voraussichtlich erschwert sein wird.« (§ 37 Abs. 1 SGB III)

115

116

Ulrike Spangenberg

Berghahn, S. et al. 2014: Handbuch »Rechtlicher Diskriminierungsschutz«. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle. de/SharedDocs/Downloads/DE/ [Zugriff 12.07.2022]. Berghahn, S./Klapp, M./Tischbirek, A. 2016: Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Berlin. https://www.antidiskriminierungsst elle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/AGG/agg_evaluation. pdf;jsessionid=9520B9F3EF412564974F0DC1A095AECB.intranet222?__blo b=publicationFile&v=12 [Zugriff 12.07.2022]. Chebout, L. 2014: Queering International Law. Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Dimensionen von Geschlecht. In: Lembke, U. (Hg.): Menschenrechte und Geschlecht. Baden-Baden: Nomos. Däubler, W./Bertzbach, M. 2018: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Handkommentar. 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Dern, S. 2012: Sozialrechtliche Gleichstellungs- und Antidiskriminierungskonzeptionen. Begründung, Systematik und Implementierung. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Dern, S./Schmidt, A./Spangenberg, U. 2014: Schutz vor Diskriminierung im Schulbereich. Eine Analyse von Regelungen und Schutzlücken im Schulund Sozialrecht sowie Empfehlungen für deren Fortentwicklung. Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. Dreier, H. 2004: Art. 1 GG. In: Dreier, H. (Hg.): Grundgesetz. Kommentar. Band 1, 2. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Hirschfeld-Eddy-Stiftung 2008: Die Yogyakarta-Prinzipien. Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/schriften/band-1-yogyakar ta-prinzipien [Zugriff 12.07.2022]. Isensee, J. 2000: § 111. In: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band V: Allgemeine Grundrechtslehren. 2. Auflage. Heidelberg u.a.: C. F. Müller. Mrozynski, P. 2019: SGB I. Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil. 6. Auflage. München: C. H. Beck. Schifferdecker, S. o. J.: § 33c SGB I. In: Körner, A. et al. (Hg.): Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht. 111. Auflage. München: C. H. Beck. Thüsing, G. 2018: § 1 AGG. In: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. 8. Auflage. München: C. H. Beck. van den Brink, M./Dunne, P. 2018: Trans and Intersex Equality Rights in Europe: A Comparative Analysis. Report for the European Network of Legal Ex-

Antidiskriminierungsrecht im Übergangssystem

perts in Gender Equality and Non-Discrimination. Luxemburg: Publications Office of the European Union. Online verfügbar unter: https://ec.eu ropa.eu/info/sites/info/files/trans_and_intersex_equality_rights.pdf [Zugriff 12.07.2022]. Zieglmeier, C. o. J.: § 19a SGB IV. In: Körner, A. et al. (Hg.): Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht. 111. Auflage. München: C. H. Beck.

117

II Queer im Übergangssystem: Forschungsergebnisse

»Ich wünschte, wir müssten nicht so Angst davor haben, wie andere Menschen darauf reagieren« Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette Jasmin Brück

1.

Ausgangslage und Erkenntnisinteresse

Ein Blick auf vergangene und gegenwärtige Studien (vgl. u.a. Timmermanns et al. 2022; Rinnert 2019; Frohn et al. 2017; FRA 2013; LesMigraS 2012) macht deutlich, dass queere Lebensrealitäten seit einigen Jahren zunehmend zu einem Thema wissenschaftlicher Forschung geworden sind. Hierbei erfährt auch die Situation junger queerer Menschen ein erhöhtes Interesse (vgl. u.a. Krell 2021; Biele Mefebue et al. 2018; Timmermanns et al. 2017; Sauer/Meyer 2016; Krell/Oldemeier 2015). Statt Fremdeinschätzungen zur Situation von queeren Menschen zu erheben, werden diese vermehrt selbst befragt und dabei Themen wie beispielsweise das Coming-out, Diskriminierungserfahrungen, Handlungs- und Bewältigungsstrategien aufgezeigt und analysiert. Im Rahmen meines Dissertationsvorhabens gehe ich – ebenfalls aus subjektorientierter Perspektive – der Frage nach, wie sich die Situation von jungen queeren Menschen im Übergang von der Schule in die Ausbildung oder den Beruf gestaltet. Hierbei richtet sich mein Erkenntnisinteresse insbesondere auf die Wahrnehmungen und Erfahrungen dieser jungen Menschen hinsichtlich struktureller Disparitäten in unterschiedlichen Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems. Die DJI-Studie »Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung« von Claudia Krell beleuchtet bereits die Situation von jungen queeren Menschen im beruflichen Ausbildungssystem (vgl. Krell 2021: 6). Krell untersucht dabei konkret das Schulberufssystem und die duale Ausbildung (s. Krell/Gaupp in diesem Band). Der vorliegende

122

Jasmin Brück

Beitrag hingegen richtet den Blick auf das Übergangssystem als weiteren Sektor der beruflichen Ausbildung, mit dem Ziel, ineinander verwobene Differenzordnungen – hier: gender und class (vgl. Degele/Winker 2007: 1ff.) – aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine Perspektive auf eine Adressat*innengruppe der Sozialen Arbeit eröffnet, die nicht nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Zugehörigkeit, sondern auch aufgrund von erschwerten Zugängen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt benachteiligt zu sein scheint. Das Übergangssystem wird allgemein als ein Ort der Ermöglichung für Menschen verstanden, die die formalen Anforderungen des Bildungssystems nicht erfüllen. Es adressiert entsprechend Menschen, die nur schwer einen Zugang zum Ausbildungs- und/oder Arbeitsmarkt erhalten. Ziel des Übergangssystems ist es, diese Menschen durch verschiedene Qualifizierungsmaßnahmen derart zu befähigen, dass sie die mit standardisierten Lebensläufen einhergehenden Anforderungen erfüllen können (s. Dern/ Zöller/Bitzan in diesem Band). Professionelle Akteur*innen nehmen in diesem institutionellen Bildungssystem eine formale Position ein, aus der heraus bestimmte Erwartungen und Forderungen an junge Menschen im Übergangssystem formuliert werden können. Sie reproduzieren nicht selten gesellschaftliche Erwartungen an eine arbeitsweltbezogene Normalbiografie, an denen auch die Bedürfnisse von jungen (queeren) Menschen gemessen werden. Zugleich können Professionelle Erwartungen an eine cis-heterosexuelle Lebensgestaltung postulieren und damit spezifische Verhaltensmuster einfordern sowie strukturelle Rahmenbedingungen vorgeben. Diese Normalitätsannahmen können sich sowohl einzeln als auch wechselseitig auf die Bildungs- und Arbeitsbiografien der Adressat*innen auswirken. Anhand einer Fallvignette soll nun aufgezeigt werden, wie im Übergangssystem neben formalen Bedingungen und Forderungen hinsichtlich eines gelungenen Übergangs von der Schule in Ausbildung und Beruf auch bestehende normative Annahmen über Geschlecht, Sexualität, Körper, Aussehen und Verhalten eingefordert werden. Dabei wird den Fragen nachgegangen, ob und wie die Person, die hier Elia Friedsam genannt wird, in den Qualifizierungsmaßnahmen des Übergangssystems Diskriminierung und Benachteiligung erfährt und welche Handlungsstrategien von Elia erkennbar sind. Die exemplarische Fallvignette ermöglicht einen Einblick in die Situation einer queeren Person im Übergangssystem und zeigt in diesem Zuge bestehende Erfahrungen aufgrund einer nichtheterosexuellen Orientierung und einer nicht-

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

cis-geschlechtlichen Zugehörigkeit auf. Diese Fallvignette ist Teil des Dissertationsprojekts, in dem die Situation von jungen queeren Menschen im beruflichen Ausbildungssystem erhellt wird. Es folgt zunächst eine Darstellung des Forschungsdesigns sowie ein Kurzporträt der interviewten Person, um relevante biografische Phasen im Verlauf der Analyse einordnen zu können. Daran anschließend folgt die Beschreibung der fallspezifischen Ergebnisse, die in einem Fazit kurz resümiert werden.

2.

Zugang zum Feld und methodisches Vorgehen

Der Zugang zu jungen queeren Menschen im Übergangssystem erfolgte durch eine gezielte Suche über queere Einrichtungen und Angebote. Ein direkter Zugang zur Zielgruppe in bestehenden Qualifizierungsmaßnahmen wurde bewusst vermieden, da die Situation von queeren Menschen und der Umgang mit Queerness im Übergangssystem nicht eindeutig geklärt waren. Um einerseits kein Zwangsouting im Zuge der Suche hervorzurufen sowie andererseits ein gezieltes Suchen anhand definierter Kategorien der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Zugehörigkeit aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierungsgefahr auszuschließen, wurde sich letztlich gegen einen Zugang zum Forschungsfeld direkt über das Übergangssystem entschieden. Im Zentrum der forschungsethischen Überlegungen, die zu dieser Entscheidung führten, stand die Anforderung, die Zielgruppe nur an Orten aufzusuchen, an denen eine Sichtbarkeit des eigenen Queerseins nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Bei der Suche wurden im Zeitraum zwischen Juni 2019 und Februar 2020 insgesamt 1.300 Flyer in unterschiedlichen queeren Einrichtungen sowie auf verschiedenen Veranstaltungen wie beispielsweise den Demonstrationen des Christopher Street Days in verschiedenen Großstädten in Hessen verteilt. Ebenso notwendig war der Zugang zu sozialpädagogischen Fachkräften in verschiedenen queeren Angeboten, die die Suche nach der Zielgruppe unterstützen konnten. Insgesamt wurde in 27 queeren Einrichtungen auf das Dissertationsvorhaben aufmerksam gemacht. Trotz der umfangreichen Suche blieben direkte Kontakte zu jungen queeren Menschen im Übergangssystem aus. Fachkräfte aus queeren Einrichtungen berichteten, dass junge Menschen, die keinen Schulabschluss haben oder an Qualifizierungsmaßnahmen im Übergangssystem teilnehmen, wenig bis gar nicht in diesen Jugendeinrichtungen bekannt sind. Es wurde zudem die

123

124

Jasmin Brück

Vermutung geäußert, dass sich diese jungen queeren Menschen eher wenig oder auch gar nicht zu ihrer Bildungsbiografie äußern. Das Resultat der sechsmonatigen Suche war lediglich ein Kontakt zu einer jungen queeren Person – Elia –, die sich aufgrund des Flyers im Januar 2020 bei mir meldete. Elia berichtete, dass Elia1 bereits an verschiedenen Maßnahmen im Übergangssystem teilgenommen hat. Weitere Kontakte zu jungen queeren Menschen im Übergangssystem blieben aus. Allerdings meldeten sich bereits ab September 2019 insgesamt sechs junge queere Menschen, die sich im Schulberufssystem befanden.2 Aufgrund der durch mein Qualifizierungsprojekt begrenzten zeitlichen und finanziellen Ressourcen war eine weitere Suche nach jungen queeren Menschen im Übergangssystem nicht möglich. Das veranlasste mich dazu, die Kriterien des Samples auf junge queere Menschen im Schulberufssystem zu erweitern. Das Sample besteht mithin aus insgesamt sieben jungen queeren Menschen in unterschiedlichen Qualifizierungsmaßnahmen und Bildungsgängen im beruflichen Ausbildungssystem, die im Rahmen eines qualitativen Forschungsdesigns interviewt wurden. In einem ersten Schritt wurden dabei Daten mittels narrativer Interviews (vgl. Schütze 1983) erhoben. Um das Erleben und die Wahrnehmungen der interviewten Personen hervorzubringen und die in der Forschungssituation sich ergebenden Aushandlungsprozesse zu rekonstruieren, wurde bei der Auswertung und Analyse des Datenmaterials sowohl auf die Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) als auch auf die Situationsanalyse (vgl. Clarke et al. 2018) zurückgegriffen. Im Rahmen der Auswertung wurde vorerst danach gefragt, wer oder was sich genau im Übergangs- bzw. Schulberufssystem befindet, um anschließend die Bedeutung und die relationalen Verhältnisse zwischen diesen Akteur*innen, Elementen und den interviewten jungen queeren Menschen rekonstruieren zu können. 1

2

Aufgrund der von Elia genannten nichtbinären Geschlechtszugehörigkeit, wird im Folgenden davon abgesehen, die gängigen binärgeschlechtlichen Pronomen wie er/ihm und sie/ihr zu verwenden. Stattdessen wird der Name als Pronomen bevorzugt. Insgesamt meldeten sich fünf junge Menschen, die die Grundausbildung zur Sozialassistenz an einer zweijährigen höheren Berufsfachschule machten. Eine weitere Person hatte eine Assistenzausbildung an einer zweijährigen höheren Berufsschule absolviert und befand sich zu jenem Zeitpunkt kurz vor Beginn eines Freiwilligen Sozialen Jahres. Aufgrund fehlender Passung auf dem Arbeitsmarkt entschied sich diese Person für ein FSJ, um dann im Anschluss die Grundausbildung zur Sozialassistenz an einer zweijährigen höheren Berufsfachschule zu beginnen.

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

In einem zweiten Erhebungsschritt wurden diese Ergebnisse den interviewten Personen in einer Gruppendiskussion zur Interpretation und Reinterpretation vorgelegt. Das Ziel hierbei war, das implizite Wissen sowie die kollektiven Meinungen und Orientierungen (vgl. Bohnsack 2021: 111f.) der Zielgruppe hervorzubringen, um sie in die Analyse miteinbeziehen zu können. Im Folgenden werde ich mich jedoch nur auf Interviewsequenzen aus dem ersten Erhebungsschritt beziehen, da Elia aufgrund persönlicher Gründe nicht an der Gruppendiskussion teilnehmen konnte.

3.

Kurzporträt

Elia ist zum Zeitpunkt des Interviews 23 Jahre alt. Hinsichtlich der geschlechtlichen Zugehörigkeit definiert sich Elia »als nicht weiblich, […] sondern als non-binary« (163).3 Hinsichtlich der sexuellen Orientierung beschreibt sich Elia als lesbisch. Im Interview erwähnt Elia eingangs die Suchterkrankung der Mutter und eine damit einhergehende prekäre Lebenslage. Elia beschreibt, dass die Familie immer wieder an der »Armutsgrenze entlanggeschlittert« (59f.) sei. Mit zwölf Jahren wurde Elia von der Mutter »dann in die Jugendhilfe gegeben, […] weil sie sich nicht mehr um uns kümmern konnte« (65f.). Elia lebte von diesem Zeitpunkt an in einer Wohngruppe. Das Leben in dieser Jugendhilfeeinrichtung beschreibt Elia mit gemischten Gefühlen. So hatte Elia zu einigen Kindern und Jugendlichen einen guten Kontakt, hingegen berichtet Elia auch von jungen Menschen in dieser Einrichtung, die Elia »überhaupt nicht geheuer gewesen« (77) waren. Hier bezieht sich Elia explizit auf »einen Typen« (78), der Elia »mehrfach belästigt« (82f.), zwar »nie angefasst« (83), jedoch »anzüglige/ähm (.) gruselige Bemerkungen gemacht« (84) hat. Elia erlebt damit bereits sehr früh grenzüberschreitende Situationen. So beschreibt Elia weiterführend, dass Elia in der weiterführenden Schule »viel gemobbt« (90) wurde. »[W]eil ich eben nicht ähm besonders gut aussah in der Schule, weil ich Probleme hatte, weil ich (.) nicht sauber war, nicht das teuerste von allem hatte

3

Alle Seitenzahlen beziehen sich auf das Interview mit Elia.

125

126

Jasmin Brück

und (.). Generell aber offenbar wahrscheinlich einfach nur solche Vibes hatte, die mich als Mobbing-OPFER dargestellt hätten und ähm (.). Unter anderem ähm (.) waren da auch zum Beispiel Beleidigungen in der Richtung dabei, von wegen ähm (.) als Anschuldigung ähm ob ich denn eine LESBE wäre oder nicht.« (91-99) Neben verbalen Übergriffen wurde Elia in der weiterführenden Schule auch körperlich »von anderen Mitschülern misshandelt […]. Diese Narben hier auf meinem Arm sind davon, dass man mir zum Beispiel die Zigaretten am Arm ausgedrückt hat« (107ff.). Diese Interviewsequenzen lassen erkennen, dass Ablehnung, Ausgrenzung und damit verbundene grenzverletzende Handlungen sowie Gewalt nicht nur aus einer cis-heterosexuellen Vorstellung heraus resultieren, sondern auch auf eine marginalisierte ökonomische Position Bezug nehmen. Wenngleich Elia mit »eine[m] relativ guten Realschulabschluss« (120) von der weiterführenden Schule abging, hatte Elia »Schwierigkeiten gehabt, eine Ausbildung zu finden« (121). Elia besuchte im Anschluss an die Realschule eine Fachoberschule, um dort das Fachabitur nachzuholen. Doch Elia wurde nicht in die zwölfte Klasse versetzt, da sich Elias »psychischer Zustand immer weiter verschlechtert hatte und ich immer mehr zum Wrack geworden bin« (124f.). Elia musste die Fachoberschule abbrechen und nahm daraufhin an einer Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (BvB) teil. Die BvB hat gemäß § 51 SGB III das vorrangige Ziel einer inhaltlichen Vorbereitung auf eine Ausbildung und soll die Eingliederung in eine Berufsausbildung befördern (s. Dern/Zöller/Bitzan sowie das Glossar in diesem Band). Diese Maßnahme musste Elia jedoch wegen eines »Nervenzusammenbruch[s]« (129) abbrechen. Die BvB sieht in solchen Fällen vor, dass junge Menschen, »die aufgrund vielfältiger und schwerwiegender Hemmnisse […] eine regelmäßige Teilnahme noch nicht erwarten lassen« (Bundesagentur für Arbeit 2012: 2), vorerst sogenannte »vorgelagerte Stabilisierungsmaßnahme[n]« (ebd.) absolvieren müssen, bevor sie erneut an der BvB teilnehmen können (vgl. Rießen 2018: 158). Elia beschreibt, dass Elia aufgrund einer »psychischen Beeinträchtigung […] nicht wieder direkt in eine Ausbildungssuche […], sondern erst in mehrere Rehabilitationsmaßnahmen« (141ff.) gegangen ist. Im Zuge der Recherche zu den von Elia genannten »Rehabilitationsmaßnahmen« stellte sich heraus, dass es sich um die sogenannte Aktivierungshilfe gemäß § 45 SGB III handelte, die neben Angeboten der Jugendberufshilfe nach § 13 SGB VIII als sogenannte vorgelagerte Maßnahme im Übergangssystem verstanden wird (s.

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

Dern/Zöller/Bitzan sowie das Glossar in diesem Band). Je nach konzeptioneller Ausrichtung des Trägers richtet sich diese Aktivierungshilfe auch an Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Die in diesem Rahmen erfolgenden Maßnahmen sollen die Adressat*innen motivieren und stabilisieren, um einen möglichst friktionsfreien Übergang in eine weitere Qualifizierungsmaßnahme zu ermöglichen (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2022: 11). Zum Zeitpunkt des Interviews ist Elia »noch nicht in der Ausbildung« (16f.), sondern im Übergang zu einer weiteren Maßnahme im Übergangssystem.

4.

Die Komplexität relationaler Verhältnisse – Ergebnisse einer fallspezifischen Darstellung

In der Rekonstruktion des Erlebens von Elia wird die Relevanz des Übergangssystems als relationales Gefüge unterschiedlicher subjektiver Perspektiven, Interaktionen, Handlungen und Diskurse erkennbar. So wurde deutlich, dass insbesondere das Handeln der (Mit-)Teilnehmenden und der sozialpädagogischen Fachkräfte im Übergangssystem eine zentrale Bedeutung für das Erleben von Elia hat. Auffällig ist, dass in Elias Beschreibungen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit den und Erinnerungen an die Adressat*innen (Abschnitt 4.1) und Fachkräfte (Abschnitt 4.2) in den jeweiligen Maßnahmen zum Vorschein kommen. Ferner kann gedeutet werden, dass gesetzliche und konzeptionelle Rahmenbedingungen im Übergangssystem Einfluss auf Elias Situation nehmen (Abschnitt 4.3). Im Folgenden wird die subjektorientierte Interpretation der Situation von Elia entlang der interpersonalen wie auch der strukturellen Ebene erläutert.

4.1

Erfahrungen mit Adressat*innen

Die Menschen in den jeweiligen Qualifizierungsmaßnahmen werden über rechtlich verankerte Bedarfe als Teilnehmer*innen des Übergangssystems adressiert. Die Adressat*innen in den von Elia benannten Maßnahmen im Übergangssystem sind nicht älter als 25 Jahre und befinden sich alle im Übergang von der Schule in die Ausbildung. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie aus unterschiedlichen Gründen alle keinen direkten Zugang zum Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt haben und deshalb an verschiedenen Quali-

127

128

Jasmin Brück

fizierungsmaßnahmen im Übergangssystem teilnehmen. Diese Erfahrungen und Adressierungen rahmen den Ort der Begegnung zwischen den Adressat*innen, besetzen diesen mit einer bestimmten Bedeutung und prägen die darin situierten Interaktionen. Solange Elia an diesen Maßnahmen teilnimmt, kann Elia sich den Menschen in diesen Maßnahmen nicht entziehen. Miteinander zu kommunizieren, zu arbeiten und Zeit zu verbringen, scheint nahezu unausweichlich. Zwar können die Adressat*innen unter bestimmten Bedingungen mitentscheiden, an welchen Maßnahmen sie teilnehmen möchten, sie können jedoch nicht frei auswählen, welche weiteren Personen dabei sein sollen/können. Elia berichtet von verschiedenen Begegnungen mit unterschiedlichen Adressat*innen in der BvB und in der Aktivierungshilfe. Auffällig ist hierbei, dass Elia in den beiden Maßnahmen Begegnungen gegensätzlich wahrgenommen hat und bewertet. Die Reflexion über das eigene Wohlbefinden bei der Interaktion mit den Adressat*innen resümiert Elia wie folgt: »Das ist mir bis jetzt auch nicht aufgefallen, aber das ist wirklich krass, weil ich das ähm, wenn ich so darüber nachdenke, […], dass ich mich in [Maßnahmen der Aktivierungshilfe] bisher immer besser und sicherer gefühlt habe.« (489-494) Die Situation in der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme resümiert Elia hingegen als »eine absolute Katastrophe« (441f.) und rekurriert hierbei insbesondere auf die Erfahrungen mit den Adressat*innen in dieser Maßnahme. »Ich bin mir sicher, dass es einigen anderen Jugendlichen geholfen hat, aber mir nicht. Ich habe davon nichts abbekommen, außer vielleicht einen Nervenzusammenbruch (.) (lacht). Mehr habe ich da nicht abgewinnen können.« (442ff.) Elia beschreibt die Adressat*innen mit den Attributen »echt FURCHTBAR und richtig assi« (294). So berichtet Elia in diesem Zusammenhang von einem Erlebnis in der BvB: »[I]ch habe da teilweise auch/ich habe da schon in der Klasse gesessen und habe so ähm Sachen gehört wie keine Ahnung ›Lesben wären ja nur kranke Frauen, die ähm mal ordentlich gestoßen werden müssten, um geheilt zu werden‹.« (193-197)

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

Hier erlebte Elia, wie Lesbischsein im Sinne einer eigenständigen Sexualität geleugnet wird. Ferner wird eine von der Norm abweichende sexuelle Orientierung pathologisiert, indem das Lesbischsein als krankhaft stilisiert wird. Das damit verbundene Narrativ, Lesben durch einen heterosexuellen Koitus heilen zu können, lässt Elia jedoch nicht unkommentiert: »Und ähm als ich gesagt habe, dass das ähm vollkommener Schwachsinn ähm wurde ich auch als KAMPFlesbe (schmunzelt) bezeichnet (lacht). Nur WEIL ich ähm diese Community verteidigt habe.« (197ff.) Der Response auf Elias Reaktion richtet sich im weiteren Verlauf der Interaktion explizit gegen Elia. So erfährt Elia durch den Ausdruck »Kampflesbe« eine verbale Abwertung und Ausgrenzung. Elia wird mit heteronormativen Vorstellungen konfrontiert, die eine cis-heterosexuelle Homogenisierung etablieren und bestärken (vgl. Butler 1991: 23f.) sowie Normalitätsannahmen an das jeweilige Geschlecht formulieren. Dabei entsteht der Eindruck, dass nur diejenigen Menschen Anspruch auf einen diskriminierungsfreien Raum haben, die die Bedingungen einer als cis-heterosexuell vorgestellten Normalität erfüllen. Dieses Erleben sorgt unter anderem dafür, dass Elia sich »da überhaupt auch nicht sicher gefühlt« (202) hat. Die Bedrohung seitens der Adressat*innen, die Elia hinsichtlich des eigenen Queerseins wiederholt erfährt, scheint so groß zu sein, dass Elia im Laufe des Interviews mehrfach die eigene Unsicherheit betont. Diese Unsicherheit führt unter anderem dazu, dass Elia »auch regelmäßig PANIKattaken bekommen« (295) hat. Eine Handlungskonsequenz ist, dass Elia davon absieht, sich bei diesen Adressat*innen zu outen. »[I]m BvB bin ich überhaupt, habe ich überhaupt kein Coming-out gehabt. Weil ich mich da einfach überhaupt nicht sicher gefühlt habe. Und ich denke, hätte ich das gehabt, dann wäre ich auch ähm (.) wirklich (.) UNSICHER gewesen (schmunzelt).« (376-380) Elia macht deutlich, dass ein Coming-out in diesem Zusammenhang das eigene Gefühl der Unsicherheit verstärken kann. »Ich habe so VIELE ähm schlechte Erfahrungen darüber gemacht […], dass ich da einfach ANGST habe. Sehr viel sensibler bin. Auch weil ich Angst davor habe, dass ich ähm mich rechtfertigen muss und nicht dazu in der Lage bin, weil wie soll man das auch schon erklären.« (417-422)

129

130

Jasmin Brück

Dieses Gefühl der Angst gründet jedoch nicht nur in negativ besetzten Erlebnissen, sondern auch in der Unsicherheit, wie Menschen auf Elias Queersein reagieren. Elia macht ferner deutlich, dass die Qualität der Beziehung zu den Adressat*innen ein wesentliches Kriterium im Abwägungsprozess des Outings ist. Elia beschreibt, dass Elia sich hinsichtlich der Reaktion der Adressat*innen auf ein Coming-out sicher sein muss. Hierbei ist für Elia von hoher Relevanz, die jeweiligen Personen zu kennen und einschätzen zu können. Wenn Elia nicht genau einschätzen kann, wie das Gegenüber auf Elias Queersein reagieren würde, bleibt Elia aufgrund einer aufkommenden Unsicherheit ungeoutet. In diesem Zusammenhang beschreibt Elia, dass Elia sich bei Adressat*innen, die Elia noch nicht so gut kennt, erst einmal herantastet und anhand von Kriterien abwägt, ob das Sichtbarmachen des eigenen Queerseins möglich ist. »Ich habe/lasse dann meistens manchmal so gerne mal so kleine ähm (.) so kleine (.) Krümel oder Hinweise fallen, um zu sehen, wie die Rea/ähm allgemeine Reaktion ist, und (.) basierend auf dem Ergebnis handele ich dann weiter.« (477ff.) Der Grad der Beziehung zu den Adressat*innen sowie das damit verbundene Gefühl ist für Elia mithin ausschlaggebend dafür, das eigene Queersein entweder im Verborgenen zu halten oder sich zu outen. Im Gegensatz zu den Erfahrungen mit den Adressat*innen in der BvB sind die mit den Adressat*innen in der Maßnahme der Aktivierungshilfe deutlich positiver konnotiert. Elia betont, dass sich die Aktivierungshilfe »speziell [an] Menschen mit psychischer Beeinträchtigung« (232f.) richtet und hebt die Bedeutung der psychischen Beeinträchtigung als verbindendes Moment der Adressat*innen hervor. Elia berichtet, dass diese Menschen »keine Angst davor haben, sich sowas gegenseitig mitzuteilen« (472). Der Ausdruck »sowas« bezieht sich hier auf die psychische Beeinträchtigung, zum Beispiel eine »Zwangsstörung oder eine[…] Persönlichkeitsstörung« (470). Elia betont, dass Elia diese Menschen als »offen« (473) wahrnimmt und angesichts dessen »da vielleicht auch ein bisschen offener sein [kann] wie bei anderen etwas ähm sensibleren Themen« (474f.). Diese Offenheit unter den Adressat*innen führt letztlich dazu, dass Elia sich outen kann und hierbei keine Ausgrenzung erfährt und auch keine Situation erlebt, in der Elia sich für die psychische Erkrankung wie auch für das Queersein rechtfertigen muss. Elia beschreibt diese Adressat*innen als »unglaublich freundlich und nett« (312) und sagt in diesem Zusammenhang, dass Elia sich mit »den

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

Leuten […] grundsätzlich eigentlich ganz gut« (313f.) versteht. Das Gefühl der Sicherheit scheint bei Elia somit stark vom Gegenüber sowie von den bereits gemachten Erfahrungen abzuhängen.

4.2

Elias Perspektive auf professionelle Akteur*innen im Übergangssystem

Die im Übergangssystem arbeitenden sozialpädagogischen Fachkräfte haben die Aufgabe, junge Menschen in den jeweiligen Maßnahmen zu begleiten und zu fördern. Das professionelle Handeln wird sowohl von rechtlichen als auch von konzeptionellen Bedingungen bestimmt und zielt darauf ab, junge Menschen so zu qualifizieren, dass sie Anschluss an den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt finden. So wird im Rahmenkonzept zur Aktivierungshilfe der Bundesagentur für Arbeit von einer sogenannten »maßnahmenbetreuenden Fachkraft« (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2022: 12) geschrieben, während mit Blick auf die BvB Fachkräfte als Bildungsbegleiter*innen bezeichnet werden, die für den Eingliederungserfolg in eine Ausbildung verantwortlich sind (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012: 15). Zusätzlich treffen junge Menschen in diesen Qualifizierungsmaßnahmen auf weitere Fachkräfte, die in unterschiedlichen Betrieben tätig sind und die Adressat*innen während der betrieblichen Praktika begleiten und anleiten.

Erwartungen an die Rolle der Fachkraft Elias Erfahrungen mit den sozialpädagogischen Fachkräften beurteilt Elia als »eigentlich immer ziemlich positiv« (325). Ferner fügt Elia hinzu, dass Elia die Fachkräfte in den jeweiligen Maßnahmen als »wirklich unglaublich offen« (452) wahrnimmt. Hierbei betont Elia die positiven Erfahrungen mit Fachkräften in Maßnahmen, die sich an Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung richten. Zugleich formuliert Elia eine Erwartung an die professionelle Rolle dieser Fachkräfte: »Es wäre auch ähm auf einem objektiven Level sehr unprofessionell, wenn dieser Mensch mir weh tun würde. Einfach weil es eine Fachkraft wäre.« (515ff.) Elia schreibt dieser Rolle ein professionelles Handeln zu, das sich aus dem Fachkraftstatus heraus ergibt. So setzt Elia unprofessionelles Handeln gleich mit »weh tun«. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass ausgrenzende

131

132

Jasmin Brück

und/oder grenzüberschreitende Handlungen für Elia als unprofessionell einzuordnen sind. Elia erwartet, dass Fachkräfte sich »angemessen« verhalten. »Zum Beispiel jetzt in so einer wie eben wie in so einer Maßnahme oder zum Beispiel in der Schule ähm sollte es ähm (.) fehl am Platz sein, dass diese Person ihre eigenen politischen ähm Ideale und Vorstellungen quasi auf die Teilnehmer oder eben Schüler ähm zwingt und (…). Ja, das ist halt so mein Teil/ähm meine Vorstellung davon, was angemessen für eine Fachkraft wäre. Wenn ich jetzt zu einer Fachkraft sage: ›Hier ähm meine Sexualität und meine gender-identity sind nicht ähm sind nicht der NORM entsprechend‹, erwarte ich von der Person, dass sie das ähm bestenfalls neutral aufnimmt.« (565-575) Stigmatisierung und Diskriminierung von Adressat*innen hinsichtlich verschiedener Differenzkategorien und hier insbesondere hinsichtlich der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Zugehörigkeit bewertet Elia als unprofessionelles Handeln. Elia erwartet von Fachkräften eine sachund fachgerechte Auseinandersetzung und die Gestaltung eines wertfreien Raums. Elias Erwartung ist: »[E]ine Person, die sich in einem SOZIALEN Beruf (.) engagiert und arbeitet, SOLLTE NICHT irgendwelche Vor/ähm irgendwelche Voreingenommenheiten (…), Voreinnahmen […] an den Tag legen.« (580ff.) Obgleich Elia sich bei den sozialpädagogischen Fachkräften in den Qualifizierungsmaßnahmen nicht outet, fordert und hofft Elia zugleich, dass diese Fachkräfte aufgrund ihrer Profession auf das Queersein der Teilnehmer*innen »bestenfalls neutral« reagieren. Bei den Fachkräften in den berufsbezogenen Praxisphasen hält sich Elia hinsichtlich des eigenen Queerseins ebenfalls zurück. »Ich habe in meinen Praktikas nicht erwähnt, dass ich (schmunzelt), dass ich weder straight noch cis bin. Ich habe (.) diese Menschen bei Weitem nicht so gut gekannt, um den Eindruck zu haben, dass das eine gute Idee wäre (.), das offen an den Tag zu legen, und (.) ich binde das halt nicht jedem wildfremden Menschen auf die Nase, der jetzt nicht speziell danach fragt (…). Weil ich weiß ja nicht, wie eine Person darauf reagieren wird, deswegen habe ich lieber gerne so eine kleine Einschätzung von dem Charakter von dem Menschen, mit dem ich interagiere, um mehr oder weniger eine

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

Einschätzung davon zu haben, wie sie auf meine etwas sensibleren Themen reagieren würden.« (596-607) Die Forderung, die Elia gegenüber Fachkräften im sozialen Bereich formuliert, scheint für die Fachkräfte in den jeweiligen Betrieben nicht zu gelten. Zudem scheint ein Coming-out auch in diesen berufspraktischen Phasen davon abhängig zu sein, wie sicher Elia sich fühlt. Die sozialpädagogischen Fachkräfte kann Elia aufgrund der intensiveren Zusammenarbeit besser einschätzen, während die Betriebspraktika nur an wenigen Tagen und in wenigen Wochen stattfinden.

Die Handlungsmacht von Professionellen Elia berichtet, dass Elia »immer ziemlich gut mit Autoritätspersonen in Anführungszeichen klargekommen bin. Und ähm nie Probleme mit denen hatte.« (513f.) Elia sagt beispielsweise: »Von daher ZÄHLE ich in Anführungszeichen darauf, dass die Person ähm sich ähm angemessen verhält (schmunzelt). Und wenn nicht und wenn das irgendwann nicht der Fall ist, dann habe ich halt Pech gehabt, I guess.« (517ff.) In dieser Interviewsequenz wird deutlich, dass Elia eine hierarchische Vorstellung von der Beziehung zwischen den Fachkräften und den Adressat*innen hat. So schreibt Elia den Fachkräften aufgrund ihrer Rolle und Position eine Handlungsmacht zu, der Elia scheinbar ausgesetzt ist und die Elia zugleich in eine vulnerable Position bringen kann. Ebenso geht mit der zugeschriebenen Rolle und Position eine Handlungsmacht einher, die ein bestimmtes Defizit als Ursache für die Abweichung von einer Normalbiografie definieren und festschreiben kann. Elia berichtet beispielsweise von der Erfahrung beim Wechsel von der BvB zur Aktivierungshilfe: »Da [Anm.: BvB] bin ich aber nicht lange gewesen, weil die Frau [X], meine damalige Bildungsbegleiterin bei [einem Träger der BvB], die das/die meine Bildung da geleiste/ähm geleitet hat, hat mich UNGEhobelter Weise, ohne mich zu fragen und mir Bescheid zu geben, direkt an [Anm.: einen Träger der Aktivierungshilfe] weitergesendet. […], weil sie ähm festgestellt, dass ich es nicht ähm gebacken kriege, da halbwegs was ähm auf die Beine zu stellen, weil ich massive Probleme zu dem Zeitpunkt damit hatte, in einer Gruppe mit Männern zusammenzuarbeiten (.). Weil ich mich so dermaßen unsicher

133

134

Jasmin Brück

und unwohl [gefühlt] habe um Männer rum und Angst vor denen hatte (.). Ähm, das fand ich natürlich nicht geil.« (208-220) Das in dieser Situation ausgehandelte Defizit (»dass ich es nicht gebacken kriege«) erweist sich hier anscheinend als eine nicht vollbrachte Leistung innerhalb der Qualifizierungsmaßnahme. Elia beschreibt, dass Elia »absolut überhaupt nicht in der Gruppe mit Männern arbeiten konnte« (342) und aufgrund der Situation einen »Nervenzusammenbruch« (129) erlitten hat. Die Entscheidung für den Wechsel in eine andere Qualifizierungsmaßnahme wurde laut Elia von der Bildungsbegleiterin getroffen. Elia wurde in diesen Entscheidungsprozess nicht einbezogen, sondern lediglich über das Ergebnis informiert. »[S]ie hat mich beiseite genommen ähm, nachdem wir einen Tag/also nach ein/(.). Als an einem Tag als es mal vor/ähm als die ganze ähm (.) die Tagesaktivität vorbei war, hat sie mich noch kurz mit ins Büro gebeten und hat mir da Bescheid gegeben (.). Und hat dann einfach gesagt so: ›Hier Frau [Friedsam], sie werden jetzt zu [Träger 2, Aktivierungshilfe] weitergeleitet, weil das hier macht keinen Sinn.‹« (360-366) Elia beschreibt diesen Vorgang als negativ, da die Bildungsbegleiterin »mich ungefragt und unvorgewarnt einfach weitergeleitet hat und mich da mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen hat« (330ff.). Elia fährt fort und erklärt, sich »macht- und schutzlos« (353) zu fühlen, wenn andere über Elia entscheiden. Das Verhältnis zwischen der Bildungsbegleiterin und Elia lässt Elia in eine marginalisierte Position rücken, indem bestimmte Bedürfnisansprüche entlang bestehender Normen und Vorstellungen hinsichtlich einer Arbeitsmarktintegration vordefiniert werden. Elias Bedürfnisse werden bei dieser Aushandlung weder berücksichtigt noch wird nach ihnen gefragt. So entsteht der Eindruck, dass mit Blick auf das übergreifende Ziel dieser Maßnahmen vorab definierte Bedürfnisse im Kontext eines Normallebenslaufs eingefordert werden und die Maßnahmen die adäquaten Rahmenbedingungen bieten, die für deren Umsetzung notwendig sind. Elia kann die Anforderungen innerhalb der BvB gemäß § 51 SGB III anscheinend nicht erfüllen und wird deshalb von der Bildungsbegleiterin in eine sogenannte »vorgelagerte Stabilisierungsmaßnahme« (Bundesagentur für Arbeit 2012: 2) – die Aktivierungshilfe gemäß § 45 SGB III – versetzt. So kann in diesem Zusammenhang konstatiert werden, dass sich sozialpolitische Normalisierungs-, Kontroll- und Unterstützungsaufträge in die-

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

sen Maßnahmen aus den rechtlichen Vorgaben des SGB III herleiten lassen. Diese manifestieren sich in den Handlungen sozialpädagogischer Fachkräfte und können sich damit – wie in der oben aufgezeigten Situation – auf die Aushandlungsprozesse zwischen Fachkraft und Adressat*in auswirken. Der Unterstützungsauftrag richtet sich in dieser Situation jedoch nur auf die Erfüllung formaler und normativer Vorgaben. Elias Bedürfnisse und Lebenswirklichkeit werden zu einer Nebensächlichkeit herabgestuft, indem nur jene (An-)Forderungen relevant werden, die im Kontext der jeweiligen Qualifizierungsmaßnahme vorgesehen sind und sich durch festgeschriebene gesetzliche und strukturelle Verhältnisse legitimieren.

4.3

Einblick in die strukturellen Bedingungen der Qualifizierungsmaßnahmen

Die strukturellen Bedingungen der Qualifizierungsmaßnahmen lassen sich auf zwei Ebenen darstellen, nämlich erstens hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunkte der Maßnahmen und zweitens hinsichtlich der rechtlichen und konzeptionellen Ausgestaltung der Maßnahmen. Im Folgenden werden die Erfahrungen von Elia entlang dieser Ebenenunterteilung erläutert.

Queere Themen im Übergangssystem Ausgehend von den jeweiligen Zielbeschreibungen der Maßnahmen werden sowohl in der BvB als auch in der Aktivierungshilfe unterschiedliche Module angeboten. Zu den fachtheoretisch wie fachpraktisch ausgerichteten inhaltlichen Schwerpunkten gehören beispielsweise Bewerbungstrainings, Sprachförderung sowie berufsorientierte Angebote in den Bereichen Technik und Handwerk. Ebenso sollen in den Maßnahmen persönliche und soziale Kompetenzen gefördert werden. Dieser Schwerpunkt beinhaltet eine individuelle Lernbegleitung und ermöglicht zugleich eine handlungs- und lösungsorientierte Auseinandersetzung mit den individuellen Problemlagen (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2022: 6, 2012: 13). Auf die Frage, inwieweit queere Inhalte in den jeweiligen Modulen gelehrt und verhandelt werden, antwortet Elia, dass Queer nur dann thematisiert wird, wenn sich zwischen den Adressat*innen »Vorfälle« (638) ereignet haben, »die nicht positiver Natur waren« (638). Nur bei solchen Anlässen »haben da die Fachkräfte vielleicht was gegenüber erwähnt« (369f.). Bei den von Elia angedeuteten Vorfällen kann vermutet werden, dass es sich um Schimpfwörter, Beleidigungen und/oder grenzverletzende Handlungen gegenüber queeren

135

136

Jasmin Brück

Menschen handelt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit queeren Themen findet in den Modulen demnach nicht statt. Elia führt aus, dass im Übergangssystem Queer noch immer als eine Besonderheit verhandelt wird. So erläutert Elia, dass nach Elias Erfahrung insbesondere die Adressat*innen kaum bis gar kein Wissen über queere Themen und Lebenskonzepte haben. »[V]iele Jugendliche und junge Erwachsene haben auch keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen (.), wenn sie jemanden begegnen, der tatsächlich dieser Community zum Beispiel auch angehören.« (685-690) Mit der Unwissenheit über queere Themen geht laut Elia eine Handlungsunsicherheit bei den Adressat*innen einher, die sich in abwertendem Verhalten zeigt. In diesem Zusammenhang formuliert Elia verstärkt den Wunsch, dass Queer in den Modulen der jeweiligen Qualifizierungsmaßnahmen thematisiert wird und darüber eine Auseinandersetzung und Wissensaneignung stattfinden kann. Hierfür braucht es laut Elia ein Aufbrechen des »taboo-topic[s]« (686). So erhofft sich Elia, dass darüber queere Lebenskonzepte sichtbarer und alltäglicher werden und queere Menschen »nicht so Angst davor […] haben [müssen], wie andere Menschen darauf reagieren« (701f.). Nur dann, so Elia, kann »man einfach das offen sagen […] und jeder nimmt das halt genauso wie über einen Kaffee. Ganz normal« (703f.).

Rechtliche und konzeptionelle Ausgestaltung Insgesamt fällt auf, dass Elia die rechtliche und konzeptionelle Ausgestaltung sowie die darin situierten Aushandlungsprozesse in beiden Qualifizierungsmaßnahmen unterschiedlich wahrnimmt und beschreibt. In einer vergleichenden Betrachtung resümiert Elia, dass die Aktivierungshilfe »eine komplett andere Nummer« (230) ist, und bezieht sich hierbei insbesondere auf die in der Maßnahme formulierte Zielgruppe. »Aber in der Regel habe ich bisher immer das Gefühl und ähm von einer Sicherheit gehabt, die ich in anderen Maßnahmen, die jetzt nicht speziell für psychisch kranke Menschen waren, ähm nicht dagewesen sind.« (480484) Elia macht hierbei deutlich, dass Elia sich in den Maßnahmen, die sich explizit an Menschen mit psychischer Beeinträchtigung richten, sicherer und wohler fühlt.

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

»Mir ist/es ist mir auch aufgefallen, dass die ähm Maßnahmen, die mit psychisch beeinträchtigten Menschen zu tun haben, auch automatisch sehr viel offener ähm Minderheiten gegenüber sind und ähm (…), das weiß ich zum Beispiel sehr zu schätzen.« (453ff.) Hingegen beschreibt Elia die BvB als »eine absolute Katastrophe« (442). Elia betont hierbei, dass diese Maßnahme ein Gefühl der Unsicherheit hervorgerufen hat, das sich insbesondere auf die negativen Erfahrungen mit den Adressat*innen zurückführen lässt. Für Elia scheint es eine logische Verbindung zwischen einer gefühlten Offenheit und der konzeptionellen Ausrichtung der Maßnahme zu geben. Elia nimmt insbesondere die Aktivierungshilfe als »viel offener« wahr und bezieht sich hierbei explizit auf die dort arbeitenden professionellen Akteur*innen. Gemäß § 45 SGB III i.V.m. § 19 SGB III werden im Rahmen der Aktivierungshilfe auch allgemeine Leistungen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigung angeboten (§ 113 Abs. 1 Nr. 1 und § 115 Nr. 1 SGB III). Diesbezüglich kann gemutmaßt werden, dass diese konzeptionelle Ausrichtung verstärkt auf die individuellen Bedürfnisse junger Menschen mit Beeinträchtigung ausgerichtet ist, was sich entsprechend auf die konkrete Ausgestaltung der Maßnahme wie auch auf das Handeln der Fachkräfte auswirken kann.

5.

Fazit

Resümierend kann gesagt werden, dass Elia mit unterschiedlichen Akteur*innen in sozialen Aushandlungsprozessen steht und dabei auf unterschiedliche Weise mit Normalitätsannahmen konfrontiert wird. Einerseits erfährt Elia hinsichtlich der Gestaltung der eigenen Bildungsbiografie eine normative Rahmung, die auf implizite Weise die Erfüllung eines Normallebenslaufs einfordert. Implizit deshalb, weil das Übergangssystem entsprechend einer »systemkonformen Befriedigung« (Fraser 1994: 240) darauf ausgerichtet ist, Zugänge zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu schaffen, um die chronologische Abfolge im Lebenslauf sicherzustellen. Im Fall von Elia wird jedoch deutlich, dass das Abschließen einer Maßnahme nicht zwangsläufig einen friktionsfreien Übergang in die Ausbildung oder die Erwerbsarbeit garantiert. Das in Form der Qualifizierung junger Menschen erfolgende institutionelle Eingreifen in den Übergang von Schule in

137

138

Jasmin Brück

Ausbildung oder Beruf kann vielmehr auch dazu führen, dass diese in eine marginalisierte sozioökonomische Position geraten können, aufgrund derer sich der Zugang zu Erwerbsarbeit verzögert. Andererseits ist erkennbar, dass heteronormative Annahmen über Aussehen, Verhalten, Geschlecht und Sexualität insbesondere in den Interaktionsprozessen zwischen den Teilnehmenden der Qualifizierungsmaßnahmen hervorgebracht und reproduziert werden (vgl. allgemein zur Reproduktion heteronormativer Annahmen Butler 1991: 22ff.). Hierbei wird Elia mit einer »kulturelle[n] Abwertung« (Fraser 2016: 37) des eigenen Queerseins konfrontiert, indem das cis-heterosexuelle Leben privilegiert wird und zugleich jedes von einer heteronormativen Vorstellung abweichende Lebenskonzept Ungerechtigkeit in Form von Ausgrenzungen und Diskriminierungen erfährt. Auffällig ist, dass Elia in der BvB in einem sehr viel stärkeren Maße mit Normalitätsannahmen und -forderungen konfrontiert wird als in der Aktivierungshilfe, die sich in diesem Fall explizit an Menschen mit psychischer Beeinträchtigung richtet. Gerade aufgrund dieser spezifischen Ausrichtung scheint die Aktivierungshilfe einen Raum zu schaffen, den Elia als »offener« erlebt. Für Elia ergeben sich im Übergangssystem letztlich unterschiedliche Anforderungen, angesichts derer für Elia in der Lebensphase des Heranwachsens ein Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und normativen Anspruchshaltungen auf der einen sowie den eigenen individuellen Bedürfnissen und Wünschen auf der anderen Seite entstehen kann. Elia muss sich dabei nicht nur – wie alle Teilnehmer*innen im Übergangssystem – mit normativen Forderungen hinsichtlich eines sogenannten Normallebenslaufs, sondern auch mit cis-heteronormativen Vorstellungen auseinandersetzen, da das eigene Lebenskonzept diesen entgegensteht. Dieses Erleben erfordert von Elia unterschiedliche Handlungsstrategien, um sich innerhalb dieser Aushandlungen zu positionieren. So kann das Aufzeigen einer queeren Lebenswirklichkeit zum Beispiel durch das eigene Coming-out eine Strategie sein, sich von der Hetero- und Cisnorm abzugrenzen und dieser zu widersprechen. Doch zugleich sind auch Strategien des Abwägens, der Anpassung an heteronormative Annahmen sowie des Unsichtbarbleibens erkennbar, um die eigene Integrität zu schützen.

Jung, queer und im Übergangssystem – eine Fallvignette

Literatur Biele Mefebue, A. et al. 2018: Jugendarbeit im Que(e)rschnitt. Ergebnisse der multimethodischen Studie zu LSBTIQ*-Jugendlichen in der Jugendarbeit. Göttingen. Bohnsack, R. 2021: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen/Toronto: Barbara Budrich. Bundesagentur für Arbeit 2012: Fachkonzept für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen nach §§ 51ff. SGB III (BvB 1 bis 3). Nürnberg. Bundesagentur für Arbeit 2022: Maßnahmen bei einem Träger (MAT) nach § 45 SGB III im Rahmen der Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung. Fachliche Weisungen zur Durchführung des § 45 SGB III. Nürnberg. Butler, J. 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. 19. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Clarke, A. E./Friese, C./Washburn, R. 2018: Situational Analysis: Grounded Theory after the Interpretive Turn. 2. Auflage. Los Angeles u.a.: SAGE. Degele, N./Winker, G. 2007: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse. Hamburg-Harburg: Universitätsbibliothek der Technischen Universität Hamburg-Harburg. FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2013: LGBTErhebung in der EU – Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg. Fraser, N. 1994: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fraser, N. 2016: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frohn, D./Meinhold, F./Schmidt, C. 2017: Out im Office. Sexuelle Identität und Geschlechtsidentität, (Anti)-Diskriminierung und Diversität am Arbeitsplatz. Köln. Kohli, M. 1986: Normalibiographie und Individualität: zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes. In: Friedrichs, J. (Hg.): Technik und sozialer Wandel. 23. Deutscher Soziologentag 1986: Beiträge der Sektions- und Ad-hoc-Gruppen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 432-435.

139

140

Jasmin Brück

Krell, C. 2021: Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Krell, C./Oldemeier, K. 2015: Coming-out – und dann …?! Ein DJIForschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. LesMigraS 2012: »… Nicht so greifbar und doch real«. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin. Rießen, A. van 2018: Zur Vielfalt außerschulischer Maßnahmen – ein Ausschnitt: Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Einstiegsqualifizierung und theaterpädagogische Maßnahmen. In: Enggruber, R./Fehlau, M./Bieker, R. (Hg.): Jugendberufshilfe. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 156-164. Rinnert, K. 2019: Liebes Leben anders. Eine ressourcenorientierte Analyse queerer Lebensrealitäten in heteronormativen Verhältnissen. Opladen u.a.: Barbara Budrich. Sauer, A. T./Meyer, E. (2016): Wie ein grünes Schaf in einer weißen Herde. Lebenssituationen und Bedarfe von jungen Trans*-Menschen in Deutschland. Forschungsbericht zu »TRANS* – JA UND?!« als gemeinsames Jugendprojekt des Bundesverbands Trans* (BVT*) e. V. i. G. und des Jugendnetzwerks Lambda e. V. Berlin: Bundesverband Trans*. Schütze, F. 1983: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 13, 3, S. 283-293. Strauss, A. L./Corbin, J. M. 1996: Grounded theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Timmermanns, S. et al. 2022: »Wie geht’s euch?« Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Timmermanns, S./Thomas, P. M./Uhlmann, C. 2017: Dass sich etwas ändert und sich was ändern kann. Ergebnisse der LSBT*Q-Jugendstudie »Wie leben lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche in Hessen?«. Wiesbaden: Hessischer Jugendring e. V.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«:  Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung  aus der Perspektive von Fachkräften im Übergangssystem Ergebnisse des Forschungsprojekts »(Un)angepasst« Bettina Staudenmeyer

1.

Fragestellung und Hintergrund der Erhebung

Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität sind Themen, die aktuell (auch) in Deutschland kontrovers diskutiert und neu verhandelt werden. Durch öffentliche Thematisierungen wie zum Beispiel die angekündigten Gesetzesänderungen durch die ›Ampel-Koalition‹ 2021/2022 oder das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur erforderlichen Einführung eines weiteren Geschlechtseintrags im Personenstandsrechts 2017, durch Aktionsprogramme für Akzeptanz und Vielfalt in mehreren Bundesländern, durch einige bereits in den letzten Jahren vollzogene Gesetzesänderungen wie zum Beispiel die 2017 erfolgte Einführung der »Ehe für alle« und nicht zuletzt durch die stärkere Sichtbarkeit von Selbstorganisationen haben nicht-heterosexuelle sowie nicht-cis- und nicht-endogeschlechtliche Menschen1 inzwischen neue Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten und in der Gesellschaft sichtbarer zu werden. Im Zuge dieser verstärkten Sichtbarkeit rücken seit einigen Jahren jedoch auch weiterhin bestehende Benachteiligungen und Diskriminierungen vermehrt in den Blick: Aus aktuellen Forschungen ist bekannt, dass junge lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Menschen häufig benachteiligt werden und mit spezifischen Bewältigungsfragen konfrontiert sind. Dies 1

Zur Klärung der Begriffe cisgeschlechtlich und endogeschlechtlich s. Bitzan/Schirmer diesem Band.

142

Bettina Staudenmeyer

betrifft auch bzw. besonders (Diskriminierungs-)Erfahrungen in Schule, Ausbildung und Beruf (vgl. Krell/Oldemeier 2017: 105ff. und 167ff.). Für den Schulbereich (etwa Klocke 2016; Kleiner 2015; Bittner 2011), die außerschulische Jugendarbeit (etwa Staudenmeyer 2016) und auch hinsichtlich der Erfahrungen von Erwachsenen im Berufsleben (etwa ADS 2017; Franzen/ Sauer 2010; Fütty/Höhne/Llaveria Casselles 2020) liegen inzwischen einige Untersuchungen vor. Die bisherige Forschung weist jedoch – bezogen auf Bildungs- und Berufsabschlüsse – einen starken Bias auf: Es tauchen vor allem junge Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen auf. Zur Situation bildungsbenachteiligter LSBTIQ-Jugendlicher gibt es bislang keine aussagekräftigen Ergebnisse. Zugleich finden sich in der Literatur jedoch erste Hinweise darauf, dass bildungsbenachteiligte junge lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Personen möglicherweise häufiger und massivere Diskriminierungserfahrungen, gerade im Bildungs- und Arbeitsbereich, machen als die mit höheren Bildungsabschlüssen (vgl. Krell/Oldemeier 2017: 109f.). Ob dies zutrifft bzw. wie und wodurch derartige Erfahrungen geprägt sind, gilt es genauer zu erforschen. Claudia Krell (2021) hat an dieser Stelle angesetzt und zu queeren Jugendlichen in Ausbildung geforscht (s. auch Krell in diesem Band). Das Forschungsprojekt »(Un)angepasst – junge lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*-Menschen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf«2 , aus dem in diesem Artikel berichtet wird, fokussierte die Situation von queeren Jugendlichen im Übergangssystem. Es wurde gezielt ein Bereich in den Blick genommen, in dem sich vorwiegend bildungsbenachteiligte junge Menschen finden. Denn das Übergangssystem zwischen Schule und Beruf bietet vor allem jungen Menschen ohne oder mit niedrigem Schulabschluss eine Übergangsmöglichkeit zwischen dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule und der Aufnahme einer Berufsausbildung (s. auch Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Es ist somit auch der Ort für Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Bildungslaufbahn nicht ›normgerecht‹ im vorgesehenen 2

Das Projekt »(Un)angepasst« war an der Hochschule Fulda bei Prof. Dr. Susanne Dern angesiedelt und wurde von Bettina Staudenmeyer von 2018 bis 2020 durchgeführt. Es war assoziiert mit dem Forschungsprojekt an der htw saar (s. Zöller/Hust in diesem Band), das eine ähnliche Fragestellung verfolgte. Außerdem ist eine Dissertation aus dem Projekt hervorgegangen, die die Perspektive junger LSBT*-Personen im Übergangssystem in den Blick nimmt (s. Brück in diesem Band) Weitere assoziierte Wissenschaftler*innen waren Utan Schirmer (HS Alice Solomon), Maria Bitzan (Forschungsinstitut tifs und HS Esslingen) und Thomas Nestler (HS Fulda).

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Lebenslaufregime unserer Gesellschaft absolvieren, und ein Ort, an dem die Biografien dieser jungen Menschen (wieder) an die gesellschaftliche Vorstellung von Normalität in Bezug auf Erwerbsbiografien angepasst werden sollen. Das in diesem Artikel vorgestellte Forschungsprojekt »(Un)angepasst« nimmt also eine intersektionale Perspektive auf junge Menschen ein, die von Machtverhältnissen in Bezug auf Klasse wie auch in Bezug auf Geschlecht bzw. sexuelle Orientierung negativ betroffen sind. Von Klassismus kann im Übergangssystem insofern gesprochen werden, als sich Bildungsabschlüsse in unserer Gesellschaft in der Regel über das vermeintlich offene Schulsystem »vererben« (Bourdieu 1983). Das heißt zum Beispiel, dass vor allem Kinder von Akademiker*innen Abitur machen, da das Gymnasium nur zu schaffen ist, wenn die Kinder die entsprechenden sozialen und kulturellen Kapitalien – die mit den ökonomischen Kapitalien verknüpft sind – von zu Hause mitbringen. Es ist umgekehrt davon auszugehen, dass vor allem Jugendliche aus ökonomisch schlecht gestellten Familien im Übergangssystem landen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020: 168). In Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung werden gesellschaftlich Weiblichkeit, aber auch nichtbinäre Geschlechtsidentitäten und andere Identifikationen als trans* oder inter* abgewertet sowie alle Formen der sexuellen Orientierung jenseits der Heterosexualität. In Bezug auf den Arbeitsmarkt schlagen sich diese Wertungen unter anderem in Form von ›Frauenberufen‹ und ›Männerberufen‹ nieder, wobei erste schlechter bezahlt werden und somit weniger Anerkennung erhalten (vgl. Gildemeister/Wetterer 1993). Trans* Personen erfahren am Arbeitsmarkt massive Diskriminierungen (vgl. Franzen/Sauer 2010). Im Übergangssystem verschränkt sich Klasse außerdem häufig mit der Kategorie Körper/Gesundheit, wenn Maßnahmen des Übergangssystems unter dem Label ›Lernbehinderung‹ oder Ähnlichem laufen. Die Kategorie Klasse verschränkt sich auch mit der Kategorie race, weil institutionelle Diskriminierungen dafür sorgen, dass überproportional viele Jugendliche mit einem zugeschriebenen ›Migrationshintergrund‹ keinen direkten und/oder stabilen Übergang von der Schule in die Ausbildung haben (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020: 168). Zwei Hypothesen ergeben sich aus dieser Perspektive. Erstens: Queere Jugendliche, die im Übergangssystem landen, sind dort unsichtbar, weil sie primär als bildungsbenachteiligt und/oder lernbehindert kategorisiert werden und intersektionale Verschränkungen zu wenig im Blick sind. Zweitens: Queere Jugendliche landen im Übergangssystem, weil sie queer sind – zum

143

144

Bettina Staudenmeyer

Beispiel, weil zu bewältigende Aufgaben wie Coming-outs vom Lernen abhalten oder weil sie äußerlich unangepasst sind und deshalb als nicht arbeitsmarktfähig gelten Fokus des Forschungsprojekts war die Erhebung der Perspektiven von Fachkräften im Übergangssystem auf LSBT-Themen über die Methode des World Cafés. Darüber hinaus fand im Projekt eine juristische Analyse statt (s. Spangenberg in diesem Band). Die Gruppe queerer Jugendlicher wurde auf LSBT-Jugendliche eingegrenzt, das heißt intergeschlechtliche Jugendliche wurden nicht in den Blick genommen. Der Artikel stellt einige Ergebnisse des Projekts dar und fokussiert die Frage, ob und inwiefern die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung Thema im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf ist. Wie können diese Themen innerhalb bestehender Systemlogiken und Rahmenbedingungen verstanden und verankert werden? Inwiefern wird professionelles Handeln mit Bezug auf die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung im Übergangssystem sichtbar? Dabei stellt sich durchgängig auch die Frage danach, in welcher Weise sich Heteronormativität3 im Übergangssystem zeigt.

2.

Methodisches Vorgehen

2.1

Erhebungsmethodik

Dem vorliegenden Artikel liegen empirische Ergebnisse aus einer WorldCafé-Erhebung mit Professionellen aus dem Übergangssystem zwischen Schule und Beruf zugrunde. Das World Café wurde von den US-amerikanischen Unternehmensberatern Brown und Isaacs als Workshop-Methode für Gruppen entwickelt (Brown et al. 2005). Im Hintergrund steht die Annahme, dass es kollektives Wissen gibt, das noch weitgehend unthematisiert ist. Die Gespräche sollen in einer entspannten »Kaffeehaus«-Atmosphäre stattfinden und haben das Ziel, bisher wenig miteinander geteiltes Wissen sichtbar zu machen, um so neue Perspektiven, Denkweisen und bestenfalls Handlungsoptionen zu entwickeln. An Café-Tischen soll durch die Gastgeber*innen mithilfe eines Frage-Attraktors ein kreativer Prozess über mehrere Gesprächsrunden in Gang gesetzt werden. Der Wechsel der Gäste zwischen den Tischen fördert den Austausch von Wissen und Ideen unter 3

Zum Begriff der Heteronormativität s. auch Bitzan/Schirmer in diesem Band.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

den Beteiligten. In kurzer Zeit können das Wissen und die Erfahrungen jedes Einzelnen einfließen, Anregungen geschaffen werden und neue kreative Ideen entstehen. Die Nutzung dieser Workshop-Form als Erhebungsmethode im Rahmen qualitativer Forschung ist deshalb interessant, weil hier in intensiven Gesprächen nicht nur Informationen erhoben werden können, sondern sich ebenso kollektive Reflexionen beobachten lassen. Subjektive Theorien sowie Normierungen werden damit sichtbar. Ein solches Verfahren bietet darüber hinaus auch die Chance, das Abspulen vorgefertigter Statements für die Öffentlichkeitsarbeit zu durchbrechen, auf die Träger bei der Akquise von Fördermitteln oder Ähnlichem zurückgreifen (müssen). World Cafés werden bereits vereinzelt in der Sozialarbeits-, Pflege- und Religionsforschung international genutzt (vgl. Fouché/Light 2011; Müller et al. 2018; Koen/du Emmerentia/Koen 2014; Sadlon/Jewdokimow 2021; Bailey et al. 2018). Mit Meuser und Nagel (2003) kann davon ausgegangen werden, dass den Fachkräften aus dem Übergangssystem als Expert*innen zwar erinnerte Entscheidungsverläufe und offizielle Entscheidungskriterien präsent sind, nicht aber die fundierende Logik des Entscheidens und die Routinen ihres Handelns. Das bedeutet, dass sich die Akteure »der Relevanzen ihres Handelns keineswegs durchweg bewusst sind« (ebd.: 58). Denn die hier interessierenden Haltungen und Erfahrungen in Bezug auf heteronormative Strukturen sind in der Regel implizit und nicht vollständig bewusst. Expert*innenwissen kann deshalb nicht einfach abgefragt werden, es wird vielmehr aus den Äußerungen der Expert*innen rekonstruiert. Die Gewinnung von Teilnehmenden für das World Café im Projekt »(Un)angepasst« fand über eine regionale Recherche im Sinne eines theoretischen Samplings im Schneeballsystem statt. Die Kontaktaufnahme mit relevanten Akteur*innen des Übergangssystems in den Landkreisen Fulda und Vogelsbergkreis sowie mit queeren Projekten hessenweit stand dabei im Fokus. Im Zuge der Recherche wurden über 30 Telefonate mit Vertreter*innen von Netzwerken und Trägern geführt. Gesucht wurden insbesondere Träger, Netzwerke oder Maßnahmen des Übergangssystems, die offiziell zu LSBT-Themen arbeiten. Da keine Akteur*innen auffindbar waren, auf die dies zutraf, wurde das Suchkriterium erweitert auf Geschlechteraspekte und Antidiskriminierung. Mithilfe dieser Suchrichtungen konnten letztlich neun Teilnehmer*innen gewonnen werden, die entweder persönlich oder deren Institutionen bereits mit LSBT-Themen zu tun hatten. Bei der Erhebung

145

146

Bettina Staudenmeyer

waren Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen sowie Bildungsbegleiter*innen4 vertreten. Fachkräfte aus Betrieben waren nicht vertreten. Im Vorfeld des World Cafés fand eine Schulung für die Gastgeber*innen bzw. Interviewer*innen statt. Es wurde ein Leitfaden erstellt, der vor allem mit offenen Fragen arbeitet. Darüber hinaus kamen als Erzählstimuli sinngemäße Zitate von Fachkräften aus dem Übergangssystem zum Einsatz. Diese wurden aus den Notizen der Vorgespräche zur Erhebung generiert. Ziel war es, mittels dieser Zitate Mechanismen der sozialen Erwünschtheit zu durchbrechen, Aussagen zu impliziten Normen der Fachkräfte und des Übergangssystems zu generieren und dazu anzuregen, eigene Fallbeispiele zu ähnlichen Themen zu erzählen. Das World Café fand an der Hochschule Fulda statt. Nach einer Einführung in das Projekt durch die Forscherinnen* gab es einen Input, bei dem der Diskriminierungsbegriff sowie Begriffe rund um die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung, zum Beispiel schwul, lesbisch, bisexuell, trans* Junge, trans* Mädchen, eingeführt wurden. Diese Begriffsklärung sollte eine gemeinsame Basis für Kommunikation und Verständigung schaffen. Die Gespräche an den Tischen wurden per Diktiergerät aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert.

2.2

Auswertungsmethodik

Für die Auswertung der drei Transkripte des World Cafés wurde ein Kategoriensystem (Tab. 1) gebildet, das sowohl aus induktiven als auch aus deduktiven Kategorien bestand (vgl. dazu auch Mayring 2015: 69-97). Einige Kategorien ergaben sich deduktiv aus theoretischen Vorannahmen, die aus der Literatur entwickelt wurden, so zum Beispiel die Kategorien »Diskriminierung« oder »Arbeitsauftrag und Rahmenbedingungen« (s. Abschnitt 1). Andere Kategorien entstanden induktiv aus dem Material, so zum Beispiel die Kategorien »›Das‹ Thema« oder »Akzeptanz«. Es wurden Unterkategorien und Ausprägungen sowie Codierregeln festgelegt.

4

Dabei handelt es sich um eine Tätigkeit, die keine spezielle Ausbildung erfordert und deshalb offen für Quereinsteiger*innen ist.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Tabelle: Kategoriensystem 1

»Das« Thema

2

Professioneller Umgang mit LSBT-Themen

3

Arbeitsauftrag und Rahmenbedingungen

4

Selbst- und Fremdbilder der Fachkräfte

5

Akzeptanz gegenüber LSBT-Personen

6

Konflikte/Diskriminierung gegenüber LSBT-Personen

7

Intersektionale Perspektiven

8

Bedarfe Fachkräfte

9

Bedarfe LSBT-Jugendliche

Die Codierung erfolgte mithilfe des Auswertungsprogramms MAXQDA. Das Gütekriterium der Intercodier-Reliabilität (Mayring 2015: 53) wurde durch ein Team von Erst- und Zweitcodierer*in gewährleistet. Die weitere Auswertung der codierten Textstellen erfolgte mittels formulierender und reflektierender Interpretation (dazu Bohnsack et al. 2013: 15). Bei der formulierenden Interpretation geht es darum, »das, was von den Akteuren im Forschungsfeld bereits selbst interpretiert, also begrifflich expliziert wurde, noch einmal zusammenfassend zu ›formulieren‹« (ebd.: 16). Dieser Auswertungsschritt ist also weitestgehend als deskriptiv zu verstehen. Im nächsten Schritt, der reflektierenden Interpretation, gilt es sodann, das implizite Wissen herauszuarbeiten, das in den Aussagen und dem Handeln der Befragten enthalten ist (vgl. ebd.: 9). Eine Besonderheit der Auswertung ergab sich durch die Erhebungsmethode des World Cafés bei der Kategorie »Professioneller Umgang mit LSBTThemen«. Da die Teilnehmer*innen während des World Cafés immer wieder die Tische getauscht haben, tauchen zu den gleichen Themen und/oder Adressat*innen in verschiedenen Transkripten Erzählungen auf. Angesichts dessen wurden innerhalb dieser Kategorie zu einigen besonders ergiebigen Erzählungen ›Fallgeschichten‹ zusammengestellt, anhand derer sich das professionelle Handeln jeweils rekonstruieren lässt. Dabei entstanden acht Fallgeschichten, von denen sich sieben um die Begleitung eines oder mehrerer LSBT-Jugendlicher drehen. Lediglich eine Fallgeschichte bezieht sich auf die Thematisierung der Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung unabhängig von konkreten LSBT-Jugendlichen.

147

148

Bettina Staudenmeyer

Die Qualität der Auswertung wurde über Interpretationsrunden mit dem Verbundprojekt der htw saar und den weiteren assoziierten Wissenschaftler*innen interdisziplinär sichergestellt.

3

Ergebnisse

Im Folgenden wird zunächst betrachtet, wie die befragten Fachkräfte über die Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung sprechen und welche Perspektiven sie auf Diskriminierungen und Anerkennung bzw. Akzeptanz haben. Im Anschluss werden die Rahmenbedingungen für die Thematisierung der Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung aus den Erzählungen der Befragten rekonstruiert, um vor diesem Hintergrund das professionelle Handeln der Fachkräfte in den Blick zu nehmen. Das Kapitel endet mit einem kurzen Überblick über die von den Fachkräften formulierten Bedarfe.

3.1

»Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung«: Das Thema beim Namen nennen?

Beim Thema Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung im Übergangssystem denken die befragten Fachkräfte vor allem an (einige wenige) konkrete LSBT-Jugendliche, die bei ihnen selbst oder bei Kolleg*innen aus der eigenen Institution in Maßnahmen sind oder waren. Sie berichten hingegen kaum davon, dass Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung unabhängig von konkreten Personen ein Thema im Übergangssystem ist – sei es in Form von Maßnahmeinhalten, sei es in Form von Fortbildungen für die Fachkräfte oder von Konzepten bzw. Leitbildern der Einrichtungen. Bei den LSBT-Jugendlichen, von denen die Fachkräfte berichten, handelt es sich überwiegend um trans* und seltener um lesbische, schwule oder bisexuelle Jugendliche. Es wird in den erhobenen Daten also sehr viel mehr über Geschlechtsidentität als über sexuelle Orientierungen gesprochen. Dieser Fokus verweist möglicherweise auf eine Exotisierung von trans* Personen bzw. auf eine stärkere Problematisierung im Vergleich zu LSB-Jugendlichen. Ein weiterer Grund könnte die höhere Sichtbarkeit von trans* Jugendlichen gegenüber LSB-Jugendlichen sein, die sich dadurch einstellt, dass trans* Jugendliche (nicht nur) im Übergangssystem häufiger anecken, da für sie aufgrund binär strukturierter Räumlichkeiten selbst der Toilettengang keine Selbstverständlichkeit ist. Umgekehrt wird den lesbischen, schwulen und bisexuellen

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Jugendlichen mit der Fokussierung auf trans* Jugendliche und deren Problematisierung eine vermeintliche Normalität zugeschrieben, die ihre Erfahrungen in einer heteronormativen Gesellschaft unsichtbar macht. Wenn die Gespräche im World Café von den Gastgeber*innen gezielt auf das Thema sexuelle Orientierung gelenkt wurden, lag der Fokus der Erzählungen oftmals wiederum auf trans* Jugendlichen – und ihrer sexuellen Orientierung. So berichtet eine Fachkraft von zwei jungen trans* Männern, die aktuell beide mit Frauen liiert seien. Am Anfang der Maßnahme sei einer von ihnen mit einem Mann zusammen gewesen, was die Fachkraft bemerkenswert findet, da er – damals noch als ›sie‹ eingelesen – »burschikos« gewesen sei, also relativ männlich im Erscheinungsbild. Im Sprechen der Fachkraft werden starke Normierungen in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung sichtbar, wenn davon gesprochen wird, dass eine Person mit einem Mann zusammen war, »obwohl« (Tisch 2: 14) sie burschikos wirkte. Hier scheint die heteronormative Erwartung zugrunde zu liegen, dass eine ›burschikose‹ Person mit einer Frau zusammen sein sollte. Eine der wenigen weiteren Stellen, an denen eine Fachkraft über die sexuelle Orientierung von Maßnahmeteilnehmenden spricht, ist im Kontext von Grenzverletzungen. Gleich zweimal berichtet sie von Grenzverletzungen durch lesbische Frauen: Befragte: »Aber das [sexuelle Orientierung; Anm. B. S.] ist bei uns kein Thema. Ja gut. Es wird zum Thema gemacht, wenn Grenzverletzungen entstehen. Wenn die Distanz nicht eingehalten wird. […]« Interviewerin: »Was für Grenzverletzungen gibt es dann zum Beispiel?« Befragte 1: »Ja, antatschen, anmachen, stalken. Habe ich heute, gestern, nein gestern hatte ich ein Thema. Die fühlt sich belästigt, weil die andere ständig ihr zu nahekommt.« (Tisch 2: 157 f.5 ) Dies könnte zum einen mit einer Hypersexualisierung von LSB-Personen in Verbindung stehen, und zwar in dem Sinne, dass Äußerungen und Handlungen insbesondere mit Sexualität in Verbindung gebracht werden bzw. dass Grenzen besonders eng gezogen werden, um nicht selbst in den ›Verdacht‹ einer gleichgeschlechtlichen Orientierung zu geraten. Eine andere mögliche

5

Die Klammern nehmen Bezug auf den Tisch des World Cafés, an dem das Gespräch stattgefunden hat und auf die Absatznummer des entsprechenden Transkripts.

149

150

Bettina Staudenmeyer

Erklärung ist die Problemorientierung des Übergangssystems. In dieser Logik erfahren Jugendliche und ihre Themen nur dann Aufmerksamkeit, wenn ihr Verhalten als problematisch eingestuft wird. Nichtheterosexuelle Orientierungen werden demnach nur dann sichtbar, wenn ihre sexuellen Orientierungen als Problem erscheinen. Der Begriff »Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung« wird von den befragten Fachkräften im gesamten World Café nie verwendet, auch die Begriffe sexuelle Orientierung oder Geschlecht werden kaum aufgegriffen. Stattdessen wird von »dem Thema«, »diesen Themen«, »das«, »es« oder von »solche Sachen« gesprochen. Es ist dann häufig unklar, wovon die Fachkräfte genau sprechen – ob nur von sexueller Orientierung, nur von Geschlechtsidentität oder von beidem oder nur von Sexualität oder Geschlecht allgemein? Auf Nachfrage findet oftmals keine Schärfung statt. Die Nutzung dieser vagen Begriffe hat an vielen Stellen der Erhebung eine präzise Verständigung und somit auch die Auswertung der Gespräche erschwert. Es wird deutlich, dass es den Fachkräften an einer adäquaten Sprache fehlt, dass Sprache und Begriffe grundlegende Voraussetzungen für fachliche Verständigung sind und dass auch der kurze Input zu Beginn des World Cafés diese Lücke nicht vollständig füllen konnte. An einigen Stellen hat der Input eine Sprechfähigkeit hergestellt, an anderen nicht, was sowohl an der Kürze des Inputs als auch an einer möglichen einschüchternden Wirkung des Inputs gelegen haben kann. Die Nutzung vager Begriffe wiederum kann auch Ausdruck von Unsicherheit, Scham, Abwehr und Distanzierung sein. Die Begriffe trans* Mädchen und trans* Junge sowie die Pronomina für trans* Personen werden überwiegend so verwendet, dass es den Selbstbezeichnungen der Jugendlichen entspricht, soweit dies aus Perspektive der Forschung nachvollziehbar ist. Einmal wird geäußert, dass die Nutzung dieser Begriffe noch gewöhnungsbedürftig sei: »[W]ir hatten […] gleich zwei trans…Jungs (lacht). Muss mich auch erst mal dran gewöhnen« (Tisch 2: 9). Die Fachkraft hält kurz inne zwischen »trans« und »Jungs«. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich mit dieser Formulierung auf den Input am Anfang des World Cafés bezieht, bei dem unter anderem der Begriff trans* Junge eingeführt wurde. Es zeigt sich eine hohe Motivation bei den befragten Fachkräften, die neu erlernten Begriffe zu verwenden. An einigen Stellen offenbart sich hier jedoch wiederum eine Brüchigkeit, wenn über einen trans* Jungen dann doch wieder als »Mädel« (Tisch 2: 9) gesprochen wird. Diese Brüchigkeit verweist auf gesellschaftlich sehr tief verankerte Diskurse, Normen und Zuschreibungspraktiken zu Geschlecht.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

In den Erzählungen der Fachkräfte wird überwiegend die Vorstellung sichtbar, dass trans* Jugendliche ihr Geschlecht im körperlichen Sinne ›wechseln‹ wollen bzw. gewechselt haben. Die Befragten verwenden dementsprechend häufig den Begriff »Geschlechtsumwandlung«. Auch an anderen Stellen wird deutlich, dass die Vorstellung besteht, dass trans* Jugendliche ihr Geschlecht wechseln, dass es ein Vorher- und ein NachherGeschlecht gibt und dass die Person vor der Transition noch nicht trans* war. Letzterer Aspekt zeigt sich beispielsweise im folgenden Zitat, in dem das Verhalten eines trans* Jugendlichen erörtert wird, das von der Fachkraft als hochproblematisch eingeordnet wird: »… weil das Verhalten unterirdisch war […], und das auch, glaube ich, nicht der Grund war, weil er halt trans ist, sondern er war vorher (Hervorh. B. S.) schon äußerst schwierig.« (Tisch 3: 90) Dieses Zitat zeigt außerdem die Problematisierung eines trans* Jugendlichen. Die Perspektive der Fachkraft besteht darin, dass der Jugendliche Probleme macht, und weniger darin, dass der Jugendliche – unter anderem aufgrund von Trans*-Feindlichkeit – Probleme hat. Eine strukturelle Perspektive auf die Hintergründe des Verhaltens des Jugendlichen fehlt. Der Begriff der Geschlechtsangleichung, der sich als respektvoller Begriff in der Trans*-Bewegung etabliert hat, wird in der Erhebung ganz vereinzelt verwendet. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass eine Person ihren Körper an die von dieser Person schon länger oder schon immer erlebte Geschlechtsidentität anpasst. In der Verwendung der Begriffe wird deutlich, dass die Fachkräfte eher auf Zuschreibungswissen denn auf fachliche Reflexionskompetenz (vgl. Debus 2021) oder auf Wissen der Trans*-Bewegung (vgl. de Silva 2014) zugreifen. An einigen Stellen können die Fachkräfte auf fachliches Erfahrungswissen Bezug nehmen: Ihr Wissen über die Lebenswelt queerer Jugendlicher zum Beispiel über Coming-out, Diskriminierungserfahrungen oder genderqueere Identitäten, die über die Zweigeschlechtlichkeit hinausgehen (vgl. Tisch 3: 183), basiert dann auf durchgeführten Begleitungen von LSBT-Jugendlichen und einem learning by doing.

3.2

Perspektiven der Fachkräfte auf Anerkennung und Diskriminierung

Welche Vorstellungen haben die Fachkräfte von Diskriminierung und welche davon, was eine anerkennende Haltung gegenüber LSBT-Jugendlichen aus-

151

152

Bettina Staudenmeyer

macht? Die Perspektiven der Fachkräfte auf diese Begriffe und Konzepte werden im Folgenden dargelegt.

Perspektiven auf Konflikte und Diskriminierungen In den Erzählungen der Fachkräfte wird eine große Bandbreite an Konflikten bzw. Diskriminierungen sichtbar. Die befragten Fachkräfte berichten über Kolleg*innen, die »blöde Sprüche« (Tisch 1: 258) über LSBT-Jugendliche machen oder äußern, dass sie davon ausgehen, dass sich die sexuelle oder geschlechtliche Identität der Jugendlichen wieder »verwachse« (Tisch 3: 155), außerdem von Passivität bei Mobbing. In Bezug auf trans* Jugendliche wird von der Nutzung falscher Pronomina und Namen berichtet. Eine Fachkraft berichtet außerdem von körperlich übergriffigen Situationen durch eine Lehrkraft: »Ein Lehrer […] nimmt sie [seine Schüler*innen; Anm. B. S.] immer alle beiseite und klar, das meiste davon sind Jungs und unsere beiden trans Jungs waren auch in dieser Gruppe und die fühlten sich beide von ihm belästigt. Also er berührt dann auch und so weiter.« (Tisch 2: 31) Von dieser groben Grenzverletzung abgesehen, werden die massivsten Konflikte im Übergangsbereich in Bezug auf (Ausbildungs-)Betriebe geschildert. Dies könnte entweder darauf verweisen, dass in der Ausbildung Abweichungen besonders stark sanktioniert werden, oder aber auch wiederum mit der Perspektive der Befragten zusammenhängen, denen es möglicherweise leichter fällt, Konflikte außerhalb der eigenen Institution anzusprechen. Eine Fachkraft berichtet von starken Konflikten zwischen einer trans* Person und ihrem Chef im Ausbildungsbetrieb (Tisch 2: 90). Eine andere erzählt, wie ein Adressat seine sexuelle Orientierung am Ausbildungsplatz verheimlicht: »Also hier ist jemand, der das Problem hat, dass er im Betrieb versucht, dass es da nicht rauskommt. […] Da hatten wir tatsächlich überlegt, ob er den Betrieb wechselt, weil er weiß, dass sein Chef absolut anti Homosexualität ist. Der Chef schätzt ihn zwar, nur er befürchtet halt: Wenn der irgendwann mal rauskriegt, dass ich schwul bin, dann war das hier mein letzter Tag.« (Tisch 2: 216) Der Jugendliche zieht aufgrund der homophoben Haltung seines Chefs in Erwägung, den Betrieb zu wechseln. Hier wird sichtbar, dass eine queere Identität in einer heteronormativen Gesellschaft tatsächlich Auslöser für Bildungs-

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

abbrüche – und somit auch für das Verweilen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf – sein kann. Auf der Ebene von Konflikten unter Jugendlichen wird unter anderem von homophoben bzw. homofeindlichen Beschimpfungen, Mobbing, Fake-Liebesbriefen, offen kommunizierter Gewaltbereitschaft gegen LSBTPersonen, der Verwendung von schwul als Schimpfwort sowie von sexuellen Übergriffen gegen trans* Jugendliche berichtet (Tisch 2: 35). Es wird außerdem erzählt, dass es LSBT-Jugendliche gibt, die aus Angst vor den Reaktionen ihrer Peers von einem Coming-out absehen (Tisch 1: 69). Vereinzelt wird von Konflikten zwischen Fachkräften im Hinblick auf queere Themen berichtet, etwa dass politische Entscheidungen bezüglich der Gleichstellung von LSBT-Personen im Kollegium kontrovers diskutiert werden oder dass von anderen Fachkräften Kritik geübt wird, wenn engagierte Fachkräfte LSBT-Themen ansprechen. Hier zeigt sich, dass die wenigen Fachkräfte, die Queersein unabhängig von LSBT-Jugendlichen als Querschnittsthema zu setzen versuchen, sich mit Infragestellungen durch andere Kolleg*innen konfrontiert sehen. Dies lässt auf eine sehr fragile Position dieser Fachkräfte innerhalb der Institution schließen. Die Professionellen sprechen auch von Konflikten, die ihre Adressat*innen außerhalb des Übergangssystems erleben: Dabei geht es etwa um das Nicht-ernst-genommen-Werden bis hin zur Ablehnung und zum Heiratsdruck in der Familie sowie um Gewalt und distanzlose Neugier in der Öffentlichkeit: »Bei dem Auszubildenden, von dem ich gesprochen habe … Er hatte mir im Gespräch mal gesagt, also er hat die Erfahrung gemacht, wenn er anderen Menschen erzählt, dass er transsexuell ist oder eben ein Transjunge, dass die ihm dann komische Fragen stellen und auch fragen, also vor allem auch Männer, dass die Fragen stellen, die unter der Gürtellinie sind und die er nicht beantworten möchte und die ihm einfach unangenehm sind.« (Tisch 2: 24) Die benannten konflikthaften Situationen werden von den Fachkräften teilweise als »unangenehm« (Tisch 2: 24) bzw. »schwierig« (Tisch 2: 10) beurteilt oder als »Diskriminierung« (Tisch 3: 183) gegenüber der LSBT-Person verstanden. Einige Befragte benennen gesellschaftliche Gründe für die fehlende Akzeptanz bzw. Anerkennung von LSBT-Personen, so zum Beispiel die gesellschaftlichen Geschlechternormen. Dies kann im weitesten Sinne als Haltung eingeordnet werden, die die Wahrnehmung der Betroffenen anerkennt.

153

154

Bettina Staudenmeyer

Auf der anderen Seite zeigen sich aber auch relativierende Haltungen bei den Fachkräften, wenn Berichte über Diskriminierungserfahrungen als »wilde Geschichten« (Tisch 2: 9) bezeichnet oder als unproblematisch eingestuft werden oder den LSBT-Jugendlichen eine (Mit-)Verantwortung für ihre fehlende Akzeptanz gegeben wird: Wenn LSBT-Jugendliche »offen« seien und/oder ein »Leader« (Tisch 3: 15), dann sei Akzeptanz wahrscheinlicher. Umgekehrt gedacht, läge fehlende Akzeptanz dann unter anderem an fehlendem Selbstbewusstsein oder einem fehlenden Coming-out. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die LSBT-Jugendlichen ein Coming-out abverlangen und ihnen das Coming-out zugleich schwer machen, stehen hier nicht im Fokus. Die oben bereits angesprochene Übergriffigkeit eines Lehrers gegenüber zwei trans* Jugendlichen wird von einer Fachkraft im World Café auf »fehlende professionelle Distanz« (Tisch 2: 36f.) zurückgeführt. Bei der Analyse von Konflikten werden die Probleme teilweise nur bei den LSBTJugendlichen gesehen, es findet victim blaming statt – die Schuld wird den Betroffenen von Gewalt, Mobbing oder Ähnlichem zugeschoben statt den Täter*innen. Ein Beispiel für eine starke Relativierung von Diskriminierungserfahrungen ist der Fall von zwei trans* Jungen, die berichten, von Gewalt betroffen zu sein, und von denen eine Fachkraft sagt, sie hätten andere gemobbt. Die Gewaltbetroffenheit der trans* Jugendlichen wird von der Fachkraft infrage gestellt bzw. bagatellisiert, die Ausübung von Mobbing hingegen als Fakt dargestellt. Dies kumuliert in der Einschätzung, dass einer der beiden trans* Jugendlichen am Ausbildungsplatz keine Diskriminierung erfahren habe: »Ich glaube, das war weniger wegen Diskriminierung oder so, dass er Probleme bekommen hat, das lag eher an seinen Problemen, die er gehabt hat in dieser ganzen Phase mit der hormonellen Umstellung usw., usf., mit dem Hauptschulabschluss, den er eigentlich wollte, […] Wohnsituation.« (Tisch 2: 193) Die Fachkraft kommt in dieser Passage zu der Einschätzung, dass die Multiproblemlage des Jugendlichen ursächlich für die Konflikte zwischen ihm und dem restlichen Personal des Betriebs gewesen sei. Unter anderem wird dabei auch auf Trans*-Sein Bezug genommen, jedoch ausschließlich auf die Hormone, also die biologische Komponente, nicht auf die sozialen Aspekte und gesellschaftlichen Diskriminierungsverhältnisse. Letztere schließt die Fachkraft als Grund für die Konflikte aus.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Die Bandbreite der benannten Diskriminierungen entspricht größtenteils der DJI-Coming-out-Studie (Krell/Oldemeier 2015). Sie reicht vom Nicht-ernst-genommen-Werden bis hin zu sexualisierten Übergriffen und anderer Gewalt. Nicht angesprochen werden im Erhebungsmaterial subtilere Diskriminierungsformen wie die Ignoranz, das Nichtmitdenken oder die zu starke Betonung der eigenen Orientierung oder auch Ausgrenzung (ebd.: 20, 22, 29). Diese Formen der Diskriminierung lassen sich hingegen teilweise im Sprechen der Fachkräfte selbst herausarbeiten: Sie liegen in der Unsichtbarkeit von LSBT-Jugendlichen, solange sie keine »Probleme« machen, in den heteronormativen Annahmen über Jugendliche, in der exotisierenden Sprache über trans* Jugendliche. Dies ist Ausdruck der heteronormativen gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich neben der Sprache auch in Normalitätsvorstellungen und im Habitus (vgl. Bourdieu 1987) niederschlagen. Einige Fachkräfte merken an, dass es in ihrer Institution keinerlei Konflikte in Bezug auf sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität gibt. Spannend ist dazu die Analyse einer Befragten, die eine Ablehnung von LSBTPersonen bereits dort sieht, wo Fachkräfte berichten, dass sie in ihrer Einrichtung noch nie mit der Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung zu tun gehabt hätten und/oder es noch nie Probleme damit gegeben hätte: »Wenn man in einer Schule oder einer Einrichtung ›gar kein Problem damit hat‹, dann würde ich eher behaupten oder eher das Gefühl haben, da versucht jemand, was zu verschleiern oder irgendwie zu unterdrücken, also das gar nicht irgendwie diskutiert werden darf sozusagen.« (Tisch 1: 107) Die Befragte deutet in diesem Zitat solche Einschätzungen als Widerstand und Vermeidungsstrategie. Sie geht davon aus, dass es in allen Einrichtungen Unsicherheiten und/oder Diskussionsbedarf zu den Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung gibt.

Perspektiven auf Anerkennung Immer wieder bringen die Befragten von sich aus die Begriffe Akzeptanz und Toleranz in die Gespräche im World Café ein. Viele sprechen davon, dass es gegenüber LSBT-Jugendlichen eine hohe Akzeptanz oder Toleranz im Übergangssystem gebe, sowohl unter den Jugendlichen als auch im Team und bei den Eltern von LSBT-Jugendlichen. Dies zeige sich darin, dass es »keine Anfeindungen«, »keine blöden Kommentare«, »keine Diskriminierungen«, »keine negativen Reaktionen« gebe und dass »kein Thema«, »kein Problem« dar-

155

156

Bettina Staudenmeyer

aus gemacht werde bzw. es »keine Nachfragen« gebe, wenn sich Jugendliche als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* outeten. Akzeptanz und Toleranz scheinen für die Befragten zentrale Begriffe in Bezug auf den Umgang mit LSBT-Jugendlichen zu sein. Dabei werden diese Begriffe von den Fachkräften negativ bestimmt: Akzeptanz von LSBTPersonen besteht demnach dann, wenn über die Orientierung oder Identität der Person nicht gesprochen wird, sie kein Thema ist. Anerkennung nach Axel Honneth (2018) beinhaltet jedoch wesentlich mehr als die Abwesenheit von Diskriminierung. Sie kann sich in Form von Liebe zwischen zwei Subjekten zeigen, in Form von rechtlicher Anerkennung und in Form von Solidarität – sozialer Anerkennung. Vereinzelt berichten die Befragten von aktiven Anerkennungsformen durch Peers, die in Richtung von Solidarisierungen gehen. So wird etwa von einem männlichen Jugendlichen aus einer Maßnahme erzählt, der zu einem anderen – schwulen – Jugendlichen gesagt hat: »›Ja, ich stehe auf Mädchen, du stehst halt auf Jungs. Wo ist das Problem?‹« (Tisch 1: 43) Eine andere Fachkraft berichtet: »Ich fand das einmal bei mir im Unterricht ganz toll, da wurde auch über Schwule … darauf rumgeritten und beschimpft und alles. Und eine Schülerin meinte dann (ahmt sich ereifernde Schülerin nach): ›Das stimmt doch alles gar nicht! Mein Onkel ist schwul. Das ist nicht anerzogen. Der ist nie in Röcken rumgelaufen!‹ (lacht) – und so. Das war richtig gut. Also es wurde dann auch keiner vorgeführt oder so, aber die stand dazu und die hat dann da richtig Kontra gegeben.« (Tisch 1: 378)

3.3

Rahmenbedingungen und Systemlogiken im Übergangssystem

Die Rahmenbedingungen und die konkreten Aufträge der Institutionen im Übergangssystem sind wichtige Faktoren, die Einfluss darauf nehmen, ob und in welcher Art Raum für den Themenkomplex Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung besteht. Deshalb wird im Folgenden in einem ersten Schritt rekonstruiert, wie die Fachkräfte diese Faktoren insgesamt einschätzen, und in einem zweiten der Frage nachgegangen, über welche Konzepte queere Themen im Übergangssystem verankert werden können.

Rahmenbedingungen im Übergangssystem Laut den Aussagen der Befragten ist die Art der Maßnahme entscheidend dafür, ob die Möglichkeit besteht, sich im Übergangssystem an der lebenswelt-

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

orientierten Sozialen Arbeit (vgl. u.a. Thiersch 2005) zu orientieren – und damit auch Raum für die Themen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu finden Niederschwellige Maßnahmen, die Personen adressieren, die als besonders schwierig in den Arbeitsmarkt zu integrieren gelten, bieten demnach den größten Raum dafür, da die Ziele dieser Maßnahmen weniger eng an der tatsächlichen Integration in den Arbeitsmarkt orientiert sind. Eine Fachkraft aus einer solchen Maßnahme berichtet: »Also unser Ziel, es soll schon sein, Integration in den Arbeitsmarkt. Aber das Amt, das kommunale Kreis-Jobcenter, ist sehr wohl sich bewusst geworden, mit welchem Klientel wir arbeiten. Was nutzt es denn, langfristig gesehen, wenn wir jemanden in Arbeit kriegen, Ausbildung oder in die Schule, wenn er nach zwei Tagen oder zwei Wochen noch mal das alles abbricht. […] Das ist so schön an unserer Maßnahme. Gar keinen Druck zu haben, irgendwo hinzubringen. Jedes einzelne, jeder einzelne Schritt und wenn es nur ist, die Pünktlichkeit zu erreichen. Das ist zu würdigen und nicht Integration in Arbeit. […] Wir haben viel mehr Raum und das auch mit … Vielleicht ist das bei uns dann auch so viel simpler, auf dieses Thema mit einzugehen.« (Tisch 1: 242) Im Zitat wird deutlich, dass in der beschriebenen Maßnahme weniger die tatsächliche Arbeitsmarktintegration im Fokus steht, sondern unter dem Schlagwort ›Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit‹ eine ganzheitliche Begleitung der Maßnahme-Teilnehmer*innen erfolgen kann. Dieser »Raum« kann auch für »dieses Thema« – vermutlich ist die Vielfalt von Geschlecht und/oder sexueller Orientierung gemeint – genutzt werden. Im Zitat wird überdies ersichtlich, dass es diesen Raum nicht immer schon gab, sondern dass er von den Fachkräften des Trägers gegenüber den Geldgeber*innen erkämpft worden ist. Das Umschwenken auf ›weichere‹ Kriterien wird auch damit begründet, dass das Kriterium der Vermittlung in Arbeit oder Ausbildung am Ende der Maßnahme nicht unbedingt aussagekräftig ist, wenn diese Vermittlung nicht nachhaltig ist. Eine andere Fachkraft berichtet umgekehrt von Maßnahmen, deren Erfolg bzw. Misserfolg von den Geldgeber*innen sehr stark daran gemessen wird, ob die Jugendlichen am Ende der Maßnahme in Arbeit oder Ausbildung sind: »…ich erlebe es eigentlich so, dass Arbeitsmarktdienstleistung zunehmend einfach diese Orientierung am wirklich… Integrations- und Vermittlungser-

157

158

Bettina Staudenmeyer

gebnis [hat] – und das eigentlich so diese Beziehungsarbeit – ist wenig gewünscht.« (Tisch 2: 84) Dies führe dazu, dass die Professionellen auch Gespräche mit den Jugendlichen fast ausschließlich zu berufsbezogenen Themen führen und Beziehungsarbeit, Lebensweltorientierung sowie gesellschaftspolitische Themen keinen Raum haben, sogar unerwünscht seien. An anderer Stelle führt dieselbe Fachkraft weiter aus: »Dass es im Übergangssystem Schule–Beruf sehr standardisierte Formate gibt, die wenig Raum lassen für Pädagogen […] Haltungen, Einstellungen, auch politisch sein, gesellschaftskritisch oder sich mit Themen auseinandersetzen, das ist wenig Thema, weil es einfach überlagert wird von den Standards, die man ja auch in einer sehr kurzen Zeit von zehn Monaten irgendwie auch noch umsetzen muss.« (Tisch 1: 155) Über die Bedeutung der Finanzierung der Maßnahmen nach SGB VIII (Jugendhilfe), die dafür sorgt, dass der Fokus auf der Förderung der persönlichen Entwicklung von Jugendlichen liegt, oder nach SGB II und SGB III, wo es einen solchen Fokus nicht gibt, sprechen die Fachkräfte nicht.

Mögliche Verortungen der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen in Maßnahmelogiken Die Fachkräfte sehen die oftmals engen Rahmenbedingungen ihrer Maßnahmen kritisch. Insgesamt wird im World Café berichtet, dass LSBT-Themen im Übergangssystem bisher nicht institutionell verankert seien. Dies stimmt auch mit den Erfahrungen aus den Vorgesprächen und Akquiseversuchen für das World Café überein, bei denen es sich als schwierig erwies, überhaupt Institutionen zu finden, die Aussagen zu den entsprechenden Themen machen konnten. Gleichzeitig erwähnen die Fachkräfte aber auch Handlungsspielräume, in denen LSBT-Themen bisher vereinzelt bearbeitet werden, so unter anderem von Genderbeauftragten, vom psychologischen Dienst, von Sozialpädagog*innen oder im Religionsunterricht, im Rahmen von »lebenspraktischem Unterricht« oder in Unterrichtseinheiten zu »Liebe und Partnerschaft« (Tisch 3: 105). Dies sind Verweise auf Nischen innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen, in denen Bedürfnisse von LSBT-Jugendlichen geäußert werden können. Diese Praxis, LSBT-Themen bestimmten Räumen und/oder Fachkräften ›zuzuschieben‹, ist gleichwohl durchaus kritisch zu sehen (vgl. etwa auch

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Tisch 1: 157). So werden LSBT-Themen zum Sonderthema und gegebenenfalls sogar pathologisiert. Außerdem wird in den bestehenden Praktiken überwiegend individuell mit den LSBT-Jugendlichen gearbeitet und nicht auf der institutionellen Ebene mit den verschiedenen Institutionen und Fachkräften des Übergangssystems. Hier findet also eine Individualisierung struktureller Probleme und eine Verengung des Benachteiligungsbegriffs der Sozialen Arbeit statt. Während des World Cafés kreisen die Gespräche immer wieder darum, an welcher Stelle und/oder mit welcher fachlichen Begründung LSBT-Themen im Übergangssystem besprochen werden könn(t)en, was sie mit dem Übergang in den Beruf zu tun haben und wie sie mit Blick auf die Arbeitsaufträge und Maßnahmelogiken legitimiert und verankert werden könnten. Dabei wird neben dem allgemeinbildenden Auftrag von Berufsschulen, den Vorgaben der Geldgeber*innen zu Vielfaltsaspekten und der Verantwortung des Übergangssystems, stereotype Zuweisungen in Berufe auf der Basis von Geschlecht und sexueller Orientierung zu vermeiden, vor allem auf drei Konzepte als Ansatzpunkte Bezug genommen: LSBT-Identitäten als »Vermittlungshemmnis«, als »Destabilisierungsfaktor« und als »Ressource«. a) LSBT-Identität als »Vermittlungshemmnis«   »Wir haben bei uns eigentlich den Auftrag, jemand in Arbeit zu vermitteln. Werte ich das als Hindernis, was es sozusagen ist, um jemanden in Arbeit zu bringen, weil er für sich sagt, für mich ist das Thema Arbeit gar nicht so präsent, weil ich gerade so mit mir selbst beschäftigt bin und auch damit, meine Eltern darüber aufzuklären, meinen Freundeskreis aufzuklären, mich selbst zu finden. Dann ist es auf jeden Fall ein Auftrag, auch diese Themen mit zu bearbeiten, weil das ist auf jeden Fall sozusagen das ›Vermittlungshemmnis‹, in Anführungsstrichen.« (Tisch 3: 248) In diesem Zitat wird reflektiert, dass die Selbstfindungsphase von LSBTJugendlichen – in einer heteronormativen Gesellschaft – viel Zeit und Energie kostet6 und die Themen Arbeit und Berufsfindung in den Hintergrund rücken können. In diesem Sinne könnte die Positionierung als LSBT bzw. die gesellschaftlichen Hürden, die damit einhergehen, in der 6

Zu den Anforderungen und Entwicklungsaufgaben von (nicht nur queeren) Jugendlichen s. auch Brück/Brodersen/Nestler in diesem Band.

159

160

Bettina Staudenmeyer

Logik des Übergangssystems als Vermittlungshemmnis auf dem Weg zur Arbeitsmarktintegration betrachtet werden, was eine Beschäftigung mit LSBT-Themen legitimieren würde. Der Begriff »Vermittlungshemmnis« wird von der Fachkraft, die ihn anführt, im Hinblick auf LSBT-Jugendliche in Anführungszeichen gesetzt. Sie scheint sich dadurch kritisch von den Begriffen des Übergangssystems zu distanzieren und gleichzeitig deutlich machen zu wollen, dass sie nicht die Identität von LSBT-Jugendlichen problematisieren möchte, sondern das gesellschaftliche Verhältnis der Heteronormativität, das durchaus eine Hürde bzw. ein Hemmnis für LSBT-Personen darstellt, sich in Ruhe anderen Themen zuwenden zu können. b) LSBT-Identität als »Destabilisierungsfaktor«   Interviewerin: »Ja, im Prinzip hat uns hier am Tisch halt interessiert – also das vielleicht auch noch mal als Gedanke an Sie –, was hat denn sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität eigentlich mit dem Übergang in den Beruf zu tun?« Befragte: »Ja viel. Also man muss halt – das hatten wir vorne schon gesagt – man braucht halt, um ins Berufsleben zu gehen, da muss man stabil sein und wissen, was man will, und so eine Basis haben. Erst dann, finde ich, kann man den nächsten Schritt gehen. Und deswegen, finde ich, das ist wichtig, dass man da weiß, wo man hingehört, dass man sich da sicher ist, weil erst dann, finde ich, kann man die nächsten Schritte gehen. Deswegen ist das ganz wichtig, dass man […] da stabilisiert ist, in der Frage oder stabilisiert wird.« (Tisch 2: 203ff.) In diesem Zitat wird die Stabilität der Persönlichkeit als Voraussetzung für die Berufsfindung betrachtet. In diesem Sinne könnte die Begleitung bei der Findung der eigenen sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität als Unterstützungsleistung im Übergangssystem legitimiert werden. Dem Begriff der Stabilisierung haften jedoch gleichzeitig starke heteronormative Setzungen an. Die Fachkraft, die diesen Begriff ins Spiel bringt, geht davon aus, dass sich die sexuelle und/oder geschlechtliche Identität in der Jugend stabilisieren muss, und womöglich nimmt sie auch an, dass diese Identität bei LSBT-Jugendlichen besonders instabil sei. Wie Judith Butler (1991) jedoch gezeigt hat, ist es bereits eine normative Setzung, dass Geschlechtsidentitäten stabil und unveränderbar seien. Die Setzung, eine stabile Identität finden zu müssen, wird in der Regel in der Jugend zu einer konkreten Anforderung

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

an Menschen. Insofern könnte das Konzept des Destabilisierungsfaktors systemimmanent funktionieren und ein Weg sein, wie eine Verankerung von LSBT-Themen im Übergangssystem legitimiert werden können. c) LSBT-Identität als »Ressource«   »Was weiß ich, im günstigsten Fall, kann ich ja auch mal in Gespräche gehen, ohne irgendwie so eine Checkliste, wo dann steht, welchen Bildungsabschluss hattest du und was ist dein Ziel in den nächsten fünf Jahren. Gibt es ja auch manchmal, dass es sehr offengehalten ist. […] Um das [LSBT-Identität (?); Anm. B. S.] so ein bisschen auch als Chance und als Ressource so zu deuten, so irgendwie: ›Du bist stark, du hast da schon viele Erfahrungen gemacht und du bist gestärkt da rausgegangen‹, nicht? Also sich die Zeit zu nehmen, das auch als Ressource [zu sehen] und das zu empowern.« (Tisch 2: 93) In diesem Zitat wird auf den Ressourcenbegriff rekurriert. Es könnte demnach die Aufgabe des Übergangssystems sein, LSBT-Jugendliche darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihre Identität und die damit einhergehenden Erfahrungen wie zum Beispiel Coming-outs als Stärke und Ressource verstehen können. Auch der Begriff der Ressource nimmt letztlich indirekt Bezug auf Heteronormativität, und zwar in dem Sinne, dass LSBT-Jugendliche in einer heteronormativen Gesellschaft vielen Belastungen ausgesetzt sind und die Bewältigung dieser Anforderungen wiederum als Ressource gedeutet werden kann. Von den drei genannten Ansatzpunkten für eine Verankerung von LSBT-Themen sticht dieser letzte besonders hervor, da er sich am weitesten von der Problemorientierung des Übergangssystems wegbewegt und eine bestärkende, empowernde Sicht auf die Adressat*innen in den Vordergrund rückt.

3.4

Professionelles Handeln mit Bezug zu Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung

Im Folgenden soll die Frage nach dem professionellen Handeln vor dem Hintergrund der fehlenden Verankerung von LSBT-Themen im Übergangssystem, den oftmals engen Rahmenbedingungen und der im Hinblick auf queere Themen fehlenden Sprache im Fokus stehen: Wie entwerfen die Fachkräfte ihre Haltung gegenüber dem Themenkomplex Vielfalt von Geschlecht und se-

161

162

Bettina Staudenmeyer

xueller Orientierung? Wie sieht das professionelle Handeln von Fachkräften bei der Begleitung von LSBT-Jugendlichen aus? Wo zeigt sich professionelles Handeln mit Bezug zu LSBT-Themen unabhängig von LSBT-Adressat*innen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird unter anderem auf die Fallgeschichten (s. oben unter Auswertungsmethodik) zurückgegriffen, wobei der Fokus auf dem Handeln der Fachkraft, nicht auf den LSBT-Jugendlichen liegt, um die sich die Fallgeschichten größtenteils drehen.

Professionelle Haltung – in Abgrenzung zu anderen Fachkräften Die befragten Fachkräfte scheinen die eigene fachliche Haltung als zentralen Ansatzpunkt für den professionellen Umgang mit der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen zu sehen. Andere Aspekte wie Konzepte, Leitbilder, Öffentlichkeitsarbeit werden nicht genannt. Die eigene Haltung wird in Form von Selbstbildern in Abgrenzung von anderen Fachkräften entworfen: LSBT-Themen werden als neue Themen gesehen, für die sich manche Fachkräfte »noch nicht« (Tisch 2: 164) öffnen konnten, eine Pro-Haltung gilt demnach als fortschrittlich. Die Fachkräfte ordnen sich alle dieser offenen Haltung zu und attestieren anderen (Fachkräften), bei denen das Thema ein »Tabu-Thema« (Tisch 2: 29), »schambesetzt« (Tisch 3: 192), »ein schwieriges Thema« (Tisch 2: 147) sei, eine ablehnende Haltung. Die Ablehnung von LSBT-Personen wird oftmals bei bestimmten Gruppen von Professionellen im Übergangssystem verortet (zum Beispiel ältere und/oder männliche Professionelle, spezifische Berufsgruppen, …). Mitunter geht dies auch mit einer Stereotypisierung von (vermeintlich) homophoben Gruppen einher. Teilweise werden im World Café auch eigene Vorurteile und Unsicherheiten reflektiert, die die Aufteilung zwischen einem ›Wir‹ und den ›anderen‹ brüchig werden lassen. So berichtet eine Fachkraft von der Begleitung eines Jugendlichen Folgendes: »Und mich hat die ganze Zeit so die Frage beschäftigt, welche sexuelle Orientierung er hat. Ich habe mich das nicht getraut zu fragen. Weil, ich komme ja jetzt hier auch nicht in den Raum und stelle mich vor und sage: ›Hallo, mein Name ist und ich bin heterosexuell.‹ Also das ist ja jetzt nichts, worüber man sich so definiert. Aber mich hat diese Frage schon sehr, sehr beschäftigt.« (Tisch 2: 24) Das Zitat verweist auf die Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz, also der Fähigkeit, Uneindeutiges auszuhalten. Die Offenheit, diese Unsicherheit mit

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

anderen Fachkräften zu teilen, ist ein wichtiger Aspekt von Reflexionskompetenz. Als Gründe für die fehlenden Kompetenzen anderer Kolleg*innen im Umgang mit LSBT-Themen führen die befragten Fachkräfte psychosoziale Aspekte wie Abwehr und Desinteresse ins Feld, aber auch strukturelle Probleme (Zeit, mangelhafte Ausbildung). An dieser Stelle wird auch die Möglichkeit des Quereinstiegs in das Übergangssystem problematisiert, da es Quereinsteiger*innen an pädagogischem Grundwissen fehle.

Begleitung von LSBT-Jugendlichen Professionelles Handeln mit Bezug zu LSBT-Themen wird von den Fachkräften fast ausschließlich in Bezug auf Begleitungen von LSBT-Personen geschildert, die bei ihnen in der Institution Teilnehmer*innen einer Maßnahme oder Schüler*innen sind. Damit eine fachliche Auseinandersetzung mit lesbischen, schwulen oder bisexuellen Jugendlichen beginnt, muss in der Regel ein (von der Fachkraft empfundenes) Problem bestehen. Bei trans* Jugendlichen wird diese Voraussetzung allerdings deutlich seltener angeführt, vielmehr scheint Trans*-Sein per se als Problem wahrgenommen zu werden. Die Problemorientierung der Fachkräfte zeigt sich jedoch nicht nur bei den Ausgangspunkten für Begleitungen von LSBT-Jugendlichen, sondern auch bei den Begleitungen selbst, wenn beispielsweise Konflikte nur einseitig bearbeitet werden bzw. das Problem stärker bei der begleiteten Person als beim Gegenüber gesehen wird. Es findet eine starke Individualisierung von Konflikten statt, während strukturelle Komponenten wie Trans*- und Homofeindlichkeit, die in Konflikte hineinspielen, kaum in den Blick genommen werden.7 Ein Beispiel für eine solche Individualisierung und die dadurch bedingte einseitige Betrachtung von Konflikten findet sich in einer Fallgeschichte, in der von massiven Konflikten eines trans* Jugendlichen im Betrieb erzählt wird. Die Einseitigkeit der Betrachtung scheint hier im Cis-Bonding und/oder in einer Verbrüderung unter Fachkräften zu gipfeln: Die befragte Fachkraft, Herr Baltes8 , kennt den Geschäftsführer »sehr gut« (Tisch 2: 193) und schätzt ihn als »sehr verständnisvoll« (Tisch 3: 90) und »sehr tolerant« (Tisch 2: 193) ein. Eine der Ausführungen zu diesem Fall endet damit, dass die Fachkraft es 7 8

Für eine vertiefende Analyse von Machtverhältnissen und Widerständen in diesen Begleitungen s. Nestler in diesem Band. Die Namen der befragten Fachkräfte sind Pseudonyme.

163

164

Bettina Staudenmeyer

sich »nicht so richtig vorstellen [kann], dass er [der trans* Jugendliche; Anm. B. S.] da großartig diskriminiert wurde« (Tisch 2: 193). Vielleicht bringt diese Formulierung genau auf den Punkt, dass es für Cis-Menschen sehr schwierig sein kann, sich vorzustellen, wie es ist, als trans* Person durch die Welt zu gehen – mit fatalen Folgen, wenn dies nicht reflektiert wird. Auch in einer weiteren Fallgeschichte findet eine einseitige Bearbeitung durch die Fachkräfte statt. In dieser berichtet Herr Eilers davon, dass ein Schüler an seiner Schule wegen seines Schwulseins gemobbt wurde. Die Lehrerin der Klasse habe das zwar mitbekommen, da sie aber nicht gewusst habe, was sie tun solle, sei sie auf der Suche nach Unterstützung an ihr Team herangetreten. Herr Eilers führte daraufhin ein Gespräch mit dem gemobbten Schüler. Am Ende dieser Erzählung merkt eine andere Fachkraft im World Café kritisch an, dass es aus ihrer Sicht nötig gewesen wäre, auch ein Gespräch mit der Klasse zu führen, die das Mobbing ausgeübt hat: »Schon, aber mit der Klasse müsste man eigentlich sprechen dann (lacht).« (Tisch 3: 185) Damit weist diese Fachkraft auf eine einseitige Bearbeitung des Konflikts hin: Allein mit der betroffenen Person wurde gesprochen, während bei den für das Mobbing Verantwortlichen keine Bearbeitung stattgefunden zu haben scheint. In einer anderen Fallgeschichte geht es um das Bedürfnis eines jungen schwulen Mannes, ein offizielles Coming-out vor der Klasse zu haben – mit Unterstützung der Klassenlehrerin und einer Sozialpädagogin. Die Sozialpädagogin, Frau Denz, berichtet mit Unverständnis darüber: »Aber er hatte das Bedürfnis und ist auch zu der Klassenlehrerin und zu mir gekommen und hat gefragt, ob wir das in der Klasse mal thematisieren könnten, dass er schwul ist, und hat das auch wirklich einmal so richtig, also so richtig ganz laut rausgeschrien (lachend): ›Ich bin schwul!‹ Und dann ja, aber es war, wie gesagt, keine große Überraschung. Aber ihm war das wichtig, dass das ihm gewidmet wurde oder dass es einfach noch mal thematisiert wurde, und dann war das nie wieder Thema.« (Tisch 2: 15) Im Zitat wird deutlich, dass die Fachkraft dem formulierten Bedürfnis des Jugendlichen zwar nachgekommen ist und ihm das Coming-out vor der Klasse ermöglicht hat, sie dieses Bedürfnis aber nicht versteht und sogar darüber lacht. Die Klasse habe ohnehin gewusst, dass dieser Jugendliche schwul sei. An anderer Stelle spricht sie davon, dass der Jugendliche »einfach diese Aufmerksamkeit haben [wollte], das war ihm wichtig« (Tisch 2: 21). Überlegungen, was hinter dem vermeintlichen Aufmerksamkeitswunsch stehen könnte

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

– möglicherweise der Wunsch nach Sichtbarkeit und nach einem selbstbestimmten Coming-out –, stehen nicht im Fokus. Für das Gelingen einer Begleitung von LSBT-Jugendlichen scheint eine entdramatisierende Haltung von zentraler Bedeutung zu sein – gerade bei trans* Jugendlichen, die, wie bereits erörtert, oftmals in besonderem Maße exotisiert und problematisiert werden. In einer der Fallgeschichten kann eine solche Haltung identifiziert werden: Erzählt wird in ihr von einem trans* Jugendlichen, der sich der beratenden Fachkraft, der Bildungsbegleiterin Frau Cohn, gegenüber öffnen und outen kann, während er im Ausbildungsbetrieb aus Angst nie ein Coming-out hatte. Die Fachkraft berichtet, wie ihr Kontakt zu diesem Jugendlichen zustande kam: »Also der Kontakt wurde durch den Betrieb hergestellt, nicht durch den Auszubildenden und es war, weil es halt Probleme gab und der Betrieb nicht verstanden hat, was genau das Problem ist. Da ging es auch um Fehlzeiten und krankheitsbedingte Fehlzeiten und der Auszubildende hat sich dann auch bereit erklärt, mit mir ein Gespräch zu führen, und es kam dann eben raus, dass er ein Transjunge ist, was der Betrieb aber nicht wusste. Also er fand sich da in der Ausbildung direkt in der Geschlechtsumwandlung und der Betrieb hat von nichts gewusst. […] Und wir haben dann in der Beratung halt, oder im Gespräch, ganz oft das Thema natürlich gehabt, also die Geschlechtsumwandlung. […] Also es war erst mal eine Unterbrechung, um auch diese ganzen gesundheitlichen Dinge da irgendwie ein bisschen in den Griff zu bekommen. […] Und dann hat sich aber immer mehr abgezeichnet, dass seine Interessen schon eigentlich in eine andere Richtung gehen. […] Und da war es dann schon so, dass er gesagt hat, ja, er bricht das ab, und wir haben dann halt eine Alternative gesucht. Und die Alternative war dann die FOS, was er dann auch wollte und was sich auch als gut rausgestellt hat, weil ihm das natürlich noch mal auch beruflich mehr Möglichkeiten eröffnet.« (Tisch 2: 10) Die Fachkraft scheint sowohl berufliche als auch transitionsbezogene Themen gleichermaßen unaufgeregt und an den Bedürfnissen des Jugendlichen orientiert zu besprechen. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen für die aufgetretenen Probleme. Die Verwendung des Begriffs »Geschlechtsumwandlung« verweist auf Zuschreibungswissen. Der Fall macht deutlich, dass eine entdramatisierende Haltung und Reflexionskompetenz entscheidend sind für das Gelingen einer Begleitung, gleichzeitig jedoch heteronormative Zuschreibungen wirkmächtig bleiben können.

165

166

Bettina Staudenmeyer

In einigen wenigen Fällen berichten Fachkräfte außerdem, dass es ihnen gelungen sei, problembezogene Anlässe mit konkreten LSBT-Adressat*innen zeitnah aufzugreifen, um eine breite Auseinandersetzung mit Geschlecht und sexueller Orientierung im gesamten Team bzw. mit allen Adressat*innen zu führen. So wurde etwa in einer Einrichtung, in der unter Männern verstärkt dick pics versendet wurden, die wohl nicht zuletzt deshalb zu Konflikten führten, weil einige Teilnehmer*innen der Maßnahme unsicher waren, welche sexuelle Orientierung sie selbst haben, eine Themenwoche für die gesamte Einrichtung angeboten (vgl. Tisch 3: 205). Hier wurde erkannt, dass es bei jungen Menschen einen allgemeinen Bedarf gibt, sich mit ihrer sexuellen Identität auseinanderzusetzen. Der Anlass war also problembezogen, aber das professionelle Handeln ging über das Problem hinaus. In diesem Vorgehen scheint sich ein nachhaltiger, ganzheitlicher Umgang mit der Problemorientierung im Übergangssystem abzuzeichnen. In vielen Fällen berichten die Fachkräfte von LSBT-Jugendlichen in ihren Maßnahmen, ohne auf ihr eigenes fachliches Handeln einzugehen. Diese oftmals fehlende Thematisierung verweist möglicherweise darauf, dass tatsächlich wenig fachliches Handeln stattfindet, kann aber ebenfalls auf Unsicherheiten bezüglich des eigenen fachlichen Handelns hindeuten, die im Kontext des World Cafés nicht offengelegt werden. Teilweise werden statt des eigenen Handelns die Multiproblemlagen der LSBT-Jugendlichen in den Fokus gerückt (s. oben). Dies scheint dafür genutzt zu werden, um die Jugendlichen als grundsätzlich schwierig darzustellen und fehlende »Erfolge« mit den Jugendlichen zu legitimieren (s. Nestler in diesem Band). Insbesondere bei trans* Jugendlichen erinnert dies an pathologisierende und individualisierende Multidiagnostiken, die bei trans* Jugendlichen verbreitet waren/sind – Borderline als klassische Co-Diagnose. Gleichzeitig könnte auch das methodische Vorgehen bei der Erhebung ein Grund dafür sein, weshalb so wenig fachliches Handeln geschildert wird: So wurde in der eröffnenden Frage des Leitfadens danach gefragt, wo den Fachkräften LSBT-Themen im Berufsalltag »begegnen«, ihr konkretes fachliches Handeln wurde aber nicht explizit angesprochen – auch nicht in Form einer Nachfrage.

Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung als fachliches Thema im Übergangssystem Eine Bearbeitung von LSBT-Themen durch Fachkräfte, die unabhängig von konkreten Erfahrungen mit LSBT-Teilnehmer*innen stattfindet, gibt es in

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

den Institutionen der Befragten vereinzelt und scheint besonders stark vom Engagement einzelner Fachkräfte abzuhängen. Folgende Formate der Auseinandersetzung werden genannt: Projekttage mit ProFamilia, Diversity-Tage, Filmvorführungen, die Organisation von Workshops zu LSBT-Themen und die Nutzung von relativ frei gestaltbaren Einheiten der Maßnahmen (zum Beispiel zu »Geschlecht« oder »Partnerschaft«), um das Thema Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung anzusprechen. Unter den am World Café beteiligten Fachkräften ist dieses Engagement vor allem bei einer Person anzutreffen, die einen eigenen Bezug zu LSBT-Themen hat. Dies erinnert an Ergebnisse anderer Studien (Staudenmeyer et al. 2016), wonach Angebote zu LSBT-Themen in der Sozialen Arbeit vor allem von Fachkräften durchgeführt werden, die sich selbst als LSBT identifizieren. Unter anderem berichtet diese Fachkraft davon, dass sie wenige Stunden vor dem World Café Unterrichtszeit, die frei zur Verfügung stand, genutzt hat, um einen Spielfilm mit einem schwulen Protagonisten zu zeigen: »Was jetzt ganz aktuell vielleicht noch passt, was ich zum Schuljahresende oftmals mache. Wie z.B. heute, ich habe heute Noten gegeben […], ich habe einen Film mitgebracht, den suche ich aus, und dann suche ich ganz oft halt solche Themen aus und da habe ich heute z.B. einen Film dabei gehabt, der das Thema thematisiert, wo es drum ging, um einen jungen Schüler, der sich outet, Alter 17, 18, genau das Alter von meinen Schülern. Da denken die dann, oder sagen auch mal: ›Okay, war ein interessanter Film oder war doch eine tolle Sache.‹ Und dann hoffe ich immer so, denken sie vielleicht noch mal anders über das Thema nach, ohne dass ich groß was dazu beitragen muss.« (Tisch 2: 119) Während die Fachkraft Noten vergibt, eröffnet sie den Schüler*innen die Möglichkeit, in Auseinandersetzung mit dem Film über sexuelle Orientierung zu reflektieren, ohne dass sie diesen Prozess selbst aktiv begleitet. Das Beispiel zeigt, wie Nischen im oftmals eng getakteten Lehrplan für die Platzierung von LSBT-Themen genutzt werden können. Ebenso verdeutlicht das Beispiel, dass damit nicht notwendig ein dezidiert fachlicher Umgang mit LSBT-Themen einhergehen muss, denn der Film über gleichgeschlechtliche Orientierungen wird ohne Vor- und Nachbereitung gezeigt. Davon, dass Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung auf der Ebene der Institution oder innerhalb des Teams ohne konkrete LSBTJugendliche zum Thema wird, wird noch seltener berichtet. In den wenigen Fällen, in denen es doch dazu kommt, sind zum Beispiel homofeindliche

167

168

Bettina Staudenmeyer

Aussagen von Fachkräften, die in Teambesprechungen kritisch besprochen werden, oder politische Entscheidungen (zum Beispiel die »Ehe für alle«) oder unser Erhebungsworkshop Auslöser. Insgesamt scheinen LSBT-Jugendliche Irritationen im Übergangssystem auszulösen – sowohl gedanklich bei den beteiligten Fachkräften (Anerkennung spezifischer Bedürfnisse, Anrede mit dem »richtigen« Namen) als auch ganz konkret auf institutioneller Ebene, etwa wenn es um die Toilettennutzung oder das Nichtvorhandensein eines Beschwerdemanagements geht. Somit ist die teilweise fehlende Reflexionskompetenz der Fachkräfte im Umgang mit LSBT-Jugendlichen oft auch Ausdruck einer fehlenden institutionellen Auseinandersetzung mit struktureller Diskriminierung von LSBT-Personen. Es fehlt an Wissen über strukturelle Diskriminierungen und Heteronormativität, die sich in Organisationsabläufen, im Alltagswissen, im Sprachgebrauch und Ähnlichem zeigen kann. Dieses Wissen könnte eine Reflexion über eigenes diskriminierendes Verhalten »trotz« offener Haltung zu bestimmten Themen ermöglichen. Dass diese Mechanismen schwer zu erkennen sind, ist jedoch Teil ebendieser Struktur.

3.5

Bedarfe von Fachkräften

Die befragten Fachkräfte sehen bei sich selbst und bei ihren Kolleg*innen einen Bedarf nach einem Ausbau des für die Begleitung von LSBT-Jugendlichen notwendigen Wissens und suchen nach Ansatzpunkten, wie dieser Mangel an Wissen behoben werden kann. Die Bereiche, in denen die Fachkräfte Bedarfe hinsichtlich LSBT-Themen sehen – Ausbildung, Weiterbildung und weitere Formate wie kollegiale Beratung – decken eine große Bandbreite ab. Insbesondere mit Blick auf die Betriebe wird aufgrund des dort herrschenden Zeitund Ressourcenmangels jedoch bezweifelt, dass die Fachkräfte an Weiterbildungen teilnehmen würden (Tisch 1: 319) Bei den eigenen Institutionen sehen die Befragten diese Hürde offenbar nicht (so stark). Zur Überwindung dieser Hürde gibt es den Vorschlag, LSBT-Themen zum Beispiel bei Ausbildungsmessen zu platzieren (Tisch 1: 320), also an Orten, die die Fachkräfte des Übergangssystems ohnehin aufsuchen. LSBT-Themen sollten zudem in den Leitbildern und Qualitätsstandards der Institutionen des Übergangssystems verankert werden. Da unterschiedliche Fachkräfte mit unterschiedlichen Bildungswegen im Übergangssystem arbeiten, sollten die Themen in all diesen Ausbildungen, unter anderem im Lehramtsstudium, im Studium der Sozialen Arbeit, im Rahmen der Ausbildereignung, verankert werden.

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

Überdies wird von den Fachkräften ein Bedarf an Ressourcen erwähnt, die für die Entwicklung von Konzepten und die Umsetzung von Projekten zu LSBT-Themen nötig seien. So muss in den Maßnahmen (mehr) Zeit für Themen eingeplant werden, die nicht im engeren Sinn berufsbezogen sind, die Institutionen benötigen mehr Personal, um es zum Beispiel zu ermöglichen, dass zwei Fachkräfte pro Klasse/Gruppe eingesetzt werden können (›Doppelsteckung‹), und sie brauchen mehr finanzielle Ressourcen, um im Rahmen von Maßnahmen des Übergangssystems externe Projekte einladen zu können oder um Materialien zu LSBT-Themen zu beschaffen.

4

Fazit

Der Themenkomplex Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung scheint im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf nicht fest verankert zu sein. Vielmehr hängt es zum einen von einzelnen engagierten Fachkräften und zum anderen von der Sichtbarkeit bzw. Problematisierung von LSBT-Jugendlichen in den Maßnahmen ab, ob Geschlechtsidentität und/oder sexuelle Orientierung thematisiert werden. Die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen wird vor allem dann zum Thema, wenn es konkrete Jugendliche gibt, die sich als LSBT identifizieren. Diese Jugendlichen werden wiederum vor allem dann sichtbar, wenn Probleme auftauchen, entweder weil die Jugendlichen selbst ›Probleme machen‹ oder weil sie von Diskriminierungen betroffen sind. Trans* Jugendliche werden im Gegensatz zu LSB-Jugendlichen allein deshalb zum Thema, weil sie da sind und (wenn sie) sichtbar sind. Sie scheinen insbesondere exotisiert und problematisiert zu werden. Die Problemorientierung des Übergangssystems tritt hier deutlich zutage, wobei sie kritisch gewendet werden kann, wenn die Fachkräfte den Blick stärker auf die gesellschaftlichen Verhältnisse lenken, die die Probleme der Jugendlichen bedingen. Die wenigen Fälle, in denen die Befragten von nichtheterosexuellen oder nicht-cisgeschlechtlichen Maßnahmeteilnehmer*innen wissen, verweist auf eine große Unsichtbarkeit von LSBT-Jugendlichen. Wer kein explizites Coming-out hatte, wird als heterosexuell und cisgeschlechtlich wahrgenommen – eine Form von Heteronormativität. Möglicherweise bestätigt sich hier auch die Hypothese, wonach Jugendliche im Übergangssystem vor allem als bildungsbenachteiligt, lernbehindert oder migrantisch, also auf der Folie der Strukturkategorien Klasse, Behinderung oder race, betrachtet werden – nicht

169

170

Bettina Staudenmeyer

aber in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung. Auch für die Hypothese, dass queere Jugendliche im Übergangssystem landen könnten, weil sie queer sind, ergeben sich erste bestätigende Hinweise aus dem Material: Im Hinblick auf trans* Jugendliche schildern die Fachkräfte Konflikte am Ausbildungsplatz, die auf die queere Identität bzw. die Unmöglichkeit, diese offen preiszugeben, zurückzuführen sind. Hier zeigt sich, dass die Identifikation als LSBT innerhalb heteronormativer Verhältnisse zu Bildungsabbrüchen führen kann. Heteronormative Verhältnisse manifestieren sich explizit auch in den verschiedensten Formen von Diskriminierung gegenüber LSBT-Jugendlichen im Übergangssystem, von denen die Fachkräfte berichten. Implizit zum Vorschein kommen sie aber auch in der Sprache der Fachkräfte selbst, in den verwendeten Begriffen, den Annahmen, die sie über LSBT-Jugendliche haben, der nahezu ausschließlich negativen Bestimmung von Anerkennung oder dem teilweise fehlenden Verständnis für den Wunsch nach Sichtbarkeit. Über ihr eigenes fachliches Handeln bei der Begleitung von LSBTJugendlichen sprechen die befragten Fachkräfte wenig. Dies verweist möglicherweise auf eine große Unsicherheit, wie eine fachliche Begleitung aussehen könnte, oder darauf, dass die Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung bzw. Betroffenheit von Homo- und Trans*-Feindlichkeit als nicht relevant für eine fachliche Begleitung im Übergangssystem erachtet werden. Bei den Begleitungen von LSBT-Jugendlichen konnten vier unterschiedliche Umgangsweisen identifiziert werden: 1. Begleitungen mit entdramatisierender Haltung – je nach Bedürfnis des Jugendlichen können sowohl queere als auch berufsbezogene und weitere Themen besprochen werden; 2. konkrete Probleme zwischen (schwulen) Maßnahmeteilnehmern werden als Anlass für eine Beschäftigung mit Geschlecht und sexueller Orientierung für alle Teilnehmer*innen einer Maßnahme genutzt; 3. Begleitungen, die von Unverständnis und Abwertung der Bedürfnisse der queeren Adressat*innen geprägt sind bei gleichzeitig formaler Erfüllung der Bedürfnisse, und 4. Begleitungen, die mit einer Individualisierung der Probleme von LSBTJugendlichen und einer Pathologisierung der Jugendlichen einhergehen.

Die Rahmenbedingungen und Maßnahmelogiken spielen eine wichtige Rolle für die Frage nach der Verankerung von Themen rund um Geschlechtsidenti-

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

tät und sexuelle Orientierung: Die enge Ausrichtung des Übergangssystems am Kriterium der Arbeitsmarktintegration macht es insgesamt schwierig, in den Maßnahmen Raum für Entwicklungsthemen und sonstige nicht direkt berufsbezogenen Themen der Jugendlichen zu finden. Innerhalb der aktuellen Verhältnisse im Übergangssystem könnte der Themenkomplex Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung nichtsdestotrotz an folgende Konzepte anknüpfen: Erstens könnte eine queere Identität als ›Vermittlungshemmnis‹ verstanden werden, in dem Sinne, dass das gesellschaftliche Verhältnis der Heteronormativität queere Jugendliche davon abhalten kann, sich beruflichen Themen widmen zu können. Zweitens ließe sich eine queere Identität in heteronormativen Verhältnissen im Sinne der Logik des Übergangssystems als Destabilisierungsfaktor betrachten – wobei hier normativ an das Stabilitätsparadigma angeknüpft werden müsste, das aus queerer Perspektive kritisiert wird. Drittens könnte eine queere Biografie auch als Ressource für den beruflichen Werdegang gefasst werden, und zwar dahingehend, dass die Bewältigung von heteronormativen Anforderungen eine Person stärken kann. Diese Konzepte wären mögliche Ansatzpunkte für die Verankerung der Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung innerhalb der bestehenden Logiken der Maßnahmen des Übergangssystems. Die Fachkräfte kritisieren die Rahmenbedingungen des Übergangssystems und die Fokussierung auf die Arbeitsmarktintegration als zu eng. Es bräuchte mehr Zeit, mehr Ressourcen und einen lebensweltorientierten Ansatz, um den Erfahrungen der Adressat*innen gerecht zu werden und um den Jugendlichen letztlich auch eine nachhaltige und sie erfüllende Berufstätigkeit zu ermöglichen.

Literatur ADS – Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.) 2017: LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland. Diskriminierungserfahrungen und Umgang mit der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität im Schulalltag. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle .de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Umfragen/lsbtiq_lehrerkr aeftebefragung.html [Zugriff: 22.06.2022]. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020: Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Bielefeld: wbv. Online verfügbar

171

172

Bettina Staudenmeyer

unter: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bi ldungsbericht-2020 [Zugriff: 22.06.2022]. Bailey, C./Gilroy, R./Reynolds, J./Douglas, B./Webster Saare, C./Nicholls, M./ Warwick, L./Gollan, M. 2018: Ageing In Place: Creativity an Resilience in Neighbourhoods. In: Goulding, A./Davenport, B./Newman, A. (Hg.): Resilience and Ageing: Creativity, Culture and Community. Bristol: Policy Press, S. 157-180. Bittner, M. 2011: Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Eine gleichstellungsorientierte Analyse von Melanie Bittner im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung. Frankfurt a.M.: GEW. Online verfügbar unter: https://www.gew.de/ausschuesse-arbeitsgruppen/weitere-gruppen/ag-s chwule-lesben-trans-inter/ratgeber-praxishilfe-und-studie/gleichstellun gsorientierte-schulbuchanalyse [Zugriff: 22.06.2022]. Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./Nohl, A. 2013: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS. Bourdieu, P. 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R. (Hg.): Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt, Sonderheft 2). Göttingen: Schwartz, S. 183-198. Bourdieu, P. 1987: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brown, J./Isaacs, D./The World Café Community Foundation 2005: The World Café: Shaping Our Futures Through Conversations That Matter. San Francisco: Berrett-Koehler Publishers. Butler, J. 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Debus, K. 2021: Diskriminierungsreflektierte Sexualpädagogik. In: Sattler, E./Thuswald, M. (Hg.): Sexualität, Körperlichkeit und Intimität. Pädagogische Herausforderungen und professionelle Handlungsspielräume in der Schule. Bielefeld: transcript, S. 69-94. Online verfügbar unter: https://www.transcript-open.de/doi/10.14361/9783839458402-004# read-container [Zugriff: 22.06.2022]. Fouché, C./Light, G. 2011: An Invitation to Dialogue: ›The World Café‹ in Social Work Research. In: Qualitative Social Work, 10, 1, S. 28-48. Franzen, J./Sauer, A. 2010: Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben. Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidiskriminie

Von »Vermittlungshemmnis« bis »Ressource«

rungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/ex pertise_benachteiligung_von_trans_personen.html [Zugriff: 22.06.2022]. Fütty, T. J./Höhne, M./Llaveria Caselles, E. 2020: Geschlechterdiversität in Beschäftigung und Beruf. Bedarfe und Umsetzungsmöglichkeiten von Antidiskriminierung für Arbeitgeber_innen. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/forschun gsprojekte/DE/Studie_Geschlechterdiversitaet_in_Besch_u_Beruf.html;j sessionid=213FBF850B9919A4B08EAF81B6DA628F.intranet222?nn=30499 8 [Zugriff: 22.06.2022]. Gildemeister, R./Wetterer, A. 1993: Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: Knapp, G.-A./Wetterer, A. (Hg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg i.Br.: Kore Verlag, S. 201254. Honneth, A. 2018: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kleiner, B. 2015: subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher. Opladen: Barbara Budrich. Klocke, U. 2016: Homophobie und Transphobie in Schulen und Jugendeinrichtungen: Was können pädagogische Fachkräfte tun? Fachinformation. Düsseldorf: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. Online verfügbar unter: https://www.vielfalt-mediathek. de/material/homo-trans-und-interfeindlichkeit/homophobie-und-trans phobie-in-schulen-und-jugendeinrichtungen-was-koennen-paedagogisc he-fachkraefte-tun_ [Zugriff: 22.06.2022]. Koen, M. P./du Emmerentia, P./Koen, V. 2014: Data Analysis: The World Café. In: Chesnay, M. de (Hg.): Nursing Research Using Data Analysis: Qualitative Designs and Methods in Nursing. New York: Springer, S. 181-196. Krell, C. 2021: Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Online verfügbar unter: https://www.dji.de/veroeffe ntlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/30013-erfahrungen-vo n-lesbischen-schwulen-bisexuellen-trans-und-queeren-jugendlichen-inder-beruflichen-bildung.html [Zugriff: 22.06.2022]. Krell, C./Oldemeier, K. 2015: Coming-out – und dann …!? Ein DJIForschungsprojekt zur Situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans*-Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Unter Mitarbeit von

173

174

Bettina Staudenmeyer

S. Müller. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Online verfügbar unter: https://www.dji.de/coming_out [Zugriff: 22.06.2022]. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Coming-outVerläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich. Mayring, P. 2015: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Weinheim/Basel: Beltz. Meuser, M./Nagel, U. 2003: Experteninterview. In: Bohnsack, R./Marotzki, W./Meuser, M. (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich. S. 57-58. Müller, B./Morys, R./Dern, S./Holland-Cunz, M. 2018: Spannungsreiche Interaktionen an Schule. Empfehlungen für Schule und Schulsozialarbeit. Berlin/Toronto/Opladen: Barbara Budrich. Sadlon, W./Jewdokimow, M. 2021: Talking about Sexuality within Catholic Consecrated Communities in Poland. In: Fieldwork in Religion, 16, 1, S. 5572. Silva, A. de 2014: Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1990er Jahre. In: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.): Forschung im Queerformat. Bielefeld: transcript Verlag, S. 151-170. Staudenmeyer, B./Kaschuba, G./Barz, M./Bitzan, M. 2016: »Ein Glücksgefühl, so angesprochen zu werden, wie ich bin«. Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung in der Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Landesweite Studie zu den Angeboten für lesbische, schwule, bisexuelle, trans-gender, transsexuelle, intergeschlechtliche und queere Jugendlichen und Empfehlungen für die LSBTTIQ-Jugendarbeit. Eine Kooperation der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und des Tübinger Forschungsinstituts tifs e.V., Stuttgart: Ministerium für Soziales und Integration des Landes Baden-Württemberg. Online verfügbar unter: https://www.oja-wissen.info/dokumente/vielfalt-von-geschlecht-und -sexueller-orientierung-in-der-jugendarbeit-in-baden-wuerttemberg [Zugriff: 22.06.2022]. Thiersch, H. 2005: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. 6. Aufl. Weinheim, München: Juventa.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.« Queerness und Widerstand von Adressat*innen  in Erzählungen von Fachkräften Thomas Nestler

1.

Einleitung

Im Forschungsprojekt »(Un)angepasst – junge lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*-Menschen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf« wurden Fachkräfte1 danach gefragt, ob und wie geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Übergangssystem thematisiert wird und wie ihre Erfahrungen mit jungen queeren Menschen sind (s. dazu ausführlich Staudenmeyer in diesem Band). Die Fachkräfte konnten ihre Erfahrungen aus der Praxis in von den Forschenden inszenierten World Cafés2 teilen und dazu miteinander ins Gespräch kommen. Diese Gespräche wurden aufgezeichnet und transkribiert. In dem so gewonnenen Material fallen Passagen auf, in denen Fachkräfte über queere Adressat*innen und deren (un)angepasstes Verhalten sprechen. Unabhängig davon, ob in ihnen Anerkennung oder Ablehnung, Differenzierung

1

2

Bei den Fachkräften handelt es sich um Vertreter*innen verschiedener Professionen (Lehrer*innen, Ausbildungsbegleiter*innen, Sozialarbeiter*innen etc.). Vor diesem Hintergrund sind die Schlussfolgerungen in diesem Artikel sowohl für die Praxis Sozialer Arbeit als auch für die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Übergangssystem relevant. Zu Beginn der Erhebung nahmen die Fachkräfte an einem vorgeschalteten Workshop teil, in dem es unter anderem um Fachbegriffe im Feld geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ging. Es bleibt offen, ob dies Effekte beispielsweise in Bezug auf soziale Erwünschtheit und die Selbstreglementierung eigener Wortbeiträge hatte (s. Staudenmeyer in diesem Band).

176

Thomas Nestler

oder Homogenisierung zum Ausdruck kommt, lassen sich in diesen Aussagen immer wieder Spuren von Macht- und Widerstandsverhältnissen im Übergangssystem finden. Im vorliegenden Artikel soll solchen Spuren nachgegangen werden. Der Fokus liegt dabei zum einen auf der Rekonstruktion des gewaltvollen, verletzenden Potenzials, das in der Konstruktion der Adressat*innen durch die Fachkräfte liegt. Zum anderen soll der Widerstand der so konstruierten Subjekte sichtbarer werden. Dieser Zugang zum Material kann alternative Deutungen im Sinne eines queeren, widerstandsorientierten Gegen-den-Strich-Lesens anbieten. Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wie sprechen Fachkräfte des Übergangssystems über Adressat*innen? Welche Spuren queeren Widerstands und spezifischer Konfigurationen von Macht lassen sich rekonstruieren? Welche Rückschlüsse ergeben sich daraus für eine machtkritische, reflektierte Soziale Arbeit und für multiprofessionelle Kontexte der Zusammenarbeit? Um diesen Fragen nachzugehen, werden in einem ersten Schritt zwei zentrale theoretische Bezugspunkte diskutiert: erstens die Trias von Vulnerabilität, Macht und Widerstand und zweitens Adressierungsprozesse von Fachkräften. Anschließend stehen drei Fallbeispiele im Mittelpunkt, die mit Blick auf die dargestellten theoretischen Bezugspunkte aufgeschlüsselt werden. Der Beitrag wird mit einem Ausblick beendet. Im verwendeten Datenmaterial kommen dabei nicht junge queere Menschen selbst zu Wort, sondern es werden Perspektiven der Fachkräfte abgebildet. In ihrem Sprechen über queere Adressat*innen konstruieren die Fachkräfte Wirklichkeit, »[d]enn in einer poststrukturalistischen Auffassung sind Subjekte nicht einfach als einheitliche, autonome Individuen gegeben, sondern werden in komplexen und machtvollen historischen und sozialen Prozessen hervorgebracht und durch diskursive Praktiken reproduziert und transformiert […].« (Linnemann 2018: 235) Diese machtvollen sozialen Prozesse werden im vorliegenden Artikel aufgedeckt – auch indem indirekt, in den Äußerungen nach Spuren von Widerstand der jungen Adressat*innen gesucht wird. Es geht dabei nicht darum, individuelles Handeln und Sprechen der Fachkräfte zu diskreditieren, sondern darum, herauszuarbeiten, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse in Bezug auf Sexualität und Geschlecht auch im Sprechen und Handeln von Fachkräften wirksam werden. Dies geschieht, um das Handeln in der Praxis kritisch zu reflektieren und Fachkräfte in ihrer Eingebundenheit in machtvolle Systeme (s. Abschnitt 4) zu sehen. Die Analyse der Fallbeispiele arbeitet wiederkehrende Narrative heraus, die zurichtende und einengende Stereoty-

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

pe reproduzieren. Sie ermöglicht somit einen genaueren Blick auf das Verhältnis von professioneller Ansprache und Widerstand und leistet auf diese Weise einen Beitrag für eine kritischere, machtreflexivere Praxis.

2.

Die Trias von Vulnerabilität, Widerstand und Macht

Für die Auseinandersetzung mit Fragen von Macht und Widerstand in den Fallbeispielen bietet sich ein Zugang über die soziale Konstruktion von Verletzbarkeit an. Vulnerabilität (zur Kontextualisierung des Begriffs vgl. Burghardt et al. 2019) ist dabei keine Eigenschaft, die Menschen qua Geburt haben, sondern vielmehr Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse, die durch spezifische Diskurse maßgeblich beeinflusst werden. Durch diese Diskurse und Adressierungspraxen wird Subjekten eine bestimmte soziale Position zugewiesen, die jeweils mit einem Mehr oder Weniger an Anerkennung verknüpft ist (vgl. Dederich 2019: 221ff.). Adressierungen von Menschen beispielsweise als ›Schüler*innen‹, als ›weiblich‹, ›männlich‹ bzw. ›queer‹ oder als ›zugehörig‹ bzw. ›nicht zugehörig‹ sind also keineswegs neutrale oder gar objektive Prozesse, sondern Teil machtvoller Diskurse, denen das Potenzial innewohnt, Menschen zu verletzen und auszuschließen – oder aber ihnen Anerkennung zu gewähren. Grundsätzlich ist dies also ein exkludierendes System, das Heterosexualität, Cis-Geschlechtlichkeit, klare binäre Geschlechterrollen (identisch mit dem zugewiesenen Geburtsgeschlecht) und eindeutige binäre Körper als die Norm und als »wahr« (vgl. Pohlkamp 2011) begreift, während Abweichungen von dieser Norm als grundsätzlich ›anders‹, erklärungsbedürftig und weniger wertvoll hervorgehoben werden. Diese normierenden Diskurse positionieren queere Subjekte als vulnerabel und münden damit potenziell in Diskriminierungs- und Gewaltverhältnissen (vgl. LesMigras 2012). Aus einer kritischen Perspektive heraus ist es notwendig, Diskriminierungs- und Gewaltverhältnisse als solche zu markieren. Gleichzeitig besteht dabei immer auch die Gefahr, Betroffene dieser Verhältnisse auf ihren Opferstatus festzuschreiben, ihnen Handlungsfähigkeit abzusprechen und die Anerkennung als vollwertige Subjekte zu verweigern. Diese Ambivalenz ist konstitutiv für die Adressat*innenkonstruktionen Sozialer Arbeit (s. Bitzan/ Schirmer in diesem Band; vgl. Bitzan/Bolay 2017; explizit zur Konstruktion von LSBT*-Jugendlichen als vulnerabler Zielgruppe Sozialer Arbeit vgl. Schirmer 2017). Entsprechend gilt es aus einer machtkritischen Perspektive heraus, die Prozesse, die Vulnerabilität herstellen, sichtbar zu machen, zu analysie-

177

178

Thomas Nestler

ren sowie Instrumente zu entwickeln, die zu einer nicht verletzenden Praxis beitragen (vgl. Stehr 2016: 775ff.). Für die weiter unten erfolgende empirische Auswertung (s. Abschnitt 4) dient dieses Verständnis von Vulnerabilität als Analysefolie und ermöglicht es, auch der Frage nachzugehen, wie Adressat*innen diese Konstruktionsprozesse widerständig unterlaufen. Widerstand kann im Kontext des vorliegenden Beitrags als »Mobilisierung von Vulnerabilität« (Butler 2015: 152) verstanden werden, womit »Verletzbarkeit erst […] Handlungsbedarf ebenso wie -potential [schafft].« (Freudenschuß 2015: 56) Dieser Zusammenhang von Verletzlichkeit und Handlungsfähigkeit (hier: Widerstand) wird von Caroline Schmitt (2019) als ›Agency-Vulnerabilitäts-Nexus‹ aufgegriffen. Sie spricht sich dagegen aus, Subjekte einseitig entweder als vulnerabel oder als handlungsfähig zu betrachtet. Stattdessen versteht sie Vulnerabilität und Agency3 als »zwei Seiten derselben Medaille« (ebd.: 282), die sich dynamisch in sozialen Prozessen konstruieren und ständig verändern können. Eine solche Perspektive ermöglicht es, einseitige Adressierungen und Zuschreibungen von Subjekten zu vermeiden und dahinterstehende gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse in den Analysefokus zu rücken (ebd.: 285f.). Subjekte wenden sich also gegen festgelegte Positionierungen und bearbeiten aktiv und eigensinnig die Grenzen sozialer Anerkennung. Wenn wir Widerstand an dieser Stelle als eine mögliche Form von Agency begreifen, so wird die relationale Beziehung zu Vulnerabilität deutlich: Verletzbarkeit ist ein Ausgangspunkt von Widerstand und Subjekte verhalten sich widerständig, um machtvolle Diskurse und Praktiken, die zum Beispiel Zugehörigkeit verwehren, subversiv zu unterlaufen. Widerstand wird im Kontext dieses Artikels deshalb als Ausdruck der Unangepasstheit und des Nichteinverstandenseins mit als illegitim erlebten Macht- und Herrschaftssystemen gedacht. Er findet seinen Ausdruck in verschiedensten Praxen des Aufbegehrens, in Alltagssituationen, im öffentlichen Raum oder auch in Form von Selbstfürsorge (vgl. Ahmed 2014; James 2014). Es handelt sich dabei um keine statischen Abläufe, sondern um ein komplexes Netz von sich ständig verändernden Strategien, Prozessen, Reflexionen und Ausdifferenzierungen, die erst dadurch an transformierender Kraft gewinnen (können).

3

Nach Melber (2017: 128) bezeichnet Agency (in diesem Kontext bezogen auf potenzielle Adressat*innen Sozialer Arbeit) »die Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht von Einzelnen und Gruppen zur Durchsetzung ihrer Interessen, insbesondere dort, wo die Betroffenen in der Minderheit oder ohne Stimme sind.«

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

Diese Transformation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist Ziel widerständiger Praktiken. Macht kann dabei als ein komplexes relationales Gefüge von Kräfteverhältnissen zwischen Personen und Institutionen gefasst werden (vgl. Sarasin 2016: 156; Kraus/Krieger 2016: 10f.). Ein Außerhalb dieser Verhältnisse existiert nicht – jegliche soziale Interaktion ist von Macht geprägt. Macht ist allgegenwärtig und nicht an einem bestimmten Ort lokalisierbar, sondern durchdringt vielmehr alle Gesellschafts- und Lebensbereiche. Widerstand ist somit in gesellschaftliche Prozesse und reale Lebensverhältnisse eingebunden und kann letztendlich keine Überwindung, sondern ›nur‹ eine Transformation dieser Verhältnisse erreichen (vgl. Linnemann 2018: 236ff.; Groß 2008: 38ff.). Da Widerstand und Macht so eng miteinander verknüpft sind, verweisen sie auch aufeinander und ermöglichen eine wechselseitige Analyse. Das machtvolle Sprechen der Fachkräfte über Handlungsund Artikulationsweisen der Adressat*innen in den Fallbeispielen verweist somit auf die Machtbeziehungen und Herrschaftslogiken im Übergangssystem und ermöglicht alternative Lesarten dieser Handlungs- und Artikulationsweisen als potenziell widerständig.

3.

Adressierungsprozesse im Sprechen von Fachkräften

In der rekonstruktiven Sozialforschung geht es nicht darum, ›Wahrheiten‹ darzustellen, sondern Lesarten zur Verfügung zu stellen – es handelt sich also selbst um eine Konstruktionsleistung. Der forschungspraktische Blick im Kontext dieses Artikels ist dabei insofern ein besonderer, als zum einen das Sprechen und Handeln der Fachkräfte Gegenstand der Interpretation ist, zum anderen aber eben auch queere Jugendliche in ihrem (un)angepassten Verhalten im Fokus stehen. Allerdings werden sie nicht selbst befragt, sondern erst durch das subjektiv gefärbte Sprechen der Fachkräfte sichtbar. Diese Beobachtung dritten Grades verfolgt die Artikulationsweisen der Adressat*innen und bietet Lesarten im Modus des Widerstands an. Als Autor dieses Artikels bin ich spezifisch positioniert: etwa als Sozialarbeiter durch meine Tätigkeit in verschiedenen Bereichen Sozialer Arbeit, als promovierender Wissenschaftler im Wissenschaftsbetrieb und als nichtqueere Person in all diesen und privaten Kontexten. Mir sind die häufig herausfordernden und beengenden Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit vertraut, die immer wieder an den Lebensrealitäten von Adressat*innen vorbeigehen und eigenes Handeln stark vorstrukturieren können. Ebenso

179

180

Thomas Nestler

vertraut ist mir die damit einhergehende Frustration, wenn nicht die Möglichkeit besteht, so zu handeln, wie man eigentlich möchte, bzw. fachliche Zweifel bestehen und gleichzeitig Zeit und Raum für Reflexion, Austausch und Weiterbildung fehlt. Ich bin mir meiner Privilegien als weißer Wissenschaftler bewusst, dem Mittel zur Verfügung stehen, um zu forschen und zu publizieren – und damit potenziell auch gehört zu werden.

3.1

Der Rahmen des Sprechens

In den weiter unten aufgeführten Fallbeispielen sprechen Fachkräfte des Übergangssystems über ihre Wahrnehmung der Adressat*innen ihrer Arbeit. Sie tun dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Erhebung und sprechen dabei in erster Linie mit anderen Fachkräften – geleitet durch Fragen der Wissenschaftler*innen. Diese Fragen sowie der Rahmen des World Cafés strukturieren die Inhalte der Erzählungen vor. Diese Erzählungen der Fachkräfte geben Erfahrungswissen aus der Praxis wieder, wobei bestimmte Aspekte in den Vordergrund rücken, während andere ausgeblendet werden. Für die hier vorgenommene Analyse stellen sich also Fragen danach, was die Fachkräfte auf welche Weise mit ihrem Sprechen herstellen und wie sie Adressat*innenkonstruktionen vornehmen. Diese Adressat*innen werden auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt, mit spezifischen Bedürfnissen, positiven und kritischen Verhaltensweisen beschrieben und somit als sympathische, suchende, herausgeforderte oder auch herausfordernde Subjekte konstruiert. Eine selbstkritische Praxis und Wissenschaft fragt nun danach, wie über Adressat*innen gesprochen wird, welche machtvollen Diskurse dabei (re)produziert werden, wie dem vorgebeugt werden kann und wie Adressat*innen partizipativ in Angebote eingebunden werden können. Und im Kontext des Beitrags interessiert besonders, welche Konstruktionen von Subjekten durch spezifische Diskurse hervorgerufen werden und welche Rückschlüsse sich daraus für eine machtkritisch reflektierte Soziale Arbeit ziehen lassen.

3.2

Adressierung – Anerkennung – Ordnung

Die Subjektkonstituierung queerer Adressat*innen (s. ausführlicher zu Adressierungen Bitzan/Schirmer in diesem Band) ist nicht als ein einseitiger Prozess oder als ein singuläres Ereignis zu verstehen. Vielmehr entstehen komplexe Diskurse durch »ein interaktives Wechselspiel der gegenseitigen

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

Formung (Adressierung und Readressierung) – wenngleich unter unterschiedlichen Machtmöglichkeiten […].« (Bitzan/Bolay 2017: 37) Damit werden Ordnungen und Normierungen reproduziert oder auch unterlaufen. Wie in Abschnitt 2 herausgearbeitet, stellt sich die Frage danach, wie im Prozess der Adressierung queere Vulnerabilitäten wahrgenommen und anerkannt werden, welche machtvollen Diskurse über Queerness in Schule, Übergangssystem und Ausbildung manifest werden und welche Wege des widerständigen Unterlaufens dieser Ordnungen von den Adressat*innen wahrgenommen werden. Über Prozesse der Adressierung lassen sich also konkrete Auswirkungen auf die Anerkennung oder die Verwehrung von Anerkennung von Subjekten und auf deren Position im Hilfesystem (hilfebedürftig, Betroffenenstatus, eigensinnig, schwierig etc.) rekonstruieren und zugleich geben sie Aufschlüsse über die Etablierung bestimmter Ordnungen. Diese Ordnungen wiederum haben das Potenzial, Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen oder zu verwehren, gesellschaftliche Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse zu naturalisieren (vgl. ebd.: 34) und Vorurteile zu verhärten. Im Fokus der weiteren Ausführungen stehen konkrete Beispiele aus der oben angesprochenen Erhebung, die ein Licht darauf werfen, wie Fachkräfte über queere Adressat*innen sprechen und wie sie deren Widerstand wahrnehmen und für sich ausdeuten. Dies wiederum bietet die Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Ordnungsmacht im Übergangssystem sowie die Rolle der Fachkräfte darin zu ziehen.

4.

Ausgewählte Fallbeispiele

Der Fokus der ausgewählten Fallbeispiele liegt auf Passagen, in denen ein machtvolles und verletzendes Sprechen der Fachkräfte zutage tritt und sich damit verbundene Spuren des Widerstands finden lassen. Somit sind diese Passagen nicht repräsentativ für das gesamte Material, sondern bilden einen Ausschnitt ab. In diesen Ausschnitten geht es darum, das im Sprechen der Fachkräfte zum Vorschein kommende widerständige Handeln der Jugendlichen zu rekonstruieren und dies als eine alternative Lesart auszuloten. Obgleich dieser Zugang zum Material als produktive Chance und neue Lesart wahrgenommen werden kann, soll hier deutlich als Limitierung gekennzeichnet werden, dass diese Interpretationsangebote spekulativ sind.

181

182

Thomas Nestler

Zuvor müssen noch Kontextualisierungen vorgenommen werden: (1) in Bezug auf Problemmarkierungen durch die Fachkräfte, (2) hinsichtlich der Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie sich bewegen, und (3) mit Blick auf ihr Verhältnis zur Macht. (1) Die pädagogische Bearbeitung von Problemen wird erst dann möglich, wenn etwas als ein soziales Problem erkannt und als pädagogisch bearbeitbar markiert wird (vgl. Groenemeyer 2018). Eine gute professionelle Bearbeitung sozialer Probleme zeichnet sich dabei durch ein umfassendes Verständnis der Lebenssituation von Adressat*innen aus – etwa im Hinblick auf die Lebenswelt (vgl. Bitzan/Bolay 2017: 59f.). Das Verstehen und Einordnen (oder überhaupt die Wahrnehmung) der Probleme von Adressat*innen in ihrer Lebenswelt ist dabei kein objektiver Prozess, sondern ist immer wieder auch durch persönliche Erfahrungen und das Vorwissen der Fachkraft sowie durch gesellschaftliche Diskurse gefärbt. Damit macht es für die Problembearbeitung einen immensen Unterschied, ob Probleme beispielsweise als ›normale‹ Entwicklungsschritte des Jugendalters bzw. als regelhaft auftretende Herausforderungen im Übergangssystem verstanden werden (s. Brück/Brodersen/ Nestler in diesem Band) oder ob den Adressat*innen ›besondere‹ Probleme zugeschrieben werden, womit bestimmte Kategorisierungen als problembehaftet, weniger anerkennungswürdig, pathologisch einhergehen. Gerade in Bezug auf Queerness finden sich immer wieder Zuschreibungen von spezifischen Problemlagen. So ist etwa oft die Argumentation anzutreffen, dass eine Person wohnungslos, drogensüchtig, psychisch krank sei, weil sie queer ist (vgl. Herrn 2012; Stone 2006: 223). Dabei zeigen entsprechende Studien deutlich, dass die angesprochenen Problemlagen oft durch verwehrte Anerkennung, Exklusion sowie Gewalt- und Diskriminierungsverhältnisse entstehen und nicht aufgrund non-normativer sexueller und geschlechtlicher Selbstverortungen per se (vgl. etwa Focks 2014; LesMigraS 2012; Krell/Oldemeier 2015). Die Narrative, dass Transgeschlechtlichkeit mit psychischen Erkrankungen einhergehe (vgl. Sigusch 1994) oder Homosexualität mit sexueller Übergriffigkeit zusammenhänge, scheinen dabei leider nach wie vor vorhanden zu sein. (2) Spezifische Rahmenbedingungen, die das Übergangssystem, Schulen (bzw. allgemeiner: das Bildungssystem) und Ausbildungsbetriebe mit sich bringen, haben unmittelbare Auswirkungen auf die Handlungsoptionen der Fachkräfte (s. dazu ausführlicher Dern/Zöller/Bitzan sowie Staudenmeyer in diesem Band). Sie berichten davon, dass curriculare Vorgaben und vielschichtige Herausforderungen eine gezielte Platzierung bestimmter Themen oft

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

verhindern. Exemplarisch wird das in der folgenden Aussage einer Fachkraft deutlich: »Die Zeit ist knapp genug und wir haben genug Fässer, an denen wir arbeiten, und machen nicht noch ohne Not das nächste Fass auf.« (St: 96) Dabei zeigen sich auch die Belastungen, die das Übergangssystem aktuell für Fachkräfte im Bildungssystem mit sich bringen kann und die auch zu einem Gefühl der Überforderung führen können, wie es in der Bemerkung einer anderen Fachkraft deutlich wird: »Ich bin nicht so konzentriert heute, weil ich so einen langen Arbeitstag, so einen schnelllebigen Arbeitstag wieder, ich brauche etwas länger. Tut mir leid.« (St: 131) (3) Fachkräfte sind sich teilweise ihrer machtvollen Position als erwachsene Fachkräfte im Bildungssystem bewusst. Dies kann einer bestimmten Intention folgen, wie es ein Sozialpädagoge deutlich macht: »Bin ich tolerant, hat das einen gewissen Abfärb-Effekt.« (St: 104) Außerdem fügt er hinzu, dass »man […] ein bisschen ein Verhältnis zur Macht haben [muss]. Man muss sagen, es ist mein Raum, meine Regeln. Und die färben dann auch ab. Im Positiven wie im Negativen. Also man hat da schon auch eine hohe Verantwortung.« (St: 118) Hier werden die Verantwortung und die Vorbildfunktion, die mit der pädagogischen Rolle verbunden sind, deutlich. Gleichzeitig schützen gute Intentionen nicht vor kritisch einzuordnenden Machtdemonstrationen, etwa wenn der gleiche Sozialpädagoge als ›Methode zur Mobbingbearbeitung‹ Gespräche mit der Klasse ausgerechnet kurz vor dem Ende des Schultags beginnt und damit Zeitdruck bei den Schüler*innen aufbaut, während er betont, dass »Mobbing […] gar nicht geht […].« (St: 115) An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie Pädagog*innen zu gerechteren Verhältnissen beitragen und Diskriminierung und Mobbing bearbeiten können, ohne durch Zwang Macht auf Adressat*innen auszuüben und »[u]m Lebensentwürfe zu gestalten, die mit möglichst wenig Macht über andere Menschen […] umsetzbar sind.« (Tunç 2012: 8). Bei der Analyse der nun folgenden Beispiele spielt es also eine Rolle, wie Fachkräfte mit ihrer Verantwortung und Macht umgehen, in welchen Kontexten und unter welchen Rahmenbedingungen sie agieren und auf welche Art und Weise sie selbst Probleme (nicht) wahrnehmen, beschreiben und bearbeiten. Die Diskussion der ausgewählten Fallbeispiele ist zweigliedrig organisiert: In einem ersten Schritt wird der Fall deskriptiv dargestellt und es werden relevante Personen sowie Rahmungen skizziert. Im zweiten Schritt wird

183

184

Thomas Nestler

den Spuren des Widerstands und dem machtvollen Sprechen der Fachkräfte nachgegangen.

4.1

Fallbeispiel 1: »Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

Herr Baltes4 , eine Fachkraft, berichtet von zwei »Transjungs«5 (St6 : 31), die er in einer Bildungsmaßnahme begleitet hat. Extra für die Erhebung habe er die »komplette Dokumentation […] im System durchgelesen. Ich muss sagen, alle beide haben unsere Sozialpädagogin, aber auch mich, sehr stark beansprucht. Also wirklich von Anfang an viele Konflikte.« (St: 9) Und weiter: »Also wirklich tausend Einträge gefühlt, irgendwie wo die wieder einen Konflikt thematisiert hatten, wo wieder ein Gespräch notwendig war, wo wieder irgendjemand aufgesucht werden musste, sei es das Jugendamt oder sonst jemand.« (Br: 90) Im weiteren Verlauf schildert Herr Baltes verschiedene Problemlagen, die er damals bei den beiden Adressaten wahrgenommen hat: schwierige Familienkonstellationen und Trennung von Partner*innen, Suchtprobleme, drohende Wohnungslosigkeit, kein geradliniger Bildungsweg, Transition und psychische Probleme. Auch während der Maßnahme kam es zu Situationen, die Herr Baltes als problematisch beschreibt. So berichtet er davon, dass einer der beiden Transjungen in einem Betrieb ausgebildet wurde, zu dem Herr Baltes guten Kontakt hat. Der Geschäftsführer des Ausbildungsbetriebs habe, so Herr Baltes, ihm gegenüber Folgendes geäußert: »Also hör zu, das hatte jetzt die letzten Jahre nichts mit Streit zu tun, das war Krieg.« (St: 9) Deutlich wird in der weiteren Erzählung, dass damit das Verhalten des Transjungen gemeint ist, der sich gegen den gesamten Betrieb gestellt hätte. Ebenfalls als schwierig wird die damalige Dynamik in der Klasse beschrieben, die die beiden Transjungen besucht haben. So hätten sich die beiden zunächst sehr gut 4 5 6

Bei diesen und allen weiteren Namen handelt es sich um Pseudonyme. Da in den Fallbeispielen die Selbstbezeichnungen und Pronomina der Adressat*innen nicht deutlich werden, nutze ich die von den Fachkräften gewählten Bezeichnungen. Bei diesen und allen weiteren Kürzeln handelt es sich um Verweise auf die Transkripte verschiedener Gespräche im Rahmen des World Cafés. Da die Fachkräfte oft an verschiedenen Tischen von gleichen Adressat*innen gesprochen haben, können die Kürzel unterschiedlich sein, auch wenn der gleiche Fall thematisiert wird.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

miteinander verstanden, aber »später waren sie sich nachher spinnefeind« (St: 9) und haben die Klasse genutzt, um sich zu präsentieren und »Seilschaften« zu bilden. Herr Baltes stellt dabei die Frage in den Raum, »ob es auch ein bisschen um Geltungssucht ging« (St: 9). Weiter berichtet die Fachkraft von Gewalt und sexuellen Übergriffen, von der die beiden Transjungen erzählt hätten. So erlebte einer der beiden Gewalt im öffentlichen Raum »wirklich auch mit Verletzungen, Hämatomen usw., usf.« (Br: 99) Im Unterricht selbst waren die beiden bei einem Lehrer, der, so Herr Baltes, »sich wirklich für den Toppädagogen [hält]« (St: 31), und »er berührt dann auch usw.« (St: 31) Beide Situationen haben die Transjungen Herrn Baltes bzw. seiner Kollegin erzählt. In den Erzählungen von Herrn Baltes offenbart sich eine Selbstdarstellung als Fachkraft, die sich große Mühe im Umgang mit den beiden Adressaten gegeben hat. Gemeinsam mit seiner Kollegin hatte er einen erhöhten zeitlichen Aufwand, den sie auch entsprechend in umfangreichen Fallakten dokumentiert haben. Auf der interpretativen Ebene lassen sich in den Erzählungen insgesamt immer wieder Muster der Bagatellisierung und Nivellierung finden. Damit entsteht aber ein defizitäres Gesamtbild der Adressaten als psychisch kranken, unglaubwürdigen und sich antisozial verhaltenden Menschen, das immer wieder eng mit dem trans*-sein in Verbindung gebracht wird. Dabei macht es den Eindruck, dass verschiedene in den Lebenswelten der Transjungen und den Institutionen des Übergangssystems angelegte Probleme nicht als solche wahrgenommen, sondern als der Person inhärent zugeschrieben werden – eben »wirklich ganz schwierige Charaktere« (Br: 90). So meint Herr Baltes mit Blick auf die bereits erwähnte schwierige Situation während der Ausbildung des einen Jugendlichen: »Ich glaube, das war weniger wegen Diskriminierung oder so, dass er Probleme bekommen hat, das lag eher an seinen Problemen, die er gehabt hat […].« (St: 193) Diese Aussage, die sich an dieser Stelle nur auf einen der beiden Transjungen bezieht, spiegelt die Argumentation der Fachkraft in Bezug auf die Problemlagen wider. Sie trennt dabei die Probleme in der Lebenswelt vom trans*sein ab. Somit sieht sie nicht, wie sich diese Faktoren wechselseitig beeinflussen und damit auch Schwierigkeiten für die Transjungen entstehen. Herr Baltes hat einen guten Kontakt zum Geschäftsführer des Betriebes, in dem einer der Transjungen seine Ausbildung absolvierte. Er beschreibt ihn als »recht offen« (St: 9) und gibt dessen Erzählung wieder, in der von »Krieg« und »Terror« (St: 9) – ausgelöst durch den Transjungen – die Rede ist. Der Geschäftsführer äußerte laut Herr Baltes damals die Vermutung, dass dies »viel-

185

186

Thomas Nestler

leicht auch bedingt durch die Hormone usw.« (St: 9) sein könnte. Damit, so eine Deutung, wird eine gedankliche Nähe zwischen dem Probleme-Machen und dem trans*sein hergestellt, wobei diese Aussage durch das »usw.« in der Schwebe gehalten wird. Queerness wird gemäß dieser Lesart subtil mit antisozialem Verhalten in Verbindung gesetzt. Offen bleiben an dieser Stelle Fragen danach, wie das Klima im Ausbildungsbetrieb war, wie der Transjunge dort Anerkennung oder Ausschluss erfahren hat oder wie insgesamt mit Vielfalt umgegangen wurde. In seiner Erzählung spricht Herr Baltes von psychischen Problemen der beiden Adressaten: »auch Borderline, keine Ahnung, also so ganz genaue Diagnosen kriegen wir ja auch nicht, aber ich nehme es mal an.« (St: 9) Weiterhin vermutet er, dass die beiden eventuell geltungssüchtig seien. So hätten sie die Klasse »als Bühne genutzt und fast schon einen Wettstreit draus gemacht: Wer ist der Coolere? Wer ist der Abgefahrenste von uns beiden?« (We: 168) Durch die Beschreibung von Problemen im familialen Nahraum wegen Drogen, drohender Wohnungslosigkeit und Sorgerechtsstreitigkeiten, bei denen das Jugendamt involviert sei, wird den Jugendlichen subtil ihre Glaubwürdigkeit bezüglich ihrer Diskriminierungserfahrungen abgesprochen und Gewalterfahrungen werden bagatellisiert. So schildert Herr Baltes, wie sich die beiden von einem Lehrer belästigt gefühlt hätten: »Also er [der Lehrer; Anm. T. N.] berührt dann auch usw. Er meint das wahrscheinlich nicht so, aber sie waren jetzt auch wirklich die Einzigen, die sich da dran wirklich gestoßen hatten, die beiden.« (St: 31) Durch die Einschränkung, dass die beiden die Einzigen gewesen seien, die sich am Verhalten des Lehrers gestört hätten, findet eine Delegitimierung des Opferstatus (vgl. Stehr 2016: 769) statt und das übergriffige Verhalten als solches wird als unproblematisch dargestellt, da der Lehrer es ja nur gut meinen würde. Durch diese Erzählung erscheinen sie nicht schutzbedürftig, sondern werden als schwierige und zweifelhafte Charaktere gekennzeichnet. Zugespitzt findet sich diese Deutung, als es darum geht, dass einer der Transjungen außerhalb der Maßnahme Opfer körperlicher Gewalt wurde. Herr Baltes räumt zwar ein, dass man dies wohl nachprüfen könne, fügt aber an: »[I]ch glaube, [er] hat auch viel erzählt wenn der Tag lang war […].« (Br: 99) Gerahmt werden diese Erzählungen immer wieder mit Bemerkungen zu »Seilschaften« (Br: 99) und »Partnerschaften« (We: 168) der Adressat*innen beispielsweise mit Mitschüler*innen, die Herr Baltes als recht kurzlebig und damit subtil als moralisch verwerflich charakterisiert.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

So werden mit diesem Bündel an Problemlagen, die nicht zu einem heteronormativen Normallebenslauf passen, beide Transjungen als problematisch, krank, schwierig charakterisiert. Beide verschwimmen in den Erzählungen von Herrn Baltes zu einem homogenisierten Charaktertyp, der, so lässt sich das Narrativ zuspitzen, Rückschlüsse auf alle Transpersonen zuließe – so zugespitzt das Narrativ der Fachkraft. Die Erzählung von Herrn Baltes kann aber – und dies soll nun versucht werden – auch aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden, aus der Aspekte des Widerstands der Adressat*innen in den Fokus rücken. Dass die erlebten Übergriffe des besagten Lehrers von den beiden Jugendlichen thematisiert werden, lässt sich als ein mutiger Schritt deuten, um Sichtbarkeit herzustellen. Mutig ist dieser Schritt vor allem deshalb, weil Sichtbarkeit im Schulsystem hergestellt wird, in dem eine machtvolle Hierarchie im Lehrkräfte-Schüler*innen-Verhältnis besteht – zusätzlich auch im Verhältnis von erwachsener Cis-Person und heranwachsenden Transpersonen. In diesem Moment des Widerstands wenden sich beide gegen institutionalisierte Machtverhältnisse und stellen somit Sichtbarkeit für ein Thema her, welches oft verdeckt wird. Ebenfalls kann das, was von Herrn Baltes als Geltungssucht und Suche nach einer Bühne bezeichnet wird, als Herstellung von Sichtbarkeit und als bewussten Raumeinnahme gelesen werden. Damit unterlaufen die beiden Jugendlichen eigensinnig die Erwartung, still und angepasst zu sein und möglichst wenig Raum einzunehmen. Herr Baltes erzählt relativ wenig über die Dynamiken in der Klasse und die soziale Verortung der beiden Transjungen in dieser. Die Bildung von »Seilschaften« (We: 168), wie er es bezeichnet, kann aber entsprechend als Versuch der Gestaltung eines Unterstützungsnetzwerks gelesen werden, das einem die Möglichkeit gibt, sozialen Zusammenhalt und Anerkennung durch Freund*innen und Partner*innen zu erleben. Ein solches Unterstützungsnetzwerk erweist sich gerade in krisenhaften Lebenssituationen als wichtig (s. Brück/Brodersen/Nestler in diesem Band). Insgesamt erscheinen die beiden Adressaten in einer alternativen, widerständigen Lesart als zwei junge Menschen, die durchaus fähig sind, ihr Leben selbst zu gestalten, sich mit Herausforderungen im Lebenslauf, etwa in Bezug auf Familie oder Schule und Ausbildung, auseinanderzusetzen und entwicklungstypische Schritte im Jugendalter zu bewältigen – oder aber auch eigensinnig zu unterlaufen und für sich neue Ausdeutungen des eigenen Lebenswegs zu erschließen. Dabei lassen sie sich an vielen Stellen nicht in bestehende Normierungen pressen, sondern sind unangepasst, widerstän-

187

188

Thomas Nestler

dig und fallen damit auf. Diese Auffälligkeit und Nonkonformität wiederum macht verletzlich und bietet im machtvollen Diskurs Raum für Adressierungen als psychisch krank, gescheitert, promiskuitiv oder schwierig. Der widerständige Akt der Herstellung von Sichtbarkeit geht an dieser Stelle also mit einem erhöhten Grad an Vulnerabilität und verwehrter Anerkennung einher – bietet aber gleichzeitig die Möglichkeit, Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen öffentlich zu machen und queeres Leben im öffentlichen Raum zu platzieren.

4.2

Fallbeispiel 2: »Er hat die Toilettenregel gebrochen […].«

Frau Abels ist eine Bildungsbegleiterin auf Leitungsebene und koordiniert verschiedene Einrichtungen. In einer dieser Einrichtungen, einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung, absolvierte eint7 Trans*person nach der Schule hens Maßnahme und wurde dabei von Frau Abels begleitet. Sie berichtet von diesam Adressat*in: »Er hat gesagt, ich möchte eigentlich gern neutral sein. Ich weiß gar nicht, wo ich hinmöchte. Kam dann an manchen Tagen als Frau, an manchen Tagen als Mann.« (Br: 183) Die Auswirkungen dieses Auf-der-Suche-Seins, dieses – aus Sicht der anderen Adressat*innen und der Kolleg*innen in der Einrichtung – Wechselspiels zwischen den Polen der Binarität beschreibt Frau Abels als »konfliktbehaftet«, »weil es war was Neues gewesen.« (Br: 183) Die eher ländliche Verortung der Einrichtung führt sie als Argument ins Feld, um zu erklären, dass die Fachkräfte vor Ort noch nicht so viel Erfahrung mit diesem »Thema« (We: 120) hätten – und konturiert dies mit dem Beispiel einer deutschen Großstadt, in der es »jetzt kein so großes Thema [wäre], wenn zwei Männer zusammen Händchen haltend durch die Straße laufen.« (We: 120) Die Fachkraft berichtet außerdem davon, dass Adressat*innen der Einrichtung verunsichert gewesen seien, und begründet dies damit, dass diese »zum Beispiel psychische Erkrankungen oder Lernbehinderungen [hätten].« (We: 120) Als Herausforderung im Umgang mit den wechselnden Geschlechterrollen dais Adressat*in beschreibt Frau Abels weiterhin die Frage nach der Toilettennutzung: 7

Da von der Trans*person bekannt ist, neutral sein zu wollen, verwende ich in diesem Unterkapitel geschlechtsneutrale Pronomen nach dem NoNa-System (Geschlechtsneutrales Deutsch 2022) für dai Adressat*in.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

»zum Beispiel […] jetzt das Toilettenproblem sozusagen, auf welche Toilette geht die Person. Das sind einfach ganz praktische Sachen, die einfach geklärt werden mussten, erst mal. Auf die Männertoilette wollte die Person nicht gehen, auf die Frauen- können wir einfach aus Sicht der …. Das können wir nicht machen.« (We: 120) Als Lösung für diese Problematik wurde deshalb eine bestehende Einzeltoilette als spezielle Toilette für die Trans*person festgelegt. Ihre eigene Beziehung zu dam Adressat*in beschreibt Frau Abels als gut und berichtet davon, dass sie im Kontakt ihre Gesprächsoffenheit hem gegenüber geäußert und gesagt hätte: »Wenn du Fragen hast, dann besprechen wir die und es ist mir vollkommen egal, ob du morgens mit einem Rock ankommst und hohen Schuhen oder ob du halt eine Jeanshose anhast.« (Br: 183) Auf der interpretativen Ebene fällt auf, dass Frau Abels einen unterschiedlichen Erfahrungsschatz der Mitarbeitenden in Bezug auf Queerness konstatiert und die Gründe dafür in der Verortung der Einrichtung im ländlichen Raum sucht. Die Bearbeitung der daraus resultierenden Herausforderungen sieht sie in institutionell geschaffenen Strukturen: »Dafür haben wir aber auch Gremien geschaffen, über Teambesprechungen, über Arbeitskreise. Wenn halt Unsicherheiten bestehen, dass wir die einfach genau klären können, weil ich kann nicht erwarten, dass alle Mitarbeiter da den gleichen Erfahrungsschatz einfach auch haben.« (We: 120) Mit dieser Argumentation, so meine Interpretation, naturalisiert sie eine vermutlich tendenziell ausschließende Haltung der Mitarbeitenden gegenüber Queerness und bezieht dies auf die Verortung der Einrichtung. Eine akzeptierende oder abwehrende professionelle Haltung wäre laut Frau Abels somit an die ländliche oder städtische Herkunft gebunden. Gleichzeitig distanziert sie sich von den Mitarbeitenden, die ein Problem mit Queerness haben, und beschreibt sich selbst als aufgeschlossen. Dabei bleibt aber unklar, inwiefern sie tatsächlich selbst aktiv an der Problembearbeitung mitwirkt – oder dies Gremien, Teambesprechungen, Arbeitskreisen überlässt. Diese Argumente wirken, so der Eindruck, insgesamt distanzierend, womit sie sich selbst vorbeugend vor möglicher Kritik im Umgang mit Queerness schützt und die Probleme entweder bei den Fachkräften und deren Haltung oder bei den Adressat*innen der Einrichtung verortet.

189

190

Thomas Nestler

Anknüpfend an die Argumentation in Bezug auf Haltung und ländliche Herkunft findet sich, ähnlich wie im ersten Fallbeispiel, die Verknüpfung von trans* und psychischer Krankheit: »Die Transperson war selbst zum Teil auch unsicher und hat eine psychische Erkrankung dabei gehabt […].« (We: 120) Ergänzt wird dieses Narrativ noch um die Bezugnahme auf die Adressat*innen in der Einrichtung, die eine Behinderung und/oder psychische Erkrankung haben und auf die dai Trans*person verunsichernd gewirkt hätte. Psychische Krankheit wird an dieser Stelle von der Fachkraft als Faktor gewertet, der in Bezug auf Queerness eher für Verunsicherung und Ablehnung sorgen würde. Als markantes Narrativ, in dem sich das Spiel von Macht und Widerstand manifestiert, zeigt sich in diesem Fallbeispiel das Toilettenproblem. Im »Toilettenproblem« (vgl. Nestler 2018: 62f.) manifestiert sich die grundsätzliche Irritation von Cispersonen in Bezug auf Menschen, die entgegen der binären Lesart genderfluide oder vor/während/nach der Transition geschlechterbinäre Toiletten nutzen. Es bedarf als ›Toilettenproblem‹ keiner weiteren Erklärung; es ist allgemein verständlich, um was es geht. Die Toilette ist der privateste Rückzugsraum und Raum von Körperlichkeit und Intimität – mitten in der Öffentlichkeit. Mensch weiß, was dort getan wird, ohne dass darüber gesprochen wird. Gleichzeitig ist dies ein Raum klarer Binarität: männlich und weiblich oder präziser cis-männlich und cis-weiblich. Nicht-Cispersonen sind in diesem Kontext verdächtig und bedrohlich, schnell wird ihnen Übergriffigkeit vorgeworfen, ihnen wird kein Raum zugestanden. In diesem Zusammenhang manifestiert sich prototypisch die rigide gesellschaftliche Binarität, die im Fallbeispiel noch dazu verstärkt wird, indem nicht einfach von der Toilettennutzung, sondern von der »Toilettenregel« (Br: 183) gesprochen wird, die gebrochen wurde. So sagt Frau Abels, dass dai Trans*person »die Toilettenregel gebrochen [hat], (lachend) jetzt schon zweimal.« (Br: 183) Die Verbindung von Binarität in Geschlecht und Körperfunktion wird hier also in die Sphäre des Gesetzes gehoben und ihre Nichteinhaltung zumindest sprachlich negativ markiert und in der Praxis womöglich sanktioniert. In einer widerständigen Lesart könnte vermutet werden, dass dai Trans*person mit der Regel nicht einverstanden war und diese deshalb unterlaufen hat. Fraglich ist an dieser Stelle, wer diese Regel aufgestellt hat, ob sie gemeinsam erarbeitet wurde oder – so vermute ich – einseitig von der Leitung der Einrichtung veranlasst wurde. Außerdem stellt sich die Frage, ob die Toilettenregel durch Nutzung einer anderen Toilette ›gebrochen‹ wurde oder ob eine andere Form des Regelbruchs vorlag. Dai Adressat*in lässt sich in der Einrichtung damit nicht binär festschreiben, probiert verschiedene Geschlech-

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

terrollen aus und durchbricht ebenfalls die gesellschaftliche Konvention der geschlechterbinär getrennten Toilettennutzung. Die scheinbare Lösung einer vorhandenen Einzeltoilette als spezielle Toilette für dai Adressat*in wirkt – so meine Interpretation an dieser Stelle – verbesondernd und ausschließend. Statt sich dieser Regel unterzuordnen, bricht dai Trans*person aber damit und nutzt vermutlich die anderen Toiletten gleichermaßen. Damit lässt hen sich in seitem Trans*körperlichkeit nicht in einen Raum verbannen, der hen den Blicken und damit der Bewusstheit entzieht. Stattdessen werden die geschlechterbinär getrennten Toiletten genutzt und damit das ursächliche Problem – das ›Unwohlsein‹ cis-binärer Personen gegenüber den Uneindeutigkeiten dais Adressat*in – wieder an das Tageslicht geholt. Das Problem lässt sich damit nicht einfach ›unter den Teppich kehren‹ und ausblenden – sondern es wird Sichtbarkeit hergestellt. Damit sind die Mitarbeitenden bzw. Adressat*innen der Einrichtung gezwungen, sich mit dem Thema und mit ihren eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen. Dabei bleiben die Konsequenzen im vorliegenden Fallbeispiel relativ unklar – gleichwohl beschreibt die Fachkraft den Umgang ihrer Kolleg*innen mit dai Adressat*in zum Teil als zurückhaltend und Teile der Adressat*innen scheinen den Kontakt zu meiden. Eine entsprechende Intervention durch die Leitungsebene wird zumindest nicht erwähnt. Und mit ihrer scheinbaren Offenheit überträgt Frau Abels die Aufgabe der Thematisierung von Problemen, Diskriminierung und Ausschlussprozessen (in Umkehr des pädagogischen Auftrags und der professionellen Verantwortung) letztlich auf dai Adressat*in, dai sich melden soll, falls hen Fragen hat – so meine Interpretation an dieser Stelle. Diese Haltung der scheinbaren Offenheit, die aber eine Verantwortungsabwälzung auf Adressat*innen bzw. Betroffene bedeutet, kann ein Mittel sein, Macht zu nutzen, um nicht handeln zu müssen und sich nicht kritisch mit den Kolleg*innen (oder sich selbst) über die pädagogische Praxis auszutauschen. Nicht zu handeln kann also auch Machtausübung bedeuten. Nicht zu handeln kann ein Privileg sein.

4.3

Fallbeispiel 3: »Ich bin schwul!«

Die Fachkraft Frau Denz berichtet von einem schwulen Schüler, dem es ein Anliegen war, sein Schwulsein in der Klasse zu thematisieren. Sie meint dazu, »dass die Schüler, die jetzt schwul oder lesbisch sind, dass die ein viel größeres Bedürfnis danach haben, da drüber zu sprechen und das zu thematisieren als

191

192

Thomas Nestler

die anderen Schüler« (We: 169), und »dass da das immer so extrem [sei] […].« (We: 169) Dies scheint sie zu verwundern, da das sexuelle Begehren des betreffenden Schülers »aber wirklich kein Thema [war]. Aber er hatte das ganz große Bedürfnis, das in einem ganz gro- in einem Gespräch in der Klasse allen noch mal mitzuteilen, obwohl das jeder wusste, obwohl das alle akzeptiert haben. Ich habe das nie erlebt, dass es da irgendwie Diskriminierung gab.« (St: 15) Der Schüler bespricht sein Anliegen mit der Klassenlehrerin und der Fachkraft und vereinbart die Thematisierung. Frau Denz berichtet, dass er vor der Klasse dann »einmal so richtig, also so richtig ganz laut rausgeschrien [hat] (lachend): ›Ich bin schwul!‹« (St: 15) Die Reaktion der Mitschüler*innen beschreibt Frau Denz als unspektakulär, da die Mitteilung des Schülers keine Überraschung gewesen sei: »[J]eder wusste es irgendwie, weil das irgendwie sich auch schon rumgesprochen hatte […].« (We: 164) Sie betont jedoch, dass es dem Schüler »halt einfach um die Aufmerksamkeit g[ing]. Also er wollte einfach diese Aufmerksamkeit haben, das war ihm wichtig.« (St: 21) Relevant für die Interpretation ist an dieser Stelle die von der Fachkraft gezogene homogenisierende Unterscheidung zwischen homosexuellen und heterosexuellen Schüler*innen (in der Erzählung benennt Frau Denz letztere als »die anderen Schüler«, klammert damit den Begriff Heterosexualität aus, womit die zugrunde liegende Norm unbenannt und unreflektiert bleibt). Laut Frau Denz hätten lesbische und schwule Schüler*innen einen größeren Bedarf, über ihre Sexualität bzw. Geschlechtlichkeit zu sprechen, als heterosexuelle Schüler*innen und würden das vor allem tun, um persönliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Aus meiner Perspektive geht es hier vermutlich jedoch nicht um Geltungssucht (wie es etwa auch im ersten Fallbeispiel angedeutet wird), sondern in erster Linie darum, dass Heterosexualität als unmarkierte Norm tagtäglich die Interaktionen von Menschen strukturiert und andere Formen von Sexualität ausklammert, unsichtbar und stets erklärungsbedürftig macht. An dieser Stelle geht es also weniger um individuelle, sondern um im Individuellen sich niederschlagende gesellschaftliche Probleme. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage der Fachkraft zu sehen, dass sie in der Klasse niemals Diskriminierung erlebt hätte. Aufgrund dessen stellt sie infrage, dass das Thema Queerness bzw. der Schüler selbst Raum bräuchte – der Argumentation folgend, dass Abweichung nur dann thematisiert werden müsse, wenn es damit offensichtliche Probleme gebe. Doch auch wenn die Fachkraft selbst keine diskriminierende Situation miterlebt oder davon gehört hat, bedeutet dies nicht, dass es solche nicht gegeben hätte – und

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

gleichzeitig bedarf es keiner spezifischen Diskriminierung, um Queerness als Thema anzusprechen. In einer widerständigen Lesart könnte vermutet werden, dass der Schüler die De-Thematisierung und vordergründige Akzeptanz durch das Klassenumfeld unterlaufen wollte. Mit dem Beharren auf der Thematisierung seines sexuellen Begehrens widersetzt er sich und bildet einen Kontrapunkt im heteronormativen Alltag. Er durchkreuzt diesen und sorgt für queere Sichtbarkeit, indem er nicht in einer normalen Tonlage verharrt, sondern seine Stimme erhebt und schreit – damit also auch normative Anforderungen an Kommunikation unterläuft. Mit diesem Schreien wird er als queeres Subjekt sichtbar und damit auch potenziell verletzbar. Die damit einhergehenden Risiken können von Exklusion bis hin zu Gewalt(androhung) reichen und bergen immer auch die Gefahr, »der Lächerlichkeit preisgegeben« (Castro Varela 2004: 119) und somit nicht ernst genommen zu werden. Diese fehlende Anerkennung zeigt sich im Fallbeispiel sowohl konkret in dem Moment, in dem der Schüler um die Thematisierung in der Klasse bittet (und ihm dann von der Fachkraft ein erhöhter Aufmerksamkeitswunsch zugeschrieben wird), als auch subtil in der konkreten Situation. Denn auf sein Coming-out wird weder (offenkundig) ablehnend noch anerkennend reagiert. Mit seinem Schrei hat der Schüler queere Sichtbarkeit im heteronormativen Alltag hergestellt – die Konsequenzen bleiben allerdings unklar. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass sich der Schüler mit seinem Anliegen nicht hat abweisen lassen und stattdessen selbstbewusst seine Stimme erhoben hat – als Person für sich selbst und gleichzeitig auch für andere unsichtbare und zum Verstummen gebrachte queere Subjekte.

5.

Ausblick

In den drei Fallbeispielen wurden Momentaufnahmen im Verhältnis von Fachkräften und queeren Adressat*innen im Übergangssystem in Bezug auf Macht und Widerstand untersucht. Diese Fallbeispiele sind gezielt ausgewählt worden, um zum Teil subtile Prozesse im machtvollen Sprechen von Fachkräften und das damit verbundene verletzende Potenzial aufzuzeigen. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass die Erhebung immer wieder auch Beispiele eines positiven Umgangs mit queeren Themen durch Fachkräfte zutage gebracht hat. Dies wird vor allem da deutlich, wo Fachkräfte offen über eigene Verunsicherungen sprechen und sich auch eingestehen,

193

194

Thomas Nestler

dass ihnen bestimmte Kompetenzen (noch) fehlen und sie damit auch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kommen. Aus den Erzählungen der Fachkräfte wurden zudem auch Momente des empathischen Perspektivwechsels und des Zuhörens ersichtlich, und es wurde sich vorgenommen, queere Themen bewusster zu platzieren. In den Fallbeispielen selbst lassen sich die Charakterisierung von Adressat*innen als problematische, defizitäre Personen, das Nichthandeln und damit auch Verwehren von Unterstützung sowie die De-Thematisierung und die damit einhergehende fehlende Sichtbarkeit als machtvolle Prozesse rekonstruieren. An vielen Stellen sind diese Prozesse verdeckt und kommen im Sprechen der Fachkräfte nur sehr subtil zum Vorschein. Die dazu im Verhältnis stehenden Momente des Widerstands sind ebenso verdeckt und lassen sich nur als eine mögliche Lesart – neben anderen – rekonstruieren. Gleichwohl erscheint mir das Einüben dieser Lesart als produktiv für die Praxis und Theorie Sozialer Arbeit, da eine solche Perspektive die Handlungsmächtigkeit von Adressat*innen in den Fokus rückt und es ermöglicht, das eigene Handeln machtkritisch und selbstreflexiv zu hinterfragen. Denn grundsätzlich lässt sich festhalten, dass machtvolle Praxen der Adressierung und Kategorisierung der Sozialen Arbeit immanent sind. Die vorausgegangenen Analysen und theoretischen Bezüge weisen darauf hin, wie problematisch diese Praxen sein können, wie sie Wirklichkeit konstruieren und reale Auswirkungen auf reale Menschen haben. Deshalb »muss Soziale Arbeit damit sehr bewusst umgehen. Forschung in diesem Zusammenhang hat damit eine aufklärerische Funktion, leistet Kritik an der unhinterfragten selbstverständlichen Normalisierungsarbeit in der Alltagspraxis. Sie zielt damit jedoch keineswegs darauf, Soziale Arbeit generell in Frage zu stellen, sondern will das Bewusstsein für mächtige Definitionsprozesse schärfen und auf Spielräume und Veränderungsnotwendigkeiten hinweisen.« (Bitzan/Bolay 2017: 41) Die analysierten Fallbeispiele verweisen zum einen auf Machtkonstellationen in der Praxis Sozialer Arbeit, machen aber andererseits auch deutlich, dass es in Forschung und Theorie noch Leerstellen in Bezug auf widerständige Praxen von Adressat*innen Sozialer Arbeit gibt. Eine solche widerstandsorientierte Perspektive bedarf weiterer theoretischer Auseinandersetzung und empirischer Absicherung. In diesem Sinne versteht sich die vorgestellte Herangehensweise als Diskussionsangebot.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

Literatur Ahmed, S. 2014: Selfcare as Warfare. https://feministkilljoys.com/2014/08/25/ selfcare-as-warfare/[Zugriff: 31.03.2022]. Bitzan, M./Bolay, E. 2017: Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Opladen/Toronto: Barbara Budrich. Burghardt, D./Dederich, M./Dziabel, N./Krebs, M./Lohwasser, D./Napoles, J. N./Stöhr, R./Zirfas, J. 2019: Die Frage der Vulnerabilität. Eine Einleitung. In: Stöhr, R./Lohwasser, D./Napoles, J. N./Burghardt, D./Dederich, M./Dziabel, N./Krebs, M./Zirfas, J. (Hg.): Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-14. Butler, J. 2015: Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge, MA/London: Harvard University Press. Castro Varela, M. d. M. 2004: Utopien. Kitsch, Widerstand und politische Praxis. In: Kollman, S./Schnödel, K. (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche. Münster/Hamburg/ London: LIT Verlag, S. 111-122. Dederich, M. 2019: Körper, Subjektivierung und Verletzbarkeit. Judith Butlers fragiles Subjekt. In: Stöhr, R./Lohwasser, D./Napoles, J. N./Burghardt, D./ Dederich, M./Dziabel, N./Krebs, M./Zirfas, J. (Hg.): Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 221-237. Engel, A./Schulz, N./Wedl, J. 2005: Kreuzweise queer: Eine Einleitung. In: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 14, 1, S. 9-22. Focks, P. 2014: Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews. Berlin: Katholische Hochschule für Sozialwesen. Freudenschuß, M. 2015: Paradoxe Dynamik. Aktivismus zwischen Anonymität und Sichtbarkeit. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28, 3, S. 55-62. Geschlechtsneutrales Deutsch 2022: https://geschlechtsneutralesdeutsch.co m/das-nona-system/#pronomen [Zugriff: 30.05.2022]. Groenemeyer, A. 2018: Soziale Probleme. In: Otto, H.-U./Thiersch, H./ Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt, S. 1492-1507. Groß, M. 2008: Geschlecht und Widerstand. Post.| queer.| linksradikal. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer.

195

196

Thomas Nestler

Hagemann-White, C. 2019: Opfer – Täter: zur Entwicklung der feministischen Gewaltdiskussion. In: Kortendiek, B./Riegraf, B./Sabisch, K. (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 145-153. Herrn, R. 2012: Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 62, 20+21, S. 41-48. Jagusch, B./Chehata, Y. 2020: Vortext: »Wenn Wissen und Diskurs persönlich wird« und werden sollte. In: Jagusch, B./Chehata, Y. (Hg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 9-17. James, R. 2014: On Resilience & ›Self-Care As Warfare‹. https://www.its -her-factory.com/2014/09/on-resilience-self-care-as-warfare/[Zugriff: 04.04.2022]. Kraus, B./Krieger, W. 2016: Zur Einführung. Die Reflexion Sozialer Arbeit im Lichte von Theorien zur Macht. In: Kraus, B./Krieger, W. (Hg.): Macht in der Sozialen Arbeit: Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 4. Auflage. Lage: Jacobs, S. 9-29. Krell, C./Oldemeier, K. 2015: Coming-out – und dann …?! Ein DJIForschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: Deutsche Jugendinstitut e. V. Kühn, M. 2017: Trauma, Resilienz und Widerstand. ›Traumatisiert‹ oder ›resilient‹: die Gefahr des Schubladen-Denkens. In: Jäckle, M./Wuttig, B./ Fuchs, C. (Hg.): Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule. Bielefeld: transcript, S. 596-610. LesMigraS 2012: »… Nicht so greifbar und doch real …« Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin. Linnemann, K. 2018: Die Gouvernementalität widerständiger Alltagspraktiken: eine konzeptionelle Annäherung an Postwachstum, Subjektivierung und alltägliches Gegen-Führen. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 62, 3+4, S. 233-245. Melber, H. 2017: Agency. In: Göttsche, D./Dunker, A./Dürbeck, G. (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 128-130. Nestler, T. 2018: Wider der Anpassung – Queere Perspektiven auf Widerstand. »This is what trans looks like!« – Eine qualitative Forschung zu Trans*personen in Deutschland. Unveröffentlichte Masterarbeit. Esslingen.

»Also wirklich ganz schwierige Charaktere von vornherein.«

O’Loughlin, A. K. 2019: Gender-as-Lived: The Coloniality of Gender in Schools as a Queer Teacher Listens in to Complicated Moments of Resistance. In: Indo-Pacific Journal of Phenomenology, 19, 1, S. 43-51. Pohlkamp, I. 2014: Genderbashing. Diskriminierung und Gewalt an den Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit. Münster: Unrast. Pohlkamp, I. 2011: Transphobe Gewalt und die Bedeutung eines »wahren Geschlechts«. In: Kriminologisches Journal, 43, 1, S. 57-70. Sagebiel, J./Pankofer, S. 2015: Soziale Arbeit und Machttheorien: Reflexionen und Handlungsansätze. Freiburg i.Br.: Lambertus. Sarasin, P. 2016: Michel Foucault zur Einführung. 6. Auflage. Hamburg: Junius. Schirmer, U. 2017: Zwischen Ausblendung und Sozialpädagogisierung? Dilemmata bei der Konstruktion von LSBT*-Jugendlichen als Zielgruppe Sozialer Arbeit. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung/Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 2, S. 177-189. Schmitt, C. 2019: Agency und Vulnerabilität. Ein relationaler Zugang zu Lebenswelten geflüchteter Menschen. In: Soziale Arbeit. Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete, 68, 8, S. 282-288. Sigusch, V. 1994: Leitsymptome transsexueller Entwicklungen. Wandel und Revision. In: Deutsches Ärzteblatt, 91, 20, S. 1455-1458. Stehr, J. 2016: Opferdiskurse und Viktimismus in der Sozialen Arbeit. In: Anhorn, R./Balzereit, M. (Hg.): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 767-779. Stone, S. 2006: The Empire Strikes Back: A Posttranssexual Manifesto. In: Stryker, S./Whittle, S. (Hg.): The Transgender Studies Reader. New York: Routledge, S. 221-235. Tunç, M. 2012: Männlichkeitsforschung und Intersektionalität. http://portalintersektionalitaet.de/uploads/media/Tunc.pdf [Zugriff: 04.04.2022]. Tyburczy, J. 2017: Queer Resistance. In: QED: A Journal in GLBTQ Worldmaking, 4, 2, S. 51-55.

197

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche – ethnografische Eindrücke bei einem Träger des Übergangssystems Ulrike Zöller/Tabea Hust

Einleitung Laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte ist der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt ein zentrales Anliegen der Menschenrechte (s. Spangenberg in diesem Band). Das Institut weist darauf hin, dass trotz »großer Schritte zu einer rechtlichen Gleichstellung« LSBT*-Personen auch in Deutschland nach wie vor Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität erleben oder gar Übergriffen ausgesetzt sind (Deutsches Institut für Menschenrechte 2021). Ebenso betont die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Gefahr von Diskriminierungen gegenüber Menschen, die sich im LSBT*-Spektrum verorten (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020a).1 LSBT*-Jugendliche im Übergangssystem können also zusätzlich zur sozialen Benachteiligung weitere Benachteiligungen erfahren, die sich als weitere Problemlage auf den Übergang in die Erwerbsarbeit auswirken. Der Diskriminierungsschutz für LSBT*-Personen muss daher auch im Übergangssystem in den Blick genommen werden. Im Besonderen ist dieser Aspekt – neben dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und den spezifischen Diskriminierungsverboten, die sich 1

Das Akronym LSBT* steht für ›lesbisch, schwul, bisexuell, trans*‹, teils wird es auch erweitert auf LSBTTIQ, wobei I für inter*, das zweite T für ›transsexuell‹ und das Q für ›queer‹ steht (s. Bitzan/Schirmer in diesem Band). Im Rahmen unserer Untersuchung waren wir nicht in der Lage Inter* Personen im Rahmen der Erhebung zu integrieren. Daher nutzen wir das Akronym LSBTI* nur dann, wenn beispielsweise über angeführte Studien ausdrücklich Inter*-Personen gemeint sind.

200

Ulrike Zöller/Tabea Hust

im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) der Bundesregierung (vgl. Antidiskriminierungsstelle 2020b) finden – bei Maßnahmen zu berücksichtigen, die Zuwendungen im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) erhalten, denn der ESF unterstützt nicht nur eine bessere (Aus-)Bildung und Qualifizierung, sondern soll gleichfalls zum Abbau von Benachteiligungen am Arbeitsmarkt beitragen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2022). Die bisherigen Forschungsergebnisse zu Formen der Auseinandersetzung von jungen LSBT*-Personen mit heteronormativen Anforderungen sowie zu Diskriminierungserfahrungen auch in schulischen und Erwerbsarbeitskontexten nahmen jedoch bisher eher Bedarfe junger Menschen aus den Milieus der Mittel- und Oberschicht in den Blick. Zur Situation von LSBT*-Jugendlichen im Übergangssystem sowie in Ausbildungskontexten liegen für Deutschland bislang noch keine Untersuchungen vor, auch die 18. Shell Jugendstudie (vgl. Albert et al. 2019) blendet das Thema aus. In den letzten Jahren wurden jedoch einige Studien veröffentlicht, die die spezifische Situation von LSBT*-Jugendlichen in Deutschland untersuchen. Übereinstimmend zeigen sie, dass LSBT*-Jugendliche in allen Bereichen ihres Lebens regelmäßig diskriminierende Erfahrungen machen, die von Missachtung, verletzenden Bemerkungen, Beschimpfungen und Ausgrenzung über Drohungen und verbale Übergriffe bis hin zu physischer Gewalt reichen (vgl. Sielert/Timmermanns 2011; LesMigraS 2012; Kleiner 2015; Kugler/Nordt 2015; Krell/Oldemeier 2017; Staudenmeyer et al. 2016). So konnten zwei DJI-Studien unter der Leitung von Claudia Krell (2017, 2018) eindrücklich herausarbeiten, dass LSBT*-Jugendliche häufig Diskriminierungen – teilweise auch im Bereich von Schule, Ausbildung und Beruf – erleben. Ebenso gibt es inzwischen für den allgemeinbildenden Schulbereich Studien, etwa die von Ulrich Klocke (2016), die über Homo- und Transfeindlichkeit in Schulen und Jugendeinrichtungen berichten. Erfahrungen von LSBT*Jugendlichen in prekären Verhältnissen, wie im Kontext von Ausbildungsund Beschäftigungsmaßnahmen des sogenannten Übergangssystems zwischen Schule und Beruf, liegen bislang noch nicht vor (s. Bitzan/Schirmer in diesem Band). Zum Übergangssystem gehören Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen, die jungen Menschen ohne oder mit niedrigem Schulabschluss eine Übergangsmöglichkeit zwischen dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule und der Aufnahme einer Berufsausbildung bieten. Hier sind überproportional viele junge Menschen – je nach Förderungsart bis zum 25. bzw.

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

27. Lebensjahr – vertreten, die wegen eines weniger privilegierten Herkunftsmilieus und/oder wegen Migrationserfahrungen häufig Benachteiligungen im Bildungssystem erfahren haben. Sie sind daher auf sozialpädagogische Unterstützung angewiesen, um den Übergang von der Schule in den Beruf erfolgreich bewältigen zu können (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 2f.). Im Übergangssystem befinden sich junge Menschen, die nach § 13 SGB VIII zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind. Ihnen sollen daher im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, ihre Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Das Hauptziel der Maßnahmen ist demnach, junge Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren – primär durch Vermittlung eines geeigneten Ausbildungsplatzes oder gegebenenfalls durch Vermittlung in ein Berufsfeld, in dem keine abgeschlossene Berufsausbildung erwartet wird. Angesichts der immer noch hohen Jugenderwerbslosigkeit in der Bundesrepublik – obgleich diese etwa im südeuropäischen Raum ungleich höher liegt – erweist sich das Übergangssystem nach wie vor als unabdinglich. Laut aktuellen Zahlen waren im Februar 2022 in Deutschland 5,7 Prozent der 15bis unter 25-Jährigen arbeitslos (vgl. Statista 2022). Wir gehen davon aus, dass das Übergangssystem die Teilnehmer*innen zwar formal gesehen vor der Erwerbslosigkeit bewahren soll und ihnen durch § 13 SGB VIII ausdrücklich sozialpädagogische Hilfen zur Unterstützung zusichert, es jedoch dazu beitragen kann, dass hinsichtlich der Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt benachteiligte Lebenslagen verfestigt werden können, da den Teilnehmer*innen der Übertritt vom Übergangssystem in den ersten Arbeitsmarkt häufig nicht gelingt (vgl. Fuchs/ Gellermann 2021; Ehlert et al. 2018; s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Das Übergangssystem ist also genuin mit Formen struktureller Diskriminierung assoziiert. Unsere Hypothese lautet daher, dass junge Menschen, die sich im LSBT*-Spektrum verorten, im Übergangssystem in besonders hohem Maße gefährdet sind, weitere Formen von Benachteiligungen und damit einhergehend Diskriminierung zu erfahren. Ziel des einjährigen Forschungsprojekts war es daher, im Kontext eines Trägers der Jugendberufshilfe des Übergangssystems die Situation von LSBT*-Jugendlichen hinsichtlich diskriminierender Erfahrungen und

201

202

Ulrike Zöller/Tabea Hust

Bildungsbenachteiligung zu untersuchen. Dies erfolgte im Rahmen einer qualitativen ethnografischen Erhebung, um gezielt besondere Bedarfe von jungen LSBT* im Übergangssystem herauszuarbeiten. Folgende Fragen standen beim Forschungsprojekt im Vordergrund: Gibt es Bedarfe von LSBT*-Jugendlichen und wenn ja, welche sind das? Wie wird diesen Bedarfen in den Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen eines Trägers des Übergangssystems im Saarland Rechnung getragen? Welche (unterstützenden und/oder hinderlichen) Erfahrungen machen LSBT*-Jugendliche in diesem Kontext? Welche Herausforderungen werden von den Jugendlichen und den Fachkräften beschrieben? Auf der Basis von teilnehmenden Beobachtungen sowie von Interviews, die von der Expertise der Fachkräfte und der betreffenden Jugendlichen selbst ausgehen, sollten diese Fragen explorativ erforscht und damit Ansatzpunkte für eine unterstützende sozialpädagogische Praxis entwickelt werden. Im Laufe der Erhebung stellte sich heraus, dass es nicht möglich war, LSBT*-Jugendliche am Forschungsprozess partizipieren zu lassen, da sich zu diesem Zeitpunkt keine zu erkennen gegeben haben. Bedarfe aus der Perspektive von LSBT*-Jugendlichen im Kontext von Übergangsmaßnahmen konnten aus den Forschungsergebnissen mithin nicht abgeleitet werden. Allerdings zeigte sich durch die teilnehmenden Beobachtungen und die ersten Interviews, dass es sinnvoll ist, die Forschungsfragen um die Fragen zu ergänzen, ob LSBT*-Jugendliche in Übergangsmaßnahmen Diskriminierung erfahren und wie diese Diskriminierung stattfindet. Unser Forschungsprojekt war Teil eines Verbundprojekts mit Wissenschaftler*innen der Hochschule Fulda und der Hochschule Esslingen, dessen Ergebnisse im vorliegenden Band vorgestellt werden.

Methodologische Überlegungen Ethnografisches Forschen beruht auf der Idee des Entdeckens als zentralem Erkenntnisstil. Die eingeschränkte Methodisierbarkeit und die sich daraus ergebende geringe Vorstrukturierung ethnografischen Forschens ermöglichen einen besonders lebensnahen Zugang zu den Eigenheiten des untersuchten Feldes. Zudem erlaubt es die Offenheit des Vorgehens, die Forschungsfrage angesichts unerwarteter Entdeckungen und Erkenntnisse – die häufig bei wenig vorstrukturierten Forschungsvorhaben auftreten – auch im laufenden Forschungsprozess wiederholt zu überarbeiten und

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

entsprechend den vorgefundenen Rahmenbedingungen neu auszurichten. Erkenntnisse werden hier also in einem wechselseitigen Verständigungsprozess gewonnen, wieder verworfen und neu ausgehandelt. Ergänzt wird die ethnografische Erkenntnisstrategie der Binnenperspektive um die Strategie der Befremdung (vgl. Amann/Hirschauer 1997). Dieses Verständnis voraussetzend, wurden teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, um die Praxis vor Ort aus einer Art Innenperspektive zu erschließen, bevor dann im nächsten Schritt eine bewusst hergestellte Distanz zum Geschehen eingenommen wurde. Im Rahmen der Teilnahme am Alltag der Praxisorganisation wurden dabei soziale Praktiken fokussiert, Dokumente gesammelt und unmittelbare Beobachtungserfahrungen in Form von Feldprotokollen verschriftet.

Erhebung und Auswertung Das Design unseres Forschungsprojekts orientierte sich an ethnografischen Forschungsstrategien. Ein bewusst hergestelltes partizipatives Element sollte sich dabei auf die Menschen erstrecken, die in die untersuchte Maßnahme des Übergangssystems eingebunden waren. Dementsprechend wurden – ganz im Sinne der Tradition der Aktions- und Praxisforschung in der Sozialen Arbeit – die lebensweltliche (Innen-)Perspektive von Fachkräften und von Teilnehmer*innen vor Ort einbezogen (vgl. zu diesem Vorgehen Heeg et al. 2020: 24). Dabei wollten wir uns an den Stadien eines partizipativen Forschungsprozesses nach Hella von Unger (2014: 51ff.) orientieren. Leider konnte dieses Vorhaben wegen der Corona-Pandemie nur in Ansätzen umgesetzt werden, sodass sich keine durchgängige partizipative Einbindung in den Projektprozess erreichen ließ. Der erste Schritt, nämlich Partner*innen zu finden, das Thema einzugrenzen und den Bedarf zu bestimmen, war insofern relativ leicht umzusetzen, als schon seit einigen Jahren eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Träger besteht. Jährlich besucht eine der Autorinnen des vorliegenden Artikels die Einrichtung mit Studierenden und es kommt zu einem regelmäßigen Austausch über Bedarfe und Anforderungen, die sich im Hinblick auf Maßnahmen im Übergangssystem ergeben. Das Forschungsvorhaben als Teil eines Verbundprojekts zum Thema LSBT*Jugendliche im Übergangssystem der Jugendberufshilfe wurde im Rahmen eines Workshops mit der Leitungsebene und Fachkräften aus verschiedenen Maßnahmen des Trägers vorgestellt. Hierbei wurden Möglichkeiten und Grenzen der ethnografischen Forschung im Haus diskutiert, Ziele festgelegt und Fachkräfte der Sozialen Arbeit gefunden, die das Projekt aktiv als

203

204

Ulrike Zöller/Tabea Hust

›Gatekeeper*innen‹ (vgl. Knoblauch/Vollmer 2019: 606) unterstützen. Mit diesen Gatekeeper*innen wurden darüber hinaus erste Auswertungsergebnisse diskutiert, auch kamen von ihnen Vorschläge, die im Rahmen des Forschungsprozesses aufgegriffen wurden, so wurde etwa das Handbuch für Mitarbeitende der Einrichtung ausgewertet und ein Interview mit der Frauenbeauftragten geführt. Die Kontakte für die Interviews mit Teilnehmer*innen der Maßnahme wurden ebenfalls von ihnen hergestellt. Leider konnte nur ein Interview, das wir mit zwei Teilnehmer*innen gemeinsam geführt haben, die sich nicht im LSBT*-Spektrum verorten, durchgeführt werden. Nach der Erhebung und Auswertung wurde für die Einrichtung ein Forschungsbericht erstellt. Zum Abschluss fand ein Workshop statt, bei dem die Ergebnisse der Forschung mit der Leitungsebene und Fachkräften der Einrichtung diskutiert wurden. Ein zentraler Punkt im Rahmen des Abschlussworkshops war, dass zwischen Mobbing und Diskriminierung unterschieden werden müsse. Dieser Aspekt ist in den vorliegenden Artikel eingearbeitet worden. Die Erhebungsphase erstreckte sich von Januar 2020 bis Oktober 2020. Begonnen wurde mit einer Phase offener teilnehmender Beobachtungen, die in Maßnahmen des Trägers stattfanden. Im Zuge der Beobachtungen konnten Einblicke in die Abläufe von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (BvB), aktivierenden Eingliederungsmaßnahmen der Jobcenter und Einstiegsqualifizierungen für Jugendliche (EQ) gewonnen werden. Die Teilnehmer*innen erhalten im Rahmen solcher Maßnahmen Einblicke in Berufsfelder wie den Garten- und Landschaftsbau, das Friseur*innenhandwerk oder die Metallarbeit. Die Laufzeit der Maßnahmen gestaltet sich hierbei flexibel; entsprechend dem individuellen Bedarf dauern sie so lange, bis die Vermittlung erfolgreich ist. Zum Beobachtungszeitpunkt nahmen 80 Teilnehmer*innen an den Maßnahmen teil. Die Beobachtungsprotokolle wurden analog dem offenen Kodieren gesichtet, woraus sich im Hinblick auf das übergeordnete Forschungsinteresse erste Kategorien generieren ließen, die dann wiederum eine Schärfung der Forschungsfragen erlaubten. Ergänzend haben dann halboffene, leitfadengestützte Interviews mit sozialpädagogischen Fachkräften in unterschiedlichen Funktionen (Abteilungsleitung, soziale Beratung, Förderlehrerin, Frauenbeauftragte) und mit zwei Teilnehmer*innen stattgefunden. Leider konnten keine Interviews mit Anleiter*innen geführt werden. Um ihre Perspektive ausschnitthaft einzufangen, haben wir auf unsere Beobachtungsprotokol-

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

le zurückgegriffen. Als Material für die Auswertung dienten schließlich 10 Beobachtungsprotokolle, 6 Interviewtranskripte, circa 60 Fotos sowie das Handbuch für Mitarbeitende der untersuchten Einrichtung. Die Auswertung erfolgte entsprechend der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse, »die es ermöglicht, ›latente Sinngehalte‹ zu erschließen« (Mayring/Fenzl 2019: 633). Hierzu wurden die anfänglich noch recht grob herausgearbeiteten Kategorien zunächst thematisch gruppiert und daraufhin in Schlüsselkategorien überführt. Diese haben wir schließlich in einem Kategoriensystem erfasst und durch Leitfragen, die im Auswertungsprozess der Orientierung dienten, näher spezifiziert. Begleitend fanden insgesamt fünf Werkstatttreffen mit den Kooperationspartner*innen der Hochschulen Fulda und Esslingen statt, im Zuge derer die Kategoriensysteme gesichtet, diskutiert und angeglichen wurden.

Einblicke in die Ergebnisse der Erhebung Im Folgenden werden Ergebnisse unseres Forschungsprojekts exemplarisch dargestellt. Diese sind in Anlehnung an die Auswertungskategorien in drei Themenkomplexe gruppiert. Zuerst wenden wir uns der Positionierung der Einrichtung hinsichtlich Diskriminierung zu. Dabei verwenden wir die Kategorien ›offizielle Positionierung der Einrichtung zum Thema Diversität und Diskriminierung‹, ›binärer Sprachgebrauch‹ und ›Rolle der Frauenbeauftragten‹. Danach betrachten wir die sozialpädagogische Begleitung mit dem Fokus auf LSBT*-Teilnehmer*innen mit folgenden Kategorien: ›Ambivalenz und Irritationen in der pädagogischen Arbeit mit den Teilnehmer*innen‹, ›Haltung der Teilnehmer*innen gegenüber LSBT*‹, ›Umgang der Professionellen mit LSBT*-Teilnehmer*innen‹ und ›Möglichkeiten und Grenzen der Sichtbarkeit von LSBT*‹. Der dritte Themenkomplex thematisiert den Umgang der Fachkräfte mit Geschlechtervielfalt mit folgenden Kategorien: ›Umgang der Fachkräfte mit den Themen Geschlechterrollenbilder und -stereotype‹, ›begriffliche Unklarheiten aufseiten der Fachkräfte‹, ›unterschiedliche Diskriminierungsformen und der Umgang mit ihnen‹ sowie ›LSBT* und Diskriminierung als unscharfe Themenkomplexe‹.

205

206

Ulrike Zöller/Tabea Hust

Themenkomplex I: Positionierung der Einrichtung hinsichtlich Diskriminierung Diversität und Diskriminierung Im Leitbild der Einrichtung wird der Einsatz gegen rassistisch und religiös motivierte Diskriminierungen betont. Geschlechtliche Diskriminierung wird hingegen nicht eindeutig bedacht. Zwar heißt es im Handbuch für Mitarbeitende, man stehe für Diversität in puncto Lebensweisen und sexueller Orientierungen ein und bemühe sich darum, Ungleichbehandlungen zwischen den Geschlechtern abzubauen, jedoch wird hierbei ein binäres Geschlechterverständnis aufrechterhalten, was wir in den Ausführungen im weiteren Verlauf ausführlicher darstellen.

Binärer Sprachgebrauch Auch hinsichtlich des allgemeinen Sprachgebrauchs in der Einrichtung lässt sich verzeichnen, dass weder in der gesprochenen noch in der geschriebenen Sprache gendersensibel in offenem Sinn formuliert wird. Dies kommt in einer Vielzahl von Aushängen und öffentlichen Beschilderungen zum Ausdruck, die entweder das generische Maskulinum verwenden oder aber entsprechend der binären Geschlechterordnung arbeiten. Diese Beobachtung bestätigt sich auch im Hinblick auf nonverbale Zeichen wie etwa Piktogramme an Toiletten und in den Werkstätten. Innerhalb der Räumlichkeiten dominieren die Bezeichnungen der jeweiligen Berufszweige in ihrer Ausrichtung auf Männerbzw. Frauenberufe. Der binären Geschlechterordnung unterliegen nicht nur die Berufsbezeichnungen, sondern auch die allgemeinen Beschilderungen in Schrift und Bild.

Rolle der Frauenbeauftragten Die interviewten Mitarbeitenden verweisen während der Interviews auf die Rolle der Frauenbeauftragten im Kontext der Geschlechtervielfalt und der Aufhebung von Diskriminierung in der Einrichtung. Die Frauenbeauftragte der Einrichtung verfügt über eine langjährige Berufserfahrung als pädagogische Mitarbeiterin im Haus. Aufgefallen ist uns, dass ihre Rolle in der Einrichtung eher diffus blieb und über ihren Zuständigkeitsbereich in den Befragungen Uneinigkeit herrschte:    

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

Interviewerin: »Mit der Gleichstellung der Geschlechter- Sie haben ja auch eine ähm Frauenbeauftragte, ist die auch für zum Beispiel TransgenderPersonen dann zuständig?« Interviewperson: »Uff, das kann ich Ihnen jetzt- also ich denk ja, ich denk ja.« Interviewerin: »Ist die [Frauenbeauftragte; Anm. der Autorinnen] dann auch für Gleichstellung jenseits des binären Geschlechtersystems zuständig oder gibt’s da eine*n konkrete*n Ansprechpartner*in?« Interviewperson: »Da fragen Sie mich jetzt was. Die [Name entfernt; Anm. der Autorinnen] ist das jetzt seit einem Jahr, für die Schulungsveranstaltungen verantwortlich. Ich hab sie noch ned gebraucht. Ich kann’s jetzt gar ned …« Das Interview mit der Frauenbeauftragten zeigte jedoch auf, dass ihre Rolle durch das Saarländische Landesgleichstellungsgesetz (LGG; vgl. Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie 2015) klar umrissen ist. Demnach wird die Frauenbeauftragte gewählt und ist – wie der Name es bereits andeutet – in erster Linie für weibliche Mitarbeitende zuständig. Grundsätzlich hat nach § 7 LGG jede Dienststelle mit Ausnahme der Schulen einen Frauenförderplan vorzulegen. Gegenstand dieses Frauenförderplans sind die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern und die Beseitigung der Unterrepräsentanz von Frauen innerhalb des Geltungsbereichs des Frauenförderplanes (vgl. ebd.: 7). Die Frauenbeauftragte der Einrichtung befasst sich deshalb in erster Linie mit der Förderung der Kolleginnen im Haus und richtet ihre Ziele danach aus. Sie plant in Bezug auf ihre Ziele zum Beispiel, eine Veranstaltung zu sexueller Belästigung zu organisieren, und richtet sich mit dieser Veranstaltung auch konkret an die Mitarbeitenden im Haus. Die Teilnehmer*innen werden nicht im Rahmen des Frauenförderplans adressiert, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass sie nur selten eine Beratung in Anspruch nehmen. Sie sei, so sagt die Frauenbeauftragte im Interview, »in der Hauptsache Ansprechpartnerin« für ihre Kolleginnen. Allerdings käme es dann »interessanterweise« immer »auch mal« dazu, dass sich Teilnehmer*innen bei ihr melden: »Net ständig, net dauernd, aber es kommt vor. Das wird also im Haus wahrgenommen (.) es gibt ne Frauenbeauftragte.« Die Auseinandersetzung mit Genderthemen findet für die Teilnehmer*innen auf der Ebene der jeweiligen Maßnahme statt. Beispielsweise wird in Zu-

207

208

Ulrike Zöller/Tabea Hust

sammenarbeit mit der Fachstelle Mädchenarbeit ein sogenannter Genderparcours angeboten. Auf unsere Frage, ob ihre Rolle auch als Gleichstellungsbeauftragte zu verstehen wäre und damit stärker Menschen angesprochen werden können, die sich nicht im binären Geschlechtersystem verorten, bezieht sich die Frauenbeauftragte auf die gesetzliche Formulierung: »Ja. Es ist halt- die gesetzliche Formulierung ist halt so, ne?//mhm//Das ist leider- obwohl es das Landesgleichstellungsgesetz ist.« Die dargestellten Punkte zeigen eine Diffusität der Rolle der Frauenbeauftragten in der Einrichtung auf. Einerseits wird ihr die Aufgabe zugeschrieben, sämtliche Formen von Diskriminierung in der Einrichtung abzubauen, andererseits ist ihr Aufgabenprofil durch das saarländische Landesgleichstellungsgesetz klar umrissen. Hier wird eine Leerstelle sichtbar, die dazu führt, dass es in der Einrichtung keine sichtbare Anlaufstelle für LSBT*-Personen gibt, die Diskriminierung erleiden. Die Frauenbeauftragte bestätigt im Interview, dass sie niemandem, der zu ihr komme, die Unterstützung verweigern würde. Aber sie weist gleichzeitig darauf hin: »Die Frage ist, wie offensiv ich das unter Umständen thematisieren würde.//ja//Und ob man da äh eventuell ein bisschen Schärfung hinbekäme, ne (.) der Aufgaben (.) inwieweit das auch möglich ist, sag ich jetzt mal, im Rahmen (.) der offiziellen (.) Tätigkeit, ne?«

Themenkomplex II: Die sozialpädagogische Begleitung mit dem Fokus auf LSBT*- Teilnehmer*innen Ambivalenz und Irritationen in der pädagogischen Arbeit mit den Teilnehmer*innen Die Arbeit der interviewten Fachkräfte mit den Teilnehmer*innen erfolgt im Rahmen eines multiprofessionellen Teams, das aus Fachkräften der Sozialen Arbeit, Förderlehrkräften und Anleiter*innen aus den jeweiligen Handwerksberufen besteht. Im Zuge unserer Erhebungen ließ sich vielfach eine besondere Nähe zwischen den Teilnehmer*innen und den Fachkräften des multiprofessionellen Teams beobachten: Persönliche Themen der Teilnehmer*innen (chronische Erkrankung, Familienplanung und Ausbildungswunsch) wurden mit Offenheit zwischen den Fachkräften und den Teilnehmer*innen verhandelt. Ferner ließ sich beobachten, dass insbesondere die Anleiter*innen in ihren jeweiligen

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

Kursen in der Regel sofort auf Belange der Teilnehmer*innen reagieren und eine hohe Einsatzbereitschaft an den Tag legen, wenn es darum geht, diese bestmöglich zu unterstützen. Dieser Nähe wohnt jedoch eine gewisse Ambivalenz inne: So ermöglicht sie einerseits eine positive Arbeitsatmosphäre in der Maßnahme, die sich in einer wertschätzenden Grundhaltung zueinander wie auch einem mitunter humorvollen Umgang ausdrückt – andererseits bietet dieses Setting teilweise eine Basis für verletzendes Verhalten in der pädagogischen Beziehung (vgl. Prengel 2013). In unseren Beobachtungen wurde teilweise deutlich, dass mit persönlicher Nähe persönliche Abwertung einhergehen kann, die auch in Gegenwart Dritter erfolgte. Nicht zuletzt wurden vereinzelt entmutigende Aussagen von Professionellen getroffen, an deren Stelle genauso gut eine positive Bestärkung der Vorhaben von Teilnehmer*innen möglich gewesen wäre. Dies zeigen die folgenden Ausschnitte aus zwei Beobachtungsprotokollen, die Interaktionen von Anleiter*innen und Teilnehmer*innen betreffen: »Frau W. wendet sich zu Daniel und fragt ihn, ob er das verstanden hat. – ›Ne.‹ – ›Hast du nicht zugehört?‹ – ›Ne.‹ – ›Dann hast du die Gabe, nicht zuzuhören‹, und erklärt es ihm nochmal.« »›Hast du mich verstanden?‹, fragt die Anleiterin […]. ›Hab’s gewusst, du hast mich nicht verstanden!‹, beantwortet sie ihre Frage selbst […].« In Bezug auf die Ausbildungssuche konnten wir außerdem beobachten, dass der Ausbildungswunsch von Teilnehmer*innen mitunter durch die Fachkräfte korrigiert wurde: »Adil sagt, dass er gerne eine Ausbildung als Krankenpfleger machen möchte. Herr X. erwidert darauf, dass er doch besser zuerst Krankenpflegehelfer machen soll, dass er auch mit Frau Müller schon darüber gesprochen hat und da er den Lesetest nicht so gut gemacht hat, die Ausbildung als Krankenpflegehelfer besser wäre, um sich an das medizinische Vokabular zu gewöhnen.« Skrobanek (2015) beschreibt ein solches Verhalten mit Bezug auf Goffman (1952) als ›Cooling-out‹ (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band), das die Lebensentwürfe der Teilnehmer*innen gewissermaßen ›nach unten‹ korrigiert. Als realistische Lebensziele erachteten laut unseren Beobachtungen Teilnehmer*innen wie Professionelle nur solche Ziele, die als zum jeweiligen Milieu ›passend‹ wahrgenommen werden. Hierbei handelt es sich um einen Mechanismus der Selbstexklusion, der weit verbreitet ist (vgl. Skrobanek 2015: 84ff.).

209

210

Ulrike Zöller/Tabea Hust

Eine Irritation der Fachkräfte des multiprofessionellen Teams gegenüber LSBT*-Personen wird im Material an verschiedenen Stellen sichtbar. Diese Irritation drückt eine Lehrerin in folgendem Zitat aus: »Hat mich auch irritiert dieses äh weder Mann noch Frau, ne? Oder Mann es ist ein Mann und hat aber BH an und gibt sich wie ne Frau.« An dieser Stelle bleibt unklar, ob die im Zitat thematisierte LSBT*-Person sich selbst als nonbinär versteht oder ob es sich um eine Zuschreibung der Fachkraft handelt. Daran lässt sich anknüpfen, dass die Thematisierung der Erscheinungsweise einer Person (hier, ob diese einen BH trägt) im pädagogischen Setting grundsätzlich nichts verloren hat. Sollte die im Zitat beschriebene Person tatsächlich eine LSBT*-Person sein, dann würde die Formulierung »ein Mann […] und gibt sich wie ne Frau« der Person ihre Geschlechtlichkeit absprechen. Die im Material auftretenden Irritationen der Fachkräfte gegenüber LSBT*-Personen stehen im Widerspruch damit, dass die Fachkräfte in den Gesprächen ihre Offenheit im Umgang mit LSBT*-Personen bekunden.

Haltung der Teilnehmer*innen gegenüber LSBT* Aufseiten der in erster Linie männlichen Jugendlichen ist vielfach ein schwulenfeindliches, sexuell konnotiertes Vokabular zu beobachten, das auf ein fehlendes Bewusstsein für die Bedeutung und Tragweite der eigenen Wortwahl hindeutet. Insbesondere fungiert »Schwulsein« als häufig gebrauchtes Schimpfwort. Eine Fachkraft berichtet: »[…] es schlimmste Schimpfwort ist immer noch ›Du schwule …‹//mhm// Leider Gottes ist immer noch es SCHLIMMSTE Schimpfwort, wenn die sich untereinander beschimpfen.//ja//›Du schwule SAU!‹ Ne, das hört man auch bei unseren noch.« Ein Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll greift eine Situation bei einer Maßnahme auf, in der sich zwei Teilnehmer*innen anscheinend über eine Aussage oder das Verhalten eines weiteren Teilnehmers lustig machen: »Dann höre ich von Felipe, wie er zu einem Teilnehmer sagt: ›Das war grad dezent schwul!‹, und beide lachen.« Die starke Häufung dieses Terminus verweist auf das Vorhandensein eines stereotypen Männlichkeitsbilds unter den hauptsächlich männlichen Teilnehmer*innen. Abweichungen vom ›typischen Männlichkeitsbild‹, das sich an

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

heteronormativen Idealen bemisst, scheinen innerhalb der Gruppe der Jugendlichen als besonders problematisch erachtet und entsprechend drastisch geahndet zu werden. Andere, den LSBT*-Bereich betreffende, negativ konnotierte Begrifflichkeiten treten hingegen weitaus seltener auf. Insgesamt lässt sich der Umgang der Jugendlichen mit der LSBT*Thematik anhand der durchgeführten Beobachtungen nur unzureichend rekonstruieren, da lediglich ein gezieltes Interview mit einer weiblichen und einem männlichen Jugendlichen im Alter von 17 und 18 Jahren durchgeführt werden konnte, die sich allerdings selbst nicht im LSBT*-Spektrum verorten. Unsere Untersuchung konzentriert sich daher in erster Linie auf Einschätzungen, die die Fachkräfte getätigt haben, um die Haltung der Jugendlichen gegenüber dem Forschungsthema zu umreißen. In diesem Zusammenhang berichten die Fachkräfte von unterschiedlich ausgeprägter Toleranz der Jugendlichen gegenüber LSBT*-Teilnehmer*innen, die stark davon abzuhängen scheint, ob die Jugendlichen mit Peers, die sich in der LSBT*-Community verorten, näher in Kontakt stehen oder nicht. Insbesondere in der Erzählung über eine trans* Teilnehmerin schildern die Fachkräfte Mobbingsituationen. Hierauf gründet unsere These, wonach Trans*-Sein bei den Jugendlichen weiterhin eine Sonderstellung gegenüber dem möglicherweise mittlerweile eher akzeptierten Bereich der LSB*-Menschen einnimmt. Eine Fachkraft verweist allerdings darauf, dass auch die Teilnehmer*innen grundsätzlich daran interessiert sind, sich mit dem Thema Trans*-Sein auseinanderzusetzen: »Für unsere Teilnehmenden ist das GANZ OFT Thema (.)//mhm//ganz oft. Und muss auch Anlass sein, immer wieder das aufzugreifen.« Gleichwohl bleibt an dieser Stelle offen, in welcher Weise diese Auseinandersetzung geschieht. Denn die Fachkraft nutzt die eher ambivalente Wendung »GANZ OFT Thema«, die sowohl eine abwertend-verletzende Thematisierung als auch eine am Thema interessierte Auseinandersetzung im Sinne einer Bereitschaft zu wirklicher Reflexion implizieren kann. Nicht aufgeführt wird hier aber, welche Anlässe die Fachkraft nutzt, um ›das Thema‹ aufzugreifen. In unserem Interview beschreiben die beiden befragten Jugendlichen Coming-outs im Freundeskreis als »normal«, gleichzeitig wurde deutlich, dass über Coming-outs abgesehen von Einzelevents eher geschwiegen wird und stereotype Annahmen, wonach etwa die sexuelle Orientierung eines Menschen anhand des äußeren Erscheinungsbilds oder des Auftretens erkennbar sei, nach wie vor verbreitet scheinen. So berichten die beiden Teilnehmer*in-

211

212

Ulrike Zöller/Tabea Hust

nen im Interview vom Outing eines Mitschülers, das sie aus oben genannten Gründen offenbar wenig überrascht habe: »Also wir haben- wir wissen=s, weil sie=s uns gesagt haben und weil man=s auch sieht.« »[…] vor=n paar Monaten hat er es erst GEOUTET, aber bei ihm hat man es halt schon früh gemerkt, dass er halt auf Männer steht (.) als halt auf Frauen.«

Möglichkeiten und Grenzen der Sichtbarkeit von LSBT* Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass LSBT* als Lebensform in der Einrichtung wenig auftaucht. Angesichts dessen stellt sich die Frage, auf welchem Wege junge LSBT*-Menschen in ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung wahrgenommen werden und wo sie anerkennende Strukturen vorfinden können. Die Rahmenbedingungen, die eine Sichtbarkeit von LSBT*-Personen in der Einrichtung ermöglichen, sind eng gesteckt und häufig an bereits im Mainstream angekommene, für die Allgemeinheit lesbare Codes (im konkreten Beispiel: Conchita Wurst als Kunstfigur, die geschlechtliche Vielfalt verkörpert) geknüpft. Hierdurch wird zwar punktuell ihre Sichtbarkeit möglich – diese sichert jedoch nicht automatisch Anerkennung. So berichtet eine sozialpädagogische Fachkraft von einer Abendveranstaltung, bei der ein*e Teilnehmer*in die Moderation übernommen hatte und dabei bewusst mit verschiedenen Ausdrucksformen von Geschlecht spielte: »Als der- dann ging der hinter die Bühne und hat sich zurechtgemacht. //mhm//Der hatte ein WEISSES Kleid mit (3) ne, wie so=n PRINZESSINENkleid an (.) schulterfrei//mhm//und dann die LANGEN Haare und=n schwarzen Bart. WIE- ne, ne (.) DIVERS. (2) Völlig (.) du weißt- wusstest net, was is=er? Mann, Frau (.) alle äußeren ZEICHEN, sag=ich mal, von Geschlecht hatte er.« Die geschlechtliche Identität der Person, nach Angaben der sozialpädagogischen Fachkraft divers, konnte anscheinend erst im Rahmen der Bühnenperformance sichtbar gemacht werden, indem die herrschende binäre Geschlechternorm in Form einer mit Geschlechtsidentitäten spielenden Bühnenperformance infrage gestellt wurde. Die sozialpädagogische Fachkraft berichtet von einer »tollen Veranstaltung«, die weitere Auswirkungen auf die Teilnehmer*innengruppe gehabt habe:

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

»Aber das war ne tolle Veranstaltung, weil die das es erste Mal so gesehen haben. Und wir hatten dann nachher Gelegenheit, dadrüber zu diskutieren, auch mit ihnen. ›Wovor habt ihr denn Angst, was istn das- was isn dadran so schlimm?‹, ne//mhm//und so. Und der sang dann ein Lied, ne (.) hat ne tolle Stimme gehabt und eine Bühnenpräsenz! Unglaublich! Dass alle standenhaben so geguckt, ne? Also das war ne tolle Geschichte. War auch im Nachgang in der Nachbearbeitung auch mit den Jugendlichen, die das erlebt hatten, noch lange Diskussion, ne?//ja//Dass er sich das getraut hat und das so gezeigt hat (.) und ganz selbstbewusst. Das hat ihm gefallen und er hat das gemacht.« Die Fachkraft zeigt hier Respekt gegenüber dem Mut der performenden Person. Und offenbar konnte sie in weiteren Gesprächen mit Teilnehmer*innen positiv an die Bühnenperformance anknüpfen, was ihr dann auch Möglichkeiten bot, mit den Teilnehmer*innen Widerstände und Ängste zu thematisieren, die bezüglich LSBT*-Personen bestehen. Gleichzeitig bleibt die Frage im Raum, warum es außergewöhnlicher Ereignisse bedarf, damit sexuelle Vielfalt in der Einrichtung sichtbar gemacht werden kann. Bei diesen besonderen Anlässen – hier der Bühnenperformance – besteht die Gefahr, dass die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt von Teilnehmer*innen nur sichtbar gemacht werden kann, wenn diese quasi in eine Rolle schlüpfen. Die performende Person wird gleichzeitig in ihrer Rolle exotisiert und findet nur in dieser Rolle Anerkennung. Das Subjekt in seiner tatsächlichen geschlechtlichen und sexuellen Lebensrealität hat im Alltag der Maßnahme aber keinen Platz und bleibt weiterhin unsichtbar. In den Interviews treten über die dargestellten exotisierenden und auf den Kleidungsstil bezogenen Beschreibungen im Besonderen trans* Personen sichtbar auf. Lesbische und schwule Personen blieben während unserer Interviews weitgehend unsichtbar. Die Abteilungsleiterin bringt diesen Aspekt auf den Punkt: »Und jetzt ist es aber, hab ich im ganzen Unternehmen niemand mehr gesehen. Also niemand äh der jetzt es offen, ne? Also, dass es offensichtlich ist. Und auch thematisiert wird. Das gibt’s ja bestimmt: Menschen, die das noch nicht thematisieren können oder die noch ja (.). Ich denk, wir haben auch schwule und lesbische Teilnehmerinnen, aber die äh wir ham jetzt auch keinen, der sich da irgendwie geäußert hat. Ich hab auch grad nochmal Rücksprache gehalten mit den andern und ist grad niemand im Projekt.«

213

214

Ulrike Zöller/Tabea Hust

Themenkomplex III: Der Umgang der Fachkräfte mit Geschlechtervielfalt Umgang der Fachkräfte mit den Themen Geschlechterrollenbilder und -stereotype Mitunter ließen sich Szenen beobachten, in denen Geschlechterstereotype auch von einzelnen Professionellen reproduziert wurden. Wir gehen mit der Definition des Genderkompetenzzentrums (2012) davon aus, dass Geschlechterstereotype »sich oft naturalisierender und essenzialisierender, d.h. auf einen Wesenskern reduzierter, Zuschreibungen bedienen. Geschlechterstereotype werden binär – heterosexuell, gegengeschlechtlich – konstruiert, enthalten hierarchische Wertungen und sind oft ganz explizit sexualisiert.« (Ebd.: o. S.) Wichtiger Kristallisationspunkt unserer Beobachtungen hierfür war das Abweichen von gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechternormen – etwa dann, wenn Teilnehmer*innen sich für einen entsprechend ihrer Geschlechterrolle als untypisch wahrgenommenen Beruf interessierten. Solche Vorkommnisse wurden besonders hervorgehoben und als ungewöhnlich herausgestellt. Plakativ formuliert, galten Frauen in den Aussagen eines Anleiters eher als »schwächlich«, während Männer als einsatzfreudige »Anpacker« charakterisiert wurden, was in einem Beobachtungsprotokoll wie folgt festgehalten wurde: »Das ist der Einzige, der noch richtige Eier hat.« Auch bei Angeboten, die zur Steigerung des Selbstwertgefühls und der Motivation der weiblichen Teilnehmerinnen führen sollen, wird auf geschlechtsspezifische Klischees zurückgegriffen (Tanzen, Schminken, Frisieren). So erzählt eine sozialpädagogische Fachkraft von einer Situation mit einer jungen Frau, für die eine Geburtstagsparty veranstaltet wurde, um sie in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken: »Und so weiter und Tanz und bei den Frisören wurde sie geschminkt so lolitamäßig (Lachen).«

Begriffliche Unklarheiten aufseiten der Fachkräfte Auf die Frage, welche Formen von Diskriminierung sich im alltäglichen Miteinander innerhalb der Einrichtung ausmachen lassen, wurde uns von professioneller Seite häufig Mobbing, aber auch Vorurteile als größtes Problem genannt. Hier ist erläuternd anzufügen, dass Mobbing sich als eine Form aggressiven Verhaltens mit eindeutigem Ungleichgewicht zwischen Täter*in-

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

nen und Opfer bezeichnen lässt, die sich – oftmals im Gruppengeschehen – gezielt und systematisch gegen eine Person richtet. Mobbing hat einen prozessualen Charakter und wiederholt sich über einen längeren Zeitraum (vgl. Politi 2020). Diskriminierung wiederum bedeutet gemäß der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2022) eine im rechtlichen Sinne ungerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund von Merkmalen wie ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung. Diskriminierung knüpft an Vorurteile oder Stereotype an und kann bewusst oder unbewusst erfolgen. Eine Interviewperson berichtet: »Ja, also wir hatten, als ich hier angefangen hab, war ähm Mobbing ein großes Thema.« Weiter führt sie aus: »Mobbing, in Bezug auf Figur meistens.« Und später wird Mobbing im Zusammenhang mit Geflüchteten in der Einrichtung erwähnt: »Als wir ganz viele Flüchtlinge bekamen, gab’s dann natürlich Mobbing in die Richtung. […] Wo dann von unserem Klientel oder von den deutschen Teilnehmern: ›Ei yo, die nehmen uns unsere Arbeit weg, die haben alle Handys‹, ne? Diese ganzen Geschichten, die durch Facebook gingen und so weiter.« Diese Feststellung wird auch von einer weiteren Interviewperson unterstrichen, die den Begriff »ausländerfeindlich« nutzt, um auf diskriminierende Praxen hinzuweisen: »Das ist so ein genereller Trend, hab ich schon oft festgestellt. Auch mit Ausländern. Da sind auch Leute, die ausländerfeindlich sind, wenn dann der Kollege, mit dem se zusammen arbeiten, Ausländer ist, ist das nochmal was Anderes.« Die Abteilungsleiterin sagt: »Also es gibt, glaub ich, überall noch Vorurteile. Das muss man einfach sagen. Die sind, glaub ich, auch bei unsern Jugendlichen vorhanden.« Der Begriff der Diskriminierung wurde von den Fachkräften selbst nahezu nie aufgegriffen, sondern durch Mobbing oder fehlende Toleranz ersetzt, selbst wenn sie im Weiteren von Szenen berichtet haben, die eindeutig ins Spektrum diskriminierender Handlungen fielen. Offensichtlich wird Mobbing zur Beschreibung von Sachverhalten benutzt, bei denen es um aggressives, ab-

215

216

Ulrike Zöller/Tabea Hust

wertendes und herabsetzendes Verhalten innerhalb der Teilnehmer*innengruppe geht. Dabei werden auch tatsächlich diskriminierende Vorgänge unter dem Begriff Mobbing subsumiert, was dazu führen kann, dass diese dem Subjekt zugeschrieben werden, das entsprechend sein individuelles Verhalten ändern soll, aber strukturelle Hintergründe – beispielsweise die rechtliche Unzulässigkeit diskriminierender Praxen in Einrichtungen – ausgeblendet bleiben. Auf die Frage, wie sie generell die Situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen am Übergang von der Schule in den Beruf einschätzt, gab eine Interviewperson die folgende Antwort: »Also generell, ja, also ich denke, das ist is ja sehr individuell, wie die wie die sich jetzt in ne Gruppe einfügen oder mit welchem Erfolg sie unsere Maßnahme besuchen. Also das ist auf jeden Fall verschieden, aber ich äh ich ich denke auch, dass die es nicht so einfach haben in einer Einrichtung wie unseren, weil die Toleranz, das ist halt sehr verschieden, die einen sind tolerant, die akzeptieren jemanden und egal ob schwul oder lesbisch oder was auch immer und andere sind eher intolerant. Aber das ist normal bei uns.« Diese Antwort macht deutlich, dass die Fachkraft die Frage nach dem Umgang mit Toleranz auf die Individuen verlagert, während der Umgang mit Toleranz als strukturelle Aufgabe der Einrichtung an dieser Stelle ausgeblendet bleibt.

Unterschiedliche Diskriminierungsformen und der Umgang mit ihnen Von professioneller Seite wird auf eine nichtdiskriminierende Haltung verwiesen, für die innerhalb der Einrichtung alle eintreten: »Aber wir sind offen- wir sind- wir wollen net diskriminieren.«   »[…] und wir wollen alle wertschätzend behandeln. Das sind schon so Dinge, die uns wichtig sind, ne?« Wie haben die Fachkräfte der Einrichtung reagiert, wenn wir sie mit dem Themenkomplex LSBT*-Personen konfrontiert haben? Wir haben zunächst einmal die Beobachtung gemacht, dass ein breiter Konsens über die Wichtigkeit von Akzeptanz und Offenheit gegenüber geschlechtlicher Vielfalt besteht. Gleichzeitig äußerten sich die Interviewten in puncto Eigenverantwortung und Engagement für das Thema eher zögerlich. Häufig scheint die Zuständigkeit hierfür eher auf institutioneller als auf persönlicher Ebene gesehen zu werden. Ferner wird auf Weiterbildungen oder auf Schulungen zu diesem

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

Thema verwiesen, die in der Einrichtung für die Mitarbeitenden angeboten werden sollten. Die Abteilungsleiterin betont diesbezüglich, dass es einen Anstoß von außen brauche, damit das Thema auch mit den Jugendlichen besprochen werde: »Also man braucht manchmal so nen Anstoß von außen. Natürlich ist das im Leitbild drin und äh natürlich stehen wir für Vielfalt, wir äh nehmen auch gerne jeden, der hier äh praktisch Teilnehmer*in wird, ist ja klar, und äh es ist auch ne Bereicherung für uns, so empfinden wir das, aber da es selten vorkommt und wir mit dem Thema relativ selten konfrontiert waren, haben wir es wahrscheinlich auch nicht so thematisiert. Bei den Jugendlichen.« Aufgefallen ist uns, dass der Bedeutung und der Tragweite von Diskriminierungserfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und trans* Jugendlicher und junger Erwachsener von professioneller Seite wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Abteilungsleiterin der berufsvorbereitenden Maßnahmen begründet diesen Sachverhalt mit den vielfältigen und herausfordernden Aufgaben, die im multiprofessionellen Team geleistet werden müssen: »Mal so, wir müssen einfach auch die andern Sachen umsetzen. Es ist zwar immer wieder Thema, aber es, vielleicht auch ganz gut, dass Sie uns jetzt drauf angesprochen haben und dass wir jetzt auch richtig sensibilisiert sind für das Thema wieder.« Andere Fachkräfte führen als Begründung hingegen an, dass es nur selten Teilnehmer*innen gebe, die trans* seien. Gleichwohl werden in den Erzählungen der Professionellen – mit explizitem Verweis auf den Kleidungsstil oder auf extrovertiertes Verhalten – insbesondere trans* Menschen thematisiert: »Das war dann ein riesen Thema, ähm, ja, äh sexuelle Themen. Also wir hatten ma eine Transgender vor zwei Jahren, der sehr sehr auffällig, ne, letztes Jahr rumlief.« Eine sozialpädagogische Fachkraft beispielsweise betont hier den in ihren Augen unangemessenen Kleidungsstil: »Wobei man hier auch sagen muss, dass der Kleidungsstil unangemessen war.« Das Verb »rumlaufen« wie auch das Adjektiv »unangemessen« verweisen auf eine abwertende, maßregelnde Haltung gegenüber der Person, die in den Au-

217

218

Ulrike Zöller/Tabea Hust

gen der Fachkraft einen zu auffälligen, als zu sexuell wahrgenommenen Kleidungsstil pflegt und sich nicht an die gängigen Geschlechternormen in der Einrichtung hält. Hier stellt sich die Frage, ob dies geschieht, weil diese Person trans* ist und ihr deswegen eine Sonderstellung zugewiesen wird. Im Hinblick darauf betont die Fachkraft, dass sie gegenüber dieser Person gleichermaßen Kritik äußern würde wie gegenüber anderen Schülerinnen: »[…] also genauso wie ich zu den äh äh schon Schülerinnen nach Hause geschickt hab, weil ich gesagt hab: ›Du, so würd ich nicht mal in die Disko gehen, der Rock, das ist ein Gürtel, und dein Ausschnitt, ne? Ich mein, deine Figur ist wundervoll (lachen), aber das ist hier ned angebracht, so rumzulaufen‹, ne? Und das sag ich genauso zu zu zu den Mädchen, wie ich das zu ihr dann auch gesagt habe, ne?« Hier tritt eine Diskriminierungsform zutage, die als Lookismus bzw. Bodyismus bezeichnet werden kann (vgl. zum Folgenden Czollek et al. 2019: 133ff.). Bodyismus bzw. Lookismus bezeichnet Diskriminierung, die aufgrund körperlicher Schönheits- und Gesundheitsnormen stattfindet. Häufig werden sexistische Normen und Ideale bezüglich des Körpers beispielsweise durch Bilder aus der Werbung geprägt und festgelegt. Menschen, die von diesen Normen abweichen, werden dafür oft psychisch oder physisch angegriffen und strukturell – also auf interaktionaler, institutioneller und gesellschaftlich-kultureller Ebene – diskriminiert. Bei Bodyismus bzw. Lookismus geht es insbesondere um Fragen nach dem Körpergewicht und der Figur wie auch nach dem Kleidungsstil (vgl. ebd.). Gleichwohl muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Fachkraft die Aufgabe hat, jungen Menschen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, und dass in vielen Berufen ein »angemessener« Kleidungsstil eine große Rolle spielt. Diesen Aspekt will die Fachkraft wahrscheinlich in der obigen Aussage einbringen. Laut unserer Erhebung scheint Körpergewicht ein zentraler Risikofaktor für Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Gruppe der Jugendlichen zu sein. Zudem führt eine sozialpädagogische Fachkraft Mobbingerfahrungen und sozialen Ausschluss – ganz besonders nochmals mit Blick auf eine trans* Person – vornehmlich auf einen als unpassend deklarierten Kleidungsstil zurück: »Also bisschen stilvoller. Sie kann sich ja als Frau kleiden, aber dann, ne? Das war wirklich ähm plus sehr ungepflegt noch dabei, un war das wirklich sie provoziert, ne? (…) das kann ned gut gehen. Nicht mit dem Kleidungsstil,

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

weil sie es heraufbeschwört. Wenn das so dezent wär und schön angenehm, kein Thema aber nicht so, ne?« Eine Fachkraft der Sozialen Arbeit beispielsweise ist sich zwar der potenziellen Abwertung einer kommunikativen Handlung der Teilnehmer*innen durch die Nutzung des Begriffs »schwul« bewusst. Gleichzeitig misst sie ihr keinen hohen Stellenwert bei und sieht in der Nutzung des Begriffs keine Diskriminierung, da sie davon ausgeht, dass sich diese Kommunikationsstruktur nicht auf die Akzeptanz in der Teilnehmer*innengruppe auswirkt: »Wenn irgendwas ähm nicht gut ist, wird es ja oft als schwul bezeichnet. Also dieses Abwertende, dieser generelle Unterton, den gibt’s schon. Also der ist sehr verbreitet, aber das kann im konkreten Fall ja ganz anders sein, dass jemand trotzdem akzeptiert wird.« Die Fachkraft geht hier unterschwellig davon aus, dass Personen, die als »schwul« markiert werden, trotzdem in der Gruppe der Teilnehmer*innen akzeptiert werden. Berichte von Diskriminierungserfahrungen homosexueller Teilnehmer*innen sind in ihren Augen ein Vorwand, um über Diskriminierung klagen zu können: »Da hatte ich den Verdacht, der benutzt das mehr so, sein Schwulsein, um zu sagen: ›Ich werde diskriminiert.‹« Warum die Fachkraft vermutet, dass das Schwulsein als Vorwand benutzt wird, lässt sich aus dem vorliegenden Material nicht erschließen. Eventuell will sie damit ausdrücken, dass der über Diskriminierung klagende Jugendliche Privilegien für sich einfordern will, die sie als nicht angemessen erachtet. Der von dem Jugendlichen vorgetragenen Diskriminierungserfahrung wird an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen bzw. sie wird übergangen. Aus den Erzählungen der sozialpädagogischen Fachkräfte wird deutlich, dass in der Vergangenheit insbesondere trans* Personen diskriminiert und damit in ihrer psychosozialen Integrität bedroht worden zu sein scheinen. Diese Fälle wurden auf professioneller Seite aufmerksam beobachtet und sozialpädagogisch begleitet: »Und dann wurde über den sehr provokanten Kleidungsstil gelästert und das Mädchen, also die Schwester, hat sich dann aber auch zu Wort gemeldet, das ist mein Bruder und ne? Und dann gab’s dann auch ein Gruppengespräch und ich bin dann auch äh mit in die Gruppe und das hat sich dann alles geklärt, ne?«

219

220

Ulrike Zöller/Tabea Hust

Nachdem die betreffenden Personen die Maßnahme wieder verlassen hatten, wurde die Sensibilisierung der Teilnehmer*innen gegenüber Diskriminierungsrisiken von trans* Menschen allerdings nicht weiterverfolgt. Diskriminierende Praktiken ließen sich im Einrichtungsalltag vorwiegend in Form unreflektierter Scherze von Teilnehmer*innen – mitunter aber auch von Professionellen – beobachten. In einem Beobachtungsprotokoll zeigen sich rassistische Abwertungen von und Herabwürdigungen gegenüber Geflüchteten: »Daraufhin sagt Frau X, was er zu Hause mache, sei ihr egal, aber hier werde wie beim Friseur gearbeitet. ›Warst du am Wochenende in Afrika?‹, fügt sie lachend hinzu.« Im Hinblick auf die Herkunft der Person, die in dieser Situation von der Fachkraft angesprochen wird, kann auf die Gefahr der Essenzialisierung (vgl. IDA-NRW 2021) hingewiesen werden. Diese besteht darin, dass existierende Vorurteile und Diskriminierungen aktualisiert werden, da die Betonung des jeweiligen Merkmals (hier: der Herkunft) die gesellschaftliche Dichotomisierung in ein »Wir« und ein »Ihr« bestätigt. Das folgende Zitat verweist außerdem darauf, dass sexuelle Identitäten vage angesprochen werden und gleichzeitig eine Abgrenzung der Fachkraft gegenüber LSBT*-Personen in der Maßnahme vorgenommen wird: »(…) ich denk, man könnte besser auf so Leute eingehen.« In beiden Fällen spielt die Reproduktion entsprechender Stereotype eine tragende Rolle. Vereinzelt wurden von den Fachkräften auch im Kern diskriminierende, stereotype Vorstellungen geäußert, etwa die, dass Homosexualität unter Geflüchteten kein Thema sei. Dieser Umstand verkennt jedoch die Tatsache, dass gerade Homosexualität und die damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen einen Fluchtgrund darstellen können.

LSBT* und Diskriminierung als unscharfe Themenkomplexe LSBT* und Diskriminierungserfahrungen werden in der Einrichtung noch nicht zusammengedacht und tauchen daher zumeist als diffuse Phänomene auf. Hierfür sind mindestens zwei Erklärungsansätze denkbar: Zum einen scheinen sich die Professionellen beim Thema LSBT* nur wenig auszukennen. Mehrfach haben Fachkräfte in unseren Gesprächen Ausdrücke verwendet, die auf Wissensdefizite und Unsicherheiten im Umgang mit LSBT*-spezifischen Phänomenen schließen lassen. So wurde beispielsweise über eine Transition als einem »Umbauen-Lassen« gesprochen:

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

»Also auch dieser- dieser junge MANN, der- nee, dieses junge M- nee, vom Mann zur Frau hat er sich ja umbauen lassen.« Mit einem solchen Wording werden nicht nur zentrale Aspekte der Lebensrealität und der spezifischen Erfahrungen von LSBT*-Personen verkannt: vielmehr wird – wenngleich, so unsere Einschätzung, in der Regel unbeabsichtigt – damit Diskriminierung qua Sprache überhaupt erst in den Diskurs eingebracht und in diesem dann stetig reproduziert (vgl. Butler 1991, 1995). Zum anderen offenbart sich eine Leerstelle bei konkreten Angeboten für Teilnehmer*innen sowie Fortbildungsangeboten für Fachkräfte, in denen das Thema LSBT* aufgegriffen wird. Deshalb scheint es in erster Linie von der Eigeninitiative der Fachkräfte abzuhängen, ob und inwiefern der Thematik überhaupt Raum und Gehör geschenkt wird. Der Diskriminierungsbegriff als zentrales Moment unseres Forschungsprojekts tritt in den Aussagen der Fachkräfte als unzureichend geschärft auf, vielfach wird er mit Mobbing gleichgesetzt, was einer zielführenden Bearbeitung entgegensteht, die vor allem an der strukturellen Ebene der Einrichtung ansetzen müsste. Ein entschiedenes Eintreten für ein antidiskriminierendes Miteinander konnte während der Erhebung nicht festgestellt werden.

Fazit Aus unserer im Kontext eines Trägers der Jugendberufshilfe des Übergangssystems durchgeführten Erhebung zur Situation von LSBT*-Jugendlichen hinsichtlich diskriminierender Erfahrungen und Bildungsbenachteiligung lassen sich folgende Punkte festhalten: •



Da es im Rahmen der Untersuchung keine Möglichkeit gab, junge LSBT*Personen zu ihrer Situation im Übergangssystem zu befragen, kann die Studie über besondere Bedarfe dieser Personengruppe aus Eigensicht keine Auskunft geben. Allerdings wurde deutlich, dass durchaus von einer strukturellen Benachteiligung von LSBT*-Menschen gesprochen werden kann. Drehund Angelpunkt dieser Feststellung ist, dass geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Einrichtung kaum auftaucht, quasi unsichtbar bleibt und auch insofern nicht zum Thema werden kann, als die Einrichtung weiter einem binären Geschlechter- und Sexualitätsverständnis verhaf-

221

222

Ulrike Zöller/Tabea Hust









tet ist. Dieses Geschlechter- und Sexualitätsverständnis sollte kritisch beleuchtet werden, da es auf ein heteronormatives Muster verweist und damit die Gefahr besteht, dass die heteronormative Struktur über die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt der LSBT*-Personen gestellt wird, was diskriminierende Praxen auslöst. Eine Auseinandersetzung mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt setzt voraus, dass in der Einrichtung Strukturen vorhanden sind, die anerkennende Praxen im Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt signalisieren. Insofern konnten im Rahmen der Untersuchung auch keine unterstützenden Maßnahmen für LSBT*-Personen beobachtet werden. Im alltäglichen Miteinander – also jenseits der im Handbuch für Mitarbeitende postulierten Haltung – bleibt eine klare Positionierung der Einrichtung für eine diverse Gesellschaft aus und ebenso wenig findet sich eine solche flächendeckend in der Haltung der Teilnehmer*innen wieder. LSBT*-Personen setzen sich dem Risiko aus, diskriminierende Praktiken erleben zu müssen und vor Ort wenig Unterstützung zu erfahren, wenn sie sich für ihre eigene Sichtbarmachung entscheiden. Themenkomplexe wie LSBT* offenbaren Unsicherheiten aufseiten der Professionellen (Stichwort: Welches Pronomen verwende ich für eine trans* Person?). Generell scheint die Einsicht in die Notwendigkeit, sich im Rahmen einer professionellen Fachlichkeit offen mit Themen wie Geschlecht und Sexualität auseinanderzusetzen, gerade in puncto LSBT*Menschen noch gering ausgeprägt zu sein. Diesbezügliche Wissensdefizite und eine hohe Arbeitsbelastung sind mögliche Erklärungen hierfür. Gleichzeitig sorgen diese Faktoren wohl auch dafür, dass Konflikte mit LSBT*-Personen oftmals auf der Ebene des Individuums verhandelt werden, anstatt sie als Ausdruck struktureller Diskriminierung zu verstehen. In der Folge leistet diese allgemeine Verunsicherung in zweierlei Hinsicht (auch sprachlicher) Diskriminierung Vorschub: Entweder werden Begrifflichkeiten verwendet, die dem Identitätsempfinden der Betroffenen nicht gerecht werden – das heißt, es wird in einer Weise über sie gesprochen, die nicht anerkennend ist –, oder das Phänomen kommt erst gar nicht zur Sprache, sondern wird grundsätzlich totgeschwiegen und damit als Teil der Lebensrealität ausgeblendet. Beide Umgangsformen verweisen auf ein strukturelles Problem, das einer menschenrechtlich basierten antidiskriminierenden Haltung entgegensteht. Beobachtet werden konnte, dass es in der Einrichtung Menschen bedarf, die beispielhaft für das Thema LSBT* stehen und dafür sorgen, dass

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche



LSBT* in der Einrichtung thematisiert wird. Fehlt der konkrete Anlass, so ist das Themenfeld im Alltag weitestgehend unsichtbar. Sollte Sichtbarkeit doch möglich sein, laufen LSBT*-Personen Gefahr, exotisiert zu werden, statt dass sie hinsichtlich ihrer vielfältigen Bedürfnislagen wahrgenommen, empowert und anerkannt werden. Nach Norbert Herriger (2017: o. S.) ist Empowerment ein »programmatisches Kürzel für eine psychosoziale Praxis, deren Handlungsziel es ist, Menschen das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster solidarischer Vernetzung erproben können«. Damit ein in diesem Sinne verstandenes Empowerment umgesetzt werden kann, braucht es Zeit für die Entwicklung von Möglichkeitsräumen, in denen sich in einer anerkennenden Weise Praxen hinsichtlich geschlechtlicher Vielfalt etablieren können. Die Beförderung der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen wird in der untersuchten Einrichtung als Notwendigkeit erachtet (s. Frauenbeauftragte). Der diesbezüglich verfolgte Ansatz bleibt aber dem binären Denksystem verhaftet. Eine Erweiterung der Frauenförderung hin zur geschlechtlichen Vielfalt, die aktiv Maßnahmen zur Eindämmung aller Diskriminierungsformen etabliert, zum Beispiel im Rahmen der Einrichtung einer Beschwerdestelle, ist in der Einrichtung derzeit noch nicht angedacht.

Die Frage, ob LSBT*-Jugendliche im Bereich des Übergangssystems Diskriminierung erfahren, muss im Falle der exemplarisch untersuchten Einrichtung bejaht werden. Wenngleich während unserer Erhebungen wenig ausdrücklich LSBT*-feindliche Handlungen stattgefunden haben, wurde deutlich, dass LSBT*-Personen vor allem institutionell benachteiligt sind und der Schutzauftrag gegenüber ihnen in der Einrichtung noch umgesetzt werden muss. Nimmt die Einrichtung die Aufgabe an, geschlechtliche Vielfalt in einer anerkennenden Weise sichtbarer zu gestalten, dann kann sich das förderlich auf die Qualität der Maßnahmen, die Zufriedenheit der Teilnehmer*innen und die Entwicklung des Trägers der Maßnahmen auswirken. Denken wir die im Zuge des Forschungsprojekts gewonnenen Befunde weiter, so ergeben sich hieraus Implikationen für die (sozial)pädagogische Praxis. Im Übergangssystem kreuzen sich multiple Problemlagen, die alle Beteiligten vor große Anforderungen stellen. Die Handlungsempfehlungen, die

223

224

Ulrike Zöller/Tabea Hust

sich daraus ergeben, diskutieren wir im letzten Beitrag des vorliegenden Bandes.

Literatur Albert, M./Hurrelmann, K./Quenzel, G. 2019: Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie: Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim: Beltz. Amann, K./Hirschauer, S. 1997: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Dies. (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-52. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020a: Themen und Forschung: Sexuelle Identität. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUn dForschung/Sexuelle_Identitaet/Sexuelle_Identitaet_node.html [Zugriff: 20.02.2021]. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020b: Allgemeines Gleichstellungsgesetz (AGG). https://www.antidiskriminierungsstelle.de/ [Zugriff: 30.09.2020]. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-sei t-2006/bildungsbericht-2016 [Zugriff: 06.05.2022]. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2022: Europäischer Sozialfonds. Hintergrundinformation. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/europaeischersozialfonds-72704 [Zugriff: 05.04.2022]. Butler, J. 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, J. 1995: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag. Czollek, L./Perko, G./Czollek, M./Kaszner, C. 2019: Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. 2. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Deutsches Institut für Menschenrechte 2021: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/theme n/sexuelle-orientierung-und-geschlechtsidentitaet [Zugriff: 14.02.2021]. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2022: Gesellschaft und Teilhabe. Schutz vor Diskriminie-

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

rung. https://www.integrationsbeauftragte.de/ib-de/ich-moechte-mehrwissen-ueber/schutz-vor-diskriminierung [Zugriff: 14.02.2022]. Ehlert, M./Holtmann, A. C./Menze, L./Solga, H. 2018: Besser als ihr Ruf. Übergangsmaßnahmen erhöhen Ausbildungschancen bei leistungsschwachen Jugendlichen. In: WZB-Mitteilungen, 162, S. 41-43. Fuchs, P./Gellermann, J. 2021: »Bevor ich den Müll hier weitermache, gehe ich lieber arbeiten.« Entkoppelte Jugendliche in Maßnahmen des Übergangssystems. Deutungen und Entwicklungen. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 4, S. 282-297. Genderkompetenzzentrum 2013: Geschlechterstereotype. https://www.gend erkompetenz.info/genderkompetenz-2003-2010/gender/Stereotype/gesc hlechterstereotype.html [Zugriff: 05.03.2022]. Heeg, R./Schaffner, D./Steiner, O. 2020: Partizipative Forschung, partizipative Aktionsforschung und die Frage nach Qualitätskriterien. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Sonderheft 16, S. 24-26. Herriger, N. 2017: Grundlagentext Empowerment. https://www.empowerme nt.de/grundlagen/ [Zugriff: 20.02.2021]. IDA-NRW – Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 2021: Stichwort: »Essentialisierung«. http s://www.ida-nrw.de/glossar-eintraege/glossardetail?tx_dpnglossary_glo ssary%5Baction%5D=show&tx_dpnglossary_glossary%5Bcontroller%5D= Term&tx_dpnglossary_glossary%5Bterm%5D=13&cHash=6e9c8f2bf7dbad 66e03e5a702e475f0b [Zugriff: 27.11.2021]. Kleiner, B. 2015: subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans* Jugendlicher. Opladen: Barbara Budrich. Klocke, U. 2016: Homophobie und Transphobie in Schulen und Jugendeinrichtungen: Was können pädagogische Fachkräfte tun? https://www.vielf alt-mediathek.de/material/homo-trans-und-interfeindlichkeit/homopho bie-und-transphobie-in-schulen-und-jugendeinrichtungen-was-koenne n-paedagogische-fachkraefte-tun_ [Zugriff: 07.04.2022]. Knoblauch, H./Vollmer, T. 2019: Ethnographie. In: Baur, N./Blasius, J. (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 599-617. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Ein DJIForschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexu-

225

226

Ulrike Zöller/Tabea Hust

ellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Krell, C./Oldemeier, K./Austin-Cliff, G. 2018: Queere Freizeit. Inklusions- und Exklusionserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und diversen* Jugendlichen in Freizeit und Sport. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Kugler, T./Nordt, S. 2015: Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Themen der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schmidt, F./Schondelmayer, A./Schröder, U. (Hg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden: Springer VS, S. 207-222. LesMigraS 2012: »… Nicht so greifbar und doch real«. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. https://lesmigras.de/wp-content/uploads/2021/11/DokumentationStudie-web_sicher.pdf [Zugriff: 27.11.2021]. Mayring, P./Fenzl, T. 2019: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Baur, N./Blasius, J. (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 633-648. Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie 2015: Landesgleichstellungsgesetz Saarland. https://www.saarland.de/msgff/DE/por tale/familiegleichstellung/famileleistungenaz/frauengleichstellung/land esgleichstellungsgesetz/landesgleichstellungsgesetz_node.html [Zugriff: 05.03.2022]. Politi, S. 2020: Was ist Mobbing und wie kann man es erkennen? In: Böhmer, M./Steffgen, G. (Hg.): Mobbing an Schulen. Maßnahmen zur Prävention, Intervention und Nachsorge. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19. Prengel, A. 2013: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Barbara Budrich. Sielert, U./Timmermanns, S. 2011: Expertise zur Lebenssituation schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland. Eine Sekundäranalyse vorhandener Untersuchungen. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/lite ratur/24461-expertise-zur-lebenssituation-schwuler-und-lesbischer-juge ndlicher-in-deutschland.html [Zugriff: 20.02.2021]. Skrobanek, J. 2015: Ethnisierung von Ungleichheiten. Disparitäten, Benachteiligungswahrnehmung und Selbstethnisierungsprozesse im Übergang Schule – Ausbildung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

»Wir wollen nicht diskriminieren«. Perspektiven auf LSBT*-Jugendliche

Statista 2022: Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedstaaten im Februar 2022. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/7 4795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/ [Zugriff: 06.05.2022]. Staudenmeyer, B./Kaschuba, G./Barz, M./Bitzan, M. 2016: »Ein Glücksgefühl, so angesprochen zu werden, wie ich bin.« Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung in der Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Stuttgart: Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg. https://sozialministerium.baden -wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Pu blikationen/ZPJ_Studie_Vielfalt_LSBTTIQ_ Jugendarbeit.pdf [Zugriff: 24.08.2022]. Unger, H. v. 2014: Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS.

227

III Jugendarbeit und berufliche Bildung:  Erkenntnisse aus benachbarten Bereichen

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken … Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Die Jugendzeit ist für die biografische Entwicklung von queeren Orientierungen und Lebensweisen eine entscheidende, oft weichenstellende Phase (s. Nestler/Brodersen/Brück in diesem Band). In ihr entwickeln sich geschlechtliche Verortungen, werden Begehrensweisen und Sexualitäten ausprobiert oder aber unterdrückt (vgl. Sielert 2015: 97ff.). In den letzten Jahren nehmen Jugendliche zunehmend neue Selbstdefinitionen für sich in Anspruch, die aus dem heteronormativen Schema ausbrechen und auch fluide Selbstkategorisierungen möglicher werden lassen. Ein anerkennendes und sicheres Umfeld ist für junge LSBTIQ*-Menschen1 in dieser Entwicklungsphase wichtig. Jugendarbeit als Ort sanktionsfreier Begegnung, Anregung und Bildung kann ein entscheidendes Zwischenglied sein zwischen den formalisierten, zielgerichteten (und zwangszusammengesetzten) Formen der Schule und des Ausbildungssektors. In diesem Beitrag gehen wir den Fragen nach: Wie kann Jugendarbeit ihr Angebot (nicht nur) für queere Jugendliche attraktiv gestalten? Welche Entwicklungslinien finden sich in Theorie und Praxis geschlechterreflektierender Jugendarbeit? Welche Spannungsfelder sind aktuell zu beobachten? Welche Anforderungen an Qualität zeigen sich? Wir beziehen uns auf Jugendarbeit in ihrer ganzen Breite (offene Kinderund Jugendarbeit, verbandliche sowie mobile Jugendarbeit, Jugendarbeit an der Schule/Schulsozialarbeit) und halten es für unabdingbar, dass in weiteren Feldern der Jugendhilfe Erkenntnisse zur Berücksichtigung der geschlechtlichen Vielfalt und sexuellen Orientierung aufgenommen und weiterentwickelt werden. Insbesondere können Angebote und Maßnahmen im Übergangssystem profitieren von den bereits validierten Erkenntnissen

1

Zu den Begriffen und Bezeichnungen s. Kasten mit Erklärungen bei Bitzan/Schirmer in diesem Band.

232

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

und Erfahrungen aus der Jugendarbeit. Unsere Ausführungen stützen sich auf Untersuchungen und Texte zur sich entwickelnden Praxis, auch auf unsere eigenen Arbeiten im Forschungsinstitut tifs e. V., und sind geprägt von unserer Geschichte der wissenschaftlichen Begleitung feministischer Mädchenarbeit und Gender-Fortbildungsarbeit für Fachkräfte – in einem intersektionalen Verständnis. In den letzten zehn Jahren entstand ein deutlich erweitertes Forschungswissen über queere Lebensweisen und damit verbundene herausfordernde Lebenssituationen sowie deren Berücksichtigung in der Jugendarbeit.2 In anderen Feldern ist dies noch sehr viel weniger der Fall – etwa in der Jugendsozialarbeit, zu der auch die Jugendberufshilfe (als Teil des Übergangssystems) zählt, und in den Hilfen zur Erziehung. Wir vertiefen im Beitrag die folgenden Thesen: •



Entwicklungslinien und Spannungsfelder: Der Diskurs zu queerer Jugendarbeit muss auf Erkenntnissen aus der geschlechterreflektierenden Jugendarbeit (insbesondere der feministischen Mädchenarbeit), aber auch aus weiteren diskriminierungskritischen, soziale Ungleichheit reflektierenden Ansätzen aufbauen, statt diese ›hinter sich‹ zu lassen. Sichtbarkeit und Anerkennung von Vielfalt bleibt dabei die größte Herausforderung für die gesamte Jugendarbeit und gilt nicht nur für die ›besonderen Zielgruppen‹. Qualitätskriterien: Es braucht Qualitätskriterien einer queeren Jugendarbeit im Kontext gender- und diversitätsbewusster Konzepte. Diese sind nicht nur auf die pädagogische Prozess-, sondern auch auf die gesellschaftspolitische und die institutionelle Ebene bezogen zu entwickeln.

Die Weiterentwicklung der Jugendarbeit steht heute vor allem unter dem Gebot der Kritik an und Politisierung von heteronormativen gesellschaftlichen Verhältnissen und deren konzeptioneller Reflexion für die praktische Arbeit (zur Heteronormativitätskritik s. Bitzan/Schirmer in diesem Band). Damit

2

Ein Beispiel: Gaupp/Krell (2014). Auch gibt es Fachstellen queerer Jugendarbeit in einigen Bundesländern, zum Beispiel die Landesfachstelle Hessen »Queere Jugendarbeit«, die Fachstelle Queere Jugend NRW, Queerformat – Fachstelle Queere Bildung in Berlin, um hier nur einige zu nennen, sowie die queeren Landesnetzwerke, die meistens auch Jugendgruppen haben.

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

wird die bisherige feministische Analyse der patriarchalischen Geschlechterordnung, aus der heraus sich massive Kritik an einer geschlechts›neutralen‹ und damit geschlechterignoranten Jugendarbeit entwickelte, vertieft und erweitert. Auf der praktischen Seite bedeutet dies, in der Jugendarbeit nicht nur systematisch Lebensweisen und -bedürfnisse von Mädchen und Jungen zu beachten, sondern darin verstärkt etwa sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten systematisch mitzuberücksichtigen. Bevor wir auf Qualitätskriterien eingehen, die eine Systematik und Orientierung für die Praxis bieten können, gehen wir auf zentrale Spannungsfelder ein und konzentrieren uns auf Entwicklungen der feministischen Arbeit und aktuelle Herausforderungen aus einer queeren Perspektive. Weitere Ungleichheitsverhältnisse verfolgen wir an dieser Stelle nicht systematisch, behalten sie jedoch mit der hier nicht näher ausgeführten Bezeichnung ›diversitätsbewusst‹ im Blick. Wegen des von uns in diesem Beitrag gesetzten Fokus sprechen wir auch von gender- und diversitätsbewusster Jugendarbeit, die wir als Rahmen für queere Konzepte und Angebote denken.

1.

Entwicklungslinien und Spannungsfelder

›Queere Jugendarbeit‹ stellt in der konflikthaften Geschichte geschlechterreflektierender Jugendarbeit, die Ende der 1970er Jahre in Westdeutschland mit den ersten emanzipatorischen Angeboten für Mädchen ihren Ausgang genommen hat, eine neue – hauptsächlich aus unterschiedlichen queeren Bewegungen an die Jugendarbeit herangetragene – Herausforderung dar. Feministische oder auch parteilich genannte Mädchenarbeit entwickelte über die Jahre eine gut ausgebaute (jedoch finanziell immer knapp gehaltene) Infrastruktur für Mädchen* und vernetzte sich zunehmend in Landes- und Bundesstrukturen. Ihre wichtigsten Prinzipien wie Autonomie, Parteilichkeit, Partizipation, geschlechtshomogene Räume und stärkende Strukturen und Begegnungen (Empowerment) bilden eine wichtige Grundlage für alle Weiterentwicklungen geschlechterreflektierender Arbeit: Ausgehend davon, dass Mädchen in der Jugendarbeit (und in der Gesellschaft allgemein) zu wenig gesehen, anerkannt, gehört werden, war es den Protagonistinnen wichtig, einen Rahmen zu schaffen, in dem es Mädchen möglich wurde, über sich selbst zu sprechen, sich auszutauschen und laut zu werden – den Mädchen eine Stimme zu geben. Das ging nur durch die Abgrenzung von den gemischtgeschlechtlichen Settings, die in der Regel von Jungen geprägt

233

234

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

waren (vgl. das erste deutschsprachige Buch zur feministischen Mädchenarbeit Savier/Wildt 1978). Geschlechtshomogene Räume dien(t)en dem Schutz vor Übergriffen und zugleich der Wahrnehmung der Vielfalt unter Mädchen. Ebenso entwickelten sich Ansätze interkultureller Mädchenarbeit, die – bei aller notwendig werdenden Kritik an kulturellen Zuschreibungen – eine erste Parteilichkeit für nichtdeutsche Mädchen* beförderten. Seit den 2000er Jahren ermöglichten es Konzepte wie Critical Whiteness und Empowerment, Rassismus und Sexismus in ihrer Verschränkung für die geschlechterreflektierende Mädchenarbeit zu reflektieren und dementsprechende Angebote zu entwickeln – jenseits einer Problemorientierung (vgl. Arapi 2014; Yiligin 2010). Der zunächst für die Legitimation der besonderen Unterstützung von LSBTIQ*-Zielgruppen an Problemen orientierte Zugang wird in jüngerer Zeit abgelöst durch Forschungen zu Ressourcen und Resilienzpotenzialen von queeren Jugendlichen und zu heterosexuellen Normierungsprozessen (Überblick zum Beispiel bei Timmermanns/Thomas 2021). Mit diesen neueren Forschungen ist deutlich geworden, inwiefern Menschen mit nichtheterosexuellen Orientierungen und nicht cisgeschlechtlichen Identitäten weiterhin Diskriminierung, Ignoranz und Missachtung ausgesetzt sind (stellvertretend für inzwischen einige Untersuchungen dazu Krell/Oldemeier 2017; Hessischer Jugendring 2017) und inwiefern sich Wahrnehmungsweisen verändern müssen (vgl. Studien zu LSBTIQ*-Jugendlichen in Freizeit und im Sport zum Beispiel in Niedersachsen LJR/Uni Göttingen 2018; die DJI-Studie Krell/Oldemeier 2018). Der Studie von LesMigras (2012) kommt das Verdienst zu, Mehrfachdiskriminierung und ihre gravierenden Auswirkungen auf die subjektiven Potenziale der Bewältigung und des Coming-outs zu fokussieren. Was bedeutet dies für die Jugendarbeit? Feministische Mädchenarbeit und eine sich im Dialog mit ihr entwickelnde geschlechterreflektierende kritische Jungenarbeit trieben die Jugendarbeit insgesamt mit mehr oder weniger Erfolg vor sich her, um die geschlechterreflektierte Qualifizierung der Fachkräfte und Ehrenamtlichen zu befördern.3 Sie bereiteten einen fachlichen Boden, auf dem es in den letzten Jahren allmählich möglich wurde, in

3

Die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/91 (SGB VIII) und die Verankerung von Gender Mainstreaming in den Kinder- und Jugendplanrichtlinien 2001 machten die Forderungen der Praxis geschlechterreflektierender Jugendarbeit gesetzlich verbindlich.

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

selbstorganisierten Initiativen artikulierte queere Bedürfnisse in der professionellen Jugendarbeit wahrzunehmen und erste Angebote einzurichten. Mit dem Anspruch an die Jugendarbeit, für Jugendliche aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen ein ›guter‹ Ort zu sein, stellen sich also neue Herausforderungen angesichts aktueller (oben angesprochener) theoretischer Diskurse, verstärkter Sichtbarkeit von selbstorganisierten Initiativen und sozialpolitischer und rechtlicher Veränderungen. »Als ein dynamischer und vielschichtiger Begriff steht Queer für eine identitäts- und machtkritische Auseinandersetzung mit dem Themengebiet ›Sexualität und Geschlecht‹.« (Hartmann 2013: 267) Bei der Weiterentwicklung der Jugendarbeit geht es wesentlich um die Anerkennung vormals ausgeschlossener Existenzweisen und insofern um weitere Perspektiven und Angebote im gesamten Feld der Jugendarbeit. Es lässt sich bilanzieren, dass die Notwendigkeit, queere Perspektiven in der Jugendarbeit systematisch zu denken, allmählich im Diskurs ankommt,4 was neue Horizonte eröffnet, aber auch viele Fragen wirft. Dabei sind ähnliche Spannungsfelder zu beachten, wie sie schon aus der bisherigen geschlechterreflektierenden Arbeit bekannt sind. Vier durchaus geschichtsträchtige Spannungsfelder thematisieren wir im Folgenden.

1.1

Doppelstrategie

Feministische Mädchenarbeit wurde lange Zeit als ›Besonderung‹, als Zusatzangebot gesehen. Bis heute ist der Anspruch einer allgemeinen, durchgängig geschlechterreflektierenden Jugendarbeit nicht umfassend eingelöst worden. Im gleichen Spannungsfeld findet sich die queere Jugendarbeit wieder. Unsere wissenschaftliche Evaluation der Jugendarbeit in Baden-Württemberg musste einen eklatanten Mangel sowohl an Angeboten, die sich explizit an LSBTTIQ-Jugendliche5 richten, als auch an Heteronormativität reflektierenden Konzepten und Strukturen in der Jugendarbeit allgemein feststellen (Staudenmeyer et al. 2016). Sie hat damit Ergebnisse

4

5

Das aktuelle Handbuch der Offenen Jugendarbeit (2021) steuert drei Aufsätze zum Thema bei und acht weitere zur Reflexion von Differenz und Gender (vgl. Deinet et al. 2021). Auch gibt es zunehmend Angebote zur Weiterqualifizierung für Fachkräfte. ›LSBTTIQ‹ ist das offizielle Kürzel des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg, mit dem im Rahmen der Studie zusammengearbeitet wurde.

235

236

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

aus anderen Untersuchungen bestätigt (zum Beispiel Gaupp/Krell 2014; Mößbauer/Unterforsthuber 2011). In Bezug auf die damals noch wenig vorhandenen – auch in diese Studie aufgenommenen – Angebote für queere Jugendliche wird deutlich, dass sie »zum größten Teil aus der LSBTTIQ-Community selbst [kommen], gefolgt von der feministischen und antisexistischen Jugendarbeit […]. In der sonstigen Jugend(sozial)arbeit sind kaum Angebote verankert. Die bestehenden Angebote stehen vor zahlreichen Problemen und Herausforderungen, insbesondere im Hinblick auf die finanziellen und personellen Ressourcen. Ein großer Teil der Angebote wird ehrenamtlich geleistet.« (Staudenmeyer et al. 2016: 4) Auch Groß (2021: 872) kommt aktuell zu dem Schluss, dass in der offenen Jugendarbeit queer immer noch »relativ unsichtbar« sei. Während in der Mädchenarbeit (etwa den Mädchentreffs) den unterschiedlichsten Zielgruppen oft große Sensibilität entgegengebracht werde, fehle dies noch weitgehend in der gemischtgeschlechtlichen Jugendarbeit. Selbstorganisation (und damit verbunden die ehrenamtliche Arbeit) beinhaltet für die Aktiven zwar eine große Gestaltungsfreiheit. Doch erst eine queerbewusste Professionalisierung und Finanzierung in der Jugendarbeit kann institutionelle Strukturen sicherstellen (vgl. Gentsch/Splitt 2021: 566). Damit wird auch hier – wie in der Geschichte der geschlechterreflektierenden Jugendarbeit – die Notwendigkeit einer Doppelstrategie deutlich: Die Etablierung expliziter Angebote für schwule, lesbische, trans* und/oder inter* Jugendliche muss flankiert werden von einer geschlechterreflektierenden, heteronormativitätskritischen Querschnittsperspektive, von der alle Jugendlichen in den Angeboten profitieren könnten. »Auch diejenigen Jugendlichen, die durch die Förderung der Anerkennung der Differenz zwischen sich und den Anderen erfahren, dass Lebensentwürfe plural und divers sind, können dadurch wichtige Bildungsprozesse erleben […].« (Groß 2021: 878)

1.2

Zwischen Thematisieren und De-Thematisieren

Ging es in den 1970er und 1980er Jahren zunächst vor allem darum, Mädchen – durchaus auch in ihrer Vielfalt – in der Jugendarbeit Raum zu geben, so wurde seit Ende der 1990er Jahre mit der Rezeption des Theoriekonzepts ›Doing Gender‹ und mit dem zunehmend sich durchsetzenden Verständnis von Geschlecht als Konstruktion (Gildemeister/Wetterer 1992) verstärkt auch

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

die damit einhergehende Problematik der Festschreibung durch geschlechterdifferenzierende Angebote diskutiert. Das Ziel dekonstruktivistischer Ansätze, Festschreibungen aufzulösen und gleichzeitig heteronormative geschlechtsbezogene Hierarchien in der Gesellschaft sichtbar zu machen, bringt es mit sich, dass die Spannung zwischen dem Thematisieren der Kategorien (Besonderung) und der Dekonstruktion (Normalisierung) nicht einseitig in eine Richtung auflösbar ist – beides ist wichtig (vgl. Busche et al. 2010). Mit der Konstruktion von (neuen) ›Zielgruppen‹ besteht die Gefahr, die strukturelle Dimension von Heteronormativität aus dem Blick zu verlieren, ohne sie besteht die Gefahr, die expliziten Bedarfe wieder zu übersehen (vgl. Schirmer 2017). Für die Praxis bedeutet dies, dass es eine erhöhte »Ambivalenzkompetenz« (Smykalla 2011: 242) braucht: Thematisieren der jeweiligen ›besonderen‹ Belange und zugleich De-Thematisieren einer besonderen Bedürftigkeit, um die Zielgruppe nicht erneut Stigmatisierungen und Stereotypisierungen auszusetzen. So werden sowohl ›gehaltene Rahmungen‹ (zum Beispiel als eigene Orte, als vor Diskriminierung geschützte Räume – safe spaces; vgl. Staudenmeyer et al. 2016) gebraucht als auch die allgemeine Kritik an den Benennungen, den Ver-Anderungen, die aus Geschlechterungleichheit und heteronormativen Verhältnissen resultieren. Daran knüpfen seit einigen Jahren queere Perspektiven in der Mädchen*- und Jungen*arbeit bzw. in der Jugendarbeit an.

1.3

Diversität der Zielgruppe

Zielgruppenorientierte, diversitätsbewusste Ansätze werfen weitere Fragen auf: Jugendliche aus dem Spektrum von LSBTIQ* haben nicht zwingend die gleichen Interessen und Bedürfnisse, auch wenn sie gegebenenfalls vergleichbare Diskriminierungserfahrungen machen und ähnliche Ängste in Bezug auf Anerkennung und Normalisierung teilen. Die Zusammenführung unter dem Stichwort ›queere Jugendarbeit‹ (für die Entwicklung in NordrheinWestfalen: Gentsch/Splitt 2021: 566) ist einerseits hilfreich in Bezug auf die Breite des Spektrums und die Offenheit der Angebote, andererseits wurden zunächst lesbische und schwule Jugendliche ›gesehen‹ und erst nach und nach die Bedürfnisse von trans* Jugendlichen mit aufgegriffen, während die Situation intergeschlechtlicher Jugendlicher noch kaum Berücksichtigung findet. Hier wie auch in anderen Bereichen, etwa der rassismuskritischen Arbeit, bleibt die Problematik virulent, dass ergänzend zum vorher genannten Spannungsfeld auch innerhalb der jeweiligen Kategorie die gleichen

237

238

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Herausforderungen zu beachten sind. Benennen ist mit der Gefahr von Festschreibungen und Ausschließungen verbunden, Nichtdifferenzieren verkennt je besondere Lebenssituationen und Bedürfnisse. Hinzu kommt der intersektional begründete übergreifende Anspruch, Mehrfachdiskriminierungen zu reflektieren. Praktisch können diese Differenzierungen nicht immer zugleich umgesetzt werden.6 Je nach Thema können immer nur bestimmte Kategorien in den Fokus gesetzt werden im gleichzeitigen Wissen um weit mehr Kategorien, die ebenso eine Rolle für die Subjekte und ihr In-der Welt-Sein spielen (vgl. zur intersektionalen Perspektive das Heft 4/2021 von Betrifft Mädchen; zum intersektionalen Dilemma institutioneller Weiterentwicklung vgl. Auma et al. 2019).

1.4

Queere Angebote UND Mädchen*- und Jungen*arbeit

Wegen der Gefahr diskriminierender Vereinheitlichungen vermeiden queere Angebote in der Jugendarbeit häufig Situationen, in denen eine eindeutige Zuordnung zu Geschlecht gefordert ist. So notwendig dieses Bemühen ist, darf es nicht gegen Mädchen*- und Jungen*arbeit ausgespielt werden. Vielmehr ist die Frage des anerkennenden Nebeneinanders und der offenen Zugänge (zum Beispiel, wer definiert, wie jemand zugeordnet wird?) wichtig. Einrichtungen der Mädchen- und auch der Jungenarbeit machen zunehmend kenntlich, dass sie heteronormative Orientierungen überschreiten (möchten), indem sie die Bezeichnungen Mädchen* und Jungen* wählen. So ist der Begriff ›Mädchen*arbeit‹ ein Produkt dekonstruktivistischer und queerfeministischer Rezeptionen (vgl. Pohlkamp 2010). Hier ist derzeit vieles in Bewegung und die Projekte der Mädchen*- und Jungen*arbeit experimentieren in den genannten Spannungsfeldern – abhängig von Träger, Verband, Zusammenschluss und den beschäftigten Personen. Wichtig sind dabei Verständnisse für die je historischen Kämpfe. Errungenschaften aus den Anstrengungen der geschlechterbewussten Jugendarbeit erscheinen angesichts der aktuell gelebten Wirklichkeit (und partiellen rechtlichen Anerkennung) von mehr als zwei Geschlechtern zu begrenzt. Das zeigte sich in jüngster Geschichte etwa im Ringen um den neuen Gesetzentwurf für das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. So sollte im ursprünglichen Entwurf die – 1990 erkämpfte – explizite Beachtung der Lebenslagen von 6

Hilfreich sind hier die konflikttheoretischen Überlegungen von Boger (2015) zum Trilemma der Inklusion.

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

›Mädchen und Jungen‹ wieder herausgenommen und durch ›junge Menschen‹ ersetzt werden. Eine solche Allgemeinformulierung hätte jedoch den alten patriarchalischen Entnennungen und Unsichtbarmachungen in die Hände gespielt. Durch das solidarische Eingreifen unterschiedlicher genderbezogener Lobbyorganisationen konnte das Spannungsfeld jedoch offengehalten und ein Gegeneinander-Ausspielen verhindert werden, wenngleich die nun formulierte Aufzählung vermeintliche Abgrenzungen suggeriert.7 Auch hier spiegelt sich das Spannungsfeld von ›Thematisieren und De-Thematisieren‹ von Kategorien wider. Solange in der Gesellschaft die Zweigeschlechtlichkeit als Ordnung der geschlechtshierarchischen Ungleichheitsverhältnisse sowie Heteronormativität nicht überwunden sind, solange brauchen wir Angebote für Mädchen* (zum Beispiel bieten Mädchen*cafes Räume für lesbische und trans* Mädchen an), für Jungen* und für verschiedene LSBTIQ*-Zielgruppen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass sie nicht essenzialisierend angelegt sind oder wirken. Zentral bleibt eine geschlechterreflektierende und heteronormativitätskritische Perspektive in allen Angeboten. Das bedeutet auch, dass sich Mädchen*- und Jungen*arbeit stärker heteronormativitätskritisch positionieren sollten (vgl. zur Jungenarbeit Rieske 2015; für die Mädchenarbeit zum Beispiel Pohlkamp 2010). Resümierend können wir aus der Geschichte und aktuellen Weiterentwicklung der feministischen Mädchen*arbeit bzw. der geschlechterreflektierenden Jugendarbeit lernen: •

Notwendig ist die Etablierung einer heteronormativitätskritischen Doppelstrategie, die einerseits gezielt (jeweils) LSBTIQ*-Jugendliche bzw. Mädchen* und Jungen* adressiert und die andererseits eine systematische gender- und diversitätsbewusste Querschnittsperspektive in der gemischten Jugendarbeit verfolgt.

7

Nun heißt es in § 9 KJGS Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von jungen Menschen: »a) In der Überschrift werden die Wörter ›Mädchen und Jungen‹ durch die Wörter ›jungen Menschen‹ ersetzt. b) Nummer 3 wird wie folgt gefasst: ›3. die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern.‹« (BGBl. 2021: 1446, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start= //*%5B@attr_id=%27bgbl121s1444.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id% 3D%27I_2021_29_inhaltsverz%27%5D__1652826778436 [letzter Zugriff 08.06.2022])

239

240

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba







2.

Verschiedenheit und Vielfalt sollen übergreifend und allgemein gedacht werden, sonst bleibt ›Vielfalt‹ ein Merkmal der ›anderen‹, ist also wieder eine Besonderung, die unterm Strich die heteronormative Normalität bestärkt. Gebraucht werden intersektionale Perspektiven, die Geschlechterfragen mit weiteren Diskriminierungsdimensionen zusammendenken und Zielgruppen vielfältig ansprechen (vgl. Bitzan 2020; Plößer 2021; Arapi 2014; Yiligin 2010). Normative und festschreibende Effekte der Benennung von Differenz sind gegenüber der gleichzeitig notwendigen Anerkennung von Verschiedenheit jeweils sensibel auszuloten.

Qualitätskriterien für eine genderund diversitätsbewusste Jugendarbeit

Diskurse zur Qualitätsentwicklung ließen lange Zeit die Geschlechterperspektive weitgehend außer Acht. Die feministische Mädchenarbeit setzte hier Ende der 1990er Jahre wichtige Akzente (zum Beispiel von den verschiedenen Landesarbeitsgemeinschaften Mädchenpolitik). Im Gender-Bildungs- und -Trainingsbereich – auch in der rassismuskritischen Weiterbildung – startete vor allem nach der Jahrtausendwende eine Auseinandersetzung mit dem Qualitätsdiskurs (vgl. etwa Kaschuba 2004; Landesbeirat der Weiterbildung in Rheinland-Pfalz 2003; Leiprecht 2002). Deutlich hervorgehoben wurde: Qualitätskriterien sind sinnvoll und wichtig, sie müssen aber kontextbezogen und prozessorientiert formuliert werden. Denn: Qualität ist keine unveränderliche Größe, sie braucht Diskussion und Veränderung. Das bedeutet auch: Neben Ergebniszielen, die sich auf das Produkt einer Dienstleistung beziehen, braucht es Prozessziele (vgl. Heiner 1996), die den Vorgang beleuchten, der zum Ziel führt. Eine solchermaßen angelegte Qualitätsentwicklung zielt darauf ab, in verschiedenen Institutionen die Perspektiven von »Kund*innen« bzw. Adressat*innen (zum Beispiel in der Jugendarbeit die Jugendlichen) und »Produzent*innen« (zum Beispiel Trainer*innen, Sozialarbeiter*innen) differenziert in den Blick zu nehmen (vgl. Kaschuba 2004). Qualität bezieht sich – so die allgemeine Definition – auf die Dimensionen der Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität, die die Grundlage für die jeweiligen Qualitätskriterien in Institutionen und Verbänden bilden (vgl. Heiner 1996).

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

In der Qualitätsdiskussion wird zunehmend eine mangelnde fachliche Ausrichtung konstatiert, es herrschte lange Zeit die Orientierung an quantitativen Standards und Gütesiegeln vor (vgl. Herrmann/Müller 2019).8 Umso wichtiger ist es, die Kriterien inhaltlich und fachlich rückzubinden. In BadenWürttemberg beispielsweise (wie auch in anderen Bundesländern) wirkt der Aktionsplan »Für Akzeptanz & gleiche Rechte«, der auf das Engagement von Akteur*innen der LSBTTIQ-Community zurückzuführen ist, unterstützend für die Entwicklung von inhaltlichen Qualitätskriterien. Auch sind mittlerweile einige Leitfäden entstanden, die sich implizit, manchmal auch explizit an Qualitätskriterien orientieren, die durch Evaluationen und Studien herausgearbeitet wurden.

2.1

Gesellschaftliche Akzeptanz für Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung

Die im Folgenden formulierten Qualitätskriterien für eine queere, genderund diversitätsbewusste Jugendarbeit basieren auf unseren eigenen Arbeiten9 , dem Diskurs zu Qualität in der Sozialpädagogik im Allgemeinen (zum Beispiel Heiner 1996; Herrmann/Müller 2019) und im Besonderen auf den in der queeren Bildungs- und Jugendarbeit entwickelten Qualitätsstandards (vgl. etwa Bundesverband Queere Bildung 2021).10 Sie werden sowohl bezogen auf gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen mit dem Ziel einer Akzeptanz für Vielfalt als auch auf eine institutionelle Implementierung hin beschrieben. Daran knüpft die Formulierung von Kriterien für die Angebote für Jugendliche an. Anschließend diskutieren wir die – durchaus ambitionierte – Erfassung von Wirkungen im Feld der Jugend- und Bildungsarbeit.

8 9

10

Seit dem 01.01.2012 müssen öffentliche Träger eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe nach Anforderungen des § 79a SGB VIII gewährleisten. Etwa auf der Studie zur LSBTTIQ-Jugendarbeit (Staudenmeyer et al. 2016), der Wirkungsanalyse der Genderqualifizierungsoffensive der LAG Mädchen*politik und des Netzwerks LSBTTIQ (Kaschuba 2020) sowie der daran anschließenden Formulierung von Empfehlungen von Expert*innen zur Implementierung einer gender- und diversitätsbewussten queeren Jugend(sozial)arbeit in Baden-Württemberg (zusammen mit Jessica Wagner von der LAG Mädchen*politik) und auf der langjährigen Beschäftigung mit dem Thema Qualität für Gender-Trainings (Kaschuba 2004). Die vom Bundesverband Queere Bildung formulierten Qualitätsstandards gelten für die Arbeit der Mitglieder in der Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit an Schulen sowie Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

241

242

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Zentrale Qualitätskriterien bezogen auf die gesellschaftspolitische Ebene sind:

Verstetigung und Ausbau Die zentrale Aufgabe der Implementierung einer queeren Querschnittsperspektive beinhaltet zugleich auch die Empowerment-Arbeit innerhalb queerer, gender- und diversitätsbewusster Jugendarbeit in ›safe spaces‹ (sicheren Räumen) bzw. ›safer spaces‹ zu stärken. Wesentliches Qualitätskriterium ist also eine Doppelstrategie. Dafür ist eine grundlegende Finanzierung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene notwendig, die über eine projektbezogene Finanzierung hinausgeht und keiner starren Förderlogik folgt. Es geht um die Sicherung bestehender Angebote der queeren Jugendarbeit und die Anregung neuer. Die Implementierung einer Querschnittsperspektive in allen Bereichen der Jugendhilfe kann über Anreize für eine queere und somit auch genderund diversitätsbewusste Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit aufseiten der Verbände – etwa auf Landesebene – gelingen (zum Beispiel Anschubfinanzierung durch die Länder). Wichtig sind Räume und Anlaufstellen sowie eine kommunale Förderung der Jugendgruppen.

Verankerung einer queeren Querschnittsperspektive in der Ausund Fortbildung von Fachkräften Es zeigt sich immer wieder, dass ›queer‹ als Thema noch wenig in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften vorkommt – außer in einzelnen expliziten Fortbildungen. Vorgaben bzw. Programme und Finanzierungsmöglichkeiten auf Länderebene wären eine wichtige Grundlage für eine Implementierung einer gender- und diversitätsbewussten, queeren Querschnittsperspektive in Fortbildungen und deren flächendeckende Umsetzung.11

2.2

Institutionelle Implementierung

Institutionenbezogene Qualitätskriterien für die queere Jugendarbeit können zur Erweiterung der Perspektiven von Fach- und Führungskräften beitragen.

11

Es gilt, eine Verankerung queerer Ansätze der Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) neben der offenen Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) zu befördern, auch etwa in der Schulsozialarbeit.

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

Sie umfassen formale Standards wie die Qualifikation der Teams, die Einstellung von LSBTIQ*-Personen und inhaltliche und methodische Standards. Es gibt eine große Bandbreite von Trägerstrukturen und ein »bedeutsames ehrenamtliches Bemühen von Jugendlichen und jungen Menschen, kommunale Versorgungslücken für die besonders vulnerable Zielgruppe zu schließen« (Gentsch/Splitt 2021: 563). Institutionen und Verbände können daher auf bereits Erarbeitetes zurückgreifen und eine Querschnittsperspektive strukturell in Form von Konzeptionen, Leitlinien, Arbeitsbereichen, Stellen und materiellen und zeitlichen Ressourcen verankern (auch im kommunalen Bereich). Zentrale Qualitätskriterien bezogen auf die Institutionen sind:

Klare Positionierung zur Diversität sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten Besonders geht es hier um die fachpolitische Positionierung der Organisation und die Repräsentanz von Personengruppen in überinstitutionellen Vernetzungsstrukturen. Dies wird nach außen zum Beispiel über Leitlinien, Leitbilder und verschiedene Formen der Öffentlichkeitsarbeit sichtbar. Nach innen wird diese Positionierung sowohl in Bezug auf alle Jugendlichen als auch gegenüber Mitarbeiter*innen durch eine akzeptierende Organisationskultur umgesetzt. Das beinhaltet auch eine räumliche Gestaltung mit dem selbstverständlichen Auslegen von Materialien. Dazu gehört, dass eine systematische Anwendung einer wertschätzenden Sprache im Umgang mit der Vielfalt geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung einen Beitrag zur Sicherstellung diskriminierungsarmer Räume leistet.

Qualifizierte Mitarbeiter*innen (Haupt-, Ehrenamtliche und Freiberufliche) Die Ergebnisse der Wirkungsanalyse der Genderqualifizierungsoffensive für die LSBTTIQ-Jugendarbeit in Baden-Württemberg verweisen auf wichtige Kriterien wie »die Förderung und Finanzierung der Qualifizierung von Mitarbeitenden der Jugend(sozial)arbeit und Multiplikator*innen zum Thema Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung. Für Fachkräfte und Multiplikator*innen braucht es Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Diskurs um Gender-Diversität-Queer-Kompetenz sowie Inter- und Transkulturalität, denn die Expertise für LSBTTIQ*-Themen ist vor Ort in der Jugend(sozial)arbeit nur vereinzelt (und letztlich auch nur bei wenigen

243

244

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Fortbildner*innen) vorhanden und erfordert einen anspruchsvollen Transfer in die breitere Praxis.« (Kaschuba 2020: 3) Mit dem Begriff Inter- und Transkulturalität soll der Diskurs um die Kritik am Begriff »interkulturell« angedeutet werden: Es geht um die kritische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff und die Fokussierung auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, auf strukturellen Rassismus, Alltagsrassismus und weitere Diskriminierungen. Weitere Qualitätskriterien betreffen zum einen die Vorbereitung von Fortbildungen durch Vorabsprachen zwischen Vertreter*innen von auftraggebenden Institutionen und Trainer*innen und die Beteiligung der zu schulenden Fachkräfte im Vorfeld über Interessenbefragungen durch ihre Leitungen, zum anderen die Nacharbeit in den Organisationen. Diese ermöglicht eine nachhaltige Qualifizierung und Organisationsentwicklung (vgl. ebd.).

Vielfältigkeit im Team und bei den Ansprechpersonen für queere Jugendliche Auf der Ebene der Repräsentation ist zu beachten, dass Frauen* und Männer* unterschiedlicher geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung, aber auch etwa in Bezug auf ›race‹/Ethnizität auf allen Hierarchieebenen in den Einrichtungen der Jugendarbeit vertreten sind. Auch ist es wichtig, dass sich explizite Ansprechpersonen für queere Jugendliche darunter befinden – ebenso wie LSBTTIQ*-Jugendliche als Expert*innen, sodass ein Lernen von Peers stattfinden kann. Der Einbezug von queeren Jugendlichen als Expert*innen sowohl in der Arbeit mit Peers als auch in Fortbildungen für Fachkräfte trägt dem Partizipationsgedanken und der Selbstorganisation von Jugendlichen Rechnung.

Vernetzung und Kooperation von Jugendarbeit und LSBTIQ*-Community und Verbindungen zwischen »klassischer«, feministischer, antisexistischer und queerer Jugendarbeit Produktiv sind eine gegenseitige Anerkennung und wechselseitige Impulse zwischen bisher oft an unterschiedlichen Stellen praktizierter queerer und geschlechterreflektierender Arbeit mit Mädchen* und Jungen*. Errungenschaften einer feministischen Mädchen- und kritischen Jungenarbeit in einer diversitätsbewussten Jugendarbeit (in Verschränkung mit rassismuskritischen und inklusiven Perspektiven) gilt es zu tradieren und weiterzuentwickeln. Das bedeutet auch, Arbeitsfelder nicht gegeneinander

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

auszuspielen oder zu verdecken. Im kommunalen Raum sollten Kooperationen gesucht werden – etwa mit dem Amt für Chancengleichheit und mit städtischen Programmen/Maßnahmen. Denn: Powersharing (vgl. Rosenstreich 2006) kann an den Stellen stattfinden, an denen Privilegien genutzt werden können (Vernetzung und Solidarität ermöglichen).

Eigene geschützte und gestaltbare Räume für LSBTIQ*-Jugendliche Es braucht ›safe spaces‹ (sichere Orte) für queere Jugendliche in den Einrichtungen, damit sie sich dort wohlfühlen können. Besonders im ländlichen Raum, in dem queeres Leben noch selten sichtbar sein kann, kann es bedeuten, dass Institutionen Zugänge für queere Jugendliche schaffen, die das Spannungsfeld von Sichtbarkeit und (Fremd-)Outing berücksichtigen und insofern auch eine gewisse Anonymität gewährleisten.

2.3

Subjektorientierte und kontextbezogene Angebote für queere Jugendliche

Der Diskurs um die Qualität einer queeren Jugendarbeit kann in Bezug auf die Angebote für Jugendliche an zentrale Prämissen der geschlechterreflektierenden Jugendarbeit wie Subjektorientierung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Erreichbarkeit, Alltagsorientierung, Partizipation, Selbstbestimmung und Selbstorganisation anknüpfen. Dabei ist eine Differenzierung in Bezug auf die Adressat*innen erforderlich. Zentrale Qualitätskriterien bezogen auf die Angebote sind:

Anerkennung der Selbstdefinition, Ansetzen an den Kompetenzen der Jugendlichen und Partizipation (Empowerment) Die Anerkennung der Selbstdefinitionen ist ein grundlegendes Qualitätskriterium der queeren Jugendarbeit. (LSBTIQ*-)Jugendangebote benötigen eine intersektionale Perspektive, um die miteinander verschränkten Zugehörigkeiten zu verschiedenen Strukturkategorien wie ›race‹ und ›class‹ systematisch zu berücksichtigen. Verschiedene Ansätze der Beteiligung von queeren Jugendlichen können – entsprechend den Altersgruppen – praktiziert werden, wie etwa ein Peer-topeer-Ansatz oder LSBTIQ*-Jugendgruppen mit Anleitung. Damit wird auch eine Begegnung mit Vorbildern ermöglicht.

245

246

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Sichtbarkeit der Angebote für LSBTIQ*-Jugendliche und selbstverständliche Querschnittsperspektive Anzustreben ist, dass die Jugendarbeit sichtbar Angebote bereithält, die sich ausschließlich an LSBTIQ*-Jugendliche bzw. Teilgruppen wenden, um Zugehörigkeit, Anerkennung und Stärkung der eigenen Identität zu ermöglichen, und gleichzeitig Angebote fördert, die die Auseinandersetzung aller Jugendlichen mit den Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung befördern. Dies sensibilisiert und stärkt alle Jugendlichen (und auch die Fachkräfte). Eine systematische Verankerung dieser Angebote ermöglicht die nötige Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit, die bei zeitlich befristeten Projektförderungen bemängelt wird. Weitere Qualitätskriterien beziehen sich beispielsweise auf den Einbezug des sozialen Umfelds und Verbündeter (allies). Es ist wichtig, das soziale Umfeld der Jugendlichen einzubeziehen. Freund*innen oder Familie haben häufig selbst Beratungsbedarf. Jugendliche benötigen längerfristig in ihrem Umfeld Verbündete.

2.4

Und das Ergebnis? Wirkungen in Erfahrung bringen und Qualität reflektieren

Die Wirkung von Angeboten der Jugendarbeit, Fortbildungen, sonstigen Maßnahmen sollte systematisch und bezogen auf die verschiedenen Qualitätsdimensionen evaluiert werden. Bei aller gebotenen Vorsicht bei Feststellungen von Wirkungen der Bildungsarbeit, die niemals linear verlaufen, ist es möglich, sowohl die Prozess- als auch die Ergebnisqualität in den Blick zu nehmen. In Bezug auf den Prozess geht es unter anderem um die Zufriedenheit der Teilnehmenden mit Fortbildungen, in Bezug auf das Ergebnis um persönliche, professionelle Haltungen, veränderte Praxen und eine nachhaltige Implementierung auf institutioneller Ebene. So konnte etwa in der Wirkungsanalyse der Genderqualifizierungsoffensive vor allem auf der persönlichen und fachlichen Ebene durch die Befragung der Teilnehmenden festgestellt werden, dass ein Drittel retrospektiv veränderte Einstellungen und Auswirkungen auf die eigene Haltung konstatiert (vgl. Kaschuba 2020). Dabei wurde von den Befragten auch eine erhöhte Selbstreflexivität in Bezug auf Stereotype beschrieben. Positive Auswirkungen auf die Institutionen werden insofern genannt, als mehr als die Hälfte der Befragten angab, dass Fortbildungen zu den Themen kontinuierlich über mehrere Jahre und auch vermehrt wahrgenommen werden. Somit schlägt sich nach Aussagen der

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

Befragten eine Zunahme an Wissen und Informationen, eine erhöhte Sprachsensibilität und erhöhte Sichtbarkeit der Themen wie Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung sowie Diskriminierung in den Organisationen nieder. Die Fachkräfte gewinnen darüber mehr Mut und Sicherheit, auch Themen mehr einzubringen, die in ihren Einrichtungen bisher nicht oder zu wenig vorkommen. So werden in Bezug auf die Ergebnisqualität eine Zunahme von neuen Angeboten für queere Jugendliche, der Aufbau von Strukturen mit Peers, konzeptionelle Verankerungen und eine Vernetzung mit anderen Organisationen genannt (ebd.). Auch können mit einer Evaluation weitere Herausforderungen sichtbar werden – etwa institutionelle Hürden, die von kleinen Arbeitserschwernissen bis hin zu deutlichen Verweigerungen vonseiten der Leitung reichen. Dies alles zeigt die Bedeutung von wissenschaftlichen Evaluationen und Praxisforschung, um die bisher dünne empirische Basis zur Weiterentwicklung der Jugendarbeit zu befördern.

3.

Fazit

Die Kinder- und Jugendhilfe zielt auf die Herstellung gerechter Verhältnisse für Kinder und Jugendliche. Die zunehmende Thematisierung der Arbeit mit LSBTIQ*-Jugendlichen bietet die Chance der Weiterentwicklung bisheriger pädagogischer Konzepte und Qualitätskriterien. Dies ist beispielsweise zu sehen an der selbstkritischen Auseinandersetzung der feministischen Mädchenarbeit mit ihren teilweisen Ausschlüssen und mit ihrer Weiterentwicklung unter heteronormativitätskritischer Perspektive. Erhalten bleibt bei der Weiterentwicklung der Konzepte sicherlich die Ambivalenz zwischen der Sichtbarkeit und Anerkennung von Vielfalt einerseits und der gleichzeitigen Gefahr der Besonderung bestimmter Zielgruppen andererseits. Doch kann mit einer systematischen (und finanzierten) Qualitätsentwicklung auf allen genannten Ebenen eine ›Verselbstverständlichung‹ einer gender- und diversitätsbewussten queeren Jugendarbeit erhofft werden – bei gleichzeitiger konstruktiv-kritischer Begleitung durch Akteur*innen in Praxis und Forschung.

247

248

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Literatur Arapi, G. 2014: Empowerment in der pädagogischen Arbeit mit Mädchen of Color. In: Kauffenstein, E./Vollmer-Schubert, B. (Hg.): Mädchenarbeit im Wandel. Bleibt alles anders? Weinheim: Beltz Juventa, S. 87-105. Auma, M. M./Kinder, K./Piesche, P. 2019: Diversitätsorientierte institutionelle Restrukturierungen – Differenz, Dominanz und Diversität in der Organisationsweiterentwicklung. Impulse zu Vielfalt 2019/3. Hg. von DeutschPlus e. V. – Initiative für eine plurale Republik. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.deutsch-plus.de/wp-content/uploads/2019/12/ifv-190 3-auma-kinder-piesche.pdf [Zugriff 28.06.2022]. Bitzan, M. 2020: »Unterschiedlich verschieden« – Diversitätsperspektiven als Qualitätsmerkmal der Jugendarbeit in ländlichen Räumen. In: Faulde, J./ Grünhäuser, F./Schulte-Döinghaus, S. (Hg.): Jugendarbeit in ländlichen Regionen. Regionalentwicklung als Chance für ein neues Profil. Weinheim: Beltz Juventa, S. 174-182. Boger, M.-A. 2015: Theorie der trilemmatischen Inklusion. In: Schnell, I. (Hg.): Herausforderung Inklusion – Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 51-62. Bundesverband Queere Bildung e. V. 2021: Qualitätsstandards für die Arbeit mit Schulklassen und in der außerschulischen Jugendarbeit. Online verfügbar unter: https://queere-bildung.de/wp-content/uploads/2021/11/Qu alitaetsstandards_Queere-Bildung-2021_Web-1.pdf [Zugriff 13.07.2022]. Busche, M./Maikowski, L./Pohlkamp, I./Wesemüller, E. (Hg.) 2010: Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Bielefeld: transcript. Deinet, U./Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.) 2021: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22563-6_51. Gaupp, N./Krell, C. 2014: Erreicht die Jugendarbeit lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche? Eine Analyse basierend auf Interviews mit Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften. In: GIP – Gleichstellung in der Praxis, 10, 3, S. 24-28. Gentsch, J./Splitt, K. 2021: LSBT-Einrichtungen. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 563-572. https:// doi.org/10.1007/978-3-658-22563-6_51. Gildemeister, R./Wetterer, A. 1992: Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

Frauenforschung. In: Knapp, G.-A./Wetterer, A. (Hg.): TraditionenBrüche: Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg i.Br.: Kore, S. 201-254. Groß, M. 2021: Queer in der Offenen Jugendarbeit. In: Deinet, U./ Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 871881. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22563-6_51. Hartmann, J. 2013: Bildung als kritisch-dekonstruktives Projekt – pädagogische Ansprüche und queere Einsprüche. In: Hünersdorf, B./Hartmann, J. (Hg.): Was ist und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit? Wiesbaden: Springer VS, S. 255-280. Heiner, M. 1996: Evaluation zwischen Qualifizierung, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. In: dies. (Hg.): Qualitätsentwicklung durch Evaluation. Freiburg i.Br.: Lambertus, S. 20-47. Herrmann, F./Müller, B. 2019: Qualitätsentwicklung in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. Hessischer Jugendring (Hg.) 2017: Dass sich etwas ändert und was ändern kann. Ergebnisse der LSBT*Q-Jugendstudie »Wie leben lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche in Hessen?«. Wiesbaden. Online verfügbar unter: https://www.hessischer-jugendring.de/fileadmin/user_ upload/pdf/Dokumentation/LSBTQ_Jugendstudie_Publikation_20171127 _gesamt_web.pdf [Zugriff 13.07.2022]. Kaschuba, G. 2004: Von der Wundertüte zum kontrollierten Einsatz? Anregungen zur prozessorientierten Entwicklung von Qualitätskriterien für Gender Trainings. In: Netzwerk Gender Training (Hg.): Geschlechterverhältnisse bewegen – Erfahrungen mit Gender Trainings. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer, S. 117-135. Kaschuba, G. 2020: »Zumindest schau‹ ich seither anders in die Welt und auf mein Verhalten, meine Einstellung zu diesem wichtigen Thema.« Wirkungsanalyse der Genderqualifizierungsoffensive I und II. Unveröffentlichter Bericht. Tübingen/Stuttgart. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Coming-outVerläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich. Krell, C./Oldemeier, K. 2018: Queere Freizeit. Inklusions- und Exklusionserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und *diversen Jugendlichen in Freizeit und Sport. München: Deutsches Jugendinstitut e. V.

249

250

Maria Bitzan/Gerrit Kaschuba

Landesbeirat der Weiterbildung in Rheinland-Pfalz (Hg.) 2003: Gender Mainstreaming in der Qualitätsentwicklung für Weiterbildungsorganisationen. Ergebnisse eines Modellprojekts. Mainz. Leiprecht, R. 2002: Auf dem Weg zu Qualitätskriterien interkultureller und antirassistischer Weiterbildung. Ergebnisse einer Evaluation von Weiterbildungsveranstaltungen mit internationaler Teilnehmerzusammensetzung. In: ders./Riegel, C./Held, J./Wiemeyer, G. (Hg.): International Lernen – Lokal Handeln, Frankfurt a.M./London: IKO, S. 223-251. LesMigraS 2012: »… nicht so greifbar und doch real«. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin. LJR – Landesjugendring Niedersachsen e. V./Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Diversitätsforschung 2018: Jugendarbeit im Que(e)rschnitt. »Und einfach überhaupt damit zu rechnen, dass in deiner Jugendgruppe Menschen sind, die queer sind«. Ergebnisse der multimethodischen Studie zu LSBTIQ*-Jugendlichen in der Jugendarbeit. Online verfürbar unter: https://www.ljr.de/shop/produkt/produkt/materialie nhefte-fuer-jugendarbeit/jugendarbeit-im-queerschnitt.html [Zugriff 17.05.2022]. Mößbauer, U./Unterforsthuber, A. 2011: »Da bleibt noch viel zu tun …!« Befragung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zur Situation von lesbischen, schwulen und transgender Kindern, Jugendlichen und Eltern in München. München. Online verfügbar unter: https://www .muenchen.de/rathaus/dam/jcr:3beac935-7d1b-40ee-afe5-a5d1fd3bffb5/ju ghilfe_broschuere.pdf Plößer, M. 2021: Differenzorientierung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 735-748. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22563-6_51. Pohlkamp, I. 2010: TransRäume. Mehr Platz für geschlechtliche Nonkonformität! In: Busche, M./Maikowski, L./Pohlkamp, I./Wesemüller, E. (Hg.): Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis. Bielefeld: transcript, S. 37-58. Rieske 2015: Pädagogische Handlungsmuster in der Jungenarbeit. Leverkusen: Barbara Budrich. Rosenstreich, G. 2006: Von Zugehörigkeiten, Zwischenräumen und Macht: Empowerment und Powersharing in interkulturellen und DiversityWorkshops. In: Elverich, G./Kalpaka, A./Reindlmeier, G. (Hg.): Spurensi-

Qualität der Jugendarbeit weiterdenken …

cherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Münster: Unrast, S. 195-231. Savier, M./Wildt, C. 1978: Mädchen zwischen Anpassung und Widerstand. Neue Ansätze zur feministischen Jugendarbeit. München: Frauenoffensive. Schirmer, U. 2017: Zwischen Ausblendung und Sozialpädagogisierung? Dilemmata bei der Konstruktion von LSBT*-Jugendlichen als Zielgruppe Sozialer Arbeit. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung/Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 12, 2, S. 177-189. Sielert, U. 2015: Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim: Beltz. Smykalla, S. 2011: Gender und Diversity im Diskurs von Weiterbildung und Beratung – Ansatzpunkte für Perspektiven der Intersektionalität. In: dies./Vinz, D. (Hg.): Intersektionalität zwischen Gender und Diversity. Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 231-245. Staudenmeyer, B./Kaschuba, G./Barz, M./Bitzan, M. 2016: »Ein Glücksgefühl, so angesprochen zu werden, wie ich bin«. Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung in der Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Landesweite Studie zu den Angeboten für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intergeschlechtliche und queere Jugendliche und Empfehlungen für die LSBTTIQ-Jugendarbeit. Eine Kooperation der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und des Tübinger Forschungsinstituts tifs e. V. Stuttgart: Ministerium für Soziales und Integration. Online verfügbar unter: https://sozialministerium.baden-wuerttemberg. de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen/ZPJ_Stu die_Vielfalt_LSBTTIQ_Jugendarbeit.pdf [Zugriff 13.07.2022]. Timmermanns, S./Thomas, P. M. 2021: LSBTTIQ als Zielgruppe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B./ Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinderund Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 331-346. https://doi.org/10 .1007/978-3-658-22563-6_51. Yiligin, F. 2010: Sich selbst stärken! Mädchen of Color in der Empowermentbildung. In: Busche, M. (Hg.): Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis. Bielefeld: transcript, S. 107-126.

251

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren (LSBT*Q) Jugendlichen in der beruflichen Bildung Claudia Krell/Nora Gaupp

Im Jahr 2019 haben bundesweit mehr als 918.000 Jugendliche und junge Erwachsene eine voll- oder teilqualifizierende Ausbildung begonnen – sei es im dualen System1 (439.300), im Schulberufssystem2 (245.000) oder im Übergangssektor (234.000) (vgl. BMBF 2021: 40). Wenn diesen Daten zugrunde gelegt wird, dass sich in Deutschland 11,2 Prozent der 14- bis 29-Jährigen als LSBT*3 definieren (Dalia Research: 2016), heißt das, dass eine nicht geringe Anzahl von jungen Menschen 2020 ihre Ausbildung angefangen hat, die nicht heterosexuell bzw. nicht cisgeschlechtlich sind. Bisher gibt es in Deutschland nur sehr wenige Daten dazu, wie LSBT*Q Jugendliche4 ihre schulische oder duale Ausbildung erleben, ob sich ihre Erfahrungen von denen ihrer heterosexuellen bzw. cisgeschlechtlichen Peers unterscheiden und falls ja, welche Folgen sich hieraus für die jungen Menschen ergeben. Das Deutsche Jugendinstitut, an dem seit 2012 mehrere Studien zur Situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen durchgeführt wurden, hatte 2019 die Möglichkeit, sich im Rahmen ei-

1 2

3 4

In einer dualen Ausbildung findet der größere Teil der Ausbildung in einem Betrieb statt und wird durch Phasen des Berufsschulunterrichts ergänzt. Bei einer schulischen Ausbildung findet der größere Teil der Ausbildung in Unterrichtsform zum Beispiel an einer Fachakademie statt und wird von Praktika in verschiedenen Einrichtungen begleitet. Das Akronym verändert sich abhängig davon, welche Personengruppen eingeschlossen sind. In diesem Text bezieht sich der Begriff Jugendliche, der mit den Termini junge Menschen bzw. junge Erwachsene quasi synonym verwendet wird, auf Personen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren.

254

Claudia Krell/Nora Gaupp

nes von der BGAG-Stiftung Walter Hesselbach geförderten Projekts erstmals mit den Erfahrungen von LSBT*Q Jugendlichen in der beruflichen Bildung zu befassen. Der folgende Artikel stellt die zentralen Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Handlungsbedarfe vor und lässt über wörtliche Zitate die jungen Menschen zu Wort kommen, die sich an der Studie beteiligt und von ihren Erfahrungen berichtet haben.

1.

Hinführung zum Thema: LSBT*Q Jugendliche – Jugendliche wie ›alle anderen‹ auch?!

Auf der einen Seite sind LSBT*Q Jugendliche junge Menschen mit alterstypischen Zielen, Wünschen und Träumen. Sie erleben ebenso wie ihre heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Peers gesellschaftliche Krisen wie beispielsweise die Corona-Pandemie, leben im gleichen politischen System und müssen mit verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen umgehen (vgl. Gaupp 2017). Sie leben zugleich in individuell verschiedenen Familienkonstellationen, verfügen über unterschiedliche finanzielle und emotionale Ressourcen, haben unterschiedliche Hobbys und Interessen. Ihr Leben ist in verschiedenen Maßen von kulturellen oder religiösen Einflüssen geprägt, von gesellschaftlicher Beteiligung und Bildungschancen profitieren sie in ungleicher Weise. Die Auseinandersetzung mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben haben sie wiederum mit ihren Gleichaltrigen gemein – sei es die Ablösung vom Elternhaus, das Ausprobieren und Erproben von Freundschaften und Beziehungen oder die Bewältigung der Anforderungen von Schule und Ausbildung (s. Brück/Brodersen/Nestler in diesem Band). Auf der anderen Seite ist das Aufwachsen und (Er-)Leben von LSBT*Q Jugendlichen etwas ›Besonderes‹ und ganz wesentlich vom gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geprägt (vgl. Krell/Oldemeier 2017). LSBT*Q Jugendliche sind nach wie vor gesellschaftlichen Exklusionsrisiken ausgesetzt, weil sie nicht heterosexuell bzw. nicht cisgeschlechtlich und somit ›anders‹ als ›die anderen‹ sind. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist nach wie vor in der Gesellschaft nicht selbstverständlich, sondern muss benannt, definiert und erklärt werden, sie fällt auf und ist häufig mit dem Verlust von Privilegien verbunden. LSBT*Q Jugendliche stehen deshalb vor besonderen Herausforderungen, die mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit verbunden sind: dem Aufwachsen in einer heteronormativen Umwelt, dem inneren wie

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

äußeren Coming-out, der Entwicklung eines passenden Lebensentwurfs als LSBT*Q Person sowie dem Umgang mit Diskriminierungserfahrungen. Diese Situation, die mit der eigenen sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit im Zusammenhang steht, hat Folgen: LSBT*Q Jugendliche haben häufig ein höheres Belastungserleben als ihre heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Peers, was unter anderem noch immer in einem erhöhten Suizidrisiko, häufigeren depressiven Erkrankungen und Angststörungen oder selbstverletzendem Verhalten münden kann (vgl. Plöderl 2016). Diese beschriebenen Herausforderungen und Anforderungen zeigen sich auch deutlich in den Studienergebnissen: Einerseits machen die jungen Interviewpartner*innen Erfahrungen, wie sie ›alle‹ Jugendlichen in ihren Ausbildungen machen – beispielsweise unterscheiden sich die Motive, die zur Auswahl des Ausbildungsplatzes geführt haben, sowie die Wege dorthin, etwa über Praktika, kaum von denjenigen heterosexueller oder cisgeschlechtlicher junger Menschen. Andererseits gibt es spezifische Ereignisse, die im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit stehen und die eine besondere Rolle im (Aus-)Bildungsverlauf spielen können. Diesen spezifischen Erfahrungen widmet sich der folgende Text.

2.

Die an der Studie beteiligten Jugendlichen

Die explorative qualitative Studie Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung (Krell 2021) basiert auf siebzehn Interviews mit jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren:5 •

Acht Jugendliche machten zum Zeitpunkt der Interviews eine betriebliche Ausbildung. Sie bezeichneten sich alle als cisgeschlechtlich, vier definierten sich als lesbisch, vier als schwul.

5

Elf Jugendliche konnten über queere Jugendeinrichtungen für ein Interview gewonnen werden, sechs hatten die Einladung zum Interview über das Internet oder Kontaktpersonen wie zum Beispiel Berufsschullehrkräfte erhalten. Drei Jugendliche hatten Abitur, zwei das Fachabitur, elf einen Realschulabschluss und eine Person einen Mittelschulabschluss.

255

256

Claudia Krell/Nora Gaupp





Sechs Jugendliche absolvierten eine schulische Ausbildung. Von den drei jungen Männern hatten zwei eine trans* Biografie, einer von ihnen definierte sich als heterosexuell, der zweite ließ seine sexuelle Orientierung offen. Der dritte junge Mann war cisgeschlechtlich und schwul. Zwei junge Menschen bezeichneten sich als nicht binär und schwul bzw. genderfluid und pansexuell. Eine cis weibliche Interviewpartnerin definierte ihre sexuelle Orientierung nicht. Drei Interviewpartner*innen waren aktuell nicht in Ausbildung: Eine junge Frau mit trans* Biografie, die sich als heterosexuell bezeichnete, absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr. Eine cis weibliche lesbische Jugendliche bereitete sich im Rahmen einer beruflichen Reha-Maßnahme auf den Beginn einer Ausbildung vor, und eine dritte Jugendliche mit trans* Biografie, die sich ebenfalls als heterosexuell beschrieb, war arbeitssuchend, nachdem sie ihre Ausbildung abbrechen musste.

Die Interviewpartner*innen befanden sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Ausbildung: Bei einigen stand diese noch bevor bzw. hatte gerade begonnen, andere steckten ›mittendrin‹ und ein paar Jugendliche bereiteten sich bereits auf ihren Abschluss vor. Insgesamt zeigten sich die Jugendlichen zufrieden mit ihrer Ausbildung, kritisierten jedoch beispielsweise so wie ihre cisgeschlechtlichen und heterosexuellen Peers auch Aspekte wie die niedrige Bezahlung, die teils schwierige hierarchische Situation als Auszubildende und Überstunden, die für mehr als ein Drittel der Auszubildenden zum Ausbildungsalltag gehören (vgl. DGB 2019: 43). Eine Gemeinsamkeit der jungen Menschen war, dass sie alle über einen formalen Schulabschluss verfügten. Gemeinsam war ihnen auch, dass die Wege hin zu ihrem Schulabschluss sowie die weiteren Bildungswege häufig nicht dem vermeintlich idealtypischen Pfad des formalen Bildungsverlaufs ›Schulabschluss – Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums – Abschluss der Ausbildung oder des Studiums – Beginn einer qualifizierten Arbeit‹ folgten. Die jungen Erwachsenen hatten vielmehr verschiedene Brüche und Wendungen erlebt: • •

Drei Jugendliche hatten die Schule abgebrochen bzw. das Gymnasium nach der zehnten Klasse verlassen, zwei davon besuchten später die FOS. Drei Jugendliche hatten sich trotz Abitur für eine Ausbildung entschieden.

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen





Wiederum drei junge Menschen hatten vor ihrer Ausbildung eine berufsvorbereitende Maßnahme durchlaufen bzw. befanden sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer solchen Maßnahme. Fünf Interviewpartner*innen hatten in der Vergangenheit eine Ausbildung abgebrochen oder unterbrochen.

Die Übergangsforschung beschreibt entsprechende Ergebnisse, die Wege der beruflichen Bildung jenseits normalbiografischer Verläufe aufzeigen (vgl. exemplarisch Reißig/Gaupp 2016). Gründe dafür können unterschiedlich sein, beispielsweise, wenn während der Ausbildung deutlich wird, dass die Ausbildungsinhalte nicht den Interessen oder Fähigkeiten der jungen Menschen entsprechen. Neben solchen Gründen wurde in den Interviews deutlich, dass für die individuellen Wege mehrheitlich Faktoren ausschlaggebend waren, die auf den gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zurückzuführen sind. Beispielsweise berichteten Interviewteilnehmer*innen von teils langjährigen Mobbingerfahrungen, die in Verbindung mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit standen. »Ich wurde halt gemobbt durchgehend, drei Jahre lang ohne Pause. Es wurde am Ende besser, aber das bleibt halt immer drin. Und die Schule ist halt… es ist halt immer in meinem Körper drin, und deshalb sind es immer so Gedanken und Sachen, die passiert sind, wodurch ich nicht unbedingt immer hundertprozentig mit einem guten Blick auf die Schule zurückblicke.« (Danny6 , 22 Jahre, nicht-binär, schwul)   »Ja, an sich ist es eigentlich ganz cool da gewesen, ich hatte viele Freunde, hatte jedoch viel, viel, viel mit Mobbing zu kämpfen und wurde nach Hause verfolgt und wurde verprügelt und habe demnach dann über ein halbes Jahr lang die Schule geschwänzt, bin dann nicht zur Schule gegangen. Ja, dann bin ich irgendwann wieder zur Schule gegangen […]. Aber die Schule wollte mich nicht dabehalten, deswegen bin ich dann nach Klasse 9 runtergegangen.« (Jason, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, keine Angabe zur sexuellen Orientierung)

6

Bei den hier verwendeten Namen handelt es sich um Pseudonyme, die sich die Interviewpartner*innen entweder selbst ausgesucht haben oder die für sie – falls sie das nicht wollten – ausgewählt wurden.

257

258

Claudia Krell/Nora Gaupp

In den Interviews mit trans* und gender*diversen Jugendlichen wurde deutlich, wie viel Kraft und Ressourcen es sie kostete, ihre individuelle geschlechtliche Zugehörigkeit zu finden und mit damit verbundenen Herausforderungen umzugehen. »Aber irgendwie ist es mir da nicht so gut gegangen in der Ausbildung, auch weil […] ich dann eben gemerkt habe: ›Hey, jetzt, irgendwie muss ich was an mir ändern auch, also, da stimmt was nicht‹, ja. Genau, und das dann eben abgebrochen [habe], weil ich mich dann eben damit so in eine Depression reingehangelt habe mit dem ganzen alles rum, und das Thema Trans* dann und Outing ›Wie sage ich es?‹ usw., mich da so reingesteigert hab, dass ich es dann eben, genau, abbrechen hab’ müssen, weil ich einfach auch nicht mehr die Kraft gehabt hatte, in die Schule zu gehen, also in der Früh schon gar nicht mehr aufgestanden bin und – ja.« (Rebecca, 23 Jahre, weiblich mit trans* Biografie, heterosexuell) Solche Belastungen hinterlassen Spuren in den Biografien der jungen Menschen und werden darüber sichtbar, dass alle trans* und gender*diversen Jugendlichen und mehrere lesbische, schwule oder orientierungs*diverse Jugendliche von Umwegen bzw. Brüchen in ihrem Schul- oder Ausbildungsverlauf berichten. Diese Schwierigkeiten in den Bildungsverläufen sind kein Resultat individueller Probleme einzelner Jugendlicher, sondern müssen als Reaktion auf die sie umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen verstanden werden.

3.

Wahl des Ausbildungsberufs – häufig in ›geschlechtsuntypischen‹ Berufsfeldern

Bei der Entscheidung für einen konkreten Ausbildungsplatz, bei den Erfahrungen in absolvierten Praktika und Bewerbungsverfahren sowie bei den Gründen dafür, einen bestimmten Beruf zu erlernen, unterscheiden sich die interviewten Jugendlichen kaum von ihren heterosexuellen bzw. cisgeschlechtlichen Peers. Die eigene sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Zugehörigkeit hatte keinen entscheidenden Einfluss auf die Wahl des Ausbildungsbereichs oder -betriebs. Teilweise wussten die jungen Menschen zum entsprechenden Zeitpunkt noch nicht, dass sie LSBT*Q sind. Bei denjenigen, die sich nach einem sogenannten inneren Coming-out bereits als nichtheterosexuell bzw. nicht-cisgeschlechtlich definierten, spielte ihre sexuelle

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit keine Rolle beim (Nicht-)Ergreifen eines bestimmten Berufs, obgleich sie mitunter das Gefühl hatten, ein Klischee zu bedienen, wenn sie zum Beispiel als schwuler Jugendlicher gern eine Ausbildung im Gesundheitsbereich machen wollten. Interessant ist allerdings, dass acht der siebzehn Jugendlichen eine Ausbildung in einem ›geschlechtsuntypischen‹ Berufsfeld begonnen haben. Als geschlechtstypisch weiblichen bzw. weiblich dominierten Beruf definiert der Deutsche Gewerkschaftsbund Berufe mit einem Frauenanteil von mehr als 80 Prozent, analog dazu männlich dominierte Berufsfelder mit einem Männeranteil über dieser Schwelle. Bei neutralen oder ausgewogenen Berufen ist der Anteil an Frauen bzw. Männern eher gleichverteilt (vgl. DGB 2019: 51). Studienergebnisse zeigen, dass Rollenstereotype bezüglich bestimmter Berufe bereits früh im Kindesalter vorhanden sind. Schon bei Grundschulkindern besteht eine Assoziation zwischen der Berufsbezeichnung und dem Geschlecht (vgl. Vervecken/Hannover 2015). Werden zur Bezeichnung eines Berufs sowohl die weibliche als auch die männliche Form verwendet (Ingenieurinnen und Ingenieure), schätzen Kinder diesen als weniger schwer zu erlernen ein und schreiben ihm einen geringeren Status zu, als wenn ausschließlich die männliche Form verwendet wird (Ingenieure). Gleichzeitig nehmen Kinder eher an, einen Eignungstest zu bestehen, wenn die entsprechende Berufsbezeichnung in der weiblichen und männlichen Form präsentiert wurde (vgl. ebd.). Schon im Grundschulalter schreiben Kinder männlich dominierten Berufen somit einen höheren Status und eine höhere Schwierigkeit zu (vgl. ebd.). Der Einstieg in ein geschlechtsuntypisches Berufsfeld war für die Interviewpartner*innen teilweise mit Problemen verbunden. »Das war für meinen Vater zum Beispiel ein Grund, den Ausbildungsvertrag nicht unterschreiben zu wollen. Der hat dann meinen Ausbildungsvertrag nicht unterschrieben. […] ›Das [Anm.: Gesundheits- und Krankenpflege] ist ein Frauenberuf!‹« (Adem, 18 Jahre, cis männlich, schwul)   »Ich habe da halt zwei Wochen Praktikum gemacht und habe dann am Ende gefragt, ob ich eben die Ausbildung [Anm.: zur Schreinerin] machen kann. Und dann meinten sie, nee, weil ich halt kein Mann bin, weil sie schon eine Auszubildende hatten, also sie meinten: ›Ein Mädel reicht‹, weil Frauen nicht so stark sind – was auch stimmt, aber, also es klappt ja trotzdem, es geht ja nicht nur um Stärke. Ähm, genau, das war so das Einzige, wo ich halt gemerkt

259

260

Claudia Krell/Nora Gaupp

habe: ›Ja okay, es ist eher ein Männerberuf. Und manche männlichen Schreiner finden das auch nicht toll, wenn Frauen das dann machen oder wollen halt keine in der Werkstatt haben.‹« (Sara, 23 Jahre, cis weiblich, lesbisch) Auch im Ausbildungskontext wurde deutlich, dass nach wie vor sehr tradierte Erwartungen in geschlechtersegregierten Berufsfeldern bestehen. Zum einen zeigten sich ungleiche Verhältnisse durch praktische Gegebenheiten, beispielsweise Arbeitskleidung, die an männlichen Körpern orientiert ist, oder Maschinen in Werkhallen, die sich nur mit bestimmten Hilfsmitteln bedienen ließen, weil sie an der durchschnittlichen Körpergröße von Männern orientiert sind. Zum anderen erfolgte häufig eine Besonderung durch Ausbilder*innen, Lehrkräfte und Peers. »Am Anfang war es schon immer so, die Lehrer sind reingekommen: ›Oh krass, wir haben hier vier Männer in dem Klassenzimmer.‹« (Rebecca, 23 Jahre, weiblich mit trans* Biografie, heterosexuell)   »Oder einmal hatte ich die beste Note in der Klasse, und dann kommt von hinten nur: ›Öh, das ist eh der Tittenbonus‹ und so Sachen hat man sich dann anhören müssen.« (Valentin, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, heterosexuell) Allerdings wird in den beiden voranstehenden Zitaten deutlich, dass die jungen Menschen subjektiv ›geschlechtstypische‹ Berufe gewählt hatten (Rebecca Erzieherin, Valentin Industriemechaniker), diese jedoch nicht ihrem von außen zugewiesenen Geschlecht entsprachen und damit von ihrer Umwelt vor ihrer Transition als ›untypisch‹ wahrgenommen wurden. Insgesamt beschrieben die Interviewpartner*innen ihre negativen oder unangenehmen Erfahrungen in geschlechtsuntypischen Berufen als lästig, aber insgesamt eher als unproblematisch. Mit Blick auf die jungen Menschen in der Studie zeigt sich zudem (auch wenn die Stichprobe sehr klein ist) ein deutlicher Unterschied zu allgemeinen Studien zur Berufswahl. Der Frauenanteil in dualen Ausbildungen lag beispielsweise 2018 bei nur 36,1 Prozent (vgl. BIBB 2020: 100). Demgegenüber sind Frauen in schulischen Ausbildungen, insbesondere bei erziehungs- und gesundheitsorientierten Berufen, deutlich in der Mehrzahl: So betrug ihr Anteil 2018/2019 mehr als 76 Prozent (vgl. ebd.: 88). Bei den Interviewpartner*innen findet sich diese Verteilung nicht, die Vielfalt an Ausbildungswegen ist größer: Mehr weibliche Interviewpartner*innen machen eine duale Ausbildung, mehr männliche Jugendliche

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

absolvieren eine schulische Ausbildung, häufig in Gesundheits-, Erziehungsoder Sozialberufen. Eine Schweizer Studie (Rottermann 2017) identifizierte bestimmte persönliche Eigenschaften von Jugendlichen in geschlechtsuntypischen Berufsfeldern, wie beispielsweise »Selbstvertrauen«, »Selbstverwirklichung« oder »Offenheit«, die sich bei vielen Interviewpartner*innen finden. Gegebenenfalls haben sie in ihrer bisherigen Biografie diese Ressourcen entwickelt, um sich auch im täglichen Leben in einer heteronormativen Umwelt durchsetzen zu können, in der sie sich aufgrund des gesellschaftlichen Umgangs mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ebenfalls als ›untypisch‹ wahrnehmen.

4.

Erfahrungen der Jugendlichen in der Ausbildung im Kontext ihres Coming-outs

Wie junge Menschen mit ihrer nicht-heterosexuellen Orientierung bzw. nicht cisgeschlechtlichen Zugehörigkeit in verschiedenen Lebenskontexten umgehen, ist in erster Linie eine individuelle Entscheidung, die jede Person für sich treffen kann und muss. Es gibt hierbei keinen idealen, vorbestimmten oder besten Weg. Allerdings zeigt sich in den Interviews, dass es Ähnlichkeiten im Umgang der Jugendlichen gibt, jeweils abhängig davon, ob es sich um ihre sexuelle Orientierung oder ihre geschlechtliche Zugehörigkeit handelt, weshalb diese Themenfelder im Folgenden getrennt betrachtet werden.

4.1

Sexuelle Orientierung

Ausschlaggebend dafür, ob junge Menschen ihre sexuelle Orientierung benennen oder nicht, ist in erster Linie nicht die hierarchische Position des Gegenübers, sondern das persönliche Verhältnis. Ist es eher ein freundliches und zeitlich konstantes Verhältnis, sind die Jugendlichen offener und können, wenn sie das möchten, ihre sexuelle Orientierung benennen bzw. öffentlich machen – sei es gegenüber anderen Auszubildenden, Kolleg*innen oder Vorgesetzten. Ist ein Verhältnis eher zeitlich beschränkt oder distanziert, kommt das Thema kaum zur Sprache. Ob und wie die Jugendlichen ihre sexuelle Orientierung im Ausbildungsalltag benennen, ist individuell unterschiedlich. Als eine Gemeinsamkeit zeichnet sich allerdings ab, dass im Ausbildungskontext wenig über eine gewollte, aktiv herbeigeführte Inszenierung eines Coming-outs berichtet

261

262

Claudia Krell/Nora Gaupp

wird (wie sie zum Beispiel häufig gegenüber den Eltern oder beim ersten äußeren Coming-out anzutreffen ist; vgl. Krell/Oldemeier 2017), sondern im Umgang mit der sexuellen Orientierung eher ›passive‹ Strategien zum Tragen kommen. Beispielsweise korrigieren LSBT*Q-Jugendliche, die eine nicht heterosexuelle Beziehung führen, heteronormative Vorannahmen oder erzählen von dieser Beziehung, wenn sie danach gefragt werden. »Bei meinen Kolleginnen war ich eigentlich einfach geoutet, weil ich irgendwann von meiner Freundin abgeholt wurde. Und die haben dann gefragt: ›Ach, ist das eine gute Freundin von dir?‹, und ich meinte: ›Nee, wir sind zusammen.‹ Dann meinten sie: ›Ach, okay‹ und ›Habt einen schönen Nachmittag‹.« (Jul, 20 Jahre, genderfluid, pansexuell) Wenn die jungen Menschen nicht möchten, dass ihre sexuelle Orientierung bekannt wird, zeigt sich, wie kompliziert dies für sie ist. »Ich sage mal, es ist ein offenes Geheim., oder es ist eigentlich überhaupt kein Geheimnis. Ich mach’ kein Geheimnis draus, aber ich spreche es nicht an. Weil, irgendwie, also es sind verschiedene Punkte, die es mir da schwermachen, einmal dieses Konservative, einfach, dass ich merke, das ist wirklich eine alteingesessene Branche [Hotelfach]. […] Und da bin ich mir einfach immer nicht so sicher. Oder ich will es einfach gar nicht zum Thema machen, weil ich nicht weiß, wie das so, wie sich das entwickelt irgendwie. Und deshalb, da versuche ich dann einfach immer, einfach gar nix zu sagen.« (Emil, 22 Jahre, cis männlich, schwul) Die verschiedenen Strategien beruhen auf Erfahrungen oder Überlegungen, die die Bedeutsamkeit und Langwierigkeit des Themas bzw. der dahinterstehenden Prozesse verdeutlichen. »Also, es war zumindest zum Anfang von der Ausbildung so, dass ich es eben nicht so in der Firma oder den Kollegen sagen wollte, und erst so jetzt eben nach einem Jahr, wo ich mir denke: ›Okay, ich habe mich bewiesen, ihnen gezeigt, was ich kann‹, dass ich dann auch quasi diese Information teilen könnte, und selbst wenn sie es blöd finden würden, dass sie ja trotzdem wissen, wie ich sonst arbeite und das dann quasi damit wieder wettmache.« (Marie, 21 Jahre, cis weiblich, lesbisch) Vereinzelt erzählen die Jugendlichen auch von ausgesprochen offensiven und kreativen Wegen: Beispielsweise trank ein Interviewpartner, um entsprechen-

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

de Fragen endgültig auszuräumen, seinen Kaffee aus einer regenbogenfarbenen Tasse mit dem Aufdruck »Nobody knows I’m gay«. Nachdem die Interviewpartner*innen ihre sexuelle Orientierung benannt hatten bzw. diese bekannt wurde, waren die Reaktionen von anderen Personen überwiegend neutral bis positiv. »Also ich wurde jetzt nicht irgendwie angefeindet oder so, also sie sind mehr interessiert als irgendwie distanziert.« (Britta, 25 Jahre, cis weiblich, lesbisch) Die meisten erlebten, dass ihr Gegenüber diese Tatsache offen, unaufgeregt oder interessiert zur Kenntnis nahm. Negative oder feindliche Reaktionen kamen kaum zur Sprache, mitunter jedoch berichteten die Interviewpartner*innen von unangenehmen Situationen. »Also meine Abteilungsleiterin davor wusste es schon, weil sie mich gefragt hat. Das war ganz lustig, ich stand [Anm.: mit mehreren Personen] beim Rauchen draußen. […] Und dann hat sie mich halt gefragt, ob ich eine Freundin habe. Und ich halt so: ›Nee, ich steh‹ auf Jungs halt‹ – ›Ach so! Okay, okay, tut mir leid‹. Sie sofort so in Dings gegangen und so, und ich sage so: ›Nee, alles gut, alles gut‹ […].« (Fabian, 16 Jahre, cis männlich, schwul)   »[…] weil sie es nicht geglaubt haben, weil ich ja gar nicht schwul aussehe« (Adem, 18 Jahre, cis männlich, schwul)

4.2

Geschlechtliche Zugehörigkeit

Deutlich anders als die Strategien und Erfahrungen der nicht-heterosexuellen Jugendlichen im vorherigen Abschnitt stellt sich die Situation für nichtcisgeschlechtliche junge Menschen in Ausbildungskontexten dar. Von den trans* und gender*diversen Jugendlichen, die an der Studie teilgenommen haben, hatte noch keine*r eine amtliche Namens- oder Personenstandsänderung durchführen lassen. In offiziellen Dokumenten, zum Beispiel in Zeugnissen, die sie bei einer Bewerbung einreichen mussten, stand somit noch ihr alter Name, der sich auf das Geschlecht bezieht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Diese Daten passten jedoch nicht mehr zu dem aktuellen, gewünschten Pronomen und Namen und teilweise auch nicht zum äußeren Erscheinungsbild der jungen Menschen. Häufig ergab sich hieraus ein unmittelbarer Handlungsdruck für die Jugendlichen, der ein

263

264

Claudia Krell/Nora Gaupp

aktives Ansprechen unumgänglich machte. Zum einen führte dies dazu, dass sie sich, um als die Person angesprochen zu werden, die sie sind, zumindest gegenüber Dritten erklären mussten, etwa Vorgesetzten, Ausbilder*innen oder Lehrkräften. Zum anderen erlebten sie ein Zwangsouting gegenüber Kolleg*innen oder Mitschüler*innen, wenn zum Beispiel in Dienstplänen oder Klassenlisten der offizielle Name7 aus ihren Unterlagen verwendet wurde. »Also denen [Anm.: den Kolleg*innen auf der Station] muss ich es wahrscheinlich sagen, weil noch auf den Arbeitsplänen mein alter Name steht, weil ich ja noch nicht die Personen- und Namensänderung habe. […] Und da muss ich mich dann quasi gezwungenermaßen wieder outen, weil halt auf dem Plan dann der alte Name steht, und dann stelle ich mich so [Anm.: als junger Mann mit dem Namen Valentin] vor. Und dann: ›Mhm? Warum?‹, und da bin ich quasi gezwungen, das zu sagen. Aber damit habe ich auch kein Problem. Vor den Kindern, die sehen die Pläne nicht, da kann ich mich dann einfach als ich vorstellen.« (Valentin, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, heterosexuell) Um »einfach ich« sein zu können, mussten die Interviewpartner*innen früher oder später in ihrem Ausbildungsverlauf aktiv handeln, damit sich die Lage für sie verbesserte. Sie sprachen mit Vorgesetzten, Lehrkräften und teils mit deren Unterstützung auch mit ihren Klassenkamerad*innen, benannten ihre Situation und sorgten so dafür, dass sie als die Person wahrgenommen und anerkannt werden, die sie sind. Die Reaktionen auf ihre Offenheit sowohl von den Personen in hierarchischen Positionen als auch von statusgleichen Personen (zum Beispiel anderen Auszubildenden) wurden von den meisten Jugendlichen als positiv beschrieben. 7

Um den Geschlechtseintrag und den Namen in der Geburtsurkunde und davon ausgehend auch in offiziellen Dokumenten wie Ausweis oder Reisepass ändern zu lassen, ist in Deutschland ein langwieriges, aufwendiges und kostenintensives Verfahren notwendig. Insbesondere junge Menschen haben oftmals noch nicht die Möglichkeit, diese Änderungen vornehmen zu lassen. Der sogenannte Deadname, den sie für sich schon abgelegt haben, taucht so immer wieder in Dokumenten etc. auf, weil er weiterhin als offiziell angesehen und in Institutionen wie Schule, Ausbildungsstelle etc. genutzt wird – obwohl dies nicht notwendig ist und es gute Alternativen gibt, den gewünschten Namen der Person bereits vor einer offiziellen Änderung zu benutzen (auch in Zeugnissen oder Klassenlisten; vgl. Augstein 2013).

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

»Ich habe mich dann, ich glaube, nach einem Jahr circa, habe ich mich dann da geoutet vor der ganzen Klasse mit Lehrerin und alles. Ähm, das war echt megacool, die fanden das auch echt megacool, die haben mich echt unterstützt […], da kam kein bisschen Kritik, da kam eher ein Applaus und alle haben sich gefreut.« (Jason, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, keine Angabe zur sexuellen Orientierung) An dieser Stelle muss allerdings berücksichtigt werden, dass die vorliegenden Ergebnisse aus einer relativ kleinen Gruppe von engagierten Jugendlichen stammen, die teilweise einen langen und schwierigen biografischen Weg hinter sich haben, zum Teil in queeren Jugendeinrichtungen aktiv sind, ein hohes formales Bildungsniveau haben und bereit sowie in der Lage waren, an einem Interview teilzunehmen. Die vorgestellten Daten spiegeln also die Erfahrungen genau dieser interviewten Jugendlichen wider. Sie sind nicht auf die Erfahrungen von allen LSBT*Q-Jugendlichen übertragbar. Gerade die Comingout-Erfahrungen von trans* Jugendlichen stellen sich in der vorliegenden Studie positiver dar als in anderen Studien, die sich mit der Arbeitssituation von trans* Personen befassen (vgl. exemplarisch Franzen/Sauer 2010).

5.

Erfahrungen von LSBT*Q-Jugendlichen im Ausbildungsalltag

Neben den Reaktionen auf ein Coming-out prägen viele weitere Erfahrungen und Ereignisse das Befinden der jungen Menschen bei ihrer Ausbildung und deren Verlauf. Diese werden im Folgenden gemeinsam für die sexuelle Orientierung und die geschlechtliche Zugehörigkeit betrachtet.

5.1

Erfahrungen in sozialen Beziehungen

LSBT*Q-Jugendliche haben in ihren Ausbildungen unterschiedliche soziale Kontakte: zu Mitschüler*innen, Auszubildenden, Lehrkräften, Kolleg*innen, Chef*innen und Rektor*innen. Diskriminierungserfahrungen wie LSBT*Qfeindliche Beleidigungen, Schimpfworte oder Ablehnung wurden laut den Beschreibungen der Interviewpartner*innen ausschließlich durch Peers ausgelöst. Insbesondere die Verwendung von Schimpfworten und ein unreflektiertes Verhalten gehören zum Alltag. »Natürlich, dieses typische ›Äh, das ist voll schwul‹ und Schimpfwort und Dings, das ist immer noch gang und gäbe, auch in der Berufsschule. Das ist

265

266

Claudia Krell/Nora Gaupp

auch in der Arbeit so. Das ist auch was, was ich doof finde, aber – ja.« (Emil, 22 Jahre, cis männlich, schwul)   »Oder, das Schlimmste ist ja, wenn Leute so kommen und meinen: ›Ja, schau mal, der ist ja auch schwul, kennst du den eigentlich nicht?‹ oder so. ›Ja, klar, ich kenne jeden in der Stadt, der die Orientierung hat, auf jeden Fall, klar, wer kennt den nicht‹, so ungefähr.« (Fabian, 16 Jahre, cis männlich, schwul) Von offener Anfeindung oder gezielten Beleidigungen berichteten die Interviewpartner*innen selten, ebenso wie von offensichtlich abwertendem Verhalten von Kolleg*innen oder anderen Mitarbeiter*innen, mit denen die jungen Menschen selten zu tun haben. »Zum Beispiel, wenn ich unten beim Rauchen bin, wenn ich unten zum Raucherpavillon gehe und dann wieder weggehe, dann reden die Leute über mich und lachen über mich.« (Tilda, 17 Jahre, weiblich mit trans* Biografie, heterosexuell) Solche negativen Verhaltensweisen gingen meist von Personen aus, mit denen die Jugendlichen eher losen Kontakt oder keine persönlichen Berührungspunkte hatten. Mit Blick auf ihre Vorgesetzten, Ausbilder*innen oder Lehrkräfte erwähnten die Jugendlichen kaum Verhaltensweisen, die sie als unangemessen in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit empfanden. In der Mehrheit hatten Vorgesetzte, Ausbilder*innen oder Lehrkräfte keinen persönlichen Bezug zum Thema LSBT*Q und verhielten sich passiv oder neutral, solange das Thema nicht sichtbar war bzw. keinen Raum einforderte. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wurden beispielsweise nicht bzw. selten im Rahmen des Unterrichts aufgegriffen oder als mögliche Alternative zu heteronormativen Modellen benannt und sichtbar gemacht. Das Thema war bzw. ist für viele Erwachsene, die an Ausbildungsorten arbeiten, schlicht so gut wie nicht existent. Häufiger als negative Erfahrungen wurden von den jungen Menschen positive Situationen im sozialen Miteinander beschrieben. Sie berichteten davon, dass ihr Umfeld positiv und offen mit ihnen umging, ihnen bei Anfeindungen zur Seite stand und solidarisch war. Einige Interviewpartner*innen knüpften zudem vertrauliche Beziehungen zu Menschen, die sie eng begleitet und unterstützt haben und beispielsweise bei Gesprächen mit Lehrkräften oder Vorgesetzten dabei waren. Auch der Umstand, viele andere LSBT*Q-

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

Personen anzutreffen – insbesondere in sozialen Berufen –, wurde von Jugendlichen sehr positiv beschrieben. Das LSBT*Q-Jugendliche Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsfeldern erlebten, macht folgendes Zitat deutlich. »Mir ist es auf dem Pausenhof ja aufgefallen, das war doch recht groß eben, auch mit diesen Elektrikern und so, dieser volle Männer-Proletenberuf, sage ich jetzt mal, die waren halt da auch mit drin. Und wir haben einen an der Schule gehabt, der war in der Parallelklasse, der hat halt offen seine Schwulheit ausgelebt […] und der ist halt dann oft blöd angemacht worden auf dem Pausenhof. Ich weiß, das war dann vielleicht auch nochmal so ein Punkt, wo ich mir gedacht habe: ›Mache ich das hier auf der Schule dann wirklich, oder?‹ Also, Pausenhof und mit, also andere Klassen waren mehr das Problem. In dem sozialen Ding [Anm.: Ausbildung zur Erzieherin] selber, glaube ich, wäre es nicht der Stress gewesen.« (Rebecca, 23 Jahre, weiblich mit trans* Biografie, heterosexuell) Insbesondere für trans* Jugendliche spielte die Anerkennung und Unterstützung durch Lehrkräfte oder andere Vorgesetzte eine große Rolle und trug zur Entlastung in ihrem Ausbildungskontext bei. »Wir haben Namensschilder bekommen, und da war zum Beispiel, stand noch mein alter Name drauf, und dann hat die Lehrerin, ist dann hergekommen, hat gesagt: ›Nee, das geht gar nicht‹, hat es in den Müll geworfen und direkt ein neues bestellt in meinem richtigen Namen dann. Und da war ich auch so: ›Wow! Ich bekomme wirklich Unterstützung, ohne dass ich auch was sagen muss, dass die Leute das jetzt halt wissen‹ – und direkt es auch umsetzen, ohne jetzt nochmal zu mir zu kommen: ›Ist das okay, ob da der alte Name steht?‹ Also, die denken halt so gleich mit und ändern alles ab.« (Valentin, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, heterosexuell) Ein Aspekt, der von einigen Jugendlichen ebenfalls als positiv beschrieben wurde, war die Möglichkeit, als ›Expert*in‹ in eigener Sache agieren zu können. Das Thema LSBT*Q ist nach wie vor an vielen Stellen noch unbekannt und mit Klischees behaftet. Die Jugendlichen erlebten, dass sich Menschen offen und interessiert zeigten, wenn sie über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt beispielsweise im Rahmen eines Referats sprachen und sie auf diesem Weg die Möglichkeit hatten, aufzuklären und die Situation damit für sich und andere LSBT*Q-Personen zu verbessern.

267

268

Claudia Krell/Nora Gaupp

5.2

Erfahrungen auf der strukturellen Ebene

Herausforderungen für die befragten LSBT*Q-Jugendlichen im Ausbildungskontext hingen häufig auch mit strukturellen Gegebenheiten zusammen. Zum einen – und dies gilt nicht nur für den Ausbildungssektor, sondern gesamtgesellschaftlich – erlebten Jugendliche, die nicht heterosexuell bzw. nicht cisgeschlechtlich sind, von klein auf, dass sie mit ihrem Erleben und Empfinden nicht den heteronormativen Vorstellungen entsprechen, in die sie hineingeboren wurden und mit denen sie aufwachsen. »Halt einfach, weil ich so bin, wie ich bin. Weil ich ja eigentlich im Prinzip biologisch ein Mädchen bin, aber, äh, mich anziehe wie ein Junge, das geht ja nicht, ne, das ist Abschaum für die Gesellschaft.« (Jason, 20 Jahre, männlich mit trans* Biografie, keine Angabe zur sexuellen Orientierung) Ebenso wie in anderen Lebensbereichen mussten die Interviewpartner*innen überlegen, wie sie im Ausbildungskontext gegenüber anderen Menschen mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit, ihrem ›Anders-Sein‹ umgehen. Diese Auseinandersetzung ist, wie eingangs und an anderer Stelle (vgl. exemplarisch Krell/Oldemeier 2017) beschrieben, für viele queere junge Menschen nicht einfach. Zum anderen erlebten sie sowohl in der schulischen als auch in der betrieblichen Ausbildung, dass das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt weitestgehend negiert wurde und am ehesten durch eine fehlende Repräsentation auffiel. Diese Negierung bezog sich besonders auf die Schullaufbahn, im Rahmen der Ausbildung wurden das Thema oder andere queere Menschen teilweise etwas sichtbarer. »[…] das finde ich so das Allerbeste am Sozialassistentenberuf, es gibt keinen, der mich wegen meiner Sexualität irgendwie komisch anguckt. Es gab keinen einzigen, der irgendwie gesagt hat, das wäre abartig oder das gehört sich so nicht. Und ich, also, gerade an der Schule, finde ich, ist der höchste Schnitt an LGBT-Leuten, die ich je hatte, allein in meiner Klasse sind mit mir fünf Leute drin, die alle zur LGBT-Gruppe gehören.« (Jul, 20 Jahre, genderfluid, pansexuell) Ein problematischer Aspekt für junge trans* und gender*diverse Jugendliche zeichnet sich auf der strukturellen Ebene im Umgang mit ihren Personendaten ab. Wie in einem weiter oben zitierten Interviewausschnitt bereits deutlich geworden ist, wurde, sofern noch keine rechtliche Namens- oder Perso-

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

nenstandsänderung erfolgt war, in Dienstplänen und anderweitig der Name verwendet, der in den offiziellen Unterlagen der Jugendlichen stand. Hierdurch kam es zu wiederholtem Zwangsouting, weil in jedem neuen Dienstplan, an jeder neuen Stelle, auf jeder Klassenliste der alte Name der Jugendlichen für alle sichtbar war. Diese Situation stellte eine große Belastung dar. Als positiv empfanden es die jungen Menschen, wenn sexuelle und geschlechtliche Vielfalt auf der strukturellen Ebene sichtbar wurden, beispielsweise im Unterricht Erwähnung fanden, oder wenn das Geschlecht in Formularen nicht binär erhoben wurde. Auch die zugesicherte Unterstützung von Vorgesetzten oder Lehrkräften sowie das Wissen um Anlaufstellen, an die sie sich wenden können, half ihnen in ihrem Ausbildungsalltag. Ob sie sich bei möglichen Problemen, die mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit zusammenhängen, künftig an solche Anlaufoder Beschwerdestellen wenden würden, konnten die Jugendlichen nicht genau sagen. Allerdings nutzten einige bereits entsprechende Möglichkeiten, weil sie im Ausbildungskontext rassistischen oder sexistischen Situationen ausgesetzt waren und sie auf diesem Weg Rückhalt und Sicherheit bekamen. »Also, wenn ein Gast mich blöd anmacht, gehe ich zu meinem Chef, und dem verpasst er meistens gleich ein Hausverbot, wenn er halt nicht spurt. Da ist mein Chef knallhart. Mein Chef hat gesagt, wir müssen uns gar nichts gefallen lassen. Sollen wir auch gar nicht. Wir sollen auch erst gar nicht mit den Gästen diskutieren.« (Said, 19 Jahre, cis männlich, schwul) Positive wie negative Erfahrungen in der Ausbildung haben Einfluss auf den weiteren Ausbildungsverlauf. Ist der Ausbildungskontext von einer Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geprägt und erleben queere Jugendliche persönliche Unterstützung, können sie freier und offener auftreten, als es ihnen in einem LSBT*Q-negativen bzw. -feindlichen Umfeld möglich ist. Sie können in einem bestimmten Rahmen selbst entscheiden, ob und gegenüber welchen Menschen sie ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit publik machen wollen. Ein unaufgeregter, diskriminierungsarmer und zugewandter Umgang, der ohne unangebrachte Besonderung auskommt, zugleich aber Offenheit, Wertschätzung und Unterstützung signalisiert, bietet LSBT*Q-Jugendlichen eine gute Grundlage für einen selbstbestimmten und erfolgreichen Ausbildungsverlauf. Mit Blick auf die negativen Erfahrungen zeigt sich, dass die jungen Menschen vielfach gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Sie reagieren individuell unterschiedlich, so, wie es für sie in der konkreten Situation am besten lebbar ist. Sie arrangieren sich

269

270

Claudia Krell/Nora Gaupp

mit der Situation, setzen sich aktiv dagegen zur Wehr oder suchen Unterstützung. Wenn junge LSBT*Q-Personen in ihrem Bildungsverlauf Brüche erleben, hängt dies weniger mit einzelnen, isoliert zu betrachtenden Diskriminierungserfahrungen zusammen, sondern vornehmlich damit, dass sie in einer heteronormativen Umwelt aufgewachsen sind und nach wie vor in einer solchen leben.

6

Wie können Schulen und Betriebe die Situation für LSBT*Q-Jugendliche verbessern?

Abschließend lässt sich feststellen, dass fast alle Jugendlichen ihre aktuelle Situation zum Interviewzeitpunkt als stabil und gut beschreiben würden. Sie haben Strategien für den Umgang mit Herausforderungen entwickelt und sich ein gutes soziales Umfeld geschaffen. Trotz manch schwieriger, gegebenenfalls wiederkehrender Situationen hat es den Anschein, dass es den jungen Menschen in ihren Ausbildungs- und Arbeitskontexten gut geht und sie passende Wege für sich gefunden haben, was vielfach auf ihre Eigenaktivität zurückzuführen ist. Es läuft für sie nicht immer reibungslos und sie stoßen immer wieder auf Hindernisse und Herausforderungen, aber bei vielen überwiegen positive Erlebnisse, Begegnungen und Ausbildungsinhalte. »Ich bin sehr zufrieden. Ich war von Anfang an, also im ersten Jahr war ich echt, eigentlich permanent sehr glücklich, das hat sich jetzt gelegt. So wie frisch verliebt und dann ist es halt schön, aber nicht mehr verliebt, so ungefähr.« (Lissy, 20 Jahre, cis weiblich, lesbisch) Wie an anderer Stelle bereits beschrieben, trifft diese überwiegend positive Situation mit Sicherheit nicht auf alle LSBT*Q-Jugendlichen zu. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es viele queere Jugendliche gibt, die in ihrer Ausbildung auf Schwierigkeiten stoßen, die sie nicht oder nur mit großem Aufwand und Willen lösen können. Um möglichst vielen nicht-heterosexuellen und/oder nicht cis-geschlechtlichen jungen Menschen ein möglichst gutes Umfeld im Ausbildungskontext zu bieten, das eine gute Bewältigung und einen Berufsabschluss wahrscheinlicher werden lässt, können verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Drei seien an dieser Stelle vorgestellt.

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

6.1

Wissen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt vermitteln

Ziel von Lernfeldern, die in Berufsschulen zum Teil die traditionellen Fächereinteilungen abgelöst haben, ist es, Jugendlichen Handlungskompetenzen nahezubringen, zu denen auch Human- und Sozialkompetenzen zählen. Am Anfang der Ausbildung werden im ersten Lernfeld Kernkompetenzen vermittelt und die jungen Menschen auf ihre Position als Arbeitnehmer*innen vorbereitet. In diesem Kontext – und analog dazu bei Orientierungstagen an beruflichen Schulen oder Projektwochen an berufsbildenden Schulen – könnte das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt platziert werden. Ausbildungsorte wie berufliche und berufsbildende Schulen bieten durch die oft heterogen zusammengesetzte Schüler*innenschaft ein gutes Forum, um Vielfalt und den Umgang mit Diskriminierung zu thematisieren. Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit sind dabei nur zwei von vielen Differenz- oder Ungleichheitsmerkmalen, zu denen beispielsweise auch Bildung, eigene oder familiäre Migrationserfahrungen, der sozioökonomische Status, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder das Leben mit einer Beeinträchtigung gehören. Im Laufe der Ausbildung bietet es sich zudem an, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt implizit einfließen zu lassen, indem Vielfalt selbstverständlich und kontinuierlich mitbenannt und so sichtbar gemacht wird. Auf diese Weise wird eine Haltung transportiert, die Offenheit signalisiert und es ermöglicht, dass sich alle Jugendlichen angesprochen, gesehen und ermutigt fühlen. Zum anderen bietet sich dadurch für Schüler*innen, die nicht mit dem Thema vertraut sind, die Möglichkeit, ihre Fragen und gegebenenfalls auch ihr Unbehagen zu äußern und sich damit auseinanderzusetzen. Wenn Schulmaterialien und -bücher Diversität abbilden, sorgt das für Sichtbarkeit, auch wenn das Thema im Unterricht gegebenenfalls nicht explizit oder nur kurz behandelt wird. Lehrkräfte und Ausbilder*innen sollten, damit sie informiert und sicher im Umgang mit dem Thema sind, in ihrer eigenen Ausbildung oder im Laufe ihrer Berufstätigkeit in Form von Weiterbildungen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geschult werden. Dieses Wissen würde dazu beitragen, die Situation von LSBT*Q-Jugendlichen besser zu verstehen, mögliche Bedürfnisse, Ressourcen und auch Notlagen zu erkennen und handlungsfähig zu sein, um die jungen Menschen wenn notwendig adäquat zu unterstützen.

271

272

Claudia Krell/Nora Gaupp

6.2

Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Richtlinien und Konzepten zum Umgang mit Diversität institutionell verankern

Ein proaktiver Umgang von Schulen und Betrieben mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt würde es jungen LSBT*Q ermöglichen, auf bereits bestehende Strukturen und Regelungen zurückzugreifen – die entwickelt wurden, bevor das Thema durch eine*n junge*n Auszubildende*n ›akut‹ wurde. Denkbar sind Richtlinien zum Umgang mit queerfeindlicher Diskriminierung (Mobbing etc.), schulische oder betriebliche Antidiskriminierungsrichtlinien und vor allem Strategien zum Umgang mit Namen und Personenstand vor einer rechtlichen Personenstandsänderung unter Ausschöpfung der bestehenden Möglichkeiten. Die Nutzung des gewünschten Namens von trans* Jugendlichen in der Schule und/oder im Ausbildungsbzw. Arbeitskontext trägt beispielsweise deutlich zur Reduktion von depressiven Symptomen sowie von Suizidgedanken und -versuchen bei (vgl. Russell et al. 2018) und ist auch ohne eine offizielle Namens- bzw. Personenstandsänderung möglich (vgl. Augstein 2013). Wichtig ist, dass der Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt »top down« implementiert wird, damit die Haltung der Einrichtung deutlich und bekannt wird, und dass Richtlinien für alle Mitarbeiter*innen verbindlich sind. Es gilt, Menschen für das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu sensibilisieren, ihr Interesse dafür zu wecken und sie darüber zu informieren. In den Prozess der Öffnung sollten alle Mitarbeiter*innen einbezogen werden, damit sie verstehen und es mittragen, dass Diversität – sei es im Betrieb, in der Schule oder mit Blick auf Kund*innen – eine Chance und keine Gefahr darstellt. Um das Thema sichtbar zu machen und ansprechbar zu sein, ist eine offensive Haltung zum und eine klare Mitteilung über den Umgang mit Diversität hilfreich. Zudem sollte es eine konkrete Ansprechperson geben. Diese benötigt dafür Unterstützung in Form von zum Beispiel zeitlichen Ressourcen, Fortbildungsmöglichkeiten und Räumen – die professionelle Verankerung und Sichtbarmachung von Vielfalt darf im Schulalltag nicht darauf aufgebaut sein, dass Lehrkräfte diese Aufgabe sozusagen ›ehrenamtlich‹ neben ihren anderen Aufgaben übernehmen. Sichtbar wird die Haltung einer Einrichtung oder eines Betriebs auch durch einen gendersensiblen Sprachgebrauch, durch den Verzicht auf heteronormative Zuweisungen (zum Beispiel durch eine dritte Option bei der Auswahl des Geschlechts) und durch Plakate, Flyer oder Aufkleber, die signalisieren, dass Menschen unab-

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

hängig von ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit willkommen sind.

6.3

Strategien zum Umgang mit Diskriminierung entwickeln

Eine unabdingbare Grundlage für eine Verbesserung der Situation von LSBT*Q-Jugendlichen ist zudem, bei Diskriminierung oder Benachteiligung einzuschreiten. Hierzu gehört, dass Vorgesetzte oder Lehrkräfte intervenieren, wenn Beleidigungen und Schimpfworte gegenüber LSBT*QJugendlichen genutzt werden. Es ist wichtig, dass Auszubildende wissen, an welche Stelle bzw. Person sie sich bei Problemen wenden können, und dass sie auch dazu ermutigt werden, dies zu tun. Wenn in Schul- oder Betriebsordnungen und entsprechenden Richtlinien Diskriminierung zum Beispiel aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Zugehörigkeit klar verurteilt wird und entsprechende Konsequenzen festgeschrieben werden, können Lehrkräfte, Ausbilder*innen, alle weiteren beschäftigten Personen und nicht zuletzt die jungen Menschen selbst hierauf verweisen, wenn es zu Vorfällen kommt.

Literatur Augstein, M. S. 2013: Zur Situation transsexueller Kinder in der Schule vor der offiziellen (gerichtlichen) Vornamensänderung. Online verfügbar unter: https://www.trans-kinder-netz.de/files/pdf/Augstein  %20Maerz %202013.pdf [Zugriff: 26.02.2022]. BIBB – Bundesinstitut für Berufsbildung 2020: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2020. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn. Online verfügbar unter: https://www.bibb.de/d atenreport/de/datenreport_2020.php [Zugriff: 26.02.2022]. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung 2021: Bildungsbericht 2021. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmbf.de/bmbf/d e/bildung/bildungsforschung/internationale-vergleichsstudien/bildungauf-einen-blick-oecd-bericht/bildung-auf-einen-blick-ein-bericht-der-o ecd.html [Zugriff: 26.02.2022]. Dalia Research 2016: 6 % of Europeans Identify as Lesbian, Gay, Bisexual or Transgender (LGBT). Online verfügbar unter: https://www.jetzt.de/lgbt/d alia-studie-zu-lgbt-anteil-in-der-bevoelkerung [Zugriff: 26.02.2022].

273

274

Claudia Krell/Nora Gaupp

DGB – Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesvorstand, Abteilung Jugend und Jugendpolitik 2019: Ausbildungsreport 2019. Ausbildung 4.0. digital. lernen. gemeinsam. entwickeln. Online verfügbar unter: https://jugend.dgb.de/++co++14a03fc4-ae9a-11e8-abbf-525400d8729f/ Ausbildungsreport-2019.pdf [Zugriff: 26.02.2022]. Franzen, J./Sauer, A. 2010: Benachteiligung von Trans*Personen insbesondere im Arbeitsleben. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.antidisk riminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expert isen/expertise_benachteiligung_von_trans_personen.pdf?__blob=publica tionFile&v=3 [Zugriff: 26.02.2022]. Gaupp, N. 2017: Diversitätsorientierte Jugendforschung – Überlegungen zu einer Forschungsagenda. In: Soziale Passagen, 9, 2, S. 423-439. Krell, C. 2021: Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in der beruflichen Bildung. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Krell, C./Oldemeier, K. 2017: Coming-out – und dann …?! Coming-outVerläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich. Plöderl, M. 2016: Out in der Schule? Bullying und Suizidrisiko bei LGBTI Jugendlichen. Online verfügbar unter: https://www.suizidprophylaxe-onlin e.de/pdf/05_heft164_2016.pdf [Zugriff: 26.02.2022]. Reißig, B./Gaupp, N. 2016: Übergänge Jugendlicher von Schule in Ausbildung aus soziologischer Perspektive. In: Lange, A./Steiner, C./Schutter, S./Reiter, H. (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 191-204. Rottermann, B. 2017: Sozialisation von Jugendlichen in geschlechtsuntypischen Berufslehren. Opladen: Barbara Budrich. Russell, S. T./Pollitt, A. M./Li, G./Grossman, A. H. 2018: Chosen Name Use Is Linked to Reduced Depressive Symptoms, Suicidal Ideation and Behavior among Transgender Youth. In: Journal of adolescent health, 63, 4, S. 503505. Vervecken, D./Hannover, B. 2015: Yes I can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy. In: Social Psychology, 46, 2, S. 76-92. Online verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/27928812 4_Yes_I_Can_Effects_of_Gender_Fair_Job_Descriptions_on_Children

Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

’s_Perceptions_of_Job_Status_Job_Difficulty_and_Vocational_Self-Efficacy [Zugriff: 26.02.2022].

275

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem Ergebnisse, Schlussfolgerungen, Empfehlungen Maria Bitzan/Jasmin Brück/Susanne Dern/Thomas Nestler/Utan Schirmer/Bettina Staudenmeyer/Ulrike Zöller

Das Übergangssystem mit seinen verschiedenen Angeboten von unterschiedlichsten Trägern in unterschiedlichen Rechtskreisen stellt eine gesellschaftliche Sphäre dar, in der sich junge Menschen wiederfinden, die keinen linearen Übergang von der Schule in eine Ausbildung bzw. ein Studium vorweisen können. Wie im vorliegenden Band theoretisch und empirisch mit verschiedenen Zugängen erörtert wurde, zeigt sich, dass dieses Feld bisher noch wenig im Hinblick darauf unter die Lupe genommen wurde, wie es jungen Menschen aus dem LSBTIQ-Spektrum darin ergeht. Einige der hier dargestellten Forschungen versuchen, erste Erkenntnisse darüber zu gewinnen, indem sie vor allem nach den Thematisierungs- und Umgangsweisen von Fachkräften und nach erlebten organisatorischen bzw. institutionellen Begrenzungen fragen, um anhand der Ergebnisse ein Bild von der hier noch kaum angefochtenen Wirkmächtigkeit heteronormativer Normalitätsvorstellungen zu erhalten. Der vorliegende Text versucht nun, ausgehend von den in den einzelnen Beiträgen dargelegten empirischen und theoretischen Erkenntnissen einige Schlussfolgerungen und Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem zusammenzutragen. Der Beitrag basiert im Wesentlichen auf einer gemeinsamen Diskussion der Herausgeber*innen. Daher handelt es sich um einen vielstimmigen, eher explorativen Text, teilweise mit unterschiedlichen Theoriebezügen, aber mit der gemeinsamen Intention, Hinweise auf Veränderungspotenziale vorzustellen, die zu mehr Anerkennung der Vielfalt junger Menschen beitragen können. Die (deutsche) Arbeitsgesellschaft stellt wechselwirkende und widersprüchliche Subjektivierungsanforderungen an Jugendliche in einem ge-

278

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

sellschaftlichen Wirkungsfeld verschiedener Ungleichheitsverhältnisse wie Klasse, rassistische Ordnung und Heteronormativität in hierarchischen Geschlechterverhältnissen. Alle jungen Menschen unterliegen diesen Anforderungen, die sie – unter Absehung von individuellen Voraussetzungen – je nach Ressourcen und Einbettung in die gesellschaftlichen Dominanzstrukturen besser oder mühevoller bewältigen können. Institutionen, die mit Jugend befasst sind, transportieren diese Anforderungen, können sie bei entsprechender Reflexion und eigenmächtiger Positionierung aber auch relativieren und Jugendliche in ihrer je besonderen Erlebens- und Herausforderungssituation unterstützen (s. Brück/Brodersen/Nestler in diesem Band). Institutionellen Bildungsorten kommt dabei eine prägende Funktion zu, weil sie formale Qualifikationsschwellen organisieren. Das Übergangssystem spielt hierbei eine besondere Rolle, weil es für diejenigen gedacht ist, die den vorgesehenen ›Normalweg‹ nicht ›schaffen‹. Es ist also (in seiner Vielfältigkeit) in allererster Linie ein Auffangbecken für junge Menschen, konzipiert als Kompensation und Nachqualifizierung (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). Unter emanzipatorischen Gleichberechtigungsansprüchen sind alle Einrichtungen für Jugendliche, also auch die im Übergangssystem, gefordert, Jugend nicht als homogene Gruppe, sondern in ihrer Vielfalt zu betrachten. So unterscheiden sich junge Menschen als Adressat*innen des Bildungssystems nicht nur mit Blick auf das Alter und die Lernleistung, sondern sie sind auch hinsichtlich gesellschaftlicher Differenzlinien wie (unter anderem) sozialer Herkunft, Migrationsgeschichten und Rassismuserfahrungen, Befähigungen bzw. Behinderungen, sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Zugehörigkeiten heterogen. Eine systematische Beachtung dieser Heterogenität bedarf eines Settings, in dem die Barrieren, die sich aus der üblichen Ausrichtung an einer vermeintlichen Normalität ergeben, erkannt und abgebaut werden können; eines Settings, in dem alle Adressat*innen ihre Lebensrealität wiederfinden, in dem sie sich verstanden fühlen und als die anerkannt werden, die sie – je unterschiedlich – sind oder sein möchten. So sollte in einer rahmengebenden lebensweltorientierten Perspektive das Subjekt in den Mittelpunkt der Bildungsinstitutionen gestellt werden und junge Menschen sollten in ihren je spezifischen Bildungsprozessen und im Heranwachsen begleitet werden. Dabei müssen sich professionelle Akteur*innen wie Lehrkräfte, sozialpädagogische Fachkräfte usw. mit den Fragen beschäftigen, wie eine gleichberechtigte Teilhabe unter heterogenen Ausgangsbedingungen hergestellt

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

werden kann und wie sich die Ressourcen junger Menschen hervorbringen und fördern lassen. Das heißt, die Fachkräfte sollten eine theoretische Perspektive der Lebensbewältigung verfolgen und somit die Jugendlichen in ihrer Handlungsfähigkeit unterstützen, anstatt sich vorrangig auf den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt zu konzentrieren. Eine solche reflektierende Subjektperspektive unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Differenzverhältnisse würde allen Jugendlichen in den jeweiligen Einrichtungen zugutekommen und damit die Arbeit mit Jugendlichen insgesamt wesentlich qualifizieren. Wenn wir also im Folgenden Bedarfe für queere Jugendliche formulieren, geht es uns nicht allein darum, die Berücksichtigung einer ›besonderen‹ Zielgruppe (mit dem Ziel ihrer Inklusion) einzufordern. Wir hoffen vielmehr, damit zumindest implizit Impulse für eine (normalitäts)kritische Praxis im Übergangssystem insgesamt geben zu können, die von anderen aufgegriffen und in weiteren Hinsichten expliziert werden können. Uns interessierte: Wie unangepasst – auch hinsichtlich des geschlechtlichen Ausdrucks – darf ein*e Jugendliche*r sein, um in einer Ausbildung Fuß fassen zu können? Und wie können die Institutionen des Übergangssystems hier Brücken bauen, Akzeptanz fördern und somit mehr Selbstbestimmung ermöglichen? Ausgehend von unseren Fragen, die das Übergangssystem beleuchten, indem queere Themen mit Arbeitsmarktthemen zusammengedacht werden (s. Bitzan/Schirmer in diesem Band), entwickelten wir die im Buch vorgestellten Forschungszugänge (s. Brück, Staudenmeyer, Nestler und Zöller/Hust in diesem Band) und theoretischen Rahmungen (s. Brück/ Brodersen/Nestler, Dern/Zöller/Bitzan) und Spangenberg in diesem Band) sowie die Einblicke in die angrenzenden Felder (s. Bitzan/Kaschuba und Krell/ Gaupp in diesem Band). Mit unserem resümierenden Text folgen nun quer dazu Impulse, die wir auf drei Ebenen verorten: Strukturüberlegungen beziehen sich auf die institutionellen und politischen Rahmungen des Feldes. Ebenso braucht es ein Umdenken und ein Anpassen auf konzeptioneller Ebene, das es Fachkräften ermöglicht, auf der individuellen Handlungsebene ihr konkretes fachliches Handeln zu überdenken und weiter zu qualifizieren. Die folgende Darstellung von Schlussfolgerungen und Impulsen berücksichtigt diese Ebenen, ist jedoch sortiert nach inhaltlichen Kriterien, die die Logiken des Feldes (1.), konzeptionelle Anforderungen (2.), den Umgang mit Sprache und Unsicherheit (3.), den Bedarf an Austauschräumen für Fachkräfte (4.) sowie die Anforderung, heteronormativitätskritische Kompetenzen als Erweiterung geschlechterreflexiver Arbeit

279

280

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

zu entwickeln (5.), betreffen. Am Schluss wird noch der dringende Bedarf an Aus- und Weiterbildung angesprochen (6.).

1.

Zuständigkeitsstrukturen und Logiken des Feldes

Wie in unseren Beiträgen deutlich geworden ist, haben sich die Intentionen bzw. vor allem die Zuständigkeiten hinsichtlich der Angebote im Übergangssystem verschoben. So ist der (teilweise erzwungene) Rückzug der Jugendhilfe und ihre fachliche Zurückhaltung da, wo sie noch Träger ist, als problematisch zu sehen. Denn über die Soziale Arbeit sind die Chancen für ganzheitlichere Angebote, die die Teilnehmenden auch in ihrer Entwicklung und damit als eigensinnige und ganze Person sehen, noch eher gegeben als über die Engführung der SGB II/III-Angebote, wonach primär die Arbeitsmarktfähigkeit im Vordergrund steht. Über die stark reglementierte Einkaufsstrategie bezüglich der Maßnahmen (Erfolgsquoten, die die Vermittlung in den Arbeitsmarkt betreffen, als Kriterium) wird die Orientierung am ›Normalitätsstandard‹ noch einmal verstärkt und die Möglichkeit der flexiblen Anpassung an Bedarfe bestimmter Zielgruppen beschränkt (s. Dern/Zöller/Bitzan in diesem Band). So ist der Übergangsbereich – als Folge der neoliberalen Ausrichtung auf ›employability‹ – bestimmt von der Propagierung von Individualisierung, durch die (verdeckt) eine Verlagerung gesellschaftlicher/arbeitsmarktlicher Probleme auf die Jugendlichen erfolgt. Teilweise engstirnige Normalitätskonzepte in den Personalabteilungen korrespondieren mit Schilderungen der Fachkräfte, bei denen Probleme von queeren Jugendlichen immer wieder individualisiert werden: Jemand hat viele Auseinandersetzungen am Ausbildungsplatz, jemand erlebt viele Übergriffe – und dann wird die Frage aufgeworfen, ob es vielleicht doch am Jugendlichen selbst liegt und was er*sie machen müsste, damit das nicht passiert; statt sich zu fragen, inwiefern Homo- und Trans*-Feindlichkeit, Heteronormativität oder Victim Blaming in die Situationen hineinspielen bzw. innerhalb welcher Strukturen und Diskurse sich die Situationen bewegen. Und so stellt sich die Frage, inwiefern diese Logik der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme dem Übergangsbereich per se in besonders hohem Maße inhärent ist. Denn die neoliberale Ideologie vermittelt, dass alle, die wollen, Ausbildungs- und Arbeitsplätze finden können. Wenn es nicht klappt, dann liegt es wohl an individuellen Problemen.

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

Eine – auch selbstkritische – Frage ist, warum Queerness in Bezug auf Maßnahmen (und auch generell in der Sozialen Arbeit immer wieder) großenteils als Defizit oder im Konfliktkontext beschrieben wird. Dies kann möglicherweise an dem spezifischen Suchblick der Forschenden als Frage nach dem Besonderen und damit verbunden nach einem Problem liegen. In der Praxis hat diese Perspektive viel zu tun mit dem am Defizit und auf Nachqualifizierung ausgerichteten Übergangssystem. Eine alternative Lesart von Queerness würde vielmehr Widerständigkeit, die Versuche, die eigene Stimme zu erheben, das Ringen um Anerkennung je als Ressource hervorheben und stärken (s. Nestler in diesem Band). Eine Verankerung von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentitäten als allgemeinem Thema, das alle Jugendlichen auf die eine oder andere Weise betrifft, in Konzepten und Lehrplänen fehlt hier. In unserem Projekt »(Un)angepasst« waren wir unter anderem auf der Suche nach Institutionen des Übergangsbereichs, die queere Themen als allgemeines, das heißt überindividuelles Thema mit den Jugendlichen verhandeln. Solche Institutionen haben wir kaum gefunden. Bei den Befragten wurden queere Themen de facto meistens nur fall- bzw. personenbezogen zum Thema – und das wiederum fast ausschließlich problembezogen. Sicher spielt das Feld des Übergangssystems, möglicherweise aber auch die Anlage Sozialer Arbeit insgesamt, einem solchen individualisierenden und am Defizit orientierten Blick in die Hände: Genau so sind die Institutionen und Hilfeansätze konstruiert. Aber einige Fachkräfte in unserem Sample, die sich bewusst von der Problemorientierung wegbewegen wollten und eine breite Lebensweltorientierung forderten, konnten queere Themen im Lebenslauf (auch) als Ressource sehen. Es wurde außerdem sichtbar, dass es von der Art der konkreten Maßnahme abhängt, inwiefern die Fachkräfte Raum dafür sehen, queere Themen zu setzen, auch wenn diese institutionell nicht verankert sind. Bei niederschwelligen Maßnahmen des Übergangssystems, bei denen die Alltagsbewältigung im Fokus steht, sehen sie eher Raum dafür als bei Maßnahmen, die die Arbeitsmarktintegration als eng definiertes prioritäres Ziel haben (s. Staudenmeyer in diesem Band). Dazu passt auch die Fallvignette einer*s Jugendlichen, im Rahmen derer sich zeigte, dass eine sogenannte Aktivierungshilfe, die sich an psychisch kranke Menschen als Zielgruppe richtete, von der*dem Protagonist*in als wesentlich offener und als mehr Raum für die Anerkennung des jeweiligen Soseins erlebt wurde als eine ›allgemeine‹ BvB-Maßnahme (s. Brück in diesem Band). Unseres Erachtens zeigt sich hier wieder das Paradoxon, dass potenzi-

281

282

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

ell stigmatisierende Zuschreibungen (hier: psychisch krank) eben auch Räume eröffnen können, die einen Schutz bieten vor dem unmittelbaren Zugriff herrschender Normen, die mit der Arbeitsmarktintegration verbunden sind. Aber gleichzeitig laufen sie eben Gefahr, die Ausschlüsse zu zementieren (s. Bitzan/Schirmer in diesem Band).

2.

Konzeptionelle Anforderungen

Wie kommt das Thema ›Heteronormativität‹ bzw. ›Queerness‹ oder ›sexuelle und geschlechtliche Vielfalt‹ nun vor in den Einrichtungen? Bei manchen Trägern finden sich auf ihren Websites und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit durchaus Bekundungen der Wichtigkeit der Berücksichtigung von Diversität. Jedoch reicht ein Leitbild, das sich positiv auf Diversität bezieht, für unser Thema noch nicht aus. Denn mit der Betonung von Diversität werden nicht zwangsläufig Machtverhältnisse mitgedacht und auch ist damit nicht automatisch ein Wissen über die Positionierung (und vor allem Diskriminierung) von bestimmten Gruppen wie in unserem Fall queeren Personen verbunden. Diversität bleibt oftmals zu schwammig und daher verdeckend. Unsere Recherchen verstärken die Vermutung, dass solche Verlautbarungen meist recht allgemein auf symbolischer Ebene vorhanden sind, sie aber nicht übersetzt werden in konkrete Anforderungen an Handlungskompetenzen und dass sie auch nicht in dementsprechende Qualifizierungsanforderungen an die Fachkräfte der Institution münden. So lässt sich annehmen, dass kaum dafür Sorge getragen wird, dass der verlautbarte Anspruch auch nach innen umgesetzt wird. Möglicherweise zeigt sich hier auch eine fehlende Brücke zwischen Leitungs- und Fachkräfteebene in dem Sinne, dass die Leitung das Leitbild nicht den Fachkräften vermittelt bzw. Fachkräfte bei der Leitung kein Gehör finden. Sicherlich verweist dieser Umsetzungsmangel aber auf ein geringes partizipatives, prozesshaftes Verständnis von Einrichtungsgestaltung mit den Fachkräften und Adressat*innen. Leitbilder oder andere symbolische Bekundungen auf institutioneller Ebene, die sich konkret auf queere Themen beziehen, haben wir bei unseren Untersuchungen keine gefunden. Es bleibt eine offene Frage, inwiefern eine solche Konkretisierung auch die Umsetzung von Leitbildern befördern würde. Wenn nun der Übergangsbereich queeren Jugendlichen gerecht werden soll, dann ist mehr als die Aufmerksamkeit der einzelnen Fachkräfte gefordert. Nicht nur einzelne Positionen von Fachkräften, sondern Institutionen

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

als Ganze und ihre Konzepte müssen reflektiert und verändert werden. Und darüber hinaus braucht es ein kommuniziertes Bewusstsein davon, dass wir in einer heteronormativen Gesellschaft leben und alle – seien es Fachkräfte, die sich für die Belange von queeren Jugendlichen einsetzen wollen, seien es Forschende – von dieser Gesellschaft geprägt sind und sie nicht einfach abschütteln können, sondern sie oftmals (versehentlich oder mangels Alternativen) reproduzieren. Konkret ist auf der konzeptionellen Ebene erforderlich, dass queere Themen explizit zum Thema gemacht werden: zum Beispiel durch Projekttage oder durch inhaltliche Einheiten im Unterricht. Das Aus- und Ansprechen der Möglichkeit, nicht ›hetero-normal‹ bzw. nicht cis- oder endogeschlechtlich zu sein, muss darüber hinaus einfließen in die reguläre Arbeit – muss zum Querschnittsthema werden, bei jedem anderen Thema mitgedacht werden, in Materialien vorkommen. Außerdem könnte die Mitarbeit in Arbeitskreisen vor Ort, die sich um eine diskriminierungskritische Politik und Angebote für Betroffene kümmern, eine sinnvolle Ergänzung auf der strukturellen Ebene sein. In den Institutionen sollte es Ansprechpersonen für queere Jugendliche geben, die für junge queere Menschen sichtbar und ohne Aufwand erreichbar sind. Gleichzeitig sollten queere Themen keinesfalls auf eine Queer-Beauftragte oder Ähnliches in der Institution ›abgeschoben‹ werden, vielmehr müssen alle Fachkräfte der Institution einbezogen werden. Zu konzeptionellen Aufgaben würde es weiterhin gehören, Informationen über spezifische Beratungsstellen und sonstige Angebote in der Umgebung leicht erreichbar öffentlich bereitzustellen. Vor allem aber müsste es auf einer konzeptionellen Ebene darum gehen, systematisch die Barrieren zu identifizieren (und ihre Beseitigung anzustreben), die sich aus der Ausrichtung an einer heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Norm ergeben. Dazu gehören auch bauliche und infrastrukturelle Maßnahmen, wie zum Beispiel die Berücksichtigung aller Geschlechter bei der Bereitstellung von Toiletten (und gegebenenfalls Umkleideräumen), oder Möglichkeiten der unkomplizierten Änderung von Namen und gegebenenfalls Geschlechtseinträgen in IT-Systemen und bei der Zeugnisausstellung.

283

284

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

3.

Sprache, Wissen, Haltung: Umgang mit Unsicherheiten der Fachkräfte

Viele der in den hier vorgestellten Projekten befragten Fachkräfte äußerten auf die eine oder andere Weise, dass sie über wenig Wissen und wenig Erfahrung im Umgang mit queeren Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen verfügen. Die daraus resultierende Unsicherheit zeigte sich auch auf der Ebene des Sprechens: Die oft vagen, konkrete Benennungen vermeidenden Formulierungen (»das Thema«), aber auch die häufige, (vermutlich) unbeabsichtigte Verwendung von potenziell verletzenden Begriffen verweisen darauf, dass eine angemessene Sprache, die eine unaufgeregte, konkrete und wertschätzende Thematisierung queerer Lebensrealitäten ermöglichen würde, häufig nicht zur Verfügung steht. Aufgefallen ist zum Beispiel, dass im Sprechen der Fachkräfte häufig der Begriff der ›Diskriminierung‹ umgangen und durch den des ›Mobbings‹ ersetzt wird. Formal erscheint dies erstaunlich, weil juristisch Mobbing ja eine gesteigerte Form der Diskriminierung darstellt. Vermutlich ist es leichter, von ›Mobbing‹ zu sprechen, weil der Begriff dahinter liegende strukturelle Ungleichheiten eher verschleiert bzw. individualisiert und er auch ein eingeübter Begriff ist. ›Diskriminierung‹ hingegen verweist direkt auf Strukturverhältnisse, deren sich nicht alle Fachkräfte bewusst sind. Diese Unsicherheit allein als Ausdruck fehlenden Wissens oder mangelnder Erfahrung zu deuten, greift unseres Erachtens allerdings zu kurz. Zwar ist die Möglichkeit, etwa im Rahmen von Aus- und Weiterbildung etwas über queere Lebensrealitäten in ihrer Vielfalt erfahren und eine angemessene Sprache für ihre Thematisierung erlernen zu können, zweifellos eine wichtige Voraussetzung für einen professionellen Umgang. Noch wichtiger dafür scheint uns jedoch eine Auseinandersetzung zu sein, die auch eine Reflexion der eigenen Verortung einschließt sowie die Bereitschaft, eigene Verunsicherungen zulassen und sich eingestehen zu können. So zeigte sich etwa im Forschungsprojekt »(Un)angepasst«, dass die professionelle Begleitung queerer Jugendlicher dann gut gelingt, wenn die Fachkräfte eigene Unsicherheiten aussprechen und reflektieren können und eine entdramatisierende Haltung entwickelt haben, die es eher ermöglicht, den Jugendlichen in ihrem jeweiligen Sosein zu begegnen. Als Gegensatz zu einer solchen Haltung interpretieren wir die zahlreichen Beispiele eines Unsicherheiten verdeckenden, vermeintlich selbstgewissen ›Redens über‹ queere Jugendliche, die sich in beiden vorgestellten Studien zum Übergangssystem finden: Dieses

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

›Reden über‹ erscheint uns – oft auch da, wo es wohlmeinend geschieht – als tendenziell bemächtigend-gewaltförmig, als ein kategorisierender, ordnender Zugriff; teils auch dann, wenn dabei vermeintlich ›korrektes‹ Wissen transportiert wird. Denn der (oft aus Verunsicherung oder auch aus Abwehr resultierende) Impuls, stets Erklärungen parat zu haben und Menschen bzw. Phänomene einzuordnen, strukturiert und begrenzt den Raum, in dem die jungen Menschen für die Fachkräfte sichtbar werden und sich ihnen gegenüber artikulieren können. Es geht aus unserer Sicht daher weniger darum, ›falsches‹ durch ›richtiges‹ Wissen zu ersetzen, sondern eher darum, eigene Impulse des erklärenden Zugriffs infrage zu stellen und gegebenenfalls ›Nichtwissen‹ explizit als Bedingung für eine offene Haltung (an-)zu erkennen, die auch für unvorhergesehene (geschlechtlich-sexuelle) Artikulationen, Verortungen und Ausdrucksweisen Räume eröffnen kann.1 Eine solche offene Haltung ist allerdings voraussetzungsvoll, da jede Wahrnehmung durch (in der Regel herrschende) gesellschaftliche Konzepte vorstrukturiert ist: Die wohlmeinende Behauptung, Menschen völlig jenseits kategorialer Zuschreibungen wahrzunehmen, läuft in der Regel darauf hinaus, gesellschaftliche Machtverhältnisse auszublenden. Um eine möglichst offene Haltung zu entwickeln, ist daher durchaus ›Wissen‹ (Kenntnisse über strukturelle Bedingungen, spezifische Lebenslagen und gegebenenfalls auch subkulturell konstituierte Lebensweisen und Selbstverständnisse) erforderlich, damit Differenzen und Machtverhältnisse wahrnehmbar und hinterfragt werden können. Es scheint uns aber entscheidend zu sein, dieses Wissen den konkreten Adressat*innen gegenüber nicht als »Zuschreibungswissen« (Debus 2015: 119) zur Anwendung zu bringen, sondern im Rahmen einer »Reflexionskompetenz« (ebd.) zu nutzen: das heißt, es als Bezugspunkt für mögliche Deutungshorizonte im Hintergrund zur Verfügung zu haben, es aber immer als vorläufig zu betrachten, also als offene Reflexions- und Wahrnehmungsfolie, um die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen nicht wiederum in (auch kritisch bzw. emanzipatorisch verstandene) Deutungen ›einzusperren‹. Ähnliche Überlegungen wurden auch allgemein für eine reflexive Adressat*innenorientierung stark gemacht: Das fundierte Wissen über Strukturverhältnisse öffnet den Blick für potenzielle Zusammenhänge, muss aber begleitet sein von strikter Offenheit gegenüber den subjektiven 1

Vgl. hierzu auch den von Paul Mecheril (2013) in kritischer Auseinandersetzung mit dem Konzept der »interkulturellen Kompetenz« geprägten Begriff der »Kompetenzlosigkeitskompetenz«.

285

286

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

Selbstdeutungen und -repräsentationen der Adressat*innen (vgl. Bitzan/ Bolay 2017: 128).

4.

Fachliche Austauschräume/Reflexionsräume

In allen Projekten wurde auch bedauert, dass es keine anlasslosen Räume für die fachliche Diskussion bzw. den fachlichen Austausch gibt: »Zu solchen Gesprächen kommen wir sonst nie, danke, dass wir hier mal in Ruhe reden können«, sagte eine befragte Fachkraft dazu. Institutionalisierte Angebote und Strukturen zum Fachaustausch als sichergestellte Reflexionsräume – in der Arbeitszeit – wären sinnvoll. Allerdings ist die konkrete Ausgestaltung dieser Reflexionsräume ausschlaggebend: So macht es einen Unterschied, ob die Fachkräfte sich in gewohnter Rahmung mit ihren Kolleg*innen zusammensetzen und in gewohnter Weise über Adressat*innen sprechen – oder ob auch dieses ›Sprechen über‹ kritisch reflektiert wird, zum Beispiel mit einer entsprechenden Begleitung von außen durch Supervisor*innen oder externe Fachkräfte mit vertieftem queertheoretischen und -praktischen Wissen. Andernfalls besteht die Gefahr, heteronormative Narrative zu wiederholen, sich gegenseitig darin zu bestärken und diese zu verfestigen. Auch Fachtage zu queeren Themen in der Arbeit mit Jugendlichen, bei denen Fachkräfte aus verschiedenen Institutionen zusammenkommen, können da ein Ansatzpunkt sein. Gleichzeitig reicht der einmalige Austausch nicht aus, sondern eine regelmäßigere Auseinandersetzung mit in der Praxis aufkommenden Fragen ist nötig, um Reflexion und Handlungssicherheit zu gewinnen. Dabei können die (auszuhandelnden) Ambivalenzen zwischen neuen Erkenntnissen (verbunden mit dem Wunsch, passender zu handeln und queere Realitäten aktiver mitzudenken) und systemimmanenten Logiken und begrenzenden Vorgaben erkannt und besprochen werden. Wichtig dabei ist das Element der Handlungsentlastung, das heißt, es geht nicht (in erster Linie) um ›Fallbesprechungen‹, sondern um die eigenen Verortungen und Unsicherheiten.

5.

Heteronormativitätskritische Kompetenzen als Erweiterung geschlechterreflexiver Arbeit

Seit Jahren gibt es Bestrebungen, auch in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen (wie sie das Übergangssystem beinhaltet) mehr geschlechterre-

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

flektierende Perspektiven einzubringen und in unterschiedlichen Formaten umzusetzen. Daher ist es hilfreich, sich den Diskurs in der (queeren) Jugendarbeit genauer anzusehen und zu prüfen, welche Elemente davon auch die Ansprüche hinsichtlich queerer Bedarfe im Übergangssystem bereichern bzw. konkretisieren könnten. In der geschlechterreflexiven Arbeit, die seit Langem im Rahmen feministischer Mädchenarbeit – und mit spezifischen Variationen in der solidarisch-kritischen Jungenarbeit – (weiter)entwickelt wird, sind wichtige Prinzipien der pädagogischen Arbeit entstanden, an die in der Arbeit mit queeren Jugendlichen teilweise angeschlossen wird: Neben Angeboten zu Schutz, Selbstvergewisserung und Empowerment geht es um die Anerkennung und Partizipation von Jugendlichen im Rahmen einer geschlechternormativitätskritischen Positionierung der Einrichtungen (s. Bitzan/Kaschuba in diesem Band). Dabei muss immer wieder ausgelotet werden, wann ein Schutzaspekt im Vordergrund steht und ein spezifischer Freiraum und wann es darum geht, die Querschnittsaufgabe als Qualifizierung der allgemeinen Angebote einer Einrichtung zu stärken. Es geht jedoch nicht darum, die bisherigen Konzepte der emanzipatorischen feministischen und antisexistischen Orientierungen über Bord zu werfen, sondern noch einmal que(e)r zu denken und mit verschiedenen Settings sowohl der Geschlechterhierarchie (die ja nicht abgeschafft ist) als auch der heteronormativen Binarität etwas entgegenzusetzen. Eine kritische Auseinandersetzung mit strukturellen Benachteiligungen reicht für eine heteronormativitätskritische Kompetenz ebenso wenig aus. Vielmehr besteht der Anspruch, sich für queere Lebensrealitäten einzusetzen, ohne in die schon angesprochene Besonderung zu verfallen. Es bedeutet für Fachkräfte, Verantwortung in Form von Handlungen zu übernehmen – ein konkretes Handeln, das durchaus auch bedeuten kann, die eigene ›Komfortzone‹ zu verlassen, indem eigene Privilegien reflektiert und zugleich genutzt werden, um die Menschen zu unterstützen, die von Ausgrenzung betroffen sind. Dies setzt voraus, dass sich Fachkräfte nicht nur thematisch mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt auseinandersetzen und bestehende cis-heterosexuelle Normen hinterfragen und diskutieren, sondern auch queere Positionen sichtbar machen, queere Widerstände unterstützen, queere Räume ermöglichen – und all das ›anlasslos‹, das heißt, ohne dass es im Vorfeld zu einer queerfeindlichen Handlung gekommen ist. Nicht zufällig sind die meisten Angebote einer queeren Jugendarbeit aus der Community selbst heraus entstanden (vgl. Staudenmeyer et al. 2016). Eine heteronormativitätskritische Perspektive zielt zudem auf »mehr als Sichtbarmachung und Antidiskrimi-

287

288

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

nierung« (Hartmann/Busche 2018), insofern es über die Artikulation und den Schutz benennbarer Identitäten hinaus auch darum geht, die Bedingungen zu hinterfragen, die regulieren und begrenzen, wer wir geschlechtlich und sexuell überhaupt sein können – im Interesse daran, das Feld dieser Möglichkeiten für alle zu erweitern (s. Bitzan/Schirmer in diesem Band). Einige dieser pädagogischen Prinzipien werden nun genauer ausgeführt:

Anerkennung Anerkennung – in Abgrenzung zur Toleranz – ist von wichtiger Bedeutung für junge queere Menschen im Übergangssystem. Forschungsergebnisse zeigen auf, dass Anerkennung weit mehr ist als die Abwesenheit von Diskriminierung. Anerkennung meint beispielsweise auch, die eigene Sichtbarkeit, die eigene Lebenslage in allen Situationen mitzudenken, erkennbar zu werden und dies anderen ebenso zu ermöglichen. Anerkennung ist also primär auf das Gegenüber und dessen soziale und rechtliche Akzeptanz gerichtet, aber zugleich auch auf die eigene Person (als Fachkraft). Anerkennung kann hier im Sinne einer kritischen Gesellschaftstheorie als zentraler theoretischer Bezugspunkt ausformuliert und auf die Praxis Sozialer Arbeit im Übergangssystem übertragen werden. Das anerkennungstheoretische Konzept spiegelt sich wider in der Frage, wie Menschen im Rahmen ihrer persönlichen (und geschlechtlichen) Integrität in der Gesellschaft sichtbar werden können. Damit verknüpft ist weiter, welche Lebensweisen in der Gesellschaft überhaupt mitgedacht werden, denn Gesellschaft wird strukturiert und begrenzt durch herrschende Ordnungen. Es ist selbstverständlich wichtig – und wäre ein großer Fortschritt –, dass nicht nur implizit als heterosexuell-cis-endogeschlechtlich gedachte Menschen, sondern auch schwule, bisexuelle, lesbische, trans* und inter* Menschen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ›vorkommen‹. An diesem Ziel zu arbeiten und gleichzeitig zu versuchen, die Räume noch weiter für geschlechtlich-sexuelle Artikulationen zu öffnen, die in diesen Kategorien nicht aufgehen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe und Aufforderung für die Profession Sozialer Arbeit. Anerkennungstheoretische Konzepte hinterfragen dabei kritisch, warum Menschen sich ›als …‹ sichtbar machen müssen, um überhaupt Anerkennung bekommen zu können. An dieser Stelle lassen sich die Ausführungen von Melanie Groß (2021: 871) anschließen, die aus einer queertheoretischen Perspektive dafür plädiert, die Leitprinzipien Sichtbarkeit, Anerkennung und Akzeptanz systematisch als genuine Bestandteile einer Theorie und Praxis der Jugendarbeit zu verstehen. Gleichzeitig arbeitet sie heraus,

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

dass diese Leitprinzipien zu einer weiteren Demokratisierung von Differenz beitragen können (vgl. ebd.), was auch in anerkennungstheoretischen Konzepten als zentrales Ziel formuliert wird.

Widerstände wahrnehmen – auch eine Form der Anerkennung Im analysierten Datenmaterial zeigen sich in den Erzählungen der Fachkräfte über queere Adressat*innen des Übergangssystems verschiedene Sichtweisen. Neben positiver, zugewandter Bezugnahme finden sich problematische und stigmatisierende Zuschreibungen, die im Zusammenhang mit machtvollen Positionierungen der Fachkräfte gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse reproduzieren und damit Anerkennung und Akzeptanz entgegenstehen. Queere Adressat*innen bekommen die Auswirkungen dieser Verhältnisse vielfach zu spüren und gehen unterschiedliche Wege, um sie subversiv zu unterlaufen, sich zu schützen und damit auch Normen zu hinterfragen, eigene Realitäten zu schaffen und Herausforderungen des Übergangssystems und des Jugendalters zu bewältigen. Für eine ›gute‹ Professionalität in diesem Bereich gilt es, diese widerständigen Akte als solche wahrzunehmen, sie nicht (voreilig) zu pathologisieren und sie als Bewältigungsverhalten – mit den sich darin zeigenden Ressourcen – anzuerkennen. Für die Soziale Arbeit und eine transdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Professionen ist es wichtig, diese Aspekte auch im gemeinsamen Austausch aufzugreifen und vor dem Hintergrund eigener machtvoller Positionierungen kritisch zu reflektieren. Zu klären ist dabei, wie die Adressat*innen partizipativ an Angeboten bzw. Maßnahmen beteiligt und widerständige Praktiken im Gefüge von Anerkennung und professioneller Unterstützungsarbeit verortet werden können (s. Nestler in diesem Band).

Partizipation Partizipation gilt als eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Anforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Im Übergangssystem ist davon eigentlich kaum etwas zu hören, die von uns befragten Fachkräfte sprachen diesen Aspekt von sich aus nicht als Anforderung an. Partizipation scheint in den Maßnahmen keine Rolle zu spielen. Im Rahmen der pädagogischen Abläufe scheint es nur in äußerst geringem Maße und bei kleinen Alltäglichkeiten möglich zu sein, die jungen Menschen aktiv einzubeziehen. Institutionalisierte Normen, die an ›employability‹ orientiert sind, verhindern

289

290

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

schon strukturell intersubjektive Zugänge im Sinne einer Partizipation, da die Ausrichtungen der Maßnahmen als nicht verhandelbar gedacht sind. Es bräuchte Konzepte, die sich mit dem Aspekt der Partizipation und den Möglichkeiten ihrer Umsetzung in den Maßnahmen grundlegend auseinandersetzen. Dafür müssten letztlich die Maßnahmekonzepte schon in ihrer Grundausrichtung gelockert werden. Jugendliche, die sich dann beteiligen würden – etwa bei der Klärung der Frage, was diese Maßnahme für sie soll und was sie hier benötigen –, hätten ganz andere Chancen, sich zu zeigen, wie sie sind, und könnten auch unterschiedliche Lebenserfahrungen für ihren beruflichen Weg fruchtbar machen. Und letztlich ist es ein demokratisches Recht der Jugendlichen, sich beteiligen zu dürfen, wie es sich aus § 8 SGB VIII sowie aus verschiedenen Gemeindeordnungen (in BadenWürttemberg zum Beispiel im § 41a GemO) ableiten lässt; ein Recht, dass durch die jüngste Reform des SGB VIII mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) noch gestärkt wurde. Die Förderung von Partizipation benötigt demokratische Bildung. Die Bedeutung der Förderung demokratischer Bildung stellt der 16. Kinder- und Jugendbericht heraus. Im Besonderen verweist der Bericht auf die Verantwortung von Politik, Fachpraxis und Gesellschaft, alle jungen Menschen bei ihrer politischen Selbstpositionierung zu unterstützen und ihre Entwicklung zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern (BMFSFJ 2020: 7). Vermutlich spielt es eine Rolle, dass die jungen Menschen im Übergangssystem meistens älter als 18 Jahre sind und es daher nicht immer möglich ist, sich auf die Kinderrechte oder die Grundprinzipien der Jugendhilfe zu beziehen. Die drei Ps ›protection‹, ›participation‹ und ›provision‹ (Gerarts/Wutzke 2020) wären ja auch in den Maßnahmen des Übergangssystems essenziell. Die Option, Jugendhilfe bis zum 27. Lebensjahr fortzuführen, greift nur für wenige und kann diese Lücke nicht schließen. Es bräuchte also eine gesetzgeberische Initiative, um über alle Rechtskreise hinweg für alle Teilnehmenden im Übergangssystem einen solchen Schutzschirm zu spannen.

6.

Aus- und Weiterbildungsbedarf

Deutlich geworden ist ein großes Defizit im Übergangssystem auf struktureller, konzeptioneller und handlungsbezogener Ebene in Bezug auf die Themenkomplexe Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung sowie auf die Einordnung von Diskriminierungen als demokratie- und men-

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

schenrechtsverletzenden Tatbeständen. Sowohl im Studium als auch in Weiterbildungen und bei Implementierungen bei den Trägern der Einrichtungen fehlt es anscheinend an der Umsetzung von demokratie- und menschenrechtspädagogischen Ansätzen, mit denen an den verschiedenen Ungleichheitsdimensionen gearbeitet wird. Der Transfer theoretischen Wissens in Praxis- und Handlungskompetenz muss gleichzeitig sichergestellt werden. Sinnvoll ist neben der Wissensvermittlung das Einüben von Antidiskriminierungs- und Diversitätskompetenzen sowie ausreichend Zeit für Erfahrung, Übung und kritische Selbstreflexion. Auch die Fachkräfte in unseren Untersuchungen melden diesen Bedarf an. Da diese Kompetenzen bisher nicht (flächendeckend) vorhanden seien, schlagen sie vor, dieses Defizit durch Fachtage und Weiterbildungen aufzufangen.

Schluss Die in unseren Untersuchungen befragten Fachkräfte kritisieren die engen Rahmenbedingungen der Maßnahmen, die oft keinen Raum lassen, lebensweltorientiert zu arbeiten. Sie sehen aber gleichzeitig immer auch Handlungsspielräume, die genutzt werden können. Die Erzählungen zeigen, wie die Fachkräfte einzelnen queeren Jugendlichen zu helfen versuchen, selten jedoch werden die heteronormativen Strukturen und ihre je konkreten Auswirkungen als Begrenzungsfaktor in subjektiven Biografien betrachtet. Selten rückt dadurch auch die Perspektive der Bewältigung von heteronormativen Anforderungen als Ressource in den Blick. Wir stellten hier nun (mit ihnen) die Frage, wie eine Praxis in diesem Kontext aussehen könnte, die heteronormative Strukturen infrage stellt, ihnen entgegenwirkt und die Situation für queere Menschen verbessert. Und weitergedacht: Inwiefern und unter welchen Bedingungen könnten die hier diskutierten Impulse, die zu einer solchen Praxis führen könnten, zugleich dazu beitragen, das Übergangssystem insgesamt und für alle weniger normativ, weniger stigmatisierend, weniger ausschließend zu machen? Um diese Frage weiterzubearbeiten, wäre eine intersektionale Betrachtung erforderlich, die das Zusammenwirken von Heteronormativität mit anderen gesellschaftlichen Differenz-, Normierungs- und Ausschließungsverhältnissen konsequent in den Blick nimmt. Wir wünschen uns, dass unsere hier vorgestellten Überlegungen auch in diesem Sinne aufgegriffen, erprobt und weiterentwickelt werden.

291

292

M. Bitzan/J. Brück/S. Dern/T. Nestler/U. Schirmer/B. Staudenmeyer/U. Zöller

Literatur Bitzan, M./Bolay, E. 2017: Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Theoretische Klärung und Handlungsorientierung. Leverkusen: Barbara Budrich. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020: Der 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin. Debus, K. 2015: ›Ein gutes Leben!‹ – Ansätze, Stolpersteine und Qualitätsmerkmale einer intersektionalen geschlechterreflektierten Pädagogik integrierter Berufs- und Lebensorientierung. In: Micus-Loos, C./Plößer, M. (Hg.): Des eigenen Glückes Schmied_in!? Geschlechterreflektierende Perspektiven auf berufliche Orientierungen und Lebensplanungen von Jugendlichen. Wiesbaden: Springer VS, S. 115-134. Gerarts, K./Wutzke, F. 2020: Die UN-Kinderrechtskonvention und Kinder als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelten. In: Katharina, G. (Hg.): Methodenbuch Kinderrechte. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Kinderrechten für Politik & Co. Frankfurt a.M.: Debus Pädagogik Verlag, S. 15-18. Groß, M. 2021: Queer in der Offenen Jugendarbeit. In: Deinet, U./ Sturzenhecker, B./Schwanenflügel, L. v./Schwerthelm, M. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 871881. Hartmann, J./Busche, M. 2018: Mehr als Sichtbarmachung und Antidiskriminierung. Perspektiven einer Pädagogik vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen. In: Sozial Extra, 5, S. 21-25. Mecheril, P. 2013: »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Auernheimer, G. (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 4. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 15-35. Staudenmeyer, B./Kaschuba, G./Barz, M./Bitzan, M. 2016: »Ein Glücksgefühl, so angesprochen zu werden, wie ich bin«. Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung in der Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Landesweite Studie zu den Angeboten für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intergeschlechtliche und queere Jugendlichen und Empfehlungen für die LSBTTIQ-Jugendarbeit. Eine Kooperation der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und des Tübinger Forschungsinstituts tifs e. V. Stuttgart: Ministerium für Soziales und Integration.

Impulse für eine heteronormativitätskritische Praxis im Übergangssystem

Online verfügbar unter: https://sozialministerium.baden-wuerttemberg. de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen/ZPJ_Stu die_Vielfalt_LSBTTIQ_Jugendarbeit.pdf [Zugriff 13.07.2022].

293

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems  und ihren Akronymen1

AhfJ – Aktivierungshilfen für Jüngere Aktivierungshilfen für Jüngere (AhfJ) sind eine Leistung der Agenturen für Arbeit nach § 45 SGB III, die sich an junge Menschen (u25) ohne Berufsausbildung richtet, die die allgemeine Schulpflicht erfüllt haben. Angesprochen werden solche junge Menschen, die wegen vielfältiger und schwerwiegender Hemmnisse (multiple Problemlagen) insbesondere im Bereich Motivation/Einstellungen, Schlüsselqualifikationen und soziale Kompetenzen für eine erfolgreiche Qualifizierung über Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (§§ 51ff. SGB III) noch nicht in Betracht kommen (Fachliche Weisung der Bundesagentur für Arbeit dazu: MAT 2022 Nummer 45.15). Sie stellen niedrigschwellige Angebote im Vorfeld von Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung zur Verfügung, um die Teilnehmer*innen in ihrer grundsätzlichen Eignung zu befähigen (vgl. Kador 2021: § 45, Rn. 61). Sie sind zum Beispiel auf Unterstützung in Lebensführung, Tagesstrukturierung, Sucht- oder Schuldenprävention, Sprachförderung oder Berufsorientierung ausgerichtet, auch werden im Rahmen von AhfJ betriebliche Praktika angeboten.

AsA – Assistierte Ausbildung Die Assistierte Ausbildung (AsA) ist ein Angebot der Agenturen für Arbeit nach den §§ 74ff. SGB III. Sie unterstützt benachteiligte junge Menschen auf

1

Stand März 2022. Die Maßnahmen und rechtlichen Regelungen werden sehr häufig überarbeitet. Es empfiehlt sich, nach den aktuellen Vorgaben zu schauen.

296

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

dem Weg zu einem erfolgreichen Abschluss einer betrieblichen Berufsausbildung. Zu den Angeboten der sogenannten Vorphase gehören etwa Bewerbungstrainings und die Ausbildungsvorbereitung, in der begleitenden Phase dann die individuelle Beratung und Unterstützung durch Ausbildungsbegleiter*innen sowie beispielsweise die Vermittlung von sprachlichen oder fachlichen Kompetenzen. Auch die Betriebe erhalten administrative, aber auch pädagogische Unterstützung, durch die die Kommunikation und Arbeit mit den Auszubildenden erleichtert werden soll (vgl. § 75 Abs. 7 SGB III). Entsprechende Maßnahmen sind auch während einer Einstiegsqualifizierung möglich.

BaE – Außerbetriebliche Berufsausbildung Je nach Verständnis und (landes)rechtlicher Ausgestaltung zählen auch außerbetriebliche Ausbildungen (BaE) zum Übergangssystem, sofern sie nur Teilqualifizierungen vermitteln (also nicht zu einem anerkannten vollwertigen Ausbildungsabschluss führen). BaE werden etwa in Berufsbildungswerken oder Berufsfachschulen angeboten. Auch hier zeigt sich unter anderem am Beispiel der Sozialassistenz, wie inkonsistent sich der Katalog des Übergangssystems gestaltet: Während die Sozialassistenzausbildung in manchen Bundesländern mit einem regulären Ausbildungsabschluss endet, ist sie in anderen nur teilqualifizierend – und damit zum Übergangssystem gehörend – ausgestaltet.

BAV – Berufsausbildungsvorbereitung Die in § 1 Abs. 2 BBiG aufgeführte Berufsausbildungsvorbereitung (BAV) führt die Adressat*innen durch Grundlagenvermittlung an eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf heran. Sie richtet sich an lernbeeinträchtigte oder sozial benachteiligte Jugendliche, die noch nicht ausreichend befähigt erscheinen, eine Berufsausbildung erfolgreich zu absolvieren, und bietet ihnen umfassende sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung. Die BAV kann auch als (finanziell geförderte) Einstiegsqualifizierung gemäß § 54a I, II Nr. 1 SGB III durchgeführt werden (vgl. Schlachter 2022: § 1, Rn. 2).

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

BerEb – Berufseinstiegsbegleitung Die Berufseinstiegsbegleitung(BerEb) liegt nach § 49 SGB III in der Trägerschaft der Agenturen für Arbeit. Angesprochen sind nach Abs. 2 junge Menschen, die voraussichtlich Schwierigkeiten haben werden, den Abschluss der allgemeinbildenden Schule zu erreichen oder den Übergang in eine Berufsausbildung zu bewältigen. Berufseinstiegsbegleiter*innen unterstützen nach § 49 Abs. 2 S. 2 SGB III insbesondere das Erreichen des Abschlusses einer allgemeinbildenden Schule, die Berufsorientierung und -wahl, die Suche nach einer Ausbildungsstelle und die Stabilisierung des Berufsausbildungsverhältnisses.

BO – Berufsorientierung  Die Angebote der Berufsorientierung (BO) sind schon in den Jahrgangsstufen vor dem Schulabschluss an allgemeinbildenden Schulen angesiedelt, um Schüler*innen entsprechend ihren Kompetenzen und Interessen bei der Wahl einer Ausbildung oder eines Studiums zu unterstützen. Hierdurch sollen auch spätere Abbrüche verhindert werden.

BGJ/BVJ/BzB – Berufsgrundbildungsjahr, Berufsvorbereitungsjahr, Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung Das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) und das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) bieten die Möglichkeit für Schulabgänger*innen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, ein vorbereitendes Jahr an einer Berufsschule zu absolvieren. Junge Menschen mit Hauptschulabschluss können im Rahmen eines BGJ theoretisches und praktisches Grundlagenwissen in verschiedenen Berufsfeldern erlangen (etwa Metall, Holz, Elektro, Körperpflege, Wirtschaft und Verwaltung). Das BGJ ist an beruflichen Schulen angesiedelt, umfasst aber auch praktische Phasen in Betrieben. Das BVJ bietet insbesondere die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss nachzuholen. Es kann nicht als erstes Ausbildungsjahr angerechnet werden. Das BGJ und das BVJ sind in unterschiedlichen Bezeichnungen meist in den Schulgesetzen der Länder verankert und zählen so nicht zu den Berufsvorbereitungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. In Hessen adressieren beispielsweise Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung

297

298

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

(BzB) Jugendliche im Rahmen der verlängerten Schulpflicht an Berufsschulen (vgl. § 59 HessSchulG).

BvB – Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen  Nach den §§ 51ff. SGB III stellen die Agenturen für Arbeit Maßnahmen bereit, um junge Menschen auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorzubereiten oder ihnen die berufliche Eingliederung zu erleichtern, sofern ihnen die Aufnahme einer Berufsausbildung wegen in ihrer Person liegender Gründe nicht möglich ist. Zu den BvB können ebenso Maßnahmen gehören, die auf den nachträglichen Erwerb eines Hauptschul- oder eines gleichwertigen Abschlusses vorbereiten. Auch betriebliche Praktika sind von der Förderung umfasst. Die zentralen Eckpunkte für die Eignungsanalyse wie auch für die Gestaltung der Grund- und Förderstufe, der Übergangsqualifizierung und Stabilisierung gibt die Bundesagentur für Arbeit in den sogenannten Fachkonzepten vor (grundlegend: Fachkonzept BvB von 2012; für spezifische Zielgruppen und Bereiche etwa BvB-Reha oder BvB-Pro – mit produktionsorientiertem Ansatz, wie er sich in Produktionsschulen findet). Zur Berufs(ausbildungs)vorbereitung zählen in einem weiten Verständnis die Vermittlung von Grundkompetenzen und der Voraussetzungen für eine Ausbildung (etwa BGJ, BVJ), das Nachholen und Erweitern von allgemeinen Bildungsabschlüssen oder auch die auf spezifische berufsbezogene Kompetenzen ausgerichteten Bausteine, in denen sich Jugendliche erproben können. Entsprechend breit ist die Angebotspalette und ihre Trägerschaft (begleitete Betriebspraktika, Kurse in Bildungswerken und -werkstätten, Angebote in beruflichen Schulen etc.). Die BvB bilden einen Schwerpunkt im Übergangssystem.

EQ – Einstiegsbegleitung In den Maßnahmen der Einstiegsbegleitung unterstützen Ausbildungsbegleiter*innen Auszubildende und Betriebe (etwa AsA – s.o. – und EQ – s.u. –).

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

EQ – Einstiegsqualifizierung Die betriebliche Einstiegsqualifizierung (EQ) nach § 54a SGB III beinhaltet ein sechs- bis zwölfmonatiges sozialversicherungspflichtiges betriebliches Langzeitpraktikum, in dem Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit vermittelt und vertieft werden sollen, um die Adressat*innen so zu einer Ausbildung hinzuführen (vgl. Baar/Wagner 2021: § 54a, Rn. 20). Arbeitgeber*innen können hierzu entsprechende Zuschüsse in Höhe der Ausbildungsvergütung erhalten. Eine Anrechnung der EQ-Zeiten auf die spätere Ausbildung ist möglich. Förderungsfähig sind Ausbildungssuchende, die auch nach den bundesweiten Nachvermittlungsaktionen keine Ausbildungsstelle haben oder die noch nicht über die (volle) erforderliche Ausbildungsreife verfügen, überdies richtet sich die Förderung an lernbeeinträchtigte und sozial benachteiligte Ausbildungssuchende.

Jugendsozialarbeit (§ 13 Abs. 1-4 SGB VIII)/Jugendberufshilfe Die Jugendsozialarbeit ist nach § 13 Abs. 1-4 SGB VIII gesetzlich beauftragt, jungen Menschen, die in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sozialpädagogische Hilfen anzubieten, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, ihre Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern. Die Hilfen zielen auf den Ausgleich sozialer Benachteiligungen bzw. die Überwindung individueller Beeinträchtigungen. Die Jugendsozialarbeit ist als eigenständiger Leistungsbereich geregelt und fachlich zwischen der allgemeinen Förderung junger Menschen und den individuellen Hilfen zur Erziehung verortet. Jugendsozialarbeit soll zur Herstellung von Chancengleichheit vor dem Hintergrund unterschiedlicher individueller Lebenslagen beitragen und junge Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen und zu ihrer gesellschaftlichen Anerkennung beitragen (vgl. AGJ 2020). Die Jugendberufshilfe ist ein sozialpädagogisches Handlungsfeld innerhalb der Jugendsozialarbeit (vgl. Stauber/Walther 2011: 1705). Ihre Angebote richten sich daher an Jugendliche bzw. junge Erwachsene (in der Regel bis zum 25. Lebensjahr), die sozialpädagogischer Betreuung bedürfen, um den Übergang von der Schule in den Beruf zu bewältigen. Folgende Handlungsfelder werden dabei adressiert: Schule (Berufsorientierung und Jugendsozialar-

299

300

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

beit), Berufsvorbereitung, niedrigschwellige Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote, Berufsausbildung, Nachqualifizierung und Übergangsgestaltung (vgl. Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2016).

Übergangsbegleitung Auch die Übergangsbegleitung setzt bereits in den allgemeinbildenden Schulen ein und unterstützt die Einmündung in die berufliche Ausbildung (etwa BerEb). Entsprechend existieren auch Angebote am Übergang von der Ausbildung in ein Beschäftigungsverhältnis.

Zugangsunterstützung zum Leistungssystem In den Kontext des Übergangssystems fallen schließlich auch Angebote, die sich an junge Menschen richten, die aktuell nicht vom Hilfesystem erreicht werden (etwa Leistungen nach § 16h SGB II). Die Maßnahmen setzen an den verschiedenen Problemlagen (etwa prekäre Wohnsituation, Schulabsentismus) an oder nehmen Arbeits- und Sozialverhalten, Belastbarkeit oder Tagesstrukturierung in den Fokus. Sie versuchen so, Zugangswege in die Hilfesysteme (und damit in Schule, Ausbildung oder Beruf) zu eröffnen.

Literatur AGJ – Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe 2020: Jugendsozialarbeit in Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.agj.de/positionen/artikel.html?tx_ news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&t x_news_pi1%5Bnews%5D=7241&cHash=cadd31da8c73d879c40eb8c60bff2 335 [Zugriff: 12.06.2022]. Baar, G./Wagner, W. 2021: Kommentierung zu § 54a. In: Heinz, A./SchmidtDe Caluwe, R./Scholz, B. J. (Hg.): Sozialgesetzbuch III – Arbeitsförderung, SGB III,. 7. Auflage. Baden-Baden: Nomos.

Glossar zu Maßnahmen des Übergangssystems und ihren Akronymen

Kador, T. 2021: Kommentierung zu § 45. In: Heinz, A./Schmidt-De Caluwe, R./Scholz, B. J. (Hg.): Sozialgesetzbuch III – Arbeitsförderung, SGB III. 7. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2016: Beiträge zur Jugendsozialarbeit. Kriterien und Empfehlungen zur Entwicklung eines Kohärenten Fördersystems für junge Menschen am Übergang in den Beruf. Berlin. Online verfügbar unter: https://jugendsozialarbeit.de/media/raw/KVJS_Broschu ere_A5_Ansicht_ND2.pdf [Zugriff: 12.06.2022]. Schlachter, M. 2022: Kommentierung zu § 1 BBiG. In: Müller-Glöge, R./Preis, U./Schmidt, I. (Hg.): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. 22. Auflage. München: Beck. Stauber, B./Walther, A. 2011: Übergänge in den Beruf. In: Otto, H.-U./ Thiersch, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 4. Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt, S. 1703-1715.

301

Autor*innen

Maria Bitzan war bis 2021 Professorin an der Hochschule Esslingen mit den Schwerpunkten Gemeinwesenarbeit, Sozial- und Jugendhilfeplanung sowie Gender in der Sozialen Arbeit.

Folke Brodersen, MA, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich ›Gender und Diversity Studies‹ der CAU Kiel. Arbeitsschwerpunkte sind Gender Studies und Queer Theory, Psychopolitik und Therapeutisierung, empirische Subjektivierungsforschung und queere Jugendarbeit.

Jasmin Brück ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda am Fachbereich Sozialwesen. Im Rahmen ihrer Promotion forscht sie zu jungen queeren Menschen im Übergangssystem.

Susanne Dern ist Juristin und lehrt Recht der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Existenzsicherung und Jugendhilfe sowie im Bereich von Schulrecht und Antidiskriminierung.

Nora Gaupp hat von 2013 bis 2022 die Fachgruppe Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher am Deutschen Jugendinstitut geleitet. In dieser Funktion hat sie vielfältige Forschungsprojekte zu Aufwachsen und Alltagserfahrungen queerer Jugendlicher akquiriert und begleitet. Seit Sommer 2022 arbeitet sie im CHV München.

304

Autor*innen

Tabea Hust hat Soziale Arbeit und Pädagogik der Kindheit an der htw saar studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »BiJuSaar – Bildungsbenachteiligte LSBT* im Übergangssystem der Jugendberufshilfe im Saarland« unter der Leitung von Ulrike Zöller. Derzeit ist sie als Referentin für Bildungs- und Kulturpolitik bei der Arbeitskammer des Saarlandes tätig.

Gerrit Kaschuba hat Diplompädagogik in Bielefeld und Tübingen studiert. Sie ist Geschäftsführerin des Forschungsinstituts tifs e.V. – Tübinger Institut für gender- und diversitätsbewusste Sozialforschung und Praxis und führt wissenschaftliche Untersuchungen, Evaluationen zu Themenbereichen wie Fort- und Weiterbildung und weiteren pädagogischen Arbeitsfeldern, Arbeit, Gesundheit, Gender- und Diversitätskompetenz in einer intersektionalen Perspektive durch. Weitere Tätigkeiten: Fortbildungen/Trainings und Supervision.

Claudia Krell hat zwölf Jahre am Deutschen Jugendinstitut gearbeitet und dort mehrere Studien zu den Lebenssituationen von queeren Jugendlichen durchgeführt. Seit 2020 ist sie bei LeTRa in der Fachstelle Fortbildung tätig.

Thomas Nestler ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Fulda am Fachbereich Sozialwesen. Im Rahmen seiner Promotion forscht er zu Widerstandspraxen queerer Menschen.

Utan Schirmer ist Professor für Soziologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechtersoziologie sowie der Trans* und Queer Studies.

Ulrike Spangenberg, Juristin, forscht, berät und lehrt u.a. freiberuflich zum nationalen, europäischen und internationalen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrecht mit Arbeitsschwerpunkten Steuern und Finanzen, Bildung, Alterssicherung sowie Gesetzesfolgenabschätzung.

Autor*innen

Bettina Staudenmeyer ist freiberufliche Sozialwissenschaftlerin in Jena, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda im Projekt »(Un)angepasst – junge LSBT*Menschen im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf« und arbeitet für das Forschungsinstitut tifs e.V.

Ulrike Zöller ist Diplom-Sozialpädagogin (FH), Diplom-Pädagogin und Professorin für Theorie, Methodik und Empirie Sozialer Arbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (Saarbrücken). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Migrations- und Integrationsforschung mit dem Schwerpunkt auf ethischen Fragestellungen.

305

Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)

Handbuch Transdisziplinäre Didaktik

2021, 472 S., kart., 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 ISBN 978-3-7328-5565-0

Andreas de Bruin

Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5

Andreas Germershausen, Wilfried Kruse

Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können 2021, 222 S., kart., 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Andreas de Bruin

Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit 2021, 264 S., kart., 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de