Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit 3837925080

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Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit
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Katharina Gröning Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit

Therapie & Beratung

Katharina Gröning

Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. E-Book-Ausgabe 2016 © 2016 Psychosozial-Verlag E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung:Hilma af Klimt: »Die Evolution, Nr. 15, Gruppe VI, SerieWUS/Der Siebenstern«, 1908 Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig,Wetzlar www.imaginary-world.de Satz: metiTEC-Software, me-ti GmbH, Berlin ISBN Print-Ausgabe: 978-3-8379-2508-1 ISBN E-Book-PDF: 978-3-8379-6843-9

Inhalt

Einleitung 1

Beratungswissenschaft und Beratungskritik Von der Beratung als Instrument der Sozialreform zur Beratung als gouvernementale Praxis Die Ethik der Beratung am Beispiel der Schwangerschaftskonfliktberatung Geteilte Ethik und gouvernementale Praxis Zwischenfazit: Was meint Beratung als neue gouvernementale Praxis? Werde super – stehe über der Masse und über den Normalen! Gouvernementalität und die Anpassungsmechanismen Gouvernementalität und Geschlecht Zur Kritik gouvernementaler Beratungsformate Zur Kritik des Coachings Kritik der systemischen Beratung Kritik der lösungsorientierten Beratung Gouvernementale Beratung im Kindes-und Jugendalter Kritik des NLP Zur ethisch-normativen Begründung von Beratung Und was fragt die neue Beratungswissenschaft?

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Inhalt

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GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik und ihr methodisches und professionelles Verständnis Anne Frommann Hans Thiersch Kurt Aurin Zusammenfassung Gerhard Leuschner Supervision und Beratung als Verhandlungsraum Das Konzept des Dreieckskontraktes Die Beziehung in Beratung und Supervision Zur Beziehung in ungleichen Machtverhältnissen Dimensionen des Dreieckskontraktes: Die Institution als die Erste im Dreieck Akquisition als Vertrauensentwicklung Loyalität zum Auftraggeber und zum Supervisanden Supervision ist Bildung und Problemlösung in Beziehungen Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und deren Vermittlung Abschließend: Zur fachlichen Autoritätsentwicklung und Kraft zur Begrenzung

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Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik Pastoralmacht und Scham Scham und Bloßstellung als verborgene Begleitung der gouvernementalen Beratung Anerkennungstheoretischer und diskurstheoretischer Rahmen der Beratung Rechtlichkeit und Kontrakt in der Beratung Der beraterische Möglichkeitsraum Wertschätzung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Zielvorstellungen

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Inhalt

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Beratung als wissenschaftlicher Prozess Diagnose und beraterische Haltung Zuhören, Sequenzieren und das Nachvollziehen der Fallstrukturgesetzlichkeit Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen Habitusanalyse Lebenslaufstrukturanalyse und Entwicklungsaufgaben Lebenslageanalyse Umgang mit Rollen

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Beratungskunst

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Die menschliche Ratbedürftigkeit Ratbedürftigkeit und Scham Der Anfang der Beratung Arbeitsbündnis Verstehen, Ordnen und Reflektieren – die ersten Interventionen 155 im Beratungsprozess 156 Reflexion 157 Fördernder Beistand 157 Regressionen, Verstrickungen, Krisen und weitere Grenzen 158 Abschied und Perspektive

Literatur

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Einleitung

Methodenbücher gelten als theorielos und theoretischen Büchern wird häufig ein Mangel an Methode und fehlender Praxisbezug vorgeworfen. Das vorliegende Buch will nun einen anderen Weg beschreiten und die Methode bis in die konkrete Beratungskunst aus der Beratungswissenschaft, der Beratungstheorie und ihrer Geschichte im Umfeld der Erziehungswissenschaft quasi ableiten. Gegenstand sind die Beratungsformate sozialpädagogische Beratung, Sozialberatung, pädagogische Beratung und Supervision. Beratung wird als eigene, nichttherapeutische Profession im Feld der Bildung, der Sozialen Arbeit, der Pädagogik in der Berufshilfe und Berufsberatung sowie in der Supervision aufgefasst, als etwas, das ErziehungswissenschaftlerInnen und wissenschaftlich ausgebildete PraktikerInnen im Umfeld der Erziehungswissenschaft als nicht-klinische und nicht-therapeutische Profession ausüben. Die wissenschaftliche Fundierung von Beratung in der Pädagogik auch im Hinblick auf die konkrete Beratungskunst ist dringend geboten, weil Beratung heute zunehmend als Instrument der normalistischen Anpassung (Link, 2014) verstanden wird, als etwas, mit dem man Ratsuchende in vorgegebene und als normal anerkannte Lebenslaufmuster quasi »hineinprozessieren« (Löhr, 2013) kann. Beratung ist im Kontext des aktivierenden Staates mit seinem Prinzip des Forderns und Förderns bevorzugtes Instrument. Das Problem der Beratung ist deshalb ein anderes als das Problem der Therapie. Beratung erfüllt heute in weiten Teilen gesellschaftliche Normalisierungsfunktionen und ist weniger auf das Wohl des Einzelnen ausgerichtet. Angestellte BeraterInnen mit amtlichen oder quasi amtlichen Aufträgen haben institutionell gesetzte Ziele, die es zu erfüllen gilt. Beratung und Sanktion liegen heute viel näher beieinander, als es sich die Pioniere der Beratung wie zum Beispiel Klaus Mollenhauer (1965) jemals vorstellen konnten. Beratung ist kein Freiraum 9

Einleitung

mehr, in dem nachgedacht und reflektiert werden darf, ohne Sanktionen oder Maßnahmen. Gleichwohl sind es die angewendeten Beratungsmethoden und Beratungstechniken, die im konkreten Einzelfall aufzeigen, mit welchem Typus und welchem Format von Beratung wir es zu tun haben. Die konkrete Beratungssituation verweist darauf, ob die Beratung eher ein reflexiver Raum ist, ein Ort des guten Rates, eine Lebenshilfe, eine Funktion in Organisationen oder ein diagnostischer und maßnahmenzentrierter Prozess, dem der Klient/die Klientin und der/die Ratsuchende letztlich nur zuzustimmen hat, weil Experten längst eine Entscheidung getroffen haben. Wichtige Merkmale, die die Art der Beratung kennzeichnen, sind Kontrakt, Vertrauensschutz, ethische Selbstverpflichtung des Beraters oder der Beraterin, Entwicklung eines Arbeitsbündnisses, Entwicklung eines professionellen Beziehungsraumes und die institutionelle Freiheit, ein Beratungssetting zu gestalten. Umgekehrt sind »regierende« Beratungsformate solche, in denen der Kontrakt fehlt, das Setting bereits durch Dritte bestimmt ist, ein institutioneller Hintergrund sich wirkungsmächtig in die beraterische Beziehung schiebt, dem Klienten/der Klientin die autonome Darstellung und Deutung seines/ihres Problems versagt und er/sie zum Berichtenden seiner /ihrer Lebenssituation wird und Zustimmung zu Maßnahmen und Lösungen, die sogenannte Compliance oder Mitwirkung, Voraussetzung für die Beratung und materielle Unterstützung ist – und zwar auch dann, wenn man als Versicherter lange in die Systeme eingezahlt und einen Leistungsanspruch hat. Normalistische oder gouvernementale Beratungsformen sind an diesen Merkmalen zu erkennen und lösen entsprechende Widerstände aus. Sie passen eigentlich auch nicht in ein rechtsstaatliches Verhältnis, das auch in der amtlichen Beratung zugrunde zu legen ist. Methodisch ist in Bezug auf die universitäre Ausbildung von Beratungskompetenz das Problem entstanden, dass Studierende während des Studiums oder zu Beginn ihrer Berufstätigkeit schnell Beratungswissen und Beratungskompetenz aufbauen müssen. Beraten ist im Kontext des pädagogischen Handelns die zentrale Methode geworden. Entsprechend erhöht sich die Chance auf einen Arbeitsplatz nach dem Studium, wenn BewerberInnen eine Beratungsausbildung und Beratungsqualifikation mitbringen. Der Wunsch, Techniken und Methoden schnell zu lernen und sie als Zertifikat zu erhalten, entspricht gleichzeitig der beruflichen Unsicherheit am Anfang der Erwerbsbiografie. Verführerisch sind deshalb solche Beratungsausbildungen, die versprechen, diese Unsicherheit schnell und durch standardisierte Technik zu überwinden, die aber gleichzeitig den beratungswissenschaftlichen Rahmen vernachlässigen. Vor allem geschlossene Methoden wie die lösungsorientierte Beratung oder die systemische Beratung befriedigen dieses Bedürfnis nach schneller Sicherheit. Gleichzeitig suggerieren 10

Einleitung

sie Souveränität und Coolness im Umgang mit KlientInnen. Meist sparen sich diese Beratungsformate eine wissenschaftliche Fundierung, sie verbleiben auf der Ebene der Methode, häufig abgleitet aus einer Therapie. Wenn sie dann in der Praxis nicht funktionieren, eben weil sie Ratsuchende von Anfang an vor den Kopf stoßen, sie klientelifizieren, weil sie überhaupt kein äußeres und inneres Arbeitsbündnis kennen und auf eine für die Beratungsarbeit konstitutive anwaltliche Haltung und Ethik verzichten, so bedeutet dies nicht, dass die Methode infrage gestellt wird. Vielmehr stellen sich die Beratenden selbst infrage oder sie stellen ihre KlientInnen und Ratsuchenden infrage. Der Mangel an theoretischer Fundierung verhindert dabei, die Konflikte zu verstehen, die sich in der Beratungssituation entzünden. Ein Beispiel für diese Problematik der Methode aus dem Kontext des Masterstudiengangs Supervision in Bielefeld erhellt das praktische Problem gegebenenfalls noch einmal. Hier reflektieren die Studierenden zu Beginn ihres Studiums ihre eigene methodische Sozialisation und vergleichen Beratungsprozessmodelle, die sie bisher gelernt haben, mit dem Beratungsprozessmodell der Supervision. So berichtete eine Studierende, die als Hintergrund die systemische Beratung im Feld der Heilpädagogik mitbrachte, dass sie wegen des häufig vorkommenden Migrationshintergrundes ihrer Klientinnen und Klienten eine ausführliche biografische Erzählung in ihre Beratung integriert. In der Diskussion darüber, wie sich dieses zum systemischen Anspruch verhielte, schämte sich die Studentin zunächst. Sie wisse ja, dass sie hier nicht sauber systemisch arbeite, aber auch die Diskussion mit ihrer alten Ausbilderin habe nicht geholfen, denn diese habe nur gesagt, man könne überall systemisch arbeiten. Sie aber habe den Eindruck, dass ihre Klientinnen und Klienten sowohl sprachlich wie auch kulturell systemisches Fragen und Intervenieren häufig gar nicht nachvollziehen könnten. Die Studentin diskutierte nun zum ersten Mal beratungswissenschaftlich ein TheorieEmpirie-Problem, und zwar dahin gehend, dass eine Theorie kritisch zu überprüfen ist, wenn sie sich empirisch als nicht gültig erweist. In der Organisation, für die die Studentin tätig war, wurde nach Selbstbekundung systemisch gearbeitet, praktisch jedoch verstehend, explorativ und sozial unterstützend. Wenn aber Methoden als unantastbar gelten und Umsetzungsprobleme der Methoden einseitig der Praxis angelastet werden, kann es keinen Erkenntnisfortschritt geben. Die Methoden erstarren und die Praxis wird gouvernemental. Dies ist heute vielfach das Problem der Beratung, der keine Beratungswissenschaft gegenübersteht. Die ersten Kapitel des vorliegenden Buches entfalten deshalb eine gründliche und ausführliche Kritik an den modernen Beratungsformaten und den ihnen zugrunde liegenden theoretischen Verständnissen. Das zentrale theoretische Deu11

Einleitung

tungsmuster bezieht sich dabei auf das Konzept der Gouvernementalität, der Menschenregierung, wie es Michel Foucault herausgearbeitet hat. Dieses Konzept wird vorgestellt und auf die Beratung übertragen, die in Teilen als Instrument der Gouvernementalität institutionalisiert ist und deren Institutionalisierung voranschreitet. In einem zweiten Kapitel werden zentrale Beratungsformate, die als gouvernemental gelten können, kritisch gewürdigt. Dazu zählen das Coaching, die systemische und die lösungsorientierte Beratung oder Konzepte wie der Nachdenkraum in der Schule. Für den empirischen Teil des vorliegenden Buches wurden wichtige Begründer der Beratung als Profession interviewt und ihre jeweiligen theoretischen Ansätze und Perspektiven werden dargestellt. Dies sind Kurt Aurin, Anne Frommann, Gerd Leuschner und Hans Thiersch. Sehr gerne hätte ich auch Thea Sprey (Sprey-Wesseling) interviewt, deren 1968 erschienenes Buch Beratung und Ratgeben in der Erziehung mich sehr angesprochen hat. Leider ist Thea Sprey derzeit jedoch schwer erkrankt, weshalb sie leider kein Interview geben konnte. In den Interviews kam es mir darauf an, den jeweiligen Beitrag des befragten Experten zur Beratung herauszuarbeiten und für die Entwicklung der Beratung in der Bundesrepublik darzustellen. Sehr fasziniert war ich von Kurt Aurin, dessen Bedeutung für die Beratung in der Bundesrepublik ich erst im Interview wirklich erfasst habe. Ich erinnere mich noch gut an die Szene, in der Kurt Aurin mir eine ganze Reihe von Aktenordnern zur Schuljugendberatung in den 1970er Jahren im Kontext der Bildungsreform zeigte. Die Ordner waren voll von Zeitungsartikeln regionaler Zeitungen zur Schuljugendberatung, die diese bekannt machten und den Geist der Bildungsreform in die Lebenswelten ihrer LeserInnen trugen. Erst hier begriff ich, welche Veränderung damals durch die Bundesrepublik gegangen ist und wie sehr die Beratung als Mittlerin für eine gesellschaftliche Teilhabe, eine demokratische Bürgerlichkeit und als Öffnungsinstrument für eine bessere Bildung der Jugend vor allem auf dem Land fungiert hat. Nach eigenem Bekunden hat Kurt Aurin sehr eng und über Jahre hinweg mit Ralf Dahrendorf zusammengearbeitet und die Bildungsreform in Baden-Württemberg mit umgesetzt. Die Doppelstruktur, Beratung ökonomisch als Öffnungsinstrument und Erschließung von Begabungsressourcen und gleichzeitig im Sinne von »Bildung ist Bürgerrecht« (Dahrendorf, 1965) als Teil der politischen Demokratie zu verstehen, ist meines Erachtens ein zentraler Unterschied zur Beratungstheorie heute. Aus einer Luhmann’schen systemtheoretischen Perspektive wird Beratung als Instrument der strukturellen Verkopplung von psychischen mit sozialen Systemen begründet (Großmaß, 1998). Diesen Ansatz vertritt die Beratungswissenschaft12

Einleitung

lerin Ruth Großmaß in ihrer Dissertation, die hoch ausgezeichnet worden ist. Immerhin muss man ihr zugute halten, dass sie eine sozialtheoretische Fundierung von Beratung entwickelt hat. Auf die von Aurin vorgetragene zweite Bedeutung des Verhältnisses von Beratung und moderner Gesellschaft, Demokratisierung und Teilhabe verzichtet sie jedoch. Es ist aber gerade diese Gleichzeitigkeit von Modernisierung und Demokratie, die beratungswissenschaftlich berücksichtigt werden muss, damit Beratung nicht zu einem instrumentellen, gouvernementalen oder normalistischen Handlungstypus verkommt. Lebenswelten sind nicht einfach funktional an Systeme anzuschließen. Wenn Beratung so reduziert wird, dann wird sie gouvernemental. In Anne Frommann habe ich eine Expertin gefunden, die mit großer Empathie, mit Anwaltlichkeit und Ethik das Anliegen der pädagogischen Beratung in der Sozialen Arbeit vertreten hat. Ihre Haltung, dass Beratung sich keinesfalls von der Anwaltlichkeit für das Kind ablösen und zu einem Projekt des eigenen Expertentums werden sollte, begründet ihr Beratungsverständnis als Methode der Sozialen Arbeit. Anne Frommann formuliert ihre Position auch als Kritik an der Therapeutisierung und an der Sozialen Arbeit als soziales Aufstiegsprojekt für Professionen. Sie unterstellt den Berater_innen, sich aus der sozialarbeiterischen Praxis und ihrem Alltag herauszuziehen und sich lieber »hinter zartgrünen Gardinen« als Therapeutin zu versuchen. Anne Frommanns beratungskritische Position wird verständlicher, wenn man sich mit Pierre Bourdieu auseinandergesetzt hat, insbesondere mit seiner Haltung zum Verstehen. Bourdieu zeigt – zwar für das wissenschaftliche Interview, dies lässt sich aber auch auf Beratung übertragen – sehr deutlich auf, wie sehr die Interaktionen von sozial verschiedenen Menschen von symbolischer Gewalt dominiert sind und sich das »Spiel« von klassenspezifischer Distinktion im Gespräch ausbreitet. Anne Frommann gehört wie Hans Thiersch zu den Zeitzeugen der Restauration nach 1945, aber auch zu jenen, die die politische Erneuerung in der Epoche der inneren Reformen mitgetragen haben. Um ihre Position nachzuvollziehen, ist es wichtig, sich den Zustand der Erziehungsberatung und der Psychagogik der 1950er Jahre zu vergegenwärtigen. Geprägt von der Individualpsychologie und ihren Konzepten von Verwöhnung und Gemeinschaft, zweitens geprägt von der Eugenik und Erbhygiene und drittens von der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Psychagogenausbildung und dem Konzept der »deutschen Seelenheilkunde« (Lockot, 1985) hat sich die deutsche Erziehungsberatung lange so tradiert klinisch entwickelt, dass sie in den 1950er Jahren fast als reaktionäre Praxis anzusehen ist. Dazu gehört auch, dass führende Vertreter der nationalsozialistischen Erziehungsberatung bis in die 1960er Jahre hinein aktiv waren (Gröning, 2014). 13

Einleitung

Anne Frommann positionierte sich indessen als junge Psychologin anwaltlich für die Heimerziehung und wurde zur Vertreterin einer modernen sozialpädagogischen Alltagstheorie. Ähnliche Auffassungen vertritt auch Hans Thiersch, der wichtige Abschnitte seines wissenschaftlichen Weges mit Anne Frommann zusammen gegangen ist und die Alltagstheorie und die lebensweltliche Sozialpädagogik entwickelt und begründet hat. Er ist es, der im achten Jugendbericht (1990) den Weg der deutschen Erziehungsberatung offen kritisiert, der sich dieses herausgenommen und damit der Professionalisierung der Beratung einen großen Dienst erwiesen hat. Thiersch gehört zu den wenigen, aber sehr wichtigen Wissenschaftlern, die schon früh in den 1970er Jahren und seitdem regelmäßig in der Sozialpädagogik den Diskurs um die pädagogische Beratung geprägt haben und beeinflussen. Insgesamt argumentiert er pragmatischer als Anne Frommann. Obwohl er in der Erziehungswissenschaft als einer der zentralen Autoren zur Beratung gilt, lehnt er eine eigenständige Beratungswissenschaft unabhängig von der Sozialarbeitsforschung ab und sieht Beratung unter diesem Dach ausreichend gut aufgehoben. Von Hans Thiersch stammen wesentliche Einsichten einer systematischen Beratungskritik und Begriffe wie der von der »Therapeutisierung der Pädagogik«. Dass er eine eigene Beratungswissenschaft ablehnt, begründet sich aus der Geschichte der Beratung als klinische und eben nicht advokatorische Profession. Wenn der klinische Blick auch für die Beratung gilt, im Sinne des Lehrsatzes von Michel Foucault (1982), demzufolge der Arzt die Krankheit durch den Patienten sieht, wenn also Krankheiten oder Neurosen behandelt werden und nicht Menschen verstanden werden, wenn es schließlich eine Entwicklungslinie von der klinischen, therapeutisierenden zur normalistischen und gouvernementalen Beratung gäbe und dies einzig wäre, dann sollte es keine eigene Profession »Beratung« in der Pädagogik geben. Schließlich ist auch der Supervisor Gerd Leuschner gemeinsam mit Kurt Aurin einer der wichtigsten Pioniere der Beratung. Beide vertreten den Ansatz von Beratung als eigenständige Profession. Beide sind historisch – wie auch Anne Frommann und Hans Thiersch – von den »inneren Reformen« in Deutschland geprägt. Die große beratungswissenschaftliche Leistung von Gerd Leuschner besteht darin, angelehnt an das Modell der politischen Demokratie ein Prozessmodell von Beratung mit den Elementen, Kontrakt, Setting, Intervention und beraterisches Verstehen entwickelt und in der Supervision umgesetzt zu haben. In einem weiteren Kapitel wird Beratung als wissenschaftlicher Prozess unter Zuhilfenahme der qualitativen Methoden in der interpretativen Sozialforschung buchstabiert. Ziel ist es, das Verstehen in der Beratung aus der subjektiven Engfüh14

Einleitung

rung, zum Beispiel von Introspektion und Gegenübertragung für die Psychoanalyse oder Intuition für die humanistische Psychologie etc., herauszunehmen, ohne auf eine Testdiagnose zurückzugreifen. Die vorgeschlagenen Methoden integrieren auch unverstandenes Material in den Beratungsprozess, sind handhabbar und im Studiengang Supervision an der Universität Bielefeld praktisch erprobt. Selbstverständlich handelt es sich um praktische Anwendungen sozialwissenschaftlicher Methoden. Eine Deutungsmusteranalyse, die in Forschungsabsicht durchgeführt wird, ist etwas grundsätzlich anderes als eine Deutungsmusteranalyse, die in Beratungsabsicht durchgeführt wird. Deutungsmuster, also: was hält mein Klient oder meine Klientin für wahr, wie denkt er/sie? Habitus, Rolle, Lebenslaufstruktur und Entwicklungsaufgaben, sind die zentralen wissenschaftlichen Konzepte, die in diesem Kapitel vorgestellt werden. Sie ermöglichen dem Berater/der Beraterin sozialwissenschaftliches Verstehen und einen sowohl objektivierenden als auch verstehenden Zugang zur Lebenswelt des/der Ratsuchenden. Das letzte Kapitel schließlich beschreibt den Beratungsprozess, den Rahmen, die Kontraktethik, den Beziehungsaufbau, die Phase des Verstehens und Erkennens sowie die Schritte von Intervention und Raterteilung. Schließlich: Die systematische Beschäftigung mit dem Thema hat einmal mehr gezeigt, dass eine ethische und wissenschaftliche Fundierung von Beratung in der Sozialen Arbeit, der Pädagogik und Bildung, der Supervision und anderen Formaten auf den Konflikten und Erkenntnissen beruht, die im Rahmen der Frauenbewegung sowohl im Kontext der Schwangerschaftskonfliktberatung als auch der geschlechtersensiblen Beratung gewonnen worden sind. Die von mir befragten ExpertInnen waren für diese Einflüsse sensibilisiert, haben jedoch selbst nicht an den entsprechenden Diskursen um eine freie Beratung im Kontext der Frauenbewegung teilgenommen oder diese gar rezipiert. Auch innerhalb der Erziehungswissenschaft ist diese Perspektive eine Leerstelle, die teilweise ziemlich fehlgedeutet wird. Geschlechtersensible Beratung wird auf die feministische Beratung und die Anti-GewaltBeratung reduziert. Die beratungswissenschaftliche Perspektive, die sich in der Schwangerschaftskonfliktberatung sehr deutlich zeigt, ist nirgendwo außerhalb der Geschlechterforschung dokumentiert. Dieses Buch ist geschrieben worden, um Beraterinnen und Beratern sowie Studierenden beratungswissenschaftliche Positionen in Verbindung mit einem Prozessmodell und der Praxis näherzubringen. Ich widme es den von mir befragten Kolleginnen und Kollegen: Kurt Aurin, Anne Frommann, Gerhard Leuschner, Thea Sprey-Wesseling und Hans Thiersch.

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1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Seit den 1970er Jahren, zeitgleich mit der großen gesellschaftlichen Konjunktur von Beratung in der Epoche der »inneren Reformen« (Borowski, 1998), ist eine erste sozialwissenschaftlich fundierte, wenn auch vereinzelte Beratungskritik entstanden. Aus Beratung als Methode, »die unserer Zeit besonders liegt« (Mollenhauer, 1965, S. 25f.), wurde, so die Beratungskritik, eine Psychotechnik mit klientelifizierenden und deutlich pastoralen Tendenzen (Gröning, 2006). Schon in den 1970er Jahren hat es, unter dem Eindruck der infantilisierenden Wirkung der Therapie, eine erste Kritik vor allem an der Praxis der humanistischen Psychologie gegeben, die, statt Mündigkeit zu unterstützen, Abhängigkeit zu befördern schien (Halmos, 1972; Nagel & Seifert, 1979). TherapeutInnen wurden in dieser Zeit quasi religiös verehrt und schienen über ein großes Charisma und eine entsprechende Macht zu verfügen. In den 1980er Jahren folgte dann die wissenschaftliche Kritik an der Beratung. Hervorzuheben ist hier die systematische Reflexion der amtlichen Beratung (Kasakos, 1980), die Kritik von Beratung als trivialisierte Therapie (Bude, 1988), die Kritik von Supervision als Therapie oder therapeutische Methode im Beruf (Leuschner, 1993) und die Kritik der Frauenbewegung am Beratungsformat zum Paragrafen 218 im Rahmen seiner Reform in den 1970er, vor allem aber in den 1980er und 1990er Jahren. Bereits diese ersten kritischen Debatten zum Selbstverständnis, zur Ethik, zur gesellschaftlichen Funktion und zum Mandat von Beratung werfen die Frage nach ihrer wissenschaftlichen Begründung auf. Die Beratungskritik der 1980er Jahre konnte zeigen, dass das Verstehen, das Einfühlen und das Zuhören, kurz das, was ein helfendes Beratungsgespräch in der Tradition von Carl Rogers (1972) methodisch ausmacht, nicht ausreicht, um die in den 1960er und 1970er Jahren von verschiedenen ErziehungswissenschaftlerInnen (z. B. Mollenhauer, 1965; 17

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Hornstein, 1977; Sprey, 1968) formulierten Ziele der Beratung wie Reflexivität, Selbstbestimmung und Mündigkeit zu erreichen. Die von Mollenhauer (1964, 1965) formulierte sozialpädagogische Hoffnung, mit Beratung quasi auch die Bewahr- und Fürsorgetraditionen in der Sozialpädagogik zu überwinden, erfüllte sich nicht. Hauptursache dafür war und ist, dass die Wirkkraft der Institution als Rahmen von Beratung wesentlich stärker ist als die Wirkkraft der Professionen. Der Rahmen, den die Professionen quasi als Vertrauensschutz für ihre Ratsuchenden innerhalb einer Institution zur Verfügung stellen können, wurde nicht nur nicht definiert, sondern er erwies sich von vornherein als sehr eng. Gleichzeitig etablierte sich Beratung trotzdem als vierte Methode in der Sozialen Arbeit und wurde für das pädagogische Handeln insgesamt ein zentrales Format (vgl. z. B. Sprey, 1968; Hornstein, 1977; Junker, 1978). Beratung als Profession zum Beispiel in der Erziehungsberatung blieb jedoch weiterhin den klassischen beratenden Professionen, vor allem den Psychologen vorbehalten. Erst die Supervision erhob den Anspruch, eine eigene Profession unabhängig von der Psychologie sein zu wollen, und konnte das auch berufspolitisch durchsetzen. Sie begründete sich in den späten 1980er Jahren während sich die Professionsund Sozialstaatskritik auf ihrem Höhepunkt befand (vgl. Olk, 1986). Die bisherige Fokussierung auf die methodische Dimension von Beratung (Methodenvielfalt), die vor allem in der sozialpädagogischen Beratung stattgefunden hat, und die mehrheitliche Ablehnung von Beratung als eigene pädagogische Profession in der Erziehungswissenschaft werfen heute in der Epoche der gouvernementalen Beratungen im Kontext von »fördern und fordern« große Probleme auf. Die Argumentation, dass Beratung lediglich eine Methode der Pädagogik, der Psychologie oder der Sozialen Arbeit sei und als solche von diesen Disziplinen wissenschaftlich bereits ausreichend abgedeckt wird, greift spätestens der Debatte um den Paragrafen 218 zu kurz. In dieser Auseinandersetzung hat sich historisch zum ersten Mal und in aller Schärfe ein gesellschaftlicher Konflikt um die Beratung als Instrument des politischen Willens und als Verfügung über die Lebenswelt erwachsener Subjekte institutionalisiert. Dies hätte von der Erziehungswissenschaft sensibler registriert werden können. Vor allem vonseiten der Frauenbewegung, aber auch von den Beraterinnen im Kontext der §218-Beratung ist ein grundsätzlicher Kampf um Beratung als geschützter professioneller Raum, ähnlich dem geschützten Raum in Therapie und Seelsorge, geführt worden. Auch diese Auseinandersetzung um die Anwesenheit des Staates im Beratungsraum und die Rolle der Beratenden ist ein Argument für eine beratungswissenschaftliche Fundierung. Da die Geschlechterdimensionen in der Erziehungswissenschaft immer noch gerne ausgeblendet werden, ist die grundsätzliche ethische und po18

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

litische Debatte um die §218-Beratung quasi aus dem Diskurs um Beratung als Methode oder Profession exkulpiert worden (Gröning, 2014). Noch einmal tiefer als die Kritik der amtlichen Beratung, die Kasakos 1980 formuliert hat, beschreibt die Kritik an der §218-Beratung, heute Schwangerschaftsberatung, das Problem einer Beratungsethik im Sinne von Foucaults kleiner Schrift zu Kant: Was ist Kritik? (1984b) Wie sehr und auf welche Weise wollen wir regiert werden? Und inwieweit gehört Beratung mittlerweile zu einem Format des regiert Werdens? Inwieweit ist sie aus ihren alten antiken Traditionen (Gröning, 2012; Friedrich, 2013) der Parrhesia, des Wahrsprechens herausgetreten und zu einem Instrument der Macht oder der Regierung geworden? In der Bundesrepublik Deutschland ist die Verbreitung von Beratung historisch eng mit der Epoche der inneren Reformen verknüpft (Borowski, 1998). Beratung wird in den 1960er Jahren – vor allem im Kontext der Bildungsreform – als eine eigene Profession vorgeschlagen. Auch hier ist Beratung zum Instrument politischer Umsetzung geworden (vgl. Aurin, Stark & Stobberg, 1977). Jedoch unterscheiden sich Bildungs-und Schulberatung fundamental von der Schwangerschaftskonfliktberatung. Beratung war hier im Kontext der Epoche der inneren Reformen (Gröning, 2013) ein Instrument der politischen Teilhabe und der Umsetzung demokratischer Reformen in Organisationen, die anachronistisch und vordemokratisch arbeiteten. Nicht die Verfügung über die Lebenswelt, sondern die Verwirklichung der politischen Demokratie durch Bildung waren im Kontext der Bildungsreform für das Beratungsverständnis und den Ort der Beratung maßgeblich. Beratung hieß hier Möglichkeiten aufzuzeigen, zu ermutigen und zu unterstützen (Mollenhauer, 1965; Hornstein, 1977). Diese Absicht wurde vor allem von Ralf Dahrendorf in seinem Klassiker Bildung ist Bürgerrecht (1965) formuliert. Kurt Aurin, einer der wichtigsten Akteure der Schulreform, hat in diesem Sinne pädagogische Beratung als umfassendes pädagogisches Angebot formuliert und insbesondere die DiplompädagogInnen neben BeratungslehrerInnen, PsychologInnen und SchulsozialarbeiterInnen als wichtige Berufsgruppe der Beratung für das moderne Bildungssystem genannt. In dieser Bildungsreform wurzelt nun die pädagogische Beratung als eigene Profession. Sie ist aber auch mit ihr in den 1970er und 1980er Jahren untergegangen. Aus dem von Aurin in den 1970er Jahren offensiv formulierten Anspruch einer eigenen Schuljugendberatung unter dem Dach der Schulpsychologie (vgl. Aurin, Stark & Stobberg, 1977) wurde mit dem Scheitern der Bildungsreform und dem Schulkampf nur noch eine Methode in der Sozialen Arbeit. Das Scheitern der Bildungsreform ist besonders für die »reformerisch« ausgebildeten DiplompädagogInnen zum Problem geworden. Ihre Professionalisierung schien zunächst 19

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einmal zu Ende. In staatsnahen Bereichen, an Schulen oder auch im Dienst der Bundesländer oder in Erziehungsberatungsstellen kamen sie nicht mehr vor. Stattdessen wichen die wissenschaftlich ausgebildeten PädagogInnen in »weiche« Professionen aus. Sie wurden SupervisorInnen, BeraterInnen im Kontext sozialer und zivilgesellschaftlicher Bewegungen wie der Frauenbewegung, der Aidshilfe oder der Pro Familia. Sie wurden Gleichstellungsbeauftragte oder arbeiteten auf SozialarbeiterInnen- oder ErzieherInnenstellen in der Sozialen Arbeit, der Jugendberufshilfe und der Hilfe für Menschen in besonderen Lebenslagen. Gleichzeitig verschwand die Vorstellung von pädagogischer Beratung als Profession. Stattdessen boomten Methoden insbesondere aus der humanistischen Psychologie und bestimmten zunehmend die Beratung ganz in der Tradition von Carl Rogers (1972), für den zwischen Beratung und Therapie kein Unterschied bestand. Schließlich wurde Beratung auch wissenschaftlich nur noch als Methode definiert und so praktisch zu einer zur Methode »trivialisierten Therapie«. Jeder Sozialarbeiter und jede Pädagogin waren und sind bis heute gehalten, wenn nicht schon während des Studiums, so doch direkt im Anschluss daran Methoden zu lernen. Trainingsmethoden im Sinne der Verhaltensmodifikation, Therapiemethoden und heute zunehmend auch Managementmethoden. Aus dem Blick geraten sind dabei jene von der Beratungskritik formulierten Erkenntnisse zum institutionellen Rahmen der Beratung. Kontrakt und Setting spielen im Verständnis der meisten Beratungsformate keine Rolle. Stattdessen werden Beratungen als Angebote aufgefasst – und gerade dieser Angebotscharakter sollte stutzig machen. Heute muss Beratung zunehmend im Kontext der Normalisierung (Olk, 1986; Link, 2013, 2014) als Ordnungsfunktion verstanden werden. Aus der alten amtlichen sozialpädagogischen Beratung, die eine Mischung aus personenzentrierter Gesprächsführung und amtlicher Strategie war bzw. sich als solche entwickelt hatte, sind Beratungsformate entstanden, in denen der Klient/die Klientin und Ratsuchende nicht mehr souverän ist, sondern mitwirkungspflichtig, so zum Beispiel in der Bundesagentur für Arbeit, die ein lösungsorientiertes Beratungskonzept für ihre »Kunden« vorschlägt. In der Verbindung von Mitwirkungspflicht, Sanktionspotenzial und psychologischen Techniken und Methoden entstehen neue Fragen an die Beratung, wenn sie als verlängerter Arm des politischen Willens im Rahmen von Normalisierung und Ordnungsfunktionen eingesetzt wird und wenn hierzu psychologische Methoden angewendet werden. Gleichzeitig – auf diesen Aspekt der Beratung macht Jürgen Link (2013) aufmerksam – beschränkt sich Beratung nicht mehr nur auf die »Herstellung durchschnittlich erwartbarer Identitätsstrukturen«, wie dies Thomas Olk (1986) 20

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im Sinne eines alten Normalismus formuliert hat. Das Ziel des neue Normalismus, den Jürgen Link (2013) beschreibt, ist die stetige Leistungssteigerung. Beratung wird hier verstanden als permanente Feedback-Schleife zur Erreichung immer höherer Ziele. Der Prototypus dieses neuen, supranormalistischen Beratungsformates ist das Coaching. In Ämtern und Agenturen wie den Jobcentern wird dieses neue Format zunehmend angewendet. Es ist also nicht nur die quantitative Verbreitung von Beratung als pädagogische, sozialpsychologische und psychosoziale Praxis, die die Beratungswissenschaft begründet, sondern ihre Stellung im Prozess von politischer Umsetzung und des bereits erwähnten Regiertwerdens. Von großer Bedeutung sind dabei jene Settings, Instrumente und Beratungsräume, die nicht nur auf der Rollenebene angesiedelt und funktional sind, sondern sich auf die seelischen Seiten des Klienten/der Klientin richten. Beratungswissenschaft ist insoweit begründbar, wie Beratung sich in eine Praxis der Gouvernementalität verändert, wie sie also selbst zum »Instrument von Regierung« oder wie in der Schwangerschaftskonfliktberatung der moralischen Verfügung wird und ihre reflexiven und auf Mündigkeit bezogenen Ziele aufgibt. Diese Entwicklung von Beratung als gouvernementale Praxis wird durch die Überbetonung von Methoden und das Ausblenden von Kontexten, also institutionellen Rahmenbedingungen und politischen Ansprüchen, die sich in der Regel in Kontrakt, Arbeitsbündnis und Setting zeigen, begünstigt. Wenn also mit diesem Buch auch ein Methodenbuch vorgelegt wird, dann mit der Absicht, dass es im konkreten Fall das genaue Vorgehen des Beraters oder der Beraterin ist, der Umgang mit seinem/ihrem Mandat, seine/ihre Bereitschaft zwischen der Lebenswelt der KlientInnen und den institutionalisieren Rahmenbedingungen zu balancieren, welches über gute und schlechte Beratung entscheidet. Die enge Verbindung von Geschichte, Theorie und Methode soll als beratungswissenschaftliche Grundlegung verstanden werden. Die Beratungskritik konnte schon früh aufzeigen, dass Beraterinnen und Berater, die sich lediglich methodisch orientieren, strukturell nicht in der Lage sind, ihre in wissenschaftlichen Ausbildungen erlernten Fähigkeiten in den jeweiligen Organisationen, in denen sie arbeiten, umzusetzen. Gerda Kasakos (1980) verdeutlichte in ihrer Studie, dass es für SozialarbeiterInnen in der damaligen Familienfürsorge kaum möglich war, ihre professionellen, einfühlenden und unterstützenden Beratungskompetenzen, die sie im Studium und in Ausbildungen erlernt hatten, in ihrer Rolle im Jugendamt durchzuhalten. Ihre psychologischen Fähigkeiten wurden hier zu einem Machtmittel im amtlichen Kontext. Was die Klientinnen ihnen anvertraut hatten, wandelte sich durch die institutionelle Deutung von Amts wegen. Sprachen Klientinnen ganz im Sinne der personen21

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

zentrierten Gesprächsführung offen über ihre Ängste, Grenzen und Sorgen, so wurde dies formal auf der Folie des Kindeswohls und der Kindeswohlgefährdung neu bewertet. Gerade die Beratung, gedacht und gelernt als helfendes Gespräch in der Sozialen Arbeit, wurde so zum Double Bind und schließlich, wenn die KlientInnen dies erkannt hatten, zum »Katz und Maus«-Spiel im Amt. Etwas ganz Ähnliches berichtet Hans Bude (1988) von einer Art Supervision durch einen Psychologen im diakonischen Dienst, der eine Erzieherin quasi in einer Doppelrolle als beraterischer Stab intern supervidiert (vgl. zum Problem des angestellten psychologischen Beraters auch Selvini-Pallazoli, 1984). Unbemerkt schleichen sich durch seine Profession, genauer durch seinen klinischen Blick, entsprechende Deutungen in Bezug auf die Berufsprobleme der Klientin in sein Setting. Die Klientin hat bald kein Problem mehr, sie ist ein Problem. Die Beraterin oder der Berater unterscheidet nicht zwischen Beratung und Therapie, ganz im Sinne von Rogers’ methodischem Ansatz zur personenzentrierten Beratung, und deutet die sozialen und Rollendimensionen seiner Klientin immer wieder personenzentriert um, bis diese sich klientelifiziert fühlt und das Arbeitsbündnis scheitert. Die alte Beratungskritik verweist so auf die wichtige Dimension von Kontrakt und Setting in der Beratung. Ist der Beratungsraum ein geschützter Raum? Ist der/die BeraterIn sich seiner/ihrer Macht bewusst? Welches Wissen haben BeraterInnen und wie wirkt sich der klinische Blick aus? Werden Konflikte und Ratbedürftigkeit reflexiv aufgenommen oder führen sie zur Klientelifizierung? Die alte Beratungskritik verweist auf eine Kunst im Rahmen des beraterischen Handelns, die vor allem in der Supervision entwickelt wurde und hier unter dem Stichwort Dreieckskontrakt institutionalisiert werden konnte (vgl. Leuschner, 1993). Es besteht nach Leuschner eine enge Verbindung zwischen der Gestaltung des Beratungsprozesses, der Bereitschaft des Beraters/der Beraterin, für den beraterischen Freiraum einzustehen, und der grundlegenden Frage des Vertrauens in der Beratung. Auch wird in der Supervision ein konsequent sozialwissenschaftlicher Blick gelernt und diese nicht als Therapie im Beruf verstanden (Gröning, 2013b). Die alte Beratungskritik, wie sie von Kasakos (1980) und Bude (1988) exemplarisch formuliert worden ist, zeigt auf, dass jene BeraterInnen scheitern, die an die Allmacht ihrer Methode glauben, die also vom Verstehen, der Empathie oder auch dem zirkulären Fragen oder den systemischen Interventionen überzeugt sind und denken, dass sich mit der Methode auch das ethische Problem der Beratung löst. Indessen hat sich in den 1980er Jahren, dies zeigt die neue Beratungskritik auf, im Zuge der Psychologisierung der Gesellschaft oder, wie die neuen Beratungs22

Von der Beratung als Instrument der Sozialreform zur Beratung als gouvernementale Praxis

kritiker es ausdrücken, der Therapeutik (vgl. Maasen et al., 2011), Beratung nicht nur zu einer Praxis trivialisierter Therapie entwickelt. Unter dem Einfluss von New Age vermischten sich Methoden der humanistischen Psychologie mit quasireligiösen, häufig fernöstlichen Philosophien und Lebenskonzepten, die als neue Innerlichkeit in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen sind. Diese Entwicklung zur neuen Innerlichkeit als fester Bestandteil der Beratung hat den in den 1960er Jahren formulierten Anspruch von Beratung und Gesellschaftskritik, Beratung und sozialer Reform oder Beratung und Reflexivität, wie ihn Mollenhauer (1965), Hornstein (1977), Aurin, Stark & Stobberg (1977), Sprey (1968) und später Leuschner (1993) für die Supervision formuliert haben, weitgehend eliminiert. Man kann diese neue Innerlichkeit nach der Therapeutisierung, wie sie vor allem im New Age und weiteren teilweise radikalen alternativen Bewegungen zum Tragen gekommen ist, als Wegbereiter für eine weitere Entwicklung sehen, die in den 1990er Jahren einsetzte. Beratung hatte ihre reflexive und kritische Dimension, bis auf wenige Ausnahmen, bereits verloren, war höchstens noch vordergründig verstehend und empathisch und auf Methoden und ihre Anwendung ausgerichtet. Diese von der Reflexivität entkleidete Beratung geriet unter den Einfluss des Zeitgeistes der 1990er Jahre. Globalisierung, neue Arbeitspolitik, Bedeutungswandel der Arbeit haben vor allem die Bildungsberatung, die Supervision und die Sozialberatungen umdefiniert. Konzepte wie das des Arbeitskraftunternehmers, die zu Beginn der 1990er Jahre als neuer Rahmen des Arbeitsmarktsubjektes entwickelt worden sind, geben hier zusammen mit Handlungsmaßstäben der Eigenverantwortung einen neuen Rahmen für die Beratung ab, auch in der Pädagogik und Sozialpädagogik. Neue Beratungsformate wie zum Beispiel die angewandte Systemtheorie, das Coaching, die lösungsorientierte Beratung, allerlei Kurzberatungen und derzeit verstärkt auch die Beratung im Gesundheitswesen veränderten die Beratung und machten sie schließlich zu einer gouvernementalen Praxis. Um das ganze Ausmaß dieser Entwicklung verständlich zu machen, sollen zum einen wichtige Etappen der Beratung und ihrer Selbstverständnisse historisch aufgezeigt und dann das Methodenproblem in der Beratung vertiefend betrachtet werden.

Von der Beratung als Instrument der Sozialreform zur Beratung als gouvernementale Praxis Seit ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Beratung zum einen eng mit sozialreformerischen Bewegungen wie der Frauenbewegung, der 23

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Sexualreformbewegung oder der Arbeiterbewegung verbunden; zum anderen entwickelt sie sich als verlängerter Arm eines auf Normalisierung ausgerichteten Staates (vgl. Gröning, 2009, 2015). Hier wird, und das ist seit der Einrichtung der ersten Jugendsichtungsstelle nachzuweisen (vgl. ebd.), Beratung zum Instrument von Normalisierung und Biomacht im Sinne von Michel Foucault. Zur Verbindung von Beratung und Biomacht hat besonders Peter Friedrich (2013) Stellung genommen. Er beschreibt sie als Weg des Staates, mit seiner Macht produktiv umzugehen. »Mitte der 1970er Jahre nimmt Foucault eine Erweiterung seines Machtkonzepts vor. Er stellt fest, dass sich die Beschreibung des modernen Staates nicht länger allein auf Disziplinierung und Normierung aufbauen lässt. War schon das Konzept der Disziplinarmacht, im Unterschied zur souveränen Macht, auf der Idee ihrer Produktivität aufgebaut, so forciert Foucault diesen Gedanken nun hinsichtlich der historischen Entwicklungen des Staates im 19. Jahrhundert, indem er von einer Verstaatlichung des Biologischen spricht« (Friedrich, 2013, S. 59).

Entsprechend dieser Idee der Produktivität der Macht stoßen nun Lehren der Eugenik, der Menschenökonomie, der Erb- oder Sexualhygiene vor allem bei den gesellschaftlichen Eliten auf große Resonanz und befördern den Aufstieg von Professionen, die sich um die Lebensweisen der normalen Bevölkerung kümmern. Deren Angehörige werden nun von Amts wegen beraten, um sie zu verstehen und um sie dann in bestimmte Normalitätsmuster und Lebensmuster quasi »hineinzuprozessieren«. Sehr anschaulich hat dies Kristine von Soden (1988) in ihrer Dissertation zu den Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik beschrieben. Kristine von Soden stellt dabei die freie Sexualberatung der amtlichen Gesundheitsberatung gegenüber, die Ehefähigkeitszeugnisse ausstellte, mit denen man sich für eine eigenen Wohnung bewerben konnte, denn nach dem Ersten Weltkrieg war Wohnraum knapp. In der amtlichen Gesundheitsberatung werden alle Daten der Ratsuchenden in sogenannten Sippschaftstafeln gesammelt, um Erbkrankheiten, Suchterkrankungen, psychiatrische Erkrankungen oder Suizide in Familien festzustellen. 1933 sind diese Daten nur noch zentralisiert worden. Diese Art der Verbindung von Beratung mit Anreizen wie den Ehefähigkeitszeugnissen und der Dokumentation findet sich auch in den heilpädagogischen Beratungsstellen und den Jugendsichtungsstellen. Sie ist typisch für die Durchsetzung der Biomacht in dieser Zeit. Nach 1960 verschwindet dieser Flügel von Beratung als Biomacht zunächst angesichts der Wirkkraft der Verfassung der Bundesrepublik. Beratung wird zum Instrument der sozialen Reformen (Gröning, 24

Von der Beratung als Instrument der Sozialreform zur Beratung als gouvernementale Praxis

2013). In den Feldern der eugenischen Beratung und der Sexualberatung, heute Schwangerschaftsberatung, bleibt die Verbindung von Beratung und Biomacht jedoch erhalten. Hier entbrennt in den 1970er Jahren auch der erste wirklich große Kampf um die Beratung und um ihre Ablösung von der Biomacht – der Kampf um die Schwangerschaftskonfliktberatung. Bis 1961 galten in der Bundesrepublik die Rassengesetze des Nationalsozialismus von 1941 (Prager, 1988, S. 4), das Verhütungsverbot, die Diskriminierung nicht-ehelicher Sexualität, das Verbot der Sterilisation und das Abtreibungsverbot. Die Beratung durch den Arzt glich entsprechend der Prinzipien der Biomacht einem Examen und einer Prüfung, und die Sexualnot der Bevölkerung verlängerte sich bis in die 1960er Jahre. Prager zeigt auf, dass erst der Einstieg der Frauenzeitschriften in die Debatte um Verhütung und sexuelle Selbstbestimmung eine Wende in der Sexualberatung brachte und der Pro Familia als Sexualberatungsorganisation zu mehr Anerkennung verhalf. Im Zuge der inneren Reformen (Borowski, 1998) verändert sich nun die Beratung in der Bundesrepublik auch dort, wo sie als sozialpädagogische Beratung, als Bildungs- oder Schuljugendberatung institutionalisiert wurde. Bezugspunkt in dieser Epoche ist die Teilhabe von Menschen an der jungen Demokratie. In Bezug auf eine Beratungswissenschaft heißt dies nach derzeitiger Quellenlage, dass die Beratung sich nicht ausschließlich und vorwiegend als Instrument der Normalisierung verstanden hat. Stattdessen rückte die Würde der Person in den Vordergrund. Klaus Mollenhauer formulierte in den 1960er Jahren eine Beratungsethik, die sich von der Fürsorge und Bewahrpädagogik abgrenzen ließ. Die Entwicklung der Beratung in den 1960er und 1970er Jahren kommt zunächst dem nahe, was Habermas kommunikatives Handeln und Diskursethik im Sinne des Modells des praktischen Diskurses nennt. Vor allem Wissenschaftler wie Reinhard und Annemarie Tausch, Klaus Mollenhauer, Kurt Aurin und Anne Frommann äußerten sich dezidiert politisch und wollten mit der Beratung die »bleierne Zeit« (Frommann) oder die »autoritäre Kommunikation« (R. und A. Tausch) überwinden. Kurt Aurin spricht davon, mittels Schuljugendberatung Eltern und Kinder für die Bildungsreform zu gewinnen, Gerhard Leuschner spricht von der Supervision als Instrument des Verstehens, des demokratischen Empowerments und der ethischen Beziehung in der Bewährungshilfe und in den Justizvollzugsanstalten (2010), Klaus Mollenhauer spricht davon, dass Beratung eine Form der Kommunikation ist, die den Ratsuchenden/die Ratsuchende bei mündigen Entscheidungen unterstützen sollte. Foucault selbst hat erst 1981/1982 in den Vorlesungen zur »Hermeneutik des Subjekts« von Lebenspraxen und Lebensweisen gesprochen (vgl. Balke, 2008, S. 286ff.), die 25

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Beratung im Sinne der antiken Idee des reflektierenden Gespräches und des Wahrsprechens institutionalisieren.

Die Ethik der Beratung am Beispiel der Schwangerschaftskonfliktberatung Vor allem im Kontext der Schwangerschaftskonfliktberatung berührt der Kampf um einen beraterischen Freiraum eine grundlegende Dimension von Beratung als Profession. Mit der Auseinandersetzung um die Frage, inwieweit die Politik und der Staat einen Raum besetzen dürfen, der eigentlich als Reflexionsraum für einen freien Blick auf die eigene Situation konzipiert ist, stellte sich in den 1970er Jahren die grundsätzliche Frage nach dem Charakter von Beratung im Kontext politischer Ansprüche und dem Mandat der Beraterinnen und Berater. Welchen Schutz braucht der beraterische Raum, brauchen KlientInnen und Professionelle? Zwar ist auch die Beratung nach §218 ein helfendes Gespräch, welches mehrheitlich von SozialarbeiterInnen, PädagogInnen und PsychologInnen durchgeführt wird, aber niemand käme wohl auf die Idee, hier nur eine (sozial-)pädagogische Methode zu erblicken. Oder umgekehrt, die VertreterInnen der Beratung als pädagogische Methode lassen Beratungspraxen wie die §218/§219-Beratung einfach aus. Der Kampf um den beraterischen Freiraum wird in der Frage um den Schwangerschaftsabbruch bis heute geführt. Die Rolle der BeraterInnen hat sich durch die Politik, zum Beispiel die Programme zur Mutter-Kind-Stiftung, die Änderung der Beratungsgesetze und durch den öffentlichen Diskurs zum Schutz des ungeborenen Lebens immer wieder verändert. Zu erwähnen ist das Gesetz über Aufklärung, Familienplanung und Beratung, welches 1992 in Kraft getreten ist. Dem war eine breite Debatte zu einem eigenen Gesetz zum Schutz ungeborener Kinder vorangegangen (vgl. Deutscher Bundestag, Bundesdrucksache http:// dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/011/1201179.pdf ), in welcher umfassende Maßnahmen zur Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen gefordert wurden. Vor allem das liberale Abtreibungsrecht der ehemaligen DDR sollte in ein bundesdeutsches Recht überführt werden, welches den Schutz des ungeborenen Lebens als eigenes Rechtsgut an erste Stelle setzte. Die Beratung hatte nach Auffassung dieses Gesetzentwurfes die Aufgabe, die Schwangere zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen, über familienpolitische Hilfen und Betreuungsmöglichkeiten für das Kind aufzuklären, das soziale Umfeld der Schwangeren auf Wunsch dieser mit einzubeziehen und auf Ansprüche bei der Wohnungssuche, der Fortsetzung der Ausbildung und weitere Hilfen aufmerksam zu machen 26

Geteilte Ethik und gouvernementale Praxis

(Bundestagdrucksache 1179, 1991, S. 6). Mit diesen Festlegungen verschiebt sich der Beratungsschwerpunkt und wird nicht mehr im Rahmen eines Beratungssettings und Kontraktes zwischen Ratsuchender und BeraterIn festgelegt. Am 28. Mai 1993 hat das Bundesverfassungsgericht die Letztverantwortung der Frau betont. Nach erfolgter Beratung trifft die Schwangere die Entscheidung über ihre Schwangerschaft verantwortlich (vgl.: Deutscher Bundestag, Bundesdrucksache 15/3155, unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/15/031/1503155. pdf.). Das Paradoxe des Urteils liegt darin, dass der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, aber straffrei bleibt. 1995 wurde mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz die Beratung erneut geregelt. Vor allem die Strafandrohung wurde zurückgenommen (vgl. www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf ). Die Beratung wurde weiterhin so konzipiert, dass einerseits die Schwangere in der Beratung zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt werden soll, jedoch ohne Belehrung und Bevormundung. Der Gesetzgeber formuliert einerseits die Erwartung, dass sich die Schwangere dem/der BeraterIn anvertraut, dass sie andererseits aber nicht zur Mitwirkung und Offenlegung ihrer Gründe gezwungen werden kann. Es gibt also keine Mitwirkungspflicht wie bei der Beratung von Amts wegen. Umfassende Informationen, Rechtsansprüche und die Vermittlung von praktischen Hilfen gelten auch hier. Der Schutz der Selbstbestimmung im Beratungssetting und das staatliche Ziel des Schutzes des ungeboren Lebens werfen die Frage auf, wie Beraterinnen und Berater als professionell ausgebildete Experten mit den Spannungen umgehen, die durch Widersprüche staatlicher Ziele (Selbstbestimmung der Frau und Schutz des ungeborenen Lebens) in das Beratungssetting integriert sind. Diese Spannung gilt auch für den amtlichen Rahmen der Beratung. Üblicherweise werden solche Spannungen zum Beispiel in der Rechtsberatung, der Therapie und Seelsorge durch das Zeugnisverweigerungsrecht und den Vertrauensschutz gewährleistet.

Geteilte Ethik und gouvernementale Praxis Von Beginn an war einer der wichtigsten Einwände gegen die Indikationsregelung und die Schwangerschaftskonfliktberatung die geteilte Ethik, die Unterscheidung zwischen der Notlagenindikation und dem Schwangerschaftsabbruch einer erbgesunden Frucht und der eugenischen/embryopathischen Indikation, dem Abbruch einer erbkranken Frucht. Während die Beratung im Notlagenkonflikt der Ethik des Rechts des ungeborenen Lebens folgt, die schwangere Frau zum 27

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Austragen der Schwangerschaft ermutigt werden sollte und dafür auch Hilfen in Aussicht gestellt wurden, entfällt diese Dimension bei der embryopathischen Indikation. 2009 hat der Gesetzgeber die Gesetzgebung zur embryopathischen Indikation reformiert und zusammen mit der mütterlichen Indikation als medizinische Indikation neu gefasst. Am 1. Januar 2010 ist das Schwangerschaftskonfliktgesetz zur medizinischen Indikation in Kraft getreten (vgl. bmsfj, S. 15). Die Beratung bei medizinischer Indikation, das heißt bei auffälligem Befund, ist eine ärztliche Beratung. Der Arzt ist verpflichtet, der Schwangeren eine Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Leben mit einem behinderten Kind auszuhändigen (ebd., S. 16). Die Beratung bei embryopathischer Diagnose folgt als psychosoziale Beratung im Anschluss an die ärztliche Beratung zudem freiwillig und ist inhaltlich belastungsorientiert. So sollen die Schwangere und ihr Partner prüfen, ob sie der künftigen Belastung des Lebens mit einem behinderten Kind gewachsen sind. Auch wird ein möglicher Schwangerschaftsabbruch in der Broschüre des Bundesfamilienministeriums offen angesprochen (ebd., S. 18). Anders als bei den sozialen Indikationen wird die Schwangere hier nicht nur ergebnisoffen, sondern auch im Hinblick auf Risiken und zu erwartende Probleme beraten. Zudem ist die psychosoziale Beratung freiwillig! Die Problematik der embryopathischen/eugenischen Indikation bezieht sich vor allem auf den späten Zeitpunkt der Pränataldiagnostik, der sehr nah an jenen Zeitpunkt heranreicht, an welchem ein Fötus lebensfähig ist. Ebenso spielen Fehldiagnosen eine gewisse Rolle. Im Kontext der Schwangerschaftskonfliktberatung ist immer wieder auf die geteilte Ethik hingewiesen worden, die Ächtung des Schwangerschaftsabbruches im Kontext der sozialen oder der Notlagenindikation und der davon abweichende normative Rahmen bei einer Embryopathie. Hier wird fast erwartet, dass eine Frau sich selbst und die Gesellschaft nicht mit einem behinderten Kind belastet. Auf die Vermischung zwischen Bevölkerungspolitik, Eugenik und Ethik im Schwangerschaftskonflikt haben die Beraterinnen und Berater immer wieder hingewiesen. Gleichzeitig wird die Belastung durch soziale Notlagen wie Armut, Alleinverantwortlichkeit und Arbeitslosigkeit gegenüber der Belastung durch eine mögliche Erbkrankheit des Kindes tendenziell negiert. Eine radikale Beratungskritik vertritt in diesem Kontext Silja Samerski (2002). Sie beschreibt in ihrer Dissertation die Konjunktur der Beratung im Kontext der pränatalen Diagnostik und stellt fest, der wissenschaftlich sprechende Arzt und die lebensweltlich sprechende Ratsuchende in den medizinischen Schwangerschaftsberatungen hätten meist keine wirklich gemeinsame Basis und sprächen von etwas anderem als der jeweils andere. Faktisch sei diese Beratung keine Beratung, sondern ein deutlich normatives Expertengespräch. Einen wichtigen Grund 28

Geteilte Ethik und gouvernementale Praxis

sieht Samerski (ebd., S. 92) in der Problematik, mittels pränataler Diagnostik verlässlich Aussagen über das zu erwartende Kind zu machen. Sie spricht davon, dass durch die Übersetzungsleistungen des beratenden Arztes von der Wissenschaft in die Lebenswelt quasi religiöse Weltbilder und Tatsachen entstünden, die die Forschungen und Diagnosen gar nicht hergäben (ebd., S. 89ff.). Samerski arbeitet anhand der von ihr aufgezeichneten und beobachtenden Beratungsgespräche die gouvernementale Praxis in der genetischen Beratung heraus. Neben der grundsätzlichen Problematik, dass »Risiken« und genetische Defekte risikofrei und früh während der Schwangerschaft nur als allgemeine Wahrscheinlichkeiten prognostiziert werden können, entstehe durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz und die medizinische Indikation ein Setting der angeblichen Wahlfreiheit. Die Schwangere wählt zwischen verschiedenen medizinischen Tests und Beratungsangeboten als Dienstleistung scheinbar frei aus. Der Arzt trete nicht mehr als Autorität auf, sondern als Anbieter verschiedener Optionen. Samerski macht schließlich auf ganz unterschiedliche Interessen und Ziele der medizinischen Schwangerschaftsberatung aufmerksam. Während der Arzt im Sinne des Tiefenblicks (Foucault, 1982) das Pathologische tief im Inneren der Schwangeren suche und aufdecken möchte, wolle die Frau wieder Sicherheit und Gewissheit über ihre Schwangerschaft und ihre Zukunft erreichen. Das vom Gesetzgeber formulierte Beratungsziel der informierten Entscheidung erweist sich oft als Illusion. Die von Samerski aufgezeigten Probleme des verantwortungsvollen, aufgeklärten und beratenen Individuums verweisen einmal mehr auf eine Reflexion dessen, was Beratung heute ausmacht. Im Zusammenhang mit Jürgen Links Theorie zum Normalismus (Link, 2013) zeigen sich hier Dimensionen der Beratung, die als Spannung im Setting gerade der Schwangerschaftsberatung von großer Bedeutung sind. Samerskis Dissertation verweist auf eine ganz neue Beratungskritik. Indem sie zeigt, dass die genetische Beratung von Widersprüchen der Sprechakte und der Bedeutungssysteme sowie der Ziele zwischen BeraterIn und Ratsuchender durchzogen sind, tritt ein eigentlich sorgsam zugedeckter Hintergrund der Schwangerschaftsberatung nach vorne: die schwangere Frau erhält Verantwortung, nicht nur für ihre Entscheidung, sondern auch für die Risiken und die möglichen Kosten, die durch die Geburt eines Kindes mit Behinderung der Gesellschaft auferlegt würden. Hier entstehen vollständig subtile Appelle, neue Widersprüche und Double Binds in den Beratungen. Die Angst davor, kein normales Kind zu bekommen, oder auch der Anspruch auf ein optimales Kind fließen als weitere Dimensionen in den Beratungsprozess mit ein. Es geht hier um die Frage des neuen Normalismus in der Beratung und um Beratung als gouvernementale Praxis. 29

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Zwischenfazit: Was meint Beratung als neue gouvernementale Praxis? Betrachtet man die bisherigen Entwicklungslinien der Beratung, vor allem der sozial-pädagogischen Beratung, so setzt sich die schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung zu beobachtende Entwicklungslinie (Gröning, 2015) von Beratung als Machtform auf der einen Seite und Beratung als verständigungsorientiertes Handeln und Verwirklichung der Idee des guten Rates auf der anderen Seite auch in der Bundesrepublik Deutschland fort. Bleibt man auf der Ebene der Beschreibung von Beratung als Machtform, so kann für die Geschichte der Beratung (ebd.) ohne Weiteres erklärt werden, dass sie sich zunächst als Disziplinar- und Beobachtungstechnik institutionalisiert hat. Dies gilt für die Jugendsichtungsstellen, die Vorläufer der heutigen Erziehungsberatung, genauso wie für die von der Menschenökonomie und Psychotechnik beeinflusste Berufsberatung oder die sexualpädagogische Beratung, die sehr von der Eugenik mitbestimmt war. Nach 1945 wird diese Machtform in der Beratung durch den Gedanken der Bewahrung und der Fürsorge abgelöst, die sich mit den alten Disziplinartechniken mischt. Beratung wird damit ein Instrument der Lenkung von Menschen und Angehörigen sozialer Gruppen, die man eigentlich für unmündig hält und für die man glaubt entscheiden zu sollen: Alleinerziehende, Geschiedene, Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen. Dieser Anspruch der Lenkung ist von Foucault als eine eigene Machtform, als Pastoralmacht bezeichnet worden. Die bisher aufgezeigten Formate wie die Beratung von Amts wegen (Kasakos, 1980) können ohne Weiteres als Formen zwischen Disziplinierung und Pastoralität angesehen werden, wobei insbesondere der Anwendung der therapeutischen Methoden die Funktion zukommt, ein eigentlich disziplinierendes Beratungsformat quasi pastoral aufzuweichen. Mit der Durchsetzung der psychologischen Methoden beginnt Beratung im Sinne der Pastoralmacht immer mehr tiefer zu greifen. Sie wird zur Seelen- und Gewissensführung. Die Beratungskritik der 1980er Jahre hat diese Problematik immer wieder hervorgehoben. In der neuen Kritik an der »Therapeutik«, wie sie von Maasen et al. (2011) formuliert wird, wird vor allem die Psychologie und Therapie als Religionsersatz problematisiert. Die Verbindung mit den fernöstlichen Heilslehren, die absolute Individualisierung von Problemen in Verbindung mit Glücks- und Freiheitsversprechen und einer Antwort auf die menschliche Sinnsuche lässt die neuen Beratungsformate der Therapeutik zu einem Amalgam von Pastoralität und Gouvernementalität werden. Diese Mischung zeichnet die Epoche der Methodenvielfalt, also der Verbreitung der Methoden der humanistischen Psychologie aus. Vor allem die kreativen Methoden in der 30

Werde super – stehe über der Masse und über den Normalen!

Psychologie, wie z. B. Rollenspiele, Psychodrama und Gestalttechniken, haben die Dimension der individuellen Sinnsuche aufgenommen und sind über die Pädagogik heute deutlich auch in der (psychosozialen) Beratung vertreten. Die aktuellen Beratungsformate, das Coaching zum Beispiel, welches in aller Munde ist, aber auch Formate der Karriereberatung bis hin zur medizinischen Schwangerschaftsberatung können als eine Mischung aus Super-Normalismus (Link, 2013) in Verbindung mit Gouvernementalität verstanden werden. Gouvernementale Formate als Beratung, also Formate, in denen es um Regierung geht, arbeiten nicht mehr mit Disziplinierung oder Lenkung, sondern mit Anrufungen, wie Bröckling (2005) es formuliert hat. Anrufungen wie »Handle unternehmerisch«, »Werde, der du werden kannst«, »Optimiere dich selbst« gehören zum Kern der Gouvernementalität in Verbindung mit dem »neuen Normalismus«. Da Regierung Konsense braucht ebenso wie Anrufungen, um ihre Programme zu verbreitern und in die Lebenswelten zu transferieren, haben die mediengestützten Beratungsformate wie Online-Beratung, Chat, Telefonberatungen Konjunktur. Die Kategorisierung der Beratung als Disziplinartechnik, als pastorale Technik oder als regierende Technik ist den Kategorien der Macht von Foucault entlehnt. Diese Kategorien der Macht sind von Peter Friedrich (2013) und Jürgen Link (2014) in einer Systematik zu Foucault auch auf Beratung und Supervision im Rahmen der Theoriereihe zur reflexiven Supervision an der Universität Bielefeld übertragen worden. Um vor allem jene Beratungsformate zu verstehen, die als supranormalistisch und gouvernemental verstanden werden können, ist es sinnvoll, die Theorie von Jürgen Link zum Normalismus hinzuziehen. Seine Zeitdiagnose zum Normalismus erklärt, warum die verschiedene Beratungsformate sich heute so großer Zustimmung erfreuen und warum es, im Unterschied zu der Beratung in den 1980er Jahren, nicht mehr um Glück und Heil geht, wie das die Beratungskritik von Maasen und MitautorInnen (2011) nahelegt, sondern um Optimierung.

Werde super – stehe über der Masse und über den Normalen! 1992 hat Jürgen Link in seinem Entwurf »Versuch über den Normalismus« eine Reflexion zur Normalität in der modernen Gesellschaft vorgelegt. In dem Buch »Normale Krisen« (2013) hat er wiederum eine Vertiefung seiner Theorie des flexiblen Normalismus als Ausdruck der geistigen Situation der Zeit vorgetragen. Normalismus, das heißt die Definition dessen, was normal ist und was pathologisch, ist bei ihm in Anlehnung an Foucault das große Projekt im 19. Jahrhundert. Mit der sich durchsetzenden Industriegesellschaft sei parallel eine Verdatung und 31

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Vermessung der Welt durch Wissenschaften wie Demografie, Eugenik, Statistik (vgl. Link, 2013, S. 21) entstanden. »Diese Verdatung beginnt historisch mit direkt physisch messbaren Feldern, etwa demografischen (Geburten und Sterbefälle, was eine wichtige Datenbasis für den Aufstieg des normalistischen Versicherungswesens lieferte), ökonomischen (besteuerbarer Besitz, Waren- und Kapitalströme) meteorologischen (Temperaturen und Niederschläge), körperbezogenen (Körpergröße, Körpergewicht usw.) und soziologischen (Einkommensverteilung usw.)« (ebd.).

Die Verwissenschaftlichung der Beobachtung, bei Foucault ja bekanntermaßen das Panoptikum (vgl. Friedrich, 2013), richtet sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr so sehr auf das Pathologische und die Trennung zwischen »normal« und »pathologisch«, sondern wechselt zur Biomacht. Nach Foucault wird nun das Normale erforscht und verdatet. Normalität wird standardisiert und hergestellt, parallel beginnt eine Angst vor dem Pathologischen, nicht mehr normal zu sein. Normal zu sein wiederum setzt, wie Elias (1976) es formuliert, den Zwang zum Selbstzwang voraus. Autoritäre Eltern und Lehrer, disziplinierende, auf Initiation beruhende Institutionen wie Schule und Militär formen den normalen Menschen und gehen mit der politischen Macht eine Verbindung ein (Foucault, 1984). Jürgen Link (2014, S. 6) betont, dass Normalismus, also das, was zunächst nur durch Messen und Verdaten als Durchschnitt, als Mittelspektrum und deshalb als Normalität galt, sich mit dem Normativismus verbunden hat. Das Normale wurde im 19. Jahrhundert das Wünschenswerte, das Richtige, während das Nichtnormale das Bedrohliche und Schlechte wurde. Die Statistik verband sich mit der Kriminologie und die Medizin konstruierte Grenzen der Normalität, die zunächst sehr rigide warten. Unterschiede zwischen den Normalen und den Nichtnormalen wurden strikt gezogen. »Bei der Kopplung mit medizinischen Indikationen entscheidet die Diagnose körperlicher, seelischer oder geistiger ›Abweichung‹ über die Separation (Trennung von der normalen Bevölkerung) und die Internierung in einer Anstalt. In beiden Fällen bilden die Mauern eine deutlich sichtbare Normalitätsgrenze. Diese massiv materielle Normalitätsgrenze schreckt nach außen hin (in Richtung der normalen Bevölkerung) dramatisch ab. Nach innen ›stigmatisiert‹ sie. Obwohl also auch hier immer gilt, dass zwischen dem ›höchstplatzierten‹ Individuum innerhalb der Mauer und dem ›am niedrigsten platzierten‹ außerhalb Kontinuität besteht, schaffen die protonormalistischen Apparate eine scharfe symbolische Zäsur, einen drama-

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Werde super – stehe über der Masse und über den Normalen!

tisch sichtbaren ›Schnitt‹. Kulturell werden dadurch zwei scheinbar klar getrennte Teil-Bevölkerungen geschaffen« (Link, 2014, S. 6).

Die schon erwähnte Epoche der inneren Reformen in den 1960er Jahren zeigt, dass strikte Normalitätsgrenzen die gesellschaftliche Produktivität lähmen. Aktuell kann dies am Diskurs über Hochbegabung aufgezeigt werden. Im normativen und protonormalistischen Sinne der Schule, so konnte nachgewiesen werden, sind hochbegabte Kinder nicht normal. Ihr Schulweg ist ein schwerer Weg, da sie als unterforderte Schüler sehr schnell aus dem Normalitätsspektrum herausfallen und »auffällig« werden. Auch völlig überflüssige Konditionierungen wie das Schreiben mit der rechten Hand zeigen, wie sehr rigide Normalitätsgrenzen ihr Ziel verfehlen können. Sie sind ungerecht, kränkend und stigmatisierend. Stichworte wie Integration, Inklusion und Flexibilisierung zeigen auf, dass es zur derzeitigen Politik gehört, die rigiden Normalitätsverständnisse aufzuweichen, um das Normalitätsspektrum zu vergrößern. Diese Entwicklung ist seit den 1930er Jahren in den USA und seit 1960 bei uns in Gang. Warum ist dies so? Und welche Seiten hat diese Entwicklung? Es kann davon ausgegangen werden, dass die »Grenzen des Wachstums« (1970), also der Bericht des Club of Rome über die Endlichkeit der Rohstoffe einen entscheidenden Impuls gesetzt hat, die Normalitätsgrenzen auszudehnen. Die Produktivität, die in der Wissensgesellschaft oder in der Bildungsgesellschaft liegt, das Bewusstsein darüber, dass Fortschritt nicht mehr durch Maschinen, sondern durch Vernetzung und Wissen erzeugt wird, dehnt das Normale als von hoher Plastizität und Veränderbarkeit durchsetzt aus (Link, 2013, S. 108). Die Konjunktur von neuen Beratungsformaten, vor allem Coaching, lässt sich nach Link (2014, S. 7ff.) aus der Dehnung der Normalitätsgrenzen verstehen. Das Coaching solle das persönliche Wachstum der Klientel stimulieren. Coaching und Supervision seien im Sinne eines normalismustheoretischen Kontextes beide flexibelnormalistische Dispositive. Allerdings sei der Blick des Coachings einseitig und geradezu starr auf die obere Normalitätsgrenze gerichtet, in deren Richtung die Klientel eben gecoacht werden solle. Während es der Supervision auch darum gehe, »Verlierer aufzufangen«, also bestimmte KlientInnen vor dem Absturz in die Subnormalität zu bewahren, sei Coaching das Format der Gewinner. Diese Grenze wird gerade von Astrid Schreyögg, Herausgeberin einer Zeitschrift für Organisationsentwicklung, Coaching und Clinical Management, rigide gezogen (vgl. auch Schreyögg, 2004, S. 110ff.). Beratungsformate werden mit Codierungen wie ihrer nicht mehr integrativ oder inklusiv auf den Einschluss von Normalitätsspektren gerichtet, sondern geradezu protonormalistisch und bipolar, hier Gewinner und 33

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Coaching, dort Verlierer und Supervision. Schreyögg abstrahiert selbstverständlich mit dieser rigiden Grenze zwischen Supranormalismus und Subnormalität, bei ihr gibt es überhaupt kein Normalitätsspektrum der Mitte mehr, sie postuliert, dass in jeder Biografie Lebensphasen des Aufstiegs sich mit Lebensphasen der Krise abwechseln. Sie lässt offen, ob bei Krisen dann das Setting gewechselt wird, vom Coaching zur Supervision, oder der/die BeraterIn ausgetauscht wird, ob dann also statt des Coaches/der Coachin ein Supervisor/eine Supervisorin kommt. Vergegenwärtigt man sich ihr Modell praktisch, so wird schon hier ein Mangel an Logik darin deutlich, von den ethischen Problemen ganz zu schweigen. Nach Link stammt das Coaching sowohl als Begriff wie als Dispositiv aus dem Sport, weshalb er seine Logik auch aus dem Sport ableitet. »Die Weltranglisten individueller oder kollektiver (Mannschaften) Spitzensportler stellen den bekanntesten und populärsten Fall von normalistischer Verpunktung, Konkurrenz und Erstarkung dar. Obwohl sie nur das supernormale Segment – das aber umso intensiver – auf die äußeren und inneren Bildschirme der Kultur projizieren, entwerfen sie stets indirekt ein sportliches Ranking der gesamten Population« (Link, 2014, S. 8)

In der flexibel normalistischen Gesellschaft werden nun, so Link (ebd., S. 9), die Kriterien und Rationalität des Sports auf die Gesellschaft gelegt. Nicht mehr Inklusion und Integration seien die Ziele der neuen Beratungsformate, sondern es ginge stets um Steigerung und Wachstum von Leistung und Motivation. Dazu diene die Implementierung eines sportlichen Konkurrenzdispositivs ins Subjekt. Diese Funktion erfüllen unter anderem auch die neuen gouvernementalen Beratungsformate. Umgekehrt machen die Konkurrenzdispositive und ihre Rationalisierung in den Beratungen das gesamte Setting schamanfällig. Schon in den 1990er Jahren hat Sighard Neckel (1991) auf die Zunahme der Schamgefühle in den modernen Gesellschaften hingewiesen. Die Theorie des Supranormalismus, so wie sie Link vorlegt, verweist noch einmal auf eine Radikalisierung der Scham in Beratungsprozessen, weshalb BeraterInnen und SupervisorInnen sich mit Schamphänomenen auskennen müssen.

Gouvernementalität und die Anpassungsmechanismen Was ist nun gouvernementale Beratung genau und wie kommt es, dass Menschen sich regieren lassen? Dass sie sich anstecken lassen von den Konkurrenzdisposi34

Gouvernementalität und die Anpassungsmechanismen

tiven und den Größenideen des Supranormalismus, ebenso wie von der sozialen Abstiegsangst und der Angst davor, nicht normal zu sein, nicht leistungsfähig genug oder nicht erfolgreich? Die Beantwortung dieser Frage fällt in den Bereich der Psychoanalyse, da diese mit der Theorie des Unbewussten, des Ich und ihren Gesellschaftstheorien Antworten zu geben vermag, die die Motive für die Selbstoptimierung und die Empfänglichkeit und Offenheit gegenüber Anrufungen erklären können. Es gehört zu den Grundannahmen dieser Arbeit, dass Gouvernementalität sich mithilfe der Psychoanalyse erklären lässt. 1978 hat der Ethnoanalytiker Paul Parin in diesem Sinn eine Theorie der Anpassungsmechanismen parallel zu der Theorie der Abwehrmechanismen vorgelegt. Während die Abwehrmechanismen, so wie sie Anna Freud (1936/1964) formuliert hat, zur Psychologie des Ich gehören, gehören die Anpassungsmechanismen zur Bindungstheorie, genauer zur Bindung an die soziale Gruppe/Familie. Und so begründet Parin diese auch: Anpassungsmechanismen wurzeln in der Trennungsangst und dem kindlichen Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit. Drei Anpassungsmechanismen hat Parin (1978, S. 490ff.) beschrieben. Das »Gruppen-Ich«, das »Clangewissen« und die »Identifikation mit der Rolle«. Der Anpassungsmechanismus des Gruppen-Ich bezieht sich auf das Mitlaufen in Gruppen und Gemeinschaften. Soziale Netzwerke, Kameradschaften, Mitgliedschaften und Vereine, heute auch zunehmend Teams, Mitgliedschaften in Organisationen und im Beruf, begehrte Sozietäten und Fanclubs oder auch virtuelle Gemeinschaften wie Facebook zeichnen das Gruppen-Ich aus. »Unter Gruppen-Ich verstehen wir eine für das ganze Ich gültige, besondere Funktionsweise und eine Reihe besonderer Ich-Funktionen, Manifestationen des Gruppen-Ich, die auf die Mitwirkung einer Gruppe von Menschen angewiesen sind, um suffizient zu sein oder zu bleiben« (Parin, 1978, S. 491).

Zum Anpassungsmechanismus des Gruppen-Ich gehört die Bereitschaft, sich anzubieten, Rollen in der Gruppe zu übernehmen und vor allem identifikatorische Beziehungen einzugehen. Parin nimmt Bezug auf Freuds Theorie zur Masse (1921). Die gemeinsame Identifizierung mit einem Ideal ermöglicht es, spannungsfreie Identifizierungen einzugehen. Die Masse der Fans zum Beispiel ist das Pendant des idealen Gewinners, des Sportlers, des Siegers etc. Auch wenn man selbst also nicht zu den Siegern gehört, so ermöglicht das Gruppen-Ich im Fanclub, am Sieg teilzuhaben. Umgekehrt wäre der Sieger kein Sieger, stünde nicht die Masse hinter ihm. Das Clangewissen beschreibt demgegenüber eine partielle Moral und ein nicht-reflexives Denken. Das Clangewissen entsteht, wenn dem Kind Werte 35

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

angeboten sind, die nicht die eigenen sind, an denen man gegebenenfalls selbst gescheitert ist. Das Clangewissen zeigt ein gespaltenes Über-Ich. Einerseits werden höchste Normen vertreten, andererseits werden eben diese Normen verworfen, wenn anderes Verhalten narzisstische Befriedigung verspricht. Das Clangewissen bedeutet ebenso, die Verantwortung für das eigene Handeln an eine Autorität zu delegieren. »Der Altautohändler, der die Geschäftsmoral seiner Berufskollegen teilt, folgt seinem Clangewissen ebenso wie der Fanatiker, der für eine gute Sache ganz rücksichtslos kämpft; aber auch der Analysand, der den Analytiker, welcher wiederum alles versteht, zum Über-Ich-Träger macht und sonst verbotene Triebwünsche zulässt« (Parin, 1978, S. 479).

Die Identifikation mit der Rolle schließlich, der dritte Anpassungsmechanismus, wird von Parin (ebd., S. 499) als Identifizierung mit erwünschtem und gefordertem Verhalten bezeichnet. Es handelt sich um gruppen-, klassen- oder kastenbzw. ethnienspezifische Verhaltensweisen. Parin nimmt hier die Rollentheorie in der Tradition von Talcott Parsons zu Hilfe. Legt man Parsons’ Theorie der Rollenentwicklung zugrunde, so wurzelt das Rollenlernen im Ödipuskonflikt und in der Identifizierung mit den Basalrollen: Geschlechts- und Generationsrolle. Im Sinne von Pierre Bourdieu (1997c) sind die Rolle und ihre Identifikation deshalb verbunden mit der Identifizierung mit dem Vater als Träger der Erblinie, des Namens und der Abstammung. Nach Dahrendorf (2006) sind Rollen Bündel von Verhaltenserwartungen, mit deren Hilfe erfolgreiches Handeln gelernt wird. Identifikation mit der Rolle gehört deshalb zu den Voraussetzungen des erfolgreichen Handelns. Dies kann umgekehrt nur erfolgen, wenn die Beziehung zu den hinter der Rolle liegenden, unbewussten Instanzen, also den Eltern bzw. Elternimagines im Sinne einer Bindungstheorie gut genug waren. Die Kunst des Regierens, der Seelenführung und des Herrschens auf der einen Seite und die Anpassungsmechanismen, welche wiederum in der menschlichen Verlassenheitsangst und Bindungssuche wurzeln, auf der anderen Seite, bilden Interdependenzen und sind komplementär aufeinander bezogen. Als philosophischen Entwurf hat Foucault (1984b) dieses Problem in einer Vorlesung in der Philosophischen Gesellschaft in Paris vorgetragen. Sein Vortrag verweist zugleich auf eine Ethik in der Beratung und ist beratungswissenschaftlich von großer Bedeutung (vgl. Gröning, 2006). In Auseinandersetzung mit Kants Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« arbeitet Foucault die Mechanismen der Gouvernementalität aus und nennt seinen Vortrag: »Was ist Kritik?«. Er plä36

Gouvernementalität und Geschlecht

diert für ein aufgeklärtes bzw. aufklärerisches Denken, welches in der Haltung wurzelt, sich nicht so, in dieser Weise oder so viel regieren zu lassen. Die Anpassungsmechanismen beschreibt er als Dispositive einer inkorporierten Macht, die den Anspruch erhebt, Menschen lebenslänglich zu lenken, und in der christlichen Pastoral begründet liege. Für eine beratungswissenschaftliche Reflexion ist Foucaults Schrift »Was ist Kritik?« von geradezu grundlegender Bedeutung, ebenso wie seine Arbeiten zu den Disziplinartechniken für das Verstehen von Macht in Institutionen und Professionen von großer Bedeutung sind. Foucault beginnt seine Reflexion mit der Darstellung der Pastoral, die den Anspruch erhebe, das Individuum stetig zu lenken. Die Mechanismen der Lenkung beschreibt er als in einem dreifachen Verhältnis zur Wahrheit liegend: Wahrheit als Dogma, individualisierende Erkennung und Techniken der Exploration und der Gesprächsführung, in deren Mittelpunkt die Selbstkritik, das Geständnis von Schuld und Unzulänglichkeit und die Erklärung der Bindung an die Gruppe und deren Führer steht. Diese pastorale Praxis ist sozusagen die Vorgeschichte der Gouvernementalität. Demgegenüber kontrastiert Foucault die kritische Haltung als eine, die sich eben nicht so tief bis ins Innere oder in dieser Weise beherrschen lassen will. Diese Kritik verbindet er mit dem Kant’schen Grundsatz: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – sapere aude. Die gouvernementale Praxis pervertiert nun diesen Anspruch, indem sie Aufklärung vor allem als Selbstexploration begreift und auf das pastorale Geständnis zurückführt. Dies ist eine wichtige Kritik an der Therapeutik und Beratung, insofern sie sich einerseits als aufklärend verstehen will, andererseits jedoch individualisierende Erkennung, Wahrheitsspiele und Verhörtechniken betreibt. Im Sinne der Biomacht geht die Gouvernementalität heute indessen weiter und richtet sich nicht mehr nur auf die Seelen- und Gewissensführung, sondern auf den Körper. Er wird zum Ziel der Regierung. Die industrielle Herstellung gesunder, leistungsfähiger, ästhetischer Körper wird heute zunehmend zur Aufgabe einer neuen Medizin, einer entsprechenden Industrie und zur tagtäglichen Verpflichtung gegenüber sich selbst. Es ist der Leistungskörper, der heute einen hohen sozialen Status verspricht und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen.

Gouvernementalität und Geschlecht Aus den Anpassungsmechanismen sind heute gouvernementale Bestrebungen der Selbstoptimierung mit eindeutig geschlechtsbezogenem Charakter entstanden. In verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten hat Anna Stach dieses Problem bei jungen Frauen untersucht und ein neues Verhältnis zum Körper, der zum bevor37

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

zugten Gegenstand der Selbstoptimierung wird, ausgemacht. Nach Stach sind Frauen traditionell schönheitsbezogen. Der schöne Körper gehört zum symbolischen Kapital vor allem junger Frauen und öffnet ihnen den Zugang zur Welt der Erwachsenen und nicht selten älterer Männer mit hohem sozialen Status. Nach Kleine (2014) tragen gouvernementale Anrufungen wie unternehmerisches Selbst dazu bei, den eigenen Körper im Sinne einer Marktlogik herauszuputzen und einzusetzen. Für die Gouvernementalität typisch ist, dass nicht mehr nur Kleider, Frisuren, Make-up und Accessoires zur Körperoptimierung gehören, sondern die Optimierung auf das Körperinnere zielt. Im Kontext der Männlichkeitsforschung spricht Stach in Anlehnung an Meuser vom globalen Berufsmenschen als Anrufung, in Bezug auf die Frauen macht sie eine ähnliche Tendenz aus. Die moderne Frau ist bindungslos flexibel, mobil, angstfrei und ebenfalls global orientiert. Geschlechterverhältnisse werden dethematisiert und Identitätsentwürfe unter eine neue globale Vernunft gestellt. Vor allem die alte weibliche Beziehungsorientierung sowie alle Dimensionen des mütterlichen und reproduktiven weiblichen Körpers werden von einer neuen Marktlogik verändert. Stach (2013, S. 32) spricht von einer Entmütterlichung der Körper. Vor allem Bindungsbedürfnisse, Körpergrenzen und negative Gefühle müssen abgewehrt werden, da sie dem globalen Berufsmenschentum und damit dem Versprechen auf sozialen Status entgegenstehen. Stach beschreibt die Entwicklung als Radikalisierung instrumenteller Vernunft, der Berufsmensch macht sich selbst marktfähig. Verbunden wird diese Idee der Marktfähigkeit der Subjekte mit den politisch breit vorgetragenen internationalen Erfahrungen, die im jungen Alter gesammelt werden müssen. Anna Stach hat empirisch vor allem zur Fernsehsendung »Germanys Next Topmodel« geforscht und hier eindrucksvoll aufgezeigt, wie die ritualisierte Unterwerfung unter ein von der Marktlogik dominiertes Schönheitsideal in Verbindung mit einer supranormalistischen Anrufung wirkungsmächtig wird und auf der Ebene der Fangemeinde die sozialen Anpassungsmechanismen bei sehr jungen Frauen umsetzt. Ein Leben für uns zu führen, wie es Martha Nussbaum in ihrem Entwurf vom guten menschlichen Leben formuliert, und das Leben der globalen Berufsmenschen scheinen unvereinbar. Es scheint so, als sei ein Leben für uns erst möglich, wenn der Entwurf der Anrufung an das unternehmerische Selbst gescheitert ist.

Zur Kritik gouvernementaler Beratungsformate Der Mangel an Wissenschaftlichkeit im Kontext der Beratung, ihre Begrenzung auf ein Verständnis als Methode haben nicht nur einen unübersichtlichen 38

Zur Kritik gouvernementaler Beratungsformate

Beratungsmarkt (mit-)hervorgebracht, sondern auch auf der Ebene der Ausbildungen und Qualifikationen eine Tendenz befördert, Beratung in immer kürzeren und punktuelleren Einheiten, häufig sehr additiv und als Abhandlung von therapeutischen Methoden und zunehmend Psychotechniken zu lernen. Die »große Mutter Therapie« bleibt, ungeachtet aller Kritik an der Beratung als trivialisierte Therapie, die schon in den 1980er Jahren formuliert worden ist. Ein Beispiel für viele ist die Beratungsweiterbildung, die von einer Fachhochschule als Weiterbildung zur psychosozialen Beratung und Voraussetzung zur Supervisionsausbildung angeboten wird. Hier wird zwar der Anschein erweckt, dass es um eine modularisierte moderne Ausbildung geht, die Module heißen aber personenzentrierte Beratung, Gestaltberatung, systemische Beratung, lösungsorientierte Beratung, psychoanalytische Beratung und rechtliche Aspekte, und natürlich steht am Anfang ein gruppendynamisches Verfahren. Ein wissenschaftlich begründeter Beratungsprozess ist hier, wie in vielen Weiterbildungen, nicht zu erkennen. Ebenso fehlt jedwede Reflexion darauf, warum Beratung sich derzeit so stark ausbreitet und wie gesellschaftliche Entwicklung und Beratung verbunden sind. Vor allem der Aspekt von Beratung und Normalisierung in amtlichen und quasi amtlichen Kontexten wird in den häufig für SozialarbeiterInnen angebotenen Kontexten vollständig ausgeblendet. Gerade diese Gruppe ist jedoch besonders gefährdet, mit der Methode der Beratung in gerade jene Dilemmata zu laufen, die von der Beratungskritik als Double Binds beschrieben worden sind: Ausklammerung von Lebenslagen und Lebenswirklichkeiten der Klientel, Ausklammerung von Institutionsdynamiken und ihrer Wirkungsmächtigkeit, mangelnde Kontraktgestaltung und Fähigkeit, stabile Arbeitsbündnisse zu entwickeln, sind die direkten Konsequenzen, wenn Beratung nur als psychotechnische Methode verstanden wird. Diese Kritik am gängigen Beratungsverständnis wird noch einmal erhärtet durch den aktuellen Diskurs zur Gouvernementalität. Im Folgenden werden deshalb die wichtigsten Einwände gegen psychotechnische Beratungsformate, die es von wissenschaftlicher Seite gibt, zusammengefasst. Gleichwohl ist nicht jede Praxis, die sich unter dem Dach des Coachings oder der Lösungsorientierung anbietet, von vornherein gouvernemental. Kontrakt, Setting und Arbeitsbündnis können auch hier reflexiv und advokatorisch praktiziert werden. Dann reagieren BeraterInnen auf einen gewissen Druck des Marktes und nennen sich zum Beispiel CoachIn, um einen Auftrag zu bekommen, den sie benötigen. Das Problem dieser sicherlich weit verbreiteten Praxis ist jedoch, dass das Gestrüpp des Beratungsmarktes immer undurchsichtiger wird. Im Folgenden werden deshalb Beratungskonzepte auf ihre inhaltlichen Kerne zurückgeführt und kontrastiert. 39

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Zur Kritik des Coachings Seit etwas mehr als zehn Jahren boomt das Coaching als berufsbezogenes Beratungsformat und verdrängt die reflexiven Beratungsformen bzw. fordert diese heraus. Die insgesamt steile Karriere des Coachings seit den 1980er Jahren lässt sich nicht verstehen, wenn man die wirtschafts- und arbeitspolitischen Diskurse vor allem zum Bedeutungswandel der Arbeit in der Bundesrepublik und die paradigmatischen Veränderungen sozialstaatlicher Prinzipien, wie sie insbesondere in der Agenda 2010 begründet sind, außer Acht lässt. Auch die große Bedeutung des Managements, wie es seit den 1990er Jahren in fast allen Wirtschaftszweigen, insbesondere im Zusammenhang mit Qualitätsdebatten und Prinzipien schlanker Produktion vertreten wird, und die Zurückdrängung der Professionen, die bis dahin einflussreich waren, haben das Coaching befördert. Im Feld der berufsbezogenen Beratungen kam das Coaching mit der Krise der (Semi-)Professionen und dem Aufstieg der Führungskräfte (Gröning, 2010b). Schon in den 1980er Jahren hatte an den Professionen und Semiprofessionen eine deutliche Kritik eingesetzt. Diese hätten es sich quasi im Sozialstaat bequem gemacht und mit professionellen Machtmitteln wie Lobbyarbeit, Verwissenschaftlichung oder dem Kammerwesen (eigener Gerichtsbarkeit) und einer gewissen Staatsnähe sozusagen Monopole errichtet. Sie entscheiden darüber, wer welche Bedarfe hat und wie diese staatlich durch welche Professionen zu befriedigen sind (vgl. Olk, 1986). In seiner Dissertation »Abschied vom Experten« systematisiert Thomas Olk diese Kritik an den sozialstaatsnahen Professionen wie SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen etc. Dass die Professionen lernen sollten, unternehmerisch zu denken, war seit Mitte der 1980er Jahre, zum Beispiel in der berühmten Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, Konsens. Dieses neue unternehmerische Denken sollte ihnen auch durch entsprechende Beratung nähergebracht werden. Der Diskurs, der seit den 1980er Jahren vor allem vor dem Hintergrund einer großen strukturellen Arbeitslosigkeit und eines Rückgangs der industriellen Produktion in Westeuropa geführt wurde, hatte den alten Konsens der Sozialpartnerschaft, welcher vor allem für das »Modell Deutschland« von großer Bedeutung war, aufgekündigt. Nicht nur die soziale Sicherheit stand mit Diskursen um die Zukunft und die Finanzierbarkeit des Sozialstaates auf dem Prüfstand, auch die Frage, welche Bedeutung Arbeit für den Wertschöpfungsprozess in einer globalisierten Welt haben würde, wurde zur wichtigen theoretischen Frage in den Sozialwissenschaften. Mit den 1990er Jahren setzte sich dann eine Wirtschaftspolitik durch, die vom Bedeutungswandel der Arbeit ausgehend den Wertschöpfungsprozess neu 40

Zur Kritik des Coachings

bestimmte und vor allem das Organisationshandeln und das Handeln von Führungskräften ins Zentrum rückte. Diskurse zur Qualität, zur Effizienz und zur ökonomischen Steuerung ließen das Management eines Unternehmens in den Vordergrund rücken. Führungskräfte sollten eine bessere und fundierte Ausbildung und gleichzeitig Begleitung und Rückenstärkung bekommen. Diese Praxis hatte sich in den 1980er Jahren in den USA verbreitet (Quidde, 2014). Schon lange hatte Boltanski (1990) den sozialen Aufstieg der Führungskräfte als eigene Gruppe beschrieben und eine neue Elitenbildung beforscht. In den 1990er Jahren institutionalisierte sich diese Elitenbildung und mit dem Aufstieg der Führungskräfte als soziale Gruppe kamen auch ihre BeraterInnen. Als Führungskräfteberatung suchte das Coaching sich seine Theorie und seine Begründung und entlehnte das Beratungsmodell für Führungskräfte dem Sport, nachdem kurze Reflexionen und Bezüge auf die Politikberatung, vor allem im Kontext einer interessanten Konjunktur zu Niccolò Machiavelli (Münkler, 1995), wieder verschwanden. Trotzdem findet sich in den Beratungsformaten des Coachings eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, dass es sich nicht nur um quasi dem Sport entlehnte Formate handelt, sondern dass der Wille zum Erfolg, zum Sieg und zur Macht in der Führungskräfteberatung eine wichtige Rolle spielt. Diese Argumentation wird vor allem bei einer der führenden Vertreterinnen des Coachings deutlich: Astrid Schreyögg. In einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Ansatz hat Frank Austermann ausführlich zum Coaching Stellung genommen (2013, S. 24–34). Ebenso wichtige Argumente hat der Normalismusforscher Jürgen Link zu dieser Debatte beigetragen. Auch wenn Austermann und Link diesen Ausdruck nicht benutzen, so zeigt das Verständnis des Coachings, dass dieses Beratungsformat nicht mehr vom Menschen und der politischen Demokratie ausgeht. Stattdessen wird ein funktionaler Personalbegriff in den Mittelpunkt des Coachingkonzeptes gestellt. Schon 2004 hat Schreyögg zwischen »Person« und »Personal«, zwischen Personenberatung und Personalberatung fundamental unterschieden (zur Kritik auch Gröning, 2007). Schreyöggs Konzept lehnt sich dabei an Oswald Neuberger an. Frank Austermann wiederum zeigt die gouvernementalen Denkweisen Neubergers und Schreyöggs auf. »Bei ›Personal‹ handelt es sich um einen Sammelbegriff aus dem Wirtschaftsleben. Er bezeichnet die Gesamtheit aller Arbeitskräfte einer Organisation […] Wie Neuberger (1994) betont, besagt der Begriff ›Personal‹, dass hier Menschen ohne Ansehen der einzelnen Person als Produktionsfaktor begriffen werden. In diesem Sinn haben sie wie Maschinen oder Gebäude der Zielerreichung eines organisatorischen Systems zu dienen […]. Sie [die Menschen] haben den Wettstreit [mit

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1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Maschinen] in der Regel verloren, weil sie im Laufe der Zeit immer teurer wurden und weil sie – anders als Maschinen – über ›Eigensinn und Eigenwert‹ verfügen […] Im heutigen Zeitalter des Wissensmanagements […] spielt allerdings der Mensch als Produktionsfaktor eine zunehmend größere Rolle« (Schreyögg, 2011, S. 379, zit. n. Austermann, 2013, S. 27).

Menschen sollen an die Erfordernisse des Verwertungsprozesses angepasst werden: »Menschen sollen umgeformt werden, Maßstab und Zielperspektive sind dabei die betrieblichen Verwertungsabsichten«, (Neuberger, 1994, S. 3, zit. n. Austermann, 2013, S. 28) »Aus Personal kann man nicht Personen machen, genauso wenig wie man aus Deutschland Deutsche machen kann. Der Aggregat-Charakter von Personal kommt besser zum Ausdruck in Bezeichnungen wie: der menschliche Faktor […], Humanvermögen oder […] das Humankapital. Personal – das ist die Mitgliederschaft, die in Reih’ und Glied steht und so gegliedert (= einer systematischen Ordnung unterworfen) ihre Funktion erfüllt« (ebd., S. 8, zit. n. ebd., S. 29).

Frank Austermann hat eine Fülle dieser und ähnlicher Beispiele aufgezeigt, die die Denkweisen dieser führenden Coaches offenlegen. Es ist deshalb wichtig, sich darüber nicht nur moralisch zu empören, sondern das hinter diesen Denkweisen liegende Beratungsverständnis im Coaching zu interpretieren und zu dekonstruieren. Die Konstruktion von Schreyögg und Neuberger zeigt nämlich zuerst, dass in diesem Verständnis die Dimensionen des Rechts und der Rechtssubjektivität, wie sie im Betriebsverfassungsgesetz niedergelegt sind, zerbrochen werden. Es gehört zu den rechtsstaatlichen Grundverständnissen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ihren Betrieben eine Interdependenz bilden, dass beide vor allem Rechtssubjekte sind, die als Sozialpartner ihre Interessen in rationalen Verhandlungen und entsprechenden Kontrakten regeln. Bei Schreyögg und Neuberger geht es deshalb weniger um das Menschenbild, sondern um das rechtsstaatliche Verständnis, das sie mit ihrem Coaching- und Personalkonzept offenbaren. Formulierungen wie »Reih und Glied«, »Umformung« und ähnliche erinnern zudem eher an das alte Militär als an den modernen Betrieb. Der Organisationsbegriff, der der Idee von »Reih und Glied« zu Grunde liegt, stammt von Max Weber und beschreibt Organisationen in der alten Industriegesellschaft. Hier steht die Hierarchie im Mittelpunkt. Schon in den 1960er Jahren hat Niklas Luhmann überzeugend diesen Organisationsbegriff konfrontiert und stärker die Funktionen und den kybernetischen Charakter von Organisationen betont 42

Zur Kritik des Coachings

(Luhmann, 1964). Neben dem ersten Einwand der mangelnden Rechtlichkeit im Beratungsverständnis von Schreyögg (2004, 2009) und Neuberger (1994) ist der sachliche Einwand, dass Personen wie Personal sich mit diesen die Systemdimensionen ausklammernden Beratungsverständnissen nicht mehr ansprechen lassen. Bei Schreyögg und Neuberger wird ein weitgehender Anspruch auf Umformung, Verfügung und Anpassung des Arbeitnehmers oder des Personals an betriebliche Erfordernisse proklamiert. Also: nicht mehr Arbeitnehmer und Arbeitgeber schließen einen (rechtsgleichen) Vertrag über die zu leistende Arbeit, der Arbeitnehmer wird in seine betrieblichen Funktionen eingewiesen und lernt eine berufliche Rolle, er benutzt seine Fähigkeiten, um diese betriebliche/berufliche Rolle auszufüllen, sondern Arbeit wird als Produktionsfaktor vom Arbeitenden als Rechtssubjekt gelöst. Dazu dient das Bild von Neuberger, den Aggregatcharakter der Arbeitnehmer zu betonen, dass man aus Deutschland nicht Deutsche machen könne, und nicht aus Personen Personal. Diese Verleugnung der Interdependenz zwischen Personen und Personal, wie auch zwischen Deutschen und Deutschland hat schon etwas Komisches und ist zunächst nur unlogisch, denn Deutschland wäre nicht Deutschland ohne Deutsche, genauso wie es kein Personal ohne Personen gäbe. Dass diese Interdependenz abgestritten wird, hat mit dem vordergründigen Interesse der Verleugnung der Rechtlichkeit im Arbeitsleben und letztlich auch mit der Verleugnung der moralischen Autonomie jedweden Personals zu tun. Die Verleugnung der Interdependenz ist deshalb moralisch und sachlich gefährlich. Sozialtheoretisch betrachtet werden Person und (berufliche) Funktion über die Rolle zusammengehalten. Will man jetzt den im Verwertungsinteresse des Unternehmens arbeitenden Akteur hervorbringen und ihn so erziehen, dass er ausschließlich seiner zugedachten Funktion gerecht und Produktionsmittel im Dienste des Unternehmens wird, so raubt man diesem Akteur gleichzeitig seine reflexiven und moralischen Fähigkeiten. Diese sind jedoch für jedes Unternehmen und nicht zuletzt für die Gesellschaft unverzichtbar. Jede Firma braucht den denkenden und im moralischen Sinn auch den verantwortlichen Mitarbeiter. Insofern ist die Grundlage des Coachings in diesem Fall zutiefst ideologisch und nicht mit einem modernen Rechtsstaat, aber auch mit Einsichten vom Betrieb als System vereinbar. Es ist indessen sinnvoll, sich das Rechtsverständnis, welches der Argumentation von Schreyögg und Neuberger zu Grunde liegt, genauer anzusehen und zu bewerten. Eine erste Linie der Kritik ist die Verdinglichung und Versachlichung, mit der das Coaching begründet wird. Arbeitnehmer seien ein Produktionsfaktor mit Eigensinn und Eigenwert (Schreyögg, 2004, S. 110ff.). Ebenso sei der Anspruch auf umfassende Formung dieses Produktionsfaktors im Sinne des jeweiligen betrieblichen Verwertungsinteresses vorhanden. Es ist ja nicht 43

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

nur so, dass solche Haltungen geeignet sind, den sozialen Frieden in einem Betrieb nachhaltig zu stören. Es ist ebenfalls so, dass die Klassifizierungen beider Coaches den Betrieb und alle dort vorhandenen Menschen und Sachen zu etwas Gegebenem erklären. Dieses Gegebene, über das die Führungskräfte und Eigentümer dann frei verfügen bzw. über das zu verfügen sie unter anderem durch Coaching lernen müssen, macht den Betrieb zu einem vordemokratischen Ort. Es werden hier nicht mehr Interessen verhandelt und durch Kontrakte entwickelt und zum Kompromiss oder Konsens gebracht, sondern im Sinne des Leviathan verfügen jene, die die Arbeitskraft kaufen, möglichst umfassend im Sinne ihres Interesses über sie. Dieses Verständnis des Betriebs entspricht nicht den europäischen Rechtstraditionen nach 1945. Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass soziale Ungleichheit und rechtliche Gleichheit die Regel sind, weshalb entsprechende Anerkennungskämpfe immer wieder geführt werden können. Auch vor dem Betrieb macht die rechtliche Wirkkraft des Kontraktes nicht halt. Das von Schreyögg und auch Neuberger vertretene Modell erinnert mehr an den Fürsten, dem sein Fürstentum von Gottes Gnaden gegeben ist und der über dies und alles dort verfügen darf. Wir finden diese »fürstliche« Politikberatung vor allem in der politischen Theorie Machiavellis. Warum sollen nun mit diesen vordemokratischen Konstrukten, die stark in die Vergangenheit weisen, moderne Beratungsformate in einer postindustriellen Gesellschaft begründet werden? Und warum erfreut sich dieses Beratungsformat einer solchen Resonanz? Auf diese Dimension gibt wiederum Jürgen Link (2014) eine Antwort. Link beschreibt, dass Beratungsformate wie das Coaching deshalb so attraktiv sind, weil sie die Illusion der oberen Normalitätsgrenze im Auge haben. Sie sind, wenn man so will, ein narzisstischer Trost. Das Coaching soll helfen, dass Führungskräfte diese obere Normalitätsgrenze erreichen, dass Grenzen geöffnet werden und Erfolge sich einstellen. Entsprechend gehöre zu diesem Weg eine »Begleitung des mit dem sportlichen Rekordwillen unlöslich verbundenen Stress bis hin zur Doping-Problematik […]. Wo die obere Normalitätsgrenze den Blick völlig beherrscht, wird allerdings wie ein Schatten die Denormalisierungsangst als Angst des Umschlags von der oberen zur unteren Normalitätsgrenze endemisch: Das ist die Angst vor dem Burnout, und Coaching muss also stets auch versuchen, dem Klienten Tipps zur Kontrolle von Denormalisierungsangst zu vermitteln« (ebd., S. 10).

Link attestiert dem Coaching zudem einen Mangel an Reflexivität und damit auch Vernunft, Kritik und Aufklärung. Das restlose Eintauchen ins Spiel mit 44

Kritik der systemischen Beratung

seinen Spielregeln als Voraussetzung konterkariert den Beratungsprozess. Coach und Coachee sind beide gefangen im Spiel um das Streben zur oberen Normalitätsgrenze. Würde das Spiel infrage gestellt, bräche die spezifische CoachingMotivation zusammen. Demgegenüber, so Link (ebd., S. 9), ermögliche Supervision nicht bloß Reflexivität, sondern will sie sogar fördern. Im Unterschied zum Coaching sei Supervision weder starr auf einen Wettlauf zur oberen Normalitätsgrenze (enhancing), noch auf einen letztlich monetären Leistungsbegriff bezogen. Man kann sagen, dass Supervision sich um das gesamte Normalspektrum, vor allem um den mittleren Bereich, aber gerade auch um den unteren kümmern möchte (»Verlierer auffangen«). Teamfähigkeit soll dabei nicht teaminternen Konkurrenzwettlauf, sondern Erschließung der Produktivität von Solidarität bedeuten. Die Funktion aller gouvernementalen Beratungsformate, eben auch des Coachings, sei die Herstellung einer neuen Normalität (new normal). Von der Ökonomie bis zur Psychologie soll jene Wachstumsdynamik, die 2008 zur Krise geführt habe, nicht bloß restauriert, sondern zusätzlich gesteigert werden. »Das betrifft nicht bloß das restaurierte quasi-exponentielle Wachstum der Börsenkurse (das sogenannte ›Zocken‹), sondern die gesamte kulturelle Mentalität, die üblicherweise als ›neoliberal‹ bezeichnet wird (was für mich einen Missbrauch des schönen Begriffs der Liberalität impliziert). Konkret auf unser Thema bezogen, wird jene Mentalität restauriert und weiter gesteigert, die das Coaching gegenüber der Supervision auszeichnet« (ebd., S. 11).

Link problematisiert, dass unter dem Aspekt des flexiblen Normalismus eine Dynamisierung der Kurve des Normalwachstums erreicht werden soll. Gleichwohl sei diese Wachstumskurve, seien diese Erwartungen längst nicht mehr nur Gegenstand der Ökonomie. Kultur, Mentalität und Massenpsyche werden seien hier längst »angesteckt«.

Kritik der systemischen Beratung Während die Kritik am Coaching vor allem den rechtlichen, sachlichen und ethischen Problemen dieses Beratungsformates folgt, richtet sich die Kritik an der systemischen Beratung auf die Rolle des Beraters/der Beraterin und das Setting, vor allem aber auf die konzeptionelle Gleichsetzung von systemischer Beratung und systemischer Familientherapie. Vor allem die systemische Beratung bean45

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sprucht, eine Methode in der Sozialen Arbeit zu sein und wird als Profil in den Fachhochschulen gelehrt. Die Gleichsetzung von Therapie mit Beratung ist indessen nicht nur hier ein Problem. Sie findet sich auch bei anderen Konzepten, zum Beispiel den personenzentrierten Ansätzen. Die Gleichsetzung von Beratung mit Therapie verzichtet auf die Begründung von Ratbedürftigkeit und Beratungsbedarf und konzipiert Beratung als trivialisierte Therapie. Grundsätzlich ist hier zu bemerken, dass in einem radikal foucaultianischen Verständnis alle Therapien und Beratungsformate tendenziell gouvernemental im Sinne der Biomacht sind, die nicht den Prinzipien folgen, die Foucault 1982 in seiner Vorlesung am Collège de France zur Hermeneutik des Subjektes vorgelegt hat (vgl. Becker/Wolfstetter, 1984; Foucault, 1984a). Alle Encountergruppen, die ritualisiert auf Regression setzen, vor allem Psychotechniken wie Hypnose, Urschrei, Bioenergetik, NLP etc., die Psychoanalyse, die Geständnisse hervorlocken will, sie alle wären gouvernemental im Sinne der Pastoratsmacht und/oder der Biomacht. Bei der systemischen Beratung wird diese Gouvernementalität durch das Setting und die Art des Kontraktes verstärkt, denn die Vorannahme ist, dass es sich beim Problem des Klienten/der Klientin oder der Familie um ein »Spiel« handelt, eine pathologische Interaktion, welche destruktiv gespielt wird. Das Spiel besteht, so die Grundannahme, aus Effekten der Rückkopplung als tragende Struktur in der Familie. »Aus systemischer Sicht ist die Rückkoppelung die tragende Struktur der Interaktion. Unter Rückkoppelung wird […] die zirkuläre Verknüpfung mehrerer Ereignisse verstanden« (Ritscher, 2002, S. 36). Die Aufgabe des Therapeuten/der Therapeutin oder des Beraters/der Beraterin bestehe nun darin, so die theoretische Annahme, aus seiner »machtvollen Position heraus die Prozesse in der Sitzung genau zu steuern und […] problemaufrechterhaltende Muster zu sprengen« (Kowalczyk, 2000, S. 343). Diese Systemsprengung basiert auf der kybernetischen Theorie. Zunächst geht es um die kybernetische Beschreibung des Systems. In einem zweiten Schritt wird die Frage bearbeitet, wie der Beobachter/die Beobachterin in Bezug auf das System Familie oder das System KlientIn beobachtet und konstruiert. Dies ist die Kybernetik zweiter Ordnung. Sie wird durch das Team der TherapeutInnen sichergestellt. Mit dieser Kybernetik zweiter Ordnung beginnt quasi das Spiel zwischen Familie und TherapeutInnen. Es ist ein Spiel um Deutungen und Wirklichkeit und darum, wessen Deutungen und Wirklichkeitsauffassungen letztlich die Oberhand behalten. Anders als bei hermeneutischen oder auch kritischen Beratungstypen in denen es um Verstehen, um Parteilichkeit, um Aufklärung der KlientInnen geht, wären alle diese Interventionen, fänden sie in systemischen Beratung statt, letztlich auch ein Spiel um die Wirklichkeit und ihre Deutungen. 46

Kritik der systemischen Beratung

Aus dieser Vornahme des Spiels im Gegensatz zum Leiden zum Beispiel wird davon ausgegangen, dass der/die Ratsuchende oder KlientIn quasi überlistet werden muss. Diese Haltung befördert einen Paradigmenwechsel vom Verstehen hin zum Beobachten und damit die Frage der »Regierung« im Sinne der Gouvernementalität. TherapeutInnen, die nicht mehr in ein Arbeitsbündnis gehen, die ein Beobachtungssetting wählen und sich wie eine Mannschaft Deutungen und Interaktionen zuspielen, sind wohl auch näher an Sport und Spiel. Der Spielcharakter wird noch einmal durch Prinzipien des positiven Umdeutens und der Ressourcenorientierung erhärtet. Im Mittelpunkt steht hier die Methode des Reframings. Durch Reframing (Umdeutung) wird einer Situation oder einem Geschehen eine andere Bedeutung oder ein anderer Sinn zugewiesen. Es wird positiv umgedeutet. Diese Sichtweise, das Problem positiv zu sehen, führt zum Anspruch, die Ressourcen einer Familie besser nutzen zu können. Vor allem die Umdeutung von schwachen Rollen, von Opferrollen, in aktive Rollen, das Herausarbeiten von Entscheidungen, gehören zur Intervention und damit zum Spiel. Eine wichtige systematische Kritik an der systemischen Therapie und Beratung hat in den 1980er Jahren zuerst Manfred Clemenz (1986) formuliert. Die Grundannahme der Begründer der systemischen Therapie und Beratung, Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson (1974), dass es möglich sein soll, allein auf der Basis von Beobachtung und Redundanz Rückschlüsse auf die Sinnstrukturen der Kommunikation in einem sozialen Systeme zu ziehen, bezeichnet er als szientistisches Missverständnis. Auf jede Beobachtung folge die Interpretation als hermeneutischer Akt. Beobachten, ohne zu verstehen und zu interpretieren, also ohne expressiv-empathische Bewegung, könne nicht zur Erkenntnis führen. Nach Clemenz ist es letztlich eine hermeneutische Bewegung, die auch in der systemischen Beratung und Therapie zum Erfolg führt und zur Veränderung. »Weder die Axiome der pragmatischen Kommunikationstheorie, noch die therapeutischen Hypothesen der systemorientierten Therapie lassen sich nämlich auf der Ebene eines strikt beobachtenden Erkenntnisideals formulieren, geschweige denn praktisch anwenden. […] Vereinfacht ausgedrückt besteht das szientistische, genauer gesagt methodologische Selbstmißverständnis der systemorientierten Interaktionstheorie darin, daß die Ambiguität des Begriffs der Beobachtung einseitig aufgelöst wird« (Clemenz, 1986, S. 11).

Clemenz kritisiert, dass man nicht objektive Fakten beobachten könne, wenn man die Interaktion einer Familie beobachtee. Weder Dimensionen der Zeit noch 47

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soziale Dimensionen der Interaktion, die aber immer eine Rolle spielen, würden quasi von außen erfassbar. Clemenz besteht darauf, dass die Familie eine gemeinsame Geschichte hat und spricht von lebensgeschichtlichen Verweisstrukturen. Entscheidend sei an einem kritischen Punkt, dass die krisenhaften Phänomene in der Geschichte des Systems nicht mehr kommunizierbar seien, dass die Metakommunikation also blockiert sei. Ohne die Vorannahme einer lebensgeschichtlichen Genese und einer Existenz abgespaltener Motive ließe sich das Modell überhaupt nicht formulieren. Während Clemenz besonders das Erkenntnisideal der systemischen Therapie angreift, fokussiert Michael B. Buchholz in seiner Habilitationsschrift den Einfluss gesellschaftlicher Modernisierung auf die Familie. Auch er bezweifelt, dass Verstehen als binäre Codierung, so wie Luhmann es vorgeschlagen hat, für das Verstehen einer Familie angemessen ist (Buchholz, 1993, S. 53). Buchholz führt stattdessen die verschiedenen Formen der qualitativen Sozialforschung an, die zeigen, dass mit dem mechanischen Modell des Verstehens im Rahmen einer binären Codierung die Mehrheit der Interaktionen nicht verstanden werden kann, weshalb die Kommunikation beachtlich auf solche Interaktionen verringert wird, die dann in die Zirkularität und die binäre Codierung passen. Er führt an dieser Stelle richtigerweise den Begriff des latenten Sinns im Kontext der objektiven Hermeneutik an, aber auch das Modell von Alfred Lorenzer zum szenischen Verstehen, um quasi mit der interpretativen Sozialforschung gegen die Engführung des systemischen Verstehensbegriffs gegenzuhalten. Diese theoretische und methodologische Kritik trifft vor allem die Selektion der Kommunikation auf Zirkularität in der Praxis von systemischer Therapie und Beratung. Immer wieder hat gerade Oevermann (z. B. 2003) gezeigt, dass die Kommunikation in einer Beratung oder Therapie erst dann wirklich erschlossen werden kann, wenn man sich die Mühe einer sequenziellen Analyse macht und alles, was gesagt wird, interpretiert. Genau auf diesen methodischen Umgang, also die Verbindung von Psychotherapie mit sozialwissenschaftlichen Methoden, verzichtet aber die systemische Beratung und Therapie (und nicht nur sie) und übt sich stattdessen in zirkulären Interventionen, die häufig mehr an Sprüche erinnern als an wissenschaftlich fundierte Praxis oder an beraterische und therapeutische Kunst. Eine weitere kritische Dimension betrifft die Alltagsferne der systemischen Beratung und Therapie, die Familie auf Kommunikation und Interaktion reduziere. Familie gilt heute als Herstellungsleistung und nicht als etwas, was nur im symbolischen Raum zu verorten ist. Schließlich sind massive Einwände aus der Geschlechterforschung in Bezug auf den Umgang der systemischen Therapie mit Gewalt und patriarchalischer 48

Kritik der systemischen Beratung

Macht laut geworden, vor allem in Bezug auf die familiale Gewalt, auf Kindesmissbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung und auf die Position der Frauen in der Familientherapie. Im kritischen Fokus steht hier das systemische Prinzip der Homöostase. Unter Homöostase versteht man die Fähigkeit eines Systems, sich durch Rückkoppelung selbst in einem stabilen Zustand zu halten. »Homöostase wird durch negatives Feedback sichergestellt. Eine Abweichung vom Gleichgewichtszustand wird wahrgenommen und löst eine regulierende Handlung aus« (Schlippe & Schweitzer, 1998, S. 61). Dieses kybernetische Modell wähnt also auch jene Familien im homöostatischen Prinzip, die zum Beispiel durch Gewalt und sexuellen Missbrauch oder durch massive geschlechterbezogene Ungleichheit auffällig werden, welche dann als Ungleichgewicht und Störung des Systems gilt. Da das missbrauchte oder vernachlässigte Kind, einschließlich des Erwachsenen, der missbraucht oder vernachlässigt wurde, als Indexpatient gilt, führt der Weg nicht nur schnell zu den Interaktionsbeziehungen in der Familie, sondern eben sehr schnell auch zu den Geschlechterrollen. In den 1990er Jahren hat eine Gruppe systemischer Therapeutinnen (vgl. Rücker-Emden-Jonasch & EbeckeNohlen, 1992) diese Modell selbst infrage gestellt und eingeräumt, dass die systemischen Konstruktionen immer wieder auf die Mütter als Orte der Schuld in den Familien verweisen würden. So nennt Rosemarie Welter-Enderlin das familientherapeutische Setting ein »Guckloch« (1992, S. 113) durch welche die Familie zuerst beobachtet und dann das Wahrgenommene pathologisiert werde. WelterEnderlin kritisiert die gesellschaftliche Abstinenz und kommt zu dem Schluss, dass auf diese Weise vor allem die Mütter sehr rasch pathogen wirkten. Sie kritisiert die familientherapeutische Hybris, durch die Therapie Frösche in Prinzen und Aschenbrödel in Prinzessinnen verwandeln zu wollen. Gleichzeitig rückt Welter-Enderlin (1992, S. 116) von der Gleichgewichtsfiktion der Familiensystemtheorien ab. Faktisch bestätigen sie und die meisten der im Herausgeberband vertretenen Autorinnen, dass die Verleugnung der männlichen Herrschaft eine tragende Ideologie der systemischen Familientherapie ist. Sehr häufig gehören außerdem Retraditionalisierung und der Rückgriff auf die alte Geschlechterordnung zu den Lösungen, die das System Familie dann wieder ins Gleichgewicht bringen sollen. Impulse, die aus der Sackgasse der Therapeutisierung von Familien herausführen, kommen heute zum einen von der Adaption feministischer Theorien und Theorien der Geschlechterforschung wie zum Beispiel die wichtige Arbeit zur Familie als Herstellungsleistung. Auch hier sind die Beiträge der Geschlechterforschung zu würdigen. 2007 haben Karin Jurczyk und Michaela Schier das Konzept breit diskutiert und beschreiben, dass Familien sich durch etwas aus49

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zeichnen, was tagtäglich und immer wieder hergestellt werden muss. Die Arbeit des Alltags ist bevorzugter Gegenstand der Geschlechterforscherin Karin Jurczyk. Sie hat immer wieder darauf hingewiesen, wie Modernisierungsprozesse in den Alltag einwirken und wie Zeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den innerfamilialen Alltag wirken. Dies ist ebenfalls Gegenstand der feministischen Zeitdebatte vor etwa zehn Jahren gewesen. Familien, die heute zum einen in Zeiten der Beschleunigung, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der erhöhten Erziehungsanforderungen, der Entstandardisierung und Patchworkkultur, der erhöhten Arbeitsmarktrisiken und schließlich in mehrgenerationalen Kontexten leben und hier ihre Pflichten und Verantwortung haben, erleben in ihrem Binnenraum w9hrscheinlich immer mehr Antagonismen. Der Entdeckungszusammenhang der systemischen Familientherapie wie auch der Familientherapie insgesamt waren die 1960er Jahre. Bis heute gilt, dass der systemischen Therapie der große blinde Fleck zugeschrieben werden muss, dass sie die gesellschaftlichen Geschlechterordnungen, und hier liegt die Betonung auf Ordnungen völlig unterschätzt haben. Nun trifft dieser Vorwurf der Geschlechterforschung an die Therapie auf fast alle Psychotherapien zu (vgl. Rhode-Dachser, 1992). Last, not least sei hier noch angemerkt, dass diese Ordnung sich mittlerweile durch einen eklatanten Widerspruch zwischen Rechtsgleichheit im Familienrecht und Ungleichheit in der Familienpolitik auszeichnet. Familien leben faktisch in einem Antagonismus zwischen dem egalitären Rechtssystem, welches beiden Eltern immer mehr Gleichheit und Egalität zumutet und zugesteht, und einer konservativen Familienpolitik mit deutlich retraditionalisierenden Anreizen (Gröning, 2014). Die Familienvorstellungen müssen also notwendig widersprüchlich und verletzlich sein und jede Familie muss ihren Spagat machen zwischen den sehr gegensätzlichen Botschaften und Ordnungssystemen, die ihr von der Gesellschaft zugemutet werden. Indessen: auch die systemische Beratung hat sich in ihren Grundannahmen jedenfalls auf der theoretischen Ebene entwickelt und verändert. Reflexive Dimensionen, Denkanstöße werden größer. Auch werden »die entscheidenden Prozesse nicht während der Sitzung selbst (vermutet)«, sondern »zwischen den Sitzungen« lokalisiert (Schlippe & Schweitzer, 1998, S. 205). Es gehe demnach um Denkanstöße, die der Berater oder die Beraterin der Familie während den Sitzungen geben soll. So aufgeklärt, dass die systemischen TherapeutInnen und BeraterInnen von Parrhesia sprechen, also das beraterische Prinzip der Mündigkeit (Mollenhauer, 1965; Hornstein, 1977; Leuschner, 1993) auf den Beratungsprozess anwenden, ist indessen dieses Format noch lange nicht. Man bleibt grundsätzlich in einem systemischen Spiel und damit in einer gouvernementalen Logik. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang 50

Kritik der lösungsorientierten Beratung

noch einmal der Unterschied zwischen systemischer Beratung und systemischer Therapie. Auch hier gilt, dass die systemische Beratung keinen eigenen Begriff von der Ratbedürftigkeit hat und das therapeutische Prinzip auf die Beratung überträgt. Systemische Beratung kommt aber vor allem in den Feldern der Sozialberatung zum Zuge. Das heißt, es treffen auf sie grundsätzlich all jene Probleme zu, die Kasakos schon 1980 im Verhältnis von personenzentrierter Gesprächsführung und amtlichen Strukturen ausgemacht und beforscht hat. Nur sind die systemischen BeraterInnen um einiges offensiver und vor allem verwirrender. Der beraterische Kontext in der Sozialberatung, die größere Verletzlichkeit des Klienten vor allem im Umfeld des SGB II werden hier kaum berücksichtigt. Grundsätzlich ist hier eine Forschungslücke zu konstatieren. Es empfiehlt sich, ähnlich wie Buchholz dies für die Familientherapie angeregt hat, mit der Methode der objektiven Hermeneutik die beraterische Interaktion zu analysieren.

Kritik der lösungsorientierten Beratung Die lösungsfokussierte Kurztherapie wurde von Steve de Shazer und MitarbeiterInnen in Milwaukee (USA) am Brief Family Therapy Center (Geiling, 2002, S. 78) entwickelt. Der Ansatz beschäftigt sich mit der Entwicklung von Lösungen (vgl. Nestmann et al., 2004, S. 737), richtet sich vorwiegend auf die Kognition und ist derzeit das Leitkonzept der Beratung im Bereich der Jobcenter und zunehmend auch in der Sozialen Arbeit. Die lösungsfokussierte Beratung wurzelt in den systemischen Verständnissen und gilt vor allem wegen ihres Selbstverständnisses als Kurzberatung, aber auch wegen ihrer theoretischen Implikationen als geeigneter Ansatz für die moderne amtliche Beratung im aktivierenden Staat. 2002 hat Wolfgang Geiling eine ausführliche kritische Würdigung des Ansatzes verfasst und die Tendenz in der Praxis sozialer Arbeit kritisiert, nach Methoden zu rufen, die Hintergründe für den Trend zur Kurzberatung jedoch auszublenden (Geiling, 2002, S. 77ff.). Diesen Trend sieht er in den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen sozialer Arbeit, die sich zunehmend hinsichtlich ihrer Effizienz und Effektivität kritisch legitimieren müsse. Mit der Verbindung zu den Arbeitsbedingungen von SozialarbeiterInnen und FallmanagerInnen erklärt Geiling auch die hohe Attraktivität des Ansatzes aus institutioneller Sicht. Der Fokus auf Lösungen und Ressourcen vertieft den Charakter der Beratung als gouvernementale Praxis, die Beraterin oder der Berater wirft den Klienten/die Klientin auf sich selbst zurück. Das rechtsstaatliche Versprechen auf Hilfe wird durch ein pädagogisierendes Gespräch ersetzt, in dessen Mittelpunkt der Verdacht steht, 51

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

dass der Klient/die Klientin seine/ihre Probleme konstruiert und sich darin eingerichtet hat. Wie im systemischen Verständnis auch gehören die klassischen methodischen Strategien, die bereits aus der systemischen Beratung bekannt sind, wie Ressourcenfokussierung, zirkuläres Fragen und die Wunderfrage zur lösungsfokussierten Beratung. Das Bild ist jenes des Klienten/der Klientin, der/die sich an Hilfesysteme wendet, weil er/sie dies so gelernt hat. Der lösungsfokussierten Beratung liegt also ähnlich wie der Verhaltenstherapie das Konzept der gelernten Hilflosigkeit bei sozial schwachen Lebenslagen zu Grunde. Beraten heißt zudem, Lösungen zu konstruieren. Wie auch in der systemischen Therapie und Beratung wird zu Grunde gelegt, dass der/die KlientIn in Konstruktionen lebt, die umkonstruiert werden müssen. Seine/ihre Lebenslage wird als individuell (!) konstruierte Wirklichkeit verstanden. Sie kann deshalb auch individuell umkonstruiert werden, womit die Funktion der Beratung beschrieben ist. (vgl. Nestmann et al., 2004, S. 739f.; Geiling, 2002, S. 79). Als Kurzberatung und Beratung mit Minimalintervention passt das Beratungsformat zudem sehr gut in das amtliche, ökonomische Verständnis der Gegenwart. Wolfgang Geiling kritisiert vor allem die im Rahmen der lösungsorientierten Beratung offensiv vorgetragene Forderung, SozialarbeiterInnen müssten lernen, statt problemorientiert positiv und in Lösungen zu denken (Geiling, 2002, S. 78). Grundannahmen der lösungsorientierten Beratung sind entsprechend, dass der sozial benachteiligte Klient, ähnlich wie sein Sozialarbeiter, problemorientiert und negativ denkt. Psychotechniken wie Ausnahme-Fragen, hypothetische Fragen, Ressourcenfragen oder die Wunderfrage werden deshalb in den Ausbildungen und Beratungsprozessen trainiert (vgl. Nestmann et al., 2004, S. 740ff.; Geiling, 2002, S. 79). Zur Technik gehören ebenso das positive Umdeuten, Komplimente und Verstärkungen. Schließlich werden Vereinbarungen getroffen, an die der Klient sich zu halten hat (vgl. Nestmann et al., 2004, S. 742). Aus diesem Ausgangspunkt sollen sich positiv verstärkt Schritte kleiner Verbesserungen ergeben. Der/die Ratsuchende soll schließlich darin bestärkt werden, dass er die Veränderungen selbst herbeigeführt hat (vgl. ebd., S. 744f.). Frank Nestmann propagiert die lösungsorientierte Beratung als einen Ansatz, die direkt in die Gegenwart passt und dem Anspruch nach Individualisierung und Pluralisierung entgegen kommt (ebd., S. 725). Zunächst kann man natürlich denken, dass Vieles, was die lösungsfokussierten Beratungsformate anbieten, auf alten klassischen Konzepten der Sozialen Arbeit aufbaut. Solidarität zum Beispiel, welche im alten Grundsatz der Gemeinwesenarbeit zu finden ist, kann selbstverständlich als Ressource angesehen werden. Nur sind Tugenden wie Solidarität mit ihrer zu 52

Kritik der lösungsorientierten Beratung

Grunde liegenden Ethik, mit Vorstellungen von Geben und Nehmen, von sozialer Teilhabe und Bindungen doch etwas anderes als dieser spezielle Blick und die Umdeutung dieser Güter als Ressource. Hobfoll und Lilly (1993) differenzieren Ressourcen wie folgt: ➢ Unmittelbare materielle Gegenstände zur Befriedigung von unmittelbaren Grundbedürfnissen ➢ Positive Lebensbedingungen wie Familie, Einkommen, Gesundheit ➢ Personenmerkmale wie soziale Kompetenzen, Selbstwert, Optimismus, Kontrollbewusstsein usw. ➢ Schlüsselressourcen: Mittel zum Zweck, Geld, Vertrauen, Bekanntschaften, Wissen usw. (vgl. Hobfoll & Lilly, 1993, S. 132ff.). Die genannten Ressourcen lassen sich also in die klassische Theorie der Lebenslage (Neurath, 1931/1981; vgl. Gröning, 2006) oder in die Theorie der Kapitalsorten nach Bourdieu (1997a) einordnen. Es handelt sich also nicht um eine Beschreibung von etwas Neuem, sondern um eine ökonomische Umdefinition. Die Menschen, die in soziale Netzwerke eingebunden sind, haben damit natürlich auch Ressourcen. Es ist indessen die Ökonomisierung bzw. die utilitaristische und ökonomische Betrachtung ihrer Netzwerke, Lebensweisen, Tugenden, die das letztliche Ziel des Beratungsformates der lösungsfokussierten und ressourcenorientierten Beratung aufdecken. Letztlich lässt sich jedes kulturelle, soziale und symbolische Kapital einer Person als Ressource ökonomisieren und können Ratsuchende aufgefordert werden, sich zu ihren Kapitalsorten utilitaristisch zu verhalten. Aber soll ein Berater/eine Beraterin, die dazu noch in staatlichen Systemen arbeitet, ihre Klientele dazu auffordern? Legt die ethische Fundierung der Beratung nach SGB, ihre Verwurzelung im Sozialstaat und seiner Ethik nicht ein entsprechend anderes Beratungskonzept nahe? Wolfgang Geiling (2002, S. 81f.) spricht vor allem die veränderten Bedingungen sozialer Arbeit an. Es entstünde ein Habitus institutionell organisatorischer Rücksichtslosigkeit professioneller Akteure, welche hofften, sich mit den lösungsorientierten Losungen aus ihrer eigenen schwierigen Situation quasi herauszuarbeiten (vgl. ebd.). Betrachtet man die Karriere der lösungsorientierten Beratung über einen längeren Zeitraum, so lässt sich im Menschenbild und in der Kontraktethik dieses Ansatzes unschwer die Fortsetzung der alten sozialstaatskritischen Diskurse aus den 1980er Jahren erkennen, in denen von einer »Gesellschaft von Betreuten« die Rede war und die sozialstaatliche Integration und Wohlfahrtsproduktion durch Soziale Arbeit schlichtweg verleugnet oder negativ als staatliche Gängelung und mangelnde Selbstverantwortung umgedeutet wurde. Die Paradigmen 53

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der lösungsorientierten Beratung beziehen sich jedoch nicht nur auf ein Leitbild des aktivierenden neoliberalen Staates, ethische Grundprinzipien wie die Anerkennungsethik entfallen ganz. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass Klienten die Methode als beschämend und bloßstellend erleben. Anders als bei der Familientherapie haben die Klienten in der amtlichen Beratung jedoch nicht die Möglichkeit des Abbruchs. Sie müssen wiederkommen, wenn sie weiterhin Geld erhalten wollen. Die Beschämungs- und Bloßstellungsproblematik in der lösungsfokussierten Beratung fördert entsprechend Aggressionen – und dies umso mehr, je zentraler Sprachspiele und sprachlich-kognitive Konstruktionen den Beratungsprozess dominieren. Sprachspiele sind zum Beispiel Interaktionen wie »Was können Sie tun, um mich wieder los zu werden« oder im Kontext des Jugendamtes führt Geiling auf: »Wie können Sie es schaffen, Ihr Privatleben vor Einmischungen zu schützen?« (Geiling, 2002, S. 83). Kommen beim Klienten Sprachprobleme hinzu, orientiert er sich also stärker an den körpersprachlichen Gesten und Ritualen der Interaktion, verstärkt sich die Scham- und Bloßstellungsproblematik noch einmal.

Gouvernementale Beratung im Kindes-und Jugendalter Der Supervisor und Gruppenanalytiker Ludwig Pongratz (2014) hat im Kontext seiner Supervisionen mit Lehrerinnen und Lehrern sich kritisch mit einem gouvernementalen Format der Beratung auseinandergesetzt, welches heute in jeder Schule zum Konzept gehört. Es geht um den Trainingsraum und Nachdenkraum. Pongratz zeigt auf, wie mit diesen Formaten der Beratung in der Schulsozialarbeit Kulturen der Selbstbeobachtung und Gouvernementalität bei Kindern und Jugendlichen institutionalisiert werden und wie sich in diesem Kontext auch die Rolle und das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern verändern. In der Schule werde tagtäglich eine Institution sozialer Disziplinierung eingesetzt. An die Stelle des veralteten und verpönten Strafdiskurses sei längst ein weicherer Kontrolldiskurs getreten, der sich ein zeitgemäßes Image zulege. Nun würden Schüler in »Trainingsräume« geschickt, als ginge es um eine Übungsstunde im Fitness-Studio. Tatsächlich geht es, so Pongratz, um mehr: um die Einstimmung in eine spezifische Weise der Selbstbeobachtung und Selbsttransformation, um Normalisierungsprozesse, die zum selbsttätigen – und scheinbar freiwilligen – Nachsteuern animieren. Die intendierte Selbstführung aber muss eigens angeleitet werden. Um die »Führung der Selbstführungen« erzeugen und systematisch variieren zu können, braucht man ein darauf abgestimmtes Instrumentarium. Die 54

Gouvernementale Beratung im Kindes-und Jugendalter

derzeit propagierte »Trainingsraum«-Methode kann als Teil dieses Instrumentariums begriffen werden. Was immer an Beratungsprozessen im Trainingsraum angestoßen wird, bleibt eingebunden in Normalisierungs- und Kontrollprozeduren, die einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anzeigen: den Aufstieg in die Kontrollgesellschaft (Pongratz, 2014, S. 12). Dabei verstehe sich die Trainingsraummethode selbst keineswegs als »Strafinstrument, sondern ein lösungsund prozessorientiertes Beratungskonzept« (ebd.), wie Pongratz zitiert. Anstoß nimmt er an Formulierungen wie: »Der Lehrer stellt dem störenden Schüler maximal fünf Fragen. Ganz wichtig bei diesem Vorgehen ist, dass der Schüler die Wahl hat, sich zu entscheiden. Er kann sein Störverhalten ändern, und erst wenn er dies nicht will und/oder nicht tut, dann kommt sein Verhalten der Entscheidung gleich, den Klassenraum zu verlassen« (ebd., S. 16).

Pongratz kritisiert, dass dem Unterricht zunehmend ein Marktmodell zu Grunde gelegt werde, wenn der Schüler quasi frei entscheiden solle, ob er den Unterricht stört oder am Unterricht teilnimmt. So kommt es bei den Erfindern des Nachdenkraumes oder Trainingsraumes denn auch zu folgenden Einschätzungen: »Der Lehrer stellt dem störenden Schüler maximal fünf Fragen. Ganz wichtig bei diesem Vorgehen ist, dass der Schüler die Wahl hat, sich zu entscheiden. Er kann sein Störverhalten ändern, und erst wenn er dies nicht will und/oder nicht tut, dann kommt sein Verhalten der Entscheidung gleich, den Klassenraum zu verlassen« (Bründel & Simon, 2003, S. 41).

Pongratz hat eine Fülle dieser neuen Denkweisen zusammengetragen, bei denen man sich fragt, welches Konzept von Erziehung, Kindheit und Lehrerrolle diesen Methoden zu Grunde liegt. Der Beratungsansatz wird als konstruktivistisch und lösungsorientiert beschrieben. Pongratz kommt schließlich zu folgender Einschätzung: »Das lösungsorientierte Vorgehen konzentriert sich daher darauf, eine Selbstmodifikation durch die Entwicklung einer alternativen Verhaltensvorstellung zu erreichen. Anders als bei traditionellen Programmen zur Verhaltensmodifikation wird hier die (Selbst-)Wahrnehmung der Schüler angesprochen. Die Verhaltenssteuerung erfolgt also über die Kontrolle der (Selbst-)Wahrnehmungen bzw. der gewünschten zukünftigen Wahrnehmungen.

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1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Hinter diesem Verfahren stecken einige basale Annahmen, etwa: dass unser Handeln immer Wunscherfüllung sei (also dann in Gang gesetzt wird, wenn sich eine Diskrepanz zwischen dem, was wir wahrnehmen, und dem, was wir wahrnehmen möchten, auftut) oder dass unser Verhalten in erster Linie von unserer subjektiven Wahrnehmung abhängig sei (und die Kontrolle und Steuerung der Wahrnehmung daher umgekehrt eine individuelle Verhaltenssteuerung ermögliche). Im Verein mit theoretischen Versatzstücken des mehr oder weniger radikalen Konstruktivismus (der die Vorstellung propagiert, unser Leben sei das, wozu unser Denken es mache), der Rational-Choice-Theorie (die davon ausgeht, alles Handeln sei eine letztlich eigennützige Wahl zwischen mehr oder weniger attraktiven Alternativen) und einigen Anleihen beim Neurolinguistischen Programmieren (das mit autosuggestiven Techniken operiert) transportiert die ›Trainingsraum‹-Methode Psychotechniken in den Bereich der Schule, die sich auch im Feld der Unternehmensführung etabliert haben. Diese Anleihen geschehen nicht ohne Grund. Denn die – zumeist indirekt thematisierte – Zielperspektive des gesamten Transformationsprozesses läuft darauf zu, den Schüler als eine Art ›Selbst-Unternehmer‹ zu begreifen (zumindest ihn in dieser Form anzusprechen, damit er auf lange Sicht sich selbst so begreifen lernt« (Pongratz, 2014, S. 16).

Dieser Analyse ist wenig hinzuzufügen.

Kritik des NLP Das Neurolinguistische Programmieren geht zurück auf Bandler und Grinder (z. B. 1991 n. Bremerich-Voss, 1996, S. 38), die für sich in Anspruch nehmen, bedeutende Therapieschulen wie die systemische Familientherapie nach Virginia Satir, die Gestalttherapie nach Fritz Perls und die Hypnotherapie nach Milton Erikson rekonstruiert zu haben und in Verbindung mit sprachlicher (linguistischer) Reorganisation und einer Art Neuro-Konditionierung zu einem neuen Format von Verhaltensänderung, Therapie und Lernen aufschließen zu können (vgl. Bremerich-Vos, 1996, S. 37). NLP wird nicht nur für die Therapie empfohlen, sondern vor allem für die angrenzenden Bereiche Pädagogik, Beratung, Weiterbildung und Supervision. Wie der Name schon sagt, besteht das NLP vorwiegend aus einzelnen Techniken. Klienten werden mittels Typisierungen beschrieben. So gebe es den dominant-visuellen Typ, der beim Konstruieren von Bildern die Augen nach rechts oben richtet und beim Erinnern die Augen nach links oben (Bandler, 1991, S. 21, zit. n. Bremerich-Vos, 1996, S. 3). Daneben wer56

Zur ethisch-normativen Begründung von Beratung

den der kinästhetische und der auditive Typ beschrieben. Das NLP – und das ist das wirklich Psychotechnische – verzichtet auf jede Art der Reflexivität, auf den Anspruch an Mündigkeit und Vernunft und auf die Bedeutung des Erzählens und des Verstehens. Demnach ist alles, was eine wissenschaftliche Fundierung von Beratung, Weiterbildung, Supervision und Therapie ausmacht, hier überflüssig. Stattdessen sind Techniken wie das Ankern, das Pacing, das Reframing zu lernen und haben einen hohen Stellenwert. Der Therapeut/die Therapeutin wendet diese Techniken an, führt und kontrolliert. Das NLP geht davon aus, dass es gelernte Glaubenssätze sind, die das Leben der Menschen bestimmen, und dass diese sich neurologisch eingeschrieben haben. Diese Glaubenssätze können, so die Lehre, durch die beschriebenen Techniken umkonstruiert, gelöscht oder neu organisiert werden. NLP verzichtet auf jedwede Form des sozialwissenschaftlichen Verstehens und eine entsprechende Fundierung dieses Ansatzes. Es suggeriert, dass es möglich ist, einen Klienten zu verändern, ohne ihn wirklich verstehen zu müssen, ohne sich wirklich auseinandersetzen zu müssen. Zur beraterischen Beziehung schreibt Bremerich-Vos: »Analysiert man die publizierten Transkripte, dann kommt man m. E. zu dem Befund, daß es sich um eine hoch direktive Form von Beratung handelt, in der durchweg nicht auf die Einsicht des Klienten gesetzt wird und darauf, dass er die Freiheit hat bzw. haben sollte, Deutungen des Beraters zu akzeptieren oder auch nicht. […] NLP ist, so seine Befürworter, ein mächtiges Werkzeug. Es wird nach meinem Eindruck so präsentiert, dass es bei TherapeutInnen bzw. SupervisorInnen Allmachtsgefühle nährt. Indem es als Veränderungstechnologie daherkommt, wird die Illusion befördert, man könne Wandel bewirken, ohne sich auf die Person des Klienten wirklich einlassen zu müssen. Insofern kann man NLP m. E. mit guten Gründen als Version einer entfremdeten Sozialbeziehung ansehen. Wie begründen Bandler und Grinder ihre Devise, auf die inhaltlichen Nöte der Klienten komme es gar nicht an? Der Inhalt ist häufig deprimierend. Wir wollen ihn gar nicht hören« (Bremerich-Vos, 1996, S. 53).

Zur ethisch-normativen Begründung von Beratung Die bisherigen Reflexionen zur Beratung als Profession und die Kritik an Beratung als Methode, an den Psychotechniken und der Gouvernementalität in der Beratung führen fast automatisch zu der Frage, wie Beratung sich theoretisch und ethisch-normativ begründen muss und kann. Was sind Schlüsselfragen 57

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

einer künftigen Beratungswissenschaft? Sehr verbreitet sind heute modernisierungstheoretische und systemtheoretische Ableitungen und Fundierungen von Beratung, so wie zum Beispiel jene, die Ruth Großmaß in ihrer Dissertation zur psychosozialen Beratung in den 1990er Jahren formuliert hat (vgl. Großmaß, 1998). Psychosoziale Beratung wird bei ihr zu einem Effekt funktionaler Differenzierung und aus der Systemtheorie nach Luhmann (1984) direkt begründet. Beratung beschäftigt sich nach Ansicht von Großmaß mit dem Orientierungsproblem individueller psychischer Systeme und lässt sich als »ein autopoietisches System beschreiben, das Kommunikation über psychische Orientierungsprobleme anbietet und kommunikative Interventionen in Bewusstseinsprozesse praktiziert« (Großmaß, 1998, S. 121). Großmaß nennt die Systemtheorie deshalb für die Beratung »ausgesprochen produktiv« (ebd., S. 122). Der geschichtliche Prozess wird bei ihr entsprechend als funktionale Ausdifferenzierung beschrieben, welche die psychischen Systeme irritiere! Es komme zu einer Veränderung des Verhältnisses von psychischem und sozialem System. »Aus diesem Differenzierungsprozess ergeben sich neue Anforderungen an Psyche: Flexibilität in Bezug auf Kulturen/Semantiken sowie in Voraussetzung und Folge solcher Umstellungen die Notwendigkeit, Kontinuität selbst sicherzustellen, was Selbstbeobachtung und Selbstreflexion erforderlich macht« (ebd., S. 130).

Großmaß folgt Luhmann ebenfalls, wenn sie Identität als eine zentrale Kategorie philosophischer Reflexion systemtheoretisch wendet und es als »kulturellen Ausdruck der wachsenden Notwendigkeit von psychischen Systemen (sieht), sich situativ und biografisch durch Rekurs auf sich selbst zu bestimmen« (ebd., S. 142). Mit dieser systemtheoretischen Begründung von Beratung werden nicht nur professionsethische und professionelle Fragen wie jene nach Kontrakten, Settings und Machtdimension in der Beratung relativiert. Die systemtheoretische Begründung rechtfertigt in hohem Maße jene gouvernementalen Praxen, die die Beratungswissenschaft herausfordern und die die Beratungskritik thematisiert, denn Beratung verortet Großmaß ganz im Sinne der Systemtheorie auf der Schnittstelle zwischen sozialem und psychischem System mit der Funktion der Stärkung einer strukturellen Kopplung. Der Haupteinwand gegen das Erkenntnisideal, welches Großmaß in ihrer Dissertation referiert, muss der ihrem Beratungsstandpunkt zu Grunde liegende Gesellschaftsentwurf und der Ort der Beratung sein. In gewisser Weise stellt sie das Verhältnis von (grundgesetzlich geschützten) Personen und deren Verhältnis zu den Systemen quasi auf den Kopf. Damit wird Rechtlichkeit 58

Zur ethisch-normativen Begründung von Beratung

als normativer Rahmen von Beratung und praktisch die Kontraktethik von Beratung in allen Settings quasi eliminiert. Den Beratungsbedarf ermitteln dann jene, die die Systeme beobachten. Die neuen Anforderungen an die Psyche, die sich aus dem Prozess der Ausdifferenzierung ergeben und auf die Beratung dann funktional reagiert, werden bei ihr radikal einseitig aufgelöst. Die Menschen sollen sich an die Systeme und ihre Logiken anpassen und Beratung hat dies als Funktion in der strukturellen Kopplung zu gewährleisten. Insofern passen die kritisierten Psychotechniken zu diesem Verständnis von Beratung. Der Prozess der Modernisierung oder der Systementwicklung wird keineswegs mehr dialektisch gesehen als etwas, was sowohl technischen Fortschritt und instrumentelle Vernunft hervorbringt, aber auch Teilhabe, Demokratie und Menschenrechte, und womit die Zivilgesellschaft dann eben reflektiert umgehen muss. Im Gegenteil: Beratung wird mit dieser Begründung zum Instrument des Hineinprozessierens in bestimmte gewünschte Lebensmuster und Anforderungen und verliert somit ihr wichtigstes Element, die Reflexivität. In dieser Ableitung und Radikalität verträgt sich ein systemtheoretisch begründetes Beratungskonzept kaum mit den Grundwerten moderner Demokratien. Im Gegensatz zu den alten Formaten der Beratung, zum Beispiel von Amts wegen, die bei Foucault ebenfalls als pastorale oder disziplinierende Formate beschrieben worden sind (Gröning, 2006; Friedrich, 2013), verlangt die neue gouvernementale Beratung ein neues Selbstmanagement und vor allem einen ökonomischen Umgang mit sich selbst. Die Problematik dieser Beratung liegt darin, dass unter diesen Voraussetzungen die professionellen Merkmale der Beratung wie Anwaltlichkeit, Reflexivität, Verstehen und Halten als wichtige Merkmale der Beziehung neben der ganzen praktischen Beratungskunst völlig verändert werden. Der/die BeraterIn ist eher ein/e AgentIn der Systementwicklung, sein Verhältnis zum Klienten/zur Klientin funktional und instrumentell und Beratung findet, um es mit Martin Buber (1923; vgl. Gröning, 2012, S. 7f.) auszudrücken, in einer Ich-Es-Beziehung statt. Kurz: Jedwede bisher für die Professionalisierung von Beratung festgelegte Haltung kann im Rahmen der systemtheoretischen Begründung nicht durchgehalten werden. Dies betrifft auch die modernisierungstheoretische Begründung von Beratung. In den 1990er Jahren, gleichzeitig mit der ersten großen Konjunktur des gouvernementalen Zeitgeistes, ist Individualisierung zum Schlüsselbegriff in der Beratung geworden und (vgl. Nestmann, 1997) wurde zunehmend als Antwort auf die sogenannten Modernisierungsanforderungen verstanden. Dazu gehören im Sinne des modernen unternehmerischen Selbst (Bröckling, 2005) vor allem Flexibilisierung, Verfügbarkeit, Berufsorientierung und Selbstoptimierung des modernen Menschen. Die Modernisierungsanforderungen stehen auch hier im 59

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

Gegensatz zu den traditionellen Bindungen und Entwicklungsaufgaben, aber auch zu den Freiheiten und zur Mündigkeit der Lebenswelt. Beratung hilft zu sondieren, zu reflektieren, zu verbinden. Diese modernisierungstheoretische Begründung von Beratung schließt an die systemtheoretische Fundierung von Großmaß an. Die bisher aufgeführten gouvernementalen Beratungsformate, das Coaching, die lösungsorientierte Beratung, die ressourcenorientierte Beratung, das NLP und Ähnliches wurzeln hier und dürften hierher ihre Begründung beziehen. Weiterhin: Neben der demokratietheoretischen und ethischen Problematik ist es der Fluch des systemtheoretischen Beratungsbegriffs, dass letztlich jede Praxis sich aus dieser Theorie irgendwie ableiten lässt. Die Frage ist nur, ob diese Ableitungen der Beratung als Wissenschaft und Profession helfen, ihren Gegenstand zu bestimmen. Welche Konsequenzen hat es und welchen Vorteil bringt es, Ratsuchende als psychisches System zu betrachten und ihre strukturelle Kopplung zu verstärken? Praktisch ist das nichts anderes als der alte Streit um die Rollentheorie in der Pädagogik in den 1960er Jahren. »Welches sind eigentlich die Gründe dafür, Wissenschaft nur noch als Theorie autopoietischer Systeme zu betreiben?«, fragt Micha Brumlik (2002, S. 134). Brumlik hat an verschiedenen Stellen, zuletzt 2012, problematisiert, dass in der Soziologie die Konstruktion ihres Gegenstandes vom Menschen her angeblich gescheitert sei (ebd.). Und kein anderer Theoretiker habe so entschieden wie Niklas Luhmann dafür gestritten, in der Sozial- und Humanwissenschaft nicht mehr vom Begriff des Menschen auszugehen (Brumlik, 2012, S. 160). Brumlik begründet diese Forderung Luhmanns mit der Problematik der Phänomenologie Edmund Husserls und den daraus entstehenden Dilemmata für die Soziologie als Beobachtungswissenschaft. Richtig habe Husserl ja darauf hingewiesen, dass jede, auch die wissenschaftliche Erkenntnis in der Lebenswelt wurzele und lebensweltlich beeinflusst sei. Luhmann habe also mit der strikten Verabschiedung des Menschen aus der soziologischen Theorie und der Bildung der Kategorien soziales und psychisches System eine Lösung für das Dilemma der Subjektivität und Normativität in der Soziologie gesucht. Aber gelten diese Probleme der Soziologie auch für die Beratungswissenschaft? Die geschichtliche Begründung der Beratung, ihre Verwurzelung in der Antike, ihre Wiederentdeckung durch Foucault in der »Hermeneutik des Subjektes« (1982), zeigen eher, dass Beratung auf eine Theorie des Guten nicht verzichten kann. Am nächsten kommt Foucault in seiner Theorie der Epimeleia (cura sui), der Selbstsorge, einer Idee des guten Lebens, in der auch der philosophische Rat und das reflexive Gespräch einen festen Platz haben. Schließlich hat sich auch Axel Honneth in seiner Reflexion zur philosophischen Bewegung der Postmoderne noch einmal kritisch mit der gesell60

Und was fragt die neue Beratungswissenschaft?

schaftlichen Entwicklung und der Rationalität in der Moderne auseinandergesetzt (Honneth, 1994). Das Ausgeschlossene und Abgespaltene der modernen Gesellschaften sei nicht mehr das, was man nicht denken darf, das Ausgeschlossene und Abgespaltene sei vielmehr das verletzliche und hilfebedürftige menschliche Subjekt (ebd.). Die Ethik der Postmoderne nehme ihren theoretischen Ausgang von dieser tragenden Idee der moralischen Berücksichtigung des hilfebedürftigen Menschen. Erst hier würde sich der Anspruch an menschliche Gerechtigkeit erfüllen. Bei seinen Überlegungen zur postmodernen Ethik reflektiert Honneth die Ignoranz gegenüber dem Menschlichen und die Steuerungsorientierung als ethisches Problem moderner Gesellschaften. Die Neuzeit und ihre Moraltheorien seien handlungsfixiert. Die Fixierung auf das menschliche Handeln habe zu einer kategorialen Verengung des Wirklichkeitsfeldes geführt. Durch die Aktivitätsorientierung und den Handlungszwang könne das Besondere, das Andere nur wenig wahrgenommen werden. Bezogen auf die systemtheoretische Begründung zur Beratung liegt demnach eine funktionale Verirrung vor, wenn Beratung systemtheoretisch als strukturelle Verkopplung von sozialen und psychischen Systemen verstanden und darauf reduziert wird. Beratung hat vielmehr von der Idee der menschlichen Würde und Verletzlichkeit auszugehen.

Und was fragt die neue Beratungswissenschaft? Erstaunlicherweise spielen diese bisher aufgeführten systematischen Fragen der Beratung – weder die alte Beratungskritik seit den 1970er Jahren noch die neuen Diskurse zur Beratung und Gouvernementalität oder die grundsätzliche Frage nach einer ethischen oder metatheoretischen Fundierung von Beratung – keine wirkliche Rolle in der gegenwärtigen Beratungslandschaft. Publikationen wie zum Beispiel Das Handbuch der Beratung (Nestmann, 2004) bleiben bei der Beratung auf der Ebene der Methode verhaftet und fächern eine Fülle von verschiedenen Beratungsverständnissen und Ansätzen und Techniken in allen therapeutischen Traditionen additiv auf, sodass es bei der sogenannten »Methodenvielfalt« und der Beratung als trivialisierte Therapie bleibt. Die fundierte sozialwissenschaftliche Kritik scheint an den Vertretern der psychotechnischen Beratungsformate vorbeizurauschen, sie bleibt unerwähnt. Die Beratung bleibt eine vereinfachte Form der Psychotherapie, angewendet von PädagogInnen und SozialarbeiterInnen, gelehrt an Fachhochschulen, zumeist ganz im Sinne der trivialisierten Therapie und Psychotechnik. Die Bedeutung dieser Formate wird entsprechend durch soziale Schließung – alle, die sich auf eine Stelle bewerben, 61

1 Beratungswissenschaft und Beratungskritik

müssen es haben – erreicht, nicht durch wissenschaftliche Begründung. Warum Menschen Rat brauchen und in welcher Weise sie ratbedürftig sind, diese alte Frage der klassischen Beratungsansätze wird nicht mehr rezipiert, obwohl gerade hier der entscheidende Unterschied zwischen Beratung und Therapie liegt. Zu dominierend ist der therapeutische Boom gewesen. Auch die jüngere Beratungsforschung verzichtet auf eine systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Beratung und die Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Beratungskritik. Die wissenschaftlich hoch bedeutsame Frage, wer in welchem Rahmen bisher zur methodologischen und theoretischen Bestimmung von Beratung beigetragen hat, wird nicht gestellt. Stattdessen rücken Fragen der Forschungspraxis auf einem sehr allgemeinen Niveau und ebenfalls sehr additiv in den Vordergrund. Ein Beispiel dafür ist das 2010 herausgegebene Buch zur Supervisionsforschung von Stefan Busse und Susanne Ehmer. Dieses Buch ging aus einer Tagung hervor, die wiederum von einer Kooperationsgemeinschaft von Fachhochschulen (Mitweida und Freiburg), dem Sigmund Freud Institut, dem Netzwerk Rekonstruktive Sozialforschung und Biografie und der DGSv, also recht hochrangigen Veranstaltern, ausgerichtet wurde. Die Problemstellung der Herausgeber war anspruchsvoll und bezog sich auf Fragen der Forschungsmethoden und Forschungslogiken zur Beratungsforschung ebenso wie auf Dekonstruktion und Systematik in Supervision und Beratung. Wie kann man beraterisches Handeln theoretisch-analytisch erfassen? Welche Forschungsmethoden sind nötig? Wie ist der Wissensstand zur Beratung? Diese explorativen Fragestellungen dominieren den Herausgeberband, ganz so als ob Beratung ein blinder Fleck wäre. Eine systematische Auswertung bisheriger Beratungsforschung, die Formulierung eines normativen Erkenntnisinteresses, eine Problemformulierung zur Beratung und Supervision – das alles fehlt in dem Band. Jede Forschung aber, die sich als solche begründen will, müsste zuerst einmal Entwicklungslinien, Autoren, wissenschaftliche Arbeiten auswerten, Fragestellungen eines künftigen Forschungsbedarfes formulieren und methodologische und methodische Rahmen setzen. Stattdessen werden Modelle entwickelt und jeder einzelne Beitrag steht unabhängig für sich. So reicht das beratungswissenschaftliche Programm von der Forderung nach einem pragmatischen und sozialkonstruktivistischen Forschungsrahmen über das Referieren allgemeiner Theorien (Professionstheorie, Sozialtheorie, Persönlichkeitstheorie, Theorie des Kommunikativen Handelns), von der Entwicklung von Modellen bis hin zur Vorstellung von Methoden wie Video-Interaktionsanalysen, empirischanalytische Forschung, Nutzerbefragung etc. Man hat den Eindruck, bei der Beratungswissenschaft gehe es darum, jetzt schnell einen Platz zu besetzen und eine Institutionalisierung voranzutreiben. 62

Und was fragt die neue Beratungswissenschaft?

Für eine Beratungswissenschaft muss dagegen die von der Beratungskritik aufgeworfene Frage nach einer sozialtheoretischen und professionsethischen Fundierung von Beratung ebenso wie eine historische und systematische Rekonstruktion ihrer Entwicklungslinien von großem Interesse sein. Hier sind Antworten zu finden, um die Spannungen zwischen Institution und Profession in Beratungssituationen genauer zu verstehen und die Frage aufzuklären, warum es innerhalb der Beratung immer wieder dazu kommt, dass sich der »gute Rat« in eine Machttechnik, sei es klinischer, sei es amtlicher oder politischer Art wandelt. Auf der Ebene der Profession und des Professionsdiskurses geht es um die Frage, was Beratung ausmacht, eine Frage, die sich nicht allgemein in Ausführungen über Reflexivität erschöpfen kann, sondern konkret die Frage beantwortet, welche Fähigkeiten und Positionen BeraterInnen haben müssen, um Kontrakt, Setting und Arbeitsbündnis sowie eine beraterische Beziehung aufzubauen und den beraterischen Raum zu konstituieren. Diese Fähigkeit des Beraters und der Beraterin verweist umgekehrt wieder auf eine wissenschaftliche Ausbildung, auf einen professionellen Status und keine bloße Unterweisung in Psychotechniken. Die Forschungsfragen, die sich dann empirisch aus dieser Problemstellung ergeben, verweisen auf den empirischen Teil der Beratungswissenschaft. Zu welchen Fragen soll empirisch wie geforscht werden? Auch hier liegen mit Ansätzen wie der Sequenzanalyse von Ulrich Oevermann (2000), Fischer & Goblirsch (2004) oder der Fallanalyse von Fritz Schütze (1993) bereits ausreichende Erfahrungen vor. In den folgenden Kapiteln sollen nun jene Ansätze von Beratung als Profession aufgeführt und auf ihre methodologischen Verständnisse hin überprüft werden, die Beratung als ein eigenständiges professionelles Handeln auszeichnen und die gleichzeitig das reflexive Potenzial haben, um die bisher aufgeführten Probleme und Verirrungen, die die Reduktion von Beratung auf eine Methode und auf Psychotechniken auszeichnen, zu überwinden.

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2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik und ihr methodisches und professionelles Verständnis

In diesem Kapitel wird die Blütezeit der Beratung, ihre Konturierung als eigenständige Methode und später Profession in den 1960er und 1970er Jahren im Kontext der politischen Epoche der inneren Reformen diskutiert. Für die Beratung sind Psychiatriereform, Bildungsreform, Jugendhilfe- und Sozialhilfereform und die damit einhergehende Neubestimmung sozialpädagogischer Ethik und Professionalität wesentlich. Hier trifft man zum ersten Mal auf ein Beratungsverständnis, welches Beratung und Erziehung als Teil einer demokratischen Diskursethik beschreibt. Im Sommer 2014 sind Interviews mit solchen ErziehungswissenschaftlerInnen geführt worden, die in dieser Epoche aktiv tätig waren und sich um die Institutionalisierung von Beratung in der Erziehung historisch verdient gemacht haben: Kurt Aurin, Anne Frommann und Hans Thiersch. 2011 konnte Reinhard Tausch telefonisch zu seinem Lebenswerk in Bezug auf Beratung interviewt werden. Allerdings ist dieses Telefoninterview akustisch schlecht und Reinhard Tausch erinnerte sich nur grob an die Stationen seines Wirkens im Kontext von Beratung und Erziehung. Am nachdrücklichsten hat er hervorgehoben, dass es ihm bei seinem Lebenswerk um die Überwindung der autoritären Attitüde und der Aggression gegen die Kinder in den Schulen ging. Demokratie sollte seiner Meinung nach mehr sein als nur eine Form. Um sie im Alltag wirksam zu machen, müsste, davon war Tausch überzeugt, anders, nämlich demokratisch und feinfühlig kommuniziert werden. Thea Sprey-Wesseling war zur Zeit der Arbeit an diesem Buch sehr schwer erkrankt und musste das Interview absagen. Für Gerhard Leuschner als einen wichtigen Begründer der Supervision in Deutschland gilt, dass er für die Supervision spricht. Auch er ist geprägt von der Epoche der inneren Reformen und vom Aufbruch einer ganzen Generation in den 1960 und 1970er Jahren. Sein Verständnis von Beratung ist jenes einer 65

2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik …

autonomen Profession. Diesen Ansatz hat er über viele Stationen seines Lebenswerkes formuliert und konkretisiert.

Anne Frommann Besonders das Interview mit Anne Frommann knüpft an Tauschs Kritik an der anstaltsförmigen Kommunikation in den deutschen Schulen und den sozialpädagogischen Einrichtungen an. Anne Frommann gehört zur wichtigen »Tübinger Gruppe« in der Sozialpädagogik und hat in ihrem wissenschaftlichen Werk wesentlich zu einer sozialpädagogischen Bestimmung von Beratung und einer Kritik der Therapeutisierung beigetragen. Im nachfolgenden Interview erschließt sich, dass die Therapiekritik, die sie formuliert, sich von jener der 1980er Jahre unterscheidet (vgl. z. B. Bude, 1988). Anne Frommann thematisiert in ihrem Interview das Verhaftetsein der vor allem psychagogischen Beratung in den alten Denkweisen und Diskursen zur Eugenik. Aus dem eugenischen Denken ist eine Fürsorge und Bewahrpädagogik entstanden, die die Kinder und Jugendlichen der bescheideneren Bevölkerungsschichten selektierte und isolierte und ihnen prekäre Lebenswege zuwies. Beratung hatte auch damals schon die Funktion der Allokation in eine Sondererziehung und Sonderpädagogik. In der Praxis der sozialen Arbeit zeigen sich zum einen die Kriegsfolgen, zum anderen treffen diese Kriegsfolgen auf ein eugenisches Denken, welches im Nationalsozialismus seine menschenfeindliche Zuspitzung fand und in den 1950er Jahren zunächst einmal so weiter ging. Bleiern, so nennt Anne Frommann die Zeit von 1947 bis 1968, in der sie als junge Psychologin in Kinderheimen arbeite. »Die schrecklichen Zustände bestanden in einer Überfüllung, in Geldmangel, nicht nur in einer menschlichen und institutionellen Verarmung, sondern auch in Ideenlosigkeit aufgrund dieser sozusagen bleiernen 50er Jahre. Und da ich mich eben viele Jahre hintereinander in sogenannten evangelischen Anstalten aufhielt, kam noch, so ist meine Erfahrung jedenfalls, eine Art (1,3) institutioneller Egoismus dazu. Dieses Denken: erst kommen die Anstalt und die Häuser und was alles noch dazu gehört, und dann kommen – aber eigentlich die Kinder immer noch nicht. Dazu muss ich aber auch sagen, dass das natürlich ein schreckliches Gegenüber in diesen fast unsichtbaren Pflegesätzen hatte, die die Ämter damals zahlten, sodass man nicht erwarten konnte, von den Ämtern gefragt zu werden: ›Also was können Sie denn für diese und diese und diese Kinder tun?‹ Es war ein absolut elendes Leben. Und 66

Anne Frommann

ich habe, wenn man so will, ex negativo gelernt. Ich hab’ immer mehr gemerkt, was man nicht machen soll« (3:27) (Zeile 23–34). Anne Frommann beschreibt eine psychologische Extremsituation für die Heimkinder, die auch für die psychiatrischen Patienten gegolten hat und die nach 1945 die Regel war. Die Kriegsfolgen, die Verwaisung vieler Kinder, die traumatisierten Eltern, das alles wurde als solches weder verstanden noch ausgesprochen, sondern es herrschten weiterhin die alten Deutungsmuster der Eugenik, der Erbhygiene und Minderwertigkeitslehre vor. Anne Frommann sucht Gegenbilder und schließt sich der Gilde Sozialer Arbeit an, wo sie Gleichgesinnte trifft. »Und da fiel auch das Wort ›Sozialpädagogik‹ erstmalig. Da habe ich Elisabeth Siegel kennengelernt und viele andere noch: August Oswald, Elisabeth Oswald usw. Und auch die ganze Familie Mollenhauer. Das ist auch sehr wichtig: Wilhelm Mollenhauer und seine Söhne« (48–51). Anne Frommann gewinnt über diese Kontakte ihre berufliche Identität. Als bleierne Zeit beschreibt sie auf Nachfrage die Adenauer-Epoche, als es politisch und menschlich keine Visionen und Bilder gegeben habe, die über die Vergangenheit hinausgewiesen hätten. »Eine Zeit, in der es unter studierenden (2,6) politisch und menschlich interessierten Menschen keine sichtbaren Gegenbilder gegen das gab, was schon vergangen war. Bleiern, also lastend und ohne, ohne Feuer« (55–56). Die Suche nach Alternativen führt Anne Frommann zunächst ins Ausland, nach Holland, nach England, wo sie nach neuen Methoden der Heimerziehung und Kindertherapie sucht. In England arbeitet sie in Portsmouth mit der Methode des Weltspiels zur Diagnose von Kindern nach Charlotte und Karl Bühler. Sie bringt diese Methode in die Heimerziehung ein, als sie nach Deutschland zurückkehrt. Anne Frommann beginnt sich in die Netzwerke der erziehungswissenschaftlichen Reformer zu integrieren. Aber die Reformer scheinen in der Minderheit zu sein. Sie begründet ihren akademischen Weg aus ihrer Rebellion gegen diese bleierne Zeit und die Zustände in der deutschen Heimerziehung, die geprägt sind von Gewalt, Missachtung und Entbehrung. Diese Haltung bringt sie zum einen in die Sozialpädagogik, zum anderen entfernt sie sie von ihrer Profession als Psychologin. Sie spricht von sich als einer Person mit einem zeitgeschichtlich-gesellschaftlichen Reformbewusstsein und einem Lebensimpuls, der sie in 67

2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik …

die Heimerziehung geführt hat. Diese Ethik bringt sie in Distanz zur damaligen Psychagogik und zur Erziehungsberatung. »Wenn man es von der Praxis der – mit dem schönen Namen – Ersatzerziehung sieht, dann ist die damalige Art von Erziehungsberatung so etwas wie ein Wölkchen am Horizont. Also, das ist nicht das ernste Leben. Das ernste Leben war nur unvollkommen zu bewältigen. Es ist das, was die Sozialarbeit macht. Soziale Arbeit und Erziehungsberatung standen sich fast wie zwei Pole gegenüber. Für die Professionsentwicklung der akademischen Erziehungswissenschaft ist dieses Sich-Gegenüberstehen von großer Bedeutung. Die Beraterinnen und Berater in den Erziehungsberatungsstellen waren historisch von der Individualpsychologie und hier konkret von den Lehren geprägt, die Matthias Göring, Leonard Seiff und ihre Gruppen vertraten. Sie vertraten nicht nur ein Professionsmodell, welches in der Therapie und im ärztlich-klinischen Handeln wurzelt, sondern Inhalte, die kaum sozialtheoretisch und objektbeziehungstheoretisch begründet waren. Die Erziehungsberatung war zudem voller bürgerlicher Ideologien zu den Geschlechterbeziehungen und zur Mutterrolle. Das alte psychoanalytische Modell des Ödipuskomplexes, das Konzept der Verwöhnung oder des mangelnden Gemeinschaftssinns in individualpsychologischer adlerianischer Tradition hatte eine große Bedeutung. Das Modell der kindlichen Entwicklung folgt hier einem fast autonomen biologischen und eugenisch begründeten Entwicklungskonzept, so als würden Mangel und äußere Realität, Traumatisierungen, Kommunikation und Interaktion in der Familie und vor allem das in dieser Zeit übliche autoritäre Erziehungsverhalten für die Entwicklung der Kinder keine Rolle gespielt haben, als seien Verwaisung, Verarmung und Elternverlust, aber auch drakonische Strafen dem Trieb und seiner Entwicklung nachgeordnet. In meiner langen Heimerziehungszeit erhielten wir gelegentlich natürlich Gutachten von Erziehungsberatungsstellen, die wir manchmal ziemlich belächelt haben. Andererseits aber hatte ich das Weltspiel kennengelernt und habe gedacht, ›das kann man auch im Heim gebrauchen, das hat diagnostische und therapeutische Wirkung, besonders auf Kinder und Jugendliche‹. Also ich glaube, ich könnte auf Ihre Frage so antworten, dass ich die damaligen Erziehungsberatungsstellen (1,4) vielleicht ein bisschen als einseitig und mehr als bürgerliches Höhere-Töchter-System betrachtet habe. Die existenziellen Nöte und Störungen, deren Behandlung an die Psychiatrie abgegeben wurde, waren wieder etwas anderes. Die Zusammenarbeit dieser sehr unterschiedlichen Herkunftsinstitutionen, das ist, glaube ich, überhaupt erst in Gang gekommen, wenn ich das nicht falsch sehe, zehn Jahre nach ’68, langsam« (282–292). 68

Anne Frommann

Anne Frommann nennt die Verinselung, aber vor allem eine Distinktion der Stellen und formuliert, dass Kinder- und Jugendpsychiatrie, Heimerziehung und Erziehungsberatung erst viel später zu einer Vernetzung gekommen sind. Sie nennt in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Arbeit in Tübingen mit Hans Thiersch und Reinhart Lempp. Von dieser Haltung ist auch das Beratungsverständnis geprägt, welches Anne Frommann vertritt. Die Beratung beschreibt sie als der pädagogischen Praxis im Heim gegenübergestellt, mit wenig Berührung und Kooperation. Sie wehrt sich gegen ein Professionsverständnis, welches im Sinne der klassischen Professionstheorien von sozialer Schließung geprägt ist, gegen Professionen, die sich abschließen, abgrenzen, ihr Territorium definieren und hier versuchen Monopole zu bilden, die durch Ausbildungen und Prüfungen den Zugang regeln etc. Sie nennt dies zum einen habituell das »Höhere-Töchter-System« und spottet über das Zimmer mit der zarten grünen Gardine oder die Beratungsstellen, die nicht in die pädagogische Praxis und den Alltag durchdringen. Auf der fachlichen Ebene problematisiert Frommann, dass diese BeraterInnen zwangsläufig an ihren Diagnosen kleben, die Not ihrer Klienten nicht kennen und letztlich erfahrungsarm sind. Insgesamt kann der Beitrag von Anne Frommann in Bezug auf diesen Aspekt so verstanden werden, dass die BeraterInnen in dieser Epoche viel zu wenig sozialtheoretisch und soziologisch fundiert gearbeitet haben und in einem klinischen und gleichzeitig distinktiven Deutungsmuster normativ gefangen waren. »Beraten hat wirklich mit dem alten Wort Erfahrung zu tun, mit dem Austauschen von Erfahrung. Erfahrung von sich selbst und von der Welt und von den Nöten der Welt. Also insofern war meine damalige Sicht auf Beratung kritisch. Vor allem die hochmütigen Diagnosen lehnte ich ab (F unv. 34:19). Und auch die Sozialarbeit war ja sehr, sehr skeptisch gegen Beratung. Sie rivalisierte zwar manchmal mit ihr, aber unterwarf sich psychologischen und psychiatrischen Diagnosen« (34:26) (332–336). Auch in den 1970er Jahren, als die Soziale Arbeit die humanistische Psychologie entdeckt, scheint sich Beratung als lebendige Profession nicht entwickeln zu können, sondern verharrt hölzern auf der Ebene der Technik. War es früher die Anwendung von Diagnose, Test und Beobachtung, welche die BeraterInnen durch ihre KlientInnen »hindurchsehen ließ«, so schien in den 1970er Jahren zwar mit Rogers Theorie wichtiges Wissen nach Deutschland zu kommen, wurde jedoch quasi mechanisch in die Praxis eingeführt. Heraus kam dann das »Rogern«, eine Praxis in der Beratung, die vorgab zu verstehen, auch wenn sie nichts verstand. Der Beratung fehlte die advokatorische Ethik und das Engagement. 69

2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik …

»Tja. (3,4) Also, da gab es dieses Bild … (unv. 35:41–35:43) das Zimmer mit der zarten, grünen Gardine. Die Gardine ist zugezogen. Da sitzen sie jetzt, Beraterin und Klient. Gleichzeitig hatte ich eine hohe Meinung und war immer sehr beeindruckt von tiefenpsychologischen Erkenntnissen und dem, was aus dem Freud’schen Gedankengut zum Beispiel in Amerika geworden war (1,3). Dieses Wissen erweiterte Reflexionsmöglichkeiten. Aber diese relativ forsche Methodisierung bis hin zu Rogers, das war eine Entleerung. Es gab das geflügelte Wort vom ›Rogern‹, also ›der rogert‹. Das heißt, er wiederholt den letzten Satz des Klienten. Und das lernt man dann: So muss man das machen, und dann kommt man mit einem – das habe ich dann böse gesagt ›mit einem Fahrstuhl in die Tiefe‹. Diese Technisierung und mechanische Methododisierung habe ich angezweifelt. Ich hab’ (1,4), glaube ich, nie gesagt ›das ist alles nichts‹, sondern die Isolierung oder eine gewisse Einseitigkeit in dem Beratungskonzept. Oder dieses: ›Nein, Hausbesuche machen wir niemals, grundsätzlich nicht und das ist so und so‹oder ›wir geben keine Erkenntnisse weiter, an wen auch immer‹. Da kann die Sozialarbeiterin drei Jahre lang raten und suchen, aber von uns erfährt sie nichts. Dies ist nicht im Sinne des Kindes und nicht im Sinne einer professionellen Ethik, aber im Sinne sozialer Distanz zwischen Praxis und Beratung. […]. Solche Karikaturen wurden dann natürlich kräftig benützt, um eben zu sagen: Wo ist der Platz der Beratung im Leben? Das, möchte ich sagen, war damals so« (352–367). Anne Frommann wendet sich vor allem gegen die Vorherrschaft der Methode (402–426). Sie beklagt deren Überschuss (440–441), von dem sie sagt, dass dieser den alten Habitus des Fürsorgers mit einem Überschuss an Herrschaftswissen abgelöst habe. Eine Methode könne man auch kalt anwenden (449), was die Begründer dieser Methoden zwar nicht wollten, was sich aber trotzdem in der Praxis durchgesetzt habe. Im Mittelpunkt des Begriffs von pädagogischem Handeln steht bei Anne Frommann der Erfahrungsbegriff, den man nicht durch eine Methode ersetzen könne (615). Anne Frommanns Verhältnis zur humanistischen Psychologie ist davon geprägt, dass sie sie als indirekte Hilfe benutzt, als etwas, was in einen allgemeinen Habitus zu integrieren ist. »Das setzt ein Bedürfnis voraus – für den Berater –, in sich zu gehen und wieder aus sich heraus. Und wieder in sich hinein und wieder aus sich heraus. Und das ist ja nun wirklich eine Sache, die weder allein mit Methoden zu schaffen ist – also das kann natürlich mit einem guten Methodentraining einhergehen. Aber man kann das nicht identifizieren mit einer Methode. Weil eine Methode kannst Du ja kalt anwenden oder herrschaftlich oder mechanisch, was ja nie die Methodenbegründer wollten. Die 70

Anne Frommann

haben ja immer gesagt: Auf diese Weise kann man die Arbeit verbessern … Aber die Aufnahme einer solchen Methode kann eben zu dem, dem oder dem führen. Und das, finde ich, muss doch in einem Studium oder auch in wissenschaftlicher Forschung dazu führen, dass man das Thema Methoden im Studium mehrdimensional und reflexiv auf die Praxis bezogen lehrt und lernt. Hinzu kommt die Frage der tiefenpsychologischen Zusatzausbildung für die pädagogische Praxis. Was jetzt nach dem Tod von Burkhard Müller so rauskommt, dass das sein Anliegen der letzten Jahre war, gegen so vieles andere zu sagen ›das haben doch die aus Deutschland migrierten Leute in Kanada und in Amerika in der [19]30er und [19]40er und [19]50er Jahren aufs Vollkommenste gewollt und gemacht – aber leider immer nur exemplarisch‹. Und das nicht nur zu lehren, sondern sozusagen – wie soll ich sagen? – wie ein wichtiges Ziel vor Augen zu stellen, das wär’s doch, was dann im weitesten Sinn beratende Institutionen (2,3) zusammenhält und sie wichtig macht« (446–467). Anne Frommanns Reflexionen zeigen hier eine offenen Forschungsfrage, wenn sie über diejenigen, die nach 1945 die Beratung zurück nach Deutschland gebracht haben, sagt, dass es nicht deren Anliegen gewesen sei, quasi eine mechanisch-klinische Technik gekoppelt mit einem »professionellen Hochsitz« zu lehren. Die offene Forschungsfrage bezieht sich darauf, wie die Tradition der alten »deutschen Seelenheilkunde« mit ihren Merkmalen die Lehren von Kurt Lewin, Louis Lowy oder Ruth Cohn quasi beeinflusst oder noch besser kolonialisiert haben und welche Melange aus beiden Einflüssen entstanden ist, die dann wiederum den distinktiven Habitus der Beratenden geprägt hat. Anne Frommann fordert quasi die Einbindung der Beratung in eine Kultur des pädagogischen Handelns, das heißt wirklich eine Veränderung des beraterischen Habitus, weg von der Distinktion, hin zur Solidarität und Anwaltlichkeit. »Ich hab’ in den 1970er Jahren eine Zusatzausbildung, wenn man das so nennen darf, in Gestalttherapie gemacht – und auch eine in TZI. Beides hat mir sehr genützt, und bei beidem habe ich unaufhörlich gedacht: Ach, so nennt man das. Meine Erfahrung bekam noch einmal eine neue Sprache. Ich dachte: ›Ach so, interessant, so heißt das‹. Und dann, ich habe auch Frau Cohn kennengelernt. Die hat auf mich einen sehr großen Eindruck gemacht. Und warum sage ich das jetzt? Weil da hatte ich das Gefühl: Wenn man eine Methode dazu benützt, das, was sowieso nötig ist, besser zu leisten, den pädagogischen Alltag, dann ist das wunderbar. Aber man kann es nicht statt – um es laienhafter auszudrücken – man kann nicht die pädagogische Arbeit, das alltägliche Kümmern und sich Bemühen, das Halten und Sehen durch eine Methode ersetzen. (F: Ja, ja.)« 71

2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik …

Im Kontext der Reflexion ihrer eigenen psychologischen Ausbildungen reklamiert Anne Frommann gerade diese experimentierende und offene, nicht distinktive Haltung, die sie am Beispiel von Ruth Cohn und ihrer Praxis aufzeigt. »Und nicht umsonst ist ja Ruth Cohn – die hat eine solide tiefenpsychologische Ausbildung, und dann hat sie lange mit kleinen Gruppen gearbeitet, und dann plötzlich stand sie auf dem Marktplatz und wurde für die Moderation eines Konflikts gerufen und dachte ›na, probieren wir’s doch mal‹. Dann kam das so, ihre Großgruppenarbeit. Also ich glaube, dass die Erkenntnisse, die hoch interessanten Erkenntnisse, die zu dem Psychoboom ja geführt haben: Was ist Gestalt erleben? Und was bedeutet es, dass dieser Mensch eben unaufhörlich seine Knie reibt? (F: Ja.)« (3,5) Anne Frommann gesteht der humanistischen Psychologie zu, in Deutschland einen wichtigen Zuwachs psychologischen Wissen verbreitet und institutionalisiert zu haben, wodurch das alte erbhygienische Denken, die Eugenik und ihre Einflüsse verschwunden sind und dem zugeordnet werden konnten, was sie sind, Diskurse in einer bestimmten Epoche und Denken in einer Zeit und einer Kultur. Sie hebt also den Dokumentsinn des »Psychobooms« hervor. Somit wehrt sie sich gegen eine Konservierung des psychologischen Wissens in der Sozialen Arbeit und Beratung und weist noch einmal auf die Problematik der methodischen Engführung hin. »Also, dass diese Erkenntnisse, die zu diesen methodischen Verengungen und dann auch zum Methodenboom geführt haben, wichtig und notwendig waren und sind. Dass sie alle hauptsächlich in den [19]70er- und[19]80er Jahren stattgefunden haben, hat bestimmt gesellschaftliche, weltpolitische Gründe – das kann man gar nicht anders sehen. (1,7) Nur das entschuldigt und – oder kann uns nicht davor bewahren, nun nachzudenken: ›Wie gehen wir um mit diesem Zuwachs an höchst wirksamen und höchst formenden oder dynamischen Erkenntnis[sen]? Was machen wir jetzt damit?‹ Das ist dann wieder die nächste Zeit, also die [19]90er und die [20]00er Jahre und jetzt ist es wieder eine ganz andere Zeit – ich rede ja jetzt von unserer Region, unserer Kultur. Wenn wir jetzt im Ural säßen, würden wir anders reden. Es ist ja schon wieder eine ganz andere weltgesellschaftliche und auch politische Situation. Vielleicht hat’s dann zu viele gegeben – wie immer –, die auf diesem wunderbaren erreichten Plateau der tiefenpsychologisch begründeten Methoden und weit reichenden Methoden wie zum Beispiel Gestalt gerne verblieben wären – ich nenne nur die beiden, weil ich mich da auskenne und dazu Seminare gemacht habe: Gestalt und TZI. Das ist natürlich die nächste Herausforderung: Wie gehen wir 72

Hans Thiersch

jetzt damit um? Und das ist dann, wenn man so will, die nächste kritische Welle. Also wieder erst Handeln, dann Kritik, dann Kritik und Handeln, dann wieder nächste Ebene von Handeln. Jetzt muss wieder Kritik kommen. (F: Ja.) Und dann muss wieder Handeln kommen. (F: Ja.) Und deswegen würde ich da nur sagen: Ich glaube, dass die therapeutischen Methoden vielerorts gut und segensreich wirken konnten und können, aber dass es nicht einfach so weitergehen kann. Dass man nicht sagen kann ›wir haben jetzt dieses – Mobiliar, dieses Instrumentarium. Wir müssen eine gute Methodenausbildung machen, und der Rest findet sich dann.‹ Man muss immer sich überlegen: In welcher Situation sind wir jetzt? Und wir sind jetzt in einer hoch kapitalisierten Schleife, wo alles völlig anders, völlig anders aussieht als damals, als wir in den Brand-Jahren lebten und dachten ›Mensch, da geht ja wirklich was‹« (642–684). Mit diesen abschließenden Worten nimmt Anne Frommann die jüngste Beratungskritik auf, die sowohl als »Therapeutik der langen 70er« (vgl. Maasen et al., 2011) diskutiert wird, als auch die vielfältige Kritik an der Beratung und Therapie, denen ein Geschlechterbias, kulturelle blinde Flecken und eine zu große soziologische Abstinenz vorgeworfen wird. Sie vertritt die Auffassung, dass Kritik, auch radikale Kritik am Bestehenden, nötig ist, um überhaupt zu Erkenntnisfortschritten zu kommen, und verteidigt in diesem Kontext das Lebenswerk ihrer Generation.

Hans Thiersch Hans Thiersch gehört zu jenen Theoretikern, die deutlich an der Kritik der Therapeutisierung der Pädagogik und der Beratung mitgewirkt haben. Seine aus der Alltagstheorie stammende Position ist für die Geschichte der Beratung in der Bundesrepublik Deutschland konstitutiv. Hans Thiersch hat eine Reihe von Publikationen vorzuweisen, in denen er sich im Kontext der Sozialen Arbeit dezidiert mit Beratung auseinandersetzt. Am Anfang des im Juli 2014 geführten Interviews stehen bei ihm eine Art Beratungskunst und eine Ethik im Umgang zwischen der Beraterin oder dem Berater und ihren/seinen KlientInnen. »Also (3,7) der Ansatz war, dass wir gedacht, dass ich gedacht habe und Freunde zusammen, dass Päda-, die Sozialpädagogik vom Alltag aus verstehen muss, das heißt von der Art, wie Menschen mit ihrem Alltag zu Rande kommen müssen, was sie selbst für Erfahrung, für Deutungsmuster haben, und dass das sozusagen sehr 73

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komplexe und in sich vielfältig verwobene Bewältigungsaufgaben sind, mit denen sie sich im Alltag konfrontiert sehen. Und die Frage war: Wie kann von da aus pädagogisches Handeln bestimmt werden? Und wir haben das ja bestimmt als eines, was sich auf den Alltag einlässt und sich Mühe gibt, sozusagen die Deutungsmuster, auch die eigenen Problemlösungsvorschläge, die die Menschen haben, ernst zu nehmen und in einem (1,6) zu gewinnenden Vertrauensverhältnis mit ihnen dann eine gemeinsame Lösung oder an der Unterstützung der Lösung zu arbeiten, die die Menschen von sich aus für ihre Probleme haben. Das war sozusagen das allgemeine Konzept, denke ich mir, eines alltagsorientierten pädagogischen Handelns. Und in dem Kontext schien uns Beratung deshalb spannend, weil wir davon ausgegangen sind – ich glaube, ein Aufsatz fängt auch damit an – von Brecht ›denn jeder Mensch braucht Hilfe von allen‹. Das heißt: Beratung ist konstitutives Moment von Kommunikation und von wechselseitig hilfreicher Kommunikation« (27–30). Sehr explizit und anschaulich, quasi im Sinn der Theorie von Alfred Schütz (1974 [1932]) über den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt, zeigt Hans Thiersch auf, wie man in der Pädagogik und Sozialen Arbeit denken kann und was Verstehen eines Menschen bedeutet. Ähnlich wie bei Anne Frommann darf auch bei Thiersch Beratung nicht etwas Spezielles sein (52), sie darf nicht festgelegt werden auf ein bestimmtes Setting, auf eine bestimmte Einrichtung, sondern sie ist etwas, was sich aus dem pädagogischen Alltag heraus ergibt und den Sinnstrukturen der Lebenswelt folgt. Verstehen im Sinne der Rekonstruktion dieser Sinnstrukturen steht damit an einer wichtigen Stelle des Beratungsprozesses, es ist dem Diagnostizieren und dem Interpretieren und Umdeuten geradezu gegenübergestellt. »Im Gespräch mit Müttern, im Gespräch mit Kindern, im Gespräch, in der Auseinandersetzung mit einer Gruppe. Und unsere Tendenz war, (2,3) Beratung auszuweisen als sozusagen etwas, was man sich als helfendes Gespräch durchaus bewusst machen kann, was aber im Prinzip eingelassen ist in das gewöhnliche pädagogische Handeln, und da fanden wir wieder – und das war dann die Anknüpfung an Klaus Mollenhauer – Beratung sehr hilfreich, weil Beratung ja davon ausgeht, dass man auf Augenhöhe sich unterhält und im Gegensatz zur Erziehung, die (2,2) asymmetrischer strukturiert ist und damals ja auch sozusagen völlig – als etwas gesehen wurde, was man auf jeden Fall vermeiden muss, weil ja die Kinder dann doch nur diszipliniert eingeordnet werden« (56–65). In diesem Zusammenhang führt Thiersch später Pierre Bourdieus Arbeit Das Elend der Welt (Bourdieu et al., 1997b) an. Im Rahmen dieser kritischen Alltags74

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theorie, die seine Sozialpädagogik begründet, konstruiert Thiersch Beratung als Ausdruck von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, die er im Sinne von Norbert Elias interpretiert. Pluralisierung, Entstandardisierung und Individualisierung sind seiner Ansicht nach die strukturellen Gründe für einen gestiegenen Beratungsbedarf, der wiederum in der Verarmung der Lebenswelt wurzelt. In seiner Argumentation spürt man eine Reihe von Diskursen, insbesondere zur Kolonialisierung von Lebenswelt. Für die Sozialpädagogik ergibt sich somit eine Zunahme des Bedarfs an kritischer Alltagstheorie. In diesem Kontext stellt Hans Thiersch vor allem die Kunst des sozialpädagogischen Beratens in den Vordergrund und wendet sich wie schon Anne Frommann gegen ein Modell von Profession als soziale Schließung. Beratung bedeute nicht: »Du hast ein Problem und ich biete eine Lösung an [, vielmehr sei es so,] dass es im Handeln – das haben ja Burkhard Müller und Reinhard Hörster ja schon ausgearbeitet – darauf ankommt, Anfänge zu suchen: also irgendwo zu sehen, wo sich sozusagen Ansatzpunkte geben für gemeinsame Lösungen und daraus hat mich dann immer sehr beschäftigt, wie man in der Beratung damit umgehen kann, dass man, auch wenn man auf Augenhöhe und so vorsichtig miteinander (korrigiert:) – also respektvoll, nicht vorsichtig – respektvoll miteinander umgeht, trotzdem es natürlich dann Gefälle gibt von dem einen, der um einen Rat ersucht wird, und von dem anderen. Ich habe von da aus dann sehr stark immer wieder – und ich denke, das ist ein bisschen dann auch mein Markenzeichen – die Kritik der Beratungsposition vorangetrieben und vor allen Dingen die Kritik dieser wohlwollenden Einstellung ›Du kommst, Du hast ein Problem, und ich biete Dir eine Lösung an, und Du kannst es nehmen oder auch nicht nehmen, je nachdem, wie es ist‹. Also diese Unterstellung, als wenn die Anderen ihr Problem sozusagen vor sich hertragen und man ihnen ein Angebot macht, und dann sollen sie sehen, was damit ist, und das ist ja zu wenig. Man muss auch kämpfen, denke ich mir. Man muss kämpfen darum, dass Probleme benannt werden, dass sie zur Sprache kommen, und man muss auch für Lösungen kämpfen. Also man muss auch [suchen/fragen]: Gibt es konfrontative Lösungen? Das liegt jedenfalls im Geschäft der Sozialpädagogik« (94–111). Schwerpunkte seines Beratungsverständnisses sind vor allem der Respekt vor der Eigensinnigkeit, der Widerständigkeit, der Kritik. Hans Thiersch spricht die beraterische Selbstgefälligkeit an, die sich quasi über den sozialpädagogischen Alltag erhebt (142) und verlangt Respekt und Selbstkritik des Beraters/der Beraterin, er plädiert also für einen Standpunkt unbedingter Reflexivität. 75

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»Also mich hat sehr beschäftigt: Was bedeutet es eigentlich, wenn ich mich beraten lassen muss? Und ich fand es ganz erheiternd in Seminaren über die Beratung: Die pflegte ich damit anzufangen, dass ich vor versammelten Studierenden gefragt habe, zu wem sie mit einem Problem gehen würden. Und sie sind alle zuerst zu Freundinnen gegangen oder Freunden, dann vielleicht zu Kollegen, die man kennt, zu Eltern, und wenn alle Stricke gerissen sind, sind sie auch noch zu einem Profi gegangen. Ich habe dann immer gesagt: ›Was bedeutet das eigentlich für Eure Einstellung dem professionellen Angebot [gegenüber]?‹ Und genau das ist das, was er in der Kundschaft berücksichtigen muss, nämlich die Hemmungen und die Schwierigkeiten. Alltagsmenschen wollen in ihrem Alltag zurande kommen. Und sie tragen nicht ihre Probleme vor sich her, sondern tragen daher, dass sie eigentlich schon wüssten, wie es ginge, wenn bestimmte Bedingungen etwas einfacher und etwas angenehmer wären. Das heißt: Ich muss sie respektieren als Menschen, die in Problemen sich um ihre Lösungen bemühen. Und dieses müssen auch Berater tun« (144–157). Was Thiersch hier anspricht, ist das Problem einer strukturellen Distanz jedes professionellen Handelns zur Lebenswelt. Die Antworten der Studierenden zeigen, dass sie für ihre Probleme einen Beziehungsraum suchen, den sie aufgrund von Bindungen und ethischen Beziehungen mitbestimmen können. Wie in jeder professionellen Beziehung gehört es zur Kunst diese strukturelle Distanz zur Lebenswelt aufzubrechen und zu transzendieren. Für diese Frage hat der von Hans Thiersch und Anne Frommann erwähnte Burghard Müller wichtige Beiträge geleistet. Das Problem der strukturellen Distanz zur Lebenswelt gilt in der Beratung noch einmal besonders, da sich hier, ähnlich wie in der Therapie, eine deutliche übertragungsgetränkte Beziehung entwickeln kann. Dies ist nur dann für den Klienten/die Klientin sinnvoll, wenn keine weiteren Machtelemente in die Beziehung eindringen außer dieser Übertragung. Gleichzeitig gilt aber, dass der beraterische Beziehungsraum sehr häufig von Machtelementen durchtränkt ist. Während die Dimension Profession/Lebenswelt eine Herausforderung an die beraterische Kunst ist und es faktisch um die Kunst des Verstehens geht, also um den beraterischen Beziehungsraum, betrifft das Thema Macht in der Beratung als pastorale oder gouvernementale Dimension die Ebenen von Kontrakt und Setting. Kann der Berater/die Beraterin dieses Probleme nicht lösen, wird die beraterische Szene zum Katz-und Maus-Spiel, wie dies zum Beispiel bei der amtlichen Beratung der Fall ist. Zur Beratungskunst gehört weiterhin, wie Thiersch es in Anlehnung an Burghard Müller ausführt, die Gestaltung des Arbeitsbündnisses und eine Rollenbewusstheit des Beraters/der Beraterin: 76

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»Die Notwendigkeit von Beratungen aber ist – eines Vertrags in der Beratung – ist eine gewisse Art von Sicherheit: Dass auf der einen Seite ich deutlich mache, was ich kann und was ich nicht kann, und gerade im Dilemma mit Hilfe und Kontrolle, dass ich nicht einfach ein Freund [bin]« (233–237). Hans Thiersch nennt in Anlehnung an Sünker (2003) weiterhin die Mäeutik: »Also Heinz Sünker redet dann von Mäeutik. Das ist eine schöne Anlehnung an Sokrates und ein guter Begriff. Das heißt, ich gebe mir Mühe, jemanden in dem, was er sich selbst entwirft als Lösungsmöglichkeit oder Hilfe zu Unterstützung, das auszubauen oder ihn auch auf Lösungen vielleicht zu bringen« (323–326). Als weiteren Aspekt im Beratungsprozess nennt Thiersch die Feldorientierung ebenfalls im Sinn von Bourdieu und Lewin. Hier verändert sich die theoretische Fundierung des Ressourcenbegriffs und der Ressourcenorientierung. Hans Thiersch verwendet diese nicht ökonomisch, wie dies derzeit vielfach praktiziert wird, sondern feldtheoretisch. »Wo können Beziehungen aktiviert werden? Wo gibt es vielleicht Auszeiten, die hilfreich sind, zur Erholung? Das heißt nicht einmal die Arbeit an Lösungspotenzialen des Anderen, sondern Beratung, denke ich mir, ist lebensweltorientiert ein Versuch, ein Feld zu erschließen« (340–343). Auch hier bezieht er sich auf Bourdieu und seine kritische Alltagstheorie. Fasst man Thierschs Konzeption einer sozialpädagogischen Beratung zusammen, so verbindet sich Beratung mit einem empathisch-aufklärerischen Habitus und enthält sowohl aristotelische als auch sokratische Dialogprinzipien, die er in eine enge Verbindung mit seinem Entwurf von kritischer Alltagstheorie bringt. In Bezug auf das Verhältnis von Gouvernementalität und Beratung betont Hans Thiersch den Kontrakt und das Arbeitsbündnis. Er bestreitet allerdings, dass diese Machtelemente in der Sozialen Arbeit eine Rolle spielen. Er räumt am Ende des Interviews aber ein, dass eine Reihe von Entwicklungen besorgniserregend sind, die die Theorie der Sozialen Arbeit deutlich berühren. »Ja, ich meine, das hängt nun, denke ich mir (bricht ab). Also das würde ich gerne in den weiteren Horizont setzen, dass wir momentan sowieso eine starke Medikalisierung, um nicht zu sagen Neurobiologisierung, aber Medikalisierung und Therapeutisierung der Szene haben. Und dass die (2,5) eher pädagogisch inspirier77

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ten Ansätze, also ob das der Subjektansatz ist, wie ihn Michael Winkler vertritt, oder jetzt die aus dem Capability heraus entwickelten Ansätze, was die Bielefelder machen, oder meine Lebenswelt- oder Lebensbewältigungssachen, wie ich sie mit Lothar Böhnisch, wie wir sie sozusagen spielen, wenn ich das so sagen darf. Dass die ganz schön in die Bredouille geraten, weil sie weniger vorweisbar sind, weniger Affinität zu messbaren und modularisierten relativ strikten Ergebnissen haben und sozusagen auf der Offenheit von Kommunikation, Aushandlungsprozessen, auch auf Umwegigkeiten basieren. Ich denke, das ist zweierlei. Da kommt auf der einen Seite eine Art von Paradigmenwechsel von sozialen Fragen eher zu medizinischen Fragen hin, und davon profitiert das ganze Medizin- und Therapiegewerbe. Und es ist, denke ich, auf der anderen Seite eine zunehmende Neigung zu messbaren, kontrollierbaren, modularisierbaren Abläufen und Ergebnissen, die offensichtlich mit bestimmten Entwicklungen innerhalb der Medizin kompatibler sind als mit solchen lebensbewältigungs- und lebensweltorientierten Ansätzen. Also ich denke, dass die Soziale Arbeit da sozusagen in eine Art, in eine Bedrängnis hineinkommt, weil der Zeitgeist insgesamt nicht mehr so wie in den [19]70er Jahren offen war für Kommunikation, Interaktion und auch für sozusagen die politische Akzentuierung von Kommunikation und Interaktion« (1:11:12) (823–843). Fasst man diese Aussage von Hans Thiersch wissenschaftsprogrammatisch auf, so plädiert er für eine Neubestimmung und Neuauflage der Phänomenologie und Hermeneutik in der Erziehungswissenschaft quasi als Gegengewicht zu den neuen naturwissenschaftlichen Begründungen, Erkenntnissen und ihren Anwendungen in der Sozialwissenschaft. Die zweite Moderne zeigt sich als Neuauflage einer Biomacht und Neubestimmung dessen, was Ulrich Beck als Risikogesellschaft beschrieben hat.

Kurt Aurin Kurt Aurin wurde 1923 geboren und stammt aus der Stadt Nordhausen im Harz. Er war Soldat im Zweiten Weltkrieg, vier Jahre in der Gefangenschaft in Kiew, die er als Wiedergutmachungstätigkeit bezeichnet, und hat nach Ende des Krieges zunächst in Thüringen gelebt. Sein wissenschaftlicher Werdegang an der Universität Jena war bald von den Ressentiments des realsozialistischen Systems belastet und eine Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit wurde in der ehemaligen DDR zunehmend unwahrscheinlicher. So verließ Kurt Aurin zu Beginn der 1950er Jahre die ehemalige DDR und folgte seiner Mutter, Margarete Aurin, 78

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einer bekannten Pionierin und Expertin der Montessori-Pädagogin. Margarete Aurin war schon zur Zeit des Nationalsozialismus wegen ihrer Pädagogik Repressionen ausgesetzt. Als sich dieses in der DDR wiederholte, siedelte sie um. Kurt Aurin lehrte in Konstanz, Hannover und bis zu seiner Emeritierung in Freiburg i. Br. Wenn man ihm zuhört, spürt man den Geist der Bildungsreform, die sein wissenschaftliches Werk geprägt hat, aber auch jenen Gelehrten und Pädagogen, der den Anspruch des Kindes auf Erziehung und Bildung niemals zur Disposition stellt. Vor allem die Abschaffung der Zwergschulen und die Einrichtung einer modernen und differenzierten Schullandschaft wurde sein erstes Projekt. Kurt Aurin zeigt sich als gesellschaftlich zugewandter Intellektueller, der empirisch quantitativ und im Rahmen der Wissenschaftstheorie von Karl Popper forscht, wissenschaftliche Erkenntnis aber mit sozialer Reform verbindet. In diesem Kontext versteht er sich auch als jemand, der auch Politikberatung durchführt. Die Zeit während der Umsetzung der Bildungsreform war von der Kooperation mit Ralf Dahrendorf sowohl theoretisch wie auch bildungspolitisch geprägt. Kurt Aurin beschreibt die damalige Nähe von Wissenschaft und Reformpolitik als Kraft, die die Bundesrepublik prägen sollte. »Es war so, dass, als ich nach Baden-Württemberg kam, da einige Verbindungen bestanden über einen Kollegen zum Kulturministerium Baden-Württemberg. Und dort war man interessiert daran, eine wissenschaftliche Untersuchung durchführen zu lassen zur Bildung und zum Schulangebot im ländlichen Raum. Diese Untersuchung umfasste nicht nur Tests, um die Fähigkeiten der Schüler für den Schulbesuch an weiterführenden Schulen festzustellen, also kurzum: die Schuleignung und Schulbegabung der jungen Leute zu ermitteln, sondern es sollten dann auch, weil das Schulwesen im Lande ausgebaut werden sollte, Vorschläge und Expertengutachten zur Schulentwicklung erstellt werden. Das Schulwesen sollte wissenschaftlich begründet ausgebaut werden. Es sollten Realschulen und andere Schulen, die im ländlichen Raum in Baden-Württemberg nicht vorhanden waren, eingerichtet werden. Man wollte sichergehen, dass dort auch ausreichender Schülerbestand vorhanden war, der also diese Schulen besuchen konnte. Und aus dieser Tatsache ergab sich dann die Schulentwicklungsplanung. Und dann ergab sich, weil es notwendig war, für die Schüler Ganztagsschulen einzurichten und andere Modellschulen, zum Beispiel kooperative Gesamtschulen, es ergab sich dann, dass ich bekannt wurde und auch als Berater mit tätig war in Schulentwicklungsplanung, in Schulmodellversuchen. Faktisch habe ich dann das Ministerium entsprechend beraten und kam in verschiedene Ausschüsse, sodass dann auch Politikberatung, also Schulpolitikberatung letzten Endes zu meinen Aufgaben gehörte« (Zeile 51–68). 79

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Kurt Aurins Begriff von pädagogischer Beratung wurde durch sein Studium der Psychologie und Erziehungswissenschaft geprägt. Schon während des Studiums in Berlin habe er Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder beraten. Diese Beratung stellt er konzeptionell in den Dienst der Unterstützung der Selbstverwirklichung von Kindern und bezeichnet sich selbst als – auch durch das Lebenswerk seiner Mutter – geprägt von Montessori, Rocher und Carl Rogers (101–110). In diesem Sinn beschreibt er die Beratung von Eltern als etwas, was die Selbsttätigkeit des Kindes in den Mittelpunkt stellen müsse: »Ja, das müssen sie [die Eltern K. G.] von vornherein akzeptieren. Das müssen sie internalisieren. Sie müssen also als selbstverständliches Credo davon ausgehen, dass das Kind ein selbstständiges geistiges Wesen ist« (136–138). Diese kantianische Haltung prägt Kurt Aurins Beratungsverständnis auch in der Bildungs- und Schulberatung, die er maßgeblich prägte und die einen bedeutenden Zweig der pädagogischen Beratung darstellt. Der Aufbruch der Pädagogik in den 1960er Jahren und die Neubestimmung der Beratung in der Pädagogik skizziert er wie folgt: »Also (2,2) es war so, dass natürlich in den [19]60er, [19]70er Jahren, in den [19]70er Jahren eine Öffnung und Internationalisierung der Wissenschaft zu erkennen war. Ausländische Literatur und Ansätze wurden rezipiert und gelesen. Und hier spielte der Einfluss von Rogers eine wichtige Rolle, weil er einen entschiedenen Gegensatz zu der behavioristisch orientierten Pädagogik darstellte. Diese Pädagogik hatte eine sehr rigide Lernpsychologie, die also nur auf die äußere Anpassung ausgerichtet war. Der sozialisierte Mensch, also das Kind, war hier das an die Umwelt angepasste Wesen. Die geistige Komponente der Selbstständigkeit und der Fähigkeit, selbst sein Leben zu gestalten, fehlt in der behavioristischen Lernpsychologie. […] Und von daher habe ich natürlich den Rogers verschlungen und auch sein Beratungskonzept voll anerkannt: Der Klient ist also zugleich derjenige, der seine Selbstständigkeit realisieren muss. Der ist also der Partner, nicht wahr. Und diese Selbstverständlichkeiten, dass also der Klient selbst die Initiative ergreifen muss – mithilfe natürlich der Hinweise und der Anregung des pädagogischen Beraters, das habe ich mir zu Eigen gemacht (unv. 14:38). Deshalb wurde für mich die Beratung im Zusammenhang mit dem Projekt der Bildungsreform so zentral, unabdingbar. Und natürlich die Form der Beratung, das Verstehen, das Einfühlen, die Zuwendung zum Kind, also das ist eine ganz wichtige Verhaltensweise des Beraters in der pädagogischen Beratung. Es setzt Vertrauen voraus, Verständnis des Pädagogen und 80

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dass natürlich mithilfe dieser besonderen Kommunikation das Kind und seine Eltern gut beraten werden. […] Rogers spricht ja von der Empathie, nicht wahr. Dass dieses differenzierte Einfühlungsvermögen hilft, den Anderen gut zu verstehen und dann entsprechende Wege zu gehen. Da kommt wieder die ganze pädagogische Psychologie mit hinein mit ihren möglichen theoretischen Konstrukten, die sich auf die Entwicklung des Kindes oder in der Persönlichkeit beziehen, nicht wahr. Aber es darf nicht so sein, dass als erstes das theoretische Bild, was man hat, dass man das überträgt auf den (lacht) Klienten, sondern der Klient muss selbst den Weg dahin finden« (15:34) (151–175). Kurt Aurin denkt die pädagogische Beratung vom Kind und seiner Selbsttätigkeit aus und eben nicht institutionell als Zuweisung in Schulsysteme. Der pädagogische Bezug, die Abgrenzung von der Therapie und vom klinischen Denken, die Grundlegung der pädagogischen Situation prägt die Vorstellung von Beratung. Deutlich grenzt er sich von rein funktionalen Formaten ab. Diagnosen hält er zwar für sinnvoll, um Eindrücke zu objektivieren, das Dach bildet bei ihm jedoch eine pädagogische Philosophie und ein hermeneutisches Beratungsverständnis. »Alles ist eine Frage der Grundeinstellung, nicht wahr. Also auch das Verständnis des pädagogischen Bezuges und also auch, wie das Verhältnis zwischen Pädagogen und Kind grundsätzlich anzusehen ist und wie man sich darauf einzustellen hat, dass man es eben mit Kindern zu tun hat. Also die pädagogische Situation ist völlig unterschieden von der Therapiesituation, so wie Sie jetzt systemisch durchgeführt wird, nicht wahr, wo sehr viel auch von der Psychoanalyse eingegangen ist. Es gibt von dem Pädagogen Winnefeld – das war ein … Pädagoge in den [19]40er, [19]50er Jahren, eine schöne Übersicht über die verschiedenen pädagogischen Situationen. Hier spielt von vornherein die Selbstständigkeit des zu Erziehenden, als auch die Vertrauenssituation, die der Erzieher herstellen muss – egal, ob es Lehrer ist, Vater, Mutter oder – es ist der Berufspädagoge; das Vertrauen steht da im Vordergrund. Und dieses Grundverhältnis in der Erziehung, das muss auch beibehalten werden in der Beratung. Sonst ist es ja keine pädagogische Beratung. Ich will ja auf pädagogischem Wege, dass der junge Mensch durch sich selbst, durch seine Fähigkeiten, durch seine Geistigkeit hingeführt wird, seine Probleme zu erkennen, und dass er dann auch einen Weg findet, durch meine Hilfestellung, durch meine Hinweise, dass er zu sich selbst kommt und eine positive Entwicklung nimmt« (24:39) (233–257). Diese Haltung des Beratens in der Erziehung grenzt Kurt Aurin von Methoden und Techniken ab. Er fokussiert somit einen Professionsbegriff oder ein profes81

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sionelles Selbstverständnis, welches über das Konzept von Beratung als Methode und als Angebot weit hinaus geht. Ausführlich skizziert er eine grundlegende beraterische Ethik, in deren Mittelpunkt das Vertrauen steht. Dieser Ansatz des Vertrauens geht über das hinaus, was in der Beratung von erwachsenen Arbeitsbündnis genannt wird. Die ethische Verpflichtung des Pädagogen oder der Pädagogin gegenüber dem Kind ist, folgt man Aurin, noch einmal größer. Wie schon seine Kollegen, setzt sich auch Kurt Aurin kritisch mit Verständnissen von Beratung als Methode auseinander und stellt diesem Modell einen ethischen Prozess gegenüber. Die Methoden müssen in diesem besonderen pädagogischen Verhältnis wurzeln, wenn man erziehen will. »Es geht nicht ohne die innere Bejahung des Kindes, die innere Einstellung, und es geht auch nicht ohne eine gewisse innere Anstrengung des Reflektierens. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass also die lieben jüngeren Kollegen die Techniken deshalb bevorzugen, weil das andere zu anstrengend ist. Und ich merke das auch an der Realisierung der Montessori-Pädagogik. Ich habe wenige Orte gefunden, wo die Erzieher – die Lehrerinnen oder Lehrer – die Pädagogik Montessoris in der Weise durchführen, Kinder zu verstehen, an sie heranzugehen und ihnen zu helfen mit dem Material, das Montessori entwickelt hat, vernünftig umzugehen, und da Entdeckungen zu machen. Es ist oftmals etwas – ich will nicht sagen ›autoritär‹, aber gelenkt. Es geschieht nicht differenziert genug, und das Differenzierte ist ja gerade das, was Beobachtung voraussetzt, Verstehen voraussetzt, nur das ist anstrengend. Ich muss mich bemühen, indem ich von Kind zu Kind neu denke und die Pädagogik neu konzipiere. Ich muss den richtigen Rahmen finden, den richtigen Weg gehen. Also das ist anstrengend. Ein guter Erzieher, ein guter Lehrer zu sein, ist anstrengend. Und diejenigen, die sich auf die Technik verlassen, bekommen Probleme. Sie ist eine Hilfe, aber sie ersetzt nicht das pädagogische Handeln, die eigene unabhängige Einschätzung. Pädagogik als Technik geht nicht auf. Das muss man sagen. Es bleibt eine Technik« (283–300). Der Anspruch, den Kurt Aurin hier formuliert, ist notwendig der Anspruch an eine Profession. In Bezug auf den Prozess des Beratens vertritt er ein Modell des verstehenden Erstgespräches, plädiert aber deutlich für eine Diagnose unterstützte Beratung. Das Verhältnis von Verstehen und Diagnose dreht er um. »Das [die Diagnose K. G.] ist schon sehr wichtig, keine Frage. Erst aus der Diagnose kommt ja eine Gewissheit. Der Prozess des Verstehens führt ja dann auch hin zur Diagnose. Die Diagnose ist eine Objektivierung – mithilfe natürlich bestimmter 82

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Methoden –, wo ich das, was ich jetzt empathisch verstehe, jetzt im Sinne von Rogers, dass ich das in einen Zusammenhang bringe, in ein Modell, aus dem heraus ich eine mögliche Behandlung entwickeln kann. Also mögliche Hilfen – wenn ich jetzt von der Behandlung einmal absehe – mögliche Tätigkeiten, Aktivitäten für das Kind, den Jugendlichen. Und je differenzierter, je genauer, je treffender die Diagnose ist, desto mehr habe ich auch die Chance, dass es angenommen wird. Natürlich spielt der Faktor der Motivation eine große Rolle: Wie kommt meine Anregung an? Habe ich die richtige Einstellung zum Kind? Habe ich das Vertrauen des Kindes schon gewonnen? Kann ich ihm meinen Vorschlag zumuten? Diagnose und das pädagogische Gesamtkonzept sind verbunden« (40:48). Kurt Aurin spricht weiter über sich als sehr stark geprägt von der Bildungsreform, die er aktiv mitgestaltete. Die pädagogische Beratung denkt er zuerst aus der Profession des Lehrers. Die Beratungsausbildung für Lehrer, die Fähigkeit des Lehrers zu reflektieren und zu beraten ist für ihn der Motor einer Beratungsausbildung. In gewisser Weise soll also das Beraten und die Fähigkeit dazu den Lehrerhabitus verändern und den Lehrer zu einer dem Kind zugewandten Bezugsperson machen. Zu seinem Werdegang sagt er: »Ah ja. Ich bin natürlich dann in eine andere Richtung gegangen, als ich ursprünglich geplant habe – sowohl in Hannover an der Technischen Universität und dann hier in Freiburg an der Universität wurde ich mit anderen Forschungsaufgaben betraut. Und dann bin ich aus dem etwas herausgekommen, was ich ursprünglich gemacht habe. Also das Neue war (unv. 47:18) Schulentwicklungsplanung und dann die Untersuchung (2,7) zu den Schulvergleichen, Gesamtschulen und gegliedertes Schulsystem. Und dann also zuletzt, als es dann eines der zentralen Ergebnisse war, dass die gute Schule oder die leistungsfähige gute Schule in jedem System zu erkennen ist, dass es also auf ganz andere Faktoren ankommt, die wichtiger sind als die Systemstruktur, nämlich die Lehrerpersönlichkeit. Die Systemstruktur ist sicherlich auch eine Bedingung. Aber entscheidender sind andere Faktoren, eben Lehrerpersönlichkeit und Lehrerbildung. Und dann habe ich diese Konsensuntersuchung gemacht, also Konsens in Schulen. Das war auch eine Anregung, die aus dem internationalen Bereich kam« (48:14) (508–520). Kurt Aurin gilt sicherlich zuerst als Schulforscher, als Schulsystemforscher und empirischer Bildungsforscher. Schulberatung ist für ihn eine Aufgabe in einer modernen Schule, durchgeführt von wissenschaftlich ausgebildeten Experten. Im Schulstreit um die Gesamtschule und die Umsetzung der Bildungsreform vertritt 83

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er das Konzept des pädagogischen Bezuges als zentral für den Schul- und Erziehungserfolg von Kindern. Selektion ist bei ihm mehr eine Frage der pädagogischen Haltung des Lehrers oder der Lehrerschaft als eine Frage des Schulsystems. In den Zeiten des großen Schulkampfes war diese Position nicht immer akzeptiert. Indessen ist die Erziehungswissenschaft vor allem im Kontext der Forschungen von Bourdieu zum symbolischen Kapital, zur Distinktion und Habitus des Lehrers und Erziehers und hier noch einmal zu Konzepten wie »rechte und linke Hand des Staates« (Bourdieu, 1997a) auf einem Erkenntnisstand, der die alten bildungspolitischen Konflikte in einem anderen Licht erscheinen lässt. Auch angesichts der Reflexionen zur Antipädagogik und zur Entwicklung der Reformpädagogik steht eine Neubewertung des Lebenswerkes von Kurt Aurin an. Doch zurück zur Beratung. Hier ist die große Reformleistung des Montessori- und Rogers-Schülers Kurt Aurin noch einmal gesondert zu würdigen. Ganz im Sinne der von Dahrendorf geprägten Programmatik einer Neubestimmung von Bildung und Bürgerlichkeit beschreibt Kurt Aurin die Bedeutung von Beratung im Schulwesen. »Na ja, also ich fand das hinsichtlich der Bedeutung, die an sich das Schulwesen für die ganze Gesellschaft hat, wesentlich, dass Schulen ausgebildete und kompetente Berater haben. Und die Kultusbürokratie und die Kulturpolitik haben sich wirklich bemüht, die Beratung in die Schulen herein zu bringen. In dieser zeit sind Referate und Stabstellen in den Ministerien für Beratung entstanden, die eng mit uns kooperiert haben. Das Projekt Schul- und Bildungsberatung ist ihnen gelungen. Man kann das belegen mit den Zahlen. Es ist ihnen nicht hundertprozentig gelungen, aber es ist sicherlich auch so, dass also – sicher, das war auch meine These, also mit in den Briefen hier für den Fernstudienlehrgang –, dass also im Grunde die Pädagogische Beratung eine Aufgabe jeden Lehrers ist. Und dass dafür die Schulen, aber auch die Lehrer geöffnet werden müssen, für diese Tätigkeit, für diese pädagogische Handlungsform. Und dass Lehrer darin geschult werden müssen« (1:08:16) (738–746). Kurt Aurin empört sich etwas über die Verortung der Beratung als außerschulische Institution und betont die Bedeutung des Schulwesens. Eine pädagogische Beratung, die sich quasi außerschulisch bestimmt, ist für ihn nicht denkbar. Dazu sei das Schulwesen zu groß, zu bedeutsam. Gleichzeitig wird in dieser Sequenz des Interviews deutlich, dass die reformerischen PädagogInnen sich untereinander nur vom Hörensagen kannten und eher entfernt waren. Verbindungen hingegen bestanden im bildungspolitischen Bereich, zu Ralf Dahrendorf, zum damaligen Minister Hahn und in die Kultusministerien. 84

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»Der schulische Bereich ist ja doch einer bedeutender Bereich: Es gibt in Deutschland, es gab 1990 an die 30.000 Schulen. Es sind jetzt ca. 34.000. Es gab Schüler, und ich muss mal sagen: Es waren 1965 sieben Millionen Schüler. Jetzt, also mit der DDR, gibt es 9,7 Millionen. Also das sind die Zahlen für 2002. Das habe ich hier aus dem statistischen Büchlein. Ich habe das noch behalten von 2003/2004. Bis dahin habe ich mir das noch schicken lassen und habe mir gesagt: ›Ich bin jetzt pensioniert. Schickt mir das nicht mehr.‹ Aber jetzt habe ich es noch einmal ausgegraben. Also jetzt sind es rund zehn Millionen Schüler. Und an die 30, 35 Institutionen. Berufliche und allgemeinbildende und Schulen sind hier eingeschlossen. Das ist doch ein Bereich, der unerhört bedeutend ist. Für die Beratung ist das der stärkste Bereich. Und das empfand ich auch so. Dieser starke Bereich kommt leider in Ihrem Buch zu kurz« (651–663). Die Epoche der Bildungsreform beschreibt Kurt Aurin wie ein Blüte. Es ist seiner Ansicht nach eine Veränderung durch die Gesellschaft gegangen, vor allem die Administration hat das Projekt Bildungsreform erst genommen und Ressourcen geschaffen. Kurt Aurin beschreibt ein Reformklima und dass die Beratung ein wichtiger und integraler Teil dieser Reform war. Und er beschreibt, dass die Administration hinter der Bildungsreform und der Beratung gestanden hat. »Also die Schulberatung, (5) die (unv. 1:08:35) Studienbriefe, die waren ja, die konnten alle Ministerien anfordern, und jede Schule konnte das anfordern, und das ist rausgegangen.« Zu der Ausbildung zum Beratungslehrer, die er in sechs Durchgängen verantwortet hat, sagt er: »Das war also ein Lehrgang, der in zwei Jahren entwickelt wurde, mit zehn Studienbriefen/Heften. Das ist nachher noch einmal verschlankt worden, weil es zu viel an Stoff war, und das hat man, glaube ich, auf fünf oder sechs Briefe reduziert, und siehe, die Schulen und Ministerien haben sich für Beratung eingesetzt. Da gab es Referenten, die speziell für Beratung verantwortlich waren. Also jetzt im Baden-Württembergischen Ministerium ist eine Ministerialrätin zuständig. So ist das: Auch zum Teil in anderen Ministerien sind Beamte, zuständig für die Beratung, die Förderung der Beratung und für ihre Weiterentwicklung. Und es ist beileibe noch nicht so geschehen, wie es faktisch sein sollte und wie es eventuell in England und den Vereinigten Staaten entwickelt worden ist. Da gibt es Guidance und Counseling – das hat fast jede Schule. Diese Anerkennung der Beratung gibt es bei uns nicht 85

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überall. Für eine Stelle müssen sich mehrere Schulen zusammentun. Oder bei einem städtischen Schulamt, in Mannheim, sitzen vier Schulpsychologen, die dann rausgehen und betreuen und auch mit Beratungslehrern noch zusammenarbeiten. Das ist zwar nicht das, was wir uns in den 1960er Jahren vorgestellt haben, aber es ist etwas in Gang gekommen.« »Ich habe also kürzlich eine Nachricht bekommen, da habe ich mich extra erkundigt. Ich will nur sagen, weshalb das für mich interessant war. Es handelt sich um eine Studie zur Schulpsychologie. Hier hat sich die Anzahl der Stellen vervierfacht – es waren ungefähr zwischen 50 und 60 Schulpsychologen im Jahr 2002. Ich habe eine Veröffentlichung publiziert über das Verhältnis der Schuldpsychologie in Baden und in Württemberg. Das ist so ein bisschen ein alter Konflikt hier im Land, würde ich sagen. Und jetzt habe ich mich erkundigt bei der Referentin im Ministerium: Die haben an die 190, 194 Stellen, also hat sich die Zahl vervierfacht für Schulberatung. Das ist ja ein enormer Sprung. Nur, warum ist das gekommen? Weil in BadenWürttemberg inzwischen dieser schreckliche Vorfall war in Winnenden und weil die Gewalt in Schulen zugenommen hat. Es ist heute also nicht mehr nur Bildungsberatung, es sind neue Probleme aufgetaucht, wo die Verantwortlichen merkten: Es ist jetzt notwendig, dass wir Psychologen und Berater mit einstellen und die sowohl präventiv beraten als auch dann, wenn solche schrecklichen Dinge geschehen sind« (749–776).

Zusammenfassung Alle drei Experten wenden sich in ihren Äußerungen gegen einen Habitus der BeraterInnen in der Pädagogik, der vor allem bei BeraterInnen in der Pädagogik als distinktiv bezeichnet werden kann. Das kommt bei Anne Frommann sehr deutlich heraus, wenn sie über die Psychagoginnen der 1950er und 1960er Jahre als die »höheren Töchter mit der zartgrünen Gardine« spricht. Das geradezu rebellische Plädoyer zur Bedeutung des Alltags und der Verortung im Alltag von Hans Thiersch kann ebenfalls als Kritik am distinktiven Habitus der Beratenden und als Plädoyer für ein anderes Zuhören und anderes Arbeiten in der Beratung aufgefasst werden. Schließlich wendet sich auch Kurt Aurin gegen einen beraterischen Habitus, der durch das Kind hindurchsieht, und konzipiert Beratung im Kontext der Montessori-Pädagogik und des personenzentrierten Ansatzes als Anerkennungsbeziehung. Auch er versteht Beratung als unmittelbar dem Kind zugewandt. Mit dieser Positionierung grenzen sich nicht nur alle drei Experten von der Therapeutisierung und der Attitüde der Distanz in der Beratung ab, sie 86

Zusammenfassung

formulieren auch ihren Ärger über jene Institutionalisierungen der Beratung, die man quasi als klinisch-distinktiven Blick bezeichnen könnte. Die Abstinenz zum Beispiel in der psychoanalytischen Beratung oder die Kommunikationsspiele in der systemischen Beratung sind solche distinktiven Formate, die eher den Aufstiegswillen einer neuen Profession kennzeichnen als ein ethisches Mandat. Alle drei entwerfen den Beziehungsraum in der pädagogischen Beratung als Raum, in dem es um ethisches Tun geht, im Bewusstsein für die Verletzungsoffenheit der Klienten, vor allem wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt. Profession – vor allem ist das bei Hans Thiersch ein rotes Tuch – wird professionstheoretisch vor allem aus einem Machtmodell und aus dem sozialen Aufstiegswillen einer Gruppe her verstanden. Professionalisierung ist vor allem bei Hans Thiersch keine ethische Bewegung, sondern eine ökonomische. Diese professionskritische Haltung ist zum einen aus den historischen Erfahrungen der befragten Experten sehr gut nachvollziehbar. Sie lässt die aktuellen Entwicklungen von Beratung aber vollständig außer Acht. In Bezug auf die Professionalisierung der pädagogischen Beratung fällt dann aber in einem zweiten Schritt auf, dass alle sich von der Therapie und ihren Formaten abgrenzen, dass sie sich als pädagogische BeraterInnen während ihrer ganzen Zeit kaum vernetzt haben. Zwar kennt Hans Thiersch alle wichtigen ErziehungswissenschaftlerInnen und BeraterInnen, aber eben konsequent außerhalb der Schule. Zwar kennt Kurt Aurin die pädagogischen BeraterInnen seiner Zeit vom Hörensagen, aber als Schulexperte hat er mit ihnen nicht zusammengearbeitet und kaum Berührungspunkte. Auch Anne Frommann denkt darüber nach, dass die Debatte um die Beratung im Kontext des §218 wichtig war, sie hatte aber keine Berührungspunkte. Diese disziplinäre Isolation kommt in dem folgenden Interviewabschnitt mit Kurt Aurin noch einmal sehr gut heraus: F:

A:

F:

»Ich habe jetzt noch einmal ein paar andere Fragen, Herr Aurin, die sich eher so auf den Professionsrahmen beziehen. Ich bin jetzt einfach mal ein bisschen neugierig, und Sie können jederzeit sagen, Sie möchten das nicht beantworten. Kannten Sie Klaus Mollenhauer? (53:05) Nein – doch. Ich habe ihn nie persönlich – doch, ich bin ihm mal persönlich begegnet und habe ihn gesehen. Das war zum Schluss, das war in Saarbrücken. Sonst weiß ich, dass er nach Berlin gegangen ist. Da war ich auch mal interessiert und hatte mich auch beworben bei Professor Boritzki. Aber Boritzki hat nachher dann Mollenhauer genommen und andere Leute. Ich komme jetzt nicht auf den Namen. AberSiehattenkeinenAustauschmitihm,keinenwissenschaftlichenAustausch? 87

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A. F: A: F:

A: F: A: F: A: F: A:

Nein. Nein. Und bei anderen, bei anderen aus der Pädagogik? Ich nenne jetzt mal ein paar Namen: Hans Thiersch? Nein. Auch nicht Thea Sprey, haben Sie schon gesagt. Aus Köln, … die hat ein Buch geschrieben zur Beratung und zum Rat geben in der Erziehung. Also das heißt, die Beratungsprofessoren waren wenig vernetzt. Ja, das stimmt … Wir hatten gar nicht die Zeit dazu. Reinhard Tausch? Der ist ja in … Ja, den habe ich ganz früher in Köln kennengelernt. Kennengelernt, aber auch keine Vernetzung? Da war ich noch nicht auf Beratung spezialisiert. Habe ich jemand vergessen, der wichtig ist für Beratung jetzt? Hornstein natürlich, Walter Hornstein? Der ist natürlich … Der ist ganz spät erst über Tübinger Anregung und durch die Jugendarbeit dazu gekommen, durch seine Jugendarbeit« (567–594).

Die mangelnde Vernetzung und die zutage tretende große Distanz zwischen pädagogischer Beratung in der Schule und pädagogischer Beratung außerhalb der Schule ist eine wichtige Dimension, die alle Experten miteinander verbindet. Ein dritter verbindender Teil ist, dass die Beratungskunst und der Beratungsprozess sehr ähnlich beschrieben werden.

Gerhard Leuschner Für die Beratung in der Tradition der kritischen Erziehungswissenschaft, also für das, was Hornstein (1977) oder Mollenhauer (1965) als Mündigkeit bezeichnet haben, ist ein Beratungsformat von besonderer Bedeutung, welches im Umfeld der Sozialpädagogik der 1960er Jahre entwickelt worden ist, entstanden. An einer ganz herausragenden Stelle steht hier Gerhard Leuschner, der Supervision als demokratisches Beratungsformat methodisch operationalisiert und wesentliche Elemente des Beratungsprozesses geprägt hat. Dazu gehören das Konzept des Verhandlungsraumes, das Konzept des Dreieckskontraktes, die Definition einer auf Anerkennung beruhenden beraterischen Beziehung und die damit zusammenhängenden humanistischen Ziele eines Beratungsprozesses als »Bildung des Menschen« sowie eine Haltung im Umgang mit Autorität und Macht. Im Folgenden erzählt Gerhard Leuschner über den biografischen und zeitgeschichtlichen 88

Supervision und Beratung als Verhandlungsraum

Entdeckungszusammenhang dieses Beratungsmodells und seiner Vorstellung zur Professionalität in der Supervision.

Supervision und Beratung als Verhandlungsraum »Meine erste Supervisionserfahrung begann im Herbst 1960 in Freiburg. Die sieben Bewährungshelfer – alles Männer – der Landgerichtsbezirke Freiburg und Waldshut bekamen dienstlich abgeordnet Fallsupervision bei Dr. N. an der Höheren Fachschule in Freiburg. An der Supervision nahm der landesweit bekannte Jugendrichter H. aus Freiburg teil, der großen Anteil daran hatte, dass das Jugendstrafrecht als Täter- und nicht als Tatstrafrecht gesehen werden konnte und Bewährungshilfe als Erziehung und Resozialisierung Raum gewann. Kontrakt und Setting waren hier nie zu besprechendes Thema, beides war vorgegeben. So wurde die Rolle von Herrn H. nie besprochen oder geklärt. Selbstverständlich stellte er keine eigenen Fälle vor und diskutierte mit. Er war der Fachvorgesetzte der 5 Freiburger BwH und natürlich die Fachautorität für alle sieben BwH. In den mehr als zwei Jahren, während ich an der Supervision teilnahm, stellte fast immer der besonders angesehene Bewährungshelfer K. – meist mit Tonbandaufnahmen – seine Fälle vor. Das ergab sich, da nur er Fälle anbot. Auch dies wurde nie besprochen oder problematisiert. Ich war der Jüngste und Unerfahrenste in der BwH-Runde und somit mit diesem Setting sehr einverstanden. Es war ein guter Lernort für mich als Anfänger. Wie die anderen Kollegen dazu dachten, blieb unbekannt, weil auch informell darüber nicht geredet wurde. H., K. und zwei weitere Teilnehmer waren Kriegsteilnehmer gewesen; H. und K. waren ehemalige Offiziere in der Deutschen Wehrmacht. Neben mir waren drei weitere Kollegen in den dreißiger Jahren geboren, also Vorkriegskinder. Ich war aus Altersgründen nicht in der Hitlerjugend, die drei anderen schon. Meine nächste Supervisionserfahrung begann 1965 an der Akademie für Jugendfragen in Münster, wo die Holländerin Cora Balthussen, eine Widerstandskämpferin in der NS-Zeit, in einem Weiterbildungskurs ›social casework‹ anhand von mitgebrachten schriftlichen ›Fällen‹ Supervision als Fallbesprechung vorführte. Auch hier waren Kontrakt und Setting vorgegeben und Fragen oder gar vorsichtige Kritik dazu wurden energisch bis barsch zurückgewiesen. Meine dritte Erfahrung begann 1967 Jahr in dem Weiterbildungskurs ›social groupwork‹ bei dem Amerikaner Louis Lowy, Professor an der Boston University. Lowy war emigrierter Jude aus Österreich. Lowy lehrte Methoden der sozialen Gruppenarbeit, wie er es für seine Masterstudenten an der Boston University tat, und hatte auf dezente Weise den geschichtlich-politischen Hintergrund der lernen89

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den Deutschen und seine erlittene Nazi-Geschichte immer im Blick. Das Gleiche gilt auch für Cora Balthussen. Auch bei Lowy waren Settings- oder Kontraktdiskussionen kein Thema. Sowohl von Balthussen wie von Lowy wurden Rahmenbedingungen für Supervision verlangt, wie schriftlich Fälle vorzulegen, Sitzungszeiten und -abstände, Zahl der Sitzungen, die undiskutierbar waren. Wer hier kritische Fragen stellte und beispielsweise generalisierte Rahmenbedingungen über Indikation und Diagnose hinterfragte, verlor sofort die Zuwendung und hatte Mühe, diese wieder zu gewinnen. Auffallend war gleichzeitig, dass in der Arbeit mit allen genannten Supervisoren/Dozenten ein respektvoll zugewandter Umgang mit den Lernenden gepflegt wurde, wie man es in dieser Beziehungszugewandtheit an deutschen Hochschulen damals nicht kannte. Jeder wurde individuell angesprochen und gefördert. Man konnte einfach nicht »nicht mitarbeiten«. Diese Entwicklung von Lernbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden schuf Achtung und Vertrauen, aber ebenso ständig Motivation, Kraft und Mut zur eigenen Darstellung. Die Tabuisierung – so empfand ich das – von jeder Reflexion über Setting und Kontrakt stand zu diesen Umgangsformen im Gegensatz. Man kann auch sagen: Der Rechtsrahmen des Kontraktes war gesetzt und wurde nicht diskutiert. Dagegen wurde die Beziehung als Arbeitsbündnis durchaus nicht tabuisiert, wenngleich wir darin als Lernende viel zu unerfahren und ängstlich waren, um davon mehr Gebrauch zu machen, als uns angeboten wurde. Solche Diskussionsverbote um Rahmen und Setting irritierten mich immer wieder, hinderten aber weitgehend nicht am Lernen der Methoden. Als weiteres Modell des Lernens wurde Ende 1967 der Holländer Kees Wieringa, Sozialpsychologe und Dozent an der Universität Utrecht, Supervisor und Trainer für Gruppendynamik, als Kursleiter an die Akademie für Jugendfragen geholt. Wieringa war ebenfalls ehemaliger Widerstandskämpfer. Solche Anmerkungen sind und waren mir immer wichtig, weil diese Lehrer unverdächtig waren bzgl. einer Nazi-Vergangenheit, die in unserem Bewusstsein der jungen Vorkriegsdeutschen eine skeptische und nicht angstfreie Rolle spielte. Kees Wieringa war eine Fachautorität und gleichzeitig sehr schnell ein naher Kumpel mit viel Experimentierfreude in Setting und Methoden. Wenn jemand eine Idee hatte oder etwas nicht oder anders wollte, dann bot er schnell an, man möge das ausprobieren und dann reflektieren und bewerten. Grenzen gab es, wenn er aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung die Ergebnisse eines Experiments wusste und einen möglichen Schaden, den das Experiment bewirken konnte, kannte. Dann warnte er davor und setzte Grenzen, wenn ein persönlicher Schaden wahrscheinlich war. Bei Wieringa gab es anfangs sowohl die nicht zu diskutierende Settings- und Kontraktvorgabe wie fast gleichzeitig die Bereitschaft zu diesbezüglichen Experimenten. Ich habe das darauf zurückgeführt, dass Wieringa 90

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auch Gruppendynamiker der Lewinschen Schule war. Im Laufe langer Jahre der Zusammenarbeit war dann bei Wieringa die erstgenannte »Strenge« gar nicht mehr zu spüren. Eine weitere Blitzlicht-Erfahrung war für mich 1968 der Kongress des DAGG in Bonn, wo Ruth Cohn erstmals in Deutschland ihre Methode mit dem festen Settingsrahmen im Audimax der Uni Bonn persönlich vorstellte. In dem überfüllten Raum waren neben vielen Gruppenexperten aus der gesamten Republik viele APO-Studenten aus den sozialwissenschaftlichen Bereichen der Uni Bonn anwesend, die Setting und Kontrakt der Methode von Ruth Cohn ohne Diskussion der Inhalte infrage stellten und den Diskurs darüber – wie damals auch in anderen Zusammenhängen an deutschen Hochschulen üblich – verlangten. Ruth Cohn lehnte das nicht nur ab, was ich genauso autoritär und verhandlungsresistent empfand wie das Verhalten der Studenten, sondern ließ sich empört zu der Äußerung hinreißen: Wenn sie das, was gerade geschah, geahnt hätte, wäre sie nicht nach Deutschland gekommen. Bekanntlich war Ruth Cohn emigrierte Jüdin. Man muss dazu wissen, dass offensichtlich alle anwesenden APO-Studenten ›Nachkriegskinder‹ waren« (vgl. Leuschner & Weigand, 2011, S. 48). Gerhard Leuschner beschreibt hier die Epoche des Aufbruchs der Sozialen Arbeit und den Beginn von Supervision. In gewisser Weise kommt seine Kritik dem nahe, was Reinhard und Annemarie Tausch über diese Zeit sagten. Ein demokratischer Inhalt paarte sich mit einem autoritativen oder auch starren Rahmen. Das Anfragen des Rahmens gilt als Anfragen der Beziehung und als Angriff auf die Integrität der Leitung. Diese Tabuisierung wirkt sich belastend auf die Beziehungsentwicklung aus. Diejenigen, die den Rahmen anfragen, müssen schwere Schuldgefühle entwickeln, wenn sie zum Beispiel zur Antwort bekommen: Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen. Dass Leitungen auch Kritik aushalten müssen und eben ein Experimentieren und Verhandeln mit und um den Rahmen, wird zum wichtigen Thema der Gruppendynamik, aber auch der Beratung und Supervision. Gerhard Leuschner beschreibt, wie diese Konflikte ihn prägten und eine innere Vorstellung über die Bedeutung der Verhandlung in sozialen Beziehungen bei ihm beförderten. »Mich hat diese beidseitige Unfähigkeit zum Verhandeln mit den offensichtlichen gegenseitigen autoritären Annahmen und Unterstellungen in diesem sozialpsychologischen Rahmen unvergesslich geschüttelt. Dieser Lernschock hat vermutlich zu dem inneren Entschluss geführt, Kontraktverhandlungen als eine zentrale Bedingung für Beratungsbeziehungen und Beratungsprozesse zu entwickeln. Ich habe dazu einem meiner wichtigsten gruppendynamischen Lehrer Dr. Otto Hürter zu seinem 91

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70. Geburtstag (1997) einen Aufsatz ›Vom Bestimmen zum Verhandeln‹ gewidmet. Im Vorwort heißt es dort: Aus dem Blickwinkel ›Leitung und Prozeß‹ habe ich dort supervisorische Arbeit als Entwicklung einer Verhandlungskultur fokussiert, die auf der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gruppe und der überparteilichen Reflexion von Interessenskonflikten basiert. Aus der Analyse initialer Kontraktprozesse wird dabei deutlich, dass die Begriffe ›Kundenorientierung‹ versus ›Diagnoseorientierung‹ nicht unbedingt gegensätzliche Pole sein müssen. Die Expertise gruppendynamisch geschulter Supervisoren besteht darin, dass sie sowohl ›Leiter des Settings‹ sind, als auch Begleiter eines Gesprächsprozesses, in dem unterschiedliche Interessen im institutionell/gesellschaftlichen Kontext reflektiert und ausgehandelt werden. Ich habe Anfang 1982 im ersten Editorial der Zeitschrift Supervision geschrieben: ›Grundlage der Beratung ist das Verstehen – nicht das Billigen oder sich Zueigenmachen – der gedanklichen und psychischen Position der Parteien in sozialen Spannungen und Konflikten. Der Prozeß der Beratung ist der mühsame Weg der Verhandlungssuche. […] Die unaufhebbare Spannung rollen- und gruppenspezifischer Interessensgegensätze muß über Verstehen und Verhandeln erträglich und bejahbar werden. Dies ist ein ständiger sozialer Lernprozeß zum demokratischen Menschen, wie ebenso ein innerpsychischer Prozeß: es ist schwer, die eigene Position nicht zu verlieren und gleichzeitig die Situation und den Prozeß des Gegenüber nachzuvollziehen. Dieser Lernprozeß zielt die Dialektik von Nähe und Distanz, von Trennung und Verbundenheit an, die in der beraterischen Arbeit verharmlosende Harmoniebestrebungen einerseits und Vernichtungskriege andererseits zu überwinden sucht. Supervision findet ihre Grenze dort, wo der Mächtigere sein Ergebnis mit Gewalt und Unterdrückung herbeiführen muß bzw. an tabuisierte Normen von Institutionen stößt, die nicht mehr hinterfragt werden dürfen‹ (Leuschner, 1982, S. 5)«.

Das Konzept des Dreieckskontraktes In der Supervision werden anders als in vielen anderen Beratungsformaten Absprachen zwischen dem/der Ratsuchenden (Supervisanden) und dem/der BeraterIn (SupervisorIn) sowie einer möglicherweise beteiligten Institution als Kontrakte bezeichnet. Gerhard Leuschner gilt als Begründer und »Erfinder« des Dreieckskontraktes und einer entsprechenden Kontraktethik. Die Kontraktierung steht an einer herausragenden Stelle seiner Beratungsauffassung und impliziert faktisch, dass der Klient/die Klientin und Ratsuchende in erster Linie als unabhängig 92

Die Beziehung in Beratung und Supervision

und als Rechtssubjekt und nicht als zu führen betrachtet wird. Diese Auffassung von Beratung als einer Beziehung, die es immer wieder zu kontraktieren gilt, hat Gerhard Leuschner auch dann offensiv vertreten, als ihm wegen dieser Auffassung berufliche Nachteile drohten. »Zur Entstehung des Dreieckskontraktes habe ich 1987 bei den ersten Aachener Supervisionstagen ein Referat gehalten: ›Fragen zum gesellschaftlichen Standort von Supervision‹, veröffentlicht in ›Diagnose und Intervention in Supervisionsprozessen‹ (1988). Ich habe dort die experimentelle, pragmatische Erweiterung von Supervision von zunächst Einzel- und Gruppensupervision zur Teamsupervision benannt. Dadurch veränderte sich: Teamsupervision fand immer mehr in den Institutionen statt, wo die Teams arbeiteten, und die Arbeit von Supervisoren wurde damit in Institutionen öffentlich. Kooperations- und Konfliktdynamik in symmetrischen und asymmetrischen Teams wurde mehr und mehr Thema neben Fallbesprechungen. (Meine beschriebene erste Supervisionserfahrung in der Bewährungshilfe in Freiburg hatte bereits Ansätze einer öffentlichen Supervision, die man zu einer TeamSv hätte entwickeln können; aber dort kam niemand auf diese Idee.) Mit Beginn der Teamsupervision als Format wurden immer häufiger Leiter von Institutionen Auftraggeber und damit Kontraktpartner für Supervisoren. Anfangs waren diese vorsichtig zurückhaltend bzgl. eigener Wünsche und Zielvorstellungen an die Supervision, was sich relativ schnell veränderte. Supervisoren mussten somit mit Supervisanden, mit Teams oder Gruppen und zunehmend auch gleichzeitig mit Institutionsvertretern Kontrakte aushandeln. Ich habe den Begriff Dreieckskontrakt damals gewählt, um zu verdeutlichen, dass ich ein Dreieck mit gleichen Schenkeln, gleichen Spitzen und Winkeln als Verhandlungsbasis verstehe. Nicht der Supervisor, nicht die Supervisanden, nicht die Institution bestimmen Kontrakt und Setting jeweils allein, sondern alle drei ›Parteien‹ verhandeln und entwickeln Rechtsform und Arbeitsbündnis. Der Begriff Dreieckskontrakt wurde zum Begriffssymbol für die prinzipielle Gleichheit der Kontraktpartner « (vgl. Leuschner & Weigand, 2011, S. 44).

Die Beziehung in Beratung und Supervision In den 1960er Jahren revolutionierte die damals im Rahmen der ReeducationProgramme demokratisch ausgebildete Generation der neuen SozialarbeiterInnen die Tradition der Fürsorge in der Sozialen Arbeit und verabschiedete sich von Prinzipien des Bewahrens und Sorgens. Dagegen wurden Prinzipien von Freiheit 93

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und Anerkennung in die Beziehung zwischen SozialarbeiterInnen und KlientInnen als sinnstiftende und eher »haltende« denn bewahrende Formate konzipiert. »Ich habe mich immer als Konzeptentwickler von Supervision und als reflektierender Praktiker verstanden, der freiberuflich als Supervisor und als Aus- und Fortbildner von und für Supervisoren arbeitet. Die Professionalisierung von Supervision und die Arbeit als ›Berufssupervisor‹ sind hier meine Fokussierungen. Methoden, Settings, Kontrakte als Arbeitsbündnisse und als Rechtsverhältnisse sind für mich Essentials für meine berufliche Arbeit; das Wichtigste ist die Person im institutionellen Arbeitszusammenhang und die Beziehungen dort. Mit Eva Jaeggi bin ich einig, wenn sie für die Wirkung von Psychotherapie sagt, etwa 85 Prozent der Wirkung von Psychotherapie sei auf Beziehungsvariablen zurückzuführen. In meinem Aufsatz ›Supervision – eine Kunst der Beziehung‹ habe ich zusammengefasst, was ich damit meine: Supervisoren haben es mit dem Menschen und seiner Arbeit zu tun, und menschliche Arbeit vollzieht sich weitgehend in Organisationen, die die Arbeit und deren Ziele entwickeln. Damit werden auch Rollen als die Summe der Erwartungen an den arbeitenden Menschen bestimmt, festgelegt oder vereinbart. Wir haben es somit mit Arbeitsbeziehungen zu tun und damit mit einzelnen Menschen, ihren Rollen und den Gruppen und Organisationen, in denen sich Arbeit vollzieht. In unserem Blick ist das, was uns berichtet wird, und das, was wir beobachten in den Arbeitsbeziehungen. Gleichzeitig erleben wir und beobachten wir das, was zwischen den Supervisanden und uns geschieht. Beobachten vollzieht sich mehr in distanzierter Betrachtung. Im Erleben drücken sich die Empathie und die unmittelbare Gefühlsnähe aus, wir sehen uns selbst, wir betrachten auch uns in der Beziehung zum anderen aus einer gewissen Distanz. Wir sind unsere eigenen teilnehmenden Beobachter. Fachlich nennen wir dies oszillierendes Verstehen, sich und den anderen in Beziehung und in Interaktion zu sehen, herauszufinden, was gerade geschieht und was es bewirkt. Aber viel mehr noch gilt es zu entschlüsseln, welche Gefühle, Beweggründe, unausgesprochenen Ziele, verborgenen Wünsche oder Ängste mich und den anderen bewegen. Das Erkennen des Sichtbaren und die Suche nach dem Verborgenen braucht unsere dauernde aufmerksame Neugier in der Entwicklung zwischenmenschlichen Verstehens. Diese Neugier des Erschließen und VerstehenWollens zum Beruf gemacht zu haben, ist Grundlage supervisorischen Tuns. Oszillierendes Verstehen drückt die gleichzeitige Fähigkeit zu Nähe und Distanz aus, die Fähigkeit zu Empathie und Konfrontation im Sinne von Gegenüberstellung. Die Kunst der Beziehung besteht darin, ein Vertrauen zwischen Supervisor und Supervisanden zu entwickeln, ohne parteiisch zu werden, ohne sich für eine Position vereinnahmen zu lassen, ohne die Position des Dritten aufzugeben, wenn wir die 94

Zur Beziehung in ungleichen Machtverhältnissen

Supervisanden in ihren Beziehungen begleiten« (vgl. Leuschner & Weigand, 2011, S. 53).

Zur Beziehung in ungleichen Machtverhältnissen Im Beratungsdiskurs spielt die Frage der Macht eine herausragende Rolle. Zwischen Ratsuchenden und BeraterIn besteht eine grundsätzliche Spannung hinsichtlich der Asymmetrie und des institutionellen, häufig aber auch wissens- und leistungsbezogenen Machtgefälles. Dies ist die Frage des Kontraktes. Umgekehrt sind jedoch auch BeraterInnen häufig in einer abhängigen Position, wenn sie im Rahmen eines Dreieckskontraktes beraten und die Position der Leitung/der Institution zu berücksichtigen haben. Auch hier kann eine Schamdynamik entstehen, wenn der/die BeraterIn sich vom Auftrag abhängig fühlt und die Institution die Beratung einseitig für eigene Interessen einvernehmen will. Diese Spannung spielt vor allem in der Ausbildung und in der Praxis von Supervision eine Rolle. SupervisorInnen machen häufig die Erfahrung, dass ihre Arbeit von Leitungen infrage gestellt oder entwertet wird. Supervision kann als Eingriff in die Autonomie und Souveränität der Leitung aufgefasst werden. Der Umgang mit der Institution oder dem Habitus von Leitungen erfordert eine eigene Fähigkeit, zu der sich Leuschner wie folgt äußert. »Ich biete hier zur Illustration einer stärkenden Beziehung meine Sichtweise zu dem Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen an. Man erlebt dort längere Zeit eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Ungleichen. Der Große König und der freie Philosoph versuchen sich freundschaftlich zu nähern. Voltaire verletzt dabei nie die Etikette, das rollengemäße Verhalten eines Mannes ohne formalen gesellschaftlichen Rang gegenüber dem König, der Zeit gemäß. Und doch wird der Franzose nie der Untertan des Preußenkönigs, und beide wissen das. Der König wirbt um die Nähe Voltaires, um dessen Identifikation. Voltaire zeigt Einfühlung und Verständnis, ja auch Zuneigung, die etwas Liebevolles hat. Aber nie kann man vermuten, dass er seine Freiheit und Unabhängigkeit in Gefahr bringt oder gar aufgibt. Der König kennt kaum jemanden in seiner Umgebung, der sich ihm nicht unterwirft. Voltaire dagegen wird kein ›Berater von Königs Gnaden‹, wie Friedrich natürlich viele hat. Der König hört nicht auf, Voltaire in eine für den König gewohnte Umgebung, in einen Bezug, zu drängen und weiß gleichzeitig, dass er dies eigentlich nicht wünschen kann, weil dadurch die Besonderheit und der Wert dieser Beziehung enden würde. Voltaire sagt dem König Gedanken, Gefühle, Sichtweisen, in gebotenem Ton, 95

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in angemessenem Stil, versteht sich, die der König sonst nicht zu hören bekommt. Der König sagt Voltaire Nöte, Sorgen, Beurteilungen, die er sonst kaum auszusprechen pflegt. Schließlich gibt es in dieser Beziehung auch die andere Seite. Als Voltaire sich trennen und ohne königliche Erlaubnis das Land verlassen will, wird er inhaftiert. Daraufhin schreibt er dem König: ›Der Schatz Ihrer Weisheit ist verdorben durch die unselige Freude, die es Ihnen immer gemacht hat, alle anderen Menschen demütigen zu wollen‹« (Pleschinski, 1992 in Leuschner, 2007, S. 15f.). Der König hat die Macht, den Philosophen einzusperren. Die Freiheit des Denkens, des Sprechens und damit die Freiheit zur Konfrontation als Gegenüberstellung kann er ihm nicht nehmen. Nun sind wir nicht Voltaire und unsere Auftraggeber sind nicht Könige. Dennoch wünschen auch wir uns ein Stück der Nähe und der Freiheit, der Loyalität und der Unabhängigkeit aus dieser Geschichte einer stärkenden Beziehung. Vielleicht auch etwas von dem, was De Gaulle, der General und Staatspräsident, in anderem Zusammenhang bezogen auf Sartre erkannt hat: ›Voltaire sperrt man nicht ein.‹«

Dimensionen des Dreieckskontraktes: Die Institution als die Erste im Dreieck Gerhard Leuschner wirbt für ein Professionsmodell in der Supervision im Sinne von Fähigkeiten und einer autonomen Position des Supervisors/der Supervisorin, welche diese/dieser habituell auch ausfüllen muss. Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Transparenz sollen die Arbeit des Supervisors auszeichnen. Das Verhältnis von Beraten und Leiten bedarf immer wieder der Reflexion durch den/die SupervisorIn. »Supervisoren haben oder bekommen nur dann honorierte Arbeit, wenn sie mit Personen oder Institutionen und deren verantwortlichen Rollenträgern Vereinbarungen finden. Das bedeutet: Die Beziehung zu dem, der über das Geld entscheidet, ist Voraussetzung dafür, dass die Beziehung zu dem, der beraten werden will, überhaupt aufgenommen werden kann. In der Geschichte der Supervision hat sich aus der dyadischen Beziehung ›Supervisor – Supervisand‹ die Triade ›Supervisor – Supervisand – Institution‹ entwickelt. Die Institution wurde der Dritte im Dreieck. Heute ist die Institution Erste im Dreieck. Das ist aus meiner Sicht der Paradigmenwechsel in der gesellschaftlich bedingten Supervisionsbeziehung; denn ohne Klärung des inhaltlichen und finanziellen Rahmens beginnt keine Supervision. Die Beziehung 96

Akquisition als Vertrauensentwicklung

zum Auftraggeber ist die Voraussetzung für die Beziehung zum Beratungssuchenden. Bestehende Supervisionsstrukturen etwa für fortlaufende Teamsupervisionen sind tendenziell Auslaufmodelle. Jedenfalls kann kein Supervisor von etablierten laufenden Supervisionsprozessen leben. Supervision finanziert sich nicht mehr primär aus Etatpositionen, die institutionell beschlossen sind, sondern Supervision finanziert sich aus institutionellen Notwendigkeiten, die Entscheidungsträger als solche ansehen und verändern möchten oder müssen. Dafür holt man Berater, dafür werden Mittel bereitgestellt« (vgl. Leuschner, 2007, S. 15).

Akquisition als Vertrauensentwicklung »Supervisoren können sich das Vertrauen von Auftraggebern erarbeiten, indem sie sich in der Beziehung zu ihnen verdeutlichen. Was heißt das? Wenn ich Auftraggeber sage, dann meine ich Rollenträger in Organisationen wie Abteilungsleiter bis Bürgermeister in Kommunen, Heimleiter, Geschäftsführer oder Vorstände bei freien Trägern, Medizinische Direktoren bzw. Pflege- oder Verwaltungsdirektoren in Krankenhäusern oder Geschäftsführer als Chef einer Betriebsleitung, Pfarrer oder Superintendenten in der Ev. Kirche, Leiter von Werksabteilungen oder Geschäftsführer oder Eigentümer mittelständischer Unternehmen. Auftraggeber können Verantwortliche kleinerer Bereiche oder hochangesiedelte Rollenträger sein. Wenn solche Rollenträger eigene Beratung suchen, also selbst Supervisanden werden, dann ist es in der Regel für Supervisoren leicht, in ihre gelernte Beraterrolle zu schlüpfen und eine vertrauensvolle Beratungsbeziehung zu entwickeln. Wenn solche Rollenträger jedoch entsprechend ihren Rollengewohnheiten als Auftraggeber einen Berater kontaktieren, dann ist die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung in Augenhöhe für beide Seiten nicht so einfach. Supervisoren haben solche Beziehungsentwicklungen mit institutionellen Autoritäten in ihrer Ausbildung wenig oder überhaupt nicht gelernt. Und Leiter wollen zunächst – besonders wenn sie hoch angesiedelt sind – nicht in den Verdacht geraten, selbst Beratung zu benötigen, auch wenn es anders sein sollte. Die Kunst der Beziehungsentwicklung zwischen Leitern und Beratern verstehe ich wie zwischen Voltaire und Friedrich als Entwicklung eines ›impliziten Kontrakts‹. Das ist eine Verständigung, ein Verstehen, eine Übereinstimmung, die allein mittels vertraglicher Regelungen nicht zu finden ist, die Vertrauen ermöglicht und Distanz nicht aufhebt.« »Vertrauen entwickelt der Supervisor als Beziehungsexperte durch einen scheinbar unmöglichen Spagat. Er hat sich schnell in die fachliche Situation des Auftragge97

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bers einzuarbeiten. Er muss durch Exploration und Feingefühl die Vorstellungen, Wünsche und Sorgen seines Gegenübers nachvollziehen lernen, als wäre er der andere. Und damit dem Gegenüber das Gefühl vermitteln, nicht mehr allein zu sein (was ein Chef ansonsten ist). Und gleichzeitig ist es für den Supervisor nötig, die Identifikationsangebote, die daraus folgen, nicht anzunehmen, aber auch nicht zurückzuweisen. Auch die geheimen Rollenzuweisungen, die in der Gegenübertragung spürbar sind, ja manchmal zwingend angeboten werden, zu erkennen, nicht zurückzuweisen, aber auch nicht anzunehmen. Wenn das Gefühl des Auftraggebers wächst, der Supervisor versteht mich, und er bleibt ein zugewandtes Gegenüber, ohne mir nach dem Munde zu reden, dann entwickelt sich daraus Vertrauen in die Unabhängigkeit und die gleichzeitige Loyalität des Supervisors. Glaubhaft zu verwirklichen ist dieses Beziehungsverhalten nicht als Strategie oder als Taktik. Wenn der Supervisor keine Wertschätzung für die Arbeit der Organisation und des Leiters bei sich entwickeln und erleben kann, dann kann das Verhalten als zugewandtes Gegenüber nicht zur Haltung werden und bleibt Fassade, die über kurz oder lang blättert. Mein Balintlehrer Dieter Eicke fragte in schwierigen Beziehungssituationen immer: ›Was finden Sie Liebenswertes an Ihrem Klienten?‹ Wenn das nicht zu finden war, dann endete damit die Supervisionsbeziehung, weil der Supervisor in diesem Falle zu dieser Beziehung nicht in der Lage war. Somit kann ich als Supervisor auch nicht mit jeder Organisation und jedem Leiter arbeiten, auch wenn die Rahmenbedingungen verlockend sein mögen« (vgl. Leuschner, 2007, S. 18).

Loyalität zum Auftraggeber und zum Supervisanden Für Gerhard Leuschner lässt sich ein Professionsmodell von Beratung nur dann erreichen, wenn es dem/der BeraterIn gelingt, eine wechselseitige Loyalität in der Beratung zu entwickeln. Die Anwaltlichkeit darf also nicht wie beim realen Anwalt einseitig aufgelöst werden. Parteilichkeit oder auch Identifizierung ist demnach kein Prinzip in einem professionellen Beratungsverständnis, sondern vielmehr Reflexivität. »Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung von Supervision ist zu kompensieren durch die Loyalität zum Auftraggeber. Voltaire war loyal und blieb frei. Loyal sein, heißt für mich vertragstreu sein und bedeutet, die Interessen anderer zu achten. Diese Loyalität zum Auftraggeber hebt die Loyalität zu Supervisanden nicht auf und macht diese auch nicht nachrangig. Hier liegt der Spagat, der nach beiden Seiten zu vertreten ist. Die Kunst der supervisorischen Beziehung besteht darin, die Ein98

Supervision ist Bildung und Problemlösung in Beziehungen

fühlung und das Verständnis im Konfliktfalle nach beiden Seiten zu halten und dann – also danach, gewissermaßen nachrangig – um die Wahrnehmungserweiterung nach allen Seiten zu ringen. Immer wenn sich Supervisoren in diesen Prozessen auf eine Machtebene begeben – sei es Auftraggebern oder sei es Supervisanden gegenüber –, dann geht die für Wahrnehmungserweiterung notwendige Entspannung der Szene verloren. Um Wahrnehmungserweiterung kann man werben, aber nur sehr begrenzt kämpfen, wenn dann mit eigener Autorität und Überzeugungskraft, nicht mit Macht« (vgl. Leuschner, 2007, S. 19). »Die einzige Macht des Supervisors im Max Weberschen Sinne besteht m. E. darin, dass er eine Beziehung und einen Kontrakt beenden kann, wenn er dies für nötig hält. Der Supervisor hat die Macht der Selbstbewahrung durch Trennung. Wenn der Supervisor Vertrauen gewinnt, dann hat er Einfluß und Autorität« (Leuschner, 2007, S. 19). »Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung von Supervision lässt sich kompensieren, wenn mehr und mehr bei Auftraggebern die Erkenntnis wächst: Supervisoren sind Beziehungsexperten, die loyal und überparteilich beraten. Supervisoren erschließen dem Auftraggeber Sichtweisen und Zusammenhänge, die er von internen oder anderen externen Experten aufgrund deren Interessenslage bzw. Abhängigkeit auch bei ähnlicher fachlicher Kompetenz nicht erhalten kann. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Sichtweise nur vermittelt werden kann, wenn man sie als Supervisor selbst hat, wenn sie zur eigenen Haltung und Identität geworden ist. Das ist das ›eigentlich Supervisorische‹« (Lehmenkühler-Leuschner & Leuschner, 1997, S. 58).

Supervision ist Bildung und Problemlösung in Beziehungen Beratung und Bildung liegen als Methoden in der Pädagogik und in der Sozialen Arbeit eng beieinander. In der Supervision hält über den Reflexionsbegriff ebenfalls ein Bildungsverständnis Einzug. Der/die Ratsuchende soll aber nicht belehrt, sondern seine/ihre Erkenntnisse sollen gefördert werden. Sachbildung, Affektbildung und Sozialbildung sind Dimensionen der Veränderung und des Lernens, die Leuschner der Beratung und der Supervision zuschreibt. »Wenn ich Supervision als Bildungsprozess verstehe, dann unterscheide ich mit Mitscherlich drei Bildungsebenen: Sachbildung, Affektbildung und Sozialbildung (vgl. Mitscherlich, 1973, S. 26ff.). Was heißt das? Sachbildung ist zu unterscheiden von 99

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Sachkenntnis. Ein Supervisor kann ein reiches Methodenrepertoire haben, er kann über Interventionstechniken für viele Situationen verfügen und damit berufstauglich sein; als sachgebildet würde man ihn erst bezeichnen, wenn er seine Methoden einzuordnen weiß in die geistigen Zusammenhänge der Theorien und Wertordnungen, aus denen heraus solche Methoden erwachsen sind. Seine Fachkenntnis kann zur Sozialtechnik des Verkaufens von Problemlösungsstrategien werden; seine Fachbildung kann aber auch zu einer Berufskultur werden, die nicht ausschließlich der Existenzsicherung dient. Ich meine die Neugier und Suche für das Verstehen von Menschen im Beruf und Organisationen als Sinnorientierung. Sachbildung ist ohne Bezug zur Selbstreflektion und ohne gestaltenden Einfluss auf soziales Verhalten nicht leistbar. Sachbildung zeigt sich auch in einer Neugierhaltung, die über den jeweiligen Supervisionsauftrag hinausgeht. Affektbildung geht vom Verhalten des Menschen im Zustand der Gefühlserregung aus. Als affektgebildet bezeichnen wir Menschen, die, auch wenn sie hungrig, zornig oder liebesbedürftig sind, noch die Wahrnehmung für sich und ihr Gegenüber behalten und ihre Gefühle handhaben bzw. steuern können. Wohl wissend, dass das ›Ich nicht Herr im eigenen Hause‹ ist, bedarf es in der Affektbildung des lebenslangen Versuchs, die Triebüberschüsse im Aggressions- und Liebesstreben zu sozialisieren. Gemeint ist hier keine unreflektierte Überanpassung an Sozialgebote, sondern der ständige Versuch einer Umwandlung von ungesteuerter Aggression in Aktivität und Leistung und der Umwandlung von Sexualdrang in liebende Beziehung. ›Affektbildung kann also nur heißen, dass die Konflikte zwischen den unausweichlichen inneren Drangerlebnissen und den sozialen Normen gemildert werden, dass wir eine innere Toleranz für den Umgang mit Konflikten entwickeln […]. Die Kultur der Affekte ist das schwerste Bildungsziel. Mehr von sich selbst, von der Wirklichkeit über sich selbst […] zu wissen, ist nur in schmerzhaften Erfahrungen zu erreichen‹ (Mitscherlich, 1973, S. 34).

Sozialbildung ist das Zusammenfügen von Sach- und Affektbildung. Sie zeigt sich z. B., ob bei Sparprogrammen in Organisationen gerecht verteilt wird oder ausschließlich macht- und interessengebunden. Sozialbildung zeigt sich im Umgang mit Fremdem in Gruppen und in der Gesellschaft. Wieweit gelingt es in der Supervision, die Neugier für Fremdes zu erhalten oder zu entwickeln? Sozialbildung zeigt sich auch in der Fähigkeit zu Solidarität, zu Einfühlung und zu Rollendistanz und nicht zuletzt in dem Respekt oder gar der Akzeptanz des Rechts der Anderen. Sozialbildung ist auch das anwendbare Wissen darum, dass Institutionen immer sowohl 100

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und deren Vermittlung

ordnen wie auch entfremden. Wenn ich das Wissen um die Doppelpoligkeit von Institutionen ernst nehme, dann kann ich mich als Supervisor nicht vorbehaltlos mit Institutionen identifizieren. Und das gilt auch und insbesondere für die eigene Institution. Es gibt abgeschlossene Ausbildungen, aber es gibt keine abzuschließende Bildung. Während Bildung somit tendenziell endlos ist, versteht sich Problemlösung tendenziell ergebnisorientiert und zeitlich begrenzt. Supervision als Problemlösung ist in der Regel das Anliegen von Supervisanden und Auftraggebern. Supervision als Bildung verstehe ich als die Matrix, auf der sich Problemlösung in der Supervisionsbeziehung entwickelt. Auf diesem Hintergrund präsentiert sich das eigentlich ›Supervisorische‹ als Einstellung und Haltung zum Menschen und zu Organisationen, geprägt durch supervisorische Bildung. Methoden und Fachkenntnisse im Umgang mit der Rolle sind das notwendige Handwerkszeug dazu. Die intuitive Verknüpfung aus Bildung und handhabbaren Wissen macht die Identität in der beruflichen Arbeit aus« (Leuschner, 2007, S. 20).

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und deren Vermittlung Für Leuschner ist Supervision und der Binnenraum der supervisorischen Beziehung eine unmittelbare Erfahrung von Reflexivität. Diese Erfahrung verändert die Persönlichkeit und bewirkt einen Zuwachs an Kompetenzen für den Beruf, die auch über die Beratungsrolle hinaus eingesetzt werden kann. Beratung und Supervision stärken, das ist Leuschners Überzeugung die Identität und bilden einen wichtigen Schutzfaktor. »Auffallend ist für mich, dass inzwischen eine größere Zahl von Supervisoren in Leitungspositionen arbeitet. Ich kenne beispielsweise Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen und Wohlfahrtsverbände, Medizinaldirektoren, Pflegedirektoren, Schulleiter und Personalchefs, die betonen, wie zentral wichtig ihnen ihre supervisorische Bildung in der Leitungsrolle ist. In meiner Arbeit mit ihnen bestätigt sich das vergleichsweise, weil ich ja auch mit Leitern arbeite, die diese Vorbildung als Supervisor – oder besser gesagt, diese Tertiärsozialisation – nicht erfahren haben. Was ist es also, was sie mehr können? Sie verstehen mehr vom Menschen, sie sind beziehungsfähiger, sie sind reflexionsbereiter, sie beziehen sich in die Reflexion mit ein, sie schauen voraus, planen, diagnostizieren, sie leiten ihre mittleren Führungskräfte motivierend, fördernd-fordernd, weniger autoritär, mehr mit Überzeugungskraft. Sie achten auf die Bearbeitung von Konflikten und suchen dafür Settings. Und schließlich ist es für sie selbstverständlich und nicht kränkend, sich immer wieder 101

2 GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik …

selbst in Supervision zu begeben, weil sie einfach wissen, dass man manche Vorgänge oder Erlebnisse nur über das reflektierende Gespräch mit dem unbefangenen, außen stehenden Fachmann verstehen lernt. Die Fähigkeit zur Selbstreflektion ist bei gelungener Supervisionsausbildung verinnerlicht. Die Frage nach dem ›eigentlich Supervisorischen‹ beantwortet sich also indirekt: Die Einstellung und die Haltung zum Menschen sind durch die supervisorische Bildung geprägt, die Methoden und Fachkenntnisse im Umgang mit der Rolle sind das notwendige Handwerkszeug dazu. Und die intuitive Verknüpfung aus der Bildung und dem handhabbaren Wissen machen die Identität in der supervisorischen Arbeit aus« (vgl. Leuschner, 2007, S. 21).

Abschließend: Zur fachlichen Autoritätsentwicklung und Kraft zur Begrenzung Leuschners Professionsmodell ist ein unmittelbar normatives und ethisches. Werte wie Vertrauen, Loyalität und die Kontraktethik prägen das Verständnis einer professionellen Beratungspraxis. Zur beraterischen Kunst gehört es, von der funktionalen Arbeit bzw. dem funktionalen Auftrag zu einem echten inneren Kontrakt zu kommen. In der Supervision spiegelt sich sehr schnell die gesamte Kultur der Organisation: Teams, die keine Zeit haben, zur Supervision zu kommen, Lücken und Fehler in der Kommunikation, Ärger über das Verschulden von KollegInnen und Vorgesetzten, ohne den Gesamtzusammenhang zu betrachten. An dem/der BeraterIn/an dem/der SupervisorIn wird ausgetragen, wie die Organisation funktioniert, er wird zum/zur AnalysatorIn. »Sehr oft beginnen Aufträge mit begrenzt-umrissenen Problemlösungsaufgaben. Der Auftraggeber wünscht eine zielgerichtete möglichst wenig zeit- und kostenaufwendige Veränderung einer Situation. Wenn man dem in komplexen Organisationszusammenhängen folgt, dann ergibt sich oft ein ›trial and error‹-Verfahren mit der Übersetzung von Vorgehensweisen aus vergleichbaren Situationen. Mit einiger Intuitionskraft kann die Problemlösungsquote bei diesem Verfahren durchaus hoch sein. Manchmal ist dieses Vorgehen auch die einzige Möglichkeit des Zugangs in eine Organisation, weil der Auftraggeber nichts anderes kennt und vor der Vertrauensentwicklung auch nichts anderes zulässt. Auch in diesen Prozessen wird die verinnerlichte Haltung den Supervisor neugierig fragen und suchen lassen, um Hintergründe für einen Zustand zu erfahren, zu erkennen. Die Leidenschaft zur Wahrnehmungserweiterung als Bildungsgrundlage hört auch in fokussierten Pro102

Abschließend: Zur fachlichen Autoritätsentwicklung und Kraft zur Begrenzung

zessen als innere Einstellung nicht auf lebendig zu bleiben. Meine Identität als Supervisor verändert sich auch in kurzen Problemlösungsprozessen nicht. Nicht immer gelingt es, die Verstehensneugier für Hintergründiges bei Auftraggebern zu wecken, dann endet die Zusammenarbeit mit einem kurzen Auftrag. Gelegentlich gibt es Spätwirkungen, indem Anregungen, Gedanken, Fragestellungen wie ein Ohrwurm weiter wirken. Dann schreibt beispielsweise ein Auftraggeber nach einiger Zeit in neuer Kontaktaufnahme: ›Unser Beratungsprozeß ist schon eine Weile her und hinterlässt doch noch immer seine Wirkung. Sie haben uns einige Impulse gegeben, um zu verstehen und zu verändern. Rufen Sie uns bitte an.‹ Das tue ich dann auch« (Leuschner, 2007, S. 22).

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3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

Beratung als Profession zu begründen, um so aus dem Dilemma von Psychotechnik und Gouvernementalität herauszufinden, muss zwangsläufig bei der Professionsethik beginnen. Micha Brumlik (2000, S. 29) bezeichnet die Professionsethik als eine »dünne« Ethik, in deren Mittelpunkt der Grundsatz steht »Tu dem dir Anvertrauten nichts Schlechtes« (ebd., S. 22ff.). Er nennt Merkmale der Professionen, wie zum Beispiel eine wissenschaftliche Ausbildung. Das positive Wissen sei das erste Merkmal der Professionen. Professionelle müssten zweitens fähig sein zum Fallverstehen und in der Lage sein, »die Person, die vor sie tritt, mit ihrem Leiden, mit ihren Problemen, in ihrer Einzigartigkeit zu verstehen und vor dem Hintergrund ihres natur- oder sozialwissenschaftlichen Wissens beurteilen und einschätzen zu können« (ebd., S. 29). Schließlich sei drittens – das habe schon die alten Berufe gekennzeichnet – eine Professionsethik vonnöten, die Brumlik unmissverständlich an eine Idee des guten Lebens bindet. Diese Vorstellung vom guten menschlichen und gerechten Leben versteht Brumlik als tragend für jede Profession, um mit der Macht, die sie notwendig durch ihre moralische Autorität hat, richtig umzugehen. Brumlik führt hier den hippokratischen Eid in der Medizin an, die ethische Verpflichtung, den konkreten »Patienten, der vor einem steht, zum Zentrum seiner Bemühungen zu machen und sich ausschließlich seiner Gesundwerdung zu widmen« (ebd.). Bei Anwälten wiederum gibt es das berufsethisch und gesetzlich festgelegte Verbot des Klientenverrats. Beides sei mit Vertrauensschutz verbunden. Interessanterweise, so Brumlik (ebd., S. 30), verfügten die sogenannten Semiprofessionen, nämlich die SozialarbeiterInnen, über dieses Privileg des Zeugnisverweigerungsrechts nicht. Professionsethik fasst Brumlik als minimalistische, »dünne« Ethik zusammen, die das Verbot des instrumentalisierenden, verächtlichen und ernied105

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

rigenden Verhaltens auf der einen Seite umfasse und auf der anderen Seite die Aufforderung, unabhängig von der Person des Klienten/der Klientin, sich für diese/n anzustrengen und seine Kompetenz und sein Wissen in diesen Dienst zu stellen. Niemand wird heute bestreiten, dass in Beratungskontexten – sei es in der Sozialberatung von Amts wegen, also im Kontext der Jugendhilfe, im Kontext der Arbeitslosenhilfe, im Kontext der Pflege etc. – über existenzielle Fragen eines menschlichen Lebens entschieden wird. Ob Sorgerecht entzogen, Hilfen gekürzt oder bewilligt werden, entscheidet nicht nur über die materielle Existenz, sondern auch über Identität und Identitätskrise. Allein diese Dimension würde einen Zuwachs an beraterischer Freiheit und an beraterischen Rechten rechtfertigen. Diese Rechte wiederum müssen zwangsläufig in einer wissenschaftlichen Ausbildung wurzeln, so wie sie als Merkmal von Professionen beschrieben wurde. Beratung, die sich lediglich als Methode und Technik versteht, ausgeübt von Semiprofessionellen oder Verwaltungsangestellten, wird zwangsläufig gegenüber den Regelwerken und Interessen der Institutionen zu wenig Verhandlungsfreiheit haben, um über die Klienteninteressen überhaupt verhandeln zu können. Die Konsequenz ist, dass durch die zu große Nähe der Beratenden zur Institution und einem zu großen Mangel an professionellem Selbstverständnis die advokatorischen Funkionen, die Brumlik als Merkmal der Professionen anführt, sich nämlich zum Anwalt machen zu können und über Lebenswege mitzuentscheiden, automatisch in das alte Dilemma von Pastoralmacht und Scham münden. Die advokatorische Grundhaltung eines professionellen Beraters oder einer Beraterin wird umgekehrt zwangsläufig am Einzelfall, an der Idee eines menschlichen Lebens, nicht an Ordnungsfunktionen in der Beratung ansetzen.

Pastoralmacht und Scham Wer die Wirkung der im ersten Kapitel beschriebenen psychotechnischen und gouvernementalen Beratungsformate auf die Psyche und Persönlichkeit der Ratsuchenden verstehen will, wer ebenso die Rolle des Beraters/der Beraterin und sein/ihr Handeln nachvollziehen will, braucht eine Theorie, die das »giftige Potenzial« der gouvernementalen Beratungsformate beschreiben kann. Diese Beratungsformate zeichnen sich nicht durch Solidarität, advokatorische Ethik oder Anerkennung aus, sondern durch eine eigentümliche Stellung des Beraters/der Beraterin. Bisher ist diese eigentümliche Stellung am besten von Michel Foucault (1984b) in seinem Buch Was ist Kritik? beschrieben worden. Foucault zeichnet die Entwicklung der Macht in der modernen Gesellschaft dahingehend 106

Pastoralmacht und Scham

nach, dass sie von einer äußeren, strafenden, kontrollierenden und disziplinierenden Macht zu einer inneren Macht geworden ist, zu einer Macht, die in der Seele Wirkung entfaltet und vor allem das Über-Ich anspricht. Schuldgefühle und Scham werden zu den wichtigsten Medien dieser Macht. Gelingt es, diese Emotionen kommunikativ herzustellen, ist der zu Führende führbar, allein um diese Emotionen wieder loszuwerden. Es geht also um die »innere Macht« bei Foucault und wie sie in Kommunikationsprozessen wirkungsmächtig wird. Eine erste Form der inneren Macht nennt Foucault die Pastoralmacht (ebd.). Die Pastoralmacht ist in gewisser Weise die Pervertierung der Reflexivität. Und so beginnt Foucault auch seine Argumentation: Der antiken Welt, die die Selbsterkenntnis durch Reflexivität durchaus kannte, sei die Idee völlig fremd gewesen, dass der Mensch zu Erlangung seines Heils einer lebenslangen Führung durch die Obrigkeit bedürfe (ebd., S. 9f.). Diese Form der Führung habe das Christentum entwickelt. Ausgehend von einer primären Sündigkeit des Menschen und einer Urschuld durch die Erbsünde entstünde eine Pflicht zur christlichen und vor allem gehorsamen Lebensführung, die umfassend im Alltag und auf individueller Ebene begleitet und geprüft wird. Diese Pflicht schließt die Offenlegung der intimsten Angelegenheiten mit ein und schafft dafür eine eigene Institution. Eine Beziehung im Rahmen eines umfassenden Gehorsamsverhältnisses wird begründet, die Auskunft über die innere Realität einschließt. Es herrscht erstens die Pflicht zur Wahrheit vor, zweitens das Prinzip der individualisierenden Erkennung und drittens wird durch allerlei Verhörtechniken und Institutionen das Gehorsamsverhältnis immer wieder hergestellt (ebd., S. 10). Immer wieder hat Foucault (vgl. Steinkamp, 1996; Friedrich, 2013) sich kritisch mit dieser institutionalisierten Herstellung von seelischer Abhängigkeit befasst und dagegen die Kritik gesetzt, als Wille, sich nicht so umfassend auf einer kindlichen Ebene regieren zu lassen. Was Foucault besonders an dieser Machtform der Pastoralmacht kritisiert, ist die strukturelle Entmündigung und die Verfügung über den Anderen, dessen Seele man glaubt führen zu müssen. Vor allem Gerhard Leuschner hat in den 1990er Jahren vom neurotisierenden Potenzial dieser Praxis der Seelenführung gesprochen. Sehr beeindruckend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Léon Wurmser (1993b) zur geradezu verheerenden Wirkung dieser Praxis. In Wurmsers Theorie zum Gewissen wird durch die Seelen- und Gewissensführung ein unreifes Über-Ich geradezu fixiert. Selbstverachtung und Selbstbestrafung herrschen in der Seele der so Geführten vor, Reflexivität und Selbstschutz können sich als reife Über-Ich-Funktionen nicht entwickeln. Für Wurmser sind diese unreifen Über-Ich-Funktionen der Quell schwerer seelischer Erkrankungen. 107

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

In der Theorie der Beratung spielen die Positionen von Foucault im Kontext der Diskussion von Kontrakt und Setting im Beratungsprozess eine wichtige Rolle und sind vor allem in der Supervision reflektiert worden. Wie kein anderes Beratungsformat hat sich die Supervision mit der Interessensspannung in ihren Settings befasst, wenn in der Supervision solche Probleme zutage treten, die die Interessen der Beteiligten berühren. Bleibt Beratung reflexiv, wenn sie das Spannungsfeld von institutionellen Interessen berührt, oder wird sie dann zur Ordnungsfunktion und deutet mithilfe der Psychologie Interessensspannungen zu Persönlichkeitsproblemen um? Was bedeutet es in der Supervision, wenn Kritik an den Arbeitsbedingungen als Nörgeln und Charakterfehler einzelner Personen hingestellt wird? Wenn praktische Vernunft abgesprochen wird? Wenn Kritik eine gruppen- und institutionsdynamische Außenseiterposition erzeugt? Als Beratungsformat geht Supervision, wie übrigens auch die sozialpädagogische Beratung, davon aus, dass Personen mittels ihrer praktischen Vernunft in der Lage sind, ihre Lebenskonflikte und Rollenkonflikte realitätsangemessen zu beschreiben und zu verhandeln. Eine wichtige Frage in der Supervision wie auch in anderen Beratungssettings ist, dass im Umgang mit den eigenen Lebenskonflikten, den Rollenkonflikten oder den sozialen Konflikten Übertragungen wirkungsmächtig werden, die an die infantile Position des/der Ratsuchenden anknüpfen. Freud hat schon 1921 in seinem Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse von diesen institutionellen Übertragungen gesprochen, die den Autoritäten gelten, mit denen man sich identifiziert. Ebenso finden institutionelle Übertragungen auf Institutionen statt (Steinkamp, 1992). Institutionen können angsterregend sein oder eine Größenfantasie versprechen. In der Supervision als Beratungsformat spielt die Frage eine wichtige Rolle, inwieweit die Arbeit in bestimmten Institutionen Übertragung im Sinne der Pastoralmacht fördert, wenn nicht Rollen und Funktionen die Arbeit und ihren Rahmen bestimmen, sondern eben kindliche Übertragungen und Abhängigkeitsgefühle. Im Kontext der Pastoralmacht gilt für bestimmte Beratungsformate, dass sie die infantile Position des/der Ratsuchenden und die Überhöhung der Institution oder der BeraterInnen dort befördern. Das ist bei den amtlichen Beratungsformaten der Fall. Die Übertragungsdimension auf eine infantile Ebene verhindert die Gestaltung von Kontrakt und Setting. Die Überwindung der infantilen Position des/der Ratsuchenden spielt seit Mollenhauer (1965) bei der Frage, wie Beratungsangebote zu konzipieren sind, eine zentrale Rolle. In den neuen Beratungsformaten, die als gouvernemental bezeichnet werden, verschiebt sich die Beratungsbeziehung weg vom pastoralen Modell. Nicht mehr 108

Scham und Bloßstellung als verborgene Begleitung der gouvernementalen Beratung

Führung und Disziplinierung spielen hier eine Rolle, sondern Überforderung. Die gouvernementalen Beratungsformate wie das Coaching, die systemischen und lösungsorientierten Beratungsformen sind konfrontativer. Sie wollen nicht überführen und Schuld und Geständnis hervorlocken, sondern erzeugen Druck. Nicht die individualisierte Erkennung (Foucault, 1984b, S. 10), sondern die aggressive Konfrontation wird zur Interventionsstrategie. Damit verschwindet das wissenschaftliche Verstehen aus der Beratung. Zu Beginn der 1990er Jahre hat Sighard Neckel in seinem Klassiker Status und Scham (1991) darauf aufmerksam gemacht, dass unter solchen Bedingungen eine neue Form individualisierter Scham entsteht. Das eigene Leben kann nicht mehr verstanden werden, sondern wird nur noch bewertet. Die Schamdynamik, die Sighard Neckel in diesem Zusammenhang mit konfrontativen Formaten beschreibt, heißt »vor Niedrigstehenden muss ich mich nicht benehmen«. Vor allem das Ehrgefühl wird negativ berührt, wenn Rituale der Zuvorkommenheit und der Ehrerbietung aus dem Beratungskontext verschwinden und einer fordernden, konfrontativen, aufdeckenden und damit häufig auch bloßstellenden Intervention Platz machen. In jedem Beratungsprozess spielen Schamgefühle eine Rolle (Hilgers, 2006; Gröning, 2012). Die Beratung ist eine asymmetrische und vor allem intime Situation, sodass die Scham als verborgene Dimension des Beratungsprozesses immer angenommen werden kann. Störungen im Beratungsprozess sind vielfach der Scham geschuldet, sodass es sich lohnt, sie gesondert zu betrachten. In den gouvernementalen Formaten von Beratung nimmt die Bloßstellung aber einen festen Platz ein, das ist das Neue an diesen Beratungsformen.

Scham und Bloßstellung als verborgene Begleitung der gouvernementalen Beratung Im Mittelpunkt einer Sozialtheorie der Scham steht der Körper als Träger des Habitus, der sozialen Stellung, und als Kleid für die Seele. Geschichtlich ist der Körper zum Objekt der sozialen Verfeinerung, heute der Selbstoptimierung geworden. Die Stile, die Pflege des Körpers dienen vor allem der Positionierung des Körpers im sozialen Raum und der sozialen Unterscheidung. Norbert Elias betont die Bloßstellung (1976, S. 346) als Auslöserin der Scham. Die Bloßstellung mündet nun wieder in die Selbstverachtung, denn Scham ist, so Wurmser (1993a, S. 79) eine Erfahrung, die das ganze Selbst erfasst und mit dem ganzen Selbst erfasst wird. Schamerfahrungen werfen so ein helles Licht auf uns, auf das, was und wer wir sind und in welcher Welt wir leben. Nach Max Scheler (1957 109

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

[1913]) entsteht Scham im Akt der Reflexion auf sich selbst, der Rückwendung, wie er es ausdrückt. Wird der Schamaffekt differenziert, so teilt er sich zunächst in die Angst vor Bloßstellung und vor dem Erniedrigt-Werden. Dieser Affekt geht in ein depressives Gefühl über, welches das Bewusstsein über die Bloßstellung begleitet (Wurmser, 1993a). Das depressive Gefühl, das eigentlich Unerträgliche der Scham, entsteht in der Angst vor der Verachtung durch andere oder auch in der Wahrnehmung der Verachtung der anderen. Georg Simmel, der seinen Aufsatz zur Psychologie der Scham 1901 verfasst hat, betont wie auch Wurmser den umfassenden und öffentlichen Charakter der Scham und den besonderen Körperbezug, denn der Körper gilt kulturell als Repräsentant des »niedrigen Teils des Ich«. Deshalb muss der Körper schön sein, gepflegt, geschickt, um die Funktion eines »Seelenkleides« erfüllen zu können. Die Körper der Armen, der Alten, der psychisch Kranken sind dies zumeist nicht. In sie hat sich Arbeit, Entbehrung, Naturhaftigkeit häufig eingeschrieben und so entsprechen sie in den Zeiten der Selbstoptimierung häufig nicht den Anforderungen an den Körper. Die Dualität von hoch und niedrig entspricht der Struktur des Gewissens (Wurmser, 1993b). Ein Ideal (die hochstehende innere Instanz) beobachtet ständig das Ich (die niedriger stehende innere Instanz) und weiß alles, was das Ich tut. Beobachtung ist jedoch nur eine Gewissensfunktion, eine Funktion der Bestrafung und Selbst-Verachtung. Die innere Dynamik der Beschämung beschreibt Wurmser als die Selbstverurteilung und das depressive Gefühl von Isolation und Selbstverachtung. Die soziale Dynamik der Beschämung für das Ich beschreibt Simmel dahingehend, dass zunächst einmal jede Persönlichkeit von einer Sphäre der Unnahbarkeit und der Distanz umgeben ist. Jedes Eindringen in diese Grenze wird als ein Riss zwischen der Norm der Persönlichkeit und ihrer momentanen Verfassung empfunden. Im Mittelpunkt der sozialen Scham, so der Emotionssoziologe Sighard Neckel, steht der soziale Achtungsverlust. Einer Person kann die Achtung anderer völlig verwehrt werden (Neckel, 2006, S. 45). Ob und wie viel Achtung jemand erwarten kann, hängt soziologisch von der Wertschätzung und diese wiederum vom Besitz verschiedener sozialer und kultureller Kapitalien ab. Verliert eine Person oder eine Gruppe an Wertschätzung, so spricht man in der Soziologie von Abwertung, wenn es sich um einen Entzug materieller Werte handelt, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Lohnverlust. Von Degradierung spricht Neckel (ebd.), wenn eine Person ihren sozialen Rang verliert und von Abschiebung oder Ausschluss, wenn die Person ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe verliert. Abwertung bringt in der Konsequenz Armut hervor, so Neckel (ebd., S. 47), und 110

Anerkennungstheoretischer und diskurstheoretischer Rahmen der Beratung

stigmatisiert den Abgewerteten gleichzeitig, da dem Geld, welches jemand verdient oder bezieht, eine moralische Komponente innewohne. Geld ist demnach nicht gleich Geld. Geld, welches aus den Zinsen entsteht, wird moralisch anders bewertet als Geld, welches aus Transferleistungen kommt. Verdienter Lohn und verdientes Gehalt gelten als moralisch wertvolles Geld, da die Bezieher sich als fleißig, ehrbar, tüchtig und leistungsbezogen ausweisen. Wer über Kapitalvermögen verfügt, wird besonders wertgeschätzt, da er als klug gilt, um sein Vermögen anzulegen, Bedürfnisse aufzuschieben, zu sparen und mit seinem Geld zu arbeiten. Dies wird als ein vernünftiger und rationaler Umgang mit Geld verstanden und deshalb am höchsten geschätzt. All das honoriert die Gesellschaft. Die Technik der Degradierung nimmt einer Person den Rang, den sie in einer Ordnung innehatte. Sie wird nachrangig, was starke soziale Scham auslösen kann. Besonders beschämend und geradezu existenziell ist die Scham, wenn es um Ausschluss oder Abschiebung geht, wenn jemand, wie Bourdieu sagt, unterhalb der Grenze der Respektabilität verortet wird (Geiling, 2000, S. 7). Das heißt, ihn nutz- und wertlos zu machen, sein Vertrauen zu unterminieren, ihm jene Rechte abzusprechen, die man eigentlich als menschlich empfindet. Scheler (1957, S. 91) spricht in Bezug auf die seelische Scham davon, dass sich Beschämung gegen uns als geistige Person richtet, als Person, die ein Bewusstsein von sich hat und entsprechend fühlt. Allen Schamdimensionen stehen Anerkennungsdimensionen gegenüber. An einer herausgehobenen Stelle steht hier der Takt in der Beratung. Vor allem Jakob Muth (1967) hat mit seiner Schrift über den Takt die grundsätzliche Haltung in asymmetrischen Situationen und damit auch in der Beratung geprägt (Gröning, 2006). Er diskutiert Takt als Haltung der Rücksicht auf die Verletzlichkeit, die Bedürftigkeit und Beschämbarkeit des Anderen. Takt bestehe aus Zurückhaltung und jenem Feingefühl, das es dem anderen erst ermöglicht, sich zu öffnen (Muth, 1967, S. 15). Diese Zurückhaltung, so Muth, ziele auf ein Nichtverändern des anderen (ebd., S. 22), in der Gewissheit, dass man nur Anregungen, Erfahrungen und Rat geben könne, und stehe im Gegensatz zur Aufdringlichkeit, zu Veränderungswillen und Aggressivität. Takt ist eine innere Stimme, die zur Zurückhaltung mahnt.

Anerkennungstheoretischer und diskurstheoretischer Rahmen der Beratung Beratung, von der ein Klient oder eine Klientin oder Ratsuchende(r) profitiert, folgt immer dem Prinzip der Reflexivität. Oskar Negt (2011) spricht hier in An111

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

lehnung an Hans-Georg Gadamer davon, dass Reflexivität ein freier Blick auf das Selbst ist. Jemand tritt sich selbst gegenüber und betrachtet sich quasi von außen. Freud hat dies als Selbstanalyse bezeichnet. Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht von einem »reflexiven Bruch«, um den eigenen Habitus, das eigene so Gewordensein zu erkennen. In der Sozialwissenschaft sind es vor allem die Gruppentheorie und der symbolische Interaktionismus, die sich mit der Praxis der Reflexivität befasst haben. So sprechen Harry Ingham und Joseph Luft (1955) in ihrem Modell des Johari-Fensters davon, dass eine objektive Betrachtung der eigenen Person nicht so ohne Weiteres möglich sei, weil jeder Mensch »blinde Flecken« habe, Bereiche der eigenen Persönlichkeit, die zwar anderen bekannt sind, aber nicht einem selbst. Sie teilen die Persönlichkeit in vier Bereiche: dem Selbst und andern bekannt – dem Selbst bekannt, anderen unbekannt – dem Selbst unbekannt, anderen bekannt – dem Selbst und anderen unbekannt. Reflexivität im Sinne von Gadamer (1960), Bourdieu (1997d), Negt (2011) und vielen anderen muss also mit den unbekannten Seiten der menschlichen Person umgehen und die Lebensschwierigkeiten und die Probleme des/der Ratsuchenden objektivieren. Das ist der Kern der Beratungskunst. Die Fähigkeit eines Menschen zur objektiven Betrachtung seines Selbst und zur Reflexivität ist vor allem als Fähigkeit der sozialen Kompetenz von George Herbert Mead (vgl. Honneth, 1994b, S. 154ff.) beschrieben worden und heißt »taking the role of each other«. Dieses Prinzip der Rollenübernahme, der Entwicklung einer Vorstellung der Perspektive des anderen wird heute auch als Mentalisieren bezeichnet (Kirsch, 2014). Anders als Mead (1968, S. 218), der die Fähigkeit zur Rollenübernahme spät in der mittleren Kindheit und bedingt durch das Spiel verortet hat, wird heute davon ausgegangen, dass die innere Vorstellungswelt auch in Bezug auf das Verstehen der Gefühle eines anderen und damit objektive Selbstbetrachtung früh gelegt wird. Bezogen auf die Beratung von einzelnen Personen vor allem in der Sozialen Arbeit aber auch in der Supervision heißt dies, dass der Berater/die Beraterin eine Bewegung des Verstehens, der Zustimmung und der Identifizierung leisten muss, wie auch eine Bewegung der reflexiven Distanz, indem immer wieder im Beratungsprozess die Perspektive von außen eingeführt wird. Diese Bewegung der Reflexivität ist bisher besonders gut von Axel Honneth (1994b) in seiner Habilitation »Kampf um Anerkennung« beschrieben worden, wenn auch nicht in beraterischer Absicht. Jede Fähigkeit zur Reflexivität und objektiven Selbstbetrachtung wurzelt in der Erfahrung von Einfühlung und emotionaler Zustimmung. Die Psychoanalyse beschreibt dies als holding (Winnicott, 1983). Einfühlung und emotionale Zustimmung stehen deshalb auch am Anfang jeder Beratung ganz oben. Sie schaf112

Rechtlichkeit und Kontrakt in der Beratung

fen jenen Raum (space bei Winnicott, 1983), der Entwicklung und Reflexivität erst ermöglicht. Zugang zur inneren Realität eines Klienten/einer Klientin und Ratsuchenden gewinnt der/die Beratende durch Narration, die Fähigkeit die Ratsuchenden zum Erzählen zu motivieren. Die Erzählungen geben einen Hinweis auf die objektiven Schwierigkeiten, in denen der/die Ratsuchende sich befindet, aber auch auf die subjektive Perspektive, wie der/die Ratsuchende seine/ihre Schwierigkeiten wahrnimmt und begründet. Schon hier erkennt ein guter Berater oder eine gute Beraterin, ob der/die Ratsuchende sich beim Erzählen seiner/ihrer Probleme und Schwierigkeiten verstrickt, ob es zu einer Vorherrschaft der Gefühle kommt, oder ob der/die Ratsuchende in der Lage ist, seine Probleme zu durchdenken. Die beraterische Beziehung, das Arbeitsbündnis und das Setting sind in hohem Maße abhängig davon, dass der Berater die Reflexionsfähigkeit seiner KlientInnen richtig versteht und beurteilt. Im Sinne der Anerkennungstheorie von Honneth (1994b) wären dann auch alle drei Dimensionen der Anerkennung für die Gestaltung der Beratung konstitutiv: die Rechtlichkeit und das Rechtsverhältnis, die niedergelegt werden im einem Kontrakt, in welchem BeraterIn und Ratsuchende/r sich verpflichten, als Rechtssubjekte zusammenzuarbeiten. Die zweite Dimension ist die Zustimmung und des Verstehens, also was in einem engen Sinne als der beraterische Möglichkeitsraum (potencial space) beschrieben werden kann. Die dritte Dimension betrifft die Verobjektivierung, die Reflexivität, die Feedbacks, was Honneth unter die Kategorie der Leistung fasst. Alle drei Dimensionen der Anerkennung fließen in einer wissenschaftlichen Begründung von Beratung zusammen und bilden gleichzeitig die Grundlage einer beraterischen Ethik und beraterischen Professionalität.

Rechtlichkeit und Kontrakt in der Beratung Die institutionelle Ableitung der Beratung aus der Therapie hat sehr lange Zeit die Dimensionen der Rechtlichkeit und des Kontraktes völlig zugeschüttet. Ein Beispiel dafür ist das fachlich gar nicht schlechte, beratungstheoretisch jedoch bedenkliche Buch von Helmut Junker (1978) zum Beratungsgespräch in der Sozialen Arbeit. Im Sinne der Psychoanalyse wird der Anfang der Beratung als Übertragungsraum gedeutet und verstanden. Der/die psychoanalytisch ausgebildete BeraterIn beobachtet den Klienten oder die Klientin und sich selbst im Sinne von Übertragung und Gegenübertragung und versteht die Handlungsweisen des Klienten/der Klientin vor allem in Erstsituationen als Ausdruck seiner Neurose. Die sehr gut beschriebenen Interaktionsformen zwischen einem/r ängstlichen, 113

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

einem/r depressiven, einem/r zwanghaften KlientIn und dem/der sozialpädagogischen BeraterIn, die Junker (1978) beschreibt, gehören jedoch in das Feld der Psychiatrie und sind nur im Rahmen der Sozialen Arbeit im psychiatrischen Kontext überhaupt zu rechtfertigen. Die klassische Beratung in der Sozialen Arbeit, der Berufshilfe, der Pädagogik und der Supervision wird den Beratungsprozess zunächst kontraktieren und als Rechtsverhältnis buchstabieren müssen. Axel Honneth hat hierzu betont, dass dieses Rechtsverhältnis unabhängig vom Status, von der Leistungsfähigkeit und von der Wertschätzung, die man bestimmten Lebensweisen entgegenbringt, zu begründen ist. Nur in vordemokratischen Gesellschaften fallen Rechtssubjektivität und soziale Wertschätzung zusammen. Je höher die soziale Position, desto mehr Rechte. In modernen demokratischen Gesellschaften gehört die Rechtssubjektivität zum allgemeinen Umgang. Ein Kontrakt in der Beratung wäre in diesem Sinn die explizite Zuerkennung von Rechten (Honneth, 1994b, S. 152) als erste Voraussetzung sozialer Integration. Rechtlichkeit nennt Honneth weiterhin (ebd., S. 174) ein Bewusstsein von uns selbst als Rechtsperson, welches darin wurzelt, dass wir wissen, welche normativen Verpflichtungen wir dem anderen gegenüber haben. Weiterhin führt er aus, dass Personen grundlegend als vernünftig und frei gelten und deshalb anerkannt werden müssen. Dieses ist quasi die ethische Voraussetzung dafür, dass wir auch in hierarchischen Situationen beraten können. Die Zuerkennung von Rechten wird bei Honneth (ebd., S. 177ff.) nicht nur als ein formaler Akt verstanden. Rechtlichkeit verbindet sich mit moralischen Normen, die in eine Haltung der sozialen Achtung auch dann münden, wenn Lebensweisen fremd erscheinen. Den Ratsuchenden in einer Beratungssituation als Rechtssubjekt anzuerkennen heißt praktisch, ihn mit der institutionellen Situation, mit der eigenen Profession, mit dem Verlauf der Beratung und den in die Beratung integrierten Verfahren zu Beginn ausführlich vertraut zu machen. Diese Rahmenbedingungen sind nicht einfach festzulegen. Gelegenheiten zu Rückfragen, zum Aushandeln und zur Reflexion sind zu geben. Eine Freiheit, die zum Beispiel bei Zwangsund Pflichtberatungen nicht vorhanden ist, darf nicht vorgetäuscht werden. Vor allem ist das Prinzip der Aktenführung zu erklären und der Umgang mit den Testergebnissen, wenn solche zum Beratungsprozess gehören. Heute ist es selbstverständlich, über Ratsuchende umfangreiche Dossiers anzufertigen, Fallbesprechungen abzuhalten und zu diagnostizieren, ohne die Ratsuchenden im Geringsten in diesen Prozess der Bewertung und Beurteilung mit einzubeziehen. Was der/die BeraterIn über den/die KlientIn denkt und weiß, behält er/sie sehr häufig zum Beispiel bei der Beratung im Jobcenter für sich. Es wird so zum Herrschaftswissen und ist der Rechtlichkeit des/der Ratsuchenden entgegengesetzt 114

Der beraterische Möglichkeitsraum

und der Beratung als rechtlicher Form abträglich. Es ist nicht zu begründen, warum Ratsuchende nicht direkt an den Fallbesprechungen im professionellen Team beteiligt werden sollen, warum sie ihre Testergebnisse nicht einsehen sollen, warum ihnen Maßnahmen vorgeschlagen werden, die auf Verfahren gründen, die sie nicht beurteilen und kennen. Beratung, die sich so versteht, bricht mit dem Prinzip der Rechtssubjektivität, ganz abgesehen davon, dass sie im Sinne einer reflexiven Forschungslogik häufig fehlerhaft ist, weil sie die Gestalt eines Falles nicht als Ganzes erfassen kann, ohne ein gutes Arbeitsbündnis mit dem/der Ratsuchenden einzugehen.

Der beraterische Möglichkeitsraum Jede Anerkennung wurzelt in mitmenschlicher Zustimmung und Bewegungen der Identifizierung und des Spiegelns, ohne die Anerkennung »kalt« bleiben würde. Die große Bedeutung, die Carl Rogers in der Sozialen Arbeit hat, wurzelt in seinem Anerkennungsverständnis der emotionalen Wertschätzung, der Bereitschaft, den anderen gelten zu lassen und dem Akt des intellektuellen SichÄhnlich-Machens in der Beratungssituation. Einen wichtigen Beitrag für diese Dimension hat 2004 Magdalena Stemmer-Lück geleistet, indem sie die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie systematisch in die Konzipierung eines Beziehungsraumes in der Sozialen Arbeit einbezogen hat. Der Begriff des Raumes geht auf Donald Winnicotts Konzept des potencial space zurück, der davon spricht, dass durch die Sorge, die Beziehung und die Pflege eines Kindes, die Mutter gleichsam einen Möglichkeitsraum erschafft, der das Kind am Leben erhält und Entwicklungen befördert (vgl. Stemmer-Lück, 2004, S. 56f.). An diese Raumvorstellung von Winnicott knüpft Stemmer-Lück an. Bezogen auf die Beratung ist die Atmosphäre gemeint, in die BeraterInnen und KlientInnen eintreten. Diese Atmosphäre ermöglicht es dem/der Ratsuchenden zu sprechen oder auch nicht, zu denken, zu reflektieren, ohne sich zu schämen, zu Erkenntnissen zu gelangen und einen neuen Blick auf seine Probleme zu erhalten. In diesen Raum gehören auch die Formulierung von Wünschen, Visionen und Fantasien. In der beraterischen Praxis ist das Problem dieser zweiten Dimension der Anerkennung sicherlich die Zeit. Beratung findet im Spannungsfeld von Rationalisierungsmaßnahmen, attraktiven Kurzberatungen und der Tatsache statt, dass Ratsuchende ihr eigenes Lerntempo haben und sich so entwickeln, wie sie erkennen und denken können. Wichtige Prinzipien des beraterischen Möglichkeitsraums sind Prinzipien der Kontinuität. Überforderung des Beraters/der Beraterin, enge Grenzen 115

3 Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik

und Restriktionen führen zur bürokratischen Praxis des Weiterverweisens. Dies widerspricht der Logik des Möglichkeitsraumes. Im Gegenteil, es ist wichtig, dass der/die Ratsuchende Verlässlichkeit und Bindung erfährt, umso mehr, wenn kritische Lebenslagen, Krisen und angsterregende Situationen zu beraten sind.

Wertschätzung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Zielvorstellungen Ratsuchende bewegen sich häufig in einem Werteparadoxon. Zum einen scheinen sie in pluralistischen Gesellschaften mit großer Freiheit zu leben, zum anderen scheinen diese Freiheiten für sie selbst nicht nur große Risiken des sozialen Abstiegs zu beinhalten, sondern sie sind überfordert und scheitern an eben jenen Pluralisierungen, Entstandardisierungen und Individualisierungen, die den Kern der Modernisierung der Lebenswelt auszumachen scheinen. Diese Dimension hat vor allem Hans Thiersch für die Soziale Arbeit und ihre Beratung (1991, 1992) aufgezeigt, wenn er von einer Zunahme von sozialen Risiken durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse spricht, die vor allem die KlientInnen der Sozialen Arbeit besonders betreffen. Axel Honneth spricht dieser Dimension der gesellschaftlichen Zielvorstellungen als Wertesystem in seiner Anerkennungstheorie eine wichtige Bedeutung zu. Anerkennung im Sinne von Ehre setze in den modernen Klassengesellschaften eine bestimmte, an bürgerlichen Maßgaben orientierte Lebensführung voraus. Die Gesellschaft hat verdeckte, jedoch sehr genaue Vorstellungen davon, welche Lebensführung zur Ehre gereicht und welche Scham nach sich zieht, dem gesellschaftlichen Wertsystem nicht entspricht. Nach Honneth entzünden sich an den Fragen der Lebensführung und der Lebensweisen soziale Konflikte, die letztlich moralisch sind. Welche Lebensform gilt als anerkennungswürdig? Dies ist die eine Seite. Die zweite Seite ist, dass sich die Lebensformen keineswegs nur pluralisieren oder entstandardisieren, sondern vor allem prekarisieren. Mit dem Normallebenslauf und der Normalbiografie können immer weniger Menschen rechnen, weil ihnen unter dem Stichwort der Selbstverantwortung neue Formen der Arbeit und des Lebens, vor allem flexible Formen aufgenötigt werden. Der in den 1990er Jahren bewusst aufgebaute Niedriglohnsektor, das Gebot der Flexibilisierung der Arbeit, neue Konzepte wie die des Arbeitskraftunternehmers (Gröning, 2010) institutionalisieren nicht nur neue Erwerbsbiografien, sondern sie institutionalisieren die Deinstitutionalisierung. Drittens reagiert die Kultur auf die Wirkkräfte der globalen Ökonomie ihrerseits mit neuen Normalitätsvorstellungen. Die alten, wie Jürgen Link (2014) 116

Wertschätzung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Zielvorstellungen

sagt, protonormalistischen Regeln, auf denen lange Zeit die soziale Ehre beruhte, haben sich aufgelöst. Die Doppelstruktur der gegenwärtigen Wertvorstellungen und Zielvorstellungen begründet sich auf der Einsicht, dass die globale Konkurrenz nur zu gewinnen ist, wenn es gelingt, dauerhaft Leistungen zu erzeugen, die über dem Durchschnitt und über dem Normalen liegen. Das Ziel sei, so Link (ebd.), die Herstellung einer »Supranormalität«. In der Supranormalität liegt die Verpflichtung zur ständigen Selbstoptimierung. Nach Honneth (1994, S. 203) ist dieser Aspekt der Anerkennungskämpfe, die Übersetzung von kollektiver Ehre in individuelle Leistung, ein alter Konflikt. Der Kampf des Bürgertums gegen die standesspezifischen Verhaltenszwänge habe zu einer Individualisierung der Meinung geführt, wer zur Verwirklichung gesellschaftlicher Zielvorstellungen beitrage. Weil nicht mehr im Vorhinein festgelegt sei, welche Lebensformen ethisch zulässig sind, seien es nicht mehr kollektive Eigenschaften, an denen sich die soziale Wertschätzung bemisst, sondern individuelle Fähigkeiten. Es entstehe zum einen ein Wertepluralismus, in dem die persönliche Leistung des einzelnen seinen Wert bestimme, zum anderen werde die Leistungsanforderung immer wieder verändert und optimiert. Dass nun an diesem Supranormalismus und an der Individualisierung der Wertschätzung immer mehr Menschen scheitern, ist ein wichtiges ethisches Hintergrundwissen in der Beratung. So liegen unterhalb dieser Anerkennungsspannung häufig unvereinbare Rollenerwartungen, vor allem hinsichtlich der wichtigen Frage nach den die sinnhaften Entscheidungen zur eigenen Biografie. Die zunehmend härtere Konkurrenz als biografisches Prinzip mündet darin, dass Versagen und Krisen in der optimierten und geförderten Biografie gar nicht mehr vorkommen dürfen. Die Denkweisen der 1970er Jahre, dass Krisen sich günstig auf die moralische Entwicklung auswirken, dass es zur Gestaltung der Biografie eines psychosozialen Moratoriums bedarf (vgl. Erikson in Conzen, 2005, S. 49), dass Bildung mehr ist als die Zertifizierung von Leistungen, sind vielfach bei den Ratsuchenden nicht mehr vorhanden. Umso wichtiger ist es, dass Beraterinnen und Berater über ein entsprechendes ethisches Wissen zu modernen Biografien verfügen und ihre KlientInnen in diesem Sinne stützen können.

117

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Der Beratungsprozess wird üblicherweise in diese Phasen differenziert: Erstgespräch und Beziehungsaufbau, Ordnen von Problemen, Diagnosephase, Herausarbeiten von Lösungen, Förderung von Entscheidungen und fördernder Beistand. Dies ist zum Beispiel der Beratungsprozess, den Thea Sprey 1968 sehr dezidiert festgelegt hat und in ihrem Buch Beraten und Ratgeben in der Erziehung beschreibt. Kontrakt und Arbeitsbündnis sind Elemente des Beratungsprozesses, die die Supervision hinzugefügt hat, und zwar als äußerer und innerer Rahmen der Beratung. Kurt Aurin (1980) hat zudem einen stärker an die Diagnose angelehnten Beratungsbegriff vorgeschlagen, um – wie er auch im Interview in diesem Buch sagt – den Eindruck und die Meinungen, die im Beratungsgespräch entstanden sind, zu verobjektivieren. In diesem Buch wird dafür plädiert, Diagnose in der Beratung im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zu entwickeln. Sprey und Aurin formulieren ein Beratungsverständnis der Anerkennung, bei Thea Sprey sehr stark durch die sokratischen Elemente ihres Beratungsverständnisses geprägt, bei Kurt Aurin durch die Verbindung von Maria Montessori und Carl Rogers. Hans Thiersch und Anne Frommann vertreten einen Beratungsbegriff, der an die kritische Alltagstheorie anknüpft. Hans Thiersch scheint seine Position gerade sehr in Richtung Modernisierungstheorie zu verändern. Dem Professionalisierungsgedanken in der Beratung stehen beide kritisch gegenüber. Dies ist aus den Erfahrungen mit der Therapeutisierung der Beratung und der Sozialen Arbeit, die beide Forscher in ihrer Arbeit gemacht haben, nachzuvollziehen. Sie wenden sich, wie auch Gerhard Leuschner, strikt gegen sie. Betrachtet man den Anspruch der Professionalisierung von Beratung, wie er in diesem Buch vertreten wird, so ist selbstverständlich zugrunde zu legen, dass Beratung in der Praxis und in der konkreten Situation tatsächlich eine Kunst ist. Genau wie der 119

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Lehrer praktisch unterrichtet, die Ärztin praktisch behandelt und der Anwalt plädiert, ist auch die Beratung praktisches Tun, jedoch ähnlich wie bei den drei aufgezählten Professionen wissenschaftlich gestützt. Es reicht nicht, Techniken des helfenden Gesprächs zu erlernen, ohne die dahinter liegende Theorie zu vertreten. Legt man Rogers zu Grunde, so hat gerade dieser damit begonnen jede Sitzung aufzuzeichnen, zu kontrollieren und zu dokumentieren. Wissenschaftliches Wissen in der Beratung darf nicht nur Hintergrundwissen zur Diagnose sein, sondern es ist immer wieder nötig, mittels wissenschaftlicher Instrumente den Beratungsprozess zu analysieren. Hierzu liegen bereits Methoden der Beratungsforschung, vor allem im Kontext der Methodologie von Ulrich Oevermann (2000, 2003), vor. Sie werden in der Beratungspraxis und in der Beratungsausbildung jedoch kaum rezipiert. Der Vorteil dieser Methodologie liegt im »Fall als Ganzes« – nicht in der Splittung des Beratungsprozesses in Diagnose, Prognose, Maßnahme. In der sozialpädagogischen Literatur ist die Diagnose schwer umstritten, da sie nicht nur den Beratungsprozess verkürzt, sondern durch die Verobjektivierung Maßnahmen und Lösungen institutionalisiert, die Ratsuchende in eine Lebenslage oder Lebenssituation hineinprozessieren, in die sie gar nicht wollen oder nicht gehören. Sehr umstritten sind Diagnosen mittels Tests, die sowohl in der Jugendhilfe, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch im Umfeld des SGB II, also im Rahmen der Berufshilfe, einen festen Platz haben. Der Kritik an diesen Testdiagnosen ist zuzustimmen, weil sie die Testergebnisse zumeist nicht an den Beratungsprozess rückkoppelt, sondern die Diagnose und die daraus resultierenden Maßnahmen an einer herausragenden Stelle stehen und den Beratungsprozess sehr häufig einengen, teilweise auch unterbrechen oder konterkarieren. Das Problem der Testdiagnosen liegt zum einen rein forschungslogisch betrachtet darin, dass sie das zu jedem Fall gehörende unverstandene Material (vgl. Rosenthal, 1995) nicht wirklich in die Diagnose integrieren. Allein das Testergebnis bestimmt dann den Blick des Beraters oder der Beraterin und die Maßnahmen, die vorgeschlagen werden. Zudem ist es Praxis, auf der Basis der Tests zu begutachten, zumeist ohne tatsächlich überhaupt in einen Beratungsprozess eingestiegen zu sein. Die Begutachtung nach Aktenlage ist eine skandalöse Praxis der angestellten Psychologen, sei es im Umfeld der Psychiatrie, sei es im Umfeld der Schulpsychologie. Nicht nur der Fall des Gustl Mollath, sondern auch die qualitative Untersuchung von Freyberg und Wolff (2005) zur Ausschulung und Schulverweigerung hat zutage gefördert, dass der professionelle und institutionelle Umgang mit den Tests, ihre Verherrlichung und ausschließliche Begründung von Maßnahmen und Entscheidungen mit der Diagnose in der 120

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

psychologischen Praxis geradezu verantwortungslos ist. Forschungslogisch handelt es sich, wie gesagt, um eine hinkende wissenschaftliche Praxis, da sowohl Lebenswelt als auch die so von Oevermann (2003) bezeichnete »Fallstrukturgesetzlichkeit« ignoriert werden. Für eine beratungswissenschaftliche Fundierung ist das forschungslogische Prinzip von Rosenthal (1995) aus der Phänomenologie, nämlich die Integration des unverstandenen Materials, unbedingte Pflicht. Jeder Fall erschließt sich danach phänomenologisch als Ausdrucksgestalt. Sowohl Erzählungen als auch Diagnosen können in diesem Sinne als Elemente einer Gesamtgestalt betrachtet werden. Es gehört zur wichtigen Forschungsleistung von Rosenthal, dass sie einen anderen Umgang mit unverstandenem Material vorgeschlagen hat. Dieses unverstandene Material gehört bei ihr nicht nur zu jedem Fall, sondern konstitutiv zur Gesamtgestalt, erst die Integration von unverstandenem Material ermöglicht ein Blick auf die Phänomenologie des Falles. In der Beratungspraxis ist diese wissenschaftlich gebotene Sorgfalt im Umgang mit dem Fall selten anzutreffen. Was nicht in den Test passt, wird hier meist wegstrukturiert. Der mangelnde biografische Bezug in der Beratung führt dann meist dazu, dass Phänomene gar nicht historisch betrachtet werden, sondern jetzt (!) schnell Lösungen und Maßnahmen verordnet werden. Aus dem Prinzip der Gestaltentwicklung und der Berücksichtigung des unverstandenen Materials sind deshalb bei der Diagnose also mehrere Prinzipien zu berücksichtigen: 1. Die Diagnose ist immer einzubinden in einen persönlichen Beratungsprozess mit einem/r gesamtverantwortlichen BeraterIn, der mit den Testern und Diagnostikern auf gleicher Stufe steht; 2. Sie ist einzubinden in eine fundierte Forschungslogik, die auch offene Fragen und unverstandenes Material berücksichtigt; 3. Sie ist als Verhandlung und Angebot zu verstehen und darf die Rechtlichkeit der Beratung und die Subjektivität des Klienten/der Klientin nicht berühren. Diagnosen, die in einen wissenschaftlichen Prozess eingebunden sind, folgen dem Konzept des Falles und der Fallanalyse. Sie sind offen für das unverstandene Material, welches zu jedem Fall gehört und welches der Test häufig nicht aufklärt. Dies betrifft vor allem auch Eignungstests, Intelligenztests, Begabungstests, Entwicklungstests, Schultests. Pierre Bourdieu (1997a) hat dazu gesagt, dass jene Normen in die Gesellschaft einfließen, die einem bestimmten Habitus entsprechen. So kommen wir zum Beispiel zu der Aussage, ein Kind sei begabt, ohne zu erkennen, dass es aus einer Familie mit sehr viel Bildungskapital stammt, an dem es partizipieren konnte. Ein gutes Testergebnis wird nun seiner Begabung und 121

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

seinen Fähigkeiten zugesprochen und individualisiert. Umgekehrt sind bildungsbenachteiligte Kinder eben auch jene Kinder, welche die Lebensweisen ihres Milieus und ihres Feldes inkorporiert haben und dann unbegabt wirken, weil sie an den altersspezifischen Entwicklungsaufgaben scheitern. Kinder und Jugendliche, die vielleicht erst kürzlich migriert sind, werden den gleichen Leistungstests und Eignungstests unterzogen wie Kinder, die in Deutschland geboren und in deutschen Familien aufgewachsen sind. Selten wird in einem Beratungsgespräch zum Beispiel zur Schuleignung oder zur Berufseignung das gesamte Bildungsschicksal erhoben und aus den Erzählungen von Kindern und Jugendlichen quasi herausgeschält. Es zählen allein der Test und sein Ergebnis. Wenn zudem der Test von der Beratung noch entkoppelt, also nach Aktenlage entschieden wird, haben wir es mit jenen Phänomenen struktureller Gewalt zu tun, welches Bourdieu in seinem Buch über Das Elend der Welt (Bourdieu et al., 1997b) beschrieben hat. Hier hat er Prozesse der Prekarisierung von Jugendlichen beschrieben, die darin bestehen, dass es eigentlich für die Angehörigen dieses Milieus keine wirkliche Perspektive gibt, die BeraterInnen und AgentInnen in den Bürokratien aber so tun, als handele es sich ausschließlich um individuelle Probleme. Es kommt zu einer Verordnung von eigentlich sinnlosen Maßnahmen, an deren Ende Konflikte zwischen BeraterIn und Ratsuchenden stehen. Verbunden mit dem Hineinprozessieren in Maßnahmen, die den Beratungen meist folgen, entsteht so gleich zu Beginn einer Beziehung kaum das nötige Arbeitsbündnis und Vertrauen. Ratsuchende, die auf diese Weise behandelt werden, gelten häufig als wenig motiviert, renitent und unzugänglich. Selten wird aber der Beratungsprozess selbst einer Reflexion unterzogen.

Diagnose und beraterische Haltung Eine wissenschaftlich begründete beraterische Haltung ist eine die Diagnose und ihre Macht relativierende und reflektierende Haltung. Sie orientiert sich am Prinzip des Falles und nutzt die Methoden der qualitativen Sozialforschung zum Verstehen in Beratungsprozessen. Das Verstehen ist also nicht allein identifikatorisch oder empathisch-expressiv, sondern eben auch wissenschaftlich begründet. Hierzu stehen den Beraterinnen und Beratern seit Langem verschiedene wissenschaftliche Methoden wie Fallanalysen (in der Tradition von Ulrich Oevermann, (2000) und Fritz Schütze (1993); vgl. Becker-Lenz & Lüscher, 2012), Habitusanalysen (in der Tradition von Pierre Bourdieu (1997a); vgl. Heimann, 2010), Deutungsmusteranalysen (in der Tradition von Ulrich Oevermann (1973); vgl. 122

Zuhören, Sequenzieren und das Nachvollziehen der Fallstrukturgesetzlichkeit

Ullrich, 1999), Lebenslaufstrukturanalysen (in der Tradition von Martin Kohli (2000)) und Arbeit mit dem Rollenset (in der Tradition von Ralf Dahrendorf (2006)) für die Einzelberatung zu Verfügung. In der Familien- und Gruppenberatung können noch Interaktionsanalysen hinzugezogen werden. Es wird also dafür plädiert, ausgewählte Instrumente der Fallforschung und der qualitativen interpretativen Sozialforschung nicht nur reflexiv als Qualitätskontrolle zu nutzen, sondern ebenso als praktisches Instrument zum Verstehen und Diagnostizieren. Anders als in der Forschung ist es in der Beratung nicht möglich, eine lupenreine Fallanalyse oder Deutungsmusteranalyse durchzuführen. Zwar plädieren Becker-Lenz und Lüscher (2012) gerade in längerfristigen und schwierigen Beratungsprozessen im Kontext der Sozialberatung für ein solches Verfahren, konkret für die Durchführung einer objektiven Hermeneutik. Dies wäre für den Ratsuchenden/die Ratsuchende jedoch nur dann angemessen, wenn die entsprechende Analyse, das heißt eine Anwendung von qualitativer Forschung in den Beratungskontrakt, gleich zu Beginn integriert wäre. Im Prinzip sollen alle anzuwendenden Methoden und Diagnoseformate mit dem/der Ratsuchenden besprochen sein, damit er/sie nicht »zum Forschungsobjekt« wird. Dies würde sich sofort negativ auf das Arbeitsbündnis auswirken. Die Methoden der qualitativen Forschung sind viel mehr als gemeinsame Rekonstruktionen in der Beratung zu verstehen, um hinter bestimmte Lebensprobleme des/der Ratsuchenden zu kommen. Der Berater/die Beraterin zeigt dem/der Ratsuchenden damit, wie er/sie denkt. Das ist faktisch die Aufklärungsfunktion in der Beratung. BeckerLenz und Lüscher (ebd.) schlagen in diesem Kontext eine Aushandlungsdiagnostik vor. Die Ergebnisse der verstehenden und interpretativen Methoden sind als Aufforderung zur Reflexion zu bewerten. Die Haltung des Beraters/der Beraterin im Umgang mit den Analysen zeichnet sich dadurch aus, dass die sozialwissenschaftlich begründeten Erkenntnisse, die aus den Analysen folgen, dem/der Ratsuchenden nicht übergestülpt werden Die Analysen dürfen im Sinne Neckels kein Urteil sein. Sie sind in die gesamte Biografie, die Lebenswelt, die Lebenslaufstruktur und die Selbstdeutungen zu integrieren.

Zuhören, Sequenzieren und das Nachvollziehen der Fallstrukturgesetzlichkeit Ulrich Oevermann hat 2003 ein für die Beratung und Supervision wichtiges Buch verfasst, in welchem er eine Supervisionssitzung eines psychiatrischen Teams mithilfe der von ihm entwickelten qualitativen Methode der objektiven Hermeneutik 123

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

analysiert. Argumentativer Ausgangspunkt ist, dass es für den Berater/die Beraterin ohne ein reflexives und dokumentierendes Verfahren kaum möglich ist, die Vielfalt von Bedeutungen aus dem Erzählstrom einer Beratung und den Verhandlungen eines Teams zu generieren, ohne die Gestaltregel zu verletzen. Die Berücksichtigung der Gestaltregel, das Herausarbeiten der Fallstrukturgesetzlichkeit ist seiner Ansicht nach jedoch ein wichtiges Element in der Beratungskunst. Hier könnte man anfügen, die Berücksichtigung der Gestaltregel hilft dem/der SupervisorIn oder BeraterIn, sich nicht ungünstig in die Erzählungen des Klienten/der Klientin zu verstricken. Das Herausarbeiten der Fallstrukturgesetzlichkeit in einer Erzählung leistet Oevermann durch das Sequenzieren, durch eine Interpretation des erzählten Materials Sequenz für Sequenz. Rosenthal (1995) hat wiederum darauf aufmerksam gemacht, dass das Erzählen der Gestaltregel folgt, es ist nicht logisch in dem Sinn, dass eins nach dem anderen erzählt wird, es ist phänomenologisch, die Ordnung der Erzählung folgt den Regeln der Phänomenologie. Das Zuhören ist eine wichtige Voraussetzung zur Hervorbringung der Gestalt einer Erzählung. Berater und Beraterinnen sollten also zuhören und zur Gestaltentwicklung auffordern. Das könnte heißen, dass sie sich für die Zusammenhänge interessieren und den Klienten oder die Klientin bitten, ihm die Zusammenhänge seiner Lage und seines Problems gestalthaft, das heißt ausführlich darzulegen. Dieser Fokus auf den Zusammenhang, auf ein Ganzes der Erzählung, erleichtert dem Klienten/der Klientin das gestalthafte Erzählen. Ein wichtiger Schritt in der objektiven Hermeneutik ist die Entwicklung der Fallstrukturgesetzlichkeit durch das Sequenzieren von Erzählungen. Dieses wird selbstverständlich in der Forschung durch die Bearbeitung von Transkripten durchgeführt. Jedoch ist das Sequenzieren, das heißt die Fähigkeit des Beraters oder der Beraterin in einer Erzählung Sequenzen zu hören, Sinnabschnitte zu identifizieren und Sequenzen zusammenzufassen, eine wesentliche Fähigkeit des beraterischen Handwerkes. Anders als bei der Therapie geht es also nicht ums Paraphrasieren, Spiegeln oder Deuten, sondern beim Sequenzieren geht es um das logische Zusammenfassen von abgrenzbaren Gedankengängen und Erzählabschnitten. Das Sequenzieren steuert den Beratungsprozess, sein Tempo, seine Struktur. Nach Oevermann (2003) gehören verschiedene Sequenzen zusammen und bilden eine Ausdrucksgestalt, etwas, was auch Gabriele Rosenthal (1995) erkannt hat. Die Ordnung verschiedener Ausdrucksgestalten wiederum verweist auf die Fallstrukturgesetzlichkeit. Die konkrete Interaktion in diesem Abschnitt des Beratungsprozesses folgt dem Prinzip der Resonanz, dem Phänomen der »Antwortbeziehung« nach Hartmut Rosa (2014). Resonanz ist nach Rosa ein besonderes Prinzip der Weltbeziehung, welches er in Abgrenzung zur instrumen124

Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen

tellen Vernunft und zur sozialen Beschleunigung entwickelt. Das Prinzip der Optimierung, der Verkürzung, der Effizienzsteigerung zerstört die Resonanz und stößt zum Beispiel in der Beratung den Klienten/die Klientin aus der Welt, in dem eine anerkennende Antwortbeziehung verweigert wird. Die Orientierung auf Resonanz hält den Klienten/die Klientin im Gespräch und in einer positiven Weltbeziehung. Neben diesem Vorgehen im Beratungsprozess werden nun im Folgenden verschiedene wissenschaftlich fundierte Methoden im Umgang mit Beratungsfragen vorgestellt. Sie alle zeichnen sich durch das soziologische oder »sozialwissenschaftliche Ohr« aus, sind verstehend angelegt und beruhen auf einer Haltung des fördernden Beistandes (Sprey, 1968).

Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen Das Erste, was ein Berater oder eine Beraterin von einem Klienten/einer Klientin erfährt, ist, wie er denkt und wie er sich seine Probleme erklärt. Es lohnt sich, sich diesem Denken des/der Ratsuchenden sozialwissenschaftlich zu nähern und vor allem zu Beginn der Beratung Raum für die Gestaltentwicklung dieses Denkens zu geben. Während die Therapie zumeist die Ebene der Gefühle und Affekte in den Fokus nimmt und das Denken eines Klienten/einer Klientin weniger eine Rolle spielt als sein/ihr Erleben und Fühlen, spielen in der Beratung Denkweisen, Überzeugungen, Erlebnisse, Erfahrungen und Ideologien eine sehr wesentliche Rolle. 1973 hat Oevermann ein erstes Papier zu den Deutungsmustern vorgelegt, die er wie folgt definiert: »Unter Deutungsmustern sollen nicht isolierte Meinungen oder Einstellungen zu einem partikularen Handlungsobjekt, sondern in sich nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge verstanden werden. Soziale Deutungsmuster haben also ihre je eigene ›Logik‹, ihre je eigenen Kriterien der ›Vernünftigkeit‹ und ›Gültigkeit‹, denen ein systematisches Urteil über ›Abweichung‹ korreliert« (Oevermann, 1973, S. 3).

Seit den 1980er Jahren ist in der Erziehungswissenschaft zum Verstehen des Denkens die Deutungsmusteranalyse bekannt (Arnold, 1983). Der Ansatz entstammt der Pädagogik der Erwachsenenbildung und der Theorie des erfahrungsorientierten Lernens. Die soziologische Theorie der Deutungsmuster geht ursprünglich zurück auf den Soziologen Alfred Schütz (1974 [1932]). Wie erwähnt hat Oever125

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

mann in den 1970er Jahren ein Konzept zur Durchführung eines qualitativen, sogenannten diskursiven Interviews vorgelegt, um Deutungsmuster zu erforschen (vgl. Oevermann, 1973). Schon in den 1980er Jahren, als die Theorie der Deutungsmuster in der Pädagogik bekannt wurde (vgl. Arnold, 1983) wurde sie als hoch bedeutsam für das Lernen und die Entwicklung kritischer Reflexivität anerkannt. In der Sozialpädagogik, der Supervision und der Beratung hat der Ansatz dagegen erstaunlicherweise bisher keine Rolle bei der methodischen Frage zum Konzept und Aufbau einer Beratungsgespräches gespielt, obwohl dieses Konzept sich hervorragend für die Anfangssituation im Beratungsprozess eignet, wenn es um die Frage geht: Wie denkt mein Klient/meine Klientin? Für die Supervision hat Leuschner (1988) im Kontext der Gruppensupervision sich auch für das Denken, für Chiffren und Muster in Gruppen interessiert, diese aber nicht wissenschaftlich auf ein Konzept zurückgeführt, sodass es bei alltäglichen Beschreibungen geblieben ist. Michael Buchholz (1993) spricht in seinem familientherapeutischen Buch Dreiecksgeschichten von Ideologien und Denkweisen in Familien, die über das alltägliche Zusammenleben und insbesondere die Institutionalisierung mit entscheiden. Er sieht das Denken aber eher dynamisch in der Beziehung zum Unbewussten. Für eine Methodologie der Beratung ist die Theorie der Deutungsmuster von ebenso großer Wichtigkeit wie die Theorie der Reflexivität, der Lebenswelt, des Habitus, der Lebenslaufstruktur und der Entwicklungsaufgaben. Unter Deutungsmuster versteht man in der Wissenssoziologie einen relativ festen Wissensvorrat, mit dem sich jemand die Welt und seine/ihre aktuelle Situation erklärt und nach der er/sie sein/ihr Handeln ausrichtet. Deutungsmuster werden als alltägliche Sinnzusammenhänge verstanden, die sich durch Stabilität, Plausibilität und Latenz auszeichnen (vgl. Unger, 2007, S. 160). Mittels stabiler und plausibler Deutungsmuster erhält sich eine Person ihr Weltbild und ihre Orientierung in der Welt. Deutungsmuster begründen Handlungen und Handlungslogik. Sie wirken jedoch latent und bleiben vielfach im Hintergrund. So erlebt man das Handeln, seltener werden aber die dazugehörigen Deutungsmuster präzise herausgearbeitet. Deutungsmuster sind in diesem Sinn Weltinterpretationen, die prinzipiell offen und reflektierbar sind. Sie sind nach Oevermann (1973) weiterhin funktional immer auf eine Systematik von objektiven Handlungsproblemen bezogen, die deutungsbedürftig sind. Deutungsmuster kommen also bei Problemen zum Einsatz und strukturieren, wie der nachfolgende Fall zeigt, das Handeln einer Person. Sie sind ebenfalls durch Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu und einer sozialen Gruppe geprägt. Meuser und Sackmann (1992) berufen sich bei ihrer Beschreibung der Deutungsmuster vor allem auf Oevermann (1973). 126

Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen

»Als erstes: von Mustern zu sprechen, macht nur Sinn, wenn es nicht um singuläre Interpretationen, sondern um sozial verfügbare Formen der Verdichtung, der Abstrahierung, der Verallgemeinerung von Deutungen geht. In dieser Hinsicht lassen sich Deutungsmuster bestimmen als ›Ensemble von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt‹ (ebd., S. 4), als ›nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge‹ (ebd., S. 3)« (Meuser & Sackmann, 1992, S. 16).

Wir haben es demnach mit relativ stabilen und gleichzeitig diffusen und im Hintergrund liegenden Weltbildern zu tun, die es herauszuarbeiten gilt, um überhaupt an den Konflikt zu kommen. Es geht also in der Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern nicht nur um das Verstehen, sondern um das Erkennen und das Herausarbeiten einer Differenz des Denkens. Beraterisch geht es zudem nicht nur um die Beschreibung der Deutungsmuster, sondern um die Förderung der praktischen Vernunft. Dies ist die Perspektive der Mäeutik. Psychoanalytisch gesprochen ist es wahrscheinlich, dass Deutungsmuster mit bestimmten Abwehrmechanismen wie Abstreiten, Verallgemeinern, Rationalisieren in Verbindung stehen. Hervorzuheben ist vor allem der Aspekt der Verdichtung als Eigenschaft der Deutungsmuster, den Oevermann betont. Deutungsmuster sind also geschlossen, prägen das Denken im Sinne einer gewissen Erstarrung und müssen zum Beispiel in der Beratung reflexiv und verstehend »aufgeweicht« werden. Einmal eingeschliffene Deutungsmuster sind nicht einfach zu korrigieren und rechtfertigen sich durch den gesunden Menschenverstand und die meist nicht sehr konkret vorgetragene allgemeine Erfahrung. Um Deutungsmuster in Reflexivität zu transformieren, bedarf es deshalb einer guten Beratungsbeziehung, mit Vertrauen, einem sicheren Arbeitsbündnis und Verlässlichkeit des Settings. Alternative Deutungsmöglichkeiten oder das, was John Dewey (1951) in seiner Theorie der Reflexivität das Zu-Ende-Denken nennt, kommen in den Deutungsmustern so nicht vor. Im Lauf der Sozialisation werden Deutungsmuster entweder durch Identifizierung übernommen oder durch Erfahrung gelernt und bestätigt. Deutungsmuster sind ebenso Allerweltstheorien und Alltagstheorien. Wenn man, wie Hans Thiersch es im Interview in diesem Buch sagt, den Alltag wirklich ernst nimmt, dann wäre die Deutungsmusteranalyse das erste Gebot der Beratung nach Kontrakt und Arbeitsbündnis. Deutungsmuster sind identitätsstiftend, sodass es geschlechtsspezifische, kulturspezifische und klassenspezifische Deutungsmuster gibt. Sie helfen der sozialen Gruppe untereinander Zugehörigkeit zu finden. Sie werfen den Einzelnen/die Einzelne aber immer wieder auf das Deutungsmuster zurück, denn im Gegensatz zur Reflexivi127

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

tät verhindern Deutungsmuster jenen Prozess der Flexibilisierung des Denkens, bis hin zum Mündigwerden oder zur Befreiung, die der Reflexivität zugeschrieben wird. Deutungsmuster sind, wie die beschriebenen Anpassungsmechanismen, Abwehrmechanismen der Rationalisierung, teilweise der Ideologiebildung, die die soziale und individuelle Handlungsfähigkeit im Alltag sicherstellen. Sie sind also wie vieles zugleich Lösung und Ursache von Problemen. Deutungsmuster sind Wissen und Rezepte, wie man seinen Alltag bewältigt. Es gehört zur großen wissenschaftlichen Leistung von Ulrich Oevermann, Deutungsmuster in einen qualitativen Forschungsprozess übersetzt zu haben. Dieser wichtige Schritt macht es möglich, das Konzept für eine Methodologie der Beratung zu nutzen. 1999 hat Carsten Ullrich einen Leitfaden zur Deutungsmusteranalyse entwickelt und nennt eine Reihe von Fragen, die auch in Beratungsprozessen möglich sind. Andere Methoden wie die Kontrastierung, die Polarisierung oder die Konfrontation sind der verstehenden und anerkennenden Beratungssituation abträglich. Um jedoch zum Verstehen zu kommen, wie mein Klient/meine Klientin denkt, sind folgende Schritte möglich: ➢ Stellen von Informations- und Filterfragen (Können Sie mir das, diesen Aspekt ganz genau erläutern? Wenn man Aspekt A mal wegdenkt, wie hätte sich die Situation dann für Sie dargestellt?); ➢ Registrieren von Wiederholungen; ➢ Kontrollfragen; ➢ Stellen von Wissensfragen (woher wissen Sie das?); ➢ Fragen nach der konkreten Erfahrung; ➢ Erzählaufforderungen und Aufforderungen zu Stellungnahmen; ➢ Begründungsaufforderungen. Wichtig ist, dass die Deutungsmuster nur dann erhoben werden können, wenn der Berater/die Beraterin die Haltung hat, er/sie befinde sich in einer ethnologischen Situation. Der Klient/die Klientin ist gleichermaßen der Experte/die Expertin der Lebenswelt und führt ihn/sie, den/die fremde/n BeraterIn, in die Logik und Struktur und den jeweiligen Erfahrungskontext seiner/ihrer Deutungsmuster ein. Der Berater oder die Beraterin wird die Verunsicherung, die durch die Deutungsmusterreflexion in der Beratung entsteht, immer wieder zu Formen der Anerkennung und emotionalen Vergewisserung verändern und den Klienten/die Klientin beruhigen bzw. »halten« müssen. Gleichzeitig darf er/sie sich wundern. Die Verwunderung im Umgang mit Deutungsmustern ist eine wichtige Stufe hin zur Reflexion. Eine Fähigkeit des Durchdenkens der eigenen Denkweisen ist von großem Wert in der Beratung. Die Sokratiker sprechen 128

Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen

in diesem Zusammenhang von einer Mäeutik im Beratungsprozess, die auch Thiersch in diesem Buch erwähnt. Die Mäeutik ist die »Hebammenkunst«. Sokrates hat sein Modell so genannt, weil seine Mutter selbst Hebamme war. Es geht darum etwas hervorzuheben, was jedoch beim anderen schon da ist, genauer gesagt, die praktische Vernunft beim anderen freizulegen. Sokrates hat die Mäeutik als reflektierendes, logisches Fragen verstanden. Mäeutik eignet sich ebenfalls im Umgang mit den Deutungsmustern im Beratungsprozess. Deutungsmuster gewinnt man in der wissenschaftlichen Analyse durch Kontrastierung (Ullrich, 1999, S. 443). Ullrich schlägt vor, Gesagtes übereinanderzulegen. Sobald typische und mehrfach vorkommende konsistente und sinnhafte Begründungen und Situationsdefinitionen erkennbar seien, könne man von einem Deutungsmuster sprechen (ebd.). Zusammenhängende Deutungsmuster bilden eine Typologie. Von großer Bedeutung im Beratungsprozess im Gegensatz zum Forschungsprozess ist, dass die Deutungsmuster nicht konfrontativ erhoben werden, sondern als Angebote, verbunden mit einer haltenden und zugewandten, aber gleichzeitig mäeutischen beraterischen Beziehung, zum Nachdenken und Reflexion anregen sollen. Dazu ein Beispiel aus einer sozialpädagogischen Beratung an einer Förderschule ( Junge, 2013, S. 3–6). »Herr D. klopft pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt an meine Bürotür. Er ist Anfang 50, sehr gepflegt und wirkt im ersten Moment sehr selbstbewusst und zielstrebig. Den angebotenen Kaffee nimmt er gerne an. Er sitzt mir offen und gelassen gegenüber und meine Frage, ob er mein Büro gut gefunden hat, bejaht er. Ich informiere ihn darüber, dass ich mit der Klassenlehrerin und den Fachlehrerinnen seines Sohnes Rücksprache gehalten habe und dass L. sich insgesamt positiv entwickelt habe. Allerdings zeige er seit ungefähr drei Wochen wieder vermehrt ähnliche Verhaltensmuster wie zu Beginn seines Schulbesuches an unserer Schule. Er störe vermehrt den Unterricht, arbeite unkonzentrierter oder verweigere Aufgaben. Nach meiner kurzen Schilderung verändern sich Mimik und Körperhaltung von Herr D. merklich. Er schaut besorgt, zieht seine Stirn in Falten und seine Körperhaltung versteift sich. Er schaut einen Moment aus dem Fenster. Als er sich mir wieder zuwendet, wirkt er plötzlich müde und sorgenvoll. Er könne sich vorstellen, warum sich sein Sohn in der Schule auffällig verhalte. Vor etwa einem Monat sei seine Lebensgefährtin ausgezogen und sie sei eine wichtige Bezugsperson für ihn gewesen. Vor allem nach dem Tod seiner Frau sei sie recht schnell für L. zur Ersatzmutter geworden. Seit der Trennung seien seine beiden Söhne bei seinen Eltern untergebracht, wenn er auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit von zu Hause abwesend sei.

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4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Das komme zugegebenermaßen sehr häufig vor. Nun setze ihn die Schwester seiner verstorbenen Frau unter Druck. Sie drohe ihm damit, das Jugendamt einzuschalten, wenn er sich nicht mehr um seine Söhne kümmern würde. ›Wie stellt sie sich das vor?‹, fragt er in den Raum. Er müsse schließlich Geld verdienen. Das Haus sei noch nicht abbezahlt und er sei jetzt schon seit so vielen Jahren selbstständig, er könne sich nicht bei irgend so einer Firma bewerben. Dafür sei er zu alt. Er frage sich, was seine Schwägerin beim Jugendamt erreichen könne. Vielleicht sei es besser, er komme ihr zuvor und würde dem Jugendamt die derzeitige Situation schildern. Herr D. wirkt, während er spricht, wütend und der Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung verändern sich erneut. Er wird unruhig, rutscht mehrfach auf dem Stuhl hin und her, stellt die Tasse ab, um sie gleich wieder in die Hand zu nehmen. Er wolle sich nicht länger anhören, dass er ein schlechter Vater sei, fährt er fort. Dies habe er schon zur Genüge vorgeworfen bekommen. Ich erkundige mich, was in seinen Augen einen guten Vater ausmachen würde. Herr D. schweigt einige Zeit und zuckt dann mit den Schultern. Darüber habe er noch nie nachgedacht, gibt er mir zur Antwort. Ich gewinne den Eindruck, dass er momentan nicht bereit ist, sich mit dieser Frage weiter zu beschäftigen und wechsele das Thema. Auf meine Nachfrage, wie es den Kindern bei den Großeltern gehe, schaut mich Herr D. etwas strafend an. Er sei dort ja auch aufgewachsen, und es habe ihm nicht geschadet. Ich frage Herrn D. nach seiner Selbstständigkeit. Er erklärt, er fahre auf Messen, wo er spezielle Haushaltsgeräte verkaufe. Er sei gerne unterwegs und während der Messen wohne er in seinem Wohnmobil. Das sei praktisch, da er gerne kochen würde. Er berichtet weiter, dass er auch zu Hause häufig koche. Er unternehme gerne Radtouren oder begleite seinen älteren Sohn P. zum Fußball. Dieser sei sehr talentiert. Ich frage nach, ob dieses Talent in der Familie liege. Herr D. zögert und schüttelt mit dem Kopf. Abgesehen davon, dass er selber in der Jugend keine Zeit für Hobbys gehabt habe, da er als einziger Sohn seinem Vater in dessen Unternehmen nach der Schule haben helfen müssen, könne er an seine Söhne keine sportlichen Talente vererbt haben, da beide adoptiert seien. Seine Frau habe keine Kinder bekommen können und da es ihr größter Wunsch war, Kinder zu haben, sei es zu den Adoptionen gekommen. Dann nach dem plötzlichen Tod seiner Frau habe er mit den beiden Jungen alleine dagestanden. Daher sei es für alle ein Glücksfall gewesen, dass Frau F. so bald in sein Leben getreten sei. Sie sei recht schnell in sein Haus gezogen, gemeinsam mit ihren drei Kindern und habe sich dort um alles gekümmert. Wie es jetzt weiter gehen soll, wisse er nicht. Ich frage nach, ob eine Versöhnung mit Frau F. denkbar sei. Herr D. zuckt mit den Schultern. Vermutlich sei es nun endgültig. Die Streitigkeiten seien wiederkehrend und letztlich ginge es immer um seine Arbeit, seine häufige Abwesenheit und seine Vaterrolle. Ich frage nach, wie eventuelle Lö-

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Deutungsmusteranalyse und mäeutisches Fragen

sungen aussehen könnten. Herr D. schüttelt den Kopf. Das Haus verkaufen oder vermieten und in eine kleine Wohnung umziehen, lautet die Antwort. Er erklärt, sein Vater besitze genügen Häuser, da sollten sie irgendwo unterkommen. Die Jungs bräuchten Regeln, sie hätten beide Probleme in der Schule und der ältere pflege momentan schlechten Umgang, beginne vielleicht mit seinen neuen Skatfreunden zu kiffen, und so könne es nicht weitergehen. Ich frage Herrn D. nochmals nach seinen Eltern und deren Reaktion auf die momentane Situation. Herr D. räumt ein, dass beide nicht glücklich seien mit der Lösung. Seine Mutter fühle sich zu krank, um die Verantwortung für zwei Jungen zu tragen. Sein Vater habe eher mit Unverständnis reagiert, aber letztlich eingewilligt zu helfen. Er habe ihn jedoch deutlich spüren lassen, dass er wieder einmal versagt habe. Von seiner Schwägerin könne er wohl keine Hilfe erwarten, obwohl seine Söhne sich dort sicher wohler fühlen würden als bei seinen Eltern. Statt ihm zu helfen, drohe sie ihm auch noch. Ich biete Herrn D. an gemeinsam verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Eine Möglichkeit sei, ein Gespräch mit seiner Schwägerin zu führen. Ich biete an, das Gespräch zu begleiten. Ein Besuch im Hause seiner Eltern sei ebenfalls eine Option, um mir ein Bild von der derzeitigen Unterbringung der Kinder zu machen. Ich drücke meine Zuversicht aus, dass sicher eine Lösung zum Wohle der Kinder gefunden werden könne und mache deutlich, dass auch Herr D. sich aktiv daran beteiligen müsse. Er stimmt den Vorschlägen erleichtert zu. Er sei sich seiner Verantwortung für seine Söhne durchaus bewusst, teilt er mir mit, aber es sei nicht so einfach, sein ganzes Leben von heute auf morgen für die beiden zu ändern. Sie bräuchten eine Mutter und die könne er nicht ersetzen. Ich erkläre ihm, dass er nicht die Mutter ersetzen könne, aber ein liebevoller Vater, der sich konstant und verlässlich um sie kümmere, habe für seine Söhne eine wesentliche Bedeutung. Ich betone nochmals, dass ich gerne bereit bin, Herrn D. Schritt für Schritt bei der Suche nach Lösungen zu begleiten. Herr D. vereinbart in meiner Anwesenheit ein Gespräch mit seiner Schwägerin und wir verabreden uns zu einem Besuch bei seinen Eltern.«

Interpretiert man das Beratungsgespräch hinsichtlich der Deutungsmuster von Herrn D., so werden Denkweisen zunächst über die Erwerbsarbeit, über die Familie und die Elternschaft verbunden mit Einstellungen zur richtigen Rollenwahrnehmung hinsichtlich der Geschlechtsrollen und der generativen Rollen deutlich. Im Denken von Herrn D. werden Sachzwanglogiken als dominierende Deutungsmuster sichtbar. Er argumentiert, dass er aus seinem Leben nicht herauskomme, dass er für eine andere Arbeit mit weniger Abwesenheit von zu Hause zu alt sei, dass er sich nicht irgendwo bewerben könne. Er argumentiert über die Bedeutung des Berufs. Er muss schließlich Geld verdienen, das Haus sei noch nicht 131

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

abbezahlt. Dass die Erwerbsarbeit der Familienarbeit dominant vorangestellt ist, ist eine verbreitete gesellschaftliche Einstellung, die eine Marginalisierung der Familienarbeit zu Folge hat und in einen Notstand an Sorgearbeit mündet (Dierks, 2005; Brückner, 2008). Herr D. bewegt sich in dieser Sachzwanglogik der dominierenden Erwerbsarbeit, die ihn quasi rund um die Uhr fordert, sodass für andere Aufgaben keine Zeit mehr bleibt. An diesem Deutungsmuster scheitert seine Lebensgemeinschaft. Das entgegenstehende Deutungsmuster, die Frage nach dem guten Vater, beantwortet Herr D. damit, dass er darüber noch nicht nachgedacht habe. Es entsteht so eine eigentümliche Ausdruckgestalt der hohen Identifizierung mit der Erwerbsnorm und der Leerstelle über den guten Vater. Und obwohl Herr. D. sehr krisenhafte Erfahrungen mit den Deutungsmustern macht und sowohl seine Söhne wie auch seine Lebensgemeinschaft unter diesem Denken leiden, sieht er keine Möglichkeit, die Dinge zu ändern. Fest in diese Deutungsmuster eingefügt ist das Deutungsmuster zur guten Mutter. Die gute Mutter hat für Herrn D. allumfassende Bedeutung. So sagt er, dass seine Lebensgefährtin sich um alles gekümmert habe, dass so gute Bindungen seines Sohnes entstanden seien, dass seine Söhne eine Mutter bräuchten und dass er schließlich diese Mutter nicht ersetzen könne. Herr D. denkt also nicht über Vater und Mutter, dass beide Elternteile sind, die sich wechselseitig um die Kinder kümmern, sondern beide sind nicht austauschbare Repräsentanzen – Mutter und Vater, Mann und Frau, aber nicht Elternteile und Erwachsene, die sich wechselseitig um Beruf und Familie kümmern. Während nun vor allem die Frauen in Gestalt seiner Schwägerin und seiner Lebensgefährtin mit diesen Deutungsmustern von Herrn D. in Konflikte geraten, rechtfertigt Herr D. sein Denken. Nach dem Auszug seiner Lebensgefährtin gibt Herr D. seine Söhne zu seinen Eltern. Auch diese Lösung deutet auf ein Deutungsmuster hin, nämlich dass Großeltern gute Ersatzeltern für die Enkelkinder sind und einspringen, wenn sie gebraucht werden. Dabei übersieht Herr D., dass seine Kinder adoptiert wurden. Ob seine Eltern, insbesondere sein Vater, die Adoption ihrer Enkel emotional mitvollzogen haben, prüft Herr D. nicht. Die Beraterin bietet ein unterstützendes Arbeitsbündnis mit Lösungen für das Problem an. Sie hat diesen Fall im Rahmen einer Hausarbeit zu John Dewey und Pierre Bourdieu gewählt und reflektiert das Denken von Herrn D. auf dieser Folie. In Bezug auf die Lösungsorientierung oder die Ressourcenorientierung in der Beratung wäre es sehr wahrscheinlich, dass die Beraterin nun die Ressourcen und möglichen Lösungen prüft und in einem Familienrat Absprachen und Vereinbarungen bespricht und so die Situation der Familie stützt. Im Hinblick auf die in diesem Kapitel vorgeschlagene Mäeutik soll jedoch der Weg der mäeutischen Fragen an Herrn D. noch einmal durchgespielt werden. Im Sinne des 132

Habitusanalyse

sokratischen Dialogs ist davon auszugehen, dass Herr D. latent um die Widersprüche seiner Deutungsmuster weiß. Es ginge darum, ihn dahin zu führen, diese Widersprüche deutlicher zu erfassen, also dort, wo die Beraterin den Eindruck hat, dass Herr D. sich nicht mit seinen Problemen auseinandersetzen will, ihn fragend zu führen. Die mäeutischen Fragen sind geschlossene Fragen. Sokrates beginnt sie im Menon-Dialog mit: »Ist es nicht so …?« Ist es nicht so, dass Sie mit ihrer Entscheidung, sich vorwiegend um den Beruf zu kümmern, Ihrer Lebensgefährtin die Verantwortung für die Familie faktisch allein überlassen haben? Ist es dann nicht auch so, dass Sie Beschwerden ihrer Lebensgefährtin und Konflikte nicht richtig an sich heran gelassen haben? Ist es nicht so, dass Sie in der Vorstellung leben, dass der Beruf und das Geldverdienen für den Mann vorgeht? Ist es nicht so, dass Sie denken, dass die Anerkennung durch die Männer nur den Männern zukommt, die beruflich und finanziell erfolgreich sind? Ist es nicht so, dass Sie, nachdem Ihre Lebensgefährtin Sie verlassen hat, nun einen Ersatz für deren Funktion bei Ihren Eltern gesucht haben, wiederum um die Kontinuität Ihres eigenen Lebens zu gewährleisten? Ist es nicht so, dass es Ihnen auch gefällt, Zeit ohne die Familie zu verbringen? All das wären mäeutische Fragen, auf die Herr D. antworten müsste und die ihn zur Reflexivität und zum Infragestellen seiner Deutungsmuster auffordern. In Beratung und Supervision ist diese Reflexivität von großer Bedeutung, da das Reflektieren der Deutungsmuster an zentraler Stelle steht. Es reicht nicht, sich über Herrn D.s Deutungsmuster innerlich zu empören oder aufzuregen. Es geht darum sie zu konfrontieren. Die Technik der Konfrontation ist jene der mäeutischen Fragen, die im Beratungsprozess unabdingbar sind.

Habitusanalyse Eng verbunden mit der Deutungsmusteranalyse ist die Habitusanalyse in der Tradition von Pierre Bourdieu. 2010 hat Regina Heimann dieses Instrument für die Pädagogik fruchtbar gemacht, auch für die Weiterbildung, vor allem um Bildungsbarrieren theoretisch besser zu verstehen. Ähnlich wie die Deutungsmusteranalyse kann auch die Habitusanalyse als Instrument zum soziologischen Verstehen von Personen genutzt werden. Pierre Bourdieu hat bei der Entwicklung seines Habitusbegriffs zunächst den Einfluss des Denkens in Strukturen vor Augen gehabt. Auf der Ebene der Person übernimmt er den aristotelischen Begriff der Hexis, um eine Haltung zu beschreiben, die in den Körper aufgenommen 133

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

wurde und vom Körper repräsentiert wird. Bourdieu spricht hier von Inkorporation (Bourdieu, 1997, S. 62). Gleichzeitig entwickelt Bourdieu das Verständnis des Habitus aus dem Haben heraus, aus dem, worüber jemand im Sinne eines Kapitals verfügt. Der Habitus entsteht nach Bourdieu in einem konkreten sozialen Feld mit Spielregeln, die auf die Vermehrung von Kapital bezogen sind. Bourdieu wendet sich gegen einen verkürzten Begriff von Kapital und eine Reduktion auf die Ökonomie und entwickelte einen komplexen Begriff verschiedener Kapitalsorten, die zueinander in Beziehung stehen. »Ich bin von klassischen ethnologischen Analysen ausgegangen, ich habe den Leuten zugehört, als sie über Probleme der Ehre etc. redeten. Und dann habe ich ein kleines Modell konstruiert: Wenn jemand herausgefordert wird, wird er antworten. Dann habe ich nach und nach Ehre durch symbolisches Kapital ersetzt. Das ist sehr langsam vor sich gegangen, ich habe Jahre dazu gebraucht. Und ich glaube, dass ich an dem sehr einfachen Gesetz des Phänomens angekommen bin. Jemand, der in diesen Gesellschaften lebt, hat ein symbolisches Kapital und wenn er der Ökonomie seiner Gesellschaft entsprechend rationell handelt, wird er seinen symbolischen Gewinn maximieren, sein Kapital mehr oder weniger gut anlegen« (ebd., S. 79f.).

Was Bourdieu hier beschreibt, ist der soziale Sinn, dem die Menschen, die sich in einem bestimmten Feld bewegen, zumeist unbewusst folgen. Nach Heimann (2010, S. 104) ist der soziale Sinn eingebettet in gesellschaftliche Milieu- und Geschlechterstrukturen. Es entstehen Handlungsgrenzen, die den Einzelnen natürlich vorkommen. Vor allem die Sozialgefühle wie Scham, Anstand, Ehre sorgen dafür, dass die unsichtbaren Grenzen des Feldes eingehalten werden. Konformes Handeln führt nun einerseits zum Erfolg, andererseits werden die Regeln des Feldes bestätigt. Der Habitus ist ein besonderer Ausdruck des sozialen Sinns. In seiner Schrift Der Tote packt den Lebenden (1997) hat Bourdieu den Prozess der Inkorporationen, die den Habitus begründen, ausführlich beschrieben. Das Verhältnis zur sozialen Welt sei nicht das einer mechanischen Kausalität zwischen dem Milieu und dem Bewusstsein, sondern eine Art ontologische Komplizenschaft (ebd., S. 29) Weiter führt er aus, dass die ursprüngliche Beziehung zu der sozialen Welt, durch die und für die man geschaffen ist, ein Besitzverhältnis sei, das den Besitz des Besitzers durch die Besitztümer impliziere. »Wenn das Erbe sich den Erben angeeignet hat, wie Marx sagt, kann der Erbe sich das Erbe aneignen. Und diese Aneignung des Erben durch das Erbe, die die Bedingungen für die Aneignung des Erbes durch den Erben ist (und die weder etwas

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Habitusanalyse

Mechanisches noch Schicksalhaftes hat) vollzieht sich durch den kombinierten Effekt der in die Lebensbedingungen des Erben eingeschriebenen Konditionierungen und der pädagogischen Aktionen seiner Vorfahren, der angeeigneten Eigentümer« (ebd., S. 30).

Dieser Prozess, den Bourdieu hier beschreibt, ist die Inkorporation, die »unter die Haut geht«, und die spätere Verkörperlichung der sozialen Position durch alltägliche Stile und Formen. Gerade in Bezug auf die Inkorporation wird deutlich, dass die Habitusanalyse mit der Deutungsmusterananalyse Verbindungen aufweist. Neben dem erwähnten symbolischen Kapital kommen bei Bourdieu weitere Kapitalsorten zum Tragen: ➢ das ökonomische Kapital (Geld und Wertgegenstände); ➢ das kulturelle Kapital (Bildung, aber auch Gegenstände, die Bildung voraussetzen); ➢ das soziale Kapital (Beziehungen und daraus entstehende Gruppenzugehörigkeiten). Jedes Individuum akkumuliert demnach im Laufe seines Lebens Kapital, nachdem es vorher mit seiner sozialen Position ein gewisses Kapital »geerbt« hat. Bourdieus Theorie ist in Deutschland vor allem von Michael Vester (2001) und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Universität Hannover empirisch überprüft worden. 2001 haben sie eine große Studie zu den sozialen Milieus im Strukturwandel vorgelegt, die sich auf die Theorie des sozialen Raums nach Bourdieu bezieht. Regina Heimann wiederum hat das von Bourdieu entwickelte Instrument für die Habitusanalyse im Kontext von Studienberatungsprozessen fruchtbar gemacht. »Bourdieu (1982) entwirft diesen Raum entlang dreier Achsen und benennt das Kapitalvolumen (y-Achse), die Kapitalstruktur (x-Achse) und die Zeit. Die Individuen bzw. Institutionen werden entsprechend ihrer Kapitalausstattung in Relation zueinander positioniert. Damit bilden sich Bereiche mit ähnlichen Kapitalausstattungen, die als Klasse oder auch Milieus bezeichnet werden« (Heimann, 2010, S. 105).

In einer Kombination der Milieubeschreibungen von Vester unter anderem für die Bundesrepublik Deutschland mit Bourdieus Ansatz hat sie im Rahmen von 135

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Studienberatungsprozessen die zu beratenden Studierenden biografisch jenen Sozialräumen zugeordnet, die diese im Laufe ihres Lebens durchschritten haben und an denen sie kulturelles und ökonomisches Kapital gesammelt haben. Diese Beschreibung des Durchschreitens von sozialen Räumen mit den jeweiligen Kapitalvolumen ist der Kern der Habitusanalyse. Eine Person zum Beispiel, die ein Gymnasium absolviert hat, durchschreitet einen sozialen Raum, ebenso wenn sie anschließend die Universität besucht und nach Abschluss ihres Studiums versuchen muss, einen ihrer sozialen Position angemessenen Beruf ausüben zu können. Die biografische Dimension verbindet sich unter Umständen mit der Familiengeschichte, wenn das Gymnasium eines war, das schon andere Mitglieder der Familie besucht haben oder der gewählte Studiengang einer ist, den alle Mitglieder der Familie absolvieren. Auf diese Weise entstehen, wie Bourdieu sagt, Hysteresis-Effekte. Das Kapital einer Familie vererbt sich und wird legitimer und stabiler. Umgekehrt ist das Thema in der Beratung häufig das Problem fehlenden Kapitals. Und in diesem Kontext kommt eine weitere Grenze der Felder, in denen sich KlientInnen und Ratsuchende bewegen, hinzu. Bourdieu spricht von der Ökonomie als von einer Dynamik, sich den Gesetzen seines Feldes zu unterwerfen und in ihrem Sinne rational zu handeln. Zwei Grenzen sind dabei zu beachten. Die obere gesellschaftliche Grenze, die Grenze der Distinktion, trennt die Eliten von den Mittelschichten, die diesen Eliten in Lebensweise und Stil nacheifern. Die untere Grenze trennt diejenigen, die aus der Gesellschaft herausfallen, von den Integrierten. Die untere Grenze bezeichnet Bourdieu als die Grenze der Respektabilität. Alexandra Junge (2013) hat aus dem Beratungsgespräch mit Herrn D. und weiteren Kontakten mit ihm eine Habitusanalyse entwickelt. Danach wuchs Herr D. als einziges Kind seiner Eltern in einem mit ökonomischem Kapital gut ausgestatteten Umfeld auf. Der Vater von Herrn D. hatte einen handwerklichen Betrieb. Herr D. besitzt ein Einfamilienhaus in einem gutbürgerlichen Milieu. Bourdieu hat sowohl in Der Tote packt den Lebenden (1997) als auch in Das Elend der Welt (Bourdieu et al., 1997b) die Bedeutung des Erbes für die männliche Linie in den traditionellen Milieus beschrieben. Auch in seinem Klassiker Sozialer Sinn (1987) befasst er sich mit der Ökonomie dieses Feldes. Die Abstammungslinie wird repräsentiert durch den Vater, zu dem der Sohn ein widersprüchliches Verhältnis habe, da zum einen die Erziehung darauf ausgerichtet sei, das Erbe zu bewahren, es gleichzeitig aber zu vermehren oder zu transzendieren. Daraus ergebe sich für den Sohn ein Auftrag, der ihn selbst in Widersprüche treibt. Er könne das Erbe bewahren, dem Vater nah bleiben, habe dann aber nicht genug für die Vermehrung des Erbes getan oder er könne das Erbe vermehren und ent136

Habitusanalyse

ferne sich damit vom Vater. In beiden Fällen gelingt der Auftrag, obwohl die Vater-Sohn-Beziehung leidet. Scheitere dieser Auftrag, komme es, so Bourdieu, zur Buchstabierung einer dritten Rolle, des missratenen Sohnes. Herr D. versucht das Erbe zu vermehren. Er studiert, erwirbt kulturelles Kapital und schließt sein Studium als Ingenieur erfolgreich ab ( Junge, 2013., S. 14). Jedoch verdient er sein Geld als Vertreter und Verkäufer und »vagabundiert« in seinem Wohnmobil. Es scheint so, als ob Herr D. sowohl versucht, das Erbe zu vermehren, als auch es zu zerstören. Dieses Spiel mit der Position des Vaters als Repräsentant der Abstammungslinie zerbricht, als seine Frau stirbt und ihn seine Lebensgefährtin verlässt. Er ist nun mit seinen beiden Söhnen allein und benötigt Hilfe. Sein Vater ist nun nicht mehr als Familienoberhaupt, sondern als loyaler Ratgeber und Bezugsperson für den überforderten und verstrickten Sohn gefragt. Jedoch sagt er, dass sein Vater ihn habe spüren lassen, dass er wieder einmal versagt habe. Seine Kinder als Adoptivkinder erfahren die Wiederholung von Beziehungsbrüchen, die NichtAnerkennung und instabile Bindungen. Gleichzeitig zeigen die Deutungsmuster von Herrn D., dass er versucht, mit allen Mittel nicht sozial abzusteigen und seine Position im sozialen Raum nicht zu verlieren. Nach Heimann (2010) setzt sich die von ihr entwickelte Habitusanalyse aus einem Interview/Gespräch und einer praktischen Verortung im sozialen Raum der zu analysierenden Person zusammen. Zum einen wird die Kapitalausstattung im sozialen Raum nach der empirischen Analyse von Vester und KollegInnen (2001) fixiert. Die Verortung wird dann gemeinsam mit der zu analysierenden Person besprochen und der Habitus rekonstruiert. Ausschlaggebend sei, so Heimann (2010, S. 106), das kulturelle und das ökonomische Kapital. Betrachtet werden das Gesamtkapitalvolumen wie auch die jeweiligen Kapitalsorten. Bourdieu, der den sozialen Raum in Quadrate aufteilt, verortet links die kulturellen Milieus und rechts die ökonomischen Milieus. Nach oben und unten verschiebt sich das Kapital positiv bzw. negativ entweder hin zur Grenze der Distinktion oder hin zur Grenze der Respektabilität. Bourdieu orientiert sich an den Berufsbezeichnungen und schließt so auf die Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse (Beruf, Einkommen und Ausbildungsniveau) (vgl. Heimann, 2010, S. 107). Vester und KollegInnen (2001) haben mittels Bourdieus Theorie eine Sozialstrukturanalyse für Deutschland entwickelt und ein Bild des sozialen Raums entworfen.1 1

Das Modell des sozialen Raumes und der Verteilung der Kapitalsorten nach Bourdieu ist unter folgendem Link einsehbar: http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/theorien/ modernisierung/quellen/achsen.jpg

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4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Lebenslaufstrukturanalyse und Entwicklungsaufgaben Lebenslaufstrukturanalysen fokussieren das Entstehen von Generationen und die sogenannte Kohortenspezifität von Entwicklungsverläufen. Sie interessieren sich dafür, wann ein bestimmtes historisches Ereignis in die Lebenswelt einer Generation eintritt und nun die spezifische Ausdrucksgestalt einer Generation entsteht. In der Verbindung mit den psychosozialen Entwicklungsaufgaben in der Tradition von Erik Erikson lassen sich auf diese Weise bestimmte Dispositionen erklären, die auch in der Beratung eine wichtige Rolle spielen. So entstehen aufgrund von politischen Ereignissen immer wieder sogenannte »verlorene Generationen«. Angehörige dieser Generationen erleben ein politisches Ereignis im Erwachsenenalter und sind im Prozess des gesellschaftlichen Wandels »zu alt« für einen Neuanfang. Oft sind es nur wenige Jahre, welche die eine von der anderen Kohorte unterscheiden. Eine Frau, die in den 1930er oder 1940er Jahren geboren wurde und bei Einführung der Pille schon sechs Kinder hatte, partizipiert kaum noch vom Ende der Sexualnot, wenn man denn diese Zeit, wie Anne Frommann dies in diesem Buch macht, als »bleierne Zeit« bezeichnen will und die Generationen, die diese bleierne Zeit durchschritten haben, als »Generation der Sexualnot« (Prager, 1988). Zur Analyse der zeitlichen Struktur des Lebenslaufes ist es deshalb wichtig, einen Zeitstrahl anzufertigen, in dem der Klient oder die Klientin seine/ihre soziale Zeit mit der historischen Zeit abgleicht. Die soziale Zeit wiederum wird mittels der Theorie der Entwicklungsaufgaben von Erikson gut beschreiben. In seinem Modell der acht Phasen des menschlichen Lebenszyklus (vgl. Conzen, 2005) hat Erik Erikson die wichtigsten psychosozialen Entwicklungsaufgaben des Lebenszyklus beschreiben. Sie sind verbunden mit Bedürfnissen des Kindes nach Bindung, Autonomie, Selbsttätigkeit und Identität und im Erwachsenenalter nach Generativität, nach Intimität und schließlich nach dem Wunsch, ein sinnhaftes Leben geführt zu haben. Die psychosozialen Entwicklungsaufgaben entsprechen in vielem dem von Honneth formulierten Anerkennungsmuster der personalen Zuwendung und Zustimmung in der Familie. Allerdings ist es nicht nur die existenzielle Abhängigkeit des Kindes von der »good enough mother« (Winnicott (1983, S. 130), sondern ebenfalls von historischen und sozialen Ereignissen in der Welt, in der es lebt. In der Beratung ist die Erfassung der Entwicklungsverläufe von großer Bedeutung, um Traumatisierungen, starke Einschränkungen, Sozialisationsschäden und existenzielle Belastungen zu verstehen, kurz jene Formen der Missachtung, die zum ersten Anerkennungsmuster gehören. Entwicklungsaufgaben markieren gleichzeitig biografische Wendepunkte 138

Lebenslaufstrukturanalyse und Entwicklungsaufgaben

und möglicherweise kritische Lebensereignisse im Lebenslauf (Fillipp, 1981). Sie zu systematisieren und zu verstehen, erklärt gegebenenfalls die Verletzlichkeit und Anfälligkeit und damit auch die möglichen Belastungsgrenzen eines/einer Ratsuchenden im Beratungsprozess. Peter Conzen hat darauf aufmerksam gemacht, dass aktuelle Krisen von Ratsuchenden in Problemen bei der Bewältigung vergangener Entwicklungsaufgaben wurzeln können. Als wissenschaftlich begründetes Modell im Beratungsprozess schlägt Conzen vor, im Rahmen von Narrationen die geschilderten Probleme der Gegenwart den Entwicklungsaufgaben zuzuordnen.2 So können Verhaltensmuster und Interaktionen Entwicklungsaufgaben und Entwicklungskrisen zugeordnet werden. Lebenslaufstrukturanalysen werden heute zudem um die Perspektive der Zeit und des Zeiterlebens erweitert. Noch zur Zeit unserer Großmütter und Großväter spielten Jahreszeiten und ein kreishaft konzipierter Lebenslauf mit Einheiten wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, bedingt durch landwirtschaftliche Ökonomie und die Abhängigkeit von dem, was die Natur vielen Menschen zur Verfügung stellt, im Alltag eine wichtige Rolle. Seit dem Biedermeier sind Lebensuhren bekannt, die das Durchschreiten des Lebenslaufes im Sinne der Jahreszeiten beschreiben. Die menschlichen Lebensalter waren analog zu den Jahreszeiten die Kindheit und Jugend, das junge Erwachsenenalter, das mittlere und höhere Erwachsenenalter und das gebrechliche Alter. Im Zeitalter der Industrie ist diese Lebenslaufvorstellung jener des Strahls gewichen mit einem Anfang und einem Ende. Heute wird der Lebenslauf zunehmend als Karriere gedacht. Er startet von einer niedrigen Position und verläuft zu nächst höheren Positionen. Im Lebenslauf integriert sind Statuspassagen, die die Stufen auf der Karriereleiter quasi markieren. Dieses Bild des Lebenslaufs als Karriere, als von niedrig zu hoch, von klein zu groß verlaufend gilt heute als normatives Muster des Lebens. Überträgt man das Konzept der Entwicklungsaufgaben auf Herrn D., so fallen die Entwicklungsaufgabe der Generativität und der Intimität sofort als Problem auf. Offensichtlich ist es Herrn D. nicht gelungen, zu seiner Lebensgefährtin, obwohl diese loyal »sich um alles gekümmert hat«, eine Beziehung mit Intimität und Paarbildung zu entwickeln. Dies mag mit dem Tod seiner Frau zusammenhängen, Herrn D.s Lebensstil verweist aber darauf, dass er, obwohl einerseits Familienvater mit Haus und Kindern, andererseits einen nicht-generativen Lebensstil bevorzugt hat. Auch der Hinweis, dass es zur Adoption gekommen sei, 2

Das auf Erikson zurückgehende Modell der Entwicklungsaufgaben ist unter folgendem Link einsehbar: http://home.arcor.de/arthur.froehlich/verweise/ew_seminar/Vorbe reitung/Entwicklungspsychologie/LinkedDocuments/Erikson_Oerter-Montada.jpg

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4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

weil seine Frau sich Kinder so sehr gewünscht habe, zeigt, dass Herr D. mit der Entwicklungsaufgabe »guter Vater« seine Schwierigkeiten hat. Neben diesen offensichtlichen Entwicklungsaufgaben, die die innere Zustimmung zu seinen gewählten Lebensentscheidungen betreffen, ist zu fragen, ob und welche früheren Entwicklungsaufgaben im Lebenskonflikt von Herrn D. eine Rolle spielen könnten. Hier drängt sich die Entwicklungsaufgabe der Identität auf, die eine reflexive Auseinandersetzung mit der Herkunft, dem Lebensentwurf der Eltern und der Beziehung zu den Eltern beinhaltet.

Lebenslageanalyse Die Lebenslageanalyse ist ein klassisches Verfahren in der Sozialen Arbeit, das durch die Therapeutisierung der sozialpädagogischen Beratung aus der Mode gekommen ist. Das Erkennen von Lebenslagen und sozialen Gefährdungen gehörte lange Zeit zur Beratungskunst in der sozialpädagogischen Beratung. Ausgehend von der Lebenslage und den sich daraus ergebenden sozialen Gefährdungen plante der Sozialarbeiter/die Sozialarbeiterin seine/ihre Maßnahmen und entwickelte Hilfepläne. Ursprünglich geht das Konzept der Lebenslage zurück auf Otto Neurath (1931). In den 1970er Jahren wurde es durch Gerhard Weiser wiederentdeckt und spielt heute noch in der Armutsforschung und in der Sozialen Arbeit im Kontext der Armutsbekämpfung eine wichtige Rolle. Seit den 1990er Jahren ist das Lebenslagekonzept vom Lebensweltkonzept in den Hintergrund gedrängt worden. Gründe dafür sind Diskussionen um die Effektivität und Wirksamkeit von Hilfen. Lebenslagen setzen sich aus den Faktoren des Einkommens, des Wohnens, der Bildung, der Freizeit und der Gesundheit zusammen. Defizitäre Lebenslagen zeichnen sich durch einen Mangel aus, das heißt weniger als die Hälfte der Bedarfe steht zur Verfügung. Im sozialpädagogischen Beratungsgespräch wird die Lebenslage entweder ganz gezielt über einen Fragenkatalog oder indirekt erhoben »Der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge der Malariakeime, die bedrohlich wirken« (Neurath, 1931, zit. n. Andretta, 1991, S. 43). »Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens

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Lebenslageanalyse

leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung zu konsequentem Handeln hinreichender Willensstärke leiten würden« (Weisser, 1978, S. 275, zit. n. Amann, 1983, S. 141). »Lebenslage [ist der] Spielraum, den die gesellschaftlichen Umstände dem einzelnen zur Entfaltung und Befriedigung seiner wichtigen Bedürfnisse bieten« (Nahnsen, 1975, S. 148).

Im Einzelnen heißt dies für Ingeborg Nahnsen (nach Schmidtke, 2005): 1. Bedingung des Maßes der materiellen Versorgung und Verfügbarkeit materieller Güter: 2. Bedingung des Maßes an sozialen Kontakten und Kooperation mit anderen 3. Bedingung des Maßes möglicher Entwicklung intrapersonaler Denk- und Entscheidungsmöglichkeiten 4. Bedingung des Maßes an ständigen Regenerationsmöglichkeiten und möglicher Muße 5. Bedingung des Maßes des eigenen Einflusses auf relevante gesellschaftliche Prozesse (= Dispositionsspielraum) Die Aspekte der Lebenslage verhalten sich interdependent zueinander. Die Erhebung einer Lebenslage in der sozialpädagogischen Beratung ergibt sich ethisch und praktisch unmittelbar aus dem im Grundgesetz verankerten Prinzip des sozialen Rechtsstaats, so wie er in Artikel 20 Abs. 1 und Artikel 28 des Grundgesetztes festgeschrieben ist. Diese rechtliche Fundierung unterscheidet die Beratung im Kontext des Sozialrechts und der Sozialen Arbeit von der pädagogischen Beratung oder der psychologischen Beratung. Beraterinnen und Berater, die im Kontext des Sozialrechts beraten, sollten ein rechts- und sozialstaatliches Verständnis und eine anwaltliche Haltung haben. Dies gilt umso mehr, als die Erhebung von defizitären Lebenslagen und die Vermittlung von Hilfen in den amtlichen Strukturen, in denen die Beratung stattfindet, nicht konfliktfrei verläuft. Für die Beratung auf der Basis des Lebenslageansatzes gilt das Sozialgesetzbuch. Hier ist im ersten Buch ein Anspruch auf Beratung festgeschrieben, allerdings ohne den Lebenslageansatz oder weitere Begründungen zu fixieren »Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind« (§14 SGB I, Beratung).

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4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

Die Rechtswissenschaftler Schulin und Gebler (1992) sprechen von der Sozialen Beratung, jedoch als wichtige Form der sozialen Hilfe, und nennen die allgemeine Verfahrensberatung, die soziale Rechts- und Verfahrensberatung und vor allem die Beratung als Lebenshilfe als wichtige Formate der sozialgesetzlich geregelten sozialen Beratung. Vor allem bei der Beratung als Lebenshilfe wird der Beratungsbegriff sehr weit gefasst und beschreibt die rechtsstaatlichen Vorstellungen über einen sozialpädagogischen Beratungsbegriff auf der Basis des Lebenslage- wie auch des Lebensweltansatzes in der Tradition von Hans Thiersch. Die Beratung als Lebenshilfe ist mehr als nur die formale Vermittlung und Verfahrensbegleitung. Hier ist der Aspekt der Erhebung und Berücksichtigung der Lebenslage im Sinne von Nahnsen (1975) naheliegend. Die Lebenslage von Herrn D. ist aufgrund seiner guten Kapitalausstattung durch die Herkunftsfamilie und durch sein Studium relativ stabil. Es droht jedoch ein sozialer Abstieg durch Überschuldung für den Fall, dass es Herrn D. nicht gelingt, eine berufliche Perspektive aufzubauen, die seine Vaterrolle besser berücksichtigt.

Umgang mit Rollen Martin Kohli (1992) hat den Lebenslauf als eine Abfolge von Statuspassagen beschrieben und nennt in diesem Zusammenhang Rollen die wichtigsten Wirkkräfte der Erwachsenensozialisation. Auch wenn die Rollentheorie als Sozialtheorie umstritten ist, so ist sie im Rahmen des Verstehens von Konflikten in der Beratung geradezu basal. Rollen bezeichnen sinnhafte Bündel von Verhaltenserwartungen, sie sind aufeinander bezogen, sie sind reziprok und sie sind durch Normen und Sanktionen gestützt. Nach Dahrendorf (2006) sind Rollen mit Normen und Erwartungen, vor allem aber auch mit sozialen Positionen und einem dazugehörenden Prestige verbunden. Umgekehrt gehören auch Sanktionsdrohungen zur Rolle und zum engen Zusammenhang von Rolle und Norm. Erfolgreiches Rollenhandeln war das Ziel der klassischen Rollentheorie in der Tradition von Dahrendorf (2006) und es bedeutet gesellschaftliche Anerkennung. Jede Rolle lässt sich außerdem in Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen differenzieren. Diese Erwartungen sind verbunden mit positiven und negativen sozialen Sanktionen. So ist der Inhaber einer Rolle gezwungen, sich der Rolle anzupassen, um Sanktionen möglichst zu verhindern. Sanktionen, die sich auf Muss-Erwartungen richten, sind vor allem gesetzliche Normen, Sanktionen, die den SollErwartungen zugeordnet sind, werden vor allem durch Beschämung und »Gesichtsverlust« wirksam. Die Kann-Erwartungen hingegen richten sich auf den 142

Umgang mit Rollen

Stil eines Menschen. Hier kann er seine Persönlichkeit habituell einbringen. Das Leben und Arbeiten in Rollen wird in modernen Gesellschaften zur Lebensweise. Nach Habermas (1968, S. 2) ist der Status des Rollenkonzeptes umstritten, wenn es starr nur im Sinne von sozialer Anpassung gebraucht wird. Mit den Funktionalisten und Systemtheoretikern betont Habermas aber auch die Bedeutung des sozialen Handelns. Dies wird verstanden als Integration des Individuums in die vorgegebenen Rollensysteme einer Gesellschaft. Habermas zweifelt aber daran, dass gesellschaftlich – und das heißt auch in Gruppen und Institutionen – ein Zustand erreicht wird, der quasi konfliktfrei ist, weil  »in stabil eingespielten Interaktionen auf beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Wertorientierungen und Bedürfnisdispositionen besteht: und der institutionell hergestellten Komplementarität der Erwartungen und des Verhaltens eine Reziprozität der Bedürfnisbefriedigung [entspricht]« (Habermas, 1968, S. 8).

Er geht im Gegenteil davon aus, dass Rollen ständig reflektiert und verhandelt werden müssen, sich verändern und neu interpretiert werden. Dieser Verhandlungsaspekt von Rollen spielt im Guten wie im Schlechten in Beratung und Supervision eine zentrale Rolle. In der Supervision werden Rollen im Zusammenhang mit den Funktionen in einer Organisation betrachtet und mit dem Habitus des jeweiligen Rollenträgers abgeglichen. Dies wird als Arbeit mit dem Rollenset bezeichnet (Gröning, 2013) und bezieht sich vorwiegend auf die sogenannten Intrarollenkonflikte. Das sind Spannungen und Konflikte innerhalb einer Rolle, verursacht durch widersprüchliche Verhaltenserwartungen verschiedener Bezugsgruppen und Systemeffekte in der Organisation. Aus dieser Abgleichung entsteht ein Bild von Berufskonflikten als Rollenkonflikten. Unklare Verhaltenserwartungen, Widersprüche in der Rolle, Erwartungsspannungen und Aufgabenvielfalt prägen heute Berufsrollen und lösen Konflikte aus, die in Supervision, aber auch in verwandten Beratungsformaten bearbeitet werden. Ein zunehmender Konfliktherd sind Spannungen zwischen Rolle und Organisation, wenn zum Beispiel Abläufe in Organisationen eine erfolgreiche Wahrnehmung der Rolle nicht mehr ermöglichen (vgl. Becker-Kontio, 1994). Ein weiterer großer Konfliktbereich ist der sogenannte Interrollenkonflikt, der Konflikt zwischen verschiedenen Rollen im Rollenset. Ganz klassisch ist hier der Konflikt um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nach Dahrendorf (2006/1965) sollten Rollenkonflikte so gelöst werden, dass der Rollenträger das erfolgreiche Rollenhandeln anstrebt und sich zum Rollenset rational verhält. Dies impliziert, dass der Rollenträger sich an den Sanktionspotenzialen orientiert. Je 143

4 Beratung als wissenschaftlicher Prozess

mehr Sanktionspotenziale eine Bezugsgruppe hat, desto sinnvoller ist es für den Rollenträger, sich an dieser Gruppe auszurichten und deren Erwartungen zu erfüllen. Praktisch bedeutet, dies, dass rollenkonformes Handeln die Hierarchie in Organisationen bzw. die gängigen Normen in einer Gesellschaft stärkt. Die Modernisierung bringt es indessen mit sich, dass Rollen sich verändern. Dies ist der Aspekt, auf den Habermas hingewiesen hat. Das Verhandeln und ebenso Kombinieren von Rollen wird wichtiger, anstatt einer festen Rolle den Vorzug zu geben. Schon in den 1970er Jahren hat Lothar Krappmann (1974) betont, dass für dieses Rollenverhandeln soziale Kompetenz in Gestalt von Rollendistanz, von kommunikativer Kompetenz, von Empathie und von Ambiguitätstoleranz nötig ist. RollenträgerInnen müssen sich wechselseitig einfühlen und ein Bild der jeweils anderen Rolle entwickeln, sie dürfen sich mit ihren Rollen nicht zu sehr identifizieren, sie müsse Widersprüche aushalten und lernen, über Rollen zu kommunizieren. Die Arbeit mit dem Rollenset lässt sich in der Beratung gut visualisieren. So kann das Ich als Träger von Rollen als innerer Kreis dargestellt werden, die Rollen als äußere Kreise, denen die Bezugsgruppen gegenüberstehen. Diese richten Erwartung an das Ich und verfügen über Sanktionspotenzial.

Abb. 1: Modell der Rolle von Jörg Seigies (2014)

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Umgang mit Rollen

Es ist nun möglich, auf der Basis dieses Bildes die Gesamtheit von Rollen im Sinne des Interrollenkonfliktes oder die Rollensegmente einer Rolle im Sinne des Intrarollenkonfliktes mit dem/der Ratsuchenden zu visualisieren (vgl. Seigies, 2014). So können Sanktionen, Normen und Widersprüche in der Rolle kommuniziert werden. Betrachtet man die Geschichte von Herrn D. auf der Ebene der Rollentheorie, so fällt auf, dass er, obwohl sich seine Lebensumstände nach dem Tod seiner Frau sehr verändert haben, versucht, an seiner Rolle als Familienoberhaupt und Ernährer festzuhalten. Im Sinne von Krappmann verfügt er über sehr wenig Rollendistanz. Den Verlust seiner Frau kompensiert er durch eine sehr schnelle und rollen- bzw. funktionsbezogene Entscheidung, mit seiner Lebensgefährtin und ihren drei Kindern eine neue Lebensgemeinschaft zu begründen. Dadurch ist die Kontinuität seiner Rolle gewährleistet. Zu Hause entsteht nun die Entwicklungsaufgabe, aus einer Patchworkfamilie und zwei erschütterten adoptierten Kindern eine neue Familie zu institutionalisieren. Dass seine Lebensgefährtin mit dieser Aufgabe überfordert ist, versteht Herr D. nicht, denn es ist ja ihre Rolle, sich um die Familie zu kümmern. Das Modell und die Lebensform scheitern und noch immer hält Herr D. an seiner Rolle fest und bringt die Kinder zu einer weiteren Ersatzmutter, seiner eigenen Mutter. Auch auf diese Weise gewährleistet er Kontinuität für sich und sein Rollenset. Erst als Schule und Schwägerin ihm signalisieren, dass sie Herrn D.s Lebenskonzept so nicht mittragen und vor allem seiner Schwägerin von ihm mehr Rollenflexibilität erwartet und mit dem Jugendamt droht, gerät sein Rollenset ins Rutschen. Dass er nun in Verhandlungen mit seinen Kindern, seinen Eltern, seiner Schwägerin treten muss und seine Rolle flexibler wird handhaben müssen, wird ein wichtiges Beratungsziel, bei dem die Beraterin ihm helfen will. Jürgen Habermas (1968) hat in diesem Zusammenhang in seiner klassischen Vorlesung zur Sozialisation von der Rollenidentität im Gegensatz zur Ich-Identität gesprochen. Eine Person auf der Ebene der Rollenidentität will vor allem erfolgreich handeln. Ich-Identität zeichnet sich dagegen durch eine Reflexion der Rollen und im Sinne der von Lothar Krappmann beschriebenen Fähigkeiten durch kommunikative, empathische Kompetenz und Spannungstoleranz aus.

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5 Beratungskunst

Beratung wird unter Professionsgesichtspunkten als ein geschützter und besonderer Raum aufgefasst. Dies ist seit Mollenhauer (1965), Sprey (1968) und Aurin, Stark & Stobberg (1977) so. Im Begriff des dialogischen Raumes und des Möglichkeitsraumes (Winnicott, 1983) treffen sich zwei Dimensionen von Anerkennung. Seit Sokrates ist der dialogische Raum ein Raum zum Reflektieren, in dessen Mittelpunkt die bereits beschriebene, ganz bestimmte Art der reflexiven und mäeutischen Gesprächsführung steht. Sokrates’ pädagogisches Leitbild war, dass das logische und reflektierende Wissen dem Menschen unabhängig von seiner sozialen Position innewohne und dass es durch Mäeutik aktiviert werden könne. Der Denkraum bzw. der Dialograum sollte die Fähigkeiten zur praktischen Vernunft positiv fördern. Sokrates arbeitete mit dem Prinzip der inneren Stimme, dem Daimonion. Dieser inneren Stimme zu folgen und sich nicht Autoritäten zu unterwerfen, vermittelt seiner Ansicht nach innere Freiheit, praktische Vernunft und Befreiung aus Abhängigkeiten und seelischen Verbiegungen. Sokrates’ Haltung im Denkraum ist eine fragende, nach Wahrheit suchende (Platon, Apologie des Sokrates). In der Beratung findet sich dieser Beziehungsraum vor allem bei Mollenhauer (1965). Der Begriff des Möglichkeitsraumes entstammt der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie. Der Möglichkeitsraum in der Beratung bedeutet, dass der Berater/die Beraterin seinem Klienten/seiner Klientin durch Identifizierung und Spiegelung einen inneren Raum als Container zur Verfügung stellt. In diesem darf nicht nur gedacht, sondern auch gefühlt werden, der/die Ratsuchende soll sich also symbolisch ausbreiten. Dieser innere Raum ist durch eine positive Anthropologie und das Wissen um die Wichtigkeit der Integration vor allem der Gefühle geprägt. Basis des Möglichkeitsraumes ist die gute, 147

5 Beratungskunst

vertrauensvolle Beziehung. Der Möglichkeitsraum ist eng verwandt mit der beraterischen Haltung von Carl Rogers (1972). Dieser wollte das Personsein des Klienten/der Klientin durch Achtung, Wertschätzung und Respekt fördern. Rogers vertraute auf eine positive Anthropologie und glaubte fest an die Kraft des Guten. Am stärksten von allen TheoretikerInnen ist es bei Rogers die Beziehung zum Berater/zur Beraterin selbst, die die Veränderung bringt, weshalb es auch in der Beratung nicht um Techniken und Methoden, sondern besonders um eine ethische Beziehung geht. Allerdings ist Rogers’ Konzept sehr wenig reflektierend und auf Vernunft und die Fähigkeit dazu ausgerichtet, sondern folgt mehr einer therapeutischen/seelsorgerlichen Vorstellung der emotionalen Entlastung.

Die menschliche Ratbedürftigkeit Dass Menschen grundsätzlich ratbedürftig sind und dass dies kein Makel ist, sondern eine anthropologische Tatsache, ist eine Einsicht, die schon in der Antike verbreitet war. Bei Aristoteles zum Beispiel bezeichnet Wohlberatenheit die »Richtigkeit des Rates, die uns das Gute treffen lässt« (Übers. Rolfes, 1921, S. 1). Beraten ist die Fähigkeit, sich gut zu beraten. Es ist derjenige klug, der sich beraten lässt, denn, so Aristoteles, wohlberaten zu sein sei ein Merkmal des klugen Mannes. Auch Foucault sieht die Menschen im philosophischen Sinne als ratbedürftig an. In seinem Spätwerk zur Hermeneutik des Subjekts (vgl. Becker & Wolfstetter, 1984) entwickelt er eine Ästhetik der Existenz, jenseits der Disziplinartechniken – die Kunst der Selbstsorge, zu der auch die Reflexion über das eigene Handeln gehört. Hier hat Beratung einen gewissen Stellenwert, allerdings nicht im pastoralen Sinne der Gewissenserforschung, sondern als Hilfe zur Aufrichtung einer persönlichen Freiheit, in welcher man selbst weder Sklave eines anderen ist, noch Sklave seiner selbst (Balke, 2008, S. 290). Zu beraten und beraten zu werden bedeutet in diesem Sinn, sich einer empathisch-rationalisierenden Reflexion mit einer zugewandten Autorität zu unterziehen. Die Selbstsorge umfasst bei Foucault sowohl die zivilgesellschaftliche als auch die biografische Position. Sie ist eine Art der Selbstprüfung, die sich jedoch von der Bereitschaft unterscheidet, sich vollkommen unter die Autorität des spirituellen Führers zu begeben, wie dies im Christentum Praxis wurde. Beratung ist deshalb bei Foucault auch Angelegenheit der Philosophen und nicht Angelegenheit der Therapeuten. Rat zu geben ist etwas anderes als die Lenkung eines Menschen durch den Rat. 148

Ratbedürftigkeit und Scham

Ratbedürftigkeit und Scham Wenn Hans Thiersch im Interview dieses Buches davon spricht, dass ratbedürftige Menschen zunächst einmal ihre Freundinnen und Freunde, ihre Familie und ihr soziales Netzwerk aufsuchen, um sich helfen zu lassen und zu beraten und erst ganz zum Schluss professionelle BeraterInnen, dann verweist das auf die jeder Hilfe und somit auch Beratung innewohnende Schamsituation, die jede Beratung begleitet. Die Scham ist eine stille Begleiterin der Beratungssituation und wird meist erst in ihren Maskierungen, also dann wahrgenommen, wenn aus Scham Ärger oder Zorn entstanden ist. Der unerfahrene Berater/die Beraterin wird sich dann schnell als Opfer eines/einer aggressiven und unbeherrschten Klienten/Klientin fühlen. Die Fähigkeit des Beraters/der Beraterin, Scham zu fühlen und zu erschließen sowie mit Scham umzugehen, gehört zur Beratungskunst. Schameskalationen in Beratungssituationen hängen sehr oft mit einem verletzten Ehrgefühl zusammen. Die Abhängigkeit in der Beratungssituation, manchmal die latente und strukturelle Botschaft in Beratungsstellen wie lange Wartezeiten, Weiterverweisen, eine unterstellte Anspruchshaltung des Klienten/der Klientin, institutionelle Rollen und Bilder befördern die Schamdynamik. Das verletzte Ehrgefühl des Klienten/der Klientin verlangt einen professionellen Umgang und dieser heißt Anerkennung, Rituale der Ehrerbietung, gutes Benehmen und eine gewisse Zuvorkommenheit und Höflichkeit in der Beratungssituation. Schamdynamiken in der Beratung haben vor allem in amtlichen Beratungsformaten zugenommen. So klagt die Gewerkschaft der kommunalen Angestellten und Beamten KOMBA auf einem Symposium zur Gewaltprävention am 1. Oktober 2014 in Gelsenkirchen, dass in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung Aggression und Gewalt zugenommen haben, seien es Jobcenter, Sozialund Ordnungsämter, Jugendhilfe und mehr. Diesen solle nun durch »Gefahrenabwehr« und Präventionen begegnet werden, ein Sicherheitskonzept wird gefordert. (vgl.: http://www.komba.de/komba-land/nrw-nrw/aktuelles-komba-nrw/ artiukel-archiv-nachrichten-nrw/article/mit-der-axt-ins-jobcenter.html).Beleidigungen, Bedrohungen und nervenaufreibende Konfliktgespräche werden beklagt. Ursachen werden in der Person des/der Ratsuchenden gesehen, denen eine neue Gewaltkultur nachgesagt wird sowie in baulichen und technischen Mängeln. Was fehlt, ist indessen die Reflexion der Auswirkungen des Konzeptes »aktivierender Staat« auf die Interaktionen und Klientenbeziehungen vor allem in der amtlichen Beratung. Die soziale Beschämung der HilfeempfängerInnen ist seit Einführung des Konzeptes vom aktivierenden Staat Thema in der sozialpädagogischen Forschung, spielt aber in der Verwaltungswissenschaft oder in der Kriminologie keine 149

5 Beratungskunst

Rolle. Schon Anfang der 1990er Jahre hat der Emotionssoziologie Sighard Neckel prognostiziert (vgl. Neckel, 1991), dass in individualisierten Gesellschaften Scham zunimmt und entsprechend öffentliche Schamkonflikte ausgetragen werden. Die Gegenwartsgesellschaft, die als »Epoche des Supranormalismus« (Link, 2013) oder der Selbstoptimierung (Stach, 2013) oder auch der »rohen Bürgerlichkeit« angesehen wird, hat ihre Schattenseiten in der zunehmenden Scham derjenigen, die an den Rand der Respektabilität gedrängt werden und sich von sozialem Abstieg bedroht sehen. Im Prinzip erfordert das Konzept des aktivierenden Staates ein beraterisches Beziehungsangebot, welches dem Klienten/der Klientin hilft, seine/ihre Lebenslage selbst zu verstehen und nachzuvollziehen – ohne Scham. Stattdessen wird Lösungsorientierung angeboten, im Rahmen von kurzen Schulungen, die die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung wohl kaum zu Beratungsexperten für die Problemlagen in der heutigen Zeit machen dürften. So steigt das Schampotenzial in den Beratungssituationen und vor allem die sozialpädagogische Beratung oder die Beratung im amtlichen Kontext wird zur Schamsituation. Scham gilt als Hüterin der Würde (Wurmser, 1993a), als psychische Antwort auf Bloßstellung (Elias, 1976) und Reaktion auf Entwertung, Erniedrigung, Verachtung und Examination. Sighard Neckel (2006) spricht von unterschiedlichen Dimensionen der sozialen Beschämung, denen jedoch allen eine moralische Komponente innewohnt. Jeder amtlichen Beratungssituation wohnt durch die Offenlegung intimer und persönlicher Angelegenheiten ein Schampotenzial inne, welches umso mehr steigt, je offizieller die Beratungssituation ist. Im Amt, in welchem sich ratsuchende Personen offenlegen müssen, geht dieser Akt nicht ohne Beschämung vonstatten. Die amtliche Beratung im aktivierenden Staat hat ein ganz anderes Setting als die psychosoziale und pädagogische Beratung, in deren Setting Schweigepflicht, Vertrauensschutz und Professionalität gesetzt sind.

Der Anfang der Beratung

»Bereits vor der ersten Begegnung sind Prozesse der Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand in Gang gekommen« (Thomä & Kächele, 1985, S. 172).

In Beratungssituationen ist der Anfang sehr vom institutionellen Dach und den Rollen und Funktionen der Beratung geprägt. Die institutionelle Dominanz 150

Der Anfang der Beratung

wirkt sich auf den gesamten Beratungsprozess aus und untergräbt vielfach die Professionalität, die fast alle Berater/Beraterinnen in Studien und Ausbildungsgängen gelernt haben. Gute Beratung zeichnet sich dadurch aus, dass sie von der Profession her bestimmt wird, nicht von der Institution. Dies gilt vor allem für den Anfang der Beratung, wenn es um Vertrauen, Beziehungsaufbau und die Vorbereitung des Arbeitsbündnisses geht. Ein missglückter Anfang treibt nicht nur den Klienten/die Klientin in Regressionen und Übertragungen, sondern zerstört unter Umständen den gesamten Beratungsprozess. Die Anfangssituation in der Beratung sollte immer davon gekennzeichnet sein, dass der/die Ratsuchende ankommen darf in der Beratungssituation. Es sollte Raum gegeben werden, Rituale der Ehrerbietung, der Zuvorkommenheit und ein taktvoller Umgang sind in der Anfangssituation Pflicht. In komplexen Gebäuden darf man einen Klienten/eine Klientin auch schon mal am Haupteingang abholen. Der Weg in die Beratungsstelle sollte gut beschrieben sein und ein Zuspätkommen des Klienten/der Klientin beim ersten Mal ist entschuldbar und sollte nicht sofort als Widerstand gedeutet werden. Für das erste Gespräch ist mehr Zeit zu planen als für die weiteren Beratungstermine. Ankommen in der Situation heißt den Ratsuchenden/die Ratsuchende kennenzulernen und sich auf ihn einzustellen. Aufmerksamkeit, Eröffnung des Beziehungsraumes und Freundlichkeit zeichnen die Erstsituation aus. Mit den Problemen des Neuanfangs in professionellen Beziehung hat sich vor allem die Psychoanalyse auseinandergesetzt (vgl. Gröning, 2012, S. 37f.). Allerdings ist der psychoanalytische Rahmen ein von Beobachtung, Introspektion und Gegenübertragung dominierter Raum, der sich von der Beratung unterscheidet. In der Mehrheit der Beratungssituationen führt die Institutionsdynamik zu einer Art Grundspannung, die sich im Erstgespräch zumeist schon zeigt. Diese Grundspannung wird psychoanalytisch als institutionelle Übertragung verstanden. Dies heißt, dass vor allem am Anfang – ausgelöst durch bestimmte Grundeinstellungen oder Vorerfahrungen – Gefühlsreaktionen bei dem Klienten/der Klientin wach werden. Diese liegen meist nicht in der personalen Beziehung, sondern in der Institutionsdynamik begründet. Sie können durch die personale Beziehung und den Habitus des Beraters oder der Beraterin verstärkt oder abgeschwächt werden. Gute Beratung schwächt im Professionssinn die institutionelle Übertragung ab. Die Person des Beraters oder der Beraterin soll als authentisch und vertrauenswürdig, vor allem aber als professionell wahrgenommen werden können und nicht als Agent/Agentin oder Funktion in der Institution. Thomä und Kächele (1989) betonen, dass es für die Anfangssituation von ganz besonderer Bedeutung ist, welche Einstellung und welches Klientenbild 151

5 Beratungskunst

der Berater/die Beraterin entwickelt hat. Die Psychoanalyse spricht hier von einem Übertragungsangebot. Jeder Berater/jede Beratende sollte hinsichtlich Komplexität, Architektur, Atmosphäre und Raum reflektieren, welches Übertragungsangebot hinter diesen Strukturen steckt. Vielfach lässt sich erklären, warum man es so oft mit Aggressionen, mit Zuspätkommen, mit Verwirrtheit und ähnlichen institutionellen Übertragungen in der Beratung zu tun hat. Die freundliche Frage der Beraterin im Beispiel zur Beratung von Herrn D., ob er denn den Raum gut gefunden habe, ist nicht ein Spruch, sondern eine Erkundigung über die institutionellen Übertragungen. Übertragungen werden weiterhin durch die Person des Beraters/der Beraterin ausgelöst. Beraterinnen und Berater sind signifikante Andere, die dem/der Ratsuchenden sehr nahe kommen werden, die an Eltern, LehrerInnen oder Pastoren erinnern mögen. Beraterinnen und Berater müssen mit den negativen Übertragungen des Anfangs umgehen können und wissen, dass diese negativen Übertragungen in der Kommunikation und in der Beziehung immer auch die Suche nach Vertrauen sind. Einen haltenden Rahmen zu entwickeln ist deshalb der angemessene Umgang. In der Psychoanalyse werden verschiedene Ebenen der Übertragung beim Neuankommen, also bei dem/der Ratsuchenden stimuliert (vgl. Mendelsohn, 1997, S. 22): ➢ der Versuch, sich gegen das, was ist, was alteingesessen und etabliert erscheint, zu behaupten ➢ der Impuls, die eigene Geschichte und die eigenen persönlichen Erfahrungen aufrechterhalten zu wollen und gegen das Neue oder das, was kommen könnte, zu verteidigen ➢ Sturheit, Unflexibilität, latente Aggression kennzeichnen diesen Konflikt. Mendelsohn beschreibt es als Haltung gegen die Zumutung so sein zu sollen wie alle anderen. ➢ Angst zum Objekt zu werden ➢ Ambivalenz Für die Anfangssituation in der Beratung gilt deshalb, dass alles, was nicht besprochen ist und nicht besprochen werden kann, agiert werden muss und nicht funktionieren kann. Es ist deshalb ein Kunstfehler, wenn schon in der Erstsituation Lösungen angestrebt oder vorbereitet werden. Sie führen gegebenenfalls dazu, dass der Klient/die Klientin die Hilfe anzunehmen scheint. Eine Lösung, die aber nicht durch das Nadelöhr der beraterischen Beziehung gegangen ist, funktioniert nur, wenn der Klient/die Klientin nicht ratbedürftig ist, sondern nur eine Auskunft braucht. In wirklichen Beratungssituationen sind die Verwirrtheit, das Suchen und das Erarbeiten die Realität, nicht die schnelle Lösung. 152

Arbeitsbündnis

Schließlich haben Bude, Schmitz und Otto (1989) in einer umfassenden Beratungskritik betont, dass in der Beratung System und Lebenswelt aufeinander prallen, wenn Beratung als ein strategischer Prozess organisiert ist, der sich in Phasen der Eröffnung, der Datensammlung, der Interpretation der Daten und Stellungnahme und Maßnahme darstellt. Der Berater/die Beraterin, der/die so agiere, zeige dem Klienten/der Klientin vor allem, dass er/sie eine Positionsrolle habe. Das Hervorkehren der Positionsrolle löst Scham, Angst und Projektionen aus. Die Durchsetzung der Asymmetrie hat durch die gouvernementalen Beratungsformate wie vor allem systemisches Fragen noch mehr zugenommen und macht Beratung unverdaulich. Der Berater/die Beraterin hat hier das Deutungsmonopol, das Fragemonopol, während bei dem Klienten/der Klientin das Darstellungsmonopol und das Entscheidungsmonopol – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade liegt (vgl. Bude et al., 1989, S. 139).

Arbeitsbündnis Wenn Beratung, wie Hornstein (1977) es vertritt, ihren Ausgangspunkt an der Förderung von Mündigkeit des/der Ratsuchenden nimmt, gehört die Kontraktierung der Beratung konstitutiv zum Beratungsprozess dazu und ist seine wichtigste Institution. Die Kontraktierung von Beratung transzendiert sowohl den amtlichen, den institutionellen wie auch den expertokratischen Einfluss auf die Beratung. Der Kontrakt soll symbolisch BeraterInnen und Ratsuchende zu gleichen Partnern machen und dem/der Ratsuchenden damit Ängste, Schamgefühle und infantile Gefühle nehmen. Der Kontrakt ist also keine Formel von Geben und Nehmen, keine Absprache von Rechten und Pflichten, kein Instrument der Disziplinierung wie dies derzeit im Umfeld von amtlichen Beratungsprozessen stattfindet. Hier ist zu beobachten, dass die Kontraktethik zum Beispiel aus der Supervision, wie SupervisorInnen und Supervisanden ihr Arbeitsbündnis in einem Kontrakt festhalten und unterschreiben, in eine Art Pflichtenheft überführt wird, welches nur dem äußeren Anschein nach ein Kontraktverhältnis ist. Eigentlich unterschreibt der/die Ratsuchende ein Disziplinarschriftstück mit vielen Elementen der Selbstverpflichtung und Verpflichtung gegenüber dem Amt. Der Kontrakt soll also in erster Linie einer Ethik folgen. In zweiter Linie soll er Übertragungen und vor allem am Anfang der Beratung wirkungsmächtige Mechanismen wie Projektionen auffangen. Der Beratungskontrakt nimmt Rücksicht auf die Verletzungsoffenheit von Ratsuchenden und regelt zudem das Verhältnis von Nähe und Distanz. Inhalte des Kontraktes sind innere und äußere 153

5 Beratungskunst

Dimensionen der Beratung. Was ist der Beratungsgegenstand? Welches ist das Beratungssetting, wie ist zu kommunizieren, wenn Gegenstand und Setting sich verändern? Selbstverständlich können im Kontrakt auch Zeiten, Bezahlung und Fristen für Absagen von Terminen festgelegt werden. Eine besondere Bedeutung hat der Vertrauensschutz in der Beratung. Zum Vertrauensschutz gehört Offenheit und die muss nun mal auf beiden Seiten vorhanden sein. Es ist nicht richtig, wenn von dem/der Ratsuchenden Offenheit verlangt wird, die Ergebnisse von Diagnosen, Tests und anderen Verfahren aber nicht oder nur in Auszügen kommuniziert werden. Im Beratungskontrakt legt der Berater oder die Beraterin auch fest, dass er/sie in der Zusammenarbeit mit dem Klienten/der Klientin rollenreflexiv agiert. Der Grundsatz »Tu dem/der Dir Anvertrauten nichts Schlechtes« ist der Leitsatz des Beratungskontraktes. Eine gute Beratung arbeitet mit dem Setting, welches sich während des Beratungsprozesses ändern kann. In der Supervision ist es üblich, zu bestimmten Zeitpunkten Vorgesetzte einzubeziehen, um zu Konsens und Kompromissen zu kommen, ebenso die Beratung zu evaluieren und zu metakommunizieren. Ein falsches Setting fördert den Verdacht der Einseitigkeit und des Abwehrbündnisses. Dies kann Fantasien und Schuldgefühle verursachen. In der Sozialpädagogik spricht Burghard Müller (1986, S. 119) vom Arbeitsbündnis, welches er als »working consensus« bezeichnet. Im Sinne der Anwaltlichkeit erteilt der Klient/die Klientin dem Berater/der Beraterin ein Mandat. Der Klient/die Klientin braucht die Hilfe des Beraters/der Beraterin und beide treten in eine Koproduktionsbeziehung. Leuschner (1993) bezeichnet dies als Interdependenz. Die Interdependenz der Beziehung, die für jede soziale Dienstleistung im Übrigen konstitutiv ist, wird in einem Kontrakt festgehalten, welcher als äußerer und innerer Rahmen verstanden werden kann. Vor allem der innere Rahmen setzt auf die Vernunft des Klienten/der Klientin, auf seinen/ihren Willen zur Mündigkeit. Ein freiwillig und vernünftig zustande gekommener Kontrakt mündet in einen Konsens über die Beratung. Vernunft beruht auf einem täuschungsfrei festgestellten gemeinsamen Interesse (Habermas, 1973, S. 148, nach Müller, 1986, S. 118). Müller zeigt auf, dass »systematisch verstellte Beziehungen« den Anforderungen an Kontrakt und Arbeitsbündnis nicht gerecht werden können. Das Arbeitsbündnis ist deshalb, wie schon ausgeführt, eine Kontraktethik, die von der Anerkennung des/der Ratsuchenden als Rechtsperson geprägt ist (hierzu auch Gröning, 2012, S. 38ff.). Schließlich sei noch die psychoanalytische Dimension des Arbeitsbündnisses erwähnt. Freud hat das Arbeitsbündnis als Kontrakt zwischen dem Analytiker und den gesunden Ich-Anteilen des Analysanden verstanden, der geschlossen wird, um die 154

Verstehen, Ordnen und Reflektieren – die ersten Interventionen im Beratungsprozess

kranken Ich-Anteile zu kurieren. Diese Haltung kann dem Berater/der Beraterin helfen, wenn Störungen des Arbeitsbündnisses die Beratung erschweren. So kann es zu einer Übermacht des unreifen Gewissens und in der Folge zu Schamgefühlen des Klienten/der Klientin kommen. Auch eine infantile Abwehr – wunschgeleitet, illusionsgeleitet und nicht realitätstüchtig – und eine mangelnde Reife können das Arbeitsbündnis stören. Freud versteht das Arbeitsbündnis dann wie folgt: »Das Ich ist durch den inneren Konflikt geschwächt. Wir müssen ihm zu Hilfe kommen. Es ist wie in einem Bürgerkrieg, der durch den Beistand eines Bundesgenossen von außen entschieden werden soll. Der analytische Arzt und das geschwächte Ich sollen, an die reale Außenwelt angelehnt, eine Partei bilden gegen die Feinde, die Triebansprüche des Es und die Gewissensansprüche des Über-Ichs. Wir schließen einen Vertrag miteinander. Das kranke Ich verspricht uns vollste Aufrichtigkeit, d. h. die Verfügung über all jenen Stoff, den ihm seine Selbstwahrnehmung liefert. Wir sichern ihm strengst Diskretion zu und stellen unsere Erfahrung der Deutung des vom Unbewußten beeinflussten Materials in seinen Dienst. Unser Wissen soll sein Unwissen gutmachen, soll seinem Ich die Herrschaft über verlorene Bezirke des Seelenlebens wiedergeben« (Freud, GW XVII, S. 98, zit. n. Müller, 1986, S. 121).

Die Position, die Freud hier einnimmt, ist nicht nur eine mächtige, sondern durch den Vertrauensschutz und das Ziel, nämlich die Herrschaft über verlorene Bezirke des Seelenlebens zurückzuerobern, auch eine parteiliche und anwaltliche Form. Die psychoanalytische Haltung hilft, wenn die Enttäuschung durch den Klienten/die Klientin überhandnimmt.

Verstehen, Ordnen und Reflektieren – die ersten Interventionen im Beratungsprozess 1951 hat John Dewey in seinem Klassiker »Wie wir denken« eine Theorie der Reflexivität entworfen, die im Kontext von praktischer Beratung von großer Bedeutung ist. Die Beratungssituation ist geprägt von der Ratbedürftigkeit des Klienten/der Klientin, seine Deutungsmuster, die ihre Wurzeln in seiner Erfahrung und in seinem Alltag haben, sind an Grenzen gestoßen. Der Klient/die Klientin müssen lernen und sich verändern. Für Dewey heißt Lernen, die Deutungsmuster zugunsten von Reflexivität zu erweitern und zu überwinden. Lernen heißt bei ihm zuerst logisch zu denken und sein Problem zu Ende zu denken. Dies unterscheide das Denken vom Fürwahrhalten (Dewey, 1951, S. 6). Reflek155

5 Beratungskunst

tierendes Denken ist dabei sowohl logisches Denken, theoretisches Denken als auch verstehendes und erfahrungsbezogenes (empirisches) Denken. Diese Denkart muss für den Berater/die Beraterin leitend sein. Gute Beratung heißt also zuallererst und konsequent reflexiv zu denken. In Bezug auf die in diesem Buch beschriebenen Deutungsmuster steht reflexives oder reflektierendes Denken klar in Abgrenzung zu jenem, was man für wahr hält. Zufallsdenken, das additive Aneinanderreihen einzelner Gedanken und Annahmen, die Vorherrschaft der Affekte, dies alles gehört in der Beratung auf den Prüfstand. Im Gegensatz zu den Deutungsmustern ist die Bereitschaft zur Unsicherheit bei der Reflexion von großer Wichtigkeit. Suchen und Bemühen zeichnen das reflektierende Denken aus. Über die Reflexion sagt Dewey (ebd., S. 83), dass es hierbei auch um ein Ordnen von Tatsachen und Bedingungen gehe. Das Ordnen diene dazu, einzelne Teile zu einem sinnhaften Ganzen zusammenzubringen.

Reflexion Jede Entwicklung in der Beratung setzt voraus, dass der Klient/die Klientin irgendwann seinen/ihren Standpunkt reflektiert und gegebenenfalls relativiert. Diese Relativierung der eigenen Wahrnehmung, das Verlassen und Überschreiten des eigenen Horizontes ist ebenso wichtig wie schwierig. Trotzdem bildet die Wahrnehmungserweiterung als besondere Form des Lernens im Beratungsprozess den zentralen Kern. In der Beratung können dazu die Instrumente der Deutungsmusteranalyse, der Habitusanalyse, der Arbeit mit Rollen etc. verwendet werden. Es sollte so etwas wie eine offene Diagnose auf der Basis der aufgezeigten sozialwissenschaftlichen Instrumente stattfinden. Dies kann dem/der Ratsuchenden auch theoretisch nähergebracht werden. Die Reflexion der Instrumente führt meist zu biografischen Erzählungen, die dem Klienten/der Klientin helfen, ein anderes Verhältnis zu sich und seinem/ihrem Problem zu gewinnen, ohne dass der Berater/die Beraterin zu sehr intervenieren muss. Ein weiteres wichtiges Element ist das Feedback auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse. Das Feedback ist ein Nebeneinanderstellen von Interpretationen, ohne die subjektiven Sinndeutungen der Klientinnen und Klienten zu entwerten. Diese Fähigkeit, die eigene Deutung und Interpretation neben die Deutung der Klientinnen und Klienten zu stellen und dort stehen zu lassen, ist ein wichtiger Schritt in der Beratungsbeziehung. Für den Fall, dass die Klientinnen und Klienten sich nicht mehr verstanden fühlen, wenn man sich ihren subjektiven Deutungen nicht unterwirft, besteht die Möglichkeit zum Spiegeln zurückzukehren. 156

Regressionen, Verstrickungen, Krisen und weitere Grenzen

Fördernder Beistand Ratbedürftige und ratsuchende Menschen befinden sich in einem seelischen Spannungszustand, den Beraterinnen und Berater am besten verändern, wenn sie sich empathisch verhalten. Vor allem eine Gesprächstechnik, die Rogers die nicht-direktive Methode genannt hat, ist in der Beratung ein wichtiger Schritt der Gesprächskunst des Beraters/der Beraterin. Der/die Beratende versucht, hier die Gefühle des Klienten/der Klientin zu erfassen, indem er sich zu den Reaktionen wie ein Spiegel verhält. Der Berater oder die Beraterin solle dem Klienten/der Klientin ein zweites Selbst werden und ihn/sie so verstehen, wie er/sie sich selbst erscheint. Es geht beim Spiegeln um eine Art des Verstehens, wie der Klient/die Klientin sich im Augenblick wahrnimmt. Spiegeln ist ein empathischer Akt, der viel mit Prozessen der Identifizierung zu tun hat. Empathie bedeutet, so Wolfgang Krone (1988, S. 99), die Wahrnehmungswelt des anderen zu betreten und darin so gut wie möglich heimisch zu werden. Der Berater/die Beraterin muss ein Gespür dafür haben, in welchem Affektzustand der Klient/die Klientin sich bewegt, Wut, Angst, Verwirrung müssen mitgefühlt und nachvollzogen werden können. Empathie bedeutet, in das Leben der Person einzutreten und keine Urteile zu fällen, keine Gefühle aufzudecken und nicht zu konfrontieren – das wäre zu bedrohlich. Das Spiegeln sei eine Art Beiseite-Legen der eigenen Person und deshalb besonders schwierig, Rogers geht aber davon aus, dass es vor allem die Erfahrung des Verstehens und Übereinstimmens ist, die zur inneren Freiheit des Klienten/der Klientin, zur Katharsis und zum Lernen führt. Empathie richtet sich auf die innere Welt des Klienten/der Klientin, sein/ihr Selbstbild, Weltbild, Menschenbild, wie es sich ihm/ihr darstellt und bestimmend ist für sein/ihr Fühlen, Wahrnehmen und Erleben. Dazu gehört die Bereitschaft des Beraters oder der Beraterin, die Welt des Klienten/der Klientin nicht nur zu erspüren, sondern auch zu antworten. Was er/sie verstanden hat, spiegelt er/sie zurück. Dies ist der Kern des helfenden und befreienden Dialogs.

Regressionen, Verstrickungen, Krisen und weitere Grenzen Für den Umgang mit Regressionen, Schwierigkeiten und besonderen Beziehungsproblemen kommen Beraterinnen und Berater um ein vertieftes Verstehen nicht herum. Immer wieder entstehen in der Beratungspraxis Krisensituationen. Kennzeichen ist, dass Beratende hier auf einmal hoch involviert sind, sich mit dem Klienten/der Klientin verstricken und häufig nicht wissen, ob sie die Beratung 157

5 Beratungskunst

fortsetzen oder den Klienten/die Klientin in eine Therapie weiterverweisen sollen. Besonders in der Psychoanalyse gilt die Verstrickung als das interessante Phänomen. Mit diesen klinischen Aspekten hat sich der Psychoanalytiker Helmut Junker (1978) befasst, die er leider für die gesamte Beratung generalisiert. Er versteht Beratung wie Rogers als einen therapeutischen Raum. Das psychoanalytische Beratungsmodell ist durchgängig beziehungsreflexiv. Es könne für den Klienten/die Klientin keinen Rat geben, sondern nur einen Prozess, den Junker beschreibt als: Verstehen – Identifizieren – Kontakt – Empathie – Rationalität. Ziel der Beratung sei nicht das Lösen von Problemen, sondern ein verändertes Verhältnis zu sich selbst. Bei Junker erhält die jeweilige psychische Struktur des Beraters/der Beraterin und des Klienten/der Klientin eine zentrale Bedeutung. Er versteht Beratung als die Wiederholung der frühen Beziehungen und interpretiert diese als Dynamik zwischen Beraterin oder Berater und neurotischen Klientinnen und Klienten. Zur Dynamik in der Beratung gehört dann die Entwertung, die Sturheit, das Besserwissen, die Flucht, die Vermeidung etc. Maßgabe ist, ➢ den Klienten/die Klientin sprechen zu lassen, ➢ Angebote zum Kontaktabbruch nicht anzunehmen, ➢ Entwertungen nicht zu akzeptieren, ➢ Konflikte zu akzeptieren und Konflikte ernst zu nehmen, ➢ Konflikte durchzuarbeiten und das Ich des Klienten/der Klientin vor den Über-Ich-Attacken zu schützen, ➢ erst sehr spät das Realitätsprinzip aufzeigen und dem Klienten/der Klientin Wege aufzuzeigen, ➢ auf Druck zu verzichten. Im Umgang mit den beraterischen Krisen gelten vor allem die spiegelnden und anerkennenden Prinzipien der Gesprächsführung. In der Krisenintervention ist zudem eine Problemanalyse, eine gemeinsame Problemdefinition und eine Problemhierarchie zu erstellen. Eine Krise äußert sich durch eine starke Polarisierung der Wahrnehmung, es existiert häufig nur noch schwarz und weiß, die Welt wird als bedrohlich, verfolgend und böse wahrgenommen.

Abschied und Perspektive Jede Beratung sollte mit einer Abschlussreflexion und einem Abschlussritual beendet werden. Diese Abschlussreflexion beinhaltet die Bewertung der Beratung 158

Abschied und Perspektive

durch den Ratsuchenden/die Ratsuchende und sollte kommunikativ und nicht im Sinne einer Evaluation oder Kundenbefragung laufen. Dem/der Ratsuchenden ist Gelegenheit zu geben, zu erklären, was in der Beratung gut und was weniger gut für ihn/sie war, was er oder sie mitnimmt und welche Bedeutung die Beratungserfahrung für ihn oder sie als Ganzes hatte. Kommt der/die Ratsuchende nicht und bricht die Beratung ab, so ist es ein Weg, eine nachgehende telefonische Abschlusssitzung durchzuführen, in der diese Fragen erörtert werden. Auch ein Brief und eine Nachricht der Beraterin oder des Beraters sind vielfach wertvoll. Das Abschiedsritual sollte aus Wertschätzung und Anerkennung für die Leistungen des/der Ratsuchenden während der Beratung bestehen. Es geht darum, etwas zu sagen, was die Persönlichkeit und das Problem des/der Ratsuchenden und seiner Bedeutung angemessen beschreibt. Ein weiterer wichtiger Punkt im Abschluss einer pädagogischen Beratung ist die Frage danach, wie es weiter geht und ob es eine Rückkehr geben kann, weitere Hilfen und Möglichkeiten sind zu erörtern.

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