Quantifizierung von Verfassungsrecht: Zahlenverwendung im Verfassungstext und Zahlengenerierung durch das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität [1 ed.] 9783428548804, 9783428148806

Wie werden Zahlen – die typischerweise naturwissenschaftlicher Rationalität bzw. entsprechenden Rationalitätserwartungen

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Quantifizierung von Verfassungsrecht: Zahlenverwendung im Verfassungstext und Zahlengenerierung durch das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität [1 ed.]
 9783428548804, 9783428148806

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1322

Quantifizierung von Verfassungsrecht Zahlenverwendung im Verfassungstext und Zahlengenerierung durch das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität

Von

Hanka von Aswege

Duncker & Humblot · Berlin

HANKA VON ASWEGE

Quantifizierung von Verfassungsrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1322

Quantifizierung von Verfassungsrecht Zahlenverwendung im Verfassungstext und Zahlengenerierung durch das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität

Von

Hanka von Aswege

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14880-6 (Print) ISBN 978-3-428-54880-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84880-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2015 als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis Juni 2014 berücksichtigt. An dieser Stelle möchte ich insbesondere meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Waldhoff für seine herausragende Betreuung danken. Seine stetige Gesprächsbereitschaft, die großzügige Gewährung von Freiraum für die eigene Arbeit sowie die Förderung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl haben maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Herrn Professor Dr. Eifert, LL. M., danke ich herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich seit Beginn des Studiums gefördert und mir als Doktorandin ein ideelles und finanzielles Stipendium gewährt. Die FAZIT-Stiftung und die Konrad-Redeker-­Stiftung haben jeweils mit einem Druckkostenzuschuss eine Veröffentlichung in dieser Form ermöglicht. Dafür danke ich sehr. Dank gebührt außerdem meinen ehemaligen Kollegen am Lehrstuhl und meinen Freunden, die Mühen der Korrektur übernommen, mit mir hilfreiche Gespräche geführt und mich bei der Erstellung dieser Arbeit persönlich begleitet haben. Von ganzem Herzen danke ich schließlich meiner Familie: Ihre Unterstützung, ihr verlässlicher Rat sowie liebevoller Zuspruch sind das Fundament meines bisherigen Weges und des erfolgreichen Abschlusses der Promotion. Der größte Dank gilt meinen Eltern. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Bonn, im November 2015

Hanka von Aswege

Inhaltsübersicht Einführung: Thematik und Problemstellungen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Teil

Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

30

1. Kapitel: Wesen und Funktion von Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Zahlen als Sprech- und Denkakte unabhängig von rechtlichen Regelungen . . . . 31 B. Die funktionelle Spannbreite von Zahlen – Zwischen Messwesen und Rechenkunst 32 2. Kapitel: Zur „Verzifferung“: Verwendungsintensität und -modalitäten von Zahlen bei der Erfassung tatsächlicher Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 A. Historische Verzifferungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 B. Zweck und Methodik der Zahlengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Kapitel: Begrenzte Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . 61 A. Ordnung des Methodenpluralismus durch eine duale Struktur der Erkenntnis . . . 62 B. „Rechtswirklichkeit“ als geisteswissenschaftliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ . 66 C. Abbildbarkeit der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

2. Teil

Zahlen in der Verfassung

71

1. Kapitel: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz . . . . . . . . . . . 72 A. Zahlen im Verfassungstext und Zahlen als Verfassungsrechtsbegriffe . . . . . . . . . 73 B. Weitere verfassungsrechtliche Normierungen mit numerischer Relevanz . . . . . . 96 2. Kapitel: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . 99 A. Ansatzpunkte für eine sprachwissenschaftliche Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 B. Semantische Spezifika von Zahlen in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 C. Die Rolle von Zahlen im Kommunikationsprozess innerhalb des Verfassungsrechtssystems und mit anderen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

10

Inhaltsübersicht

3. Kapitel: Zahlenverwendung und funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes 120 A. Die Funktionen der Verfassung als Fixpunkte der verfassungsrechtlichen Analyse 121 B. Funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 C. Einfügung der Zahlenverwendung in die funktionale Harmonie des Grundgesetzes 133 D. Funktionsgerechtigkeit der Zahlenverwendung als Sperre für die Verzifferung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3. Teil

Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

137

1. Kapitel: Überblick: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . 138 A. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 B. Abgrenzung: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung und Zahlen in Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 C. Ordnungskriterien für die Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung 146 2. Kapitel: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen . . . . . . . . . . . 150 A. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 B. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Quoren . . . . . . . . . . . . . . . 267 C. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Zeit bzw. Alter . . . . . . . . . 275 D. Weitere bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Kapitel: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung – Quantifizierungen in der Darstellung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 A. Zahlen als bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 285 B. Zahlen und Zahlenbezug außerhalb bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 4. Kapitel: Quantifizierungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 A. Historischer Wandel des Methodenverständnisses im (Staats-)Recht: Negierung und Verabsolutierung des schöpferischen Elements in der (Verfassungs-)Rechtsprechung 359 B. Realität und verfassungsrechtliche Idealität (verfassungs-)gerichtlicher Methodik nach Überwindung der historischen Antipoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 C. Iudex non calculat. – Quantifizierungen jenseits der Darstellung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 D. „Wahre“ und/oder „richtige“ Zahlen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 E. Methodengerechtigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen?

425

Inhaltsübersicht

11

5. Kapitel: Verfassungsgerichtliche Quantifizierung im Widerstreit bundesverfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 A. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im grundgesetzlichen System der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 B. Zum Kompetenzkonflikt der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . 439 6. Kapitel: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen durch das quantifizierende Verfassungsgericht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 A. Atypische Entscheidungsrationalitäten im Zusammenhang der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 B. Das Rechtsverweigerungsverbot: Archimedischer Punkt für die Verfassungskonformität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . 452 C. Problematische Fälle verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen: Atypische Entscheidungsrationalität bei fehlendem Entscheidungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 D. „Ausnahmen bestätigen die Regel“: Einordnung der Quantifizierungen in die verfassungsrechtlich geforderte Methodik und das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes 473 Rückblick: Zahlen im Verfassungsrecht: Anlehnung an naturwissenschaftliche Rationalität – Unterwerfung unter geisteswissenschaftliche Rationalität – Einblick in Irrationalität und Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Inhaltsverzeichnis Einführung: Thematik und Problemstellungen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Teil

Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“ 30

1. Kapitel

Wesen und Funktion von Zahlen

31

A. Zahlen als Sprech- und Denkakte unabhängig von rechtlichen Regelungen . . . . . . . 31 B. Die funktionelle Spannbreite von Zahlen – Zwischen Messwesen und Rechenkunst 32 I.

Anthropologischer Ursprung der Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

II. Zahlen zur Erfassung und Ordnung der „Wirklichkeit“ – Verortung von Zahlen im Erkenntnisprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Zahlen in der Mathematik: Entwicklung der Zahl zum Abstraktum . . . . . . . . . 39

2. Kapitel Zur „Verzifferung“: Verwendungsintensität und -modalitäten von Zahlen bei der Erfassung tatsächlicher Zusammenhänge



41

A. Historische Verzifferungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I.

Standardisiertes Zähl- und Messwesen als Voraussetzung der Verzifferung . . . . 44

II. In more geometrico: Wissenschaftliche Revolution und Geometrisierung des Alltags in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Technisierung und Ökonomisierung in der Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . 49 IV. Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. Fortsetzung der Verzifferung über die historischen Ursprungsgebiete hinaus . . 52 VI. Verzifferung als Zahlenprägung der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 B. Zweck und Methodik der Zahlengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 I.

Zählen und Messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

II. Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

14

Inhaltsverzeichnis 1. Quantifizierung im engeren und im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Methodik des Messens als Abgrenzungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Erste, übergeordnete Ebene: Strukturierung der „Wirklichkeit“ in Größen 58 b) Zweite Ebene: Vermessung des einzelnen Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 c) Dritte Ebene: Numerische Ordnung zwischen verschiedenen Objekten . 59 III. Qualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IV. Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 V. Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

3. Kapitel

Begrenzte Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen

61

A. Ordnung des Methodenpluralismus durch eine duale Struktur der Erkenntnis . . . . . 62 I.

Erkenntnisform und erkannte „Wirklichkeit“ in den Natur- und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

II. Kombination der Erkenntnisformen und Durchbrechung ihrer idealtypischen Unterscheidung (Erkennen ist Werten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 III. Irrationalität als Grenze der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 B. „Rechtswirklichkeit“ als geisteswissenschaftliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ . . . . 66 C. Abbildbarkeit der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

2. Teil

Zahlen in der Verfassung

71

1. Kapitel

Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz

72

A. Zahlen im Verfassungstext und Zahlen als Verfassungsrechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . 73 I.

Ordnung nach der Funktion im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Ordnungszahlen: Zahlen mit formeller Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Zahlen als Verfassungsrechtsbegriffe: Zahlen mit materieller Funktion . . . . 75

II. Darstellungsmodi und Zahlsorten im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Ziffern bzw. Zahlzeichen und Zahlwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Ganze Zahlen, Dezimalzahlen, Bruchzahlen, Prozentzahlen . . . . . . . . . . . . 77 3. Punktgenaue Zahlenwerte, Mindest- und Maximalangaben, Rahmenbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Weiche | harte Zahlenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Inhaltsverzeichnis

15

III. Ordnung nach Sachbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Zahlen zur Konkretisierung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten . . 83 a) Wehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Zahlen zur Organisation des demokratischen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Konstituierung und Organisation der Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . 84 b) Ordnung der staatlichen Funktionen: Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3. Zahlen in der Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4. Zahlen in den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes . . 90 5. Weitere zahlengeprägte Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 IV. Ordnung nach Normtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 V. Ordnung nach Größenarten, Maßeinheiten und Bezugsgruppen . . . . . . . . . . . . 94 B. Weitere verfassungsrechtliche Normierungen mit numerischer Relevanz . . . . . . . . . 96 I.

Implizite, versteckte Zahlenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Implizite bestimmte Zahlenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Implizite unbestimmte Zahlenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

II. Ausdrückliche verfassungsrechtliche Anordnungen und Ermächtigungen zur Zahlenfestlegung und zur Quantifizierung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Kapitel

Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext

99

A. Ansatzpunkte für eine sprachwissenschaftliche Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 I.

Das Grundgesetz als Zeichen- und Kommunikationssystem . . . . . . . . . . . . . . . 100

II. Zahlen als Zeichen im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Einbindung von Zahlen in eine im Übrigen höchst unbestimmte Verfassung . . 102 B. Semantische Spezifika von Zahlen in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I.

Bedeutungsschwäche als Voraussetzung der Integration in den Verfassungstext 105

II. Bedeutungskonstante: Bewahrung semantischer Autonomie von Zahlen in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Eindringen naturwissenschaftlicher Rationalitätserwartungen in das Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Semantische Durchbrechungen: Exakte Zahlen im (unbestimmten) Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Bedeutungswandel: Semantische Integration von Zahlen in die Verfassung? . . 115 C. Die Rolle von Zahlen im Kommunikationsprozess innerhalb des Verfassungsrechtssystems und mit anderen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

16

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Zahlenverwendung und funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes



120

A. Die Funktionen der Verfassung als Fixpunkte der verfassungsrechtlichen Analyse . 121 I. Ausgangspunkt der Funktionsbeschreibung: Das Grundgesetz als rechtliche Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Funktionserweiterung: Das Grundgesetz als Kompromiss zur Herstellung staatlicher Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 B. Funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I.

Normtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

II. Verfassungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Verschränkung von Verfassungsinhalt und -sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Funktionsgerechtigkeit der Verfassungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Funktionsgerechte Regelung materieller Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Funktionsgerechte Regelung formeller Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 C. Einfügung der Zahlenverwendung in die funktionale Harmonie des Grundgesetzes

133

D. Funktionsgerechtigkeit der Zahlenverwendung als Sperre für die Verzifferung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Teil 

Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

137

1. Kapitel

Überblick: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

138

A. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 B. Abgrenzung: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung und Zahlen in Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 C. Ordnungskriterien für die Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung I.

146

Größenarten, Maßeinheiten und Bezugsgruppen der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

II. Quantifizierungs-Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Unmittelbar und mittelbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Umfassend und punktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Präzise und in (unbestimmten) Bandbreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4. Positiv und negativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5. Einstufig und mehrstufig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Autonom und heteronom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Inhaltsverzeichnis

17

2. Kapitel

Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

150

A. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I.

Horizontaler Finanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen . . . . . . . . . 151 1. Einordnung des horizontalen Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen in den Finanzausgleich im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Prüfungsmaßstab: Unbestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben in Art. 107 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Überprüfung: Die einfachgesetzliche(n) Konkretisierung(en) des Art. 107 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Gestufte Konkretisierung im Maßstäbe- und Finanzausgleichsgesetz . . 155 b) Fokus: Zahlen im Finanzausgleichsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Rechenverfahren zur Gestaltung des horizontalen Finanzausgleichs 157 bb) Bundesergänzungszuweisungen: Anknüpfung an das Rechenverfahren des horizontalen Ausgleichs und Normierung fester Beträge . . . 157 4. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Überblick . . . . . . . . 159 5. Zahlen und Zahlenbezug in den Verfassungsgerichtsentscheidungen zum ­ Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Ergebniskontrolle des Finanzausgleichsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 aa) Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Sachbereich des horizontalen Finanzausgleichs, Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG 162 (1) Bestimmung der tatsächlichen Finanzkraft der Länder . . . . . . . 162 (a) Ländereinnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (b) Einbeziehung der kommunalen Einnahmen . . . . . . . . . . . . . 163 (2) Bestimmung der durchschnittlichen Länderfinanzkraft als Vergleichsmaßstab – Einwohnerwertung der Stadtstaaten . . . . . . . 165 (3) Bestimmung des „angemessenen“ Ausgleichs  – Umfang der ­ Finanzausgleichsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 bb) Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Sachbereich der Bundesergänzungszuweisungen, Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG . . . 173 (1) Zulässiges Maß an Bundesergänzungszuweisungen . . . . . . . . . 173 (a) Gesamtvolumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (b) Geltung des Nivellierungsverbots? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (2) Vorliegen einer (extremen) Haushaltsnotlage . . . . . . . . . . . . . . . 177 (a) Ausgangspunkt: Das Urteil vom 27. Mai 1992 . . . . . . . . . . . 177 (b) Verschärfung der Voraussetzungen im Urteil vom 19. Oktober 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Verfahrenskontrolle des Finanzausgleichsgesetzes – Methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Zahlen als Gesetzesinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

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Inhaltsverzeichnis (1) Bestimmung der Berechnungsfaktoren im horizontalen Finanzausgleich: Rückführbarkeit auf Indikatoren und einfachgesetzliche Wertung, Beschränkung des Einflusses finanzwissenschaftlicher Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (2) Einfachgesetzliche Überprüfung und Korrektur der Berechnungsfaktoren und Indikatoren als Begleitpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (3) Begründungspflichten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Zahlen als Ergebnis des einfachgesetzlichen Verfahrens . . . . . . . . . 188 6. Verfassungsgerichtliche Quantifizierung im Finanzausgleichsrecht? . . . . . . 189 a) Tatsachenbeschreibung in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Subsumtion von Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Als mittelbare Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 bb) Vorbringen der Antragsteller für eine unmittelbare bzw. gegen jede Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 c) Vorgaben für die einfachgesetzliche Generierung von Zahlen . . . . . . . . 194 II. Absolute Steuerbelastungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Begrenzung der steuerlichen Höchstbelastung: Halbteilungsgrundsatz . . . . 197 a) Aufstellung eines Halbteilungsgrundsatzes für die Vermögensbesteuerung am 22. Juni 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Der Halbteilungsgrundsatz als unmittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Ablehnung eines allgemeinen steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes am 18. Januar 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 d) Ablösung der unmittelbaren durch eine mittelbare Quantifizierung bei Überprüfung der konkreten steuerlichen Belastungshöhe . . . . . . . . . . . . 208 2. Mindestverschonung bei der Besteuerung: Steuerfreiheit des Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a) Zahlen und Zahlenbezug in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen bei der Überprüfung der verfassungsgerechten Höhe der Steuerverschonung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 aa) Höhe des steuerfreien Existenzminimums – Kopplung an die einfachgesetzliche Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 bb) Erhöhung der Steuerverschonung des unterhaltspflichtigen Steuerschuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (1) Familienlastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (2) Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 cc) Methodische Vorgaben für die Berechnung der maßgeblichen Sozialhilfeleistungen, Strenge der Kopplung an die sozialhilferechtliche ­ Referenzgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 dd) Tabellarische Auflistungen und numerische Vergleiche bei der Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Inhaltsverzeichnis

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b) Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen in den Entscheidungen zum steuerrechtlich zu berücksichtigenden Existenzminimum? . . . . . . . . . . . 219 aa) Unmittelbare Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 (1) Durch die Kopplung an die durchschnittlichen Sozialhilfeleistun­ gen oder die Einbeziehung deren außergerichtlicher Berechnung? 219 (2) Durch die Festlegung konkreter Entlastungsbeträge als Übergangsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 bb) Abgrenzung: Tatsachenbeschreibung in Zahlen durch Ermittlung der tatsächlich gewährten Steuerentlastungen und Sozialleistungen . . . . 223 cc) Verfahrensvorgaben zur Berücksichtigung des Existenzminimums bei der Berechnung der Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 III. Hartz IV-Regelleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Zahlen und Zahlenbezug in der Entscheidung vom 9. Februar 2010 . . . . . . 227 a) Evidenzkontrolle der Leistungshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Verfahrensvorgaben für die Bemessung der Regelleistungen . . . . . . . . . 231 2. Ausschluss der unmittelbaren Quantifizierung der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG; Mittelbare Quantifizierungen bei der Überprüfung der Leistungshöhe . . . . 235 3. Die Überprüfung der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Anwendung der Maßstäbe der Hartz IV-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Quantifizierungen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . 238 IV. W-Besoldung von Hochschullehrern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Konkretisierung des Alimentationsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Keine numerischen Vorgaben für die Höhe der Beamtenbesoldung . . . . 239 b) Ausgleich durch verfahrensrechtliche Einbindung des einfachen Gesetz­ gebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Ausschluss der unmittelbaren Quantifizierung des Alimentationsprinzips; Mittelbare Quantifizierung bei der Subsumtion der Grundgehaltssätze . . . . 242 V. Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Mittelbare Quantifizierung mittels Beschluss am 30. März 1977 . . . . . . . . . 244 2. Ergänzung der mittelbaren Quantifizierung um Verfahrensvorgaben des Gerichts am 22. März 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Unmittelbare Quantifizierung im Beschluss vom 24. November 1998 . . . . . 249 VI. Ehegattensplitting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Verfassungsrechtsprechung zum Ehegattensplitting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Ehegattensplitting als bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung? . . . . 253 VII. Parteienfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Zahlen und Zahlenbezug im Urteil zur Parteienfinanzierung vom 9.  April 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

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Inhaltsverzeichnis a) Grenzen der direkten staatlichen Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 aa) Relative Obergrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 bb) Absolute Obergrenze und Übergangsregelung für die direkte Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Grenzen der indirekten staatlichen Finanzierung: Höchstbeträge für die steuerliche Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden . . . . . . . . . . . . 259 c) „Berechnungsmodus“ der Chancenausgleichsregelung . . . . . . . . . . . . . . 262 d) Numerische Schwelle für die Offenlegungspflicht von Spendern . . . . . . 263 2. Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen zur Regulierung der Parteienfinanzierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

B. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Quoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I.

Sperrklauseln im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Beurteilung der 7,5 %-Sperrklausel im Wahlrecht Schleswig-Holsteins: Ausgangspunkt der Sperrklauselrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 268 a) Allgemeine Grundsätze für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sperrklauseln: 5 % als verfassungsrechtliche Obergrenze . . . . . . . . . . . . 268 b) Die 5 %-Grenze als verfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . 271 2. Fortentwicklung der Sperrklauselrechtsprechung: Verwerfung von 5 %- bzw. 3 %-Klauseln auf Kommunal- und Europaebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

II. Mitwirkungsrechte von Professoren in Hochschulgremien . . . . . . . . . . . . . . . . 274 C. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Zeit bzw. Alter . . . . . . . . . . . . 275 D. Weitere bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 I.

Im Wahlrecht: Verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten . . . . . . . . . . 277 1. Erste Grenzen für Überhangmandate in der Verfassungsrechtsprechung . . . 277 2. „Die goldene Fünfzehn“ als unmittelbare verfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

II. In der Rechtsprechung zu den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

3. Kapitel Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung – Quantifizierungen in der Darstellung des Bundesverfassungsgerichts



283

A. Zahlen als bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 I.

Der Weg zur Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Unbestimmte Verfassungsrechtsbegriffe als Prüfungsmaßstab und Ausgangspunkt verfassungsgerichtlicher Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Gestufte Konkretisierung der unbestimmten Verfassungsvorgaben: Über qualitative und quantitative Maßstäbe zu Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Inhaltsverzeichnis

21

3. Annäherung von Prüfungsmaßstab und -gegenstand: Gestufte Konkretisierung und finanzwissenschaftliche Berechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 II. Typen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen in den untersuchten Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Unmittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . 300 a) Positiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b) Autonom und heteronom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c) In (unbestimmten) Bandbreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 d) Punktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 2. Mittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . 308 a) Positiv und negativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Zwangsläufig heteronom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 c) In (unbestimmten) Bandbreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 d) Punktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 III. Quantifizierungsmethodik in den Entscheidungsbegründungen . . . . . . . . . . . . 318 1. Anschein methodischer Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 a) Quantifizierung als Abwägungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 b) Quantifizierung als systemgerechte Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. Tatsächliche Begründungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 a) Fokus: Defizitäre Begründung der Quantifizierungen trotz Systemgerechtigkeitserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) „I know it when I see it.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 aa) Verfassungsgerichtliche Quantifizierung aus der unmittelbaren Anschauung konkreter Zahlenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 bb) Ersetzung von Begründungszusammenhängen durch Apodiktik . . . 340 B. Zahlen und Zahlenbezug außerhalb bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizie­ rungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 I.

Bezifferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

II. Verfahrensvorgaben für den quantifizierenden Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . 346 1. Abgrenzung: Ergebnis- und Verfahrenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2. Verfahrensvorgaben in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 349 a) Vor der Hartz IV-Entscheidung: Punktuelle Einflussnahmen auf die Zahlengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Seit der Hartz IV-Entscheidung: Einbindung des quantifizierenden Gesetzgebers in umfassende Rationalitätsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 c) Erhöhte Anforderungen an das Verfahren zur Kompensation einer zurückgenommenen Kontrolle der Leistungshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Das Urteil zum AsylbLG: Verfahrensvorgaben oder Anforderungen an den Gesetzesinhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel

Quantifizierungsmethodik

358

A. Historischer Wandel des Methodenverständnisses im (Staats-)Recht: Negierung und Verabsolutierung des schöpferischen Elements in der (Verfassungs-)Rechtsprechung 359 I.

Methodische Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 360 1. Begriffsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 2. Digitalisierungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

II. Richterliche Entscheidungsfindung als Rechtsschöpfung: Freirechtsbewegung und postmoderne Methodenvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 B. Realität und verfassungsrechtliche Idealität (verfassungs-)gerichtlicher Methodik nach Überwindung der historischen Antipoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 I.

Rechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

II. Rechtsschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 III. Zusammentreffen von Rechtsbindung und Rechtsschöpfung in einer methodengeleiteten Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 IV. Jenseits der Methodik: Rechtsschöpfung durch Dezision oder „Toute Pensée émet un Coup de Dés.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 C. Iudex non calculat. – Quantifizierungen jenseits der Darstellung durch das Bundes­ verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 I.

Aufdeckung möglicher Rationalität und unvermeidbarer Irrationalität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

II. Quantifizierungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 1. Methodenanforderungen an die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 2. Zahlen als Ergebnis logisch nachvollziehbarer Deduktion aus den Verfassungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 a) Exkurs: Ergibt sich aus außerrechtlichen Konzepten der Zahlengenerierung ein formal-logisches Modell für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 aa) Linguistik: Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 bb) Theologie: Jüdische Zahlenschreibung und -mystik . . . . . . . . . . . . . 392 cc) Informatik: Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 dd) Naturwissenschaften: Messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 b) Steuerung der Zahlenfindung durch übergeordnete Verfassungsprinzipien, insbesondere zur Bedeutung von Gleichheitsgrundsatz und Rechtsstaatsprinzip für die Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 3. Zahlen als rationale Wertungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 a) Ausfüllung der Entscheidungsspielräume durch eine plausible Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

Inhaltsverzeichnis

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aa) Plausibilitätsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 bb) Plausibilitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 (1) Rechtssysteminterne Plausibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 (2) Rechtssystemübergreifende Plausibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 b) Plausibilität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen . . . . 407 aa) Fokus: Zur Plausibilität der hälftigen Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 bb) Weitere wiederkehrende, plausible Zahlenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . 412 c) Unschärfe des Plausibilitätskriteriums und verbleibende Irrationalität bei der Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 III. Das „würfelnde“ Verfassungsgericht: Quantifizierung von Verfassungsrecht als Höchstmaß an Dezision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1. Dezision innerhalb von Extremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 2. Veranschaulichung anhand von Beispielsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 3. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung als tatsächliches Berechnungsproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 D. „Wahre“ und/oder „richtige“ Zahlen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 E. Methodengerechtigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen? . . . 425 I.

Entscheidungsdarstellung: Pflicht zur Offenlegung von Dezision? . . . . . . . . . . 426 1. Tatsächliche Zwänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 2. Normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

II. Entscheidungsherstellung: Verfassungsgerechtes Maß an Dezision? . . . . . . . . . 431

5. Kapitel Verfassungsgerichtliche Quantifizierung im Widerstreit bundesverfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Kompetenzen



432

A. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im grundgesetzlichen System der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 I.

Kompetenzzuweisung nach der Entscheidungsrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

II. Verfassung als Rahmenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 B. Zum Kompetenzkonflikt der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . 439

6. Kapitel

Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen durch das quantifizierende Verfassungsgericht?

442

A. Atypische Entscheidungsrationalitäten im Zusammenhang der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

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Inhaltsverzeichnis I.

Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen als Ersatzgesetzgebung? – Abmilde­ rung der methodischen und/oder kompetenziellen Problematik durch die Quantifizierungstypik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 1. Quantifizierungen in unbestimmten Bandbreiten statt präzise Quantifizie­ rungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 2. Mittelbare statt unmittelbare Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 3. Heteronome statt autonome Quantifizierungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 4. Negative statt positive Quantifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

II. Methodische Vorgaben als Einbindung des einfachen Gesetzgebers in eine exekutive Entscheidungsrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 B. Das Rechtsverweigerungsverbot: Archimedischer Punkt für die Verfassungskonformität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 C. Problematische Fälle verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen: Atypische Entscheidungsrationalität bei fehlendem Entscheidungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 I.

Kriterien für die Abgrenzung von Entscheidungszwang und obiter dictum . . . . 458

II. Fokus: Das Quantifizierungsdilemma beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 III. Weitere problematische Quantifizierungen und deren mögliche Rechtfertigung 465 1. Machtmissbrauch der etablierten Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 2. Untätigkeit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 3. Einstweiliger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 D. „Ausnahmen bestätigen die Regel“: Einordnung der Quantifizierungen in die ver­ fassungsrechtlich geforderte Methodik und das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes 473 Rückblick: Zahlen im Verfassungsrecht: Anlehnung an naturwissenschaftliche Rationalität – Unterwerfung unter geisteswissenschaftliche Rationalität – Einblick in Irrationalität und Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Einführung: Thematik und Problemstellungen der Arbeit Zahlen sind „Kommunikationsanweisungen, die es ermöglichen, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen Akzeptanz zu verschaffen“.1 Soweit eine Sicht der Soziologie auf die Zahlenverwendung. Die vorliegende Analyse knüpft an Zahlen im Verfassungsrecht an. Zahlen sind Verfassungsrechtsbegriffe. Sie sind Bestandteil des Verfassungstextes und durchschneiden mit einem Höchstmaß an semantischer Präzision dessen maximale Unbestimmtheit. Zahlen treten außerdem in der Verfassungsrechtsprechung auf. Während die Literatur das „Potential“ der unbestimmten Rechtsbegriffe der Verfassung bezweifelt, „subtile Unterscheidungen zu treffen“,2 sind sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ausgangspunkt von Quantifizierungen. Der Terminus „Quantifizierung“ geht auf das lateinische „quantum“ (= „wie groß“, „wie viel“) zurück3 und bezeichnet allgemein eine Charakterisierung in Zahlen bzw. als Menge.4 Im Verfassungsrecht bedeutet die Quantifizierung die Konkretisierung eines unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffs zur numerisch bestimmten Größe, also einer qualitativen Vorgabe zur Zahl.5 Die Auseinandersetzung mit Zahlen in einer verfassungsrechtlichen Arbeit überrascht. Dies liegt an der Vernachlässigung von Zahlen als Forschungsgegenstand in der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft6 und mehr noch an ihrer Einordnung als 1

Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (ebd.). 2 Josef Isensee, Zeitlicher Anfang des Rechts auf Leben: Der grundrechtliche Schutz des Embryos (2002), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 33 (47). 3 „Quantifizierung“, Brockhaus Philosophie, 2004, S. 276 (Zitate ebd.). 4 „Quantifizierung“, Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989; „quantifizieren“, Duden, Bd. 5: Fremdwörterbuch, 10. Aufl. 2010, S. 873. 5 Die Definitionen der Quantifizierung im/von Recht und die der Quantifikation unterscheiden sich durch ihren Ausgangspunkt. Auch die Quantifikation bezeichnet die „Umformung der Qualitäten in Quantitäten“, sie bezieht sich aber auf Eigenschaften (Farben, Töne), die in Zahlen bzw. der Messung zugängliche Größen (Schwingungszahlen, Wellenlängen) umgeformt werden. Quantifizierte Verfassungsrechtsbegriffe müssen nicht unbedingt Eigenschaften angeben. Sie sind bloß (zahlenmäßig) unbestimmt. „Quantifikation“, Duden, Bd. 5: Fremdwörterbuch, 10. Aufl. 2010, S. 873 (Zitat ebd.). Eine ausführliche Begriffsbestimmung der Quantifizierung von (Verfassungs-)Recht findet sich unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 6 Zu Zahlen im Recht Otto Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S.  177; ders., Vermessenes Recht, 2013; Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 2. Aufl. 1995; Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/ Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559. Umfassende Analysen der Zahlenverwendung und -generierung im Verfassungsrecht unter Behandlung erkenntnistheoretischer, sprachtheoretischer, methodischer und kompetenzieller Probleme fehlen bislang.

26

Einführung

„etwas Metajuristisches“:7 „Iudex non calculat“.8 Zahlen treten zwar im Verfassungsrecht auf, sie werden aber vor allem mit den Naturwissenschaften assoziiert. Tatsächlich unterfallen Zahlen im verfassungsrechtlichen Verwendungskontext wider die naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen jedenfalls auch einer geisteswissenschaftlichen Rationalität und geben mehr noch Einblick in die Ir­ rationalität des Verfassungsrechts. Es ist damit ein Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität(-serwartungen) eröffnet, das diese Arbeit bei der Untersuchung der Zahlenverwendung im Verfassungstext und der Zahlen­gene­ rie­rung auf der Grundlage des Verfassungstexts durch das Bundesverfassungsgericht zum Orientierungspunkt nimmt: Wie werden Zahlen – die typischerweise naturwissenschaftlicher Rationalität bzw. entsprechenden Rationalitätserwartungen unterliegen – im Kontext des Verfassungsrechts mit seiner spezifisch geisteswissenschaftlichen Eigenrationalität verwendet und generiert? Sind die Spezifika der Zahlenverwendung und -generierung im Verfassungsrecht aus der verfassungsrechtlichen Binnenperspektive problematisch? Das vorgenannte Spannungsfeld wird aus unterschiedlichen Perspektiven ausgeleuchtet bzw. aufgelöst. Die Arbeit setzt sich mit dem Umfang, der Art und der Funktion der Zahlenverwendung sowie der Methodik und den kompetenzrechtlichen Folgeproblemen ihrer Generierung auseinander. Die Spezifika der verfassungsnormativen Zahlenverwendung und -generierung erhellen im Vergleich zur Zahlenverwendung und -generierung außerhalb des Rechts. Der erste Teil  der Arbeit, der zugleich ihr erkenntnistheoretisches Fundament bildet, zeichnet die Eigenrationalitäten des „tatsächlichen“ Zahlengebrauchs nach. Der Einstieg in die Analyse erklärt sich dadurch: Bei Zahlen handelt es sich nicht um eine genuin juristische Fachterminologie. Als Sprechakte finden Zahlen nicht nur über die Verfassungsgrenze hinweg im einfachen Recht (unabhängig von verfassungsrechtlichem Einfluss), sondern auch unabhängig von rechtlichem Zugriff Verwendung. Darüber hinaus gilt auch jenseits des Fokus auf Zahlen, dass man Verfassungs- als Rechtsnormen nicht begreifen und anwenden kann, „ohne etwas von ihrem Regelungsbereich zu verstehen“.9 Die Analyse der Zahlenverwendung folgt der Unterscheidung von Norm und Regelungsbereich, dem geregeltem „Ausschnitt aus der Realität“ bzw. der „soziale[n] Wirklichkeit“.10 7 Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (ebd.). 8 Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 3. Aufl. 1983, S. 102 Nr. 150. 9 Brun-Otto Bryde folgert dies aus der in der juristischen Methodenlehre allgemein anerkannten Abhängigkeit jedes Verstehens von einem Vorverständnis. Ders., Verfassungsentwicklung, 1982, S. 23 (siehe dort auch Fn. 3). 10 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 648 (Zitat ebd.); Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 23 (siehe dort auch Fn. 3) u. 25. Bryde versteht den Regelungsbereich weiter als den „Normbereich“ im Sinne der Terminologie Friedrich Müllers. Ersterer betreffe in den Worten des Bundesverfassungsgerichts einen „Lebenssachverhalt“, letzterer den „bereits normativ bestimmte[n] Ausschnitt aus der Wirklichkeit“. Bryde nähert sich Müller indes an, wenn er den Regelungsbereich seinerseits als normgeprägt darstellt.

Einführung

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Das Recht muss nicht nur anschlussfähig für die „Rechtswirklichkeit“ sein, die „Rechtswirklichkeit“ nimmt mehr noch in einer Umkehrung der um den geregelten Sachverhalt erweiterten, hierarchischen Normenpyramide auf das Recht Einfluss.11 Der Blick auf die „Rechtswirklichkeit“ birgt eine Erklärung für die gegenüber Zahlen geäußerten naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen. Präzise Zahlen, die von der Individualität der Erscheinungen abstrahieren, sind für die naturwissenschaftliche Erkenntnis prädestiniert. In der historischen Rückschau lässt sich darüber hinaus eine zunehmende, naturwissenschaftlicher Rationalität bzw. entsprechenden Rationalitätserwartungen unterliegende Zahlenverwendung beobachten. Vor diesem Hintergrund ist es umso unverständlicher, dass der Fokus der Rechtswissenschaften unverändert der (nichtnumerischen) Schrift als Kommunikationsmedium gilt. In einer zahlengeprägten „Gegenwartsgesellschaft“12 verfehlt diese einseitige Sichtweise die verwendeten Ausdrucksformen. Die „Wirklichkeit“, auf die das Recht regelnd zugreift, ist gleichwohl nicht umfassend verziffert. Die „Rechtswirklichkeit“ als Vergleichsebene der Analyse von Verfassungstext und Verfassungsrechtsprechung ist – hiervon mag der Fokus auf die Zahlen zunächst ablenken – geistes- und nicht naturwissenschaftlich erkannte „Wirklichkeit“. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Zahlenverwendung im Verfassungstext untersucht. Zahlen werden gemeinhin mit einem naturwissenschaftlichen Verwendungskontext assoziiert und im Recht erst recht nicht in der Verfassung vermutet. Von der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens13 mit ihrem notwendig „fragmentarische[n] Charakter“14 werden allgemeine Regelungen, eine pathetische Sprache und philosophische Bezüge, nicht der Fokus auf Details, der die Verwendung von Zahlen bedeutet, erwartet. Es sollen die linguistischen Voraussetzungen dafür untersucht werden, dass Zahlen überhaupt in verschiedenen Kommunikationssystemen verwendet werden können und dann die inter­ disziplinäre Kommunikation zwischen den Systemen erleichtern. Die Integration der Zahlen in den unbestimmten Grundgesetztext könnte nicht nur dazu führen, dass sich ihre Generierung von einem naturwissenschaftlichen Verwendungskontext unterscheidet. Sie könnte auch Auswirkungen auf die Zahlensemantik zeitigen und Zahlen könnten sich entgegen ihrer assoziierten naturwissenschaftlichen 11 Vgl. zur Rezeptionsfähigkeit des Verfassungsrechts gegenüber den verwaltungsrechtlichen Normen, Funktionen und dogmatischen Strukturen anhand der Metapher des „lernenden Rechts“ Christian Waldhoff, Kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, in: Claudio Franzius u. a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen., Festschrift für Michael Kloepfer, 2013, S. 261 ff. 12 Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer, Einleitung: Fundstellen von Zahlenforschung, in: dies. (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 9 (ebd.). 13 Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S.  40 ff. Siehe auch Fn. 290 im zweiten Teil. 14 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089 (2091).

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Einführung

Exaktheit der verfassungsrechtlichen Eigenrationalität anpassen. Es wird in diesem Zusammenhang zu klären sein, was die (etwaige) Einfügung von Zahlen in die funktionsgerechte Ausgestaltung der Verfassung bedeutet. Die Orientierung des Verfassungstexts an seinen Funktionen ist jedenfalls für den Umfang der Zahlenverwendung relevant. Sie hat Einfluss darauf, inwieweit der Verfassungstext die allgemeinen „Verzifferungs“-Tendenzen15 der „Rechtswirklichkeit“ abbildet. Der dritte, zentrale Teil der Arbeit setzt sich mit der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung auseinander. Es werden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen es numerische Aussagen trifft, analysiert. Dabei werden die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen systematisiert und von sogenannten Bezifferungen des Gerichts zur Sachverhaltsaufbereitung sowie methodischen Vorgaben für die einfachgesetzliche Zahlengenerierung abgegrenzt. Die naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen an Zahlen werden in diesem Zusammenhang – Walther Ecker spricht in Bezug auf die Rechtsprechung der Fachgerichte von einem „hohen Rationalisierungseffekt[…]“ von Zahlen16 – methodisch relevant: Wie gelangt das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage u­ nbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger Begriffe in der Verfassung zu konkreten Zahlen? Können im Rahmen verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen Zahlen aus unbestimmten Rechtsbegriffen im Sinne deren „Berechenbarkeit“ rein logisch deduziert werden? Angesichts der semantischen Diskrepanz erscheint es zweifelhaft, ob sich eine exakte Zahl aus einer im Allgemeinen unbestimmten Verfassung deduzieren bzw. ob sich ein solcher Quantifizierungsvorgang wenigstens annäherungsweise anhand rationaler Kriterien nachvollziehen lässt. Bei den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen (etwa dem steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz, der 5%-Sperrklausel oder der zulässigen Anzahl ausgleichsloser Überhangmandate im Wahlrecht) könnte es sich um „gegriffene Größen“17 handeln, die (anders als die Zahlen im Verfassungstext) weniger einen „Rationalisierungseffekt[…]“18 auslösen, als den Glauben an die Rationalität der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschüttern. Im Bild des Greifens von Zahlen klingen die anthropologischen Anfänge der Zahlenverwendung an, als das Zählen in seiner Gegenstands- und Körperbezogenheit noch weit von seiner heutigen Abstraktion entfernt ist.19 Ebenso kann davon gesprochen werden, die Verfassungs 15

Zum Begriff „Verzifferung“ siehe Fn. 62 im ersten Teil. Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb 1970, S. 401 (405). 17 Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (ebd., Kursivsetzung durch Verf.). Siehe auch Fn. 24 im dritten Teil. 18 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb 1970, S. 401 (405). 19 Siehe in diesem Zusammenhang auch Marshall McLuhan: „Durch die ganze Geschichte des Westens haben wir traditionsgemäß und zu Recht die Schrift als Wiege der Zivilisation betrachtet und in unseren Literaturen ein Gütezeichen kultureller Leistung gesehen. Doch auf dem ganzen Weg hat uns der Schatten der Zahl begleitet. […] Genau wie die Schrift eine Ausweitung und Trennung unseres neutralsten und objektivsten Sinnes ist, so ist die Zahl eine Ausweitung und Trennung unserer intimsten und am stärksten in gegenseitiger Beziehung stehender Tä 16

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mäßigkeit bzw. -widrigkeit bestimmter Zahlen ergebe sich aus ihrer unmittelbaren, nicht durch rationale Argumente unterbrochenen Anschauung durch die Verfassungsrichter20 („I know it when I see it.“21). In beiden Fällen soll die Inbezugnahme der Sinne des Richters (Tasten/Sehen) weniger auf die „Unverfälschtheit“ des Erkenntnisprozesses als die tatsächliche Irrationalität des Quantifizierungsvorgangs verweisen. Stellt sich heraus, dass die verfassungsgerichtliche Eingrenzung bestimmter Zahlen als (nicht) verfassungsgemäß im Wesentlichen auf Dezision beruht, ist die Frage nach der Verfassungskonformität der verfassungsgerichtlichen Methodik aufgeworfen und es verschärfen sich die kompetenziellen Folgeprobleme, denen sich das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis zum Gesetzgeber ohnehin ausgesetzt sieht. Das Bundesverfassungsgericht entzöge sich, indem es den Gesetzgeber mit numerischen Vorgaben bis ins Detail bindet, mehr noch als in seinen übrigen Entscheidungen einer idealtypischen gerichtlichen Rationalität. Kommt nach der grundgesetzlichen Gewaltenteilung tatsächlich dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Quantifizierung der Verfassung zu oder fällt sie in den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des parlamentarischen Gesetzgebers? Und wie lassen sich die Kompetenzen von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber angesichts ihrer sich überschneidenden Entscheidungsrationalitäten überhaupt abgrenzen? Anhand der Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen wird das zentrale Problem praktischer (verfassungs-)richterlicher Tätigkeit einsehbar: die verfassungskonforme Auflösung der Diametralität einer Pflicht zur Entscheidung (der Richter muss einen konkreten Konflikt lösen), methodischem Anspruch (der Richter ist an das Gesetz gebunden; die richterliche Entscheidung ist rational zu begründen) und kompetenziellen Grenzen.

tigkeit, nämlich des Tastsinns.“ Ders., Die magischen Kanäle: „Understanding Media“, 1992, S. 129. Zum anthropologischen Ursprung der Zahlenverwendung unter B. I. im 1. Kapitel des ersten Teils. 20 Personenbezeichnungen gelten im Folgenden für beide Geschlechter. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit des Textes wird auf die Nennung sowohl der männlichen als auch der weiblichen Form verzichtet. 21 Richter am United States Supreme Court Potter Stewart in Jacobellis v. Ohio (1964), siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. 2. b) im 3. Kapitel des dritten Teils.

1. Teil

Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“ Zahlen existieren unabhängig von genuin juristischer Fachterminologie und außerhalb rechtlicher Ordnungen. Ein Nachdenken über die Zahlen(-verwendung) außerhalb rechtlicher Regelungen erfolgt gleichwohl aus der Perspektive des Rechts, denn es dient auch dazu, den Einfluss bzw. die Einflussmöglichkeiten des außerrechtlichen Verständnisses, der Funktionen und Verwendung von Zahlen auf das (Verfassungs-)Recht nachzuzeichnen. Die „Wirklichkeit“ ist demnach „Rechtswirklichkeit“. Es wird die Rolle von Zahlen in den tatsächlichen Zusammenhängen untersucht, auf die das Sollen der Verfassung als normative Ordnung regelnd zugreift. Zwischen den Regelungsebenen bzw. geregelten Ebenen bestehen wechselseitige Einflussmöglichkeiten. Die Verfassung ist nicht nur kontextgeprägt, sondern formuliert als rechtliche Grundordnung des Staates und Spitze der Normenpyramide des innerstaatlichen Rechts1 Sollensansprüche gegenüber der außer- und einfachrechtlichen Ordnung. Der Kontext bzw. Regelungsbereich ist, über den unmittelbar ordnenden Zugriff der Verfassung hinaus, „normgeprägt“.2 Dies gilt genauso für das Verhältnis des einfachen Rechts zur „Rechtswirklichkeit“. Die Verwendung von Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“ lässt sich auch auf den ordnenden Zugriff von Rechtsnormen zurückführen. Um einen Vergleich der Zahlenverwendung und -generierung zwischen „Rechtswirklichkeit“ und Verfassungsrecht zu ermöglichen bzw. ggf. mehr noch den Einfluss der „Rechtswirklichkeit“ auf das Verfassungsrecht nachzuvollziehen, stehen daher bei der Untersuchung die Bereiche im Vordergrund, deren Zahlenprägung nicht unmittelbar auf den Regelungszugriff der Verfassung zurückzuführen ist.3 Eine Präzisierung der Rolle von Zahlen als Sprechakte außerhalb des Rechts kann über eine funktionale Differenzierung ihrer intentional rationalen Verwendung erreicht werden. Zahlen dienen einerseits der Erfassung und Ordnung der

1 Christoph Degenhart, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 14 f., 271; Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 62. 2 Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 25 (Zitat ebd.). 3 Dies ist etwa bei der Staatsorganisation der Fall. Zahlen dienen der Organisation der Staatsgewalt und können insoweit (jedenfalls im kontinentaleuropäischen Rechtsraum) nicht unabhängig von verfassungsrechtlichen Regelungen gesehen werden. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. im 1. Kapitel des zweiten Teils. Es wird also nicht der gesamte Regelungsbereich der Verfassung untersucht. Es geht um die Zahlenprägung der „gesellschaftlichen“, nicht der „politischen Realität“ (Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 10).

1. Kap.: Wesen und Funktion von Zahlen

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„Wirklichkeit“;4 sie sind andererseits Bestandteil mathematischer Formeln. Historisch kann ein Trend zur zunehmenden Zahlenverwendung in den allgemeinen, außerrechtlichen Kommunikationsstrukturen in Folge der Technisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung der „Rechtswirklichkeit“ ausgemacht werden. Er bedeutet eine Rationalisierung, Abstrahierung und Standardisierung in der Kommunikation. Einer Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“ tritt dennoch nicht ein. Sie trifft auf methodische und erkenntnistheoretische Grenzen, denn die „Rechtswirklichkeit“ wird geisteswissenschaftlich erkannt. Der Blick auf die „Rechtswirklichkeit“ geht mit einer Öffnung gegenüber den empirischen Wissenschaften, die sich mit der Funktion und der Verbreitung von Zahlen auseinandersetzen, zwangsläufig einher. 1. Kapitel

Wesen und Funktion von Zahlen A. Zahlen als Sprech- und Denkakte unabhängig von rechtlichen Regelungen Zahlen sind Zeichen.5 Sie sind Bedeutungsträger innerhalb der Sprache6 und Objekte des Denkens.7 Zahlen sind Bestandteil des Rechts, aber sie sind auch außerhalb und unabhängig von rechtlichen Regelungen in der „Rechtswirklichkeit“ existent. Zahlen sind nicht zwangsläufig Bestandteil genuin juristischer Fachterminologie oder Begriffe mit spezifisch rechtlicher Bedeutung. Zahlen sind sowohl Rechtsbegriffe als auch Bestandteil nicht-rechtlicher Kommunikation. Sie finden sowohl fach- als auch umgangssprachliche Verwendung und sind keiner Fachdisziplin ausschließlich zugeordnet, wenngleich sie typischerweise der naturwissenschaftlichen Erkenntnis dienen bzw. Bestandteil einer naturwissenschaftlichen Weltsicht sind.

4 Auf die „Wirklichkeit“ wird vorliegend immer nur in Anführungszeichen Bezug genommen, denn es gibt nicht die „Wirklichkeit“. Sie ist der menschlichen Erkenntnis nicht vorgegeben, sondern immer erst ihr Produkt. Siehe hierzu die Ausführungen in Fn. 21 im ersten Teil. 5 Hierzu unter A. II. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 6 Anders Otto Depenheuer, Vermessenes Recht, 2013, S.  22, 24.  Zu den Bestimmungsmerkmalen der Sprache Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 331 ff. 7 Dies würde sich unmittelbar aus der Charakterisierung von Zahlen als Sprache ergeben, wenn Sprache das Denken völlig determinierte, so die Sapir-Whorf-Hypothese. Eine kritische Einführung in den linguistischen Determinismus findet sich bei Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 25.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

B. Die funktionelle Spannbreite von Zahlen – Zwischen Messwesen und Rechenkunst Zahlen übernehmen verschiedene Funktionen. Zwei zentrale Funktionen werden deutlich, wenn der anthropologische Ursprung und der Wandel der Zahlen­ verwendung nachvollzogen werden. Ihre jeweilige Verwendungsart bedeutet ein spezifisches Verhältnis der Zahlen zur „(Rechts-)Wirklichkeit“.

I. Anthropologischer Ursprung der Zahlen Der Mensch verwendet Zahlen, um zu zählen und zu messen.8 Neben der mythologischen besteht eine der Ursprungsfunktionen der Zahlen in der Menschheits- und Kulturgeschichte darin, physikalische Erscheinungen zu kategorisieren und quantitativ zu bestimmen. Sie werden in Zahlen erfasst und dadurch numerisch geordnet. Zahlen sind Größen9 und erbringen als solche eine (höchst präzise)  Strukturierungsleistung, indem sie Grenzen ziehen und eine Entscheidung darüber ermöglichen, was zu viel und zu wenig ist. Zahlen übernehmen durch die Strukturierung der Umwelt und des sozialen Lebens eine Ordnungs- und Orientierungsfunktion. Sie sind Hilfsmittel zur Komplexitätsreduktion.10 Das seine Umwelt begreifende und gestaltende Individuum bedient sich der Zahlen, denn sie 8

Der anthropologische Ursprung des Zählens und Messens kann neben der kulturwissenschaftlichen mit Georges Ifrah aus biologischer Perspektive nachvollzogen werden, denn das Begreifen von Zahlen und die Fähigkeit des Zählens und Rechnens erfordert die Ausbildung bestimmter kognitiver Fähigkeiten: Das Begreifen ganzer Zahlen setzt voraus, dass Ein­heiten einerseits unterschieden, andererseits unter einen Begriff zusammengefasst werden können. Die Fähigkeiten zur Analyse, zum Vergleich, zur Paarung und Klassifikation müssen ausgebildet sein. Die Größe gegebener Mengen kann durch den Vergleich verschiedener Gruppen von Gegenständen erfasst werden. Rechenoperationen werden möglich, wenn das Individuum von den konkreten Gegenständen abstrahiert und (abstrakte) Zahlen in ein „System[…] einander übergeordneter Zahleneinheiten, die fortschreitend die vorhergehenden umfassen,“ (S. 42) einfügt. Beim Zählen wird dann jedem Gegenstand ein Rang in diesem System zugeteilt und „die jeweilige Einheit auf die vorangegangene zurück[bezogen]“ (S.  44). Geht es um die Größe gegebener Mengen ergibt dieser schrittweise Vorgang des Zählens die Anzahl des Gezählten. Sie ist absolute Größe, im Gegenteil zur durch Anschauung gewonnenen „unpräzise[n] […] Gesamtheit“ (S. 45). Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen, 2. Aufl. 1991, S. 42 ff. 9 Auch Reimer Schmidt stellt (für den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext) der abstrakten (hierzu sogleich im Text) die praktische Verwendungsweise von Zahlen gegenüber. Ders., Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (561 f.). 10 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. IX, 5; Rudolf Taschner, Zahl, Zeit, Zufall, 2009, S. 181 f.; Leonhard Franz, Die Kultur der Urzeit Europas, 1969, S. 323 f.; Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S.  199 f., 206 f., 210 f.; Daniel­ Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 3. Aufl. 2008, S. 293. Siehe auch Heinrich Rickert zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung in Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 154 („Nur die in den Begriffen vorgenommene Vereinfachung der Wirklichkeit gestattet uns nämlich eine Orientierung in ihr […].“).

1. Kap.: Wesen und Funktion von Zahlen

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vereinfachen, sind exakt und im naturwissenschaftlichen Verwendungskontext (jedenfalls scheinbar) objektiv.11 Zahlen dienen der zeitlich-räumlichen Orientierung und verfügen außerdem über soziale Relevanz.12 An der Kulturgeschichte des Geldes, die zugleich eine Geschichte der sich im Laufe der Jahrtausende intensivierenden Handelsbeziehungen ist, wird die Funktion von Zahlen zur Strukturierung des Gemeinschaftslebens deutlich und es lässt sich die Bedeutungszunahme des Zählens und Messens im wirtschaftlichen Kontext ablesen.13 Ihre ursprünglich auch praktisch-funktionale Verwendungsweise hat zur Folge, dass zunächst keine abstrakte Vorstellung und Begrifflichkeit der Zahl existiert. Es werden individuelle, den gezählten bzw. vermessenen Objekten entlehnte Zahlwörter verwendet. Spätere Zahlensysteme sind verschiedenartig geschichtet. Beim Zählen und Messen spielen außerdem kulturelle bzw. regionale Besonderheiten eine Rolle.14 Die „konkret anschauliche Grundlage“ der Zahlenverwendung äußert sich nicht nur darin, dass die Zahlen auf das Gezählte bezogen sind. Zahlen verfügen außerdem über einen (physischen) Bezug zum Zählenden, der mit seinem Körper (etwa seinen Finger oder Füßen) zählt bzw. misst.15 Nur insoweit kann davon gesprochen werden, dass Zahlen selbst physisch („dingliche Gegebenheiten“16) sind.17 Dies äußert sich ungeachtet des körperlichen Einsatzes des Zählenden auch im anfänglichen Zählen mit oder anhand von Gegenständen, etwa Stöcken oder 11

Zur naturwissenschaftlichen Rationalität von Zahlen (im Verfassungsrecht) unter B. II. 1. und C. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 12 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. IX; Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 144. 13 Bereits in frühen steinzeitlichen Kulturen führen Überschüsse zum Tauschhandel. Die Bestimmung der Tauschgüter und ein damit verbundenes Urteil über ihre Äquivalenz erfolgt zunächst im Wege der unmittelbaren Anschauung. Allmählich setzt sich die Verwendung von Schmuck und von anderen als kostbar erachteten Dingen als Wertmesser durch, die notwendigerweise gezählt werden müssen. Für die Etablierung der Geldwirtschaft sind insbesondere die Prägung von Münzen im antiken Griechenland und ihre Verwendung im erstarkenden Fernhandel von Bedeutung. Geld erlangt darüber hinaus politische Relevanz und dient als „quantitative[r] Maßstab“ für die „Gestaltung der Machtverhältnisse“. Heinz-Dieter Haustein verweist auf die Verfassung von Athen um 594 v. Chr., nach der die Vermögensverhältnisse über die politische Macht entscheiden, und die Römische Republik, in der eben diese der Einteilung in ­Steuer­klassen zu Grunde liegen. Erst die Belebung des Handels im Hochmittelalter und die sinkenden Preise für Edelmetalle im Zuge des Imports von Gold und Silber in der Renaissance führen in Europa jedoch zur nachhaltigen Etablierung der Geldwirtschaft und -rechnung. Ders., Weltchronik des Messens, 2001, S. 10, 46 ff., 95 f., 137 (Zitate S. 47). 14 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 9, 25. Zur kulturellen Einbindung der Zahlenverwendung und -bedeutung auch Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 202 ff. 15 Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 199 (Zitat ebd.), 208; Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 187 ff. 16 Oskar Rühle, „Zahlen“, in: Hermann Gunkel/Leopold Zscharnack (Hrsg.), Religion in­ Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, 2. Aufl. 1931, Sp. 2063 (Zitat ebd.); Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 199. 17 Zur grundsätzlichen Unterscheidung der Zahl von den Dingen im Erkenntnisprozess sogleich unter B. II.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

Einkerbungen.18 Es setzt sich dann ein Abstrahierungsprozess in Gang, der nicht nur die Form des Zählens und Messens einschließlich der Zahlbegriffe und -systeme, sondern auch die Verwendungsweise von Zahlen ergreift.19

II. Zahlen zur Erfassung und Ordnung der „Wirklichkeit“ – Verortung von Zahlen im Erkenntnisprozess Soweit es um die praktische Verwendung von Zahlen geht, nimmt die anthropologische Untersuchung allein die „äußeren“ Umstände in den Blick. Ihre zu ergänzende Kehrseite ist eine philosophisch-theoretische Sicht auf die Rolle von Zahlen im Erkenntnisprozess,20 die nun eingenommen werden soll. Als Ernst Cassirer seine Theorie der symbolischen Formen entwickelt, wird das Nachdenken über die „Wirklichkeitserkennung“21 in Zahlen zum Schlüsselerlebnis. Er untersucht die Methodik naturwissenschaftlicher Modellbildung und zeigt auf, dass eine gegenständliche Darstellung zunehmend von mathematischen Formeln 18 Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 144; Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen, 2. Aufl. 1991, S. 110 ff. 19 Siehe sogleich unter B. III. 20 Vgl. Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (219): „Die genetische Frage, wie es zu dem Wissen oder Können, um das es hier geht, gekommen sei, stellen wir nicht. Hingegen versuchen wir genauer zu bezeichnen, worin dieses Wissen eigentlich besteht, und wodurch es sich von einem Wissen, das aus einzelner, individueller, sinnlicher Erfahrung gewonnen werden kann, unterscheidet.“ 21 Eine theoretische Auseinandersetzung mit der Rolle von Zahlen im Erkenntnisprozess rührt an die Frage, ob und wie die „Wirklichkeit“ vor ihrer geistigen Erfassung existiert, d. h. ob und inwieweit sie Produkt unseres Denkens oder unserem Denken vorgegeben ist. Vorliegende Ausführungen folgen Immanuel Kant bzw. dem Neukantianismus, in dessen Tradition auch ­Cassirer steht. Im Zentrum der kantianischen Erkenntnisphilosophie steht die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts. Hieraus ergibt sich, dass Gegenstand der Erkenntnis keine vorgegebene Objektivität sein kann. Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (146 f.). Die Welt bzw. „Wirklichkeit“ ist der Erkenntnis allein als regulative „Idee“, die selbst nicht der Erkenntnis zugänglich ist, notwendigerweise vorausgesetzt. Karlheinz Rode, Geschichte der europäischen Rechtsphilosophie, 1974, S. 137. Die „Wirklichkeit“ bzw. die Gestalt, in der diese erscheint, sind das Ergebnis menschlicher Erkenntnis. Gleichwohl erscheint uns die „Wirklichkeit“ als objektiv vorhanden. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 23. Aufl. 2010, S. 20, 24 f., 36 ff., 139 ff. Sie ist „objektive“ (ebd., S. 20) und „zwingende Faktizität“ (ebd., S. 26). Sie ist „objektiviert [und geordnet], das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien.“ (ebd., S. 24) Dies liegt daran, dass die „Wirklichkeit“ nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich konstruiert ist. Die Konstruktion der „Wirklichkeit“ führen Berger und Luckmann auf „Objektivationen“ zurück, d. h. Manifestationen subjektiven Empfindens, als deren wichtigste Form sie die Sprache ausmachen („Die Wirklichkeit ist […] wegen dieser Objektivationen wirklich.“, ebd., S. 37). Dadurch, dass der Einzelne die „objektive ‚Wirklichkeit‘“ als für sich „sinnhaft“ begreife und aufnehme („Internalisierung“), sei sie zugleich subjektiv (ebd., S. 139). Zum kognitiven Konstruktivismus Klaus F. Röhl/Hans ­Christian

1. Kap.: Wesen und Funktion von Zahlen

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abgelöst wird. Dies führt ihn zu der grundsätzlicheren Annahme, dass der Mensch die „Wirklichkeit“ erkenne, indem er sie in Symbolen konstruiere.22 Ein „Symbolnetz“ bestimme die Wahrnehmung des Menschen. Es sei „Medium zwischen [Mensch] […] und […] Wirklichkeit“.23 Im „Ineinander- und Miteinanderwirken“ der symbolischen Formen24 sind Zahlen Bestandteil der symbolischen Form „Sprache“25 und ausgehend von den Überlegungen Cassirers innerhalb der Sprache zugleich spezifische symbolische Form. Zahlen sind symbolische Formen sowohl in Bezug auf die unvermittelte „Wirklichkeit“ (Der Mensch begreift die Welt in Zahlen.26) als auch die übrigen symbolischen Formen. Sie verfügen über einen formellen Charakter im Gegensatz zu den nach Cassirer primär materiell, d. h. über ihren Gegenstand bestimmten symbolischen Formen wie dem Mythos, der Religion, Kunst, Geschichte oder Wissenschaft.27 Von welchen Voraussetzungen die Zahlenverwendung innerhalb einer der materiell bestimmten symbolischen Formen abhängt, welche Auswirkungen umgekehrt die Zahlenverwendung im Rahmen einer der übrigen symbolischen Formen auf die Zahlen hat und welche Funktion Zahlen innerhalb des jeweiligen Verwendungskontexts übernehmen, wird in Bezug auf das Verfassungsrecht zu erörtern sein.28 Von der Sprache im Allgemeinen unterscheiden sich Zahlen insoweit sie eine den übrigen Formen für die Wirklichkeitserkenntnis fakultativ „übergeordnete“ Symbolebene darstellen. Eines Verständigungsmediums wie der Sprache müssen sich die übrigen symbolischen Formen hingegen notwendigerweise bedienen. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 100 ff. („Darüber, ob es eine von menschlichen Wahrnehmungen unabhängige Realität gibt, kann man nach dieser Auffassung gar nicht sinnvoll reden, denn jedenfalls wäre solche Realität dem Menschen nur kognitionsabhängig zugänglich. Real ist nur die Wahrnehmung, nicht das Wahrgenommene.“ Ebd., S. 100). Nach K. F. Röhl u. H. C. Röhl kommt es allein auf die sprachlich gefasste „Wirklichkeit“ an, denn nur zu ihr habe der Mensch überhaupt Zugang. Ebd., S. 25. Der Erkenntnistheorie Kants setzt etwa die phänomenologische Rechtstheorie entgegen, dass die „Wirklichkeit“ dem Betrachter bereits strukturiert vorgegeben ist. Sie sei nicht „undifferenzierter ‚Stoff‘“, sondern „differenziertes Sein“. Zum Gegensatz von Neukantianismus und phänomenologische Rechtstheorie Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 111 (Zitat ebd.). 22 Cassirer charakterisiert ein Symbol näher dahingehend, dass ein sinnliches Phänomen mit einem bestimmten Sinn verknüpft wird. Johannes Saurer, Das Recht als symbolische Form und Gegenstand der praktischen Philosophie, ARSP 95 (2009), S. 490 (493). Zur Bedeutung des Methodenwandels in den Naturwissenschaften in der kulturhistorischen Entwicklung zur zunehmenden Zahlenprägung der „Wirklichkeit“ siehe die Ausführungen unter A. II. im 2. Kapitel des ersten Teils. 23 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 49 ff., 110 (Zitate S. 49 f.). 24 Johannes Saurer in Bezug auf die Sprache und das Recht in Das Recht als symbolische Form und Gegenstand der praktischen Philosophie, ARSP 95 (2009), S. 490 (496, Zitat ebd.). 25 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 185. 26 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 3. Aufl. 2008, S. 238, 268 („Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden.“). 27 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 116 ff. 28 Siehe die Ausführungen unter B. im 2. Kapitel und unter C. im 3. Kapitel des zweiten Teils.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

Löst man die Zahlen aus dem primär nach inhaltlichen Kriterien kategorisierten und auf praktische Fragen bezogenen Symbolnetz Cassirers, bezieht man sich also auf den – in Anlehnung an die Erkenntnisphilosophie Immanuel Kants – „reinen“ Erkenntnisprozess,29 kann ihre Stellung bzw. Funktion in eben diesem präzisiert werden. Dann ist die Zahl ein „Allgemeine[s], unter dem wir die Dinge zu betrachten pflegen“.30 Sie ist kein Ding, sondern „Struktur“ bzw. „Form“31 für die Dinge. Als Struktur ist die Zahl auf die Dinge einerseits notwendig bezogen („Eine Struktur ist eine Struktur von etwas; ihr bloßer Begriff setzt also ein ‚Etwas‘, dessen Struktur sie ist, voraus.“32). Sie bezieht sich auf die Gleichartigkeit der Dinge.33 Als Struktur ist die Zahl andererseits von den Dingen wesensverschieden. Die Zahl hebt sich von den Dingen ab, denn sie ist kein sinnlich wahrnehmbares Objekt der Erfahrung. Sie wird aus der Abstraktion der Erfahrung des Gegenständlichen gewonnen. Sie ist abstraktes Denkmuster.34 Weil die Zahl Struktur ist, ist sie von den Dingen also zugleich ab- und unabhängig. „Der Akt der Erkenntnis von ‚Drei‘ beginnt in dem Augenblick, indem ich einsehe, daß es vollkommen gleichgültig ist, welche Gegenstände vorgezeigt werden, wenn es nur drei sind.“35 Die Zahl bleibt als Struktur, auch wenn sie „verschiedene Gegenstandsgruppen“36 bezeichnet, immer gleich. Die Zahl als Struktur ist zwar kein Ding, aber „Wirklichkeit“, denn sie ist als Struktur wieder erkennbar.37 Sie ist ebenso wenig Ergebnis einer Summe von Einzelerfahrungen („Das Verständnis der Zahl reicht auch weiter als die Gesamtheit aller Erfahrungen, auf die ich den Zahlbegriff bisher 29 Cassirer rezipiert Kant nicht unbesehen, sondern schließt kritisch an seine Erkenntnis­ philosophie an. Dies wird in der strikten Unterscheidung Kants zwischen einer reinen und praktischen Vernunft („Kritik der reinen Vernunft“, 1781, „Kritik der praktischen Vernunft“, 1788) augenfällig. Oliver Lepsius zeichnet die Kritik Cassirers an Kant unter dem Aspekt der Begriffsbildung nach: Kant suche die Erfassung der „Wirklichkeit“ in „abstrahierenden Allgemeinbegriffen“ („Substanzbegriffen“) zu formalisieren. Nach Cassirer könne die Natur könne jedoch nicht allgemein-abstrakt, sondern nur in ihren funktionalen Beziehungen erfasst werden. Es gelte „Relationsbegriff[e]“ zu bilden. Das Symbol tritt in der Philosophie Cassirers daher an die Stelle des Begriffs als „Erkenntniskategorie“. Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 316 f. (Zitate ebd.). 30 Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 230. 31 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (216). 32 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (217). 33 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (216 f.). 34 Günther Winkler charakterisiert die Zahl als „begriffliche Denkform“. Ders., Zeit und Recht, 1995, S. 433. 35 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (217). 36 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (216). 37 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (216 ff.).

1. Kap.: Wesen und Funktion von Zahlen

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angewandt habe.“38), kann also mit anderen Worten nicht „logisch […] aus […] [der] Erfahrung abgeleitet werden“.39 Sie ist der Erfahrung übergeordnet, wenn sie als „Allgemeines“40 der Erfahrung vorausgesetzt wird.41 Die Zahl ist somit nicht empiristisch, aber sie ist auch keine apriorische Anschauungsform oder Kategorie für die Erfahrung in der Erkenntnisphilosophie Kants.42 Zahlen ordnen „unsere Einzelvorstellungen […], d. h. [formen] den durch die Erfahrung auf uns zukommenden Stoff vor[…]“.43 Im Gegensatz zu den kan­ tischen apriorischen Anschauungen von Zeit und Raum sind Zahlen aber nicht unbedingt notwendig, um sich überhaupt eine Vorstellung von der „Wirklichkeit“ machen zu können.44 Die Vorstellung von einer ungezählten, nichtnumerischen 38 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (219). 39 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (221). 40 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (220). 41 Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (218 ff.). 42 Anders Günther Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 438 ff. Nach Winkler werden die Zahlen in der Kritik der reinen Vernunft zwar nicht explizit in den Erkenntnisprozess eingeordnet, die „Kategorie der Quantität umschließ[e jedoch] […] auch das Eine, das Viele und das Alles (die Einheit, die Vielheit und die Allheit) als allgemeinste Denkformen der Zahl.“ Ebd., S. 441. Zur Einordnung der Zahl als apriorisch tendiert auch C.-F. v. Weizsäcker. Indes relativiert er die scharfe Trennung von Erfahrung und Kategorien für die Erfahrung a priori („Die Gegenüberstellung Erfahrungserkenntnis-Erkenntnis des Allgemeinen ist ungenau.“). Die Erfahrung sei abhängig vom Apriorischen; das Apriorische, das die Erfahrung leitet, sei abhängig von der Erfahrung: „Einerseits setzt jede wissenschaftlich verwertbare, ja jede aussprechbare Erfahrung schon Begriffe, also stillschweigende Verwendung von Allgemeinen voraus. Andererseits sollte auch unsere Erkenntnis von Strukturen vielleicht als eine Erfahrung, nur nicht als eine Erfahrung vom Typ der Sinnesempfindung, bezeichnet werden. Die Rede von der Erkenntnis ‚reiner‘ Strukturen ist eine theoretische Idealisierung, bezeichnet einen Grenzfall. Wir kennen Strukturen als Strukturen von etwas; im paradigmatischen Einzelfall leuchtet die Struktur auf. Naturgesetze können zwar nie in der Allgemeinheit, in der sie gelten, empirisch verifiziert werden; aber wir entwerfen sie als Hypothesen, die sehr wohl der empirischen Falsifizierung offen stehen.“ Ders., Kontinuität und Möglichkeit, in: ders., Zum Weltbild der Physik, 6. Aufl. 1954, S. 211 (220 f., Zitate S. 221). Im Sinne einer apriorischen Kategorie lässt sich auch ­Walter Jellineks Charakterisierung der Zahlen verstehen. Er weist Zahlen eine ähnliche Bedeutung wie Zeit und Raum für die Erkenntnis („Voraussetzungen aller Wirklichkeiten“ und „Rahmen für die Tatbestände des Rechts“) zu („dritte[s] Allgemeine[s] […], unter dem wir die Dinge zu betrachten pflegen“). Ders., Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 217 f., 230 (Zitate ebd.). Zu Raum und Zeit als alle Erfahrungen a priori formenden Vorstellungen bei Kant ­Karlheinz Rode, Geschichte der europäischen Rechtsphilosophie, 1974, S. 133 ff. (insb. S. 135). Siehe auch Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 23. Aufl. 2010, S. 29: „Die Alltagswelt ist räumlich und zeitlich strukturiert.“ 43 Zur apriorischen Anschauungsform in der Erkenntnistheorie Kants Karlheinz Rode, Geschichte der europäischen Rechtsphilosophie, 1974, S. 133 ff. (Zitat S. 135). 44 Karlheinz Rode, Geschichte der europäischen Rechtsphilosophie, 1974, S. 133 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch Ernst Cassirer, nach dem Raum, Zeit und Zahlen das „Grundgerüst der objektiven Anschauung“ sind. So etwa in der Philosophie der symbolischen Formen,

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

„Wirklichkeit“ ist möglich bzw. Zeit und Raum werden nicht notwendigerweise als „bestimmt“ und „gezählt“ wahrgenommen.45 Ähnlich verhält es sich nach der kantischen Nachzeichnung des Erkenntnisprozesses mit Zahlen und den Grundformen des Denkens, die den durch die Erfahrung aufgenommenen Stoff weiter formen. Zahlen bilden keine eigenständige Grundform,46 können aber sowohl Quantitäten als auch Qualitäten anzeigen47 und sich folglich mit verschiedenen Grundformen verbinden. Sie sind ein fakultativer Modus für die aposteriorischen Urteile. Insoweit kann davon die Rede sein, Zahlen als Ordnungskriterien seien den apriorischen Kategorien bei der Erfassung der „Wirklichkeit“ nachgeordnet.48 Geht man bei der Einordnung von Zahlen in den Erkenntnisprozess davon aus, dass ihre Einbringung auf der apriorischen Ebene überhaupt und an verschiedenen Stellen möglich ist, erscheinen Zahlen der sinnlichen Erfahrung „vorgeordnet“. Es kann dann für den spezifischen Kontext der kantischen Erkenntnisphilosophie daran festgehalten werden: Zahlen sind eine allgemeine Form für die Erkenntnis. Bei Kant heißt es: „Die Z. [Zahl] ist die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung, die Zusammenfassung von Einheitssetzungen zu einem sie befassenden Ganzen.“49 Die Zahl gehört „an sich zwar zu den Verstandesbegriffen […], dessen Verwirklichung in dem Konkreten [erfordert] jedoch die Hilfsbegriffe der Zeit und des Raumes […] (indem mehreres nacheinander und gleichzeitig nebeneinander gestellt wird)“.50

1.  Teil, 6. Aufl. 1973, S.  212 (Zitat ebd.). Zur Bedeutung von Raum und Zeit bei der Erkenntnis der „Wirklichkeit“ auch Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1964, S. 20 f. Günther Winkler stellt darauf ab, dass eine unbezifferte Zeit nicht Ausgangspunkt „empirisch-rational[en]“ Denkens sein könne, die Zeit sich hierfür also notwendigerweise mit den Zahlen verbinden müsse. Ders., Zeit und Recht, 1995, S. 442 (Zitat ebd.). 45 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 72 ff. Zur Zeit als einer „durch Zahlen eingeteilte[n], reale[n] Dimension der Wirklichkeit“ Günther Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 425 ff. (Zitat S. 425). 46 Karlheinz Rode, Geschichte der europäischen Rechtsphilosophie, 1974, S. 135 f. 47 Siehe die Ausführungen unter B. im 2. Kapitel des ersten Teils. 48 Anders verhält es sich, wenn man nicht die fakultative Verbindung von Raum, Zeit und Zahlen, sondern die Vorstellung, eine exakte Erfassung von Raum und Zeit sei erst über die Zahlen möglich, in den Vordergrund stellt. Dann sind nicht die Zahlen Zeit und Raum, sondern Raum und Zeit den Zahlen nachgeordnet. So im Zuge des Bemühens um einen abstrakten, von der gegenständlichen Wahrnehmung abgekoppelten Zahlbegriff im 19. Jahrhundert. Ernst­ Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 184 f. 49 Rudolf Eisler, Kant Lexikon: Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften/Briefen und handschriftlichen Nachlaß, 7. Aufl. 1977, „Zahl“, S. 613 (Zitat ebd.); Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akade­ mie der Wissenschaften, Bd. 3, 1904, S. 137. 50 Rudolf Eisler, Kant Lexikon: Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften/Briefen und handschriftlichen Nachlaß, 7. Aufl. 1977, „Zahl“, S. 613.

1. Kap.: Wesen und Funktion von Zahlen

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Die Charakterisierung von Zahlen als eine allgemeine Form für die Erkenntnis darf nicht zu dem Trugschluss verleiten, sie bildeten die „Wirklichkeit“ ab oder würden tatsächliche Phänomene bloß benennen. Bereits bei der Nachzeichnung des anthropologischen Ursprungs ist deutlich geworden, dass mit Zahlen ein Ausschnitt der „Wirklichkeit“ (nach bzw. in ausgewählten Aspekten) geordnet, bewertet und strukturiert wird.51 Die Gestaltung der „Wirklichkeit“ durch Zahlen entspricht der Funktion von Sprache im Allgemeinen, die zwar auch, aber eben nicht nur über eine Bezeichnungsfunktion verfügt.52 Aus der kantischen Perspektive sind Wirklichkeitsbeschreibung und -konstitution erst gar nicht voneinander trennbar. Zahlen beschreiben „Wirklichkeit“, zugleich konstituieren sie als Teil von Sprache unsere Wirklichkeitswahrnehmung.53 Weil Zahlen der sprachlichen Erfassung der „Wirklichkeit“ dienen, sind sie auf eben diese bezogen. Zugleich sind sie als Sprache, die gestaltet und nicht nur benennt, von der „unvermittelten Wirklichkeit“ (doppelt) „entrückt“.

III. Zahlen in der Mathematik: Entwicklung der Zahl zum Abstraktum Zahlen unterliegen einem historischen Abstrahierungsprozess, der aus kulturgeschichtlicher Perspektive nachvollzogen werden kann. Im antiken Griechenland nimmt eine Erweiterung der Funktionen und damit verbundene Änderung der Darstellungsform sowie Bedeutung von Zahlen ihren Ausgangspunkt. Die rein instrumentelle Verwendungsweise von Zahlen, das (objektbezogene) Zählen und Messen, und das alltagsbezogene Rechnen entwickelt sich zum Umgang mit Zahlen als „l’art pour l’art“ fort. Die Objektbezogenheit der Zahlen, ihr direk­ter Bezug zu den gezählten und vermessenen Alltagsgegenständen, löst sich dadurch. Zahlen werden zu „eigenständige[n] abstrakte[n]“ Zeichen in der Mathematik und verfügen über eine rein logische Bedeutung. Sinnfälliger Ausdruck dieser Entwicklung ist die Herausbildung abstrakter Zahlbegriffe.54 Die frühen Griechen empfinden „Maß und Zahl [als] […] Ausdruck der Weltverfassung und Welt­ harmonie“.55 Als „Grundlage des exakten Denkens“ sind Zahlen der direkt erfahrbaren Umwelt vorgeordnet und nicht bloße Hilfsmittel zu ihrer Ordnung.56 51 Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer, Einleitung: Fundstellen von Zahlenforschung, in: dies. (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 9 (10). Zu den Modi der Zahlengenerierung bei der Erfassung der „Rechtswirklichkeit“ unter B. im 2. Kapitel des ersten Teils. 52 Paul Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 20 Rn. 6 ff. 53 Siehe die Ausführungen in Fn. 21 des ersten Teils. 54 Rudolf Taschner, Zahl, Zeit, Zufall, 2009, S.  181 f. (Zitat S.  181); siehe auch Ernst­ Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 184 f.; Heinz-Dieter Hau­stein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 53. 55 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 53. 56 Rudolf Taschner, Zahl, Zeit, Zufall, 2009, S.  181 f. (Zitat S.  182). Taschner geht über die von Sybille Krämer vorgenommene Nuancierung bei der Analyse des gegenständlichen Bezugs von Zahlen hinweg (hierzu sogleich im Haupttext). Dass Zahlen nunmehr außerhalb der

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

Der die Zahlen ergreifende Abstrahierungsprozess hat darüber hinaus eine zeichentheoretische Dimension. Insoweit kann davon gesprochen werden, dass der Abstrahierungsprozess in der griechischen Mathematik zwar seinen Ausgangs-, nicht aber seinen Endpunkt findet. Dies zeigt Sybille Krämer in einer zeichentheoretischen Analyse des wissenschaftlichen Zahlengebrauchs auf. Sie setzt sich mit dem Verhältnis der Zahlzeichen zum Bezeichneten als Verhältnis von Symbol und Symbolisiertem auseinander. Es ist auch in diesem Zusammenhang vom Verhältnis der Zahl zum Gegenstand die Rede. „Gegenstand“ meint dann das durch die Zahlen Bezeichnete, nicht das vermessene bzw. gezählte Objekt. In der griechischen Mathematik, so Krämer, wird zwar bereits zwischen (dem einen Gegenstand darstellenden) Medium und (dem dargestellten) Gegenstand unterschieden, die Symbole bleiben jedoch auf die Gegenstände, die sie darstellen, bezogen. Das Symbolisierte, nicht die Zahl als Symbol, ist der „eigentliche Bezugspunkt“57 mathematischer Operationen. Erst in der Neuzeit sieht Krämer mit der Anwendung einer neuen Methodik zur Problemlösung eine epistemologische Wende bei der Verwendung von Symbolen in den Wissenschaften und der Zahlen in der Mathematik vollzogen.58 Ein Problem wird nun als Formel dargestellt und die Lösung des Problems ergibt sich aus einer Umformung von Symbolen, die sich in aufeinanderfolgenden Schritten vollzieht. Sie vollzieht sich ausschließlich auf der Symbolebene, d. h. die Bedeutung der Symbole ist hierfür nicht von Relevanz. Die Zahlenverwendung wird zur rein formalen, über eine abgeschlossene Logik verfügende Kunstsprache. Nach Krämer ist die Verwendung typographischer, im Verhältnis zur mündlichen Sprache autonomer Symbole mediale Voraussetzung dieser Neuausrichtung des Zahlengebrauchs. Die Mathematik der Neuzeit greift auf das indisch-arabische Zahlensystem (1, 2, …) zurück. Anders als Zahlworte (eins, zwei, …), die die mündliche Rede in Schrift darstellen, kann es in der mündlichen Rede nur noch „ver-sprachlicht“59 werden.60 Der neuzeitliche Zahlbegriff nimmt im Vergleich zu dem der griechischen Mathematik eine höhere Abstrak­tionsstufe ein.61 Alltagswelt in der Mathematik verwendet werden, bedeutet zwar zunächst nur eine äußere, praktisch-funktionale Beobachtung. Deren Charakterisierung als „eigenständige, abstrakte Objekte“ (ebd., S. 181), die der „der Außenwelt […] uneinholbar voraus“ (ebd., S. 182) seien, impliziert indes eine zeichentheoretische Aussage, die verschweigt, dass die radikale Umkehrung des Verhältnisses der Zahl als Symbol zum symbolisiertem Gegenstand im antiken Griechenland gerade noch nicht statt gefunden hat. 57 Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, 1991, S. 373. 58 Siehe auch die Ausführungen unter A. II. im 2. Kapitel des ersten Teils. 59 Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, 1991, S. 94. 60 Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, 1991, insb. S. 1 ff., 88 ff., 372 ff.; Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea ­Mennicken/ Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (71 ff.). Zur Mathematik als Kunst­sprache auch Jochen Brüning/Eberhard Knobloch (Hrsg.), Die mathematischen Wurzeln der Kultur, 2005, S. 8. 61 Ernst Cassirer macht hingegen in der Bindung von Zahlen an die Sprache auch deren­ unlösbare Abhängigkeit von der gegenständlichen „Wirklichkeit“ aus. Ders., Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 185 f.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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2. Kapitel

Zur „Verzifferung“:62 Verwendungsintensität und -modalitäten von Zahlen bei der Erfassung tatsächlicher Zusammenhänge Es sollen nun die Verwendungsintensität und -modalitäten von Zahlen bei der Erkenntnis der „Wirklichkeit“ in den Blick genommen werden. Der gestaltende Zugriff von Zahlen auf tatsächliche Zusammenhänge wird hierdurch konkretisiert. Es zeigt sich, dass die Unterscheidbarkeit der Zahlenfunktionen nicht deren scharfe Trennung bedeutet. Die Formelsprache der Mathematik wird zur Erkenntnis praktisch nutzbar gemacht und die Verwendung von Zahlen führt in jedem Fall zur Abstraktion von der „unvermittelten Wirklichkeit“. Sie bedeutet nicht nur zwangsläufig eine (vermeintliche) Rationalisierung und Standardisierung der Wahrnehmung, jenseits der unvermeidbaren Gestaltung dienen Zahlen einem bewussten Regelungszugriff. Sie werden dann zur Standardisierung tatsächlicher 62 Es wird angenommen, dass der Begriff „Verzifferung“ auf kulturkritische Äußerungen Ernst Jüngers zurückgeht. Ders., Autor und Autorschaft, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 19 (Erster Supplement-Band): Essays IX, Fassungen III, 1999, S.  9 (207); Siebzig verweht IV, 1995, S. 161. Nach Heiko Christians, „In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher“, in: Matthias Schöning/Ingo Stöckmann (Hrsg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik, 2012, S. 253. Siehe auch Thomas Gloning, Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger, 2004, S. 145 (153). Die Verzifferung soll vorliegend auf die zunehmende Zahlenverwendung in der „Rechtswirklichkeit“ verweisen. Eine positive oder negative Deutung (Fortschritt bzw. kultureller Verfall, Erosion des Wertefundaments der Gesellschaft, Fremdbestimmung des Individuums) ist hiermit nicht verbunden. Eine kritische Bewertung der zunehmenden Zahlenverwendung findet sich bei Otto­ Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177; ders., Vermessenes Recht, 2013; Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.  Juli 2010, S.  7; Marco Wehr, Von der Unzuverlässigkeit des Zahlenzaubers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2012, S. N 5. Wehr spricht an Stelle von der Verzifferung von der „Berechenbarkeit der Welt“ (ebd.). Da die zunehmende Zahlenverwendung in allen vorliegend nachgezeichneten Entwicklungssträngen mit technischem Fortschritt einhergeht, kann bei der Bewertung der Verzifferung auch auf die Technikphilosophie zurückgegriffen werden. Hierzu Christoph ­Hubig/ Alois Huning/Günther Ropohl (Hrsg.), Nachdenken über Technik, 2000 u. Johan Hendrik­ Jacob van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts: Eine systematische Übersicht der Theorien, 1985. Zitiert nach Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (56, Fn. 408). Siehe auch Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl. 1994, S. 770 ff.; Kurt Hübner, „Technik“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1475; Odo Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1987, S. 76. Den Begriff „Verzifferung“ verwendet außerdem (ohne Verweis auf Ernst Jünger) Uwe Pörksen, wenn er die Folgen der zunehmenden Verwendung wissenschaftlicher Fachtermini in der Umgangssprache („Mathematisierung“) beschreibt. Ders., Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 275 ff., hier S. 280 („Die starre Geometrisierung und Verzifferung erstreckt sich in immer neue Nischen.“).

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

Phänomene und zur Grenzziehung innerhalb der „Rechtswirklichkeit“ eingesetzt. Abstrahierung, Rationalisierung und Standardisierung sind nicht nur Konsequenz, sondern sie betreffen auch die Art und Weise der Zahlenverwendung. Historisch lässt sich neben der Herausbildung der Mathematik eine Vereinheitlichung des anwendungsbezogenen Zählens und Messens nachvollziehen. Die Abstrahierung, Rationalisierung und Standardisierung der Wahrnehmung greift außerdem aus, denn es nimmt der Umfang der Zahlenverwendung zu. Die „Wirklichkeit“ wird zunehmend in Zahlen erfasst und strukturiert.

A. Historische Verzifferungsprozesse In historischer Perspektive lassen sich verschiedene Entwicklungsströme nachzeichnen, die zu einer zunehmenden Zahlenverwendung führen. Sie sind mit einem bestimmten historischen Ereignis, einer Epoche und/oder Geistesströmung verknüpft, führen – je für sich – zu einem tiefgreifenden soziokulturellen und/oder wissenschaftlichen Wandel und prägen ein bestimmtes Menschenbild, verfügen mithin über anthropologischen Impetus.63 Wenngleich Entwicklungsströme ausgemacht werden können, der Prozess des Ausgreifens von Zahlen ist nicht kontinuierlich verlaufen. Es handelt sich bei genauerer Betrachtung um Entwicklungsschübe mit charakteristischen Vor- und Ausläufern, die sich überlagern und bis heute fortsetzen. Nachdem im Mittelalter der Fortschritt der „Wissenschaft von Maß und Zahl in Europa“ von theologischen Deutungskonzepten begrenzt wird,64 führen im 16. Jahrhundert Vorboten des geistigen Klimas der Aufklärung zu einem rationalen Erkenntnisstreben. Man besinnt sich auf das Vorbild der Antike und legt den Grundstein für eine wissenschaftliche, quantitative Erfassung der Welt. Es liegt hier der Ursprung der modernen, experimentell arbeitenden (Natur-) Wissen­schaften mit ihrem Anspruch der Exaktheit.65 Es vollzieht sich ein Methodenumbruch, der als wissenschaftliche Revolution66 die gesamte Wissenschaft ergreift. Logisch-mathematische Strategien zur Erkenntnisgewinnung setzen sich durch. In der Industrialisierung des 19.  Jahrhunderts werden wissenschaftliche Erkenntnisse massenwirksam praktisch verwertet und die quantitative Welterfassung weitet sich aus. Neben die moderne Wissenschaft treten weitere zahlendomi 63 Vgl. Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 29 und die Anmerkung zu S. 29 auf S. 168. 64 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 78 (Zitat ebd.). Eine differen­ zierte Betrachtung der Zeitmessung im Mittelalter findet sich bei Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004. 65 Im Gegensatz zu Sybille Krämer soll die Natur im Experiment weniger als „Gegenstand […] technischer Manipulierbarkeit und Reproduzierbarkeit“ verstanden werden. Der Fokus liegt auf dem Anspruch neuzeitlicher Wissenschaft, eine möglichst exakte Abbildung der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen zu generieren. Siehe Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, 1991, S. 5. 66 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967, S. 128 ff.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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nierte Phänomene: eine rasante Technisierung67 und Ökonomisierung. Es entsteht die moderne Massengesellschaft, die von einer Verdichtung und Komplexitätssteigerung der Lebensverhältnisse geprägt ist. Die Technisierung geht im 20. Jahrhundert in die Digitalisierung über und die Erfindung des Computers führt zur fortschreitenden Verzifferung. Unser Zugriff auf die „Wirklichkeit“ verändert sich im Zuge der sich intensivierenden Verzifferung fundamental. Sie wird mit dem Ziel der Rationalisierung und Standardisierung numerisch geordnet und gestaltet. Dies gilt mehr noch für die Zahlenverwendung im Zuge von Technisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung als die Durchsetzung quantitativer Methoden in den Naturwissenschaften, in denen es trotz der unweigerlichen Gestaltungswirkung von Zahlen primär um die Abbildung der „Wirklichkeit“ in Zahlen geht. Angesichts der Intensivierung und Beschleunigung sozialer Interaktion sowie der Ausdifferenzierung der menschlichen Tätigkeiten einer global vernetzten Gesellschaft werden Zahlen  – jenseits der Ausdifferenzierung verschiedener gesellschaftlicher Funktionssysteme als Strategie zur Komplexitätsbewältigung68  – zur Grenzziehung, Orientierung und Strukturierung eingesetzt.69 Diese soziale Bedeutung und Funktion der Zahl ist eine alle historischen Entwicklungsschübe überdauernde Konstante und Motiv­ ihrer zunehmenden Verwendung. Die Verzifferungsprozesse gehen mit Veränderungen in der Beziehung von Mensch und Natur einher. Die naturwissenschaftliche Erforschung tatsächlicher Phänomene, die den Ursprung der Verzifferung markiert, bedeutet eine Hinwendung zur Natur. Sie führt zur Verdrängung eines mythischen Weltbildes. Die verstärkte Präsenz von Zahlen allein lässt zwar nicht auf deren Unterwerfung unter naturwissenschaftliche Rationalitätskriterien schließen (vgl. schon das vereinende Phänomen des Zahlenmythos70), die historische Entwicklung zeigt jedoch eine Abkehr vom Mythos und wachsende Dominanz einer in diesem Sinne intentional rationalen Verwendungsweise.71 Den Mensch treibt nicht nur sein wissen 67

Alternativ kann auch von einer Mechanisierung gesprochen werden. Sie bedeutet gegenüber dem Begriff der Technisierung allenfalls eine Akzentverschiebung. Ausgangspunkt der Mechanisierung ist der Ersatz der menschlichen Bewegung durch einen maschinellen, d. h. künstlichen und standardisierten Ablauf. Grundlegend zur Geschichte der Mechanisierung­ Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl. 1994. 68 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 595 ff. 69 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 6 („Die Quantifizierung […] ist ein Grundzug des modernen Lebens […]. […] Eine Ursache für das Faszinosum und den Mißbrauch der Quantität ist die Tatsache, daß die Gesellschaft immer komplexer, qualitativ vielfältiger wird und der zahlenmäßige Ausdruck als ein Rettungsanker für ihre Durchschaubarkeit erscheint.“); Otto Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177 (ebd.). 70 Siehe hierzu Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 207 f. u. die Ausführungen unter C. II. 2. a) bb) im 4. Kapitel des dritten Teils. 71 Vgl. in diesem Zusammenhang Sigfried Giedion, der eine Entwertung der Symbole im 19. Jahrhundert feststellt. Er meint damit zwar einen generellen Bedeutungsverlust, als Bedeutungsverlust lässt sich aber auch der Übergang von einer mythologisch überhöhten zu einer­

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

schaftlicher Erkenntnisdrang, er will sein erweitertes Verständnis für die Erscheinungen und Prozesse der Natur nutzen, um sie sich untertan zu machen und zu beherrschen. Wenn sich Zahlen als „symbolische Form“ (Cassirer) zwischen Mensch und Natur schieben, ist dies zugleich ein Entfremdungsprozess und die historischen Verzifferungs- lassen sich als spezifische Entfremdungsprozesse nachvollziehen. Es tritt das Paradox ein, dass sich der Mensch zur Natur hinwendet und zugleich von ihr entfernt.72 In der historischen Rückschau wird deutlich, dass die zahlengeprägte, rationale Welterfassung nicht im Dienste des Menschen verharrt. Es lässt sich eine Bewegung im Verhältnis von Mensch und zahlengeprägter Rationalität ausmachen, in der das Begreifen und Ordnen der Welt in Zahlen einen Rückstoß erfasst und den Menschen (in seinen kommunikativen Strukturen) beherrscht.73

I. Standardisiertes Zähl- und Messwesen als Voraussetzung der Verzifferung Die weitreichende Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“ ist ohne die Standardisierung der historisch zeitweilig stark variierenden Maßsysteme nicht denkbar. Die Verwendung standardisierter Einheiten bei der Bestimmung von Größen legt den Grundstein einer modernen Messkultur. Es handelt sich um eine Entwicklung, die sich keiner der vorgenannten historischen Verzifferungsprozesse exklusiv zuordnen lässt, sondern die sich (auch unabhängig von ihnen) über einen längeren Zeitraum vollzieht. Nachdem sich bereits in den frühen Hochkulturen und der Antike erstmals ein einheitliches Messwesen etabliert hat,74 bleibt in Mitteleuropa das Messen bis in das 19. Jahrhundert zunächst stark von regionalen Besonderheiten abhängig. Es werden außerdem je nach Branche und Gütern (für dieselbe, zu messende Größe) naturwissenschaftlich-rationalen Verwendung von Zahlen begreifen. Ders., Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl. 1994, S.  428. Die intentional naturwissenschaftlich-rationale Verwendungsweise von Zahlen steht außerdem im Vordergrund, weil die „Wirklichkeit“ aus der Perspektive des Rechts und als Vergleichsmaterie der Verwendung von Zahlen in Rechts­texten und in der Rechtsprechung untersucht wird. Im Recht erheben Zahlen (in Generierung und Verwendung) einen Anspruch auf naturwissenschaftliche Rationalität. Hierzu unter B. II. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 72 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5, 1987, S. 11 (insb. S. 29, 47, 51 f.). 73 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5, 1987, S. 11 (insb. S. 29, 47, 51 f.) Günther Winkler beschreibt, wie sich der Mensch der Zahlen zur Erfassung bzw. Strukturierung der Zeit bedient und die gezählte Zeit daraufhin den Menschen beherrscht. Ders., Zeit und Recht, 1995, S. 430 ff. 74 Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (9); Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 48 ff.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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verschiedene Maßeinheiten verwendet.75 Die überregionale Angleichung der Maßsysteme liegt historisch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation begründet. Sie lässt sich auf politische und wirtschaftliche Veränderungen, nämlich die Zentralisierung der Staatsmacht samt Ausdehnung der Herrschaftsgebiete76 und die aufblühenden Handelsbeziehungen, zurückführen.77 Rechtliche Vorgaben für das Messwesen verfügen danach über einen größeren Geltungsradius. Es ist außerdem die Aufsicht im Maß- und Gewichtswesen weniger zersplittert.78 Der überregionale Handel nimmt auf das Messwesen Einfluss, indem er eine praktische Notwendigkeit der Angleichung begründet und einen entsprechenden Reformdruck ausübt. Geistesgeschichtliche Impulse erfährt die Vereinheitlichung des Messwesens aus der Aufklärung. Dass das „Wirrwarr der Maße“ einem auf­ rationale Grundfesten gestützten Weltbild widerspricht, ist in den Ungerechtigkeiten des Wirtschaftsverkehrs praktisch unmittelbar einsehbar.79 Die Industrialisierung führt nicht nur zu einem Bedeutungszuwachs des Messwesens, die tradierten Maßsysteme werden durch den ökonomisch-technischen Fortschritt schließlich flächendeckend verdrängt. Die grenzüberschreitende, standardisierte Massenproduktion und Arbeitsteilung erfordert „einheitliche Maß[e]“ und etabliert u. a. das metrische System.80

75

Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 166. Eine Konzentration der Staatsgewalt erfolgt zunächst innerstaatlich. Sie bezieht sich auf die politische Verfasstheit der einzelnen Staaten, denn im 17. und 18. Jahrhundert beginnt das Lehnswesen zu zerfallen und die größeren Territorien entwickeln sich zu absolutistischen Herrschaften. Sie erfolgt außerdem in territorialer Hinsicht, über die Staatsgrenzen hinweg. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der nach den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich Verluste linksrheinischer durch rechtsrheinische Gebiete ausgleicht, führt zu einer Reduktion der territorialen Zersplitterung. Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2012, § 4 Rn. 113 ff., § 6 Rn. 160 ff. 77 Die Überwindung von Regionalität kennzeichnet nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische Entwicklung. Die territoriale Neuordnung 1803 und die Schaffung eines zusammenhängenden Handelsraums durch den Deutschen Zollverein 1834 führen zu einer Vernetzung, Ausweitung und Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen. Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2012, § 6 Rn. 164 ff.; Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S.  230. Zur Abschwächung der polit-ökonomischen Regionalität im Hochmittelalter und einhergehenden ersten Vereinheitlichungstendenzen im Messwesen Heinz-Dieter Haustein, ebd., S. 83, 94 ff. Die politischen und ökonomischen Faktoren der Vereinheitlichung des Messwesens verstärken sich gegenseitig. Die politischen Zentralisierungstendenzen wirken sich positiv auf den Handel aus. Umgekehrt gilt die Gründung des Deutschen Zollvereins als Katalysator einer weiter reichenden politischen Einheit. Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2012, § 10 Rn. 305. 78 Vgl. zum Hochmittelalter Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 83, 94 f. 79 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 223 (Zitat ebd.), 251. 80 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S.  223 f. (Zitat S.  224), 250 f., vgl. auch S. 307. 76

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

II. In more geometrico: Wissenschaftliche Revolution und Geometrisierung des Alltags in der Neuzeit Der disziplinäre Ursprung des Ausgreifens logisch-mathematischer Strategien in der Erkenntnisgewinnung liegt in den Naturwissenschaften. Historischer Ausgangspunkt ist die wissenschaftliche Revolution81 der Neuzeit. Sie wird auf die Zeit zwischen dem Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts datiert82 und bezeichnet einen – aus erkenntnistheoretischer Sicht – revolutionären Umbruch der wissenschaftlichen Methodik. Die Entstehung der exakten Naturwissenschaften prägen drei Komponenten: Die Aufstellung von Naturgesetzen, die Erfassung der Natur mit der Mathematik und die Erkenntnisgewinnung im Wege des Ex­periments.83 Die Begrifflichkeit des Naturgesetzes tritt im Vorfeld der neuzeitlichen Methodenrevolution auf den Plan. Sie erwächst der Vorstellung eines Gottes als „unbeschränkt waltendem Weltenherrn“,84 dessen Gesetze der Natur zu Grunde liegen. Die Naturgesetze sind Ausdruck einer in göttlicher Harmonie geordneten Welt. Die Wissenschaft sucht nach diesen ewigen, universellen Gesetzen, d. h. der Methodenwandel wird innerhalb der religiösen Erklärungsmuster eingeleitet.85 Zugleich entfaltet die Neuordnung der hergebrachten Kosmologie durch das heliozentrische Weltbild ihr umstürzlerisches Potential. Sie leitet ein vernunftbasiertes,86 modernes Wissenschaftsverständnis ein. Die Aufklärung verhilft der Rationalisierung und Säkularisierung zum geistesgeschichtlichen Durchbruch und beraubt die Kirche schließlich ihres Privilegs zur Welterklärung und -deutung.87 81

Thomas S. Kuhn, Fn. 66 im ersten Teil. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 271. Martin Carrier verortet den dargestellten Methodenumsturz wissenschaftshistorisch, indem er auf das Wirken zweier bedeutender neuzeitlicher Wissenschaftler, Nikolaus Kopernikus (1473–1543) und Isaac Newton (1643–1727), als „Eckpfeiler“ abstellt. Inhaltlich werde diese Periode der Wissenschaftsgeschichte durch die Entdeckung der heliozentrischen Struktur des Planetensystems, der Gravitationskraft und der Bewegungsgesetze der Körper bestimmt. Ders., Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 134. 83 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 82; Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 133 ff. Das wissenschaftliche Erkenntnisstreben in der Antike, insbesondere in der Astronomie (hierzu Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 45, 51 ff.) ist Vorläufer der neuzeitlichen rationalen Beschreibung der Natur. Zu den Unterschieden Christian Schütte, Gesetze am Himmel, 2008, v. a. S. 60 ff., 82 ff. 84 Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 134. 85 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 82; Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 134 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 271 ff. 86 Andreas v. Arnauld u. Wolfgang Durner sprechen von einer „vernunftregierten“ an Stelle der „göttlichen“ „‚Weltordnung‘“, Heinrich Triepel und die Ästhetik des Rechts, Einführung in: Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts, 2007, S. V (XXXIV f.). 87 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 322. Ders. weist bei der Ergründung der Bedeutungszunahme des Naturrechts ab dem 16.  Jahrhundert auch auf frühere Säkularisierungstendenzen hin. Die Befriedung durch die Reforma 82

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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In der Neuzeit erodiert das theologische Wahrheitsmonopol und die auf Erkenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge zielende Naturwissenschaft88 überwindet den Mythos.89 Die wissenschaftlichen Umwälzungen lassen sich als historischer Verzifferungsprozess der Erkenntnis deuten, denn sie führen zur Beschreibung der Natur mit Hilfe der Mathematik, zu einer „mathematische[n] Theorie der Natur“.90 Der Beschreibungsmodus erklärt sich aus dem Zusammenspiel von Erkenntnisobjekt und Erkenntnisziel der Wissenschaft zur Zeit des Methodenumbruchs. Es sollen die Naturgesetze, d. h. „immerwährende und uneingeschränkt gültige Prinzipien“91 von Naturphänomenen, vor allem der Planetenbewegungen, aufgedeckt werden. Den Weg weisen mathematische Formeln. Dies liegt daran, dass sich Naturerscheinungen in ihrer Regelhaftigkeit und Stetigkeit in besonderer Weise in „ideale[n] mathematische[n] Gebilde[n]“92 erfassen lassen. Sie sind zwar ebenso fortwährenden Wandlungen unterworfen. Zahlen eignen sich ungeachtet dessen zur Extrak­ nregelmäßigkeiten tion von Gesetzmäßigkeiten, denn sie abstrahieren von den U des Erkenntnisobjekts.93 Der Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten liegt die Vorstellung einer „mathematischen Struktur der Wirklichkeit“ zu Grunde, die eine Abkehr vom aristotelischen Naturverständnis und Hinwendung zum Platonismus bedeutet.94 Nach dem Credo der neuzeitlichen Wissenschaft „gibt [es] in der Natur nichts, was den Bemühungen der wissenschaftlichen Vernunft widerstehen kann; denn es gibt nichts was der Geometrie widerstehen kann“.95 Das Experiment avanciert zum Erkenntnismittel bei der Ermittlung der Naturgesetzlichkeiten. Auch insoweit wird die überkommene Methodik überwunden. tion hervorgerufener Religionskonflikte führte demnach zu überkonfessionellen Regeln, der Herauslösung von Herrschaft aus theologischen Begründungsmustern und deren weltlich-­ vernünftiger Fundierung. Ebd., S. 273 ff. 88 Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 135 (Zitat ebd.). 89 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 81 f. Ders. spricht von einem „wissenschaftliche[m] Geist, im modernen Verstande des Wortes“. Ebd., S.  32. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 271. 90 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 36. Ders. spricht von der Mathematik als „Schlüssel zum […] Verständnis der […] Weltordnung“. Ebd., S. 37. 91 Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S.  135; Christian Schütte, Gesetze am Himmel, 2008, S. 125–130. 92 Lothar Schäfer, „Zahl“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1775 (ebd.). 93 Lothar Schäfer, „Zahl“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1775 (ebd.). Siehe außerdem Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2.  Aufl. 2008, S.  135 f. Auch­ Cassirer beobachtet einen Methodenwandel in den Naturwissenschaften von der Darstellung der Naturphänomene in Modellen zu deren mathematischer Beschreibung. Er nimmt ihn zum Ausgangspunkt seiner Theorie der symbolischen Formen. Siehe die Ausführungen unter B. II. im 1. Kapitel des ersten Teils. 94 Martin Carrier verweist insoweit auf Galileo Galilei und Johannes Kepler. Ders., Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 136 ff. (Zitat S. 137). 95 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 28.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

Der Apriorismus Platons, nach dem nur mit der Vernunft und nicht mit Hilfe der irreführenden Sinne die „Wirklichkeit“ erkannt werden kann, findet in die wissenschaftliche Revolution keinen Eingang. Diese macht sich nicht nur die Mathematik, sondern – diesmal Aristoteles folgend – auch die Erfahrung zu Nutze.96 Die aristotelische Vorstellung einer Trennung von Naturwissenschaften und Technik wird dabei aufgegeben. Nach der nun vorherrschenden Überzeugung greifen Maschinen nicht notwendigerweise verfälschend in Naturprozesse ein, sondern ihre Wirkungsweise vermag mit der Natur zu harmonieren.97 Die Etablierung von Messungen und experimentell gestützten Berechnungen in der Methodik führt zu einer Technisierung der Naturwissenschaften, die selbst zahlendominiert ist und damit die Verzifferungstendenzen mittelbar verstärkt. Moderne Geräte ermöglichen nicht nur naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sie stützen sich auch auf eben diese. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden zur Entwicklung von Technik und technischen Modernisierung genutzt. Die Technik wird selbst zum Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft.98 Die neuzeitliche Methodenrevolution bleibt nicht auf die Naturwissenschaften begrenzt, sondern die logisch-mathematischen Strategien zur Erkenntnisgewinnung greifen auf die Geisteswissenschaften über. Auch rechtswissenschaftliche Fragen werden nun in more geometrico, d. h. nach dem Vorbild der Mathematik streng logisch-deduktiv erörtert.99 Zahlen nehmen eine vorrangige Bedeutung für die wissenschaftliche Erkenntnis der „Wirklichkeit“ ein100 und das Leben wird insgesamt einer geometrischen Ordnung unterworfen. Michael Stolleis spricht von der „Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit und Schönheit der Symmetrie“ als „Signum der Epoche“.101 Die Neuzeit und die mit ihr in der Kunst einsetzende Renaissance prägt der Mensch als Wissenschaftler und Erfinder. Die Naturwissenschaft und Technik werden theoretisch ergründet und der aktiv-schöpferische Geist drängt danach, neue technische Möglichkeiten in die Praxis umzusetzen.102

96

Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 139. Martin Carrier, Wissenschaftstheorie zur Einführung, 2. Aufl. 2008, S. 139 ff. 98 Kurt Hübner, „Technik“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1475 (1476 f.). 99 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 272. Zur Vorstellung einer methodischen Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen siehe auch die rechtshistorischen Ausführungen unter A. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. Nach dem ­Vorbild der Natur sollen allgemeine Gesetze der sozialen Ordnung aufgedeckt werden und unter dem Einfluss der Naturwissenschaften ändert sich auch das Bild des Staates. Er gilt nun als „effiziente, rationale ‚Maschine‘“. Michael Stolleis, ebd., S. 272 f. (Zitat S. 272). Zum Staatsbild eingehend Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, 1986. 100 Lothar Schäfer, „Zahl“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1775 (1775 f.). 101 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 272. 102 Kurt Hübner, „Technik“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1475 (1477). 97

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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III. Technisierung und Ökonomisierung in der Industrialisierung Die Industrialisierung ist der nächste wesentliche Entwicklungsschritt zur Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“. Naturphänomene werden nicht nur systematisch in Zahlen durchdrungen, sondern naturwissenschaftlicher Sachverstand wird auch mehr als zuvor praktisch nutzbar gemacht. Die Erfindungen, die das Zeitalter der Renaissance kennzeichneten, werden in der Industrialisierung zum Massenphänomen. Dies gilt für die Erfindertätigkeit, d. h. die Entwicklung neuer Ideen.103 Es schließt sich außerdem deren massenwirksame ökonomische Verwertung an. Technische Errungenschaften sind Auslöser eines beispiellosen Ausbaus der wirtschaftlichen Tätigkeit und werden flächendeckend zur modernen Massenproduktion eingesetzt. Im Zeitalter der Industrialisierung tritt zum symbiotischen Ineinandergreifen von Wissenschaft und Technik der neuzeitlichen Methodenrevolution die Ökonomie hinzu.104 Dabei ist die Herstellung der notwendigen Technik selbst ökonomischer Prozess. Die Industrialisierung ist ohne das „mechanisch-­ lineare Zeitdenken“ und die Geldwirtschaft, die sich bereits im Mittelalter etablie­ ren und damit vor den mit der Neuzeit einsetzenden prägnanten Verzifferungsschüben die Verdrängung religiöser Erklärungsmuster sowie tradierter, naturnaher Lebensformen durch eine quantitative Welterkenntnis ankündigen, nicht denkbar.105 Sie wird zum Ausgangspunkt einer systematischen Bezwingung und Ausbeutung der Natur.106 Seitens der Wissenschaft werden nicht nur neue Techniken und ihre Einsatzmöglichkeiten erforscht, wissenschaftliche Erkenntnisse sind zunehmend auch für die Kontrolle und Begrenzung der Technik von Bedeutung.107 Maß und Zahl bezwingen schließlich nicht nur naturwissenschaftliche Phänomene, sondern kontrollieren auch „soziale[…] Zusammenhänge[…]“.108 Die Statistik sucht ihnen Regelmäßigkeiten zu entlocken, etabliert sich als Erkenntnis­ mittel und Grundlage gesellschaftspolitischer Steuerung.109 Der in der Industrialisierung zu verzeichnende Verzifferungssprung verläuft zweistufig. Es lassen sich – dies gilt auch für die übrigen Verzifferungsphasen – zwei, aufeinander aufbauende Ebenen unterscheiden. Die „Rechtswirklichkeit“ ist ihrer „genuinen Struktur“ nach zahlengeprägt. Dies gilt jedenfalls mittelbar auch für die Technisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft. Technische Geräte und Ab 103

Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl. 1994, S. 61. Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (55). 105 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 100 (Zitat ebd.). 106 Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl. 1994, S. 771. 107 Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (31 ff.). 108 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 100 (Zitat ebd.). 109 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S.  225, 255 f. Kritisch bereits­ Julius Losch, Zahlenfreibeuterei, Zahlenfetischismus, Zahlenfanatismus, Zahlenfabrikation, Zahlenschwindel, Statistisches Monatsheft, Baden-Württemberg 8/2005, S. 52. 104

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

läufe folgen physikalischen Gesetzen und numerischen Bau­plänen. Der Ökonomisierung liegen in Zahlen messbare Geld- und Güterkreisläufe zu Grunde. Über ihre Entwicklung geben Kennzahlen Auskunft. Darüber hinaus sind die Regelungen,110 die auf die technischen und ökonomischen Sachverhalte zugreifen, zahlengeprägt.111 Dies liegt daran, dass sie gegenüber den tatsächlichen z­ ahlengeprägten Phänomenen anschlussfähig sein müssen. Die maschinelle, arbeitsteilige Massenproduktion und entstehende moderne Massengesellschaft werden darüber hinaus numerisch geordnet. Zahlen übernehmen verschiedene Ordnungsfunktionen. Sie werden zur Regulierung und Standardisierung eingesetzt112 und unterwerfen die Phänomene der „Rechtswirklichkeit“ mit unterschiedlicher Strenge der Vereinheitlichung, indem sie präzise Vorgaben oder Richtwerte formulieren. Grenzwerte übernehmen außerdem eine Ausgleichsfunktion und vermitteln zwischen den Belangen der wachsenden, sich verdichtenden Bevölkerung und der Industrie bzw. den Zielen der Gefahrenabwehr und Wirtschaftsförderung.113 Eine Ausgleichsfunktion kommt auch den Zahlen in der Sozialgesetzgebung zu. Dort findet 110

Hierzu gehören auch Rechtsnormen. Eine strikte Trennung von „Rechtswirklichkeit“ und Recht lässt sich bei der Darstellung ihrer Verzifferung nicht aufrechterhalten. Die Zahlenprägung der „Rechtswirklichkeit“ ist auch auf das Recht zurückzuführen, das tatsächliche Veränderungen in der „Rechtswirklichkeit“ bewirkt, wenn es befolgt wird und sich als prägend erweist. Die Verzifferung ist gleichwohl zuerst in der „Rechtswirklichkeit“ beobachtbar und ihre Einhegung erfolgt durch außerrechtliche Mechanismen der Selbstregulierung, bevor das Recht ordnend zugreift. Es werden regionale und einfachrechtliche Regelungsinstrumente verwendet, erst dann dehnt sich der normative Zugriff lokal aus und steigt zugleich in der Normenhierarchie auf. Vgl. zur Technisierung und der Entstehung des Technikrechts Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (30, 38 ff., 45 f.); ders., Standardization Takes Command, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 45 (47 f.). Die Normierung durch das Recht ist zwar den anderen Regelungszugriffen übergeordnet, zwischen der faktischer Normung und rechtlichen Normierung besteht jedoch ein fließender Übergang. In der Indus­ trialisierung ist eine  – bis heute fortwirkende  – Verklammerung von Recht und außerrechtlichem Sachverstand beobachtbar. Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: M ­ artin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (23 f.). Zur Zunahme von Zahlen im Recht während der Industrialisierung auch Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (ebd.). 111 Die zweistufige Darstellung ist stark vereinfachend. Die Technisierung und Ökonomisie­ rung bedeuten selbst eine Ordnung und Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft und Normen sind bereits Grundlage der Technisierung und Ökonomisierung. Eine eindeutige Trennung zwischen einer internen numerischen Struktur der genannten Phänomene und ihrer Zahlenprägung durch externen Zugriff ist kaum möglich. 112 Miloš Vec, Standardization Takes Command, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 45 (47 f.); ders., Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schultz (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (10 ff.). Grundlegend zur Standardisierung Norman F. Harriman, Standards and Standardization, 1928. Zahlen können nur dann zur Standardisierung eingesetzt werden, wenn ihre Generierung selbst standardisiert ist. Siehe die Ausführungen unter A. I. in diesem Kapitel. 113 Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (32 f., 35, 55).

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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„durch die Öko­nomisierung und gesellschaftliche Umverteilung der Schäden […] eine Art ‚Normalisierung‘ der industriellen Risiken statt“.114 Auch die Industrialisierung prägt ein bestimmtes Menschenbild. Sie knüpft an den Typus des Erfinders der Neuzeit an115 und begreift den Menschen sowohl in einer aktiven als auch passiven Rolle. Der Mensch strebt nicht nur „in bisher ungekannter Breite und Tiefe“ nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen,116 er macht seine wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften praktisch nutzbar, setzt sie flächendeckend ein und sucht sie mit möglichst hohem Gewinn zu amortisieren. Er ist Produzent und Konsument. Der Mensch wird zum Herrscher über Zahlen, aber etwa durch die Statistik auch selbst in Zahlen abgebildet und dadurch einem Abstrahierungsprozess unterworfen117 („Die Wissenschaft erfindet, die Technik nutzt sie aus, der Mensch paßt sich an.“118 ).119 In den sich ausbreitenden Großbetrieben und Fabriken der Industrialisierung ist er vor allem berechenbarer Produktionsfaktor. Die im Verhältnis des Menschen zur Natur beschriebene Entfremdung120 ergreift im Wege der Verzifferung den Menschen selbst.

IV. Digitalisierung Der jüngste Verzifferungsprozess, der ohne die neuzeitliche Methodenrevolution nicht denkbar ist und ebenso an die Industrialisierung anknüpft,121 setzt in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Die Erfindung des Computers löst eine der industriellen Revolution vergleichbare mikroelektronische Revolution mit tiefgreifenden ökonomischen wie sozialen Umwälzungen aus und hebt sich damit von der allgemeinen Entwicklung und Durchsetzung elektronischer Verbreitungsmedien ab. Die Folgen der Verwendung von Computern sind mit der allgemeinen Technisierung vergleichbar und weisen hierüber zugleich hinaus. Computer sind nun universell zur Datenspeicherung und -verarbeitung (Digitalisierung) einsetzbar. Möglich ist die Automatisierung zuvor menschlich durchgeführter Vorgänge im Wege deren Digitalisierung.122 Durch die Verbindung von Rechnernetzwerken­ 114 Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (34). 115 Kurt Hübner, „Technik“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, 1974, S. 1475 (1477). 116 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 224 (Zitat ebd.). 117 Erich Fromm, Die Pathologie der Normalität, hrsg. von Rainer Funk, 1991, S. 63 ff. (insb. S. 65 ff.). 118 Slogan der Weltausstellung in Chicago 1933, nach Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 283. 119 Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 225, 308. 120 Siehe die Ausführungen in der Einleitung zu A. in diesem Kapitel. 121 Vgl. Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004, S. 137. 122 Frank Rieger, Bald wird alles anders sein, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2012, S. 29. Zu den Grenzen der Digitalisierung von Normen und rechtlicher Entscheidungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

entsteht das Internet als neues Kommunikationsmedium.123 Es wird hierdurch eine weitere mittelbare und unmittelbare Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“ eingeleitet. Die Digitalisierung ist mittelbar und verdeckt zahlengeprägt, denn die ihr zu Grunde liegenden Rechenprozesse sind binär codiert.124 Es tritt außerdem ein unmittelbarer, offener Verzifferungssprung ein, der sich von der allgemeinen Technisierung kategorial unterscheidet. Der Computer ist Rechenmaschine zur Quantifizierung qualitativer Zusammenhänge und der weiteren Verarbeitung des gewonnenen Zahlenmaterials. Andreas Rödder spricht von einer „digitale[n] Berechenbarkeit der Welt“,125 Arno Borst von der „Erschaffung der Welt nach dem Bild des Computers“. Ursprünglich dienen Zahlen dem Begreifen und Ordnen der „Wirklichkeit“, nun wird die „Wirklichkeit“ in Zahlen konstruiert.126 Im Computerzeitalter ist der Mensch einerseits Programmierer, der komplexe Zusammenhänge durch Zahlen steuert. Er wird andererseits in die digitalen Steuerungsprozesse eingebunden und angesichts der nun möglichen technischen Feinsteuerung sowie der enormen Rechenleistung zunehmend durch den Computer ersetzt.127 Er wird (in seinen sozialen Zusammenhängen) mehr als zuvor numerisch beund verrechnet.128

V. Fortsetzung der Verzifferung über die historischen Ursprungsgebiete hinaus Die Bedeutungszunahme von Zahlen kann in der historischen Rückschau zwar anhand der dargestellten Entwicklungsstränge nachvollzogen werden, die Abgrenzung zahlengeprägter Sachbereiche ist jedoch Momentaufnahme. Allein nach materiellen Kriterien können aktuell keine zahlendominierten bzw. -abstinenten Bereiche ausgemacht und Kategorien der Lebenswirklichkeit hinsichtlich ihrer Zahlengeprägung gebildet werden. Dies liegt daran, dass die Ökonomisierung und Technisierung (bzw. Digitalisierung) unvermindert anhält und auch auf ­genuin technik- und ökonomieferne Gebiete ausgreift.129 Betroffen sind kollektive soziale

123

http://www.planet-wissen.de/natur_technik/computer_und_roboter/geschichte_des_ computers/index.jsp (abgerufen am 16.7.2012). Vgl. auch Frank Rieger, Bald wird alles anders sein, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2012, S. 29. 124 Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004, S. 137. Siehe auch die Ausführungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 125 Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7. 126 Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004, S. 138 f. (Zitat S. 138). 127 Arno Borst vollzieht diesen Prozess auch anhand der Begriffsgeschichte des Computers nach. Ders., Computus, 3. Aufl. 2004, S. 136. 128 Otto Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177 (ebd. u. S. 179); Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004, S. 138; Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 280. 129 Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7; Otto Depenheuer, Vermessenes Recht, 2013, S. 15 f.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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Strukturen und die individuelle Lebensführung, auch im privaten Bereich.130 Die Verzifferung greift auf den Menschen selbst zu. Auch jenseits des ökonomischen und technischen Ordnungszugriffs dominieren Zahlen die Erkenntnis der „Wirklichkeit“.131 Bereits während der Industrialisierung dienen Zahlen außerhalb von Produktion und Technik der Standardisierung und Normierung.132 Die Verzifferung lässt sich nicht nur materiell anhand des Ausgreifens zahlenaffiner Sachbereiche nachvollziehen, sondern auch mit einem Bedeutungszuwachs naturwissenschaftlich-mathematischer Strategien in der Erkenntnisgewinnung133 erklären. Zahlen werden in der sich ausdifferenzierenden, modernen Gesellschaft aufgrund ihres Ordnungs- und Rationalisierungspotentials umfassend und unabhängig von ihrer Generierung nach naturwissenschaftlichen Maßstäben zur Komplexitätsreduktion eingesetzt. Das Motiv ihrer zunehmenden Verwendung widerspricht zum Teil  ihrer Wirkung. Wenn Zahlen nicht methodengerecht generiert, tatsächliche Zusammenhänge dadurch verschleiert werden und die Quantifizierung d­ ennoch als Rationalisierungsleistung ausgegeben wird, führt ein Mehr an Zahlen zur Komplexitätssteigerung.134

VI. Verzifferung als Zahlenprägung der Kommunikation Die Ausbreitung der Zahlen kann nicht nur über die Dominanz der Sachbereiche Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie nachvollzogen werden. Die historische Entwicklung zur verzifferten „Wirklichkeit“ bedeutet eine zunehmend zahlengeprägte Kommunikation. Dies bedeutet einen Wechsel zwischen Perspektiven, die unmittelbar und untrennbar aufeinander bezogen bleiben. Das Begreifen und Ordnen der Welt in naturwissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Ka 130 Ökonomische Denkstrukturen werden etwa über Evaluation und Exzellenscluster in die Wissenschaft getragen. Andreas Rödder beschreibt, dass die Digitalisierung insbesondere in die Wirtschaft Eingang findet und deren Organisationsstrukturen über das eigentliche Wirtschaftsleben hinaus Bedeutung erlangen. Ders., Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7. Die digitale Organisation und Optimierung (im Wege von Zahlen) prägt dann auch den privaten Kontext. Zum Zeitmanagement Günther Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 428 f. 131 Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.  Juli 2010, S.  7.­ Rödder sieht eine historische Parallele zur aktuellen Zahlendominanz im Zahlenglauben der 60er und 70er Jahre des 18. Jahrhunderts. Auch Heinz-Dieter Haustein deutet einen Trend zur Verzifferung an. Ders., Weltchronik des Messens, 2001, S. 307 f. 132 Miloš Vec, Standardization Takes Command, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 45 (48). 133 Es werden soziale Phänomene, auch außerhalb der Aufstellung von Statistiken, naturwissenschaftlich-mathematisch erfasst. Die sozialökonomische Physik erklärt den Zustand und Wandel von Gesellschaften mit physikalischen Gesetzen. Dazu Patrick Illinger, Formeln der Freiheit, Süddeutsche Zeitung, 17. Februar 2011, S. 18. Im 19. Jahrhundert sucht bereits­ Lambert Adolphe Jaques Quetelet eine Sozialphysik zu begründen. Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 225. 134 Vgl. Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 6.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

tegorien vollzieht sich in Sprache; Zahlen sind Sprechakte.135 Von den genannten fachspezifischen sprachlichen Strukturen erstreckt sich die Zahlenprägung auf die zunächst nicht zahlendominierte Fach- und Alltagssprache.136 In der Verzifferung wird der Charakter von Sprache als „kontinuierlicher Prozeß“ (Wilhelm von ­Humboldt)137 und die wechselseitige Beeinflussung sprachlicher Subsysteme durch die Vernetzung von Kommunikationsstrukturen sichtbar.138 Durch den Fokus auf die Eigenart bzw. Änderung der sprachlichen Strukturen wird ein weiterer, selbstständiger Verzifferungsprozess erkennbar, der auf die Durchsetzung des Computers als Kommunikationsmedium zurückgeführt werden kann und vorliegend als „Numerical Turn“ bezeichnet werden soll. Der Terminus ist dem von William J. T. Mitchell beschriebenen „Pictorial Turn“139 entlehnt, der eine erhöhte Bilderdichte in der Kommunikation im Zuge der Änderung der Kommunikationsstrukturen zu einer flächendeckenden Verwendung elektronischer Ver­ breitungsmedien beschreibt.140 Er beruht auf der Annahme Marshal McLuhans, dass das zur Übermittlung einer Nachricht gewählte Medium deren Form und In 135

Siehe die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des ersten Teils. Ob und inwieweit die Verfassungssprache vom allgemeinen Trend zur Verzifferung der Kommunikation betroffen ist, ist Gegenstand einer gesonderten Analyse unter D. im 3. Kapitel des zweiten Teils. 137 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 188 (Zitat ebd.). 138 Vgl. Uwe Pörksen zur Mathematisierung der Umgangssprache in Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 275 ff. Pörksen beschreibt die Übertragung eines bestimmten Clusters von Wörtern aus dem fachsprachlichen Verwendungskontext der Wissenschaft in die Alltagssprache. Er spricht ihnen die Eigenschaften der „Sprache der Mathematik“ zu (ebd., S. 277). Bei vielen handele es sich um „quantifizierbare Größen“ (ebd., S. 278). Pörksens Ausführungen gelten erst recht für die sprachliche Ausbreitung von Zahlen. Die Annahme der wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Kommunikationssystem erweist sich aus systemtheoretischer Sicht zunächst als problematisch. Niklas Luhmann geht davon aus, dass soziale Systeme als Kommunikationssysteme jeweils über eine systemspezifische Leitunterscheidung (Code) verfügen, die über die Zugehörigkeit einer Kommunikation zum System entscheidet. Die Systeme operieren autopoeitisch, indem systemspezifische Kommunikationen an Kommunikationen aufgrund deren Systemspezifität anknüpfen und wiederum systemspezifische Anschlusskommunikationen hervorrufen usw. Wenn jede systemspezifische Kommunikation aber nur auf einer systemspezifischen Kommunikation aufbauen kann, sind die Systeme notwendigerweise operativ geschlossen. Die operative Geschlossenheit bedeutet jedoch nicht die hermetische Abgeriegeltheit der Systeme. Luhmann erkennt strukturelle Kopplungen zwischen den Systemen an. Ein System beobachtet seine Umwelt, auch wenn es auf sie nur systemspezifisch reagieren kann. Systemfremde Kommunikationen sind „Rauschen“ und „Irritationen“ für das System. Sie führen auch insoweit zu Interaktionen zwischen den Systemen, als sie systeminterne Veränderungen im Sinne einer System-Evolution auslösen können. Die vorliegend angenommene kommunikationssystemübergreifende Zahlenprägung ist aus systemtheoretischer Sicht Folge der strukturellen Kopplungen. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 440 ff. (Zitat S. 442); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 447 ff. 139 William J. T. Mitchell, The Pictorial Turn, Artforum International 1992, S. 89. Siehe hierzu auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 20. 140 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3.  Aufl. 2008, S.  20 f. „Pictorial Turn“ und „Numerical Turn“ sind voneinander zu trennen, denn Bilder und Zahlen sind kategorial verschiedene Zeichen. 136

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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halt beeinflusst („The medium is the message“141).142 Der Computer schließt als Kommunikationsmedium an die soeben beschriebenen historischen Verzifferungsprozesse an. Dies liegt daran, dass er (neben der Speicherung bzw. Bearbeitung von Bildern) besonders zur Verarbeitung von Zahlen geeignet143 bzw. die verzifferte Sprache prädisponiert für die Aufnahme durch den Computer ist. Uwe P ­ örksen spricht vom Computer als „verlängerte[n] Arm der mathematisch begriffenen Lebenswelt“.144 Die Digitalisierung ist somit nicht nur Entwicklungsmoment innerhalb, sondern auch Folge der Verzifferung der „Wirklichkeit“. Der „Numerical Turn“ meint die Vorwirkungen auf die Kommunikation, die die Verwendung des Computers entfaltet. Durch das digitale Kommunikationsmedium wird die Verzifferung der Kommunikation intensiviert.145

B. Zweck und Methodik der Zahlengenerierung Bei der Erfassung und Ordnung der „Wirklichkeit“ lassen sich verschiedene Arten der Zahlengenerierung unterscheiden. Die folgende systematische Darstellung knüpft an einen methodischen Vergleich unabhängig vom konkreten An­ wendungsfeld an. Je nach Art der Zahlengenerierung treffen Zahlen unterschiedliche Aussagen über die „Wirklichkeit“. Soweit die Generierung von Zahlen methodisch voraussetzungsvoll ist, stößt die Verzifferung der „Wirklichkeit“ auf eine erste Grenze. In jedem Fall bedeutet die Erfassung der „Wirklichkeit“ in Zahlen die größtmögliche Abstraktion von der Individualität der Erscheinungen. Vor einer näheren methodischen Analyse kann außerdem auf folgende subjektive Momente verwiesen werden, die jeder Generierung von Zahlen zu Grunde liegen: Zahlen können nur generiert werden, wenn hierüber ein kultureller Konsens hergestellt werden kann. Dies gilt nicht nur für die Vermessung des einzelnen Objekts als besonderen Typus der Zahlengenerierung.146 Es liegen sowohl der prinzipiellen Öffnung der „Wirklichkeit“ gegenüber einer numerischen Strukturierung als auch der numerischen Erfassung einzelner Phänomene kulturelle konsensuale Strukturen zu Grunde. Inwieweit sich die „Wirklichkeit“ der Erfassung in Zahlen öffnet bzw. die Bestimmung des Grads ihrer Verzifferung, ist kulturhistorische Moment­aufnahme, die sich gegenüber Änderungen offen zeigt. Das Verhältnis zahlengeprägter und -abstinenter Lebensbereiche verfügt über Variabilität. Bereiche der „Wirklichkeit“, die sich gegenüber einer Erfassung in Zahlen sperren, können nur grob um 141

Marshall McLuhan, Understanding Media, 2009, S. 7. Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 19 f. 143 Siehe bereits soeben die Ausführungen zum als Digitalisierung bezeichneten historischen Verzifferungsprozess unter A. IV. 144 Vgl. Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 275 u. 282 (Zitat ebd.). 145 Vgl. Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 282 f. 146 Hierzu sogleich unter B. II. 2. b). 142

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

rissen werden. Allgemein sind Phänomene betroffen, deren Definition sich bereits dem Konsens entzieht. Sie sind von subjektiven Vorstellungen geprägt, Ausdruck individueller Entfaltung und daher nicht anhand allgemeingültiger Kriterien, sondern nur über Fallbeispiele fassbar. Es handelt sich um ideelle und psychische, nicht physisch greifbare Phänomene wie Emotionen.147 Ein weiteres subjektives Moment bei der Gewinnung von Zahlen besteht darin: Auch wenn Einigkeit besteht, dass bestimmte Phänomene numerisch erfasst werden können, erfordert die Generierung von Zahlen im konkreten Fall eine entsprechende Entscheidung. Ungeachtet dieser grundlegenden subjektiven Momente erlaubt die methodische Analyse eine Kategorisierung nach objektiven und subjektiven Arten der Zahlengenerierung. Das Zählen und Messen sowie die Quantifizierung im engeren Sinne sind objektiv, denn sie dienen der möglichst realitätsgerechten Abbildung der „Wirklichkeit“. Die subjektive Sicht dessen, der die Zahlen gewinnt, wird so weit als möglich ausgeblendet. Für die subjektiven Arten der Zahlengenerierung (Quantifizierung im weiteren Sinne, Qualifizierung, Codierung und Kennzeichnung) ist die Wertung dessen, der die Zahlen generiert, konstitutiv und steht im Vordergrund.

I. Zählen und Messen Das objektbezogene, d. h. physikalische Erscheinungen in Bezug nehmende Zählen und Messen bildet die erste Kategorie unter den verschiedenen Arten der Zahlengenerierung. Während beim Zählen extern die Anzahl einer Reihe von Objekten bestimmt wird, geht es beim Messen um die Bestimmung der Größe des einzelnen Objekts. Der begrifflich scharfen Trennung steht in realiter ein fließender Übergang zwischen Zählen und Messen gegenüber. Dies liegt an möglichen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den in Bezug genommenen Objekten. Hinzu kommt die Variabilität der Perspektive, denn beim Messen wird die Größe des Objekts mit einer Grundeinheit verglichen und gezählt, wie oft die Grund­ einheit an das Bezugsobjekt angelegt werden kann.148 Beim objektbezogenen Zählen und beim Messen ist das jeweilige Ergebnis nie der isolierte Zahlenwert. Beim Zählen ist es die Anzahl des Gezählten bzw. die Menge einer bestimmten Kategorie zugehörigen Objekte, beim Messen die physikalische Größe als Messergebnis und quantitativ bestimmbare „Eigenschaft eines 147

Vgl. Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspek­ tiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (74). 148 Paul A. Tipler/Gene Mosca, Physik, 6. Aufl. 2009, S. 3; Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S.  15. So kann die­ Bestimmung des Alters eines Menschen sowohl als Mess- als auch Zählvorgang beschrieben werden: Entweder wird das Alter als zeitliche Größe gemessen oder die Anzahl gelebter Jahre gezählt.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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Objektes“149 (Bsp.: Masse, Länge). Die Größe ist das „Produkt[…] aus Zahl[enwert] und Maßeinheit“, wobei sich die Art der Größe an der in Bezug genommenen Maßeinheit ablesen lässt.150 An die Generierung des Messergebnisses kann sich dessen Umrechnung in verschiedene Maßeinheiten anschließen (Bsp.: 1  Stunde [h] = 60 Minuten [min] = 3600 Sekunden [s]). Im Wege der Auswahl „zweckmäßig[er]“ Einheiten und deren regelgeleiteter Kombination werden Einheitensysteme gebildet.151

II. Quantifizierung 1. Quantifizierung im engeren und im weiteren Sinne Phänomene der „Rechtswirklichkeit“ können auch als Zahlenwert angegeben werden, wenn es sich nicht um Naturerscheinungen handelt. Sie lassen sich zählen, wenn sie numerisch abgrenzbar sind.152 Wenn physikalische und nicht-physikalische Erscheinungen methodengerecht vermessen werden, liegt eine Quantifizierung im engeren Sinne vor.153 Erscheinungen, die zumindest im unmittelbaren Zugriff nicht von physikalischer Qualität sind, werden dazu auf (eine)  ihre(r) physikalische(n) Komponenten heruntergebrochen. Arbeit lässt sich etwa mit Arbeitsaufwand, Arbeits- mit Zeitaufwand gleichsetzen. Die heterogene Erscheinungsform Arbeit kann dann als temporale Größe gemessen werden. Im Wege der Anwendung beim Messen verwendeter Methodik lassen sich aber auch nicht-physikalische Größen generieren. Als anschauliches Beispiel dient die Bestimmung des Geldwertes, etwa in Bezug auf das Einkommen. Die Quantifizierung im engeren Sinne erlaubt eine Vermessung der „Wirklichkeit“. Bei der Quantifizierung im weiteren Sinne 149 Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 15. 150 Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 15 (Zitat ebd.); Paul A. Tipler/Gene Mosca, Physik, 6. Aufl. 2009, S. 3, 6.  151 Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 15 (Zitat ebd.). In Deutschland ist das Système International d’Unités (SI), eine international entwickelte und anerkannte Zusammenstellung von Standardeinheiten für das Messwesen, verbindlich (siehe das Gesetz über Einheiten im Meßwesen vom 2. Juli 1969, zuletzt aktualisiert am 22. Februar 1985, ergänzt durch die Ausführungsverordnung zum Gesetz über Einheiten im Meßwesen vom 13. Dezember 1985). Jeder Grundgröße wird darin eine Grundeinheit zugeteilt. Die Zeit wird etwa in Sekunden als Basiseinheit, die Masse in Kilogramm und die Länge in Meter gemessen. Auch hierzu Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 35 f.; Paul A. Tipler/Gene Mosca, Physik, 6. Aufl. 2009, S. 3; Richard Vieweg, Maß und Messen in kulturgeschichtlicher Sicht, 1962, S. 7 f. 152 Zählen lassen sich beispielsweise auch Stimmen oder Grundrechtseingriffe. 153 Im Brockhaus wird Quantifizierung bzw. Quantifikation als „Einführung messender­ Methoden in ein Forschungsgebiet“ definiert. „Quantifizierung, Quantifikation“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 22, 21. Aufl. 2006, S. 365. Zur Herkunft des Begriffs und einer allgemeinen Definition siehe bereits die Einleitung der Arbeit.

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

wird allein dem Ergebnis nach die Größe physikalischer und genuin nicht-physi­ kalischer Erscheinungen bestimmt. Eine vorangegangene Messung wird nur vorgegeben. Sie erweist sich bei Nachvollzug der Generierung der Größe  – zumindest in ihrer Exaktheit – als Schein. Strikte Messregeln werden außer Acht gelassen und an der Methodik des Messens wird nur in unterschiedlicher Intensität Anklang­ genommen.154 2. Methodik des Messens als Abgrenzungskriterium Doch wodurch zeichnet sich die Methodik des Messens aus? Es bestimmt­ hierüber eine selbstreferentielle Formel: Was gemessen werden soll, muss messbar sein. Unter welchen Voraussetzungen sind Objekte messbar? Die Kommensurabilität (Messbarkeit) erfordert Kategorisier- und Vergleichbarkeit. Die Vergleichbarkeit ist nicht nur Folge, sondern bereits Voraussetzung der Kategorisierung, die „nur einige Merkmale als relevant aus[…]wählt […] und alles andere ignoriert […].“ Es kann zwischen verschiedenen Ebenen sowie einer internen und externen Kommensurabilität unterschieden werden.155 a) Erste, übergeordnete Ebene: Strukturierung der „Wirklichkeit“ in Größen Die Möglichkeit der Vermessung setzt eine spezifische Wahrnehmung bzw. Ordnung der „Wirklichkeit“ voraus. Sie ist anthropologisch voraussetzungsvoll.156 Es genügt nicht, dass die Umwelt in ihren qualitativen Besonderheiten erfasst wird. Sie muss weitergehend einer quantitativen Struktur unterworfen werden. Sie ist vermessbar, soweit sie der kategorialen Ordnung der physikalischen Größen unterfällt. Dieser zunächst qualitativen Kategorisierung wohnt eine quantitative Struktur inne, denn Größen wird ihre numerische Bestimmbarkeit zugeschrieben. Der Mensch erfasst die Eigenschaften der Objekte nicht nur in Größen und 154

Vgl. Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 6 („Überall, wo Einsicht in eine differenzierte, widersprüchliche Situation und ihre Ursachen fehlt, da stellen sich Prozentsätze oder Durchschnitte ein, die Wahrheitsgehalte vorgaukeln.“ und „Messen hat immer mit Quantitäten zu tun, aber nicht jede Quantifizierung entspricht den Grundregeln des Messens wie zum Beispiel dem Gleichgewichtsprinzip oder dem Prinzip der Auswahl einer adäqua­ ten Maßeinheit. […] Es [kommt] zu Pseudomessungen, die die Verwirrung nur noch größer machen.“). 155 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S.  65 (74, Zitat ebd.). Heintz beschreibt die Kommensurabilität und Kategorisierung als Voraussetzungen der Messbarkeit, differenziert jedoch nicht explizit zwischen der Notwendigkeit einer spezifischen Strukturierung der Umwelt, der Messung des einzelnen Objekts und der numerischen Ordnung verschiedener Objekte. 156 Zum anthropologischen Ursprung der Zahlen bereits unter B. I. im 1. Kapitel des ersten Teils.

2. Kap.: Zur „Verzifferung“

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begreift seine Umwelt in ihrer zeitlichen Struktur, ihrem Gewicht oder ihrer Temperatur. Er ist heute zudem der Überzeugung, dass Zeit, Gewicht oder Temperatur zumindest auch in Zahlen beschreibbar sind. Bezugspunkt des Messens ist nicht die unvermittelte Naturerscheinung, sondern die Naturerscheinung nach einer bestimmten sozialen Vorstellung.157 b) Zweite Ebene: Vermessung des einzelnen Objekts Die Bestimmung der Größe einzelner Objekte, d. h. ihre Darstellung als „Produkt[…] aus Zahl und Maßeinheit“, bedeutet zugleich eine qualitative (die Wahl der Maßeinheit legt die Größenart fest) und quantitative (die Größe wird numerisch bestimmt) Charakterisierung.158 „Die Messung [der] […] Größe [vollzieht sich durch] […] de[n] Vergleich mit der für die Größe vorgeschriebenen Einheit.“159 Der Messvorgang erfordert somit eine interne Kommensurabilität: Die Bestimmung der Größe ist nur nach einer objektinternen Kategorisierung, das bedeutet nach der Herstellung einer internen quantitativen Struktur des zu vermessenden Objekts, möglich. Das poten­ tielle Messobjekt wird unter Absehung anderer Eigenschaften in identische, größenspezifische Maßeinheiten aufgespalten. Diese dem Vergleich und damit jeder Messung vorhergehende Kategorisierung ist – sofern Messen nicht Selbstzweck, sondern Teil sozialer Interaktion ist – auf Akzeptanz angewiesen, d. h. „sozial voraussetzungsvoll und [damit] […] potentiell kontrovers“.160 Nicht jede Qualität ist­ quantitativ beschreibbar, wenn deren Umformung in eine Größe und die Anlegung größenspezifischer Einheiten nur irgendwie denkbar ist. Es gibt Phänomene, denen im Rahmen eines kulturellen Konsenses eine interne numerische Struktur und damit die Quantifizierbarkeit abgesprochen werden. Sofern das Bezugsobjekt in identische Einheiten aufgespalten und hierüber Einigkeit erzielt werden kann, können Messvorgänge in den verschiedensten Lebensbereichen relevant werden. c) Dritte Ebene: Numerische Ordnung zwischen verschiedenen Objekten Die Größenbestimmung eines Objekts kann aufgrund der Verwendung abstrak­ ter Zahlen unabhängig vom Vergleich zu anderen Objekten vollzogen werden. Jedoch ermöglicht noch nicht die punktuelle Vermessung eines Objekts, sondern 157

Vgl. Arno Borst, Computus, 3. Aufl. 2004, S. 7, 10 ff.; Günther Winkler, Fn. 45 im ersten Teil. Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 15 (Zitat ebd.). 159 Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 15. Siehe bereits soeben unter B. I. 160 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (74, Zitat ebd.). 158

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

erst die numerische Charakterisierung verschiedener Objekte eine Strukturierung der Umwelt in Zahlen. Es bedarf hierzu der externen Kommensurabilität, d. h. der externen Kategorisier- und Vergleichbarkeit. Es muss mehrere Objekte geben, die sich der Erfassung in derselben Größe und damit – in Absehung ihrer Unterschiede – dem Vergleich öffnen. Damit ist der Bogen zur ersten Ebene geschlagen, denn die Möglichkeit des Vergleichs verschiedener Objekte nach ihrer Größe setzt die anfänglich geforderte und übergeordnete Ordnung der „Wirklichkeit“ voraus. Die numerische Vergleichbarkeit ist Folge der quantitativen Kategorisierung der ersten Ebene.

III. Qualifizierung Während es bei der Quantifizierung um die (exakte) Beschreibung eines Phänomens der „Wirklichkeit“ in Zahlen geht, bedeutet die Qualifizierung dessen Bewertung (Bsp.: Evaluierung, Benotung).161 Zwar mag auch die Quantifizierung (im weiteren Sinne) über ein subjektives Moment in der Methodik verfügen, bei der Qualifizierung ist es intendiert. Die Zahlenzuweisung soll eine Meinung aus­ drücken. Eine Gemeinsamkeit zwischen Quantifizierung und Qualifizierung besteht insofern, als dass Zahlen eine materielle, d. h. inhaltlich relevante Beziehung zum Bezugsobjekt einnehmen. Es geht um die (zumindest dem Anschein nach) objektive Beschreibung bzw. subjektive Bewertung der Eigenschaft eines Phänomens der „Wirklichkeit“, der Angabe einer Qualität in Zahlen (als Quantität).

IV. Codierung In bestimmten Fällen stellt auch die Codierung eine Form der Zahlengenerierung dar. Von der Quantifizierung und Qualifizierung ist sie kategorial verschieden. Die Codierung bezeichnet die Verschlüsselung einer Nachricht und der Code die ­Anleitung zur Verschlüsselung, die „Übertragungsvorschrift“.162 Eine codierte Nachricht kann auch aus Zahlen bestehen und sich auf eine ursprünglich nichtnumerische Nachricht beziehen. Die Codierung bedeutet dann, dass nichtnumerische durch numerische Zeichen ersetzt werden und der Code stellt einen rein formalen Konnex zwischen der nichtnumerisch verfassten Ursprungsnachricht und den Zahlen her. Was die Wahl und Ausgestaltung des Zuordnungsschlüssels zwischen Information und Zahl angeht, verfügt die Codierung über ein subjektives Moment. Dient die Codierung der Verheimlichung einer Nachricht vor Unbefugten, ist der Zusammenhang zwischen ursprünglicher und verschlüsselter Nachricht 161

Das Fremdwörterbuch der Dudenredaktion definiert „Qualifikation“ neben der „Befähigung“ | „Eignung“ unter anderem auch als „Beurteilung“ | „Kennzeichnung“. „Qualifikation“, Duden, Bd. 5: Fremdwörterbuch, 10. Aufl. 2010, S. 873. 162 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 216.

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bzw. zwischen nichtnumerischen Zeichen und Zahlen nach Sinn und Zweck der Codierung bewusst nicht (unmittelbar) einsehbar.163 Etwas anderes gilt, wenn die Codierung wie die Binärcodierung zum Zweck der elektronischen Datenverarbeitung164 erfolgt.165

V. Kennzeichnung Ein bloß formaler Konnex zwischen einem tatsächlichen Phänomen und Zahlen besteht auch bei der Kennzeichnung, das ist die Verwendung von Zahlen als Identifizierungs- bzw. Separierungsmerkmal (Zahlen auf Kfz-Nummernschildern, unterhalb des Strichcodes auf Waren, Seitenzahlen im Buch). Es geht um eine Benennung mit Zahlen, die u. U. formalen Ordnungskriterien folgt, u. U. völlig willkürlich verläuft. Ein subjektives Moment liegt folglich wiederum in der Auswahl etwaiger Zuweisungskriterien. 3. Kapitel

Begrenzte Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen Die historische Entwicklung lässt sich nicht zur verzifferten „Rechtswirklichkeit“ fortschreiben. Zwar ist nach der Loslösung numerischer Methoden in der Erkenntnisgewinnung von ihren ursprünglichen Anwendungsgebieten (Naturwissenschaften, Technik und Ökonomie) nach materiellen Kriterien keine deutliche Differenzierung von Sachbereichen nach dem Ausmaß ihrer Zahlenprägung möglich.166 Die Zahlengenerierung ist jedoch nicht nur methodisch voraussetzungsvoll,167 Grenzen der Verzifferung lassen sich auch auf erkenntnistheoretischer Ebene nachvollziehen. Die erkenntnistheoretische Analyse greift die methodische Unter­ scheidung in objektive und subjektive Arten der Zahlengenerierung auf. Sie ergibt: Es existiert nicht die eine „Wirklichkeit“, die in Zahlen abgebildet werden kann und die „Rechtswirklichkeit“ lässt sich nicht in Zahlen auflösen.

163

Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 216. Zu Bestrebungen einer Digitalisierung des Rechts siehe die Ausführungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 165 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 217 f. 166 Siehe die Ausführungen unter A. V. im 2. Kapitel des ersten Teils. Otto Depenheuer verweist pauschal auf nicht „verzählbare Lebensbereiche“. Ders., Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177 (180, Zitat ebd.). 167 Siehe die Ausführungen unter B. im 2. Kapitel des ersten Teils. 164

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

A. Ordnung des Methodenpluralismus durch eine duale Struktur der Erkenntnis Nimmt man die Erkenntnisfähigkeit des Einzelnen zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, dann existieren je nach den angelegten erkenntnisleitenden Kriterien unterschiedliche „Wirklichkeiten“.168 Die jeweils erkenntnisleitenden Kriterien und die eingenommene Perspektive auf die „Wirklichkeit“ bedingen sich gegenseitig. In die individuellen Erkenntnisprozesse lässt sich eine typisierende, duale Ordnung der Erkenntnisformen hineinlesen. Es gilt keine Erkenntnisform absolut, insbesondere ist Erkenntnis nicht auf den Weg naturwissenschaftlicher Logik beschränkt. Bereits Nikolaus Cusanus verweist darauf, dass das Messen „nur eine Seite der rationalen menschlichen Erkenntnis bildet“.169 Die neuzeitliche Wissenschaft zeichnet ein einseitiges, unvollständiges Bild. Gleiches gilt für den Rationalismus des 19. Jahrhunderts, der selbst gesellschaftliche Zusammenhänge im Wege von Naturgesetzen abzubilden und zu berechnen sucht.170

I. Erkenntnisform und erkannte „Wirklichkeit“ in den Natur- und Geisteswissenschaften Grundlage einer Ordnung der Erkenntnisformen ist Heinrich Rickerts Unter­ scheidung der natur- und kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung.171 Demnach abstrahiert die sogenannte naturwissenschaftliche Begriffsbildung von der „An 168 Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in:­ Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (147); Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 163. Siehe bereits die einleitenden Bemerkungen zur erkenntnistheoretischen Prämisse der Arbeit, die von der Konstruktion der „Wirklichkeit“ im Wege der Erkenntnis ausgeht und die Existenz einer vorgegebenen „objektiven Wirklichkeit“ ablehnt, Fn. 21 im ersten Teil. 169 Zitiert nach Heinz-Dieter Haustein, Weltchronik des Messens, 2001, S. 127. 170 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 59. 171 Heinrich Rickert stellt der naturwissenschaftlichen zunächst die historische Begriffsbildung, später allgemeiner den Erkenntnisgegenstand und die Erkenntnismethode der Kulturwissenschaften gegenüber. Ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 145 ff., 211 ff., 389 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 96. Der Terminus der „Begriffsbildung“ verweist darauf, dass die ­verschiedenen Erkenntnisformen nicht an eine objektive „Wirklichkeit“ anknüpfen. Rickert ist Vertreter des Neukantianismus und als solcher überzeugt, dass nicht eine vorfindliche „Wirklichkeit“ umfassend abgebildet kann, sondern der Erkenntnisgegenstand erst im Wege des Erkenntnisprozesses konstruiert wird. Ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 163. Hierzu Oliver Lepsius: Der „Konstruktionprozess[…] […] bestimm[t], welcher Ausschnitt aus der unendlichen Vielfalt der Phänomene betrachtet werden soll und unter welchem Aspekt dies geschehen soll. Die faktische Vielfalt der Welt muß genauso reduziert werden wie die möglichen Wertbezüge, mit denen die Fakten betrachtet werden. Diesen Vorgang der Selektion zum Zwecke der Erkenntnis nennt man Begriffsbildung. Begriffe sind daher Hilfsmittel, um einen Ausschnitt aus

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schaulichkeit“ und „Individualität“172 der Erscheinungen. Sie knüpft an das Gleichförmige und Wiederkehrende an. Es geht darum, Muster in der „Wirklichkeit“ herauszuarbeiten bzw. allgemeine Naturgesetze zu formulieren: „Die Naturwissenschaft [hat], um das Ganze einer unübersehbaren Wirklichkeit zu erkennen, diese mit Rücksicht auf das Allgemeine zu betrachten und wenn möglich ihre Gesetze zu finden […].“173 Hiervon grenzt Rickert die kulturwissenschaftliche Begriffs­ bildung ab. Die „Wirklichkeit“ offenbare sich auch in ihren einmaligen und besonderen Zügen.174 Die kulturwissenschaftliche sei „individualisierende[…] Begriffsbildung“,175 die im Wege der Kombination allgemeiner Begriffe oder Vorstellungen das Besondere abbilde. Nach Rickert wählen die Kulturwissenschaften ihren Erkenntnisgegenstand im Hinblick auf sozial anerkannte Werte aus.176 Die „individualisierende“ ist daher „teleologisch[e]“177 Begriffsbildung.178 Im Anschluss an Rickert sollen zwei idealtypische Erkenntnisformen, eine natur- und eine geisteswissenschaftliche, unterschieden werden. Ihre Anwendung ist abhängig davon, aus welcher Perspektive die „Wirklichkeit“ bzw. welcher „Ausschnitt […] [der ‚Wirklichkeit‘] betrachtet werden soll“.179 Eine naturwissender Wirklichkeit erkennen zu können.“ Ders., Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (159 ff., Zitat S. 160). 172 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4.  Aufl. 1921, siehe etwa S. 146. 173 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4.  Aufl. 1921, S. 153 (Zitat ebd.); Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 93. 174 Heinrich Rickert spricht von der „niemals wiederkehrende[n] sinnlich anschauliche[n] Einmaligkeit und Besonderheit dieses oder jenen realen Vorganges“. Ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 161. 175 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4.  Aufl. 1921, S. 212. 176 Mit Blick auf die methodologischen Ausführungen der Arbeit erscheint bedeutsam, dass die an vorgegebenen Werten ausgerichtete kulturwissenschaftliche Begriffsbildung bei­ Heinrich Rickert keine Wertungen im Sinne einer positiven oder negativen persönlichen Stellungnahme enthält (wohl aber nach sich ziehen kann). Ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Aufl. 1921, S. 264, 270 f., 513 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 95. 177 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4.  Aufl. 1921, S. 212. 178 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 4.  Aufl. 1921, S. 256 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 93 ff. Rickert findet mit seiner Unterscheidung einer natur- und kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung einen frühen Vorläufer in Blaise Pascal, der zur neuzeitlichen Dominanz der Naturwissenschaften eine differenzierte Haltung einnimmt. Er unterscheidet zwischen einem „Geist der Geometrie“ und einem „Geist des Feinsinns“. Ob eine Erkenntnisgewinnung im Wege der Mathematik möglich sei, hänge von der (un-)regelmäßigen Struktur des Erkenntnisobjekts ab. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 28 ff. (Zitate S. 29). 179 Zitat Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (160).

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

schaftliche Perspektive folgt dem Ideal einer objektiven180 und exakten Abbildung der Umwelt. Die Erkenntnisgewinnung verläuft typischerweise „modellorientiert“, im Wege logisch-deduktiver Methodik und es werden mathematische Sätze aufgestellt.181 Demgegenüber zeichnet eine geisteswissenschaftliche Perspektive aus, dass die „Wirklichkeit“ in ihren individuellen Zügen in Bezug auf bestimmte Werte erkannt wird. Die Berücksichtigung eines Wertehorizonts schlägt sich umgekehrt methodisch nieder. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen ist die geisteswissenschaftliche Erkenntnis idealiter nicht objektiv; es geht nicht um die exakte Abbildung tatsächlicher Zusammenhänge. Es wird ein subjektives Bewertungsmoment anerkannt. Wertungen sind gleichwohl nicht notwendigerweise irrational, sondern – soweit (geisteswissenschaftliche) Erkenntnis – rational.

II. Kombination der Erkenntnisformen und Durchbrechung ihrer idealtypischen Unterscheidung (Erkennen ist Werten) Die natur- und geisteswissenschaftliche Form der Erkenntnis schließen sich gegenseitig nicht aus. Geisteswissenschaften wie die Rechtswissenschaft weisen zum Teil eine heterogene Methodik auf und es werden auch im Wege naturwissenschaftlicher Methodik Erkenntnisse gewonnen.182 Es kommt dann für die Einordnung als Geistes- oder Naturwissenschaft auf die prägende Rationalität bei der Erkenntnisgewinnung an.183 Die idealtypische Unterscheidbarkeit der Erkenntnisformen­ bedeutet außerdem nicht ihre tatsächlich strikte methodische Trennung. Wenn Erkenntnis mit der Konstruktion des Erkenntnisgegenstands einhergeht,184 ist sie nie nur ein Abbilden, sondern immer auch ein Entscheiden.185 Bereits die Wahl der Erkenntnisform ist notwendigerweise subjektiv, denn die „Wirklichkeit“ als Erkennt 180 Wenn der Einzelne erkenntnisfähig und ihm eine zu erkennende objektive „Wirklichkeit“ nicht vorgegeben ist, sind Erkenntnisprozess und -gegenstand notwendigerweise subjektiv. Jeder Erkenntnis haftet damit unvermeidbar ein Wertungsmoment an. Dazu Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (146 ff.). Im Falle des naturwissenschaftlichen Zugriffs auf die Welt gilt es jedoch Wertungen im Erkenntnisprozess soweit als möglich auszuschalten. 181 Zitat Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7. Historisch setzt sich die naturwissenschaftliche Erkenntnisform in der Neuzeit durch, als die Vorstellung von der Existenz allgemeiner Naturgesetze die wissenschaftliche Methodik revolutioniert. Siehe die Ausführungen unter A. II. im 2. Kapitel des ersten Teils. 182 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 7.  Aufl.  1926, S.  106 f.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 96. 183 Zur Kombination einer natur- und geisteswissenschaftlichen Methodik bei der Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ und deren Einordnung als „geisteswissenschaftlicher Wirklichkeit“ sogleich im Text. 184 Zur erkenntnistheoretischen Prämisse der Arbeit, nach der die „Wirklichkeit“ Produkt der Erkenntnis ist, siehe Fn. 21 im ersten Teil. 185 „Logisch geschlossen sind nur Modelle, nicht die Wirklichkeit. Außerhalb von Modellen ist Erkennen deshalb immer auch Entscheiden. Erkenntnis ist also ein hermeneutischer Vorgang.

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nisobjekt öffnet sich unterschiedlichen Erkenntnisformen. Der konstruktivistische Charakter jeder Erkenntnis wird außerdem in ihrem Wertungselement einsehbar. Wertungen sind nicht nur Bestandteil der geisteswissenschaftlichen, sondern auch der naturwissenschaftlichen Rationalität, wenngleich für die naturwissenschaftliche „Wirklichkeitserkenntnis“ Wertungen nicht charakteristisch sind und so weit als möglichst zurückgedrängt werden sollen. Strenggenommen bedeutet dies: Die naturwissenschaftliche ist von vornherein eine bloß assoziierte Rationalität und den naturwissenschaftlich ermittelten Zahlen wird ihre Objektivität jedenfalls immer auch zugeschrieben.186 Dass die naturwissenschaftlichen Formen der Zahlengenerierung auf Wertungen beruhen, kann anhand des Messens nachvollzogen werden. Das Messen ist wie jede Beobachtung von Tatsachen (bzw. Aussage über die Beobachtung von Tatsachen) nicht objektiv. Es knüpft an Erfahrung sowie theoretisches Vorwissen an.187 In der Abhängigkeit der Vermessung des Objekts von seiner Aufspaltbarkeit in identische Einheiten (interne Kommensurabilität) wird die Relevanz von Wertungen unmittelbar einsehbar, denn Kommensurabilität beruht auf sozialem Konsens.188 Wegen des Einflusses des Messenden auf den Messvorgang können auch normierte Messinstrumente die Objektivität der Messung nicht absichern,189 wenngleich hierin neben der Befolgung strenger Messverfahren eine „Disziplinierung der Beobachtung“ liegt.190 Wertungen sind der eigentlichen Messung darüber hinaus vor- und nachgelagert. Sie betreffen oberflächlich die Auswahl des zu messenden Objekts sowie der zu vermessenden Eigenschaft und grundlegender die Einordnung des Messvorgangs als sinnvoll.191 Wird die Messung zur Beschreibung der „Wirklichkeit“ in mathematischen Modellen vorgenommen, muss aus den Messergebnissen die mathematische Gesetzmäßigkeit außerdem erst abgeleitet werden. Es bedarf ihrer Auswertung.192 Sie setzt ein Vorverständnis voraus. Dieses Vorverständnis ist unvermeidlich historisch und sozial geprägt. Das Konstruktivismus-Problem ist nicht aufhebbar.“ Christoph Engel, ­Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (31). 186 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (insb. S. 76 f.). Zu den naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen an Zahlen im Verfassungsrecht als geisteswissenschaftlichem Verwendungskontext unter B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 187 Vgl. Alan F. Chalmers, Wege der Wissenschaft, 5. Aufl. 2001, S. 5 ff., insb. S. 10. 188 Siehe die Ausführungen unter B. II. 2. b) im 2. Kapitel des ersten Teils. 189 A. A. Marco Wehr, Von der Unzuverlässigkeit des Zahlenzaubers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2012, S. N 5. 190 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (68, Zitat ebd.). 191 „Keine quantifizierende Einsicht, die nicht ihren Sinn, ihren terminus ad quem erst in der Rückübersetzung in Qualitatives empfinge.“ Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, 4. Aufl. 1990, S. 7 (54). 192 Vgl. Marco Wehr, Von der Unzuverlässigkeit des Zahlenzaubers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2012, S. N 5. Wehr geht indes weniger von Wertungen als Bestandteil des Erkenntnisprozesses aus, als von Intuition als die Erkenntnis durchbrechendes irrationales Moment. Er nimmt daher an, die „Exaktheit“ „mathematischer Verfahren“ „steh[e]“ „auf tönernen Füßen“ (ebd.).

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

III. Irrationalität als Grenze der Erkenntnis Irrationalität markiert die Grenzen der Erkenntnis. Sowohl die naturwissenschaftliche als auch die geisteswissenschaftliche Erkenntnis sind nicht irrational. Irrationalität kann zwar Gegenstand natur- und geisteswissenschaftlicher Reflexion sein, verlässt aber selbst die Bahnen der Erkenntnis. Rationalismus und Irrationalismus schließen sich also aus und sind zugleich kompatibel. Dies gilt auch insoweit, als Entscheidungen auf einer Kombination rationaler und irrationaler Elemente beruhen können.

B. „Rechtswirklichkeit“ als geisteswissenschaftliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ Wenn die verfassungsrechtliche in Abgrenzung zur tatsächlichen Zahlenverwendung und -generierung nachvollzogen werden soll, ist die „Wirklichkeit“ in ihrer Bezugnahme und spezifischen Betrachtung durch das Recht Vergleichsebene des Verfassungsrechts. Gustav Radbruch spricht von der „Rechtswirklichkeit“ als dem „Substrat, auf das Recht und Rechtsidee Anwendung finden“.193 Die „Rechtswirklichkeit“ geht von den Naturerscheinungen aus. Die Tatsachenfeststellung als Grundlage des normativen Urteils erfolgt jedenfalls auch im Wege der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Die „Rechtswirklichkeit“ lässt sich aber nicht naturwissenschaftlich auflösen. Die individualisierende, nicht die generalisierende Begriffsbildung ist für die spezifisch rechtliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ charakteristisch. Die „Rechtswirklichkeit“ bedeutet eine primär geisteswissenschaftliche Sicht auf die Welt. Die Charakterisierung als geisteswissenschaftlich bedeutet keine Anlehnung an die „geisteswissenschaftliche Methode“ Rudolf Smends194 und dessen Auflösung der Lebenswirklichkeit des Staates in die Integration von Sinneserfahrungen,195 sondern wird der „Rechtswirklichkeit“ als „sozial […]geformter Wirklichkeit“196 gerecht. Die Wahrnehmung außerrechtlicher Tatbestände 193

Gustav Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff, in: Friedrich v. Wieser/Leopold Wenger/ Peter Klein (Hrsg.), Kant-Festschrift zu Kants 200. Geburtstag am 22. April 1924, 1924, S. 183 (187 ff., Zitat S. 187). Karl Engisch entwickelt das „Weltbild des Juristen“ anhand seiner Vorstellung von „Mensch“, „Handlung“, „Arbeit“, „Raum“, „Zeit“, „Sache“ und „Kausalität“. Sein Erkenntnisinteresse gilt der Frage, „wie (…) sich die reale Welt in Raum und Zeit (ausnimmt), ausgestattet mit Dingen und eingebettet in Wirkungszusammenhänge (…), wenn wir es mit dem handelnden Menschen zu tun haben, der vom Recht angesprochen wird.“ Ders., Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 9, 12, 164 (Zitate ebd.). 194 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), wiederholt abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2010, S. 119 (123 ff., Zitat S. 126). 195 Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 327, 353, 356 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  3, 1999, S. 174 f. 196 Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 12.

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aus der Sicht eines Akteurs im Recht ist normativ vorgeprägt.197 Sie ist damit wertebezogen, denn das Recht öffnet sich nicht nur (implizit im Wege der Auslegung und explizit über Generalklauseln) gegenüber gesellschaftlichen Wertvorstellungen,198 sondern fixiert selbst politisch ausgewählte Werte.199 Sie erlangen dadurch eine eigenständige, normative Geltungskraft, die nicht durch die Anbindung an ein überpositives Wertesystem relativiert200 bzw. im Sinne eines gegenüber jeder Abwägung gefeiten Geltungsanspruchs verabsolutiert wird.201 Der dargestellte Wertebezug bedeutet keine „objektive Fundierung der Verbindlichkeit des positiven Rechts“,202 sondern ein Aufzeigen tatsächlicher Verbindungslinien. Die für die Rechtsordnung unmittelbar maßgeblichen Werte sind verfassungsrechtlich positiviert.203 Im Mittelpunkt steht die Würde des Menschen. Art.  1 Abs.  1 GG ist Fundament der grundgesetzlichen Wertordnung.204

197

Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 9, 15 f. Vgl. Udo Di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 46 Rn. 48 ff. 199 Nach Gustav Radbruch, der in seiner Rechtsphilosophie an Rickert anknüpft, dient das Recht der Verwirklichung der Rechtsidee. Sie erkennt Radbruch in der Gerechtigkeit. Karl­ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 97 f. 200 Anders Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), wiederholt abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2010, S. 119 (189 f.). Zur Kritik an Smend und einer Wertverwirklichung durch die Verfassung Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Hans Barion/Ernst Forsthoff/Werner Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 (insb. S. 41). 201 Eine solche Radikalität des Wertdenkens im Recht beklagt Carl Schmitt, in: Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 48 ff. 202 Christoph Schönberger, Werte als Gefahr für das Recht?, Nachwort zu Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 57 (78). 203 Die Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts wird in der Lüth-Entscheidung begründet: BVerfGE 7, 198 (204 f.). Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 275, 412 ff. Carl Schmitt geht darüber hinweg, dass durch die positive Setzung des Grundgesetzes seiner Forderung einer Vermittlung von Werten durch den Gesetzgeber an Stelle eines unmittelbaren Wertvollzugs durch die Judikative entsprochen ist. Ders., Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 54. 204 Udo Di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, in: Detlef Merten/HansJürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 46 Rn. 32 ff.; Ekkehart Stein/ Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 234. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob es sich bei Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG selbst um ein Grundrecht handelt oder die Vorschrift den nachfolgend normierten Grundrechten vorausgeht. Im Sinne einer Einordnung des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG als Fundament der Verfassungsordnung lassen sich auch die Ausführungen von Oliver ­Lepsius lesen. Lepsius geht davon aus, dass dort das Individuum als erkenntnisfähiges ­Subjekt anerkannt wird und sich hieran die Ausgestaltung und Deutung allen übrigen Rechts zu messen habe. Ders., Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin­ Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (137 f.). 198

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

C. Abbildbarkeit der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen? Ob die „Wirklichkeit“ berechenbar ist und „alles […] Zahl“205 sein kann, hängt vom erkennenden Subjekt ab. Es bestimmt, inwieweit Zahlen Anwendung finden und setzt Zahlen in vielen Fällen fest, d. h. unterwirft sich nicht einer methodisch geleiteten Zahlengenerierung. Während die „Wirklichkeit“ aus naturwissenschaftlicher Sicht in Zahlen abgebildet werden kann,206 ist die Auflösung der „Rechtswirklichkeit“ als geisteswissenschaftliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ in Zahlen problematisch. Es kommt (jedenfalls mittelbar) auf die Kommensurabilität der in Bezug genommenen Werte, d. h. die Möglichkeit ihrer relativen Hierarchisier- und mehr noch absoluten Quantifizierbarkeit,207 sowie die maßgebliche Quantifizierungsmethodik an. Die ökonomische Analyse des Rechts bejaht die Quantifizierbarkeit von Werten, denn sie geht von ihrer naturwissenschaftlich-rationalen Messbarkeit in Geld aus. Für immaterielle Güter wird ein „Marktersatzwert“208 bestimmt. Die Übersetzung von Werten in Preise erklärt sich aus dem Ziel, Gesetzgebung und -anwendung an den ökonomischen Folgen auszurichten, um den Gesamtnutzen der Akteure im Rechtssystem zu optimieren.209 Die Auseinandersetzung um die ökonomische Analyse des Rechts kann auf philosophischer Ebene geführt werden. Deren Ausrichtung allein an ökonomischer Effizienz bedeutet einen radikalen­ Utilitarismus.210 Die Perspektive der ökonomischen Analyse auf menschliches Handeln als rein interessengeleitet ist in jedem Falle zu eng. Sie verkennt die theoretische und normative Einbindung und Ausrichtung menschlichen Verhaltens211 und geht bei der Bemessung von Werten allein anhand gegenläufiger Interessen letztlich über deren, bereits dargestellte normative Verankerung im Grundgesetz hinweg. Aus der Verfassung ergibt sich (Es wird „nicht mehr gefragt […], ob etwas kommensurabel ist, sondern nur noch, ob etwas vom Recht als kommensurabel 205 Der Ausspruch „Alles ist Zahl.“ und die Annahme einer „Berechenbarkeit der Welt“ wird Pythagoras zugeschrieben. Hierzu Marco Wehr, Von der Unzuverlässigkeit des Zahlenzaubers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2012, S. N 5 (Zitate ebd.). 206 Zur naturwissenschaftlichen Weltsicht auch Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 19 f.: „die Naturgegebenheiten und Naturvorgänge [sind] meßbar“; „die Zahlen mit ihrer einzigartigen wissenschaftlichen Dignität [beherrschen] das Denken“. 207 Vgl. David v. Mayenburg zur Kommensurabilität immaterieller Schäden bei der Bestimmung des Schmerzensgelds nach § 253 Abs. 2 BGB. Ders., Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, insb. S.  25 ff., 99 ff. Siehe dort auch den Verweis auf die Definition von Inkommensurabilität durch Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986, S. 322: „A and B are incommensurate if it is neither true that one is better than the other nor true that they are of equal value.“ David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 25, Fn. 51. 208 David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 100. 209 David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 100; Klaus F. Röhl/ Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 648. 210 David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 100; Klaus F. Röhl/ Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 326. 211 Christoph Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (25 f.).

3. Kap.: Begrenzte Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen 

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betrachtet wird.“) implizit eine Inkommensurabilität im Sinne einer Unübersetzbarkeit von Werten in Geld.212 Den Bestimmungen des Grundgesetzes, insbesondere Art. 1 Abs. 1 GG, liegt nicht das Menschenbild der ökonomischen Analyse vom homo oeconomicus zu Grunde.213 Andreas Voßkuhle konstatiert: „Für die eigene Gesundheit, für das Recht, die eigene Meinung zu sagen, sich zu versammeln oder künstlerisch tätig zu sein, gibt es trotz umfassender Kommerzialisierungstendenzen in einer marktorientierten Gesellschaftsordnung keinen adäquaten Ersatz – der Mensch hat keinen Preis, sondern eine Würde (Kant).“214 Eine „VerWertung“ im Kontext der Verfassungsordnung des Grundgesetzes215 macht „das Inkommensurable [gerade nicht] kommensurabel“.216 Auch jenseits der Bestimmung von Preisen stößt die Kommensurabilität von Werten an Grenzen. Die Frage nach der Kommensurabilität und  – ihr nachfolgend  – nach der Abbildbarkeit der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen ist dann untrennbar mit der Quantifizierungsmethodik verknüpft. Es sind in diesem Zusammenhang die methodischen Implikationen der Kritik an der ökonomischen Analyse relevant. Auch wenn in eine geisteswissenschaftliche Weltsicht naturwissenschaftliche Erkenntnisformen integriert werden können, erschließen sie die „Wirklichkeit“ nicht in ihren individuellen Zügen. Die Werte, auf die die „Rechtswirklichkeit“ bezogen ist, sperren sich der Erkenntnis im Wege naturwissenschaftlicher Methodik. Werte können kommensurabel sein, aber nur im Wege geisteswissenschaftlicher Erkenntnis.217 Zahlen werden zwar auch im Zuge geisteswissenschaftlicher 212

David v. Mayenburg stellt für die Frage der Kommensurabilität immaterieller Schäden auf entsprechende normative Anordnungen ab. Ders., Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 103 (Zitat ebd.). 213 Vgl. Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (142 ff.). 214 Andreas Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 282 mit Verweis auf Immanuel Kant in Fn. 174: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Ders., GMS, AA 04: 434. Hierzu David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S. 101. 215 Siehe hierzu soeben unter B. 216 Anders Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 12 (Zitat ebd.). Schmitt kann allenfalls insoweit gefolgt werden, als er eine relative Kommensurabilität von Werten­ annimmt, denn es lässt sich unter ihnen grundsätzlich ein Rangverhältnis bilden. Aus seinen Ausführungen lässt sich mehr jedoch noch als eine relative, eine absolute Quantifizierbarkeit herauslesen („Ganz beziehungslose Güter, Ziele, Ideale und Interessen […] werden dadurch vergleichbar und kompromißfähig, so daß eine Quote bei der Verteilung des Sozialprodukts errechnet werden kann.“ Ders., Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 12). Schmitt ordnet Werte zwar primär der Ökonomie zu (ebd., S. 12 ff.), differenziert aber hinsichtlich ihrer Kommensurabilität für das (Verfassungs-)Recht nicht. 217 Vgl. Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7: „Fragen von falsch und richtig lassen sich nicht allein mit Modellen und Zahlen beantworten, sondern nur in Verbindung mit Urteilskraft, Erfahrung und praktischer Vernunft.“ Zur Abgrenzung der Rechts- als Geisteswissenschaft von den Naturwissenschaften mit Blick auf die­ angewandte Methodik Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 (260 f., 263).

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1. Teil: Zahlen in der „Rechtswirklichkeit“

„Wirklichkeitserkenntnis“ generiert, d. h. sie sind nicht zwangsläufig Ausweis naturwissenschaftlicher Rationalität. Die geisteswissenschaftlichen, wegen ihres charakteristischen Wertungsbestandteils auch als subjektiv bezeichneten Arten der Zahlengenerierung,218 zielen jedoch nicht auf eine umfassende Abbildung der „Wirklichkeit“ in Zahlen ab.219 Eine Zahlenprägung kann auch nicht mit der Erosion „wertebasierter Orientierungsmuster“220 begründet werden, denn die maßgeblichen Werte bei der Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ sind verfassungsrechtlich positiviert. Im Ergebnis lässt sich im historischen Verlauf zwar eine weitreichende Zahlenprägung der Kommunikation nachvollziehen, die „Rechtswirklichkeit“ ist aber nicht umfassend in Zahlen darstellbar. Deren Verzifferung stößt auf eine erkenntnistheoretische Grenze.221 Da die für das Recht maßgeblichen Werte in der Verfassung positiviert sind, führt auch ein faktisches Schwinden „wertebasierter Orientierungsmuster“ und ihre Kompensation durch Zahlen (wie sie zum Teil kulturkritisch beschworen wird)222 nicht dazu, dass das Recht mit einer in Zahlen abgebildeten „Wirklichkeit“ operiert.

218 Zu der subjektiven im Gegensatz zur objektiven Zahlengenerierung und im Einzelnen zur Quantifizierung i.w.S., Qualifizierung, Codierung und Kennzeichnung die Ausführungen unter B. im 2. Kapitel des ersten Teils. 219 Zu pauschal Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.  Juli 2010, S.  7: „Vertrauen/Loyalität/Verantwortung als zentrale Güter [Werte] lassen sich nicht quantifizieren.“ 220 Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7. 221 Vgl. Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S.  16 f.: „Der positivistische Wissenschaftsbegriff ist im Hinblick auf die Wissenschaften konzipiert, die es mit meßbaren Größen und deren Beziehungen zueinander zu tun haben. Es kann ohne weiteres zugegeben werden, daß ‚exakte‘, letzte Genauigkeit beanspruchende Erkenntnisse nur von Quantitativem möglich sind. Nur geht die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, nicht in dem, was meßbar ist, auf. Der Mensch legt manchen Dingen, Personen, deren Äußerungen und Handlungen, eine ‚Bedeutung‘ bei, über die sich die Menschen untereinander zu verständigen vermögen und die ihre Einstellung zu den Dingen und Ereignissen, damit ihr wirkliches Handeln beeinflußt. […] die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, [hat] nicht nur eine Breitendimension, die meßbar ist, sondern auch eine Tiefendimension […], die sich ‚exakten‘ Feststellungen in der Tat entzieht. Zu dieser Tiefendimension gehört auch der Bereich des Normativen, Gesollten.“ 222 Siehe nur Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7 (Zitat ebd.).

2. Teil

Zahlen in der Verfassung Das Grundgesetz geht über ein rein formales Freiheitsversprechen hinaus und gründet die Staatsordnung auf einen Wertekanon. Als deren Anfangs- und Fixpunkt gilt  – im Verfassungstext mit der Niederlegung direkt zu Beginn sichtbar  – die Menschenwürde (Art.  1 Abs.  1 GG).1 Sie ist tragendes Prinzip der Rechtsordnung und die „Klammer, die Staatsorganisation und Individualrechte zusammenhält“. Wenn nur der freie Mensch in Würde leben kann, folgen daraus auch Anforderungen an die politische Ordnung.2 Vor diesem Hintergrund werden Zahlen gemeinhin nicht mit dem Verfassungstext assoziiert, scheint doch aus der Würde des Menschen ein Achtungsanspruch zu resultieren, der sich gegenüber einer Darstellung bzw. Messung in Zahlen von vornherein sperrt.3 Sie werden selbst in Analysen, die sich mit der sprachlichen und stilistischen Struktur des Verfassungstextes auseinandersetzen, vernachlässigt. Der Verfassungstext ist, was die Verwendung von Zahlen angeht, nicht homogen. Während streckenweise seine Zahlenabstinenz auffällt,4 weisen andere Abschnitte des Grundgesetzes eine hohe Zahlendichte auf.5 In einer Bestandsanalyse 1 Schon vor der Rspr. zur Aufstellung einer objektiven Wertordnung durch das Grundgesetz BVerfGE 5, 85 (204: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert.“). 2 Udo Di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, in: Detlef Merten/HansJürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  II, 2006, § 46 Rn.  1 f., 32 ff. (Zitate Rn. 34 u. 33). 3 Zu dieser Annahme könnte der Umstand verleiten, dass die durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde unterschiedslos jedem Menschen unabhängig von „seine[n (ggf. in Zahlen darstellbaren)] Eigenschaften, seine[n] Leistungen“ und seinem Besitz zukommt. BVerfGE 87, 209 (228, Zitat ebd.). Aus Art.  1 Abs.  1 GG resultiert außerdem ein Achtungsanspruch, der unabhängig von der noch verbleibenden Lebensdauer besteht. Siehe etwa BVerfGE 115, 118 (152, 158). Zur Quantifizierung der Menschenwürde (i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip) in Geld durch das Bundesverfassungsgericht siehe aber die Darstellung der Rechtsprechung zum­ steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum (unter A. II. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils) und zu den Hartz IV-Regelsätzen (unter A. III., ebd.). 4 Vgl. insbesondere den Abschnitt über die Grundrechte. Hier finden sich in neunzehn Vorschriften allein vier Zahlen mit inhaltlicher Relevanz, in Art. 12a Abs. 1 GG („vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr“), Art. 12a Abs. 4 Satz 1 GG („vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr“) und Art. 13 Abs. 3 Satz 3 GG („mit drei Richtern besetzten Spruchkörper“). 5 Vgl. etwa den Abschnitt über den Bundestag (III.) oder das Finanzwesen (X.). Im III. Abschnitt des Grundgesetzes finden sich elf Zahlen mit inhaltlicher Relevanz in fünfzehn Vorschriften, im X. Abschnitt 26 Zahlen (Datumsangaben bestehen je aus zwei Zahlen, vgl. z. B.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

sollen Ausmaß und Modus der Zahlenverwendung in der Verfassung untersucht werden (1. Kapitel), um dann die Verfassung als Zeichen- und Kommunikationssystem aus sprachtheoretischer Perspektive in den Blick zu nehmen und die linguistischen Spezifika von Zahlen im Vergleich zum nichtnumerischen Verfassungstext aufzudecken (2. Kapitel). Problematisch erscheint, dass die Bindungs- und Direktivkraft der Verfassung in der innerstaatlichen Normenhierarchie durch Zahlen angesichts ihres Höchstmaßes an sprachlicher Präzision auf die Spitze getrieben wird, für den Verfassungstext aber die Offenheit gegenüber konkreten Entscheidungen charakteristisch ist. Es stellt sich die Frage nach der funktionsgerechten Verwendung von Zahlen im Verfassungstext. Hiervon hängt ab, inwieweit das Grundgesetz offen gegenüber der zunehmenden Zahlenprägung in den außerverfassungs­ rechtlichen Kommunikationsstrukturen der „Rechtswirklichkeit“ ist (3. Kapitel). 1. Kapitel

Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz Bei einer übergreifenden Untersuchung von Zahlen im Recht, die sich weder auf ein Regelungsgebiet noch eine Regelungsebene konzentriert, fällt Folgendes auf: Zahlen sind wie Raum und Zeit sowohl „Rahmen“6 als auch Bestandteil des geltenden Rechts. Raum und Zeit werden nicht unbedingt in Zahlen gemessen; es gibt auch die nicht in Zahlen messbare Raum- bzw. Zeiterfahrung. Bei den Zahlen handelt es sich daher nicht um einen übergeordneten, sondern einen weiteren, von Raum und Zeit auch unabhängigen Orientierungsrahmen. Walter Jellinek spricht von den Zahlen als „dritte[s] Allgemeine[s], unter der wir die Dinge zu betrachten pflegen“.7 Die Verwendung von Zahlen im Recht erklärt sich aus dessen Funktion. Es regelt das gesellschaftliche Zusammenleben, indem es Grenzen zwischen konfligierenden Interessen zieht.8 Müssen die Grenzen besonders präzise gezeichnet werden9 „1. Januar 1996, Art. 106 Abs. 3 Satz 5 GG ) mit inhaltlicher Relevanz in fünfzehn Vorschriften (wertet man die Worte „die Hälfte“, Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG, bzw. „je zur Hälfte“, Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG, als Zahlen, sind es insgesamt 28). 6 Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S.  230; Günther Winkler, Raum und Recht, 1999, S. 80. 7 Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 230. 8 Josef Isensee, Vorbemerkung: Von der Notwendigkeit der Grenze, in: ders., Recht als Grenze  – Grenze des Rechts, 2009, S.  7 (ebd.). Zur gemeinsamen Etymologie von „Recht“ und „rechnen“ (urspr. „in Ordnung bringen, ordnen“) im Begriff „recht“: „rechnen“, „recht“, „Recht“, Duden, Bd. 7: Herkunftswörterbuch, 4. Aufl. 2007, S. 656 f.; Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 23. Aufl. 1999, „rechnen“, „Recht“, „recht“, S. 672; Boris Paraschkewow, Wörter und Namen gleicher Herkunft und Struktur, 2004, „recht“, S. 291. 9 Vgl. in historischer Perspektive Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in:­ Martin Schultz (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (10 ff.).

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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bzw. fällt die Grenzziehung in einen zahlengeprägten Sachbereich,10 werden hierzu wie bei den Grenzwerten im Umwelt- und Technikrecht Zahlen verwendet. Das Recht knüpft an die Abstraktions- und Strukturierungsleistung von Zahlen an.11 In historischer Perspektive nimmt die Verwendung von Zahlen im Recht mit der Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“ zu.12 Veränderungen der „Rechtswirklichkeit“ schlagen sich zuerst dezentral und im einfachen Recht nieder.13 Zahlen werden von allen Akteuren im rechtlichen Diskurs verwendet. Geht man nach der grundgesetzlichen Gewaltenteilung kommunizieren sowohl die Exekutive, Legislative und Judikative in Zahlen. Zur Systematisierung des zahlengeprägten Rechts kommen materielle und formelle Ordnungskriterien in Betracht. Es lässt sich auf die Intensität der Zahlenprägung bestimmter Sachbereiche und darauf abstellen, ob es sich bei den Zahlen um Tatbestandsmerkmale oder Rechtsfolgenanordnungen handelt.14 Zahlen sind schließlich nicht nur Bestandteil von Rechtsakten, sondern auch der Rechtsdogmatik.

A. Zahlen im Verfassungstext und Zahlen als Verfassungsrechtsbegriffe Nach dem kursorischen Überblick über Zahlen im Recht im Allgemeinen soll nun detailliert die Zahlenverwendung des Grundgesetzes analysiert werden. Ziel ist es, einen möglichst umfassenden Überblick über Ausmaß und Modi der Zahlenverwendung zu geben, ohne notwendigerweise sämtliche Zahlen des Verfassungstextes15 aufzuführen. Je nach Ordnungskriterium werden verfassungsrechtliche Zahlenbestimmungen exemplarisch vorgestellt. 10 Zur Höchstgrenze für die Steuerbelastung im Steuerrecht Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 546. 11 Zur (außerrechtlichen) Funktion von Zahlen bereits unter B. im 1. Kapitel des ersten Teils. 12 Hierzu bereits im Zusammenhang des Verzifferungstrends der Technisierung und Ökonomisierung unter A. III. im 2.  Kapitel des ersten Teils. Otto Depenheuer sucht anhand von­ Beispielen eine Tendenz zur zunehmenden Verwendung von Zahlen im Rechtskontext zu illustrieren. Ders., Zählen statt Urteilen, SächsVbl. 2010, S. 177. 13 Als historisches Beispiel dient die Entwicklung des Technikrechts in der Hochindustrialisierung: Neue Rechtsgebiete wie das Luftverkehrs- oder Automobilrecht entstehen lokal in Form von Polizeiverordnungen. Von dort aus erfolgt eine Ausweitung auf die nationale und schließlich internationale Ebene. Miloš Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Martin Schultz (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 3 (30). 14 Ein Beispiel für die Zahl als Tatbestandsmerkmal ist der Steuersatz im Steuerrecht. Bei der Festlegung von Schmerzensgeld oder Schadensersatz, bei der Strafzumessung oder der Festsetzung der Steuerschuld ist die Rechtsfolgenanordnung zahlengeprägt. 15 Ein Wortregister des Grundgesetzes findet sich bei Angela Bauer/Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut, 1997, S. 393 ff. Es enthält auch die Zahlwörter, die im Verfassungstext Verwendung finden. Zu berücksichtigen ist, dass durch Grundgesetzänderungen nach 1997 weitere Zahlen in den Grundgesetztext Eingang gefunden haben. Hierzu gehören neben Zahlen in den Übergangs- und Schlussvorschriften die Zahlen der Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG. Siehe hierzu D. im 3. Kapitel des zweiten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

I. Ordnung nach der Funktion im Verfassungstext Zahlen übernehmen im Verfassungstext formelle und materielle Funktionen. Die Funktionsart ist von der Normierung in organisations- bzw. materiellrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes unabhängig. 1. Ordnungszahlen: Zahlen mit formeller Funktion Zahlen treten als Ordnungszahlen in der Verfassung auf.16 Sie übernehmen dann eine rein formelle Funktion. Sie strukturieren das Grundgesetz als Textdokument, dienen der Übersicht im Verfassungstext und ermöglichen den exakten (externen oder internen17) Verweis auf das Gesetz. Die Kombination der Ordnungszahlen mit Buchstaben (z. B. Art.  20a, 73 Abs.  1 Nr.  6a GG) verdeutlicht diese von inhaltlicher Relevanz losgelöste Strukturierungsfunktion des Verfassungstextes. Mit ihnen kann man nicht rechnen. In der Darstellung im Bundesgesetzblatt18 können folgende Ordnungszahlen unterschieden werden: – Römische Ordinalzahlen untergliedern den Verfassungstext in elf Abschnitte (I.–XI.). – Arabische Kardinalzahlen stehen den insgesamt 146 Artikeln vor. In einem Anhang werden außerdem die fünf gem. Art.  140 GG fortgeltenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung aufgeführt (Art. 136–141 WRV). – Die Artikel selbst unterliegen einer internen Ordnung in Absätze. Die Zahl des Absatzes wird jeweils durch eine vorangestellte arabische Kardinalzahl in Klammern angegeben, Bsp.: (1) oder (2). – Aufzählungen innerhalb der Absätze werden mit arabischen Ordinalzahlen eigens durchnummeriert (siehe etwa die Bestimmung der Gegenstände ausschließlicher und konkurrierender Gesetzgebung des Bundes in Art. 73 Abs. 1 Nr. 1–14 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 1–33 GG).19 16 Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (560). 17 Interne Verweise im Grundgesetz beziehen sich auf ganze Abschnitte (Bsp.: Art.  115c Abs. 3 GG verweist auf die Abschnitte VIII, VIII a und X), andere Artikel (Bsp.: Art. 12a Abs. 5 Satz 1 GG verweist auf Art.  80a Abs.  1 GG), Absätze derselben Vorschrift (Bsp.:  Art.  12a Abs. 3 Satz 1 GG verweist auf Abs. 1 und 2) oder Sätze desselben Absatzes (Bsp.: Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG verweist auf Satz 1). 18 Die ursprüngliche Fassung findet sich in BGBl. 1949, S. 1. 19 In nicht-amtlichen Darstellungen des Grundgesetzes werden weitere Ordnungszahlen verwendet. In der Loseblattsammlung des „Sartorius“ (Beck-Verlag) finden sich arabische Seitenzahlen. Sofern ein Absatz aus mehreren Sätzen besteht, geht diesen jeweils eine hochgestellte arabische Kardinalzahl vorweg, Bsp.: 1, 2. Anmerkungen, etwa Verweise innerhalb des Verfassungstextes, erfolgen durch Fußnoten am Seitenende im Zahlenformat „1)“, „2)“ etc., deren Zählung auf jeder Seite neu beginnt. Am Seitenende findet sich zudem ein Verweis auf die Ergänzungslieferung, der die jeweilige Seite entstammt (Bsp.: EL 91 Juli 2009).

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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2. Zahlen als Verfassungsrechtsbegriffe: Zahlen mit materieller Funktion Die Untersuchung legt ihr Augenmerk auf Zahlen (und numerische Begriffe im weiteren Sinne), die eine materielle Funktion im Verfassungstext übernehmen, d. h. über inhaltliche Relevanz verfügen. Die Zahlenspanne, die vom Grundgesetz ausgeschöpft wird, reicht von 0,35 bis 800 Millionen.20 Es handelt sich um Verfassungsrechtsbegriffe und normative Größen, d. h. einer rechtlichen Bewertung unterliegende originäre Bestandteile des Verfassungstextes. Die Zahlen sind keine aus der „Rechtswirklichkeit“ inkorporierte Größen, die ungefiltert für relevant­ erklärt werden und ihrer eigenen Gesetzlichkeit unterliegen.21

II. Darstellungsmodi und Zahlsorten im Grundgesetz Zahlen im Grundgesetz werden unterschiedlich dargestellt und es werden verschiedene Zahlsorten verwendet. Die vorliegende Ordnung folgt primär formellen Kriterien. In einigen Fällen bedarf es zur Kategorisierung der Auslegung der Zahlenangaben.22 1. Ziffern bzw. Zahlzeichen und Zahlwörter Auf Verfassungsebene lassen sich zwei Varianten der Darstellung von Zahlen unterscheiden: Zahlzeichen bzw. Ziffern (Bsp.: „im Verhältnis 15 zu 85“,23 Art. 104a Abs. 6 Satz 2 GG) und Zahlwörter, das sind Zahlzeichen repräsentierende Buchstabenkombinationen oder ausgeschriebene Zahlen (Bsp.: „das achtzehnte Lebensjahr“, Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG). Aus zeichentheoretischer Sicht sind Ziffern 20 Beide Zahlenwerte wurden durch das Änderungsgesetz vom 29.  Juli 2009 (BGBl. I, S. 2248) in Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG („Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.“, siehe auch Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG) und Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG („Als Hilfe zur Einhaltung der Vorgaben des Artikels 109 Abs. 3 ab dem 1. Januar 2020 können den Ländern Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein für den Zeitraum 2011 bis 2019 Konsolidierungshilfen aus dem Haushalt des Bundes in Höhe von insgesamt 800 Millionen Euro jährlich gewährt werden.“) eingefügt (Kursivsetzung durch Verf.). 21 Vgl. Stephan Kirste, nach dem die Integration der „natürlichen Zeit[…]“ in das Recht von einer rechtlichen Bewertung abhängt und nicht „naturbelassen“ erfolgt. Ders., Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, 1998, S. 371 ff. (Zitate S. 371). 22 Die Einordnung als Mindest- oder Maximalangabe etwa erfolgt nicht in allen Fällen formal anhand spezifischer, die Zahlenangabe begleitender Adjektive (Bsp.: „frühestens“/„spätestens“). Es bedarf zum Teil der Auslegung der Zahlenangaben. 23 Sämtliche folgende Kursivsetzungen von Bestimmungen des Grundgesetzes sind solche der Verfasserin.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

und Zahlwörter strukturell voneinander unabhängig, auch wenn Ziffern Zahlwörter substituieren.24 Während Zahlwörter allein über materielle Relevanz verfügen, erfüllen Zahlzeichen im Grundgesetz primär unterstützende, formale (Ordnungs-) Funktionen. Es werden sowohl römische (I., II, III.) als auch (sog.) arabische Ziffern (1, 2, 3) verwendet.25 Ziffern im Verfassungstext sind daneben aber auch inhaltlich bedeutsam. Die Schreibweise von Zahlen in Ziffern bzw. Zahlwörtern könnte regelgeleitet erfolgen, wenngleich weder rechtliche noch außerrechtliche, als verbindlich geachtete Vorgaben existieren, an denen sich das Grundgesetz orientieren könnte. Im Buchdruck wurden früher Zahlen von 1 bis 12 generell in Buchstaben, danach in Ziffern geschrieben. Heute existieren bei der Schreibung nur noch Gepflogenheiten, die sich an den Kriterien der Einheitlichkeit, Übersichtlichkeit und der Lesbarkeit von Texten orientieren. Übersichtliche Zahlen von 13 an können demnach auch ausgeschrieben werden. Gleiches gilt für ein- und zweisilbige Zahlwörter.26 Das Grundgesetz hält sich an die alte Buchdruckerregel, wenn es ganze Zahlen von 1 bis 12 ausnahmslos ausschreibt. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Zahlen, die größer als 12 sind, nicht in Ziffern an. Dazu gehören: 14 (Art. 63 Abs. 3 GG, Art. 82 Abs. 2 Satz 2 GG) / 18 (Art. 12a Abs. 1, 4 Satz 1 GG, Art. 38 Abs. 2 GG) / 21 (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG) / 30 (Art. 39 Abs. 2 GG, Art. 54 Abs. 4 Satz 1 GG) / 40 (Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG) / 46 (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG) / 48 (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG, Art. 67 Abs. 2 GG, Art. 68 Abs. 2 GG) / 55 (Art. 12a Abs.  4 Satz 1 GG) / 60 (Art.  39 Abs.  1 Satz 4 GG). Einer der höchsten Zahlenwerte der Verfassung ist zwar in Ziffern dargestellt („Sonstige Änderungen des Gebietsbestands der Länder können […] erfolgen, wenn das Land, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 50 000 Einwohner hat.“, Art. 29 Abs. 7 Satz 1 GG), allerdings handelt es sich auch hierbei nicht um eine Obergrenze, ab der durchgängig eine Schreibweise in Ziffern erfolgt. Die Darstellung von Zahlen im Millionenbereich erfolgt in der Form von Zahlwörtern („eine Million Einwohner“, Art.  29 Abs.  4 GG; „mehr als zwei Millionen Einwohner“, „mehr als sechs Millionen Einwohner, „mehr als sieben Millionen Einwohner“, Art. 51 Abs. 2 GG). Dies liegt daran, dass der jeweilige Zahlenwert zwar größer als 12 ist, zur Darstellung der Millionenbeträge allerdings Zahlwörter kleiner als 12 mit Buchstaben kombiniert werden. Sobald die zu verwendenden Zahlwörter die 12 übersteigen, greift das Grundgesetz auf Ziffern und Buchstaben zurück („insgesamt 800 Millionen Euro jährlich“, Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG). Ziffern tauchen außerdem bei sehr kleinen Zahlenangaben auf („0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt“, Art. 109 Abs. 3 Satz 4 24 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 1985, S. 281, 293 (Anm. der Verf.: Die hier relevanten Äußerungen Nöths zu Zahlen finden sich nur in der ersten Auflage des Handbuchs der Semiotik.). 25 Siehe bereits die Übersicht unter A. I. 1. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 26 Newsletter des Dudenverlags vom 1. Juni 2007, im Newsletter-Archiv unter http://www. duden.de/sprachwissen/newsletter/duden-newsletter-vom-01–06–07 (abgerufen am 11.6.2013).

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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und Art.  115 Abs.  2 Satz 1 GG). Der kleinste Zahlenwert, der in Ziffern dargestellt wird, liegt derzeit bei „1,5 vom Hundert“ bzw. 0,015 („Schwellenwert von 1,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt“, Art.  115 Abs. 2 Satz 4 GG). Zahlen < 1 werden jedoch ebenfalls nicht durchgehend als Ziffern und Dezimalzahlen dargestellt. Die Quoren27 des Verfassungstextes werden in Bruchzahlen und als Zahlwörter angegeben (Bsp.: „ein[…] Zehntel der […] zum Bundestag Wahlberechtigten“, Art. 29 Abs. 4 GG) oder mit dem Begriff der „Mehrheit“ umschrieben („Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich […].“, Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Verwendung von Ziffern in den Art. 109 Abs. 3 Satz 4 und Art. 115 Abs. 2 Satz 1 und Satz 4 GG könnte auch daran liegen, dass es sich um Prozentangaben handelt. Das Grundgesetz stellt diese wie folgt dar: „[Ziffer] vom Hundert“ (siehe auch Art. 104a Abs. 6 Satz 3 und Art. 109 Abs. 5 Satz 2 GG).28 Sind sie exakter als ganze Zahlen, erfolgt die Darstellung in der Dezimalschreibweise. Auch bei den Verhältnisbestimmungen, die sich in Prozentangaben umformulieren lassen, macht das Grundgesetz von Ziffern Gebrauch („im Verhältnis 15 zu 85“, siehe Art. 104a Abs. 6 Satz 2 GG und „im Verhältnis 65 zu 35“, Art. 109 Abs. 5 Satz 1 GG). Ziffern werden zudem bei den Datumsangaben verwendet. Das Grundgesetz verwendet durchgehend den Modus [Angabe des Tages in Ziffern] [ausgeschriebene ­Monatsabgabe] [Angabe der Jahreszahl in Ziffern] (Bsp.: „Die Gemeinden erhalten ab dem 1. Januar 1998 einen Anteil an dem Aufkommen der Umsatzsteuer.“, Art. 106 Abs. 5a Satz 1 GG). Sofern Ziffern im Verfassungstext über inhaltliche Relevanz verfügen, wird fast ausschließlich die arabische Schreibweise verwendet. Eine Ausnahme birgt Art. 143c Abs. 3 Satz 3 GG: „Die Vereinbarungen aus dem Solidarpakt II bleiben unberührt.“ Es handelt sich dabei allerdings um eine vor­ ihrer Verwendung im Verfassungstext geprägte Bezeichnung. 2. Ganze Zahlen, Dezimalzahlen, Bruchzahlen, Prozentzahlen Sämtliche Zahlen im Verfassungstext sind positiv. Sofern es sich nicht um ganze Zahlen handelt, werden sie in der Dezimalschreibweise oder als Bruchzahlen angegeben. Die Prozentzahlen lassen sich, wie auch außerhalb des Verfassungstextes, in Bruchzahlen umformen. Während Prozentzahlen im Grundgesetz in Ziffern geschrieben sind, erfolgt die Darstellung von Bruchzahlen durchgehend in Zahlwörtern (Bsp.: „eines Zehntels seiner Mitglieder“, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG; „eines Viertels seiner Mitglieder“, Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG; „zwei Drittel der abgegebenen Stimmen“, Art. 115a Abs. 1 Satz 2 GG; „die Hälfte der Ausgaben“, Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG). Die 27

Ein „Quorum“ legt die Zahl der Stimmen fest, die bei Wahlen oder Abstimmungen mindestens erreicht werden muss. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 61. 28 Alternativ wären folgende Schreibweisen denkbar: [Ziffer] %, [Ziffer] Prozent und [Zahlwort] Prozent.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Verwendung von Prozent- oder Bruchzahlen hängt zum einen vom Regelungsgegenstand ab. Quoren werden durchgehend in Brüchen dargestellt und Bruchzahlen außerdem bei der Zusammensetzung von Organen verwendet („Der Gemeinsame Ausschuß besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates.“, Art. 53a Abs. 1 Satz 1 GG). Die Lastenaufteilung zwischen Bund und Ländern sowie unter den Ländern bei länderübergreifenden Finanzkorrekturen und Sanktionsmaßnahmen der EU (Art. 126 AEUV) erfolgt im Wege von Verhältnisbestimmungen bzw. in Prozent der Gesamtlasten (Art. 104a Abs. 6 Satz 2 und 3 GG, Art. 109 Abs. 5 Satz 2 GG). Die zulässige Kreditaufnahme des Bundes ist als Prozentangabe des nominalen Bruttoinlandsprodukts normiert; ebenso der Schwellenwert, ab dem eine konjunkturgerechte Rückführung erfolgen muss (Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG, Art. 115 Abs. 2 Satz 2 und 4 GG). Es fällt zum anderen auf, dass Prozentangaben nur in Regelungen verankert sind, die nachträglich in das Grundgesetz aufgenommen worden sind. In der Regel wäre die Schreibweise der Prozentangaben in (gekürzten) Brüchen aber auch nicht übersichtlich und eingängig. Einzige Ausnahme ist: 50 % = ½.29 Die Null als Zahlwort oder als Ziffer (0) taucht im Verfassungstext nicht auf. In der Sache wird sie gleichwohl verwendet und zwar in der Form von Aus­ drücken wie „niemand“, „kein“, „fehlen“, „ohne“ oder „nicht“ (vgl. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“, Art. 3 Abs.  3 Satz 1 GG; „Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden […].“, Art.  7 Abs.  3 Satz 3 GG; „Fehlt eine solche Bestimmung […].“, Art.  82 Abs. 2 Satz 2 GG; „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten“, Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG; „[es] kann auch bestimmt werden, daß [Verpflichtungen] nicht oder nicht in voller Höhe zu erfüllen sind […]“, Art. 135a Abs. 1 GG). 3. Punktgenaue Zahlenwerte, Mindest- und Maximalangaben, Rahmenbestimmungen Numerische Angaben im Grundgesetz können weiterhin danach unterschieden werden, ob sie einen Zahlenwert punktgenau normieren oder ob es sich um eine Mindest-/Maximalangabe bzw. Rahmenbestimmung handelt, die eine Spannbreite verfassungsgemäßer Werte aufstellt.30 Adjektive, die numerische Angaben e­ xplizit 29 Die anderen Prozentangaben lauteten in Brüche umgeformt wie folgt: 35 % = 7/50, 65 % = 13/50, 0,35 % = 7/2000, 1,5 % = 3/200. 30 Durch das Fehlen einer Spannbreite lassen sich die punktgenauen Zahlenangaben von den Mindest- und Maximalangaben abgrenzen, denn strenggenommen wird mit einer punktgenauen Zahlenangabe zugleich ein Mindest- und Maximalwert normiert. Die numerische Spannbreite der punktgenauen Zahlenangaben, die auf deren  – an der Zahl der Nachkommastellen ablesbaren  – Rundungsspielraum zurückzuführen ist, bleibt vorliegend unberücksichtigt. Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils.

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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als punktgenau qualifizieren, fehlen.31 Hingegen weisen oftmals Signalwörter auf Mindest-, Maximalangaben und Rahmenbestimmungen hin. Die Signalwörter „mindestens“32 und „mehr als“33 leiten Mindestangaben ein. Wendungen wie „nicht mehr als“34 und „bis zu“35 kennzeichnen Maximalangaben.36 Der Kategorie der Mindest- bzw. Maximalangaben können zudem zeitliche Bestimmungen, die den frühesten („frühestens“37) bzw. spätesten („spätestens“38, 31 Beispiele: „Fehlt eine solche Bestimmung, so treten sie [Gesetze und Rechtsverordnungen] mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Bundesgesetzblatt ausgegeben worden ist.“ (Art. 82 Abs. 2 Satz 2 GG); „Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzen Spruchkörper“ (Art. 13 Abs. 3 Satz 3 GG); „Die Bundesregierung kann eine Vorlage […] nach drei Wochen […] dem Bundestag zuleiten […].“ (Art. 76 Abs. 2 Satz 4 GG); „Während des Verteidigungsfalles ablaufende Wahlperioden des Bundestages oder der Volksvertretungen der Länder enden sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungs­ falles.“ (Art. 115h Abs. 1 Satz 1 GG). 32 Beispiele: „[…] in einem zusammenhängenden, abgegrenzten Siedlungs- und Wirtschaftsraum, […] der mindestens eine Million Einwohner hat […]“ (Art. 29 Abs. 4 GG); „Mehrheit im Volksentscheid […] ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfasst.“ (Art. 29 Abs. 6 Satz 1 GG); „Jedes Land hat mindestens drei Stimmen […].“ (Art. 51 Abs. 2 GG); „Er [der Bundesratspräsident] hat ihn [den Bundesrat] einzuberufen, wenn die Vertreter von mindestens zwei Ländern […] es verlangen.“ (Art. 52 Abs. 2 Satz 2 GG); Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestags […] gestellt werden.“ (Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GG). 33 „[…] Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen.“ (Art. 51 Abs. 2 GG); „[…] der Bundestag [kann] […] mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.“ (Art. 63 Abs. 3 GG); siehe auch Art.  104a Abs.  3 Satz 2 GG: „Bestimmt das Gesetz, daß der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt, wird es im Auftrage des Bundes durchgeführt.“ 34 „Sonstige Änderungen […] können […] erfolgen, wenn das Gebiet […] nicht mehr als 50 000 Einwohner hat.“ (Art. 29 Abs. 7 Satz 1 GG). 35 „[…] die Bundesregierung [darf] die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftsführung erforderlichen Mittel bis zur Höhe eines Viertels der Endsumme des abgelaufenen Haushaltsplanes im Wege des Kredits flüssig machen.“ (Art. 111 Abs. 2 GG). 36 Auch Art. 115 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 GG („Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt überschreiten, sind konjunkturgerecht zurückzuführen.“) ist eine ausdrücklich als solche gekennzeichnete („Schwellenwert“) Mindest- bzw. Maximalangabe. Ob es sich um eine Mindest- oder Maximalangabe handelt, kommt auf die Perspektive an. Stellt man darauf ab, dass Belastungen ohne Rückführung maximal bis zu einem bestimmten Wert möglich sind, handelt es sich um eine Maximalangabe. Stellt man darauf ab, dass die Rückführung erst ab einem bestimmten Wert erfolgen muss, handelt es sich um eine Minimalangabe. 37 „Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig […] Monate nach Beginn der Wahl­ periode statt.“ (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG); „Bundesgesetze auf diesen Gebieten treten frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft […].“ (Art. 72 Abs. 3 Satz 2 GG, siehe auch Art. 84 Abs. 1 Satz 3 GG); „Die Kapitalmehrheit […] darf der Bund frühestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgeben.“ (Art. 143b Abs. 2 Satz 2 GG). 38 „Die Neuwahl findet […] spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt.“ (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG); „Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.“ (Art. 39 Abs. 2 GG); „Die Bundesversammlung tritt spätestens dreißig Tage vor Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten, bei vorzeitiger Beendigung spätestens

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

„längstens bis“39, „nicht länger als bis“40) Zeitpunkt kennzeichnen, zugeordnet werden. Darüber hinaus werden Mindest- und Maximalangaben im Grundgesetz normiert, ohne dass hierauf im Wege von Signalwörtern explizit hingewiesen wird. Der Charakter als Mindest- oder Maximalangabe ergibt sich dann nicht aus der Auslegung der isolierten Zahlenbestimmungen,41 sondern aus ihrer Einbettung in einen bestimmten Regelungskontext und dem Sinn und Zweck der (umgebenden) Vorschrift(en). Bei den Quoren im Grundgesetz handelt es sich zum Beispiel immer um Mindestvorschriften. Sie fordern eine gewisse Breite in der Unterstützung einer Sache und bestimmen einen Schwellenwert, dessen Überschreitung unschädlich ist. Im Falle der numerisch bestimmten, damit qualifizierten Abstimmungsbzw. Mitgliedermehrheit ergibt sich dies schon aus dem Begriff „Mehrheit“.42 Außerhalb der grundgesetzlichen Quoren finden sich in den Art.  67 Abs.  2 und Art. 68 Abs. 2 GG Beispiele für nicht explizit gekennzeichnete Mindestangaben. Daten, die einen Anfangs-43 bzw. Endpunkt44 festlegen, lassen sich ebenfalls als implizite Mindest- bzw. Maximalangaben charakterisieren. dreißig Tage nach diesem Zeitpunkt zusammen.“ (Art. 54 Abs. 4 Satz 1 GG); „Gesetze […] und Rechtsverordnungen […] treten spätestens sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalls außer Kraft.“ (Art. 115k Abs. 2 GG); „Auf den in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 genannten Gebieten können die Länder von diesem Recht abweichende Regelungen treffen […], in den Fällen der Nummern 2 und 5 spätestens ab dem 1. Januar 2010, im Falle der Nummer 6 spätestens ab dem 1. August 2008.“ (Art. 125b Abs. 1 Satz 3 GG). 39 „Gesetze […] gelten längstens bis zum Ende des zweiten Rechnungsjahres, das auf die­ Beendigung des Verteidigungsfalles folgt.“ (Art.  115k Abs.  3 Satz 1 GG); „Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen […].“ (Art. 143 Abs. 1 Satz 1 GG). 40 „Das dem Art. 3 Absatz 2 entgegenstehende Recht bleibt […] nicht länger als bis zum 31. März 1953 [in Kraft].“ (Art. 117 Abs. 1 GG). 41 Die Frage der Auslegungsfähigkeit von Zahlenbestimmungen in der Verfassung bleibt damit an dieser Stelle noch offen. Hierzu unter B. II. 2. und III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 42 Beispiel: Gem. Art.  42 Abs.  1 Satz 2 GG kann „auf Antrag eines Zehntels seiner [des Bundestags] Mitglieder […] mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.“ Dies bedeutet, dass mindestens ein Zehntel der Bundestagsmitglieder den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen und dieser dann mit mindestens zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG) beschlossen werden kann. Zum Teil wird der Charakter eines Quorums als Mindestangabe auch besonders gekennzeichnet, siehe Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG. Die Vorschrift normiert direkt hintereinander eine explizite und eine implizite Mindestangabe („Hat der Bundesrat den Einspruch mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen beschlossen, so bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag einer Mehrheit von zwei Dritteln […].“). 43 Beispiel: „Recht, das Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes betrifft, wird […] Bundesrecht, soweit es sich um Recht handelt, durch das nach dem 8. Mai 1945 früheres Reichsrecht abgeändert worden ist.“ (Art. 125 Nr. 2 GG); „Artikel 109 und 115 in der ab dem 1. August 2009 geltenden Fassung sind erstmals für das Haushaltsjahr 2011 anzuwenden […].“ (Art. 143d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG). 44 Beispiel: „Soweit die Kriegsfolgelasten bis zum 1. Oktober 1969 durch Bundesgesetze gere­ gelt worden sind, tragen Bund und Länder […] die Aufwendungen nach Maßgabe dieser Bundesgesetze.“ (Art. 120 Abs. 1 Satz 2 GG); „Artikel 109 und 115 in der bis zum 31. Juli 2009 gelten­den Fassung sind letztmals auf das Haushaltsjahr 2010 anzuwenden.“ (Art. 143d Abs. 1 Satz 1 GG).

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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Rahmenbestimmungen erfolgen im Wege der Bestimmung eines Anfangs- und Endpunktes45 bzw. der Kombination von Mindest- und Maximalangabe46 oder durch die Angabe einer Frist. Letztere wird zum Teil  durch das Schlagwort der „Frist“47 angezeigt, zum Teil durch Wendungen wie „innerhalb“48 oder „binnen“49 eingeleitet. 4. Weiche | harte Zahlenangaben Explizite Aufweichungen bzw. Abschwächungen der Strenge numerischer Vorgaben, die durch begleitende Adjektive wie „circa“, „ungefähr“ oder „etwa“ erreicht werden könnten, existieren im Verfassungstext nicht. Mindest-, Maximalangaben und Rahmenbestimmungen legen zwar Spannbreiten verfassungsmäßiger Werte fest, deren Grenzwerte sind allerdings eindeutig. Weiche Zahlenangaben sind solche, die in der Verfassung mit Ausnahmeklauseln kombiniert sind. Nu­ merische Vorgaben öffnen sich (zum Teil  ebenfalls numerisch bestimmten) Abweichungen durch andere Grundgesetzbestimmungen, einfaches Bundesrecht, Landesrecht oder die Geschäftsordnungen der Bundesorgane.50 Dies ist zum Beispiel hinsichtlich 45 Beispiele: „[…] Frauen [können] vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr […] zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden.“ (Art. 12a Abs. 4 Satz 1 GG); „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit […] entzogen worden ist, […] sind auf Antrag wieder einzubürgern.“ (Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG); „Den Ländern stehen ab dem 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2019 […] jährlich Beträge aus dem Haushalt des Bundes zu.“ (Art. 143c Abs. 1 Satz 1 GG); „Bis zum 31. Dezember 2013 werden diese Beträge aus dem Durchschnitt der Finanzierungsanteile des Bundes im Referenzzeitraum 2000 bis 2008­ ermittelt.“ (Art. 143c Abs. 1 Satz 2 GG). 46 „Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt.“ (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG). 47 Beispiele: „Verlangt er [der Bundesrat] aus wichtigem Grunde […] eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen.“ (Art. 76 Abs. 2 Satz 3 GG); „[Es] […] kann auch jede andere vom Bundestage abgelehnte Gesetzesvorlage innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes gemäß Absatz 1 und 2 verabschiedet werden.“ (Art. 81 Abs. 3 Satz 1 GG). 48 Beispiele: „[…] durch Bundesgesetz [ist] innerhalb von zwei Jahren zu bestimmen, ob die Landeszugehörigkeit gemäß Absatz 2 geändert wird.“ (Art. 29 Abs. 5 Satz 3 GG, vgl. auch Satz 4); „Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.“ (Art.  39 Abs.  1 Satz 4 GG); „Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen [der Bundesregierung] Stellung zu nehmen.“ (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG). 49 Beispiele: „[…] der Bundestag [kann] binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.“ (Art. 63 Abs. 3 GG); „Der Bundesrat kann binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen, daß ein […] Ausschuß einberufen wird.“ (Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG). 50 Die Kombination numerisch bestimmter Grundregeln mit Abweichungsmöglichkeiten ist auch bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung beobachtbar, hierzu unter C. II. 5. im 1. Kapitel des dritten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

– der Anordnung von akustischen Überwachungsmaßnahmen in Wohnräumen durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper (Art.  13 Abs.  3 Satz 3 und 4 GG); – der Quoren für die Beschlussfassung von Bundestag und Bundesrat (Art.  23 Abs.  1a Satz 3 GG, Art.  42 Abs.  2 Satz 1 Halbsatz  2 GG, Art.  42 Abs.  2 Satz 2 GG); – des Zeitpunkts des Inkrafttretens von Bundesgesetzen in Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung, in denen die Länder abweichende Regelungen treffen dürfen (Art. 72 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 GG); – der Fristen beim Gesetzgebungsverfahren (Art.  76 Abs.  2 Satz 3–5, Abs.  3 Satz 3–5 GG); – des Zeitpunkts des Inkrafttretens von Bundesgesetzen, die im Bereich der ländereigenen Verwaltung die Einrichtung der Behörden oder das Verwaltungs­ verfahren abweichend von Landesrecht, das selbst bereits von Bundesrecht abgewichen ist, regeln (Art. 84 Abs. 1 Satz 3 a. E. GG) und – des grundsätzlichen Verbots der Kreditaufnahme von Bund und Ländern (Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG, Art. 115 Abs. 2 Satz 5 und 6 GG)51 der Fall. Die Verfassungsbestimmungen, die sich gegenüber Abweichungen öffnen, bzw. die Ausnahmevorschriften im Grundgesetz sind nicht in allen Fällen ausdrücklich als solche gekennzeichnet.52 Wenn nichtnumerische Ausnahmen zum Regelfall werden, macht sich die Verfassung die naturwissenschaftliche Rationalität von bzw. entsprechende Rationalitätserwartungen gegenüber Zahlen zu Nutze, ohne diese tatsächlich einzulösen. Zahlen nehmen dann eine rein ästhetische Funktion wahr und täuschen den mit der Regelungspraxis nicht Vertrauten über die Regelungspräzision und -strenge der Verfassung.53

51 Das Verbot der Kreditaufnahme durch Bund und Länder selbst ist numerisch klar bestimmt. Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG, der zunächst nur eine weiche Orientierungslinie aufzustellen scheint („Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“), wird sogleich in Satz 4 und 5 konkretisiert. Es sind jedoch Ab­ weichungen für bestimmte Ausnahmesituationen („von der Normallage abweichende[…] konjunkturelle[…] Entwicklung[en]“, „Naturkatastrophen“ und „außergewöhnliche Notsituationen“, Satz 2) vorgesehen. 52 Zur Deutung des Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG als Grundregel und der hieran anschließenden Regelungen zur Wahlperiode des Bundestags als Ausnahmevorschriften siehe die Ausführungen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 53 Zur entsprechenden Gefahr bei der Schuldengrenze für Bund und Länder, insbesondere angesichts der konjunkturbedingten Abweichungsmöglichkeit in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 und Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG Christian Waldhoff/Hanka v. Aswege, Direkte Demokratie und Staatsfinanzkrise – Abschaffung der Finanztabus als Ausweg?, Jahrbuch für Direkte Demokratie 2011, S. 9 (11 f.).

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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III. Ordnung nach Sachbereichen Zahlen in der Verfassung lassen sich verschiedenen Sachbereichen zuordnen. Das Grundgesetz verwendet Zahlen zur Konkretisierung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten, zur Organisation des demokratischen Prozesses und zur Ordnung der Finanzbeziehungen im Bund sowie zwischen Bund und Ländern. Zahlen prägen schließlich die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes. Die Kategorien lassen sich nicht klar trennen. Es existieren eine Reihe von Überschneidungen. 1. Zahlen zur Konkretisierung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten Der Begriff der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GG ist umfassend zu verstehen. Er bezieht sich auf alle öffentlich-rechtlichen Rechte und Pflichten, erfasst also „das gesamte Rechtsverhältnis des Staatsbürgers zum Staat“.54 In der Verfassung tauchen in zwei Teilbereichen Zahlen auf. Es handelt sich um Altersgrenzen. Zur Ausräumung von Zweifelsfällen wird stets auf das jeweilige „vollendete“55 Lebensjahr abgestellt. a) Wehrrecht Eine erste Zahl nennt die Verfassung in Art. 12a Abs. 1 GG. Nachdem die Weimarer Reichsverfassung die Regelung der Wehrpflicht vollständig dem einfachen Gesetzgeber im Reichswehrgesetz überlassen hat, legt das Grundgesetz im Zuge der Einfügung wehrverfassungsrechtlicher Regelungen explizit eine Altersgrenze fest: Männer können „vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an“ zur Wehrpflicht bzw. zum Dienst in der Bundespolizei oder in einem Zivilschutzverband herangezogen werden. Gem. Art. 12a Abs. 4 Satz 1 GG können Frauen „vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr“ im Verteidigungs- und Bedarfsfall zu Dienstleistungen in der medizinischen Versorgung verpflichtet werden. b) Wahlrecht Weitere Altersgrenzen finden sich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts. Art. 38 GG regelt die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Art. 38 Abs. 2 GG koppelt sowohl aktives als auch passives Wahlrecht an die Erreichung 54

Ulrich Battis, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 33 Rn. 15 (Zitat ebd.); Monika Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 33 Rn. 5; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 33 Rn. 2. 55 Zum Beispiel in Art. 12a Abs. 1 GG, hierzu sogleich im Text.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

eines bestimmten Alters. Das Recht, die Bundestagsabgeordneten zu wählen, beginnt mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres, nach der einfachgesetzlichen Konkretisierung in § 187 Abs.  2 Satz 2 BGB mit Beginn des 18.  Geburtstages. Das Recht, gewählt zu werden, beginnt mit Eintritt der Volljährigkeit, d. h. nach § 2 BGB ebenfalls mit Vollendung des 18. Lebensjahres.56 Zum Bundespräsident kann nur gewählt werden, wer „das vierzigste Lebensjahr vollendet hat“ (Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG). 2. Zahlen zur Organisation des demokratischen Prozesses57 Das Grundgesetz setzt das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art.  20 Abs. 1, 2 GG) um und erweckt es zum Leben, indem es Staatsorgane schafft, ihnen Aufgabenbereiche zuweist und diese voneinander abgrenzt, Regelungen über die Aufgabenwahrnehmung trifft und die Rückkopplung von Herrschaftseinrichtung und -ausübung an das Volk sicherstellt. Zahlen spielen in allen angesprochenen Bereichen eine Rolle. a) Konstituierung und Organisation der Verfassungsorgane58 Zahlen tauchen in der Verfassung zur Konstituierung und Organisation folgender Organe auf: Bundestag (Art. 38 ff. GG), Bundesrat (Art. 50 ff. GG), Gemeinsamer Ausschuss (Art. 53a GG), Bundespräsident (Art. 54 ff. GG) und Bundesregierung (Art. 62 ff. GG). Das Grundgesetz verwendet Zahlen, wenn es darum geht, den Prozess der Besetzung der Staatsorgane mit Organwaltern zu organisieren. Zahlen geben über die 56 Siegfried Magiera, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 101. Die abweichende Formulierung geht auf die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes zurück, als noch unterschiedliche Altersgrenzen gelten (Vollendung des 21.  bzw. 25.  Lebensjahres). 1970 erfolgt eine Herabsetzung, jedoch keine Angleichung der Altersgrenzen. Das aktive Wahlalter wird auf 18 Jahre herabgesetzt (siehe BGBl. I 1970/76, S. 1161). Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung der Volljährigkeit 1975 verringerte sich das passive Wahlalter zunächst nur auf die Vollendung des 21. Lebensjahres. Hierzu ebd., Rn. 102. Siehe auch Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 45 Fn. 39. 57 Hier findet sich eine erste Überschneidung der Kategorien. Die Regelung der Altersgrenzen in Art. 38 Abs. 2 GG und die des Mindestalters des Bundespräsidenten in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG lassen sich auch der Kategorie „Organisation des demokratischen Prozesses“ zuordnen. 58 Das Grundgesetz regelt nur die Eckpunkte der Konstituierung der Organe, ihrer internen Organisation und ihres Verfahrens. Es verweist auf die Ausführungsbestimmungen in einfachen Gesetzen und den Geschäftsordnungen der obersten Staatsorgane. In Bezug auf die Verfahrensnormen des Grundgesetzes Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4 II. 3. c), S. 119. In Bezug auf das parlamentarische Verfahren W ­ olfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 53 Rn. 3.

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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Zusammensetzung der Organe59 Auskunft. Im Falle der Besetzung durch Wahl regeln sie deren Zeitpunkt,60 das aktive und passive Wahlalter61 sowie die Anzahl der Wahlgänge.62 Zahlen treten auf, wenn es um die Bestimmung der Wahl­periode63 und die vorzeitige Ablösung der (des) Organwalter(s)64 geht. Sofern das Grundgesetz Aussagen über interne Organisations- und Verfahrensfragen65 trifft, treten auch in diesem Zusammenhang Zahlen auf. Die Beschlussfassung ist an bestimmte Quoren66 gekoppelt. Zahlen sind für die Verteilung der 59 Gemeinsamer Ausschuss: Der Gemeinsame Ausschuss besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestags und zu einem Drittel aus Abgeordneten des Bundesrats, Art. 53a Abs. 1 Satz 1 GG. Jedes Land wird durch ein von ihm bestelltes Mitglied des Bundesrats vertreten, Art. 53a Abs. 1 Satz 3 GG. 60 Bundestag: Die Neuwahl des Bundestags findet frühestens sechsundvierzig spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt, Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG. Im Fall der Auflösung des Bundestags findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt, Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG. Gem. Art. 39 Abs. 2 GG tritt der Bundestag spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen. Bundespräsident: Der Zeitpunkt des Zusammentritts der Bundes­ versammlung orientiert sich am Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten bzw. an deren vorzeitigem Ende: dreißig Tage davor bzw. danach, Art. 54 Abs. 3 Satz 1 GG. 61 Zu den Hintergründen und der Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der Wählbarkeit bis zu bzw. ab bestimmten Altersgrenzen Angelika Nussberger, Altersgrenzen als Problem des Verfassungsrechts, JZ 2002, S. 524 (526 f.). 62 Bundespräsident: Sofern bei der Wahl des Bundespräsidenten in den ersten beiden Wahlgängen („zwei Wahlgängen“) kein Bewerber die Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung auf sich vereinigt, ist in einem weiteren Wahlgang gewählt, wer die meisten Stimmen erhält, Art. 54 Abs. 6 Satz 2 GG. 63 Bundestag: Der Bundestag wird für vier Jahre gewählt, Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG. Bundespräsident: Der Bundespräsident wird für fünf Jahre gewählt, Art. 54 Abs. 2 Satz 1 GG. 64 Bundestag: Scheitert der Bundeskanzler mit einer Vertrauensfrage, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag innerhalb von einundzwanzig Tagen auflösen, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG. 65 Die Darstellung der Verankerung von Zahlen in den „internen“ Organisations- und Verfahrensfragen der Abschnitte III. bis VI. des Grundgesetzes soll nicht den Eindruck erwecken, dass die Verfassungsorgane völlig isoliert voneinander agieren. Sie nehmen vielmehr vielfältig aufeinander Bezug, etwa in der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Art. 63 GG) oder in der Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers (Art. 68 GG). 66 In diesem Zusammenhang tritt regelmäßig der Begriff der Mehrheit auf, Bsp.: Art.  42 Abs. 2 Satz 1 GG. Er ist weder Ziffer noch Zahlwort. Eine alternative, mit einem Zahlwort kombinierte Formulierung findet sich in Art. 63 Abs. 3 GG: Der Bundestag kann „mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen“. Zahlen treten zudem auf, wenn qualifizierte Mehrheiten gefordert sind. Bundestag: Auf Antrag eines Zehntels der Abgeordneten oder der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG. Bundestag/Bundesrat: Der Beschluss auf Erhebung der Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht bedarf der Mehrheit von zwei ­Dritteln der Mitglieder des Bundestags oder von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats, Art. 61 Abs. 1 Satz 3 GG. Hartmut Maurer zu den Variationen des Mehrheitsprinzips: „Die dargelegten Variationen sind nicht nur Zahlenspiele, sondern gezielte Vorgaben für den jeweiligen Ablauf des politischen Prozesses. Das Grundgesetz enthält ein ganzes Spektrum von Differenzierungen, die beachtet werden müssen. […] Die Anforderungen an die jeweilige ‚Mehrheit‘ entsprechen der Bedeutung der jeweiligen Entscheidungen.“ Ders., Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 63 f.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Machtverhältnisse unter den Organwaltern, die sich u. a. im Stimmgewicht67 ausdrücken können, von Bedeutung. Sie sind Teil  verfassungsrechtlicher Regelungen, wenn zeitliche Vorgaben für Abstimmungen68 bestehen oder es für die Wahrnehmung von Rechten auf einen bestimmten Teil der Organwalter ankommt.69 Ist ein leitender bzw. vorsitzender Organwalter vorgesehen, können Zahlen bei dessen (Aus-)Wahl,70 der Dauer der Amtsperiode71 bzw. dem vorzeitigen Ende seiner Amtszeit72 Bedeutung erlangen. b) Ordnung der staatlichen Funktionen: Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Die Konstituierung und Organisation der Verfassungsorgane findet zunächst unabhängig von der Übernahme besonderer Funktionen, ihrer Mitwirkung in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, statt (Art. 38–69 GG). Im Rahmen der 67

Bundesrat: Art. 51 Abs. 2 GG normiert die Anzahl der Stimmen, die jedem Bundesland im Bundesrat zustehen. Sie ist an die Einwohnerzahl gekoppelt. Jedes Land hat mindestens drei Stimmen. Danach gilt folgende Staffelung: mehr als zwei Millionen Einwohner = vier Stimmen, mehr als sechs Millionen Einwohner = fünf Stimmen, mehr als sieben Millionen Einwohner = sechs Stimmen. 68 Bundestag: Bei einem Misstrauensvotum müssen zwischen Antrag und Wahl eines neuen Bundeskanzlers achtundvierzig Stunden liegen, Art. 67 Abs. 2 GG. Gem. Art. 68 Abs. 2 GG müssen zwischen dem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, und der Abstimmung des Bundestags ebenfalls achtundvierzig Stunden liegen. 69 Bundestag: Der Bundestag bestimmt Schluss und Wiederbeginn der Sitzungen. Der Bundestagspräsident ist verpflichtet, den Bundestag früher einzuberufen, wenn ein Drittel der Mitglieder es verlangt, Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG. Auf Antrag eines Zehntels der Mitglieder des Bundestags kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit bei einer Bundestagssitzung ausgeschlossen werden, Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Bundestag muss auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuss einsetzen, Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Ausschuss für Verteidigung muss auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder eine Angelegenheit zum Gegenstand einer Untersuchung machen, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG. Gem. Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG ist der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet, vor dem Europäischen Gerichtshof Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip zu erheben. Bundesrat: Der Bundesratspräsident hat den Bundesrat einzuberufen, wenn mindestens zwei Länder es verlangen, Art.  52 Abs.  2 Satz 2 GG. Bundestag/Bundesrat: Gem. Art.  61 Abs.  1 Satz 2 und 3 GG bedarf der Antrag auf Erhebung der Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht der Unterstützung von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestags oder einem Viertel der Stimmen des Bundesrats. 70 Bundeskanzler: Art.  63 GG regelt die Wahl des Bundeskanzlers. Ggf. müssen mehrere Wahlgänge durchlaufen werden. Dies hängt davon ab, ob die jeweils geforderten Mehrheiten erreicht und zeitliche Vorgaben eingehalten werden. Wird ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht gewählt, kann der Bundestag gem. Art. 63 Abs. 3 GG innerhalb von vierzehn Tagen einen Bundeskanzler mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder wählen. Art.  63 Abs.  4 Satz 2 GG nennt eine Frist von sieben Tagen, innerhalb derer der Bundespräsident einen Kandidaten zum Kanzler ernennen muss, wenn im dritten Wahlgang die Mehrheit der Mitglieder für ihn gestimmt hat. 71 Bundesratspräsident: Der Bundesratspräsident amtiert jeweils ein Jahr, Art. 52 Abs. 1 GG. 72 Zum Misstrauensvotum siehe oben Fn. 68 im zweiten Teil.

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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verfassungsrechtlichen Ordnung der staatlichen Funktionen erfolgt dann die Verteilung der Zuständigkeiten bzw. Kompetenzen auf die einzelnen Organe.73 Zahlen nehmen in den Abschnitten VII. bis IX. eher eine untergeordnete Bedeutung ein. Sie tauchen nur auf, sofern Verfahrensfragen eine Rolle spielen. In den Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren sind eine Fülle von Zahlen niedergelegt. Zahlen legen den Zeitpunkt fest, an dem Gesetze in Kraft treten.74 Sie treten darüber hinaus zur Regelung des Zusammenwirkens der Organe im Gesetzgebungsverfahren auf. Sie bestimmen Fristen, innerhalb derer die Organe tätig werden können bzw. müssen,75 und Quoren bei der Beschlussfassung76. Im Falle des Gesetzgebungsnotstands gelten besondere Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Gesetzes. Zahlen spielen erneut bei der Festlegung von ­Fristen77 eine Rolle. 73 Eine Ausnahme bilden die Regeln über das Bundesverfassungsgericht. Die Zuordnung von Zuständigkeiten (Art. 93, 100 GG) und die Regeln über die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94 Abs. 1 GG) sind beide im selben Abschnitt („IX. Die Rechtsprechung“) verankert. 74 Bestimmen Gesetze (und Rechtsverordnungen) nicht den Tag ihres Inkrafttretens, „treten sie mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Bundesgesetzblatt ausgegeben worden ist“, Art.  82 Abs.  2 Satz 2 GG. Neben dieser Grundregel bestehen Sonderregeln für das Inkrafttreten von Gesetzen: (1) Bundesgesetze der konkurrierenden Gesetzgebung, von denen die Länder abweichende Regelungen treffen dürfen, treten frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, Art. 72 Abs. 3 Satz 2 GG. (2) Die Länder können von Bundesgesetzen, die auf dem Gebiet der ländereigenen Verwaltung die Einrichtung der Behörden oder das Verwaltungsverfahren regeln, abweichende Regelungen treffen. „Hierauf bezogene spätere bundesgesetzliche Regelungen“ „treten“ in der Regel „frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft“, Art. 84 Abs. 1 Satz 3 GG. Diese letztgenannte Sonderregelung kann auch den Regeln über die Verwaltung im Grundgesetz zugeordnet werden. 75 Es können Fristen zur Stellungnahme bezüglich eines Gesetzgebungsentwurfs, die Frist zur Einberufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat („binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses“, Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Frist zur Einlegung des Einspruchs durch den Bundesrat (Art. 77 Abs. 3 Satz 1 GG) unterschieden werden. Die Frist, die dem Bundesrat (Vorlagen der Bundesregierung) bzw. der Bundesregierung (Vorlagen des Bundesrats) zur Stellungnahme bezüglich des Gesetzgebungsentwurfs eingeräumt wird, beträgt im Regelfall sechs (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 76 Abs. 3 Satz 1 GG), bei Fristverlängerung neun (Art.  76 Abs.  2 Satz 3 GG, Art.  76 Abs.  3 Satz 2 GG), im Falle besonderer Eil­bedürftigkeit drei bzw. sechs (Art.  76 Abs.  2 Satz 4 GG, Art.  76 Abs.  3 Satz 4 GG) und bei einer Vorlage zur Änderung des Grundgesetzes bzw. zur Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23 oder 24 GG) neun Wochen (Art. 76 Abs. 2 Satz 5 GG, Art. 76 Abs. 3 Satz 5 GG). 76 (1) Hat der Bundesrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Stimmen gegen ein Gesetz Einspruch erhoben, bedarf dessen Zurückweisung durch den Bundestag ebenfalls einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mitgliedermehrheit, Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG. (2) Ändert ein Gesetz das Grundgesetz, bedarf es der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundestags, Art. 79 Abs. 2 GG. 77 Hat der Bundespräsident für eine Gesetzesvorlage den Gesetzgebungsnotstand erklärt und der Bundestag sie nicht innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung verabschiedet, gilt das Gesetz als zustande gekommen, soweit der Bundesrat ihm zustimmt, Art. 81 Abs. 2 Satz 2 GG. Während der Amtszeit eines Bundeskanzlers und binnen einer Frist von sechs Monaten nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstands kann auch jede andere Vorlage, die vom Bundestag abgelehnt wird, gem. Art. 81 Abs. 1 und 2 GG verabschiedet werden.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Neben der in Art. 84 Abs. 1 Satz 3 GG genannten Frist treten in den Vorschriften über die Verwaltung keine78 expliziten Zahlenangaben auf. In den Regeln über die Rechtsprechung sind Zahlen Bestandteil einzelner Verfahrensregeln über die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts79 und beim Verfassungsverstoß eines Bundesrichters.80 3. Zahlen in der Finanzverfassung In der Finanzverfassung81 (Art. 104a–115 GG) bilden Zahlen grundlegende Verteilungsentscheidungen zwischen Bund und Ländern bezüglich Staatseinnahmen82 und Belastungen der Staatshaushalte83 ab. In Zahlen wird auch die Verteilung von 78 Dies gilt nur für die regulären Vorschriften, die die „Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung“ betreffen. Zwei weitere Zahlenangaben, die im Sachbereich „Verwaltung“ verortet werden können, birgt die Finanzverfassung, siehe hierzu sogleich. 79 Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt, Art. 94 Abs. 1 Satz 1 GG. 80 Ein Bundesrichter, der im Amt oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder die verfassungsmäßige Ordnung verstößt, kann vom Bundesverfassungsgericht mit Zweidrittelmehrheit auf Antrag des Bundestages in ein anderes Amt oder in den Ruhestand versetzt werden, Art. 98 Abs. 2 Satz 1 GG. 81 Das Grundgesetz weist auch im Abschnitt über das Finanzwesen die Regelung von Details dem Gesetzgeber zu (siehe Art. 106a Satz 2 GG, Art. 106b Satz 2 GG, Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG, Art.  109 Abs.  3 Satz 5 GG u. Art.  115 Abs.  2 Satz 5 GG, Art.  109 Abs.  4 GG, Art. 143d Abs. 2 Satz 5 GG). Über diese expliziten Anordnungen hinaus hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verteilung des Finanzaufkommens einen besonderen Regelungsauftrag zur Konkretisierung und Ergänzung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe statuiert: „Die Finanzverfassung enth[a]lt[e] […] keine unmittelbar vollziehbaren Maßstäbe, sondern verpflicht[e] den Gesetzgeber, das verfassungsrechtlich nur in bestimmten Begriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichsystem […] durch anwendbare, allgemeine und ihn selbst bindende Maßstäbe gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen.“ BVerfGE 101, 158 (214 f., 238, Zitat S. 215). Kritisch Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a GG Rn. 61–66. Siehe hierzu auch die Ausführungen unter A. I. 3. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 82 (1) Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG bestimmt, dass Bund und Länder am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer je zur Hälfte beteiligt sind. (2) Zeitliche Angaben helfen angesichts der sich ändernden Einnahmen- und Ausgabenströme differenzierte Verteilungsentscheidungen zu finden: (a) Nach Art. 106 Abs. 3 Satz 5 GG sind bei der Festsetzung der Umsatzsteuer-Anteile von Bund und Ländern Steuermindereinnahmen der Länder, die ab dem 1. Januar 1996 aus der Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuerrecht entstehen, in Rechnung zu stellen. (b) Ab dem 1. Januar 1996 steht den Ländern für den öffentlichen Personennahverkehr ein Betrag aus dem Steueraufkommen des Bundes zu, Art. 106a Satz 1 GG. (c) Ab dem 1. Juli 2009 steht den Ländern infolge der Übertragung der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund ein Betrag aus dem Steueraufkommen des Bundes zu, Art. 106b Satz 1 GG. 83 (1) Gegenstand des Art. 104a Abs. 6 Satz 2–4 GG ist die beschränkte Solidarhaftung der Gebietskörperschaften im Falle länderübergreifender Finanzkorrekturen der EU. Zwischen Bund und Ländern erfolgt die Lastentragung im Verhältnis 15 zu 85, Art. 104a Abs. 6 Satz 2 GG. (2) Art. 109 Abs. 5 GG betrifft Sanktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit Art. 126 AEUV (Vorgaben zur Haushaltsdisziplin). Für sie kommen Bund und Länder im Verhältnis 65 zu 35 auf.

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Einnahmen84 und finanziellen Lasten85 unter den Ländern sowie die etwaige gesonderte Berücksichtigung der Kommunen86 geregelt. Vereinzelt tauchen Zahlen in den Regeln der Finanzverfassung auf, die Verwaltungsfragen betreffen.87 In den Art. 110 ff. GG88 säumen Zahlen das Verfahren der Aufstellung des Haushaltsplanes sowie mögliche Abweichungen von der regulären Etatgenehmigung. Sie benennen den Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes und Fristen zur Stellungnahme (Art. 110 GG),89 die Höhe der Ausgaben, die vor Verabschiedung genehmigt werden können (Art. 111 GG),90 und zeitliche Vorgaben für Eingriffsmöglichkeiten der Bundesregierung im Falle der Ausgabenerhöhung bzw. Einnahmenminderung nach Verabschiedung des Haushaltsplans (Art. 113 GG).91 Zahlen begrenzen außerdem die Kreditaufnahme von Bund und Ländern. ­Deren Haushalte

84 Nach Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG steht der Länderanteil am Aufkommen der Umsatzsteuer den Ländern nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu. Für höchstens ein Viertel des Länderanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer können Ergänzungsanteile für finanzschwache Länder vorgesehen werden. 85 (1) Den Länderanteil bei den Finanzkorrekturen der EU i. S. d. Art. 104a Abs. 6 Satz 2 GG trägt die Ländergesamtheit solidarisch in Höhe von 35 % („35 vom Hundert“) der Gesamtlasten. Die Verursacherländer kommen für 50 % („50 vom Hundert“) der Gesamtlasten auf. (2) Im Falle von Sanktionsmaßnahmen der EU im Zusammenhang mit Art. 126 AEUV tragen die Länder als Gesamtheit 35 % („35 vom Hundert“) der auf die Länder entfallenden Lasten. 65 % („65 vom Hundert“) werden nach den jeweiligen Verursachungsbeiträgen aufgeschlüsselt, Art. 109 Abs. 5 Satz 2 GG. 86 Nach Art. 106 Abs. 5a GG erhalten Gemeinen ab dem 1. Januar 1998 einen Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer. 87 (1) Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG bezieht sich auf Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden. Sofern der Bund für die Hälfte besagter Leistungen oder mehr aufkommt, erfolgt die Gesetzesdurchführung in Form der Bundes­ auftragsverwaltung. (2) In Art.  108 Abs.  1 GG erfolgt eine zeitliche Angabe bezogen auf die Organisation der Finanzverwaltung. Demnach werden ab dem 1.  Juli 2009 sonstige auf moto­risierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrssteuern durch Bundesfinanzbehörden verwaltet. Beide Vorschriften ergänzen die Regeln über die „Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung“ in Art. 83–91d GG, siehe die Ausführungen zu den Zahlen zur Organisation des demokratischen Prozesses. 88 Die nachfolgend vorgestellten Zahlen können auch der Kategorie „Organisation des demokratischen Prozesses“ zugeordnet werden. Bei den Regelungen handelt sich um Abweichungen vom regulären Gesetzgebungsverfahren. 89 (1) Der Haushaltsplan wird vor Beginn des ersten Rechnungsjahres im Haushaltsgesetz festgestellt, Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG. (2) Art. 110 Abs. 3 GG: Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zur Gesetzesvorlage nach Abs. 2 Satz 1 Stellung zu nehmen. Bei Änderungsvorlagen beträgt die Frist drei Wochen. 90 Gem. Art.  111 Abs.  2 GG ist eine Kreditaufnahme vor Etatgenehmigung bis zu einem Viertel der Endsumme des abgelaufenen Haushaltsplans möglich. 91 Die Bundesregierung kann verlangen, dass die Beschlussfassung über Gesetze, die zur Ausgabenerhöhung bzw. Einnahmeminderung führen, ausgesetzt wird. Sie hat in diesem Fall binnen sechs Wochen dem Bundestage eine Stellungnahme zuzuleiten, Art.  113 Abs.  1 Satz 4 GG. Sie kann innerhalb von vier Wochen, nachdem der Bundestag die Ausgabenerhöhung bzw. Einnahmenminderung beschlossen hat, verlangen, dass dieser erneut Beschluss fasst, Art. 113 Abs. 2 GG.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

sind ­grundsätzlich ohne92 Einnahmen aus Krediten auszugleichen (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG). Dies ist der Fall, wenn die Einnahmen aus Krediten durch den Bund 0,35 % („0,35 vom Hundert“) des nominalen BIP nicht übersteigen (Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG, Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Länder dürfen gar keine93 Einnahmen aus Krediten erzielen, Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG. Die Verfassung konkretisiert bzw. quantifiziert selbst: vgl. die Wendungen „Satz 1 [ist] entsprochen […], wenn“ (Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG) bzw. „diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn“ (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG). In thematischen Zusammenhang steht Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG. Abweichungen der tatsächlichen von der – unter Berücksichtigung konjunktureller Schwankungen – zulässigen Kreditaufnahme des Bundes sind auf einem Kontrollkonto zu erfassen. Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 % („1,5 vom Hundert“) des nominalen BIP überschreiten, sind konjunktur­gerecht zurückzuführen. 4. Zahlen in den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes Weitere Regelungen, die Zahlen enthalten, sind die Übergangs- und Schlussbestimmungen im XI. Abschnitt. Sie ergänzen die vorhergehenden ­Sachbereiche des Grundgesetzes. Es handelt sich fast ausschließlich um Zeitangaben. Ihrer bedient sich Art.  116 GG, wenn es darum geht, wer Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist.94 Sie sind Bestandteil der Regelungen, die die (Fort-)Geltung vorkonstitutionellen95 bzw. auf der Grundlage geänderter verfassungsrechtlicher Vorschriften erlassenen einfachen Rechts96 anordnen oder den Zeitpunkt der Anwendbarkeit nachträglich eingefügter verfassungsrechtlicher Vorschriften97 festlegen. Sie flankieren die Zuweisungen vorkonstitutioneller finanzieller Verpflichtungen an die Gebietskörperschaften98 sowie Regelungen hinsichtlich finanzieller

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Es handelt sich hierbei um eine implizite Zahlenangabe. Siehe hierzu sogleich unter B. I. Es handelt sich ebenfalls um eine implizite Zahlenangabe, hierzu sogleich unter B. I. 94 Nach Art. 116 Abs. 1 GG kommt es darauf an, ob man als Angehöriger einer in der Vorschrift genannten Gruppe im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.  Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 aus einer der genannten Gründe die Staatsangehörigkeit entzogen worden ist, sind gem. Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG auf Antrag wieder einzubürgern. Der Antrag ist nach Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG entbehrlich, wenn jemand nach dem 8.  Mai 1945 seinen Wohnsitz in Deutschland genommen hat und keinen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht hat. 95 Siehe Art. 117 Abs. 1 GG, Art. 125 Nr. 2 GG, Art. 127 GG und Art. 141 GG. Bezüglich der neuen Bundesländer und Ost-Berlin Art. 143 Abs. 1 Satz 1 u. Abs. 2 GG. 96 Siehe Art. 125a Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 125b Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 125c Abs. 1 GG und Art. 125c Abs. 2 Satz 1 u. 2 GG. 97 Siehe Art. 125b Abs. 1 Satz 3 u. Abs. 2 GG, Art. 143d Abs. 1 GG. 98 Siehe die Regelungen zur Übernahme von Kriegsfolgelasten durch Bund, Länder und Gemeinden in Art. 120 Abs. 1 Satz 2 u. 3 GG und Art. 135a Abs. 1 Nr. 3 GG. 93

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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bzw. finanzwirksamer Ansprüche bzw. Verpflichtungen des Bundes und der Länder,99 die im Zuge der Änderung grundgesetzlicher Vorschriften zum Teil als Übergangsvorschriften normiert sind.100 In Art.  143d GG sind die einzigen Zahlenbestimmungen des XI. Abschnitts normiert, bei denen es sich nicht um Daten handelt: Die Konsolidierungshilfen, die aus dem Haushalt des Bundes angesichts der Neuregelung der Kreditobergrenzen in Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG pro Jahr finanzschwachen Ländern gewährt werden, betragen maximal 800 Millionen Euro, Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG. Sie werden hälftig von Bund und Ländern getragen, Art. 143d Abs. 3 Satz 1 GG. 5. Weitere zahlengeprägte Regelungen Im Abschnitt über die Grundrechte finden sich neben den Altersgrenzen in Art. 13 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG zwei weitere Zahlen: Akustische Maßnahmen zur Wohnraumüberwachung sind „durch einen mit drei Richtern besetzen Spruch­ körper“ anzuordnen. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch „ein[…] einzelne[r] Richter“ tätig werden. Zahlen flankieren darüber hinaus die Verfahrensregelungen zur Neugliederung des Bundesgebiets in Art. 29 GG des II. Abschnitts („Der Bund und die Länder“).101 Weitere Zahlen treten in den Ausnahmeregelungen zum Spannungs- und Verteidigungsfall auf. Für die Feststellung des Spannungs- und Verteidigungsfalls gelten bestimmte Quoren.102 Das Grundgesetz legt eine Reihe von Ausnahmeregelungen fest, um den demokratischen Prozess aufrecht zu e­ rhalten. 99 Siehe die Regelungen (1) zu den Rechtsverhältnissen von (ehemaligen) Angehörigen des öffentlichen Dienstes (und ihrer Versorgungsberechtigten), Art.  131 f. GG, und (2) über die Vermögensnachfolge bei Änderungen des Gebietsstandes im Bundesgebiet, Art. 135 Abs. 1 u. 5 GG. 100 Siehe (1) die vorübergehende Fortgeltung von Verpflichtungen des Bundes hinsichtlich der Bundeseisenbahnen und der Deutschen Bundespost trotz Privatisierung nach Art. 143a f. GG, (2) die vorübergehende Leistung von Ausgleichszahlungen des Bundes an die Länder aufgrund des Wegfalls der Finanzhilfen, der durch die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben Aus- und Neubau von Hochschulen sowie der Förderung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und der sozialen Wohnraumförderung bedingt ist, Art. 143c GG und (3) die vorübergehende Verpflichtung zur Leistung von Konsolidierungshilfen des Bundes an die Länder ­angesichts der Neuregelung der Art. 109 und 115 GG, Art. 143d Abs. 2 u. 3 GG. 101 Siehe Art. 29 Abs. 3 Satz 4, Abs. 4, Abs. 5 Satz 3 u. 4, Abs. 6 Satz 1 u. 2, Abs. 7 Satz 1 und Abs. 8 Satz 5 GG. 102 Der Spannungsfall kann nur durch eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen im Bundestag festgestellt werden, Art. 80a Abs. 1 Satz 2 GG im VII. Abschnitt über die Gesetzgebung des Bundes. Gleiches gilt für die Erteilung der Zustimmung nach Art. 12a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 2 GG. Der Verteidigungsfall (Abschnitt Xa.) muss in der Regel auf Antrag der Bundesregierung vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates festgestellt werden. Im Bundestag bedarf es einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags, Art.  115a Abs.  1 GG (Ausnahme: Feststellung durch den Gemeinsamen Ausschuss mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder, Art. 115a Abs. 2 GG).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Zahlen sind wiederum als Quoren Bestandteil der Verfahrensvorschriften.103 Als zeitliche Angaben finden sie in die Vorschriften, die nach Beendigung des Verteidigungsfalles zum regulären demokratischen Prozess überleiten, Eingang.104

IV. Ordnung nach Normtypen Zahlen sind hauptsächlich Bestandteil organisationsrechtlicher Verfassungsvorschriften.105 Nimmt man eine weitere Binnendifferenzierung vor, ergibt sich ihre Verteilung auf folgende Normtypen: Zahlen sind Bestandteil von Kreationsnormen106, die die Existenz bestimmter Organe und ihre Besetzung mit Organwaltern regeln, und Bestandteil von Verfahrensnormen.107 In Kompetenznormen werden Zahlen nur in der Finanzverfassung verwendet.108 In materiellrechtlichen Bestimmungen tauchen Zahlen nur in drei Ausnahmefällen auf: Als Altersgrenzen im Wehr- und Wahlrecht zur Konkretisierung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten (Art. 12a Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 GG, Art. 38 103 Feststellung der Beschlussunfähigkeit bzw. unüberwindlicher Hindernisse, die dem Zusammentritt des Bundestags entgegenstehen, durch den Gemeinsamen Ausschuss in Art. 115e Abs. 1 GG (Quorum: zwei Drittel der abgegebenen Stimmen, mindestens Mehrheit der Mitglieder); Misstrauensvotum des Gemeinsamen Ausschusses gegenüber dem Bundeskanzler in Art. 115h Abs. 2 Satz 2 GG (Wahl des Nachfolgers mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder). 104 Zahlen geben dort darüber Auskunft, wann die Wahlperiode des Bundestags bzw. einer Volksvertretung in den Ländern (sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles, Art.  115h Abs.  1 Satz 1 GG), die Amtszeit des Bundespräsidenten (neun Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles, Art. 115h Abs. 1 Satz 2 GG) oder die Amtszeit eines Mitglieds des Bundesverfassungsgerichts (sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles, Art. 115h Abs. 1 Satz 3 GG), die regulär während des Verteidigungsfalls abgelaufen wären, ­enden. Sie legen fest, wann Gesetze, die der Gemeinsame Ausschuss beschlossen hat (sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles, Art.  115k Abs.  2 GG) oder die von den Art. 91a, 91b, 104a, 106 und 107 GG abweichen (spätestens am Ende des zweiten Rechnungsjahres, das auf die Beendigung des Verteidigungsfalles folgt, Art.  115k Abs.  3 Satz 1 GG), außer Kraft treten. 105 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4 II. 3., S. 117 ff. 106 Bsp.: Art.  13 Abs.  3 Satz 3 (die Norm formuliert zugleich verfahrensrechtliche Anforderungen an die Anordnung der Wohnraumüberwachung; sie lässt sich beiden genannten Kategorien zuordnen) und Art. 53a Satz 1 GG. 107 Siehe bspw. die Zahlen im Verfahren zur Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29 GG), der Wahl und Abwahl des Bundeskanzlers (Art. 63, 67, 68 GG), im regulären Gesetzgebungsverfahren (Art. 76–78, 82 GG) bzw. im Verfahren zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes (Art. 79 GG als Revisionsnorm und Verfahrensvorschrift besonderer Art) und in bestimmten Verfahren des Budgetrechts (Art. 110 Abs. 3, 113 GG). 108 Die Kategorien „Kreation“ und „Verfahren“ überschneiden sich, wenn Normen die Besetzung von Organen im Wege verfahrensrechtlicher Bestimmungen regeln. Zu den verschiedenen Typen der organisationsrechtlichen Vorschriften Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4 II. 3., S. 118 f.

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Abs. 2 GG, Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG),109 in Art. 13 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG als Vorgabe für die Besetzung des richterlichen Spruchkörpers zur Anordnung akustischer Überwachungsmaßnahmen von Wohnräumen und in Art. 116 GG, der als Annexregelung zu den materiellrechtlichen Vorschriften gesehen werden kann. Auch wenn es sich um materiellrechtliche Vorschriften handelt, sind auch sie funktional auf die staatliche Ordnung bezogen. Indem der Einzelne seine Rechte als Wähler und Wahlbewerber (Art. 38 Abs. 2 GG, Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG) wahrnimmt, macht er nicht nur von seiner verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit Gebrauch, sondern wird zum tragenden und gestaltenden Baustein von Verfahren und Organisation des demokratischen Staatsaufbaus.110 Auch die dem Wehrrecht zugeordneten Altersgrenzen der Verfassung (Art.  12a Abs.  1 und Abs.  4 Satz 1 GG) und die verfassungsrechtliche Anforderung an die Besetzung des Spruchkörpers in Art. 13 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG können aus der Perspektive der Freiheitsausübung des Einzelnen (Verpflichtung zum Wehrdienst bzw. zu Dienstleistungen in der medizinischen Versorgung erst ab/bis zu einer bestimmten Altersgrenze; Sicherung der Unverletzlichkeit der Wohnung) betrachtet werden und sind zugleich organisations- und verfahrensrechtlich relevant (Organisation der Streitkräfte bzw. der medizinischen Versorgung im Verteidigungsfall, verfahrensrechtliche Grundrechtssicherung und Vorgabe für den Aufbau der Recht­ sprechung). Die Ambivalenz des Art. 116 GG folgt schon aus dessen Charakter als Annexregelung. Art. 116 GG ist nicht allein auf die materiellrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes bezogen. Er ist – im Gegenteil – Grundlage aller organisationsrechtlichen Regelungen. Dies liegt daran, dass deren Fixpunkt und Maßstab das demokratische Prinzip in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist, der als Souverän das deutsche „Volk“ bestimmt.111 Es lässt sich somit eine sachliche Abgrenzung treffen, wann Zahlen im Verfassungstext verwendet werden. Ihre Zahlenverwendung hebt sich von der „Rechtswirklichkeit“ ab, in der besonders zahlengeprägte Sachbereiche nicht abgegrenzt  werden können und sich erst in der historischen Rückschau heraus­ kristallisieren.112

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Zur Zuordnung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zu den Grundrechten (bzw. -pflichten) und damit zu den materiellrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 83 ff. 110 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 85. 111 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 21 f., zur Gegenmeinung Rn. 23. 112 Siehe die Ausführungen zu den historischen Verzifferungsprozessen unter A. im 2. Kapitel des ersten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

V. Ordnung nach Größenarten, Maßeinheiten und Bezugsgruppen Zahlen im Verfassungstext mit inhaltlicher Relevanz sind ausschließlich „benannte Zahlen“, d. h. Größen bzw. Mengen. „Unbenannte“ bzw. „abstrakte“ Zahlen tauchen im Verfassungstext jenseits der Ordnungszahlen nicht auf.113 Zahlen sind integrativer Bestandteil des Verfassungstextes und als verfassungsrechtliche Vorgaben anwendungsorientiert.114 Auf Kriterien für die Festlegung bestimmter Zahlen bzw. Verfahren bei ihrer Generierung (z. B. einen Mess- bzw. Zählvorgang nach naturwissenschaftlichem Vorbild)  wird im Verfassungstext an keiner Stelle verwiesen.115 Ihre Festschreibung ist auch nur im Rahmen der verfassungsändernden Gesetzgebung normativ gebunden. Art. 79 Abs. 3 GG stellt inhaltliche Vorgaben auf.116 Es stellt sich dann die Frage nach der Quantifizierungsmethodik, wenngleich der Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers gegenüber dem des Bundesverfassungsgerichts bei der Quantifizierung spezifischer Verfassungsvorgaben in der Regel weiter ausfallen wird.117 Einige Zahlen der Verfassung – etwa Altersgrenzen – können mit der Festschreibung traditioneller, kulturell geprägter (rechtlicher) Grenzen erklärt werden.118 In der Regel sind Zahlen im­ Verfassungstext „aleatorisch[…]“.119 Im Vordergrund steht dann, dass überhaupt numerische Regelungen getroffen werden und die Frage nach der Rückführbarkeit der konkreten Zahlenwerte auf inhaltliche Kriterien tritt zurück.120 Das Grundgesetz normiert Größen, sofern Zeit und Geld eine Rolle spielen. Die Spannbreite an Größenarten im Grundgesetz ist damit gegenüber der „Rechtswirklichkeit“ extrem eingeschränkt. Größenarten wie das Gewicht und die Länge treten in der Verfassung erst gar nicht in Erscheinung. Das Grundgesetz koppelt sich durch die Auswahl in Bezug genommener Größenarten ab. Die Zeit- und Wertangaben wiederum nehmen eine Reihe unterschiedliche Maßeinheiten in Bezug. Bei den zeitlichen Angaben werden die Maßeinheiten „Jahre“121 (bzw. „Lebensjahre“122

113

Zur Differenzierung zwischen „benannten“ und „unbenannten“ Zahlen Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 4. Aufl. 2001, S. 144 (Zitate ebd.). 114 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 115 Ein Zähl- bzw. Messvorgang erfolgt jedenfalls bei der Anwendung der verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn überprüft wird, ob die im Verfassungstext niedergelegten Mengen bzw. Größen eingehalten worden sind. 116 Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 22 Rn. 1 ff. 117 Zu den Methodenanforderungen an das Bundesverfassungsgericht bei der Quantifizierung eingehend unter C. II. 1. und E. im 4. Kapitel und unter B. im 5. Kapitel des dritten Teils. 118 Vgl. Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 197 f. 119 Zitat Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 48. 120 Zu „aleatorischen“ Regelungen, insb. der Zufälligkeit von Zahlenbestimmungen im Recht Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 48 ff. 121 Bsp.: Art. 29 Abs. 6 Satz 2 GG. 122 Siehe Art. 12a Abs. 1 u. 4 Satz 1 GG, Art. 38 Abs. 2 GG und Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG.

1. Kap.: Bestandsaufnahme und Ordnung von Zahlen im Grundgesetz 

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bei Altersangaben und „Rechnungsjahre“123 im Haushaltsrecht), „Monate“,124 „Wochen“,125 „Tage“126 und „Stunden“127 verwendet. Sofern Geld eine Rolle spielt, beziehen sich Zahlen auf „Ausgaben“,128 „Lasten“ bzw. „Gesamtlasten“,129 das „Aufkommen der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer“,130 das „nominale Bruttoinlandsprodukt“,131 die „Endsumme des abgelaufenen Haushaltsplans“132 oder „Euro“.133 Die Mengenangaben im Grundgesetz beziehen sich auf „Länder“,134 „Einwohner“,135 „zum Bundestag Wahlberechtigte“,136 „Mitglieder des Bundestags“,137 „Stimmen“ (im Bundestag,138 im Gemeinsamen Ausschuss,139 im Bundesrat140 bzw. der Länder im Bundesrat141), „Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses“,142 „Wahlgänge“,143 „Richter“144 und „Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts“.145 An den Bezugsgruppen der Mengenangaben des Grundgesetzes wird die (fast) ausschließliche Zahlenverwendung des Grundgesetzes in Organisations- und Verfahrensvorschriften erkennbar. Die dargestellten Größenarten bzw. Bezugsgruppen können spezifischen Sachbereichen des Grundgesetzes zugeordnet werden. Zahlen, die staatsbürgerliche Rechte und Pflichten konkretisieren, sind ausschließlich Altersangaben. Bei den Zahlen, die zur Organisation des demokratischen Prozesses herangezogen werden,

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Siehe Art. 115k Abs. 3 Satz 1 GG. Bsp.: Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG. 125 Bsp.: Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG. 126 Bsp.: Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG. 127 Bsp.: Art. 67 Abs. 2 GG. 128 Siehe Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG. 129 Bsp.: Art. 104a Abs. 6 Satz 2 und 3 GG. 130 Siehe Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG. 131 Bsp.: Art. 109 Abs. 3 Satz 4 GG. 132 Siehe Art. 112 Abs. 2 GG. 133 Siehe Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG. 134 Siehe Art. 52 Abs. 2 Satz 2 GG. 135 Bsp.: Art. 29 Abs. 4 GG. 136 Bsp.: Art. 29 Abs. 4 GG. 137 Bsp.: Art.. 39 Abs. 3 Satz 3 GG. 138 Bsp.: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG (die „Zweidrittelmehrheit“ bezieht sich auf Stimmen des Bundestags). 139 Bsp.: Art. 115a Abs. 2 GG. 140 Bsp.: Art. 61 Abs. 1 Satz 3 GG. 141 Siehe Art. 51 Abs. 2 GG. 142 Siehe Art. 53a Abs. 1 Satz 1 GG („Der Gemeinsame Ausschuß besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestags, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrats.“). 143 Siehe Art. 54 Abs. 6 Satz 2 GG. 144 Siehe Art. 13 Abs. 3 Satz 3 GG. 145 Siehe Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG („je zur Hälfte“ als Zahlwort) und Art. 98 Abs. 2 Satz 1 GG (die „Zweidrittelmehrheit“ bezieht sich auf die Mitglieder/Richter des Bundesverfassungsgerichts). 124

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

handelt es sich um sonstige Zeitangaben. Hier finden sich auch die Mengenangaben des Grundgesetzes. Geld wird ausschließlich von den finanzverfassungsrechtlichen Regeln146 in Bezug genommen. Bei den Zahlen in den Übergangs- und Schlussbestimmungen handelt es sich fast ausschließlich147 um Zeitangaben, überwiegend in der Form von Daten.

B. Weitere verfassungsrechtliche Normierungen mit numerischer Relevanz Weitet man den Blick und bezieht nicht nur Zahlen, sondern auch sonstige Normierungen des Grundgesetzes mit numerischer Relevanz in die Analyse mit ein, kristallisieren sich drei weitere Regelungstypen in der Verfassung heraus. Es kann zwischen – den schon bekannten – expliziten sowie impliziten Zahlenangaben und verfassungsrechtlichen Aufträgen bzw. Ermächtigungen zur Quantifizierung unterschieden werden.

I. Implizite, versteckte Zahlenangaben Bei den Ziffern und Zahlwörtern handelt es sich um explizite, offene Zahlenangaben. Implizite, versteckte Zahlenangaben sind weder Ziffern noch Zahlwörter. Auf Verfassungsebene wird keine konkrete Zahl festgelegt, die impliziten Zahlenangaben verfügen aber über numerische Relevanz und sind mehr noch auf die ­Umformung bzw. Konkretisierung in Zahlen im konkreten Fall angelegt.148 Dies ändert nichts daran, dass sich auch die Bedeutung der impliziten Zahlenangaben im Hinblick auf den Verwendungskontext konstituiert. Ihre Konkretisierung in Zahlen erfolgt vor allem dann, wenn sie auf einen zahlengeprägten Sachverhalt angewendet werden. Überhaupt ist die Verwendung zahlenaffiner Begriffe den­ geregelten (zahlengeprägten) Verhältnissen geschuldet.149 146 Zu ihnen wird an dieser Stelle auch die Annexbestimmung des Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG gezählt, der den Höchstbetrag an Konsolidierungshilfen für finanzschwache Länder angesichts der nunmehr in Art.  109 Abs.  3 GG verankerten Schuldenbremse festsetzt (= 800 Millionen Euro). 147 Eine Ausnahme ist 143d Abs.  2 Satz 1 GG, der einen Geldbetrag festsetzt (800 Millionen Euro). 148 Die impliziten, versteckten Zahlenangaben im Grundgesetz haben mit den „versteckten“ Zahlwörtern Karl Menningers nichts gemein. Dabei handelt es sich um Wörter, in denen „ein Zahlwort tragendes Bild ist“ (Bsp.: „Zwielicht“). Hierzu ders., Zahlwort und Ziffer, Bd.  1, 2. Aufl. 1957, S. 13 u. 182 ff. (Zitate S. 182). 149 Dies erklärt die Verankerung von Zahlen, Zahlwörtern und impliziten Zahlenangaben bei der Regelung des Finanzausgleichs durch das Grundgesetz. Er wird in Geld abgewickelt und ist daher bereits vor dem verfassungsnormativen Zugriff zahlengeprägt. Zur Zahlenprägung der Verfassungsvorschriften zum Finanzausgleich und zur Verwendung impliziter Zahlwörter ebd. unter A. III. 3. im 1. Kapitel des zweiten Teils.

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1. Implizite bestimmte Zahlenangaben Die erste Gruppe der impliziten Zahlenangaben im Verfassungstext sind Begriffe mit einer bestimmten numerischen Bedeutung. Hierzu gehören zunächst Ausdrücke, die in Zahlen umgeformt werden können und bei deren Umformung in Zahlen unabhängig vom konkreten Sachverhalt kein bzw. allenfalls ein geringer Spielraum besteht:150 z. B. „alle“,151 „allgemein und nicht nur für den Einzelfall“,152 „jederzeit“,153 „niemand“,154 „zu keiner Zeit“.155 Die vorgenannten Begriffen sind schon deshalb bestimmt, weil es sich nicht um Teilmengen (weniger als alles, mehr als nichts) handelt (in Zahlen: ∞ oder 0). Eine etwaige Begrenzung erfolgt erst durch Bezugsgruppen, z. B. „alle Deutschen“ (Art. 8 Abs. 1 GG). Die Umformung in Zahlen kann eine Verhältnisbestimmung bzw. Rechenoperation erfordern, bei der ggf. einfachgesetzliche Bestimmungen heranzuziehen sind: z. B. „Volljährigkeit“,156 „gleiche Anzahl von Mitgliedern“157 oder „Mehrheit der Mitglieder“.158 Der Übergang zu den Zahlwörtern ist fließend. Die Wendung „Mehrheit der Mitglieder“ lässt sich als „mehr als die Hälfte der Mitglieder“ ausdrücken. 150 Dies bedeutet nicht, dass Sachverhaltsangaben nicht erforderlich sein können, um bestimmte implizite numerische Angaben in Zahlen umzuformen, z. B. in Art.  12a Abs.  5 Satz 1 GG („Für die Zeit vor dem Verteidigungsfall können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Art. 80a Abs. 1 begründet werden.“). 151 Bsp.: Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG („Sie [die Menschenwürde] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“), Art. 3 Abs. 1 GG („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) und Art. 8 Abs. 1 GG („Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“). 152 Siehe Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG („Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten.“). 153 Bsp.: Art. 115l Abs. 1 Satz 1 GG („Der Bundestag kann jederzeit mit Zustimmung des Bundesrates Gesetze des Gemeinsamen Ausschusses aufheben.“). 154 Bsp.: Art. 3 Abs. 3  GG („Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung […] benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“). 155 Siehe Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG („Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung, die er im Bundestag […] getan hat, […] verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestags zur Verantwortung gezogen werden.“). 156 Siehe Art. 38 Abs. 2 GG. 157 Bsp.: Art.  54 Abs.  3 GG („Die Bundesversammlung besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder […] gewählt werden.“). Zur Bestimmung der Zahl der Mitglieder, die die Landtage entsenden, muss zunächst die einfachgesetzlich vorgeschriebene Zahl an Mandaten im Bundestag ermittelt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG). 158 Bsp.: Art.  54 Abs.  6 Satz 1 GG („Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit­ glieder der Bundesversammlung erhält.“). Ob diese Anforderung erfüllt ist, hängt davon ab, wie viele Mitglieder die Bundesversammlung hat und ab welchem Schwellenwert eine Mehrheit der Mitgliederzahl erreicht ist. Vgl. auch Art.  42 Abs.  2 Satz 1 GG („Mehrheit der ab­ gegebenen Stimmen [im Bundestag]“).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Zu den impliziten, aber bestimmten Zahlenangaben gehören außerdem Begriffe, bei deren Konkretisierung angesichts des konkreten Sachverhalts nur eine Zahl, ein Zeitpunkt bzw. eine enge Zahlen- oder Zeitspanne in Betracht kommt, z. B. „sofort“,159 „frühestmöglich[…]“,160 „unverzüglich“.161 Es wird in diesem ­Zusammenhang deutlich, dass sich die Abgrenzung der bestimmten von den un­bestimmten, impliziten Zahlwörtern nicht trennscharf vornehmen lässt. In der Regel eröffnet auch die Forderung des „sofort[igen]“, „frühestmöglichen“ oder „unverzüglich[en]“ Handelns angesichts der konkreten Umstände eine gewisse Zeitspanne zum Tätigwerden.162 Zu den bestimmten, implizite Zahlenangaben sollen auch all diejenigen gezählt werden, die ver­ elchem Maße die verfassungsrechtlichen Vorgleichsweise bestimmt sind. In w gaben (un-)bestimmt sind, ist auch davon abhängig, ob der jeweils relevante Zeitpunkt wie bei der „unverzüglich[en]“ Hinzuziehung des Richters nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG objektiv und ex post163 oder subjektiv und ex ante festgelegt wird. 2. Implizite unbestimmte Zahlenangaben Von den impliziten, bestimmten Zahlenangaben sind solche Begriffe und Wendungen zu unterscheiden, die zwar eher als andere Verfassungsrechtsbegriffe auf die Konkretisierung in Zahlen angelegt sind, aber keine punktgenaue Eingrenzung auf Verfassungsebene vornehmen und auch in Anbetracht des konkreten Sachverhalts einen Spielraum bei der Beurteilung, ob die verfassungsrechtlichen Vorgaben eingehalten wurden, eröffnen. Ihre Quantifizierbarkeit nimmt sie nicht von der allgemein beobachtbaren Unbestimmtheit der Verfassung aus. „Rechtzeitig“,164 „angemessen“,165 „in regelmäßigen Zeit­abstän­

159 Siehe Art. 115a Abs. 4 Satz 1 GG („Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen […].“). 160 Siehe Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG („Die Bundesregierung hat den Bundestag und -rat [in­ Angelegenheiten der Europäischen Union] umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu­ unterrichten.“). 161 Bsp.: Art. 104 Abs. 3 Satz 2 GG („Der Richter hat [nach Vernehmung des vorläufig Festgenommenen] unverzüglich entweder einen […] Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen.“). 162 Zur Bedeutung von „unverzüglich“ Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 104 Rn. 25. Nach einer Entscheidung des OVG NRW ist demnach in der Regel eine Zeitspanne von zwei bis drei Stunden, innerhalb der ein Richter hinzugezogen wird, verfassungsgemäß. 163 Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 104 Rn. 25. 164 Bsp.: Art. 32 Abs. 2 GG („Vor dem Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, ist das Land rechtzeitig zu hören.“). 165 Siehe Art. 36 Abs. 1 Satz 1 GG („Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus ­allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden.“).

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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den“166 oder „sobald die Umstände es zulassen“167 sind implizite, unbestimmte Zahlenangaben.

II. Ausdrückliche verfassungsrechtliche Anordnungen und Ermächtigungen zur Zahlenfestlegung und zur Quantifizierung der Verfassung Die Verfassung normiert explizit Anordnungen und Ermächtigungen zur Festlegung von Zahlen und zur Konkretisierung unbestimmter verfassungsrechtlicher Vorgaben zu Zahlen (Quantifizierung168). Nach Art.  13 Abs.  3 Satz 2 GG sind Maßnahmen der akustischen Wohnraumüberwachung zu befristen. Es wird die Festlegung von Zahlen angeordnet. Auf eine einfachgesetzliche Ermächtigung zur Zahlenfestlegung verweist Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG. Demnach ist den Gemeinden eine „mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle“ einzuräumen. Zum Teil werden qualitative Vorgaben für die Zahlengenerierung aufgezählt. Dies ist in Art. 106 Abs. 3 Satz 3–5 GG der Fall. Nach Art. 106 Abs. 3 Satz 3 GG bestimmt der Bundesgesetzgeber die Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern. Er quantifiziert dann die in den Sätzen 4 und 5 aufgezählten unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben. Zum Teil ist dem Bundesgesetzgeber wie in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG auch die Festlegung eines Rechenverfahrens zur Quantifizierung aufgegeben. 2. Kapitel

Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext Das Grundgesetz als Kommunikationssystem öffnet sich der sprachwissenschaftlichen Strukturanalyse. Sie legt die (gegensätzlichen) linguistischen Spezifika von Zahlen im verfassungsrechtlichen Zeichenrepertoire frei. Es wird hierdurch das Spannungsfeld, das durch die Unterwerfung von Zahlen unter die Eigenrationalität des Grundgesetztextes bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung außerrechtlicher Rationalität(-serwartungen) eröffnet wird,169 aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive konkretisiert. Die höchstmögliche begriffliche Schärfe von Zahlen im­ 166 Art. 104b Abs. 2 Satz 2 GG („Die Mittel [Finanzhilfen für bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden] sind […] hinsichtlich ihrer Verwendung in regelmäßigen Zeitabständen zu überprüfen“). 167 Bsp.: Art. 115a Abs. 4 Satz 2 GG („Der Bundespräsident gibt diesen Zeitpunkt [Beginn des Angriffs bzw. Eintritt des Verteidigungsfalls] bekannt, sobald die Umstände es zulassen.“). 168 Zur Definition der Quantifizierung ausführlich unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 169 Siehe in diesem Zusammenhang bereits die Ausführungen unter A. II. 4. im 1. Kapitel des zweiten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Verfassungsrecht, die in diesem Zusammenhang herausgearbeitet werden wird, deutet angesichts einer ebensolchen Unschärfe unbestimmter Verfassungsbestimmungen bereits die Schwierigkeiten einer rational nachvollziehbaren verfassungsgerichtlichen Quantifizierung an. Zunächst ist die linguistische Perspektive jedoch Erklärungsgrundlage für die Art, das Ausmaß und die Veränderungsoffenheit der Zahlenverwendung im Grundgesetz.

A. Ansatzpunkte für eine sprachwissenschaftliche Analyse I. Das Grundgesetz als Zeichen- und Kommunikationssystem Wenn die Zahlenverwendung im Grundgesetz und die Transformationsmodalitäten unbestimmter verfassungsrechtlicher Vorgaben zu Zahlen untersucht werden, liegt die Einnahme einer Perspektive auf das Recht nahe, die seiner Eigenschaft als (Fach-)Sprache170 Rechnung trägt. Unter Berücksichtigung ihrer sozialen Dimension stellen sich das Recht im Allgemeinen und das Verfassungsrecht im Besonderen als Kommunikationssysteme171 dar. „Law is an ongoing and ever evolving conversation.“ (Ronald Dworkin)172 Das Grundgesetz ist schriftlich fixierter, mit Geltungskraft ausgestatteter Teil  des Kommunikationssystems Verfassungsrecht, das der Produktion, Speicherung, Verarbeitung und dem Austausch verfassungsrechtlicher Informationen dient.173 Die Charakterisierung als Kommunikationssystem bedeutet einen spezifischen Beschreibungsmodus von Verfassungsrecht und öffnet das Grundgesetz als Rechtsdokument174 für eine Strukturanalyse im Lichte 170 Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 5 Rn. 150 („Es gibt kein Recht außerhalb der Sprache.“). 171 Die Bezeichnung des Rechts als Kommunikationssystem soll nicht die durchgängige Einnahme einer systemtheoretischen Sicht durch die Verf. anzeigen. Systemtheoretische Einsichten werden nur punktuell fruchtbar gemacht. Dies ist möglich, denn die Systemtheorie formuliert keine normativ bindenden Weichenstellungen für die Verfassungsanalyse. Sie bedeutet eine soziologische Sicht auf die Gesellschaft als tatsächliches Phänomen, deren Subsysteme und systemspezifische Kommunikationen. Aus der verfassungsrechtlichen Binnensicht, die sich an einem spezifischen Normenbestand ausrichtet und vom Mensch als Erkenntnissubjekt ausgeht, verfügt sie nur eingeschränkt über Erklärungswert. Erkenntnisgegenstand und -subjekt von Verfassungsrecht und Systemtheorie sind diametral verschieden. Oliver ­Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (136 ff.). Zur Ausblendung des Menschen in der Systemtheorie Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 66 ff. 172 Nach Scott Anderson, Vortrag zum Thema „Once and for All: The Manifold Contexts of Adjudication“ im Rahmen der Tagung „Pragmatist and Contextualist Approaches to Vagueness in Legal Theory and in Philosophy“ in Freiburg i. Br. (1.–3. Juli 2011). 173 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 19. 174 Im ungeschriebenen Verfassungsrecht finden sich keine Zahlen. Siehe etwa die „Ausgangsliste“ bei Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 3 (Zitat ebd.), weitere (umstrittene) ungeschriebene Rechtssätze auf S. 4 f. Zur Existenz ungeschriebenen Verfassungsrechts auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 14 Rn. 34.

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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der Sprach- und Medienwissenschaften. Nachfolgend werden die semantischen, semiotischen und kommunikationstheoretischen Besonderheiten von Zahlen im Vergleich zum übrigen Verfassungstext untersucht.

II. Zahlen als Zeichen im Verfassungstext In einem Kommunikationssystem bedarf es Zeichen als Träger der Informa­ tions­speicherung und -übermittlung.175 Zahlen, d. h. Ziffern und Zahlwörter, sind eigenständige Zeichen.176 Sie sind mehr als Zeichenbestandteile, zu denen die Morpheme als kleinste bedeutungstragende Einheiten und die (die Morpheme strukturierenden, aber selbst) bedeutungslosen Phoneme177 gehören. Die optische Ähnlichkeit von Buchstaben als Zeichenbestandteilen und Ziffern als Zeichen täuscht hierüber zunächst hinweg. Den kategorialen Unterschied von Buchstaben und Ziffern enthüllt die – bei Buchstaben fehlende – Möglichkeit der Umwandlung der Ziffern in Zahlwörter. Zahlen sind in das Grundgesetz, das als Zeichensystem die deutsche Sprache verwendet, eingebunden.178 Sie bilden innerhalb des Verfassungstextes kein unterscheidbares Zeichensystem. Diese Integration von Zahlen ist hervorhebenswert, denn nichtnumerische, d. h. sich aus Buchstaben zusammensetzende Zeichen, sind im Verfassungstext dominant. Die Bildhaftigkeit der Zahlen bedeutet außerdem eine besondere Stellung im Zeichenrepertoire des Verfassungsrechts. Zwar handelt es sich bei Bildern um spezifische Zeichen, die sich nach ihrer semiotischen Struktur und kognitiven Verarbeitung vom reinen Text und Zahlen als Textbestandteilen unterscheiden:179 Während der „geschriebene Text […] linear produziert und sukzessive rezipiert“ wird, erfolgt die Wahrnehmung von Bildern „simultan und holistisch“.180 Anders als Zahlen und der sie integrierende Text verfügen Bilder nicht über eine „Struktur der zweifachen Gliederung“. Bilder lassen sich nicht in bedeutungsleere, 175

Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 19. Zu Zahlen als Sprechakten bereits unter A. im 1. Kapitel des ersten Teils. 177 Die Unterscheidung von zwei Ebenen in der Struktur der Sprache ([1] Ebene der Zeichen, [2] Ebene der Morpheme und Phoneme bzw. Grapheme [geschriebene Sprache]) nennt sich „Prinzip der doppelten Gliederung“ („double articulation“, Martinet). Es ist Charakteristikum der menschlichen Sprache. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 333 f. (Zitat S. 333). 178 Einen Hinweis hinsichtlich der Charakterisierung von Zahlen als Bestandteile von Rechtstexten geben Klaus F. Röhl und Stefan Ulbrich, wenn sie von der Kombination „nichttextliche[r] Mitteilungsformen mit Buchstaben und Zahlen“ sprechen. Dies., Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (356, Zitat ebd.). 179 Eine klare kategoriale Trennung zwischen dem (geschriebenen) Verfassungsrecht und Bildern besteht jedoch nicht. Es lässt sich ein fließender Übergang von der Schrift zum Bild beobachten. Das Grundgesetz ist „Schriftbild“, nicht ununterbrochener „Fließtext“. Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie  21 (2000), Heft 2, S. 355 (364). 180 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 481 (Zitate ebd.). 176

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

kleinste Einheiten zerteilen. Jedenfalls fehlt ihnen ein abgeschlossenes Programm an „Minimaleinheiten“, das sich mit den Buchstaben eines Textes vergleichen ließe.181 Zahlen als Ziffern verfügen indes immer auch über Bildhaftigkeit, da sie den Fließtext durchbrechen und dadurch Aufmerksamkeit generieren (optischer „Blickfang“).182 Bereits vor einer semantischen (B.) und kommunikationstheore­ tischen Analyse (C.), bei der auf die Parallelen und Unterschiede von Zahlen und Bildern zurückzukommen sein wird, ist klar, dass die Integration von Zahlen in den Verfassungstext eingeschränkt ist. Zahlen gliedern sich (auch optisch) in den Verfassungstext ein und durchbrechen ihn zugleich.

III. Einbindung von Zahlen in eine im Übrigen höchst unbestimmte Verfassung Wenn Zahlen Bestandteile des Verfassungstextes sind, ist eben dieser ein semantisches Spannungsfeld, denn die Vorschriften des Grundgesetzes, in die Zahlen eingebunden sind, sind vor allem unbestimmt. Der Terminus „unbestimmt“ wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne der fachsprachlichen Konventionen der (nicht immer sprachtheoretisch sensiblen) Rechtswissenschaft und nicht im Sinne der engeren Begriffsbedeutung verwendet: Er zeigt nicht an, dass keine Bedeutung eines Begriffs ausgemacht werden kann. Mit Unbestimmtheit ist die Vagheit der Verfassungsrechtsbegriffe gemeint.183 Vagheit bezeichnet deren sprachliche Unschärfe, das heißt ihre Bedeutung, der bezeichnete Ausschnitt der „Wirklichkeit“, kann nicht präzise nachgezeichnet werden.184 181 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 481 (Zitate ebd.). Siehe in diesem Zusammenhang auch Manfred Muckenhaupt, Text und Bild, 1986. Zu den Charakteristika von Rechtstexten und Bildern im Recht sowie dem Bildpotential von Rechtstexten Colette Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen, 2001. 182 Vgl. Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (378, Zitat ebd.). 183 So auch Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 27. Klaus F. Röhl u. Hans Christian Röhl unterscheiden die Vagheit von der Mehrdeutigkeit. Hierzu dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 33 f. 184 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34: „Ein Begriff ist vage, wenn der Begriffsumfang (die Extension) unscharf ist; wenn es also Gegenstände gibt, von denen nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, ob sie zu der Menge von Objekten gehören, die mit diesem Begriff bezeichnet werden.“ Andreas Sethy verwendet an Stelle des Terminus der Vagheit und entsprechend der soeben im Text angesprochenen fachsprachlichen Konvention den der Unbestimmtheit und spricht von unbestimmten Gesetzesbegriffen. Ders., Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S.  11 ff. Sethy erhellt den Bezugspunkt der Unbestimmtheit, indem er eine präzise Terminologie einführt, wonach der „Begriff“ vom „Ausdruck“ zu unterscheiden ist: „Begriff ist: was gemeint wird“; also das, „worauf unser Denken […] zielt.“ Ebd., S. 12 f. Kommuniziert wird in „Ausdrücke[n], die „auf­ Begriffe Bezug“ nehmen. „Der Begriff ist die Bedeutung eines Ausdruckes.“ Ebd., S. 13 f. Unbestimmt sei immer nur der Ausdruck bzw. Unbestimmtheit erwachse aus der Zuordnung des Begriffs zum Ausdruck; die Begriffe selbst seien nicht unbestimmt. Ebd., S. 14 f., 18. Über eine

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Die begriffliche (Un-)Schärfe des Verfassungsrechts kann im Anschluss an­ Philipp Heck und Georg Jellinek nachvollzogen werden. Heck und Jellinek nehmen eine spezifische Struktur von Gesetzesbegriffen an. Sie machen einen präzisen Begriffskern aus und grenzen ihn vom sogenannten Begriffshof ab. Der Begriffskern reiche so weit, wie sich der Begriffsinhalt ohne weiteres erschließe. Unter ihn könne eindeutig subsumiert werden. Im Begriffshof sei unklar, welche Fälle erfasst seien.185 Ein umfassenderes Abbild der Begriffsbedeutung ergibt sich, wenn die Zweiteilung in Begriffskern und Begriffshof zu einer Dreiteilung erweitert wird. Der Begriffskern muss um ein negatives Pendant ergänzt bzw. um den Begriffshof ein „[…]Außenbereich“186 gedacht werden. Es können nicht nur Objekte ausgemacht werden, die eindeutig unter einen bestimmten Begriff fallen und solche, deren Zuordnung zu einem Begriff zweifelhaft ist. Einige Objekte bezeichnet ein bestimmter Begriff auch eindeutig nicht.187 Die Annahme eines „eindeutigen Begriffskern[s]“ verweist nicht auf eine absolute Bedeutung im Sinne einer vorgegeben, festen „Relation von Begriff und Bedeutung“. Die im Kernbereich gegebene Eindeutigkeit ist immer Korrelat eines jeweils gefestigten Begriffsgebrauchs,188 denn Bedeutung ist keine den Begriffen inne wohnende Eigenschaft, sondern Folge kommunikativer Interaktion.189 Bei unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffen ist der von Heck und Jellinek ausgemachte Begriffshof naturgegebene Unbestimmtheit angesichts der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten hinaus sei ein Ausdruck dann unbestimmt, wenn „ein Begriff […] aus dem Ausdruck schwierig oder nicht mit Eindeutigkeit vermittelt werden kann“. Ebd., S. 15. Er verweist auf Karl Engisch, der einen „Begriff“ (Ausdruck) als unbestimmt qualifiziert, wenn „dessen Inhalt und Umfang weitgehend ungewiss ist.“ (Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S.  140), ebd., S. 15 f. Statt vom unbestimmten Gesetzesbegriff wäre es präziser vom unbestimmten Gesetzesausdruck zu sprechen. Ebd., S. 18. Die Unbestimmtheit von Gesetzesbegriffen ist damit Sonderfall der Unbestimmtheit von Sprache überhaupt, siehe dazu auch die Ausführungen unter B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils. Zum Zusammenhang der Unbestimmtheit von Umgangs- und Rechtssprache Fn. 227 im zweiten Teil. 185 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3.  Aufl. 2008, S.  34;­ Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (171 ff., 176 ff.). Nach Jesch kann an Stelle des Bilds von Begriffskern und -hof strenggenommen nicht davon gesprochen werden, der Rechtsanwender sei durch einen Rechtsbegriff wie durch einen Rahmen gebunden. Ein Rahmen zeichne sich dadurch aus, dass er die Grenzen und damit den Inhalt des Begriffs umfassend festlege. Ders., ebd., S. 172, Fn. 36. Anders Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 347 ff. (siehe hierzu auch Fn. 21 im dritten Teil der Arbeit). Zur Verfassung als „Rahmenordnung“ anknüpfend an Ernst-Wolfgang Böckenförde und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa BVerfGE 86, 148 [241]) siehe die Ausführungen unter A. II. im 5. Kapitel des dritten Teils. 186 Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 223. 187 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 35. 188 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 35 (Zitate ebd.), 42 f. 189 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 42 f. (sog. Gebrauchstheorie der Bedeutung). Siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. Demnach wird in der Binnensicht des deutschen Verfassungsrechtssystems die Generierung zur Vorfindlichkeit von Bedeutung idealisiert.

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besonders weit, der Begriffskern entsprechend klein.190 Zahlen im Verfassungsrecht sind jedenfalls vergleichsweise bestimmt. Ob bei ihnen überhaupt ein Begriffshof besteht, bedarf im Zusammenhang der Aufdeckung ihrer semantischen Spezifika ­gesonderter Untersuchung.191

B. Semantische Spezifika von Zahlen in der Verfassung Die Semantik beschäftigt sich mit der Bedeutung sprachlicher Zeichen.192 Vorliegend soll nicht die Bedeutung konkreter Zahlen im Verfassungstext ermittelt werden. Gegenstand der folgenden Ausführungen sind die übergreifenden semantischen Spezifika der Zahlen im Verhältnis zum übrigen Verfassungstext.193 Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Zahlen in der Regel mit einem naturwissenschaftlichen Verwendungskontext assoziiert werden. Die semantischen Voraussetzungen und Folgen ihrer Integration in verschiedene sprachliche Systeme werden darüber vernachlässigt. Semantische Spezifika von Zahlen im naturwissenschaftlichen Verwendungskontext dürfen nicht unbesehen auf das Verfassungsrecht übertragen werden. Zahlen verfügen als Zeichen im Verfassungstext über eine spezifische verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Auswirkungen ihrer Integration in den Verfassungstext sind ambivalent. Zahlen im Verfassungstext bewahren sich einerseits semantische Autonomie, unterwerfen sich andererseits der verfassungsrechtlichen Eigenrationalität.194 Die semantische Analyse stützt damit die eingangs gemachte Beobachtung der Sonderstellung von Zahlen im Verfassungstext. 190 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (177 f.). 191 Siehe sogleich die Ausführungen unter B. II. 2. Die unterschiedenen Bedeutungssphären sind nicht nur für die Bestimmtheit von Zahlen in der Verfassung, sondern auch für Entscheidungsspielräume des (Verfassungs-)Richters im Allgemeinen (unter B. I. und II. im 4. Kapitel des dritten Teils) und bei der Quantifizierung von Verfassungsrecht (unter C. II. und C. II. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils) relevant. 192 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 152, 158; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 25, 29.  193 Es soll vorliegend nach den übergreifenden Charakteristika, die die Bedeutung von ­Zahlen betreffen, gesucht werden. Es wird daher der sprachwissenschaftliche Terminus der Semantik verwendet. Die juristische Hermeneutik bezieht die Verf. demgegenüber auf den Sinn einzelner Rechtsnormen bzw. -begriffe. Es soll außerdem nicht erörtert werden, ob die Bedeutung der Interpretation vorangeht, also feststeht und nur noch ermittelt werden muss, oder im Rahmen der Interpretation erst generiert wird und es geht auch nicht darum, inwieweit sprach­ theoretische Erklärungsansätze zur Konstituierung von Bedeutung auf das Recht übertragbar sind. Siehe hierzu die Ausführungen zu postmodernen Methodenvorstellungen unter A. II. und zur Idealität (verfassungs-)gerichtlicher Methodik im Geltungsbereich des Grundgesetzes unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 194 Die Verwendung von Zahlen im naturwissenschaftlichen und (verfassungs-)rechtlichen, d. h. geisteswissenschaftlichen Verwendungskontext wird vergleichend in den Blick genommen. Eine zeitliche Aussage im Sinne einer ursprünglichen und abgeleiteten Verwendung soll nicht getroffen werden. Dies ergibt sich bereits aus den Ausführungen zum anthropologischen

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I. Bedeutungsschwäche als Voraussetzung der Integration in den Verfassungstext Dass Zahlen systemübergreifende, umgangs- und fachsprachliche Verwendung finden, liegt an ihrer semantischen Neutralität. Zahlen typisieren. Sie charakterisieren das bezifferte Objekt der beschriebenen „(Rechts-)Wirklichkeit“ und bedeuten zugleich eine höchstmögliche Abstraktion von dessen individuellen Besonderheiten.195 Es lässt sich die Beobachtung Uwe Pörksens zur Typisierungsintensität bestimmter wissenschaftlicher Fachtermini, deren Verwendung er außerhalb ihrer ursprünglichen Kommunikationszusammenhänge untersucht, übertragen: „Sie [im vorliegenden Zusammenhang die Zahlen] deuten Lebensgeschichten um in Naturvorgänge und sagen: Im Grunde ist alles dasselbe.“196 Zahlen sind außerdem nicht fest in einen bestimmten lokalen, sozialen oder historischen Bedeutungszusammenhang eingebunden.197 Sie verfügen – isoliert vom Begleittext betrachtet – über keine genuine fach- bzw. systemspezifische Bedeutung, d. h. es handelt sich nicht um Fachtermini. Die „bedeutungstransportierende […] Funktion“ von Zahlen ist im Vergleich zur nichtnumerischen Sprache schwach ausgeprägt.198 Zahlen geben bloß eine bestimmte Menge an („Zahlen können nur Zahlen kommunizieren.“199). ­Darüber hinausgehende Bedeutung schaffen erst Zahlenkombinationen, textliche Bezüge oder (mystisches oder historisches) Hintergrundwissen. Die Zahlenkombinationen „0190“ (Verweis auf kostenpflichtige Sex-Hotlines), „08/15“ (Redewendung für etwas Durchschnittliches, Gewöhnliches) oder „88“ (Verwendung von politisch Rechten für „Heil Hitler“, 8 jeweils für die 8. Position im Alphabet) verfügen zwar über eine Bedeutung, die über die Angabe eines Wertes bzw. einer Menge hinausgeht. Die Zahlen sind aber nicht per se semantisch belegt. Ihre weitergehende Bedeutung ergibt sich erst aus einem bestimmten Verwendungsbzw. Kommunikationszusammenhang und die Aufdeckung dieser Bedeutung erfordert Hintergrundwissen. Dies unterscheidet Zahlen von Bildern, die selbst­ ständig – etwa mittels der Bildkomposition – weitergehende Bedeutung generieren Ursprung von Zahlen, im Rahmen derer ihre Orientierungsfunktion in der natürlichen Umwelt und sozialen Gemeinschaft nachgezeichnet wurde. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass es mit der Formulierung erster Rechtsregeln auch Zahlen im Recht gab, denn Recht verlangt einen gewissen Komplexitätsgrad einer sozialen Gemeinschaft. 195 Vgl. Armin Pahlke, Typusbegriff und Typisierung, DStR-Beih 2011, S.  66 (ebd.). Die Typisierung ist von der Pauschalierung, die eine Einschränkung der Bemessungsgenauigkeit bedeutet, zu unterscheiden. Zur Pauschalierung im Steuerrecht Armin Pahlke, ebd., S.  68. Im Steuerrecht ist die Pauschalierung ein Sonderfall der Typisierung und bezieht sich auf die „rechnerischen Grundlagen“ der Besteuerung (ebd.). 196 Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 278. 197 Vgl. Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 277 f. 198 Vgl. die Ausführungen zu Bildern bei Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (357 [Zitat ebd.], 372 f.). 199 Otto Depenheuer, Vermessenes Recht, 2013, S. 12.

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können.200 Zahlen allein ist es aufgrund dessen nicht möglich, ihre Zugehörigkeit zu einem spezifischen Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft wie zum (Verfassungs-)Rechtssystem zu erkennen zu geben. Der fehlende selbstständige Verweis auf die Orientierung am Rechts-/Unrechts-Code, der die Ausdifferenzierung des Rechtssystems leitet,201 bedeutet im Vergleich zu Bildern im Recht, die „ihre Zugehörigkeit zum Rechtssystem [nur] nicht so leicht zu erkennen [geben] wie Text“, die „nicht so einfach […] auf den […] Rechts/Unrechts-Code verweisen können“,202 eine Radikalisierung. Ihren spezifisch rechtlichen Aussagegehalt erhalten Zahlen erst durch Einbindung in den Verfassungstext. Das Grundgesetz wandelt mittels Zahl-/Text-Kombinationen die bloße Bezeichnung einer Anzahl in verfassungsrechtliche Bedeutung. Dem Verfassungsrecht sind bei der Verwendung von Zahlen zur Generierung spezifisch rechtlicher Aussagen daher Grenzen gesetzt.

II. Bedeutungskonstante: Bewahrung semantischer Autonomie von Zahlen in der Verfassung Zahlen verfügen über systemübergreifende semantische Spezifika, die Zahlen außerhalb der Verfassung kennzeichnen und im Verfassungstext erhalten bleiben. 1. Eindringen naturwissenschaftlicher Rationalitätserwartungen in das Verfassungsrecht Zahlen wohnt bei der Verwendung in verschiedenen Kommunikationssystemen insoweit eine Bedeutungskonstante inne, als sie naturwissenschaftlicher Rationalität bzw. außerhalb der naturwissenschaftlichen Kommunikation jedenfalls naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen unterliegen.203 Diese Zuschreibung 200 Vgl. die Ausführungen von Klaus F. Röhl und Stefan Ulbrich zu Bildern: „[…] ohne Worte sagt ein isoliertes Bild eigentlich gar nichts. Es bezeichnet nur, ähnlich wie ein Name, einen oder mehrere Gegenstände. Es muß etwas hinzukommen, eine sprachliche Erläuterung, ein Kontext oder eine Konvention, oder das Bild selbst muss komponiert sein, damit es Bedeutung erhält, damit es etwas sagt.“ Dies., Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (372). 201 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 165 ff. 202 Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (Zitat S. 357 [Kursivsetzung durch Verf.], siehe auch S. 384). 203 Claus Peter Ortlieb spricht von der „Fiktion von Nachprüfbarkeit“ und der „Vorstellung […], die Exaktheit der Mathematik auf die eigene Wissenschaft übertragen zu können“, in „Ökonomie ist eigentlich keine Wissenschaft“, Interviewer: Alexander Marguier, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.  Mai 2010, S.  53. Für die Zuschreibung naturwissenschaftlicher Rationalität kann auch auf Uwe Pörksen verwiesen werden, der bestimmte wissen­schaftliche Fachtermini wie folgt charakterisiert: „Sie deuten Lebensgeschichten um

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naturwissenschaftlicher Rationalität – Bernhard Großfeld spricht vom „[Rationalitäts-]Zauber“ der Zahlen204 –, die sowohl aus der Außen- als auch Binnensicht eines Systems erfolgen kann, stellt nicht auf die tatsächlichen systemspezifischen Entscheidungsmechanismen ab. Sie ist darauf zurückzuführen, dass die naturwissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis typischerweise im Wege von Zahlen und quantitativer Methodik erfolgt. In diesem Sinne kann, auch wenn es sich bei den Zahlen nicht um naturwissenschaftliche Fachtermini handelt,205 von den Naturwissenschaften als Ursprungsgebiet der Zahlenverwendung in der Kommunikation gesprochen werden.206 Zahlen bleiben insoweit auch nach ihrer Integration in den Verfassungstext „etwas Sprödes“.207 Die naturwissenschaftliche Rationalität von Zahlen bedeutet neben ihrer (so weit als möglichen208) wertungsfreien Generierung und daraus resultierenden Objektivität ihre semantische Exaktheit.209 Zahlen nehmen, sofern sie im naturwissenschaftlich-fachsprachlichen Kontext verwendet werden, gegenüber der allgemeinen Unschärfe der Sprache eine semantische Ausnahmestellung ein. Ernst Cassirer veranschaulicht die Unbestimmtheit von Sprache im Allgemeinen, indem er sie als symbolische Handlungsform charakterisiert. Sprache sei „metaphorisch“, damit „unfähig, die Dinge direkt zu beschreiben“. Sie behelfe sich mit indirekten Darstellungsweisen sowie mehrdeutigen, unbestimmten Ausdrücken.210 „Der Zahlencode ist unverhältnismäßig besser geeignet als der Buchstabencode, um die Welt zu erkennen. Die Welt ist unbeschreiblich, aber sie ist perfekt zählbar.“211 Wenngleich die Beschreibbarkeit der „Welt“ durch Zahlen an Grenzen stößt,212 in Naturvorgänge und sagen: Im Grunde ist alles dasselbe.“ Ders., Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 278 (Kursivsetzung durch Verf.). Vgl. zum Spannungsfeld zugeschriebener und tatsächlich(er) (fehlender) Rationalität der Zahlen außerdem Bernhard Großfeld, der allerdings seinen Rationalitätsbegriff nicht näher spezifiziert. Ders., Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S.  197: „Zahlen stehen bei uns für Rationalität und Wahrheit […]. Wir­ sahen indes, daß Zahlen täuschen können; sie sind nicht so rational, so wahr, wie sie zu sein scheinen.“ 204 Ders., Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 197. 205 Siehe die Ausführungen soeben unter B. I. in diesem Kapitel. 206 So im Ergebnis auch Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: ClausWilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (560). Er spricht von der „naturwissenschaftlichem Denken entstammende[n], wenn auch als Begriff der Umgangssprache unentbehrliche[n] und in die Rechtssprache integrierte[n] Zahl“ (ebd.). 207 Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (560). 208 Siehe die Ausführungen unter B. II. 2.  im 2.  Kapitel und unter A. II. im 3.  Kapitel des­ ersten Teils. 209 Claus Peter Ortlieb, „Ökonomie ist eigentlich keine Wissenschaft“, Interviewer: Alexander Marguier, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.  Mai 2010, S.  53. Vgl. Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 275 f., 276 f. 210 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 171. 211 Vilém Flusser, Kommunikologie weiter denken, 2008, Rn. 122. 212 Siehe hierzu die Ausführungen unter C. im 3. Kapitel des ersten Teils.

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verweist diese These Vilém Flussers doch auf die Sonderstellung der naturwissenschaftlichen „Wirklichkeitserkenntnis“ in Zahlen auf der Skala gleitender sprachlicher (Un-)Bestimmtheit. Zahlen werden als Zeichen in der Mathematik als von der Unbestimmtheit der Alltagssprache gelöster exakter Kunstsprache verwendet und verfügen über eine „genau definierte[…]“ Bedeutung.213 Die Konkretheit der Zahlen bleibt in den anwendungsorientierten Naturwissenschaften, die mit Hilfe der Mathematik natürliche Phänomene zu beschreiben­ suchen,214 bestehen. Zahlen in den Naturwissenschaften sind also paradox, denn sie sind zugleich abstrakt und konkret und die gegensätzlichen Wesensmerkmale sind darüber hinaus voneinander abhängig. Während die nichtnumerische Sprache sowohl Konkretes als auch Abstraktes unmittelbar repräsentieren kann,215 kennzeichnet Zahlen ein Höchstmaß an Abstraktion216 und Konkretheit. Zahlen sind nicht nur abstrakt, weil sie Struktur für die „Wirklichkeit“ und daher von deren tatsächlichen Erscheinungen wesensverschieden sind.217 Sie sind auch abstrakt, weil sie nur auf eine einzelne Eigenschaft der „Wirklichkeit“ abstellen. Sie abstrahieren also von der Individualität der Erscheinungen und können überhaupt nur deshalb konkret sein.218 Die Anzahl der Nachkommastellen gibt über ihren Präzisionsgrad Auskunft, der damit über die Darstellung der Zahlen einsehbar wird.219 Weil ihr Präzisionsgrad genau bestimmt werden kann, verfügen die Zahlen zwar über einen Bedeutungsspielraum, aber keine Bedeutungsunsicherheiten.220 213

Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6.  Aufl. 2011, § 5 Rn.  186­ (Zitat ebd.). Siehe auch Karl Larenz, nach dem „eine mathematisierte Logik und Wissenschaftssprache […] in ihrem Umfang genau festgelegte Begriffe“ verwendet. Ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 312 (Zitat ebd.), 320 f. Zu abweichenden Ansichten, die (auch außerhalb des Rechts) von der sprachlichen Unbestimmtheit von Zahlen ausgehen, sogleich unter 2.  214 Siehe die Ausführungen unter A. II. im 2. Kapitel des ersten Teils. 215 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S. 482. 216 Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (562). 217 Siehe die Ausführungen unter B. II. im 1. Kapitel des ersten Teils. 218 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zur Begriffsbestimmung der Quantifizierung unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 219 Zahlen sind nur insoweit präzise, als Nachkommastellen tatsächlich angegeben werden. Nicht angegebene Nachkommastellen sind innerhalb der Rundungsmöglichkeiten unsicher. Das heißt 1 kann auch 0,5–0,9 bzw. 1,1–1,4; 1,1 auch 1,05–1,09 bzw. 1,11–1,14 bedeuten usw. Bei Bernhard Großfeld findet sich die These, die Zahl „g[e]lt[e] als vollendete Begrenzung“ und „steh[e] so neben dem Wort und der Schrift“. Ders., Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 201. Sprachtheoretisch ist dies zumindest missverständlich, denn auch die Zahl ist „Wort“ und „Schrift“ (siehe die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des ersten Teils und unter A. II. im 2. Kapitel des zweiten Teils). Großfelds These ist außerdem in ihrer Pauschalität nicht haltbar; es fehlt eine Differenzierung nach dem Verwendungssystem. 220 Vgl. die Ausführungen Wolfgang Bayers im Hinblick auf die Argumentationstheorie Chaim Perelmans: „Die Herausarbeitung einer Bedeutung nennt man Interpretation. Selbst die präzisesten Begriffe der Umgangssprache muß man sich nämlich noch mit einem Rand von Unbestimmtheit umgeben denken, der ausreicht, um sie auf die Wirklichkeit anwenden zu

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Die Unterwerfung der Zahlen unter naturwissenschaftliche Rationalitätserwartungen in anderen Kommunikationszusammenhängen (Aufnahmegebieten) stellt eine assoziative und damit spontane Bedeutungszuschreibung dar, die im Falle des Nachvollzugs der Zahlengenerierung bzw. des Bestimmtheitsgrads der Zahlen aufrechterhalten bzw. verworfen wird. Inwieweit Zahlen tatsächlich genuin naturwissenschaftliche Charakteristika aufweisen, richtet sich nach dem je­weiligen Verwendungszusammenhang. Hinsichtlich des Zahlengebrauchs können also zwei Bedeutungsschichten, eine assoziative und eine reflektierte, unterschieden werden.221 Auch im Verfassungsrecht rufen Zahlenbestimmungen bei ihren Adressaten, den Regelungsunterworfenen, Assoziationen naturwissenschaftlicher Rationalität hervor. Ihrer optischen Wirkung als „Blickfang“222 entspricht inhaltlich ein „Aha-Effekt[…]“,223 der sich auf ihre (vermeintliche) naturwissenschaftliche Rationalität stützt. Der Verwendung von Zahlen als Regelungsinstrument liegt ein „Glaube an den naturwissenschaftlichen Empirismus und die Exaktheit der Zahlen“224 zu Grunde, der sich als Kontinuum des Methodenumsturzes in den Wissenschaften zu Beginn der Neuzeit erweist. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit Zahlen die primär geisteswissenschaftliche Rationalität des Verfassungsrechts tatsächlich naturwissenschaftlich unterbrechen oder die von ihnen ausgelösten „AhaEffekte“ (insoweit) wie von Niklas Luhmann angenommen „substanzlos[…]“225 bleiben müssen. Dies kann anhand der Methodik der Zahlengenerierung im Rahmen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen und des Bestimmtheitsgrads von Zahlen im Verfassungsrecht nachvollzogen werden.

können. Künftige Situationen sind nie ganz vorhersehbar, daher kann das Anwendungsfeld eines Begriffs (außer vielleicht in einem formalen System) nicht vollständig bestimmt werden. Die Interpretation beschränkt sich darauf, den ‚Rand von Unbestimmtheit‘ im Hinblick auf einen konkreten Anwendungsfall zu präzisieren, ohne damit andere Anwendungsfälle auszuschließen.“ Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S.  26 f. (Kursivsetzung durch Verf.). Vgl. auch den Ausspruch Nikolaus von Cues: „Können wir uns dem Göttlichen auf keinem anderen Wege als durch Symbole nähern, so werden wir uns am­ passendsten der mathematischen Symbole bedienen, denn diese besitzen unzerstörbare Gewissheit.“ Nach Rudolf Taschner, Zahl, Zeit, Zufall, 2009, S. 153. 221 Die assoziative und reflektierte kann nicht als vermeintliche und tatsächliche Bedeutung von Zahlen verstanden werden. Bedeutung wird Zeichen immer durch einen entsprechenden Sprachgebrauch zugeschrieben (siehe die Ausführungen zur Fiktion einer „vorgegebenen“ Bedeutung des Rechts unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils). Insoweit ist auch die assoziierte tatsächliche Bedeutung. 222 Siehe Fn. 182 im zweiten Teil. 223 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. 1996, S. 60; Stefan Schulz, Zahlen zum Schönrechnen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. August 2011, S. 27. 224 Miloš Vec, Standardization Takes Command, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 45 (48). 225 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen 1996, S. 60; Stefan Schulz, Zahlen zum Schönrechnen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. August 2011, S. 27.

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2. Semantische Durchbrechungen: Exakte Zahlen im (unbestimmten) Verfassungstext Von der naturwissenschaftlichen kann nicht ohne weiteres auf die verfassungsrechtliche Bedeutung von Zahlen geschlossen werden. Für die Bedeutung der Zahlen in der Verfassung ist ihr normativer Verwendungskontext relevant.226 Der pauschale Hinweis auf die Unbestimmtheit der juristischen Fachsprache im Allgemeinen227 und der Verfassungssprache im Besonderen228 kann den zweifelsfrei bestehenden Anschein naturwissenschaftliche Exaktheit der Zahlen des Grundgesetzes gleichwohl nicht entkräften. Die Rechts- und Verfassungssprache ist genauso wie die Umgangssprache nicht unterschiedslos, sondern in der Nahsicht graduell unbestimmt. Begriffe sind „mehr oder weniger unbestimmt“.229 Zahlen könnten trotz des ansonsten weitgehend unbestimmten Verfassungstexts über eine exakte Bedeutung verfügen und ihn semantisch durchbrechen. 226 Vgl. Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (178 f.); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 60. Zu den Zahlen, die als Verfassungsrechtsbegriffe verwendet werden, gehören (als Ziffern oder Zahlzeichen) die ganzen natürlichen Zahlen, Dezimalzahlen sowie Bruch- und Prozentzahlen. Siehe die Ausführungen unter A. II. 2. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 227 Die Unbestimmtheit der Rechtssprache rührt aus der Unbestimmtheit der Umgangs­ sprache. Die juristische Fachsprache ist „Sonderfall der allgemeinen Sprache“. Die Anlehnung an die Alltagssprache tritt einerseits zwangsläufig ein, denn inhaltlich kann die rechtlich konnotierte von der allgemeinen Kommunikation nicht scharf getrennt werden. Es treten dieselben Akteure auf, d. h. die Akteure im Recht kommunizieren immer auch allgemein und sind daher entsprechend vorgeprägt. Die Anlehnung der Rechts- an die Alltagssprache wird andererseits bewusst vorgenommen, um ihre Allgemeinverständlichkeit und Anschlussfähigkeit­ sicherzustellen. Die Rechtssprache greift allgemeine Begriffe auf und Fachbegriffe bleiben an die allgemeine Sprache angelehnt. Hierzu Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 312 u. 320 (Zitat ebd.). Inwieweit die Alltagssprache das juristische Begriffsverständnis verbindlich leitet, soll hier nicht erörtert werden. Dazu Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S.  17 ff. Zur Unbestimmtheit von Sprache im Allgemeinen siehe bereits soeben unter B. II. 1.  Die Unbestimmtheit rechtlicher Regelungen ist außerdem Folge ihrer Abstraktheit. Sie sind so gefasst, dass sie möglichst viele Lebenssachverhalte erfassen und sich wandelnde Wertvorstellungen integrieren können. Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (168); Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 5 Rn. 185. Zur Unbestimmtheit der (Rechts-)Sprache auch Andreas Sethy, Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S. 12 ff., 66 ff. 228 Siehe die Ausführungen unter B. II. 1. und 2. a) im 3. Kapitel des zweiten Teils. 229 In Bezug auf Gesetzesbegriffe Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 25 f.; Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (168, Zitat ebd.). Zur Umgangssprache siehe auch Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 312 („Die Umgangssprache [verwendet] […] anders als eine mathematisierte Logik und Wissenschaftssprache keine in ihrem Umfang genau festgelegten Begriffe […], sondern mehr oder minder flexible Ausdrücke, deren mögliche Bedeutung innerhalb einer weiten Bandbreite schwankt […].“) und Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 26.

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Andreas Sethy und Dietrich Jesch argumentieren dagegen,230 Zahlen hätten auch im Rechts- und Verfassungskontext an der Unbestimmtheit von Sprache teil.231­ Sethy bezeichnet Zahlen zwar als Musterbeispiel „‚selbstbedeutende[r]‘ Wörter“, deren Bedeutung im Gegensatz zu den „‚mitbedeutende[n]‘ Wörter[n]“ vom Verwendungskontext unabhängig sei. An Zahlen lasse sich indes auch nachvollziehen, dass sich die Unterscheidung zwischen „‚selbstbedeutenden‘“ und „‚mitbedeutende[n]‘ Wörter[n]“ nur im Idealfall streng aufrechterhalten lasse. Selbst bei Zahlen sei denkbar, dass sie bei einem Wechsel des Verwendungskontexts, etwa in einem anderen Zahlsystem, einem Bedeutungswandel unterlägen. Dies führt ihn zu der Annahme, dass alle Wörter „mehr oder weniger unbestimmt“ seien. Zahlen werden hiervon nicht ausgenommen.232 Für Jesch ergibt sich die graduelle Unbestimmtheit von Zahlen aus dem gemeinsamen Bauplan der Gesetzesbegriffe. Wie Sethy steht er in der Nachfolge G. Jellineks und Hecks, nach denen Gesetzesbegriffe über eine dualistische Struktur und neben einem klaren Bedeutungskern über einen Begriffshof verfügen, in dem die Reichweite des Begriffs zweifelhaft ist.233 Jesch verweist darauf, dass im Begriffshof „selbst Zeitangaben oder Zahlen ihren scheinbar klaren Sinn verlieren“ können.234 Die Begründung der (graduellen) Unbestimmtheit von Zahlen durch Sethy und Jesch überzeugt nicht. Wenn sich nach Sethy die Bedeutungsvarianz von Zahlen bei einem Wechsel des Zahlensystems manifestiert, kann dies für die vorliegende Untersuchung nicht von Relevanz sein. Es geht um die semantischen Spezifika von Zahlen im Grundgesetz und damit innerhalb eines Verfassungsrechtssystems, das auf einem bestimmten kulturellen Fundament baut. Hierzu gehört auch das indisch-arabische Zahlensystem. Jeschs Ausführungen zur Unbestimmtheit von Zahlen bleiben Behauptungen. Konkrete Beispiele, anhand derer sich manifestiert, dass Zahlen sich aufgrund ihres bedeutungsunsicheren Begriffshofs einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Rationalität entziehen, fehlen. Ein Einblick in die begriffliche Struktur von Zahlen im Verfassungstext könnte durch die Analyse einzelner Grundgesetzbestimmungen gewonnen werden. Art. 115 Abs. 2 GG könnte Jeschs These von der Unbestimmtheit von Zahlen im Verfassungstext belegen. Nach Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG sind „Einnahmen und Ausgaben […] grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Diesem 230 Sethy und Jesch grenzen in ihren Überlegungen über die (Un-)Bestimmtheit von Zahlen nicht den verfassungsrechtlichen als geisteswissenschaftlichen von einem naturwissenschaftlichen Verwendungskontext ab und gehen daher auch nicht auf die vorliegend angenommene naturwissenschaftliche Exaktheit von Zahlen als einen an der Zahl der Nachkommastellen­ ablesbaren Rundungsspielraum ein. 231 So unabhängig vom Verwendungskontext auch Erst Cassirer, Philosophie der symbo­ lischen Formen, 1. Teil, 6. Aufl. 1973, S. 186. 232 Andreas Sethy, Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S. 67. 233 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (177); Andreas Sethy, Ermessen und un­ bestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S. 68 ff. 234 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (177).

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Grundsatz ist [nach Art.  115 Abs.  2 Satz 2 GG] entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten“.235 Die Gleichsetzung von 0 und „0,35“ bedeutet indes keine über den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext hinausgehende Unbestimmtheit der Zahlen und die Normierung nichtnumerischer Ausnahmeklauseln in Art. 115 Abs. 2 Satz 3 und 6 GG spricht gegen eine über die explizite numerische Abweichungsmöglichkeit von 0,35 % hinausgehende Unbestimmtheit der Ausgangsregelung. Strenggenommen wird in Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG außerdem nicht 0 mit „0,35“ gleichgesetzt, sondern der Begriff „ohne“ näher definiert. Dabei handelt es sich um kein Zahlwort im engeren Sinne, sondern eine implizite Zahlenangabe. Sie gehört zwar zur Gruppe der bestimmten impliziten Zahlenangaben,236 im Vergleich zu den expliziten Zahlen des Grundgesetzes ist sie dennoch graduell unbestimmter. Sie bedeutet noch weniger als die Ziffer 0 bzw. das Zahlwort Null eine exakte Null-Toleranz-Grenze bei der Kreditaufnahme. Die Formulierung „diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn“ könnte darüber hinaus darauf hindeuten, dass es sich bei Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG weniger um eine Definition des Begriffs „ohne“ als um eine Fiktion handelt. Satz 2 begründete dann eine Ausnahme von Satz 1, ohne „äußerlich“ seine uneingeschränkte Geltung­ „anzutasten“.237 Für den spezifischen Regelungszusammenhang der Schuldenbremse würde trotz Fremdfinanzierungsmöglichkeiten der Eindruck eines absoluten Willens zur Konsolidierung des Bundeshaushalts aufrechterhalten. Entgegen dem ersten Anschein offenbart die Neuregelung der Schuldenbremse jedenfalls nicht, dass Zahlwörter im Grundgesetz einer eigenen Rationalität unterliegen, d. h. der Verwendungskontext (die Verfassung) auf die Konstituierung ihrer Bedeutung Einfluss nimmt. Art. 115 Abs. 2 GG kann nicht als Beleg für die Unbestimmtheit von Zahlen im Verfassungstext herangezogen werden. Gleiches gilt für Art. 39 Abs. 1, 2 GG. Nach Abs. 1 Satz 1 wird „der Bundestag […] auf vier Jahre gewählt“.238 Gemäß den nachfolgenden Bestimmungen kann die tatsächliche Wahlperiode die vier Jahre einen Monat über- oder unterschreiten. Dies liegt daran, dass die „Wahlperiode [des Bundestags] […] mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages [endet]. Die Neuwahl [aber] findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt […] [und] der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.“ (Art. 30 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 GG). Ob es sich um eine verfassungsinterne Definition der „vier Jahre“ handelt, erscheint zweifelhaft. Die einschränkende Formulierung in Abs.  1 Satz 1 „vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen“ deutet eher auf Ausnahmevorschriften hin. Andernfalls würden wiederum die genannten naturwissenschaftlichen Rundungsvorschriften in den Verfassungskontext integriert. 235

Kursivsetzung durch Verf. Siehe die Ausführungen unter B. I. 1. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 237 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 58 (Zitat ebd.). 238 Kursivsetzung durch Verf. 236

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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Die Bedeutungsungewissheit eines expliziten Zahlworts, d. h. die Existenz eines Begriffshofs, könnte sich vielmehr aus Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG ergeben. Das aktive Wahlalter bei den Bundestagswahlen ist zwar nicht umstritten, Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG („Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat […].“) wird dennoch allgemein für auslegungsbedürftig gehalten.239 Jedoch begründet nicht das Zahlwort achtzehn, sondern erst dessen nichtnumerische Einbindung durch die (unbestimmten) Verfassungsrechtsbegriffe „Lebensjahr“ und „vollendet“ die Auslegungsbedürftigkeit der Regelung. Keiner der vorgenannten Grundgesetzbestimmungen kann daher als Beleg für die Unbestimmtheit von Zahlen im Verfassungstext herangezogen werden. Sie bergen im Gegenteil positive Anhaltspunkte dafür, dass Zahlen sich ihre für den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext typische Exaktheit bewahren und erst die nichtnumerische textliche Einbindung der Zahlen zur Unbestimmtheit der Verfassungsvorgaben führt.240 Aber inwiefern lässt die Analyse einzelner Grundgesetzbestimmungen überhaupt Rückschlüsse auf artikelübergreifende semantische Besonderheiten und etwaige Bedeutungsunsicherheiten der Zahlwörter im Verfassungskontext zu? Erst ihre Auslegung anhand des übergeordneten Telos der Verfassungsbestimmungen, der Erfüllung der Verfassungsfunktionen, abstrahiert von den verfassungsrechtlichen Regelungsinhalten im Detail. Demnach muss das Grundgesetz funktionsgerecht ausgestaltet sein. Dies gilt nicht nur für die verwendeten Typen von Verfassungsrechtssätzen, sondern auch deren Sprache und Stil. Wenn die Begriffsstruktur von Zahlen mit Blick auf ihre Funktionsgerechtigkeit ermittelt wird, ergibt sich ihre präzise Bedeutung im Verfassungstext. Die Organisations- und Verfahrens­ vorschriften, innerhalb derer sie verwendet werden, könnten ansonsten ihre Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion im Grundgesetz nicht erfüllen.241 Die naturwissenschaftliche Exaktheit der Zahlen auch im Verfassungskontext wird schließlich dadurch bestätigt, dass sie wie in Art. 115 Abs. 2 Satz 3 und 6 GG mit Ausnahmeklauseln oder in Art.  38 Abs.  2 Halbsatz  1 GG mit unbestimmten Rechtsbegriffen kombiniert werden bzw. der Verfassungsgeber teils (un-)bestimmte implizite an Stelle expliziter Zahlenangaben verwendet.242 Er vermeidet dadurch eine strikte bzw. punktgenaue numerische Eingrenzung auf Verfassungsebene, sucht die 239

Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 18. Siehe hierzu sogleich die Ausführungen zum Bedeutungswandel von Zahlen im Verfassungstext. 241 Zur funktionsgerechten Ausgestaltung des Grundgesetzes, insb. der Organisations- und Verfahrensvorschriften, unter B. II. 2. b) im 3. Kapitel des zweiten Teils. 242 Vgl. Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S. 433 (439). Siehe auch Walter ­Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1964, S. 55: „Die Zahl ist vermöge ihrer Bestimmtheit das Musterbild einer unbedingten Eindeutigkeit, die sie in Verbindung mit genauen Maßstäben auch den Begriffen des Raums, der Zeit, der Bewegung, der Änderung mitteilt. Aber gerade die Zahl und der Maßstab sind wiederum die Quelle der größten 240

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Exaktheit der Zahlen zu relativieren und eröffnet auch in Anbetracht des jeweils zu beurteilenden, konkreten Sachverhalts einen Bedeutungsspielraum. Im Falle der Unbestimmtheit der Zahlen wären die vorgenannten Regelungstechniken nicht zwingend notwendig. Jedenfalls zeigen sie, dass die Exaktheit von Zahlen als semantische Besonderheit Prämisse der Beteiligten im Kommunikationssystem „(Verfassungs-) Recht“ ist. Zahlen werden von ihnen als exakt wahrgenommen bzw. vorausgesetzt. Im Ergebnis verfügen die Zahlen im Verfassungstext im Gegensatz zu den nichtnumerischen Vorgaben243 über eine exakte Bedeutung. Sie sind „eindeutig“244 und in diesem Sinne „endgültig“.245 Es handelt sich nach der von Heck angenommenen Begriffsstruktur und entgegen der Annahme Jeschs um „bestimmte Begriffe“,246 Ungenauigkeiten, sobald sie als schwankende Größen auftreten in der Form des unbestimmten Zahl-, Raum-, Zeit-, Bewegungs- und Änderungsbegriffs.“ Zu den weichen und impliziten Zahlenangaben siehe die Ausführungen unter A. II. 4. und B. I. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 243 Die mangelnde Exaktheit der Verfassung betrifft auch quantitative Aussagen. Anhand der Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich lässt sich nachvollziehen, dass quantitative Aussagen im Verfassungsrecht Wertungsspielräume eröffnen. Das Bundesverfassungsgericht stellt für den horizontalen Ausgleich der Länderfinanzkraftunterschiede nach Art. 107 Abs. 2 GG mit dem Nivellierungsverbot eine quantitative Vorgabe auf (siehe die Ausführungen unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils). In BVerfGE 101, 158 streiten die Antragsteller im Normenkontrollverfahren um dessen Bedeutung. Baden-Württemberg, ­Bayern und Hessen führen aus, „das verfassungsrechtliche Nivellierungsverbot verbiete nicht nur eine Regelung, die allen Ländern exakt 100 v. H. der durchschnittlichen Finanzkraft gewähre. Das Nivellierungsverbot mache vielmehr nur Sinn, wenn darüber hinaus ein Abstand von deutlich mehr als 1 v. H. eingehalten werde.“ Ebd., S. 200. Bremen, Niedersachsen und Schleswig-­Holstein machen geltend: „Solange der horizontale Finanzausgleich nicht die gesamte, 100 v. H. der Ausgleichsmeßzahl übersteigende, Finanzkraft für die Ausgleichszuweisungen heranziehe, sei die Abschöpfung zulässig. […] Eine Angleichung auf 99,5 v. H. des Länderdurchschnitts schließe einen Verstoß gegen das Nivellierungsverbot aus.“ Ebd., S. 209 f. Die Exaktheit der Zahlen tritt scharf hervor, wenn man sie mit der Bedeutungsweite von Bildern im Recht kontrastiert. Zahlen verfügen zwar über Bildhaftigkeit, aber im Gegensatz zu Bildern nicht über unzählige, nur bedingt rationalisierbare Bedeutungen. Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (357, 372 f.). 244 Zitat Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S.  343: „Der Wortsinn ist in der Regel nicht eindeutig, sondern lässt Raum für zahlreiche Bedeutungsvarian­ ten. […] von Zahlen und Eigennamen abgesehen, [sind] die meisten Ausdrücke der Umgangssprache und auch der Gesetzessprache nicht eindeutig.“; Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 93, Fn. 30: „immerhin mag es bei Zahl-, Maß- und Gewichtsworten Eindeutigkeit geben“; Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S.  433 (434): „Die einzelnen Normelemente sind meist in der nicht präzisierten und nicht bis ins letzte präzisierbaren Umgangssprache formuliert. Nur soweit Regeln numerische Merkmale auf­ weisen […], benutzen sie auch Begriffe der ‚Wissenschaftssprache‘ im Sinne einer normierten, formalisierten, genau definierten Sprache.“ 245 Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 8. 246 Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 140: „Absolut bestimmte Begriffe sind innerhalb des Rechts selten. Immerhin dürfen hierher auch die im Recht verwendeten Zahlbegriffe (insbesondere in der Verbindung mit Maß- und Zeit- und Geldbegriffen) gerechnet werden (50 km, Frist von 24 Stunden, 100 DM).“

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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die allein über eine Kernbedeutung und keine Begriffshöfe verfügen. Die sprachliche Sonderstellung von Zahlen bleibt im spezifischen Verwendungskontext des Verfassungsrechts erhalten. Der Präzisionsverlust, den Pörksen für die wissenschaftlichen Fachtermini bei der Überschreitung der Grenzen sprachlicher Subsysteme von der Fach- in die Alltagssprache konstatiert,247 ist bei der Aufnahme von Zahlen in den Verfassungstext nicht feststellbar. Auch Sethy räumt ein, dass das von ihm für die Unbestimmtheit von Zahlen vorgebrachte Argument der Zahlsystemabhängigkeit keine praktische Relevanz besitzt: Erst wenn „eine konkrete Zahl genannt wird, […] bleibt kein Spielraum mehr für verschiedene Lösungen offen“;248 „konkrete Zahlen [bieten] immer das Höchstmaß an Bestimmtheit“.249

III. Bedeutungswandel: Semantische Integration von Zahlen in die Verfassung? Dass Zahlen in verschiedenen sprachlichen Subsystemen verwendet werden, liegt nicht nur an ihrer Bedeutungsschwäche. Zahlen erweisen sich im jeweiligen Aufnahme- bzw. Verwendungsfachgebiet und gegenüber dessen (semantischen) Spezifika auch als (begrenzt) anpassungsfähig. Die Verwendung von Zahlen im Verfassungsrechtskontext führt dazu, dass sie sich der verfassungsrechtlichen Eigenrationalität unterwerfen und einer assoziierten naturwissenschaftlichen Rationalität tatsächlich nur teilweise entsprechen. Verfassungsnormativ ist nicht mehr ihre möglichst wertungsfreie Generierung vorgeschrieben. Während die naturwissenschaftliche Methodik Wertungen so weit als möglich ausschließen will250 und auch die Quantifizierung durch die Verfassungsrechtsprechung so weit als möglich rational nachvollziehbar sein muss,251 unterliegt die Zahlenverwendung im originären Verfassungstext allein dem politischen Gestaltungsermessen des Verfassungsgesetzgebers und numerische Änderungen des Verfassungstexts sind inhaltlich allein an den weiten Vorgaben des Art.  79 Abs.  3 GG auszurichten.252 In beiden Fällen sind Wertungen und mehr noch die (begrenzte) Beliebigkeit bei der Festlegung der konkreten Zahlenwerte verfassungsgemäß. Die Integration von Zahlen in den verfassungsrechtlichen Verwendungszusammenhang lässt sich außerdem an ihrer Semantik beobachten. Der Verfassungstext verfügt (wie das [Verfassungs-]Recht im Allgemeinen) als Fachsprache über 247 Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 276. Pörksen geht davon aus, dass bestimmte vormals präzise wissenschaftliche Fachtermini außerhalb ihrer ursprünglichen Verwendungsgebiete vollkommen austauschbar werden (ebd., S. 279). 248 Andreas Sethy, Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S. 102. 249 Andreas Sethy, Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, 1973, S. 112. 250 Siehe die Ausführungen unter A. I. und II. im 3. Kapitel des ersten Teils. 251 Siehe die Ausführungen unter B. III. und C. II. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 252 Siehe hierzu bereits unter A. V. im 1. Kapitel des zweiten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

semantische Eigenrationalität, die über eine der Offizialität des Dokuments geschuldete Formalität hinausgeht. Der Verfassungsgesetzgeber greift zwar auf die Umgangssprache zurück,253 auch deren Bedeutung ist nach Eingang in den Verfassungstext aber vom Verwendungskontext und dessen systemspezifischen Gesetzlichkeiten abhängig.254 Bei den Zahlen tritt ein Bedeutungswandel ein. Das Ausgreifen der Zahlen im Sinne der beschriebenen historischen Verzifferungsprozesse255 und die Verklammerung von Wissenschafts- und Alltagssprache durch Zahlen als (scheinbar) gemeinsamer Sprache256 beruht auf zwei Faktoren: ihrer Bedeutungsschwäche und einem Bedeutungswandel. Der Bedeutungswandel durch die Einbindung in den Kontext des Verfassungsrechts meint die Anwendbarkeit der juristischen Auslegungsregeln auf die Zahlen in der Verfassung257 und als mögliche Folge eben dieser Auslegung die Verschärfung oder Abmilderung ihrer naturwissenschaftlichen Exaktheit. Grundsätzlich sind Zahlen im Verfassungskontext eindeutig, d. h.  – wie anhand der Analyse einzelner Grundgesetzbestimmungen bereits herausgearbeitet wurde258 – im naturwissenschaftlichen Sinne exakt. Die Aufnahme von Zahlen in den Verfassungskontext kann nun zu einer Verschärfung dieser naturwissenschaftlichen Rationalität führen, wenn die Zahlen im Grundgesetz als präzise Grenzangaben zu verstehen sind. Soweit sich aus dem umgebenden Verfassungstext keine Hinweise auf einen Rundungsspielraum ergeben, ist im Verfassungsrecht selbst für eine Diskussion über Nachkommastellen kein Raum (Bsp.: Art.  13 Abs.  3 Satz 3 GG). Die Zahlen verfügen dann über eine starre Bedeutung. Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass sie im Verfassungsrecht dann auch insoweit eine Sonderrolle einnehmen, als sie nicht auslegungsfähig bzw. -bedürftig sind. Im Falle eines Rundungsspielraums kann die Auslegung an den Unklarheiten über die präzise ­numerische Bedeutung ansetzen. Fehlt ein Rundungsspielraum, ergibt sich die Bestimmtheit der Zahlen erst aus der Auslegung259 und hat nur Folgen für das Maß bzw. die Intensität der Auslegung. 253

Siehe Fn. 227 im zweiten Teil. Ulfrid Neumann, Thesenpapier zum Vortrag „Sprache und juristische Argumentation“ im Rahmen der Konferenz „Sprache – Recht – Gesellschaft“ der Akademie der Wissenschaften in Hamburg (14.–16. Juli 2011), Gliederungspunkt B.2. 255 Siehe die Ausführungen unter A. im 2. Kapitel des ersten Teils. 256 Vgl. Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, 1994, S. 275 f., 280. 257 Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S.  559 (563). A. A. Fritz Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644). 258 Siehe soeben unter B. II. 2. in diesem Kapitel. 259 Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10.  Aufl. 2005, S.  93, Fn.  30 („[…] immerhin mag es bei Zahl-, Maß- und Gewichtsworten Eindeutigkeit geben, aber auch diese Worte müssen ‚verstanden‘ und somit ‚gedeutet‘ werden.“), siehe ebd. auch S. 101; Karl­ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 343 mit Verweis auf Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 253; siehe auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 254

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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Die Einbindung von Zahlen in den Verfassungstext kann außerdem zur Auf­ weichung ihrer naturwissenschaftlichen Exaktheit führen. Es erscheint insbesondere nicht ausgeschlossen, dass ein konkreter Geldbetrag, wie ihn das Grundgesetz bislang nur in Art. 143d GG normiert,260 bei einer extremen Geldentwertung bzw. -aufwertung im Wege der Auslegung angepasst wird.261 In anderen Fällen liegt strenggenommen kein Bedeutungswandel der Zahlen selbst vor, denn eine abgeschwächte Präzision der Zahlen lässt sich dann immer nur im Zusammenhang mit bestimmten nichtnumerischen normativen Vorgaben beobachten. Besonders deutlich wird die Verursachung von Unbestimmtheit durch die Textkomponenten der Verfassung bei den sog. weichen Zahlenangaben.262 Flexibilität in der Anwendung der Zahl wird hier explizit durch die Kombination mit Ausnahmeklauseln erreicht. Die Aufnahme von Zahlen in das Grundgesetz kann aber auch implizit zu einer Abmilderung ihrer naturwissenschaftlichen Bedeutungsschärfe führen.263 Bei der Analyse wurde bereits Art.  38 Abs.  2 Halbsatz 1 GG („Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat […].“) in den Blick genommen, der eine Zahl verwendet, keine Ausnahme bestimmt und dennoch keine exakte numerische S. 612. Auslegungsfähig bzw. -bedürftig ist somit auch der Begriffskern. Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (168, 182). Gegen eine darüber hinausgehende Interpretationsbedürftigkeit von Zahlen im Kontext des Verfassungsrechts spricht der Ausspruch von Michael Sachs „Die ‚quantitative Evidenz‘ des Mehrheitsprinzips sicher[e] ihm Anerkennung für Entscheidungen organisierter Mehrheiten überhaupt.“ Ders., in ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 22 (Kursivsetzung durch Verf.). Klaus F. Röhl u. Hans Christian Röhl gehen von der „Subsumtionsfähigkeit“ von Zahlenbestimmungen in Rechtsregeln (Bsp.: Geschwindigkeitsbegrenzung in der Straßenverkehrsordnung) aus. Sie sind demnach weder konkretisierungs- und wohl auch nicht (näher) interpretationsbedürftig. Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 240 (Zitat ebd.). Siehe auch die Argumentation der Kläger in den Ausgangsverfahren der konkreten Normenkontrolle betreffend die Verfassungsmäßigkeit der Geldleistungen für Asylbewerber (wenngleich sie Zahlen in einem einfachen Gesetz und nicht im Grundgesetz betrifft): „Eine verfassungskonforme Auslegung des Asylbewerberleistungsgesetzes sei nicht möglich. Der Gesetzgeber habe für die Geldleistungen bestimmte Beträge fixiert. Der Gesetzeswortlaut sei insofern zwingend.“ BVerfGE 132, 134 (150 Rn. 39). „Eine verfassungskonforme Auslegung sei nicht möglich. Es handele sich um gesetzlich fixierte Leistungsbeträge, die nur im Wege des § 3 Abs. 3 AsylbLG zu ändern seien.“ Ebd., S. 152 Rn. 44. 260 Siehe die Ausführungen zu Zahlen in den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes unter A. III. 4. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 261 Vgl. Reimer Schmidt, Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm C ­ anaris/ Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (563). Ders. spricht von einer „(auf die Spitze getriebenen) Auslegung“ (ebd.). 262 Zur Unterscheidung zwischen harten und weichen Zahlenangaben im Grundgesetz A. II. 4. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 263 Auch Karl Engisch verweist auf die Unbestimmtheit von Zahlen durch ihre Einbindung in nichtnumerische normative Vorgaben, wenngleich er explizit allein auf ihre Verwendung in einem bestimmten Sachbereich abstellt: Es „können selbst exakte Begriffe wie Zahlbegriffe unbestimmt [im Sinne der Heck’schen Unschärfe] werden, wenn sie nämlich z. B. Prüfungsnoten bedeuten, für die ein gewisser Spielraum in Betracht kommt (‚noch Eins‘, eine ‚glatte Zwei‘, eine ‚Vier an der oberen Grenze‘).“ Ders., Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 140.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Grenze normiert. Er bedarf der Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Dass die Kombination von Text und Zahl in der Verfassung nicht zwangsläufig die Unbestimmtheit einer Regelung bedeutet, zeigt Art.  51 Abs.  2 GG: „Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen.“

C. Die Rolle von Zahlen im Kommunikationsprozess innerhalb des Verfassungsrechtssystems und mit anderen Systemen Die Bedeutungsschwäche darf nicht pauschal zur Annahme eines niedrigen Informationswertes von Zahlen verleiten. Stellt man darauf ab, dass Zahlen im Kommunikationsprozess Träger höchstmöglicher (wenn auch systemneutraler) semantischer Exaktheit sind, ist das Gegenteil der Fall. Zahlen dienen im Verfassungsrecht einer Informationsvermittlung, die hinsichtlich ihrer Präzision reinen Text weit hinter sich lässt, und sind dann Bestandteil „instruktiv[er]“ Kommunikation.264 Zahlen erzeugen darüber hinaus „subsemantische […]Wirkungen“.265 Sie lassen sich genauso einer Kommunikationsform zuzuordnen, die in Anlehnung an Klaus F. Röhl und Stefan Ulbrich als „symbolisch“266 bezeichnetet werden soll. Die Verwendung von Zahlen im Verfassungsrecht lässt sich nicht auf die Mitteilung von Information reduzieren. Zahlen verleihen dem Verfassungstext­ wegen der mit ihnen assoziierten naturwissenschaftlichen Rationalität neutrale Sachlichkeit und weitergehend gemäß der Codierung des Wissenschaftssystems267 den Anschein von „Wahrheit“268 und Objektivität.269 Weil es an Ansatzpunkten zur 264 Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (375, Zitat ebd.). 265 Klaus F. Röhl und Stefan Ulbrich definieren sie als „Reize, die in unmittelbarem Zu­ sammenhang mit zeichenhafter Kommunikation übermittelt werden und die beim Empfänger zunächst auf Gefühl und Bewusstsein wirken, bevor sie handlungsrelevant werden“. Dies., Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (378, Zitate ebd.). 266 Eine Definition und Abgrenzung der „instruktiv[en]“ und „symbolisch[en]“ Kommunikation findet sich bei Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (374 ff., Zitate S. 375). 267 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 342. 268 Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 197. 269 Vgl. Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 ff.; Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 197; Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (377). Zur (assoziierten) naturwissenschaftlichen Rationalität von Zahlen (im Verfassungsrecht) siehe die Ausführungen unter B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils; zur (tatsächlich eingeschränkten) Objektivität der naturwissenschaftlichen Zahlengenerierung B. II. 2. im 2. Kapitel und A. II. im 3. Kapitel des ersten Teils.

2. Kap.: Linguistische Spezifika von Zahlen im Verfassungstext 

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Überprüfung ihrer Generierung fehlt, ist die „nackte“ Zahl in der Kommunikation besonders wirkmächtig. Die aussichtsreiche Zurückweisung bzw. Beanstandung von Zahlen im Kommunikationsprozess ist anders als die nichtnumerischer, sprachlicher Aussagen „voraussetzungsvoll[…]“.270 Sie erfordert die Auseinandersetzung mit ihrer Herstellung und alternativen Zahlenangaben.271 Hinzu kommt, dass Zahlen von der Komplexität tatsächlicher Zusammenhänge, auf die sie verweisen, abstrahieren.272 Die damit verbundene Vereinfachung schafft ebenso wie die vorgenannte Objektivität im Kommunikationsprozess Akzeptanz273 („Gegen die Objektivität der Zahlen kann man sich subjektiv nicht wehren.“)274 und infolge­ dessen die Absenkung kommunikativer Barrieren. Es kommen weitere Gründe hinzu, wegen der Zahlen eine Erleichterung der systemübergreifenden wie -internen Kommunikation bewirken. Ihre Neutralität hinsichtlich systemspezifischer Codierungen führt dazu, dass sie – mehr noch als Bilder  – mühelos die Systemgrenzen „überspringen“. In Zahlen gefasste Informationen können über ihr ursprüngliches Verwendungsgebiet hinaus leichter verstanden und verwendet werden.275 Ihre konkrete Bedeutung bei gleichzeitiger Abstraktion vom Referenzobjekt und -system schafft außerdem systemübergreifende Vergleichbarkeit. Binnen der Systeme fungieren Zahlen dann als Kanäle systemfremden Wissens, sind Schaltstellen interdisziplinärer Kommunikation.276 Das Fehlen systemspezifischer Identität deutet zugleich die Gefahr eines unkontrollierten, ggf. unbewussten Einbruchs systemfremden Wissens im Sinne einer „Verwischung“ der Systemgrenzen an. „Die Grenzen zwischen Recht, Politik und Wirtschaft sind [in Zahlen nicht mehr] […] zu erkennen.“277 Kommunikationsfördernd wirkt außerdem die Bildhaftigkeit von Zahlen. Mehr noch als Piktogramme278­ 270 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (78). 271 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (78 f.). 272 Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter B. II. im 1. Kapitel und die Einleitung zum 2. Kapitel des ersten Teils. 273 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (ebd.). 274 Otto Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177 (178, Zitat ebd.). 275 Vgl. zur (gegenüber Zahlen schwächeren) Systemindifferenz und -unabhängigkeit von Bildern Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (357, 384 [Zitat ebd.]). 276 Dass über Zahlen systemfremdes Wissen „transportiert“ werden kann, wird insbesondere in der Verfassungsrechtsprechung deutlich. Andreas v. Arnauld u. Klaus W. Zimmermann plädieren bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung der steuerlichen Belastungshöhe für die Berücksichtigung ökonomischen Wissens. Dies., Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 20. 277 Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (384). 278 Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Visuelle Rechtskommunikation, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), Heft 2, S. 355 (384).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

können Zahlen auch mangels sprachlicher Hürden schnell gelesen werden und die Auswahl relevanten Wissens bei einer hohen Komplexität der Kommunikation und Informationsflut erleichtern. Schließlich führen Zahlen zur Senkung der systemexternen wie -internen Kommunikationsbarrieren, weil das Begreifen von Zahlen und das Zählen (zumindest in den Grundstrukturen und im Gegensatz zu jedem fachspezifischen verfassungsrechtlichen Diskurs) zu den basalen intellektuelle Fertigkeiten und Voraussetzungen gesellschaftlicher Interaktion gehört. Bei Überschreitung eines bestimmten Komplexitätsgrads in der Darstellung oder der voraussetzungsvollen Verwendung von Zahlen im Sinne eines (unausgesprochenen) Verweises auf komplexe mathematische Operationen erweisen sich Zahlen als Kommunikationshindernis. Ihre Verwendung führt dann zur Exklusivität der Kommunikation und die Kommunikation mit Zahlen ist abhängig von Bildungs- und Wissensgefällen. Sobald Kommunikation nur noch unter Hinzuziehung systemfremder Experten aufrechterhalten werden kann, kommt es zum Paradox der Isolation systemspezifischer Kommunikation innerhalb eines Systems. 3. Kapitel

Zahlenverwendung und funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes Die linguistische Analyse legt die Besonderheiten der Zahlzeichen im Vergleich zum sie unmittelbar umgebenden Verfassungstext offen. Nach der vorangegangenen Mikro- stellt sich in einer Makroanalyse die Frage, ob überhaupt und mit Blick auf die Zahlenverwendung von einer harmonischen Ausgestaltung des Grundgesetzes gesprochen werden kann. Der Verfassungsgeber muss, abgesehen von Art.  79 GG bei Verfassungsänderungen, ebenso wenig wie materielle, abstrakte formelle Vorgaben bei der Normgestaltung einhalten.279 „Die verfassungsgebende Gewalt ist […] terminologisch unbegrenzt.“280 Sofern der Verfassungstext und dessen Zahlenverwendung nicht jede interne Regelhaftigkeit vermissen lassen, wird zu klären sein, ob es verfassungsinterne und -immanente Kriterien bzw. Leitprinzipien gibt, an denen sich nicht nur der Inhalt, sondern auch die Typik der Verfassungsrechtssätze sowie deren Sprache orientieren oder ob allein Konvention und Tradition bestimmenden Einfluss auf die Gestaltung von Verfassungsgesetzen üben. Erst wenn die Vorgaben für die Ausgestaltung der Verfassung im Allgemeinen benannt sind, kann geprüft werden, ob ihnen die Zahlenverwendung im Speziellen gerecht wird. 279 Meinhard Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 161 Rn. 5. 280 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (381, Zitat ebd.).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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A. Die Funktionen der Verfassung als Fixpunkte der verfassungsrechtlichen Analyse Die Funktionen des Grundgesetzes281 sind die übergeordneten teleologischen Fixpunkte der Verfassungsanalyse: Eine Verfassung, die praktisch wirksam werden soll, wird nicht um ihrer selbst willen erlassen. Sie richtet sich fortwährend an ihren konkreten Aufgaben aus und lässt sich dann begrifflich als „geschichtlich-konkrete[…] Ordnung“282 erfassen.283 An den verfassungsrechtlichen Funktionen finden die äußere Form, der Inhalt und die sprachliche Ausgestaltung ihren Maßstab.284 Sie erklären schließlich Ausmaß und Modus der Zahlenverwendung. Andreas Voßkuhle spricht von einem „spezifische[s] Bedingungsverhältnis“ zwischen der Ausgestaltung der Verfassung und ihren Funktionen.285 Das Grundgesetz dient der rechtlichen Ordnung des Gemeinwesens sowie der Bildung und Wahrung staatlicher Einheit.286 Die Funktionen kristallisieren sich in der historischen Rückschau heraus und lassen sich im Verhältnis zueinander als Grund- und Zielfunktion beschreiben. Die rechtliche Ordnung ist Grundlage der Einheitsbildung, muss sich am Ziel der Einheitsbildung messen lassen, findet aber hieran nicht notwendigerweise ihre Grenze.287 Bei weiteren grundgesetzlichen ­ auptfunktionen.­ Funktionen288 handelt es sich um Teilaspekte der genannten H 281

Allgemein zur „Funktion“ von (Rechts-)Texten Dietrich Busse, Recht als Text, 1992, S. 73 ff. 282 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 1. 283 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 1 u. 4 f. Das Grundgesetz als „heutige[…], individuell-konkrete[…] Verfassung“ (ebd., Rn. 1) kann „nur von der […] Funktion […] in der Wirklichkeit geschichtlich-konkreten Lebens her erfaßt werden.“ (ebd., Rn. 5). Siehe hierzu auch Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 1. 284 Neben den Funktionen werden die zentralen Prinzipien der Verfassung als Gestaltungsmaßstab ausgemacht. Meinhard Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 161 Rn. 5; Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (380 f.). 285 Ders., Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (58). 286 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 6, zum Begriff des Gemeinwesens Rn. 11. 287 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 12 f. 288 Dieter Grimm führt die „Legitimations- und Limitationsfunktion“ sowie „die Ordnungsund Streitentscheidungsfunktion“ als „explizite[…] Funktionen der Verfassung“ an. Ders., Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (16, Zitate ebd.). Eine nähere funktionale Ausdifferenzierung findet sich auch bei Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (374, 377 f., 385) u. Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46 ff.).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Welche der Funktionen in den Vordergrund tritt, hängt von der Perspektive ab, aus der die Verfassung und ihre historische Entwicklung in den Blick genommen werden.289

I. Ausgangspunkt der Funktionsbeschreibung: Das Grundgesetz als rechtliche Grundordnung Die Charakterisierung als rechtlich verfasste Grundordnung des Gemein­ wesens290 kennzeichnet das Grundgesetz zunächst rein formal als im Verfassungsgesetz vereinigten „Normenkomplex“.291 Diese Basisfunktion der Aufstellung grundlegender Rechtsvorschriften ist zu unbestimmt, als dass sich die nähere Ausgestaltung der Verfassung an ihr messen lassen könnte.292 Ihr Inhalt soll daher näher aufgeschlüsselt und es sollen hierdurch abgeleitete Funktionen herauskristallisiert werden. Das Grundgesetz als Grundordnung dient der Einsetzung, Begrenzung und Organisation der obersten Staatsgewalt.293 Sie ist Gegenstand und alleinige unmittelbar Verpflichtete (Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG)294 grundgesetzlicher Regelungen.295 289 Die vorgenannten Grundfunktionen strukturieren somit die vielfältigen Verfassungsfunktionen und werden durch eben diese konkretisiert. Insbesondere die Grundfunktion der rechtlichen Ordnung bedarf der näheren Aufschlüsselung, um für die Ausgestaltung der Verfassung Erklärungsfunktion übernehmen zu können. Andreas Voßkuhle konstatiert hingegen, dass sich die „Vielfalt der mittlerweile herausgearbeiteten Verfassungsfunktionen […] trotz oder wegen mannigfacher inhaltlicher Verschränkung kaum in einem inhaltlichen Leitgedanken auflösen“ lässt. Ders., Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46). 290 Das Verständnis der Verfassung als rechtliche Grundordnung geht auf Werner Kägi zurück. Ders., Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 40 ff. Kägi bezieht die Funktion der Verfassung als rechtliche Grundordnung sogleich auf die vorliegend als zweite Hauptfunktion ausgemachte Einheitsbildung im Staat: „Darin äußert sich der allgemeinste Sinn der Verfassung: eine einheitsstiftende Ordnung […].“ Ebd., S. 41 (Kursivsetzung durch Verf.). 291 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  11 (Zitat ebd.). An anderer Stelle bezeichnet Grimm die Verfassung als „Inbegriff von Rechtsnormen“. Ebd., S. 14. Siehe auch Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul­ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 1. 292 Andreas Voßkuhle ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass es „ratsam [erscheint], […] einzelne Funktionen isoliert im Hinblick auf die sinnvolle Verwendung bestimmter Normierungsstile und -techniken zu untersuchen.“ Ders., Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46 ff., Zitat S. 46). 293 Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 1; Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (ebd. u. S. 15). 294 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 5 Rn. 180 ff. 295 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, JA 1984, S. 325 (326 f., 329 f.); Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (ebd. u. S. 14 f.).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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Ihre materiellrechtliche Begrenzung erfolgt im Wege der Normierung von Grundrechten. Die Grundrechte beschreiben zwar die gesellschaftliche Freiheitssphäre durch subjektive Rechte, bei Umkehrung der Perspektive bedeuten sie jedoch zugleich eine Einschränkung des Staates.296 Die Verfassung ist „politische Entscheidung“297 und zugleich „Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik“.298 Dieses Spannungsfeld kann sie nur überwinden und ihrer Maßstabsfunktion gerecht werden, wenn sie sich von ihrem politischen Gründungsakt emanzipiert und gegenüber dem politischen Prozess distanziert. Als Rechtsnorm formuliert die Verfassung einen Sollensausspruch. Sie normiert Anforderungen an das politische Geschehen,299 die dem Richter als „Maßstäbe für die […] Kontrolle der Ausübung öffentlicher Gewalt“ dienen.300 Es genügt dann nicht, dass sie einfache Rechtsnorm ist. Der Verfassung als oberster Maßstabsnorm muss gegenüber dem einfachen Recht Vorrang zukommen, denn auch der politische Prozess gestaltet sich in Rechtsnormen.301 Zugleich ist in einer Demokratie (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) die Wirkung der Verfassung als Maßstab notwendigerweise begrenzt. Es müssen politische Gestaltungsspielräume gewahrt werden. Die Verfassung ist daher Rahmenordnung, die politischen Entscheidungen Raum lässt.302 Die Trennung der Verfassung als normativem Prüfungsmaßstab von der Politik als Prüfungsgegenstand wird dann nicht nur durch die Entstehung

296 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 91 ff. 297 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl. 2010, S. 23. So u. a. auch Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn.  1. A. A. im Anschluss an Rudolf Smend Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 41 f. Die Charakterisierung der Verfassung als „ein­maliger­ Willensakt“ (ebd., Rn. 42) sei irreführend, entscheidend sei ihre tatsächliche Umsetzung. 298 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (15). 299 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (14 f.). Die Verfassung „kann […] ohne Funktionseinbußen weder in eine einmalige Dezision noch in einen kontinuierlichen Prozeß aufgelöst werden, sondern verselbständigt sich als Norm von der Dezision, der sie ihre Geltung verdankt, und fungiert als Struktur für den Prozeß, den sie voraussetzt.“ Ebd., S. 15. Siehe auch ders., Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 (333). 300 Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 1 (Zitat ebd.). 301 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (14). 302 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  11 (17);­ Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (381). Im Hinblick auf verfassungspolitische Bestrebungen der Festschreibung von mehr und detaillierteren Staatsaufgaben im Grundgesetz Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn.  20 f. Zur Verfassung als Rahmenordnung siehe außerdem die Ausführungen unter A. II. im 5. Kapitel des dritten Teils.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

der Verfassung in einem politischen Prozess durchkreuzt. Die Verfassung bleibt politisch, denn „ihre die Machtausübung mäßigenden und den politischen Prozess disziplinierenden Wirkungen beruhen [nicht allein] darauf, daß sie im Verfassungsgesetz positives Recht ist“.303 Das Grundgesetz begrenzt bzw. ordnet jedoch nicht nur das staatliche Handeln. Als verfassungsrechtliche Grundordnung geht es über die Normierung reinen Staatsrechts hinaus.304 „Indem der Staat […] seine Aufgaben in bezug auf die Gesellschaft erfüllt, bilden die an ihn adressierten Strukturbestimmungen, Zielvorgaben und Tätigkeitsschranken zugleich Grundprinzipien der Sozialordnung.“305 Nach der Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts kommt den Grundrechten außerdem eine Ordnungsfunktion zu, die über die rein staatliche Zielrichtung hinausgeht. Sie stellen demnach politische Wertentscheidungen dar, die durch die Verankerung im Grundgesetz den Rang objektiver verfassungsrechtlicher Garantien einnehmen. Das Bundesverfassungsgericht sieht im Grundgesetz eine Wertordnung abgebildet, die eine „moralisch-programmatische Fundierung“306 des Gemeinwesens bildet und bindend für „alle Bereiche des Rechts“ ist.307

303 Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 1. 304 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 18. 305 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (14 f., Zitat S. 15). 306 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (377). 307 BVerfGE 7, 198 (205, Zitat ebd.) – Lüth („Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat […]. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten […].“); Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul ­Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 29; Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn.  94, 97 ff. Die Charakterisierung der Verfassung als Wertordnung ist dogmatische Grundlage einiger Funktionen, die der Verfassung im Zuge der – sogleich darzustellenden – politischen und gesellschaftlichen Änderungen zugesprochen werden. Dies gilt nach herrschender, aber umstrittener Meinung für die Erweiterung der Abwehrdimension der Grundrechte auf eine Schutz- und Teilhabefunktion. Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten­ Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 94. Wolfgang v. Vitzthum sieht in der „moralisch-programmatische[n] Fundierung“ zudem ein Leitbild zur „Integration des Gemeinwesens“ (Funktion der Bildung und Wahrung staatlicher Einheit). Ders., Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (377).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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II. Funktionserweiterung: Das Grundgesetz als Kompromiss zur Herstellung staatlicher Einheit Anhand der Verfassungsgeschichte lässt sich eine Erweiterung und Bedeutungsverschiebung der Verfassungsfunktionen nachvollziehen. Deren Ursachen sind politische und gesellschaftliche Veränderungen sowie eine Fortentwicklung des staatstheoretischen Vorverständnisses,308 die bis heute prägend sind und daher auch durch das Grundgesetz bewältigt werden müssen. Wenngleich der Ursprung der modernen Verfassung in den Revolutionen Frankreichs und Nordamerikas Ende des 18. Jahrhunderts liegt,309 der Erlass von Verfassungen im Deutschen Reich bedeutet zunächst nicht die Übernahme der revolutionären Ideen von Demokratie und Republik. Die Staaten respektive die monarchischen Regierungen und ihre Beamten halten am monarchischen Prinzip fest. Sie erscheinen als statische Gebilde getrennt von einer Gesellschaft, der nur punktuelle Mitwirkungsrechte eingeräumt werden.310 Die Verfassungen, die­ somit allein der Herrschaftsbegrenzung und nicht deren Begründung dienen, konzentrieren sich auf die Errichtung von Schranken gegenüber staatlicher Einwirkung zum Schutz der Freiheit des Einzelnen. Dem liegt die Vorstellung einer sich weitgehend selbst regulierenden Gesellschaft zu Grunde. Freiheit wird als Freiheit vom Staat verstanden. Der Staat tritt nur zur Gefahrenabwehr auf den Plan.311 Jede beobachtbare vorsichtige Demokratisierung bedeutet mit der Einbeziehung des Volkes die Integration der Konflikte der entstehenden Massen­ gesellschaft und modernen, pluralen Industriegesellschaft in die politische Willensbildung. Die Bildung und fortwährende Wahrung politischer Einheit wird zum neuralgischen Punkt der Staatlichkeit. Konflikte entspringen insbesondere der sich verschärfenden sozialen Frage: Die industrialisierte Gesellschaft, in der die Selbstversorgung der Arbeitsteilung weicht und dem Individuum die autarke Sicherung seiner Existenz nicht mehr möglich ist, führt zu neuen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen. Freiheit wird nunmehr auch als Freiheit durch den Staat eingefordert. Der Bürger ist zur Schaffung und Wahrung einer freien Existenz auf staatliche 308

Zum Zusammenhang zwischen konkreten normativen Vorstellungen über die Funktion einer Verfassungsordnung und staatstheoretischen Überlegungen Peter Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 159 Rn. 5; siehe auch Bodo Pieroth/ Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 95. 309 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (11 f.). 310 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (11 u. 13); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, 1988, S.  113 ff. Am Beispiel der Verfassung für das Königreich Württemberg Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2012, § 9 Rn. 289 ff. 311 Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 (316); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 8, 11; Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 95.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Unterstützung angewiesen. Die Durchsetzung der Volkssouveränität 1918 lässt den Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft schließlich entfallen. Gesellschaftliches Leben ist nicht nur von der Unterstützung des Staates abhängig, der Staat wird erst durch gesellschaftliche Interaktion hervorgebracht. Die Eigenschaft der Verfassung als Vertrag tritt zurück. Sie ist nun Ergebnis der „Selbstorganisation der Gesellschaft“.312 Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung wirkt sich auf die Inhalte des Grundgesetzes als rechtliche Grundordnung aus. Es schützt nicht nur individuelle Freiheiten, sondern schafft auch die Voraussetzungen zur Freiheitsentfaltung. Die Anerkennung der Notwendigkeit von Gewährleistungen durch die Staatsgewalt findet expliziten Niederschlag im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs 1 GG) und zum Teil in den Grundrechten (Bsp.: Anspruch der Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft in Art. 6 Abs. 4 GG). Über ihren Wortlaut hinaus verfügen auch die übrigen Grundrechte über eine Schutzfunktion und nehmen außerdem über das Gebot der grundrechtskonformen Auslegung auf das einfache Recht Einfluss.313 Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung hat die Verfassungsgeber von 1949 außerdem gelehrt, dass in einer pluralen, demokratischen Ordnung der verfassungsnormative Regelungszugriff funktional transzendiert ist. Die Verfassung lässt sich nur noch im Ausgangspunkt als normative Grundordnung begreifen. Es hat sich eine auf der Funktion der rechtlichen Ordnung aufbauende, spezifischere Funktion der Verfassung herauskristallisiert. Sie dient der Herstellung staatlicher Einheit, die weniger vorgegebene Konstante als Produkt fortwährender Einheitsbildung und -wahrung ist. Erst wo Einheit auch durch Regeln und Mechanismen der Verfassung gelingt, ist der Staat „als einheitlicher Handlungs- und Wirkungszusammenhang“ existent.314 Die Funktionserweiterung birgt einen Perspektivwechsel auf das Grundgesetz. Es ist auch Kompromiss und der Kompromisscharakter kennzeichnet sowohl die Entstehung als auch den Fortbestand der Verfassung. Die Einordnung als Kompromiss spielt zunächst auf die Verständigungsprozesse der Akteure bei der Verfassungsgebung und -änderung an, die sich in den Regelungsmodi des Grundgesetzes 312 Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  313 (316 f., Zitat S.  316); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 9, 11; Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 78, 95. 313 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 4 Rn. 78 f., 96, 101 ff. Die verfassungsrechtliche Anerkennung sozialer Rechte weist das Grundgesetz als typisches Verfassungsdokument des 20. Jahrhunderts aus, denn „nach dem Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür im 18.  und politischen Partizipationsrechten im 19. bildete im 20. Jahrhundert soziale Sicherheit das Hauptziel politischer Kämpfe.“ Dirk Schuhmann, Das Glück des Westens, Süddeutsche Zeitung, 26. September 2011, S. 16. 314 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  11 (16);­ Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 8 ff. (Zitat Rn. 8 u. 10, Kursivsetzung durch Verf.).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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niederschlagen.315 Letztere stellen nicht nur die Einigung vor, sondern auch nach dem Normerlass sicher. Die Verfassung muss ein Mindestmaß an Konsens auf sich vereinen und bedarf der „Annahme“ im Sinne einer Anerkennung als „verpflichtende Handlungsgrundlage“, um überhaupt Wirksamkeit entfalten zu können und die ihr zugedachten Funktionen zu erfüllen.316 Die Charakterisierung des Grundgesetzes als Kompromiss bedeutet darüber hinaus, dass es selbst fortwährende Vermittlungsarbeit zwischen den pluralen gesellschaftlichen Überzeugungen und Interessen leistet.317 Die Niederlegung von Regeln für die Einheitsbildung in der Verfassung trägt dazu bei, den ihnen zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Konsens zu festigen. Indem die Verfassung sich der Integration unterschiedlicher Interessen öffnet, ist eine fortlaufende Konsens- bzw. Kompromissbildung auf der Grundlage und im Rahmen der Verfassung möglich. Insoweit übernimmt das Grundgesetz Integrationsfunktion im Sinne Rudolf Smends318 und trägt zur staatlichen Einheitsbildung bei.319

B. Funktionsgerechte Ausgestaltung des Grundgesetzes Die Bedeutung des Grundgesetzes schlägt sich in der Art und Weise des Erlasses nieder, die sich von anderen Gesetzen unterscheidet. Das Grundgesetz beruht auf einem Akt der verfassungsgebenden Gewalt.320 Es ist dann eine äußere Funktionsgerechtigkeit im Sinne einer Funktionssicherung beobachtbar: Die Geltung der Verfassung wird durch die schriftliche Fixierung,321 die gesteigerte Bestandskraft und den ihr zukommenden höchsten Rang322 abgesichert. Die interne Funktionsgerechtigkeit (Funktionsgerechtigkeit im engeren Sinne) bedeutet hingegen, dass sich die Heterogenität der Regelungen des Grundgesetzes als duale inhaltliche, sprachliche und stilistische Ausgestaltung nachvollziehen und mit den zentralen verfassungsrechtlichen Funktionen erklären lässt. 315

Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (38 ff.). Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (15 f., 22); ders., Die politischen Parteien, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 263 (289 f., ­Zitat S. 289); ders., Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 (329); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 15 (Zitat ebd.). 317 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (16). 318 Ders., Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 136 ff., 187 ff., in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 119 ff. 319 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (16 f.); ders., Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 298 (299 f.); Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46 ff.). 320 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 33 f. 321 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (375, 378). 322 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 36 f. 316

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

I. Normtypen Das Grundgesetz umfasst sowohl organisations- als auch materiellrechtliche Verfassungsrechtssätze. Die organisationsrechtlichen Vorschriften regeln die Organisation des Staatsaufbaus und die Staatsfunktionen. Sie umfassen Krea­tions-, Kompetenz- und Verfahrensnormen. Materiellrechtlichen Regelungen finden sich vorwiegend im ersten Teil des Grundgesetzes. Sie normieren Grundrechte, Staatsstrukturprinzipien und Staatsziele sowie Regelungsaufträge des Gesetzgebers.323 Die Existenz der verschiedenen Normtypen harmoniert mit den verfassungsrechtlichen Funktionen. Die Verankerung sowohl organisations- als auch materiellrechtlicher Verfassungsrechtssätze lässt sich mit der staatlichen Einheits­ bildung und -wahrung durch die Verfassung erklären. Staatliche Einheit kann nur entstehen, wenn der ihr zu Grunde liegende politische Prozess in geregelten Bahnen verläuft. Sowohl die Konstituierung der staatlichen Gewalt als auch die Aufgabenerfüllung seitens der konstituierten Gewalt verlangen daher nach orga­ nisationsrechtlichen Verfassungsrechtssätzen.324 Für eine funktionierende soziale Gemeinschaft bedarf es schließlich über Organisation und Verfahren hinausgehende materiellrechtliche Regelungen. Das Grundgesetz errichtet daher eine­ umfassende Grundordnung.325

II. Verfassungssprache 1. Verschränkung von Verfassungsinhalt und -sprache Die formellen und materiellen Regelungen zeichnen jeweils sprachliche Charakteristika aus. Das Grundgesetz kennt keine bereichs-, sondern eine inhalts­ spezifische Darstellung326 und oszilliert dabei zwischen größter Unbestimmtheit und höchster Konkretheit.327

323

Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  I, 2. Aufl. 1983, § 4 II. 3., S. 117 ff., siehe auch Fn. 80 (hier auch zur Ablehnung der Begrifflichkeit „formelle Rechtssätze“); Michael Sachs, Normtypen im deutschen Verfassungsrecht, ZfG 1991, S.  1 (3 ff.). 324 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 12, 17.  325 Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  11 (15);­ Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 13 ff. Hesse spricht von einer „rechtliche[n] Ordnung“ „in einem umfassenderen Sinne“ (ebd., Rn. 13). 326 Für die finanzausgleichsrechtlichen Verfassungsnormen Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 62 f. 327 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (382).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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Der Regelungsmodus der materiellen Fragen wird vor allem im Grundrechtskatalog deutlich. Das Grundgesetz verwendet überwiegend eine knappe und dadurch prägnante, einfache und zugleich erhabene Sprache. Es verzichtet auf Symbolik und Sprachbilder. Mit dem Sprachstil harmoniert die übersichtliche Struktur der Normierungen. Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).328 Die dadurch bewirkte Eingängigkeit329 gibt eine Verständlichkeit der Formulierungen vor, die oberflächlich bleibt. Die materiellen Verfassungsnormen sind ebenso klar wie unbestimmt und daher in besonderem Maße auslegungsbedürftig. Es zeigt sich an ihnen der Erlass der Verfassung als Rahmenordnung.330 Der Idealvorstellung Hans Kelsens eines so weit als möglich präzisen Verfassungsinhalts331 werden die materiellrechtlichen Regelungen nicht gerecht. Etwas anderes gilt für Organisations- und Verfahrensfragen. Das Grundgesetz verwendet detaillierte Regelungen mit juristisch präzisen, rechtstechnischen Formulierungen. Wortreichtum und längere Sätze prägen das Bild.332 Beispiel: „Jedes Land hat [im Bundesrat] mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen.“ (Art.  51 Abs.  2 GG). Die Beobachtung einer je nach Verfassungsinhalt spezifischen Regelungstechnik333 lässt sich insbesondere an der Finanzverfassung, die unbestimmte materielle und präzise formelle Vorschriften vereint, nachvollziehen. Die finanzausgleichsrechtlichen Verfassungsnormen umfassen neben

328 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (36, 40 ff.); Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S.  373 (383–386); Christoph­ Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 59 f. Siehe auch die Charakterisierung des Begriffs „Leben“ (Art.  2 Abs.  2 GG) durch Josef Isensee, Zeitlicher Anfang des Rechts auf Leben: Der grundrechtliche Schutz des Embryos (2002), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 33 (46 f.). 329 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (384). 330 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (40 [siehe dort auch Fn. 17], 42); Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (15, 16 f., 21); ders., Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 (329); Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 14. 331 Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (69 f.); Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 67. 332 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S.  373 (381, 386); Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (43); Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 14. 333 Der dargestellte Dualismus der Regelungstechnik ist teilweise durchbrochen. Ein detailreicher Stil findet sich auch in Normen, die verschiedene materielle Rechtssätze vereinen (Bsp.: Art.  33 GG). Es lässt sich außerdem beobachten, dass eine materiellrechtliche Aussage normiert und inhaltlich sogleich entfaltet bzw. relativiert wird (Bsp.: Art. 7 GG). Andreas­ Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (43).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

unbestimmten materiellrechtlichen Verteilungsprinzipien und -zielen (Bsp.: Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) Kompetenzvorschriften, die präzise und detailliert einzelne Verteilungsentscheidungen treffen (Bsp.: Art. 106 Abs. 3 GG).334 2. Funktionsgerechtigkeit der Verfassungssprache Dass die Verfassung eine rechtliche Grundordnung errichtet, lässt kaum Rückschlüsse auf ihre sprachliche Ausgestaltung und einen bestimmten Normierungsstil zu. Als Maßstab kommen die staatliche Einheitsbildung und die von den­ genannten Hauptfunktionen umfassten spezifischeren Unterfunktionen in Frage. Sowohl die materiell- als auch die organisationsrechtlichen Regelungen bilden­ jedenfalls durch die Weite bzw. Detailliertheit ihrer Formulierungen implizit bzw. explizit die Verfassungsgebung als Verständigungsverfahren ab.335 Ihre jeweils spezifische Sprache erweist sich als funktionsgerecht. Die aktuelle Wirksamkeit und der zukünftige Bestand der Verfassung beruhen auf dem Zusammenwirken von „Flexibilität“ und „Rigidität“.336 a) Funktionsgerechte Regelung materieller Fragen Die sprachlichen Charakteristika der materiellrechtlichen Regelungen tragen zur staatlichen Einheitsbildung durch die Verfassung bei. Die (zumindest „vordergründig[…]“337) verständlichen Formulierungen und die Zurückhaltung in „wert-, gesellschafts- und ordnungspolitische[n]“ Fragestellungen338 sollen den Bürgern, 334

Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S.  62 f., 75. Der dargestellte Regelungsmodus ist durchgehendes Charakteristikum des Grundgesetzes, eine spezifische Eigenart der Finanzverfassung lässt sich (auch in dieser Hinsicht) nicht ausmachen. Vgl. auch Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a Rn. 24. Anders das Verfassungsgericht in Bezug auf die unbestimmten Vorschriften des Finanzausgleichsrechts in BVerfGE 72, 330 (390): „Die normativen Festlegungen der Finanzverfassung weisen allerdings zum Teil nicht das Maß an inhaltlicher Bestimmtheit auf, das für Regelungen im Staat-Bürger-Verhältnis charakteristisch ist, verwenden vielmehr un­ bestimmte Begriffe und schaffen damit Beurteilungs- oder auch Entscheidungsspielräume, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen […].“ 335 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (40 ff.). 336 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (44, Zitate ebd. nach R. Bäumlin); Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 68. 337 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (42). 338 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (387). Vgl. auch Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (38).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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die durch die materiellrechtlichen Regelungen unmittelbar betroffen sind, die Anerkennung der Verfassung als Grundlage staatlichen Handelns erleichtern. Die abstrakten, offenen und damit nicht nur konkretisierungsbedürftigen, sondern vor allem -fähigen Begriffe ermöglichen die normative Bewältigung der stetigen Abfolge neuer Konflikte einer pluralistischen Gesellschaft.339 Das Grundgesetz ist in inhaltlichen Fragen „Grundkonsens“, kein „Totalkonsens“.340 Der Grundrechtskatalog trägt durch die Offenheit seiner Formulierungen somit einem individuellen, Veränderungen unterworfenen Freiheitsverständnis Rechnung341 und wird zugleich seiner Schutzfunktion gerecht, indem es den Schwerpunkt der Abgrenzung kollidierender Freiheitsbereiche auf im Einzelfall bestehende Kollisionslagen legt.342 Die Verfassung schafft durch höchstmögliche Freiheit der Rechtsunterworfenen Raum für die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit.343 Der Rückzug der Verfassung auf die Bereitstellung eines Rahmens für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung darf gleichwohl nicht über die normative Kraft ihrer inhaltlichen Grundsätze hinweg täuschen. Die sprachliche Offenheit und Abstraktion ermöglicht es dem Grundgesetz gerade, seiner Ordnungsund Leitbildfunktion gerecht zu werden, denn es kann für eine unbestimmte Zahl von Einzelfällen wirksam werden und wird nicht durch Revision oder Um­ gehung überspielt.344 In Anlehnung an Walter Bagehot kann somit nicht von „dignified“, aber „[non-]efficient“ Teilen der Verfassung gesprochen werden.345 Indem die Verfassung den Umbrüchen in Recht, Politik und Gesellschaft trotzt und zugleich Orientierung bietet, wird sie ihrer Stabilisierungsfunktion im Staat

339 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (46 ff., 57); Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  11 (16 f.); ­Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (381, 385). 340 Dieter Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  298 (300 [Zitate ebd.], 304). Der Rückzug auf einen „Grundkonsens“ geht nach Grimm mit der Festlegung von Verfahren zur Integration unterschiedlicher Meinungen und Interessen einher (ebd., S. 300). Hierzu sogleich unter b). 341 Siehe hierzu Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 61: „Je mehr Worte die Verfassung im Grundrechtsteil macht, desto weniger Freiheit gewährt sie.“ 342 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (56 f.). 343 Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 25. 344 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (44, 51, 54). Siehe auch Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto­ Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (381). 345 Ders., The English Constitution, 1993, S.  63 ff. Siehe auch die Übersetzung von Klaus Streifthau (in Walter Bagehot, Die englische Verfassung, herausgegeben und eingeleitet von Klaus Streifthau, 1971, S. 49), der zwischen „leistungsfähigen“ und „ehrwürdigen“ Teilen der Verfassung unterscheidet („In solchen Verfassungen sind zwei Teile vorhanden […]: erstens die Bestandteile, welche die Ehrerbietung der Bevölkerung wecken und bewahren – die ehrwürdigen Teile […]; und dann die leistungsfähigen Teile oder die Bestandteile, vermittels derer die Verfassung wirkt und herrscht.“).

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

gerecht.346 Sie bildet als eine gegenüber allen übrigen Gesetzen Vorrang beanspruchende Grundordnung (Art.  1 Abs.  3, 20 Abs.  3 GG) den programma­tischen Unterbau des Gemeinwesens.347 Die sich aus der Unbestimmtheit ergebenden Unsicherheiten in der Verfassungsauslegung348 und die mir ihr  – angesichts des Vorrangs der Verfassung sowie der ihn sichernden Verfassungsgerichts­barkeit  – verbundenen Schwierigkeiten bei der Kompetenzabgrenzung zum Bundesgesetzgeber349 nimmt das Grundgesetz um seiner Funktionsfähigkeit willen in Kauf. b) Funktionsgerechte Regelung formeller Fragen Soll die Verfassung zur staatlichen Einheit beitragen und eine Stabilisierungsfunktion übernehmen, müssen ihre organisatorischen Grundlagen klar und präzise festgeschrieben sein. Die Verfassung kann trotz oder wegen ihrer Offenheit in inhaltlichen Fragen nur dann Akzeptanz erwarten und zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen vermitteln, wenn die „Spielregeln“ des staatlichen Konfliktlösungs- und Meinungsbildungsprozesses dauerhaft festgeschrieben sind und jeder Mehrheit nur eine vorübergehende Vorherrschaft zugestanden wird.350 Die Verfassung schafft durch die größtmögliche Bindung der Rechtsunterworfenen Rechtssicherheit. Die detaillierte Fixierung der organisationsrechtlichen Regelungen im Verfassungstext wird der Ordnungs- und Organisationsfunktion des Grundgesetzes gerecht. Zur Einrichtung eines effektiven Staatsapparats b­ edarf es handhabbarer Anweisungen zur Kreation der staatlichen Organe und eindeutiger Vorgaben betreffend ihre Kompetenzen und Verfahrensweisen. Die organisationsrechtlichen Vorschriften geben dem Verfassungsrahmen Halt. Die aus der Genauigkeit resultierende Änderungsanfälligkeit der organisationsrechtlichen Regelungen ist nicht funktionswidrig. Sie trägt zu ihrer Optimierung im Sinne einer Abhilfe von Funktionsdefiziten bei.351

346 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (52 f.). Vgl. auch Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto ­Depen­ heuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (384). 347 Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/­ Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (377 f.); Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (51). 348 Siehe die Ausführungen unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 349 Hierzu unter B. im 5. Kapitel des dritten Teils. 350 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (44, 48 ff., Zitat S. 49). 351 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (50, 53).

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

133

C. Einfügung der Zahlenverwendung in die funktionale Harmonie des Grundgesetzes Zahlen bedeuten jedenfalls in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes keine Beeinträchtigung der Verfassungsästhetik,352 für die es u. a. auf die „Klarheit“ und „Überschaubarkeit“353 des Verfassungstextes ankommt. Sie harmonieren mit der Einfachheit und Deutlichkeit der Formulierungen und werden nur vereinzelt sowie gezielt verwendet. Hierdurch ordnen sie sich einerseits quantitativ dem nichtnumerischen Verfassungstext unter und fungieren andererseits als o­ ptischer „Blickfang“.354 Sie wirken sich nicht störend im Schriftbild aus, sondern tragen im Gegenteil zur Lesbarkeit des Textes bei. Etwas anderes gilt für die überbordende Technizität neuerer Verfassungsvorschriften und deren Zahlenprägung, siehe insoweit nur die­ Normierung der Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2, 143d GG.355 Wenngleich die Normierung von Zahlen nicht in allen Fällen ästhetischen Anforderungen an den Verfassungstext entspricht, so fügen sich Zahlen doch in dessen funktionsadäquate Ausgestaltung ein. Zahlen, die auch im Verfassungskontext in der Regel eine für den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext typische Exaktheit beibehalten,356 werden hauptsächlich in den organisationsrechtlichen Vorschriften verwendet.357 Das Grundgesetz verwendet Zahlen dort, wo es konkreter, rechtstechnischer Regelungen bedarf. In Fragen der Organisation und des Verfahrens ermöglichen Zahlen die Festlegung von Details und höchst präzise Grenzziehungen. Sie verfügen somit selbst in den organisationsrechtlichen Vorschriften über eine exponierte Stellung. Auch wenn die Änderungsanfälligkeit der organisationsrechtlichen Vorschriften nicht funktionswidrig ist, bleibt hervorzuheben, dass es bei den Zahlen im Grundgesetz trotz ihres Höchstmaßes an Exaktheit tatsächlich kaum zu Änderungen gekommen ist.358 Sie sind daher in besonderem Maße 352 Der Verweis auf die Ästhetik des ursprünglichen Grundgesetztextes erfolgt in der Regel, ohne dass deren Kriterien reflektiert werden. Siehe nur Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S.  61; Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S.  35 (58). Zur Ästhetik des (Verfassungs-)Rechts Andreas v. Arnauld/Wolfgang ­Durner,­ Heinrich Triepel und die Ästhetik des Rechts, Einführung in Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts, 2007, S. V. Dies. unterscheiden in ihrer Annäherung an den Ästhetikbegriff zwischen einem aktuellen Verständnis, das sich an der praktischen Wirksamkeit des Rechts orientiert und­ Triepels Vorstellung eines „Gesamtstil[s]“ als Ausdruck des „Geist[es] einer Epoche“. Ebd., insb. S. XIX f., XXVIII f., XXXIII, XXXIX (Zitat S. XXIX). 353 Andreas v. Arnauld/Wolfgang Durner, Heinrich Triepel und die Ästhetik des Rechts, Einführung in Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts, 2007, S. V (XX). 354 Siehe Fn. 182 im zweiten Teil. 355 Christian Waldhoff, Kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, in: Claudio Franzius u. a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen., Festschrift für Michael Kloepfer, 2013, S. 261 (268). 356 Siehe die Ausführungen unter B. II. 2. und III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 357 Siehe hierzu die Bestandsaufnahme unter A. III. und die Ausführungen unter A. IV. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 358 Eine Ausnahme stellt die Herabsetzung des aktiven Wahlalters in Art.  38 Abs.  2 Halbsatz 1 GG dar. Siehe hierzu Fn. 56 im zweiten Teil.

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

mit der Stabilisierungsfunktion der organisationsrechtlichen Vorschriften vereinbar. Die Verankerung von Zahlen auf der Verfassungsebene bewirkt hingegen nur eine oberflächliche Komplexitätsreduktion bei der normativen Regelung eines Sachbereichs. Dies liegt daran, dass das Grundgesetz mit Zahlen zwar höchst präzise, aber nur punktuelle Regelungen trifft. Es öffnet sich (zum Teil explizit) der einfachgesetzlichen Ausgestaltung.359 Dies führt etwa im Wahlrecht dazu, dass die Eindeutigkeit der Verfassungsebene mit höchst komplexen einfachrechtlichen Vorschriften „unterfüttert“ wird. In materiellrechtlichen Vorschriften tauchen Zahlen nur in Ausnahmefällen auf. Das Grundgesetz verwendet in diesem Zusammenhang implizite Zahlenangaben, die zwar in einigen Fällen vergleichweise bestimmt ausfallen, aber nicht an die Exaktheit von Zahlen (im engeren Sinne) heranreichen. Die Zahlenabstinenz der materiellrechtlichen Vorschriften ist ebenfalls funktionsadäquat. Sie harmoniert nicht nur mit deren Unbestimmtheit, sondern liegt auch daran, dass die materiellrechtlichen Vorschriften dem Schutz individueller Freiheit dienen, Zahlen von Individualität aber gerade absehen. Das Funktionieren der Verfassungsordnung hängt gleichwohl nicht nur von ihrer rechtstechnischen Ausgestaltung, sondern auch von ihrer Akzeptanz ab. Die Zahlen im Grundgesetz tragen hierzu bei. Dies liegt vor allem an der mit ihnen assoziierten wertungsfreien Generierung.360 Im Ergebnis beruht die Funktionsgerechtigkeit der verfassungsrechtlichen Normierung von Zahlen nicht nur auf deren tatsächlichen semantischen Exaktheit in den organisationsrechtlichen Vorschriften, sondern auch dem bloßen Anschein naturwissenschaftlicher Rationalität.

D. Funktionsgerechtigkeit der Zahlenverwendung als Sperre für die Verzifferung des Verfassungsrechts Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Verfassungstext weitere Zahlen verankert werden. Es könnte sich dort die sachlich nicht ebenso klar abgrenzbare sowie umfangreichere Zahlenverwendung in der „Rechtswirklichkeit“ und hieran anschließend des einfachen Rechts niederschlagen. Es bedürfte wegen des Verbots der Verfassungsdurchbrechung zwar bewusster und expliziter Änderungen des Verfassungstexts (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG) und Art. 79 GG stellt weitere formelle und materielle Schranken auf, zwischen Verfassungsrecht und „Verfassungswirklichkeit“361 359

Siehe Fn. 58 im zweiten Teil. Siehe hierzu die Ausführungen zur Rolle von Zahlen im Kommunikationsprozess innerhalb des Verfassungsrechtssystems und mit anderen Systemen unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 361 Der Begriff „Verfassungswirklichkeit“ wird vorliegend nicht im Sinne von Konrad Hesse „als verwirklichte Verfassung“ verwendet. Ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 47. Sie bezeichnet die „(Rechts-)Wirklichkeit“, in der sich die Verfassung verwirklicht, auf die die Verfassung aber auch erst regelnd zugreift und damit das vom Sollen unterschiedene Sein. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 70 ff. 360

3. Kap.: Zahlenverwendung und Ausgestaltung des Grundgesetzes

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besteht dennoch ein „gegenseitige[s] Korrespondenzverhältnis“,362 d. h. die Verfassung kann sich Änderungen der „Verfassungswirklichkeit“ nicht völlig entziehen. Dies liegt an ihren gemeinsamen Kommunikationsstrukturen. Die außerverfassungsrechtliche Kommunikation nimmt auf das Grundgesetz Einfluss,363 denn der Verfassungstext verfügt zwar über Spezifika in der sprachlichen Ausgestaltung, greift aber auf die einfache Rechts- und Umgangssprache364 zurück. Es wird insoweit die methodische Diskrepanz zwischen den Verfassungsnormen (Sollen) und tatsächlichen Zusammenhängen (Sein) sowie die normhierarchische Abschottung gegenüber einfachrechtlichen Einflussnahmen überwunden.365 Seit Erlass des Grundgesetzes hat es zahlreiche Verfassungsänderungen gegeben. Es sind insbesondere Artikel in den Sachbereichen „Gesetzgebung des Bundes“, „Finanzwesen“, „Übergangs- und Schlussvorschriften“ geändert worden.366 Dieser Befund stimmt mit der Analyse von Andreas Voßkuhle überein, nach der die Präzision der Organisations- und Verfahrensvorschriften deren Änderungsanfälligkeit erhöht.367 Die technizistische Detailverliebtheit einiger Verfassungsänderungen368 beeinträchtigt dennoch nicht nur die Verfassungsästhetik. In manchen Fällen mag sie auch die Funktionen der Verfassung gefährden. Dies gilt nicht nur für die Änderung der materiell-, sondern auch der organisationsrechtlichen Vorschriften. Denn die organisationsrechtlichen Vorschriften sind zwar auch nach dem „ursprünglichen Normierungsstil des Grundgesetzes“369 präzise, enthalten aber gemäß ihrer Funktion und entgegen den neuen Regelungen klare Direktiven.370 362

Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 70 (Kursivsetzung durch Verf.). Zur wechselseitigen Beeinflussung der Kommunikationssysteme bei der Zahlenverwendung und Möglichkeit kommunikativer Interdependenzen auch aus systemtheoretischer Sicht bereits die Ausführungen unter A. VI. im 2.  Kapitel des ersten Teils. Systemtheoretisch ist­ freilich nur die Einflussnahme der verfassungsrechtlichen durch nichtrechtliche, nicht durch die einfachrechtliche Kommunikation problematisch, denn es werden dann die Grenzen des Kommunikationssystems Recht überschritten. 364 Siehe hierzu bereits die Ausführungen zur Anlehnung des einfachen Rechts an die Umgangssprache in Fn. 227 des zweiten Teils. 365 Zu „Durchbrechungen“ der Normenhierarchie zwischen Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht Christian Waldhoff, Kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, in: Claudio Franzius u. a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen., Festschrift für Michael Kloepfer, 2013, S. 261 ff.; Martin Eifert, Lernende Beobachtung des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht, in: Michael Bäuerle/Philipp Dann/Astrid Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspek­ tiven, Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 355 ff. 366 Angela Bauer/Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut, 1997, S. 86 f. 367 Siehe die Ausführungen zur Funktionsgerechtigkeit der Verfassung in formellen Fragen unter B. II. 2. b) im 3. Kapitel des zweiten Teils. 368 Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 60 f.; Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (36, 59). Vgl. auch Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (374 [siehe dort Fn. 5], 384, 388 [siehe dort Fn. 38]). 369 Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (36). 370 Siehe hierzu Andreas Voßkuhle, der allerdings nicht gesondert darauf eingeht, dass Sprache und Stil der Verfassungsänderungen auch zu einer Funktionsbeeinträchtigung der organisationsrechtlichen Vorschriften führen können. Ders., Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, 363

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2. Teil: Zahlen in der Verfassung

Eine Verzifferung des Grundgesetzes ist jedoch ebenso wenig wie eine Verzifferung der „Rechtswirklichkeit“ abzusehen. Es werden zwar mit der Schuldenbremse für Bund und Länder in Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG und in den Übergangs- und Schlussbestimmungen nach Erlass des Grundgesetzes weitere Zahlen im Verfassungstext normiert,371 insgesamt kommt es in Folge der Verfassungsänderungen aber tatsächlich nicht zu einer wesentlichen Zunahme der Zahlenverwendung. Die Eigenrationalität des Grundgesetzes als Ausrichtung seiner Normtypik und Sprache an den verfassungsrechtlichen Funktionen steht mehr noch als einer Normierung nichtnumerischer Details einer (schleichenden) Verzifferung bzw. „Mathematisierung“372 entgegen. Dies gilt insbesondere, wenn sie zu Lasten der begrifflichen Offenheit des Verfassungstextes373 und auch über die organisationsrechtlichen Vorschriften hinaus erfolgt. Die Verfassung kann außerdem aus erkenntnistheoretischer Sicht nicht umfassend verziffert sein. Sie ist auf die den Grundrechten zu Grunde liegenden Werte bezogen,374 die sich gegenüber einer verfassungsimmanenten lückenlosen Ausformung in Zahlen sperren.375

AöR 119 (1994), S. 35 (36 f., 58 f.). Vgl. auch Wolfgang v. Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 373 (274 [siehe dort Fn. 5], 388 [siehe dort Fn. 38]). 371 Siehe die Bestandsaufnahme der Zahlen im Grundgesetz unter A. III. 3. und 4. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 372 Der Begriff der „Mathematisierung“, der vorliegend für eine zunehmende Zahlenverwendung im Verfassungstext verwendet wird, geht auf Uwe Pörksen zurück. In Wissenschaftssprache und Sprachkritik (1994) untersucht er die Verwendung wissenschaftlicher Fachtermini in der Umgangssprache und spricht von ihrer „Mathematisierung“ (ebd., S. 275 ff., Zitat S. 275). Die Rede von der „Mathematisierung“ bzw. Verzifferung des (Verfassungs-)Rechts weckt zwar die Assoziation der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts, die Darstellung des Rechts als Begriffspyramide im Sinne einer Geometrisierung oder die rein logische Ableitbarkeit von Begriffen sollen hiermit aber nicht gemeint sein. Siehe zur Begriffsjurisprudenz die Ausführungen unter A. I. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 373 Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 242. 374 Siehe die Ausführungen zu Beginn der Analyse von „Zahlen in der Verfassung“ (2. Teil). 375 Siehe die Ausführungen zur begrenzten Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen unter C. im 3. Kapitel des ersten Teils.

3. Teil 

Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung Die zunehmende Bedeutung von Zahlen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar auf die Verfassung als Prüfungsmaßstab aus. Angesichts der vielfachen Verwendung von Zahlen im einfachen Recht und bei der Erkenntnis der „Rechtswirklichkeit“ kommt es in vielen Fällen darauf an, ob bzw. welche Zahlen verfassungskonform sind. Soweit das Grundgesetz nicht ausdrücklich eine numerische Abgrenzung trifft, ist sie dem Verfassungsinterpreten überantwortet. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert, wenn es über numerisch geprägte Verfassungsrechtsstreitigkeiten entscheidet, unbestimmte Verfassungsvorgaben zu Zahlen.1 Es soll in diesen Fällen von bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen die Rede sein. Die Verfassung, die sich durch ihre ausgewählte Zahlenverwendung vom einfachen Recht und der „Rechtswirklichkeit“ abhebt, wird durch die Quantifizierungen wieder an eben diese herangeführt und es schlagen sich die Änderungen der außer- und einfachrechtlichen Kommunikationsstrukturen durch eine zunehmende Zahlenverwendung in der Verfassungsrechtsprechung nieder. Zwischen der Normierung von Zahlen durch das Grundgesetz und den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen bestehen strukturelle Parallelen. Zahlen sind in nichtnumerische Anordnungen eingebunden und werden zum Teil mit unbestimmten Ausnahmeklauseln kombiniert. Die Festlegung von Zahlen wird zum Teil delegiert und die außerverfassungsrechtliche Zahlengenerierung dann durch (nicht-)numerische inhaltliche und methodische Vorgaben eingeschränkt. Betrachtet man Zahlenfestlegungen in und auf der Grundlage der Verfassung, wird eine Verzahnung von verfassungsrechtlichen Vorgaben, einfacher Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung insbesondere dort einsehbar, wo das Grundgesetz auf die Festlegung von Zahlen (Bsp.: Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG) verzichtet und explizit an den Bundesgesetzgeber in Form von Ermächtigungen oder Anordnungen delegiert (Bsp.: Art. 106 Abs. 3 Satz 3 GG). Der Bundesgesetzgeber ist bei der Zahlenfestlegung dann zuvörderst an die Verfassungsvorgaben gebunden, die die Delegation flankieren (Bsp.: Art. 106 Abs. 3 Satz 4–6 GG). Das Bundesverfassungsgericht überprüft (auch außerhalb ausdrücklicher Quantifizierungsaufträge) die einfachgesetzlichen Zahlenwerte am Maßstab der Verfassung. Im Folgenden stelle ich nach einer Ein- und Abgrenzung der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung als Sonderfall der Verfassungskonkretisierung eine (zunächst abstrakte) Kategorisierung der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen 1 Zur Bezogenheit der Verfassungskonkretisierung auf das jeweils in Rede stehende, normativ zu beurteilende „Problem“ Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes­ republik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 64 (Zitat ebd.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

anhand verschiedener Ordnungskriterien vor (1. Kapitel). Sodann werden Quantifizierungsbeispiele in einzelnen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (2.  Kapitel) und deren entscheidungsübergreifenden Strukturen nachgezeichnet (3.  Kapitel). Die methodische Auseinandersetzung legt die (Ir-)Rationalität verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen offen (4. Kapitel). Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob und welche Quantifizierungen überhaupt in die Entscheidungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts und nicht in die des einfachen Gesetzgebers fallen (5. Kapitel). 1. Kapitel

Überblick: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung A. Begriffsbestimmung Im Rechtssystem liegt eine Quantifizierung2 vor, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe zu Zahlen konkretisiert werden.3 Das Bundesverfassungsgericht verwendet nur vereinzelt den Begriff „Quantifizierung“ bzw. „quantifizieren“.4 Er taucht 2

Zur Herkunft und einer allgemeinen Definition des Begriffs siehe bereits die Einleitung der Arbeit. Die Quantifizierung im Recht hat mit der Quantifizierung in der Informationstheorie nichts gemein. Der Fachterminus der Information bezieht sich dort auf die (quantitativ bestimmbare) Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Zeichens oder Buchstabens (sog. Signale) im Text. Selten auftretende Signale und Signale, hinsichtlich derer eine große Anzahl von Alternativen denkbar sind, verfügen demnach über einen höheren Informationswert. Bei der Quantifizierung wird dann nicht die numerische Bedeutung einer Nachricht ermittelt bzw. ihr Inhalt in Zahlen umgeformt, sondern es geht um die mathematische Bestimmung eben dieses Informationswerts. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. 2000, S.  169 f. Zur Abgrenzung von bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung und Übersetzung siehe die Ausführungen unter C. II. 2. a) aa) im 4. Kapitel des dritten Teils. 3 Siehe bereits Fritz Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S.  641 (ebd.); für das Zivilrecht Anne Röthel, Norm­ konkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  240: „Quantifizierungen sind Konkretisierungen in Form von Zahlenwerten (Quantitäten).“ Die Rede von der Konkretisierung unbestimmter Verfassungsnormen bedeutet nicht, dass der Arbeit ein hermeneutisch-konkretisierendes Konzept der Verfassungsinterpretation zu Grunde gelegt wird. Hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089 (2095 ff.). Zu den verschiedenen „Modellen der Normkonkretisierung“ Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 14 ff. Die Arbeit neigt einer vermittelnden Sicht zu, die bei der Konkretisierung sowohl der Rechtsbindung als auch schöpferischen Elementen Rechnung trägt. Siehe hierzu im Einzelnen die Ausführungen zur Quantifizierungsmethodik unter B. und C. im 4. Kapitel des dritten Teils. Matthias Jestaedt kritisiert das Konzept der Konkretisierung von Verfassungsrecht schlechthin. Es nivelliere den sich aus Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung zusammensetzenden Akt der Rechtsgewinnung. Ders., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 86. 4 Der Begriff „quantifizieren“ taucht trotz der Fülle einschlägiger Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen nur in der Rechtsprechung zum Finanzausgleich und zum steuerfreien Existenzminimum auf. Siehe BVerfGE 86, 148 (232): „Die Höhe dieser Lasten läßt sich freilich

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

139

außerdem in der wissenschaftlichen Kommentierung der Verfassungsrechtsprechung, unter anderem im Zusammenhang mit einer Belastungsobergrenze im Steuerrecht, dem steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz,5 auf.6 Vom konkreten Fall abstrahierende rechtstheoretische Erörterungen fehlen. Etwas anderes gilt für das einfache Recht, insbesondere das Straf-7, Sozial-8 und Zivilrecht.9 Die Quantifizierung bedeutet die Konkretisierung eines unbestimmten Begriffs zur Beurteilung und mit Blick auf den zu beurteilenden Sachverhalt. Das Quantifizierungsergebnis, die Zahl, benennt eine konkrete Eigenschaft ihres Bezugsobjekts. Zugleich abstrahiert sie von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Ihre Abstraktionsleistung10 liegt (auch) darin, dass die Bezifferung (im untechnischen nicht genau quantifizieren.“; 116, 327 (398): „Was im Einzelnen unter einer – relativen – Haushaltsnotlage zu verstehen ist, lässt sich verfassungsrechtlich nicht generell abstrakt bestimmen, insbesondere nicht präzise quantifizieren.“; 87, 153 (170): „die Entlastungswirkung des angemessen quantifizierten Existenzminimums“; 99, 246 (259): „Das Sozialhilferecht bietet eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene.“ Kursivsetzung jeweils durch Verf. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen fordern in ihren BVerfGE 101, 158 zu Grunde liegenden Normenkontrollanträgen, das Bundesverfassungsgericht müsse die angemessene Finanzkraftabschöpfung „in Zahlenwerten konkretisieren, also quantifizieren“ (S. 200, Kursivsetzung durch Verf.). Der Terminus der Quantifizierung wird von ihnen freilich nur im Sinne einer unmittelbaren Quantifizierung verstanden (zur Quantifizierungs-Typologie sogleich im Haupttext unter C. II., zum Typ der unmittelbaren Quantifizierung ebd. unter C. II. 1.). Zur sachlichen Einbindung der Zitate in die Verfassungsrechtsprechung siehe die Darstellung der Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen im 2. Kapitel des dritten Teils. 5 Siehe nur Joachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (458 f.); Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 118 ff.; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 546. 6 Vgl. auch Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 628. Es ist dort von der „Quantifizierbarkeit“ der maximalen, noch verfassungsgemäßen Reduktion der Länderfinanzkraft im horizontalen Finanzausgleich (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) die Rede. 7 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401; Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249. 8 Fritz Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641. 9 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  240 ff.; Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71. Den Begriff „quantifizieren“ verwendet auch Reimer Schmidt. Er nennt Beispiele für die richterliche Quantifizierung, deutet dann aber in methodischer Hinsicht nur an, dass „die Denkinstrumente der herkömmlichen Interpretation von Rechtsnormen […] zu verlassen [sind und] zu den Wertungsebenen, in denen der Richter zu Hause war, […] diejenige von Zahlenrelationen und -funktionen getreten“ ist. Ders., Zahlen im Recht – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (560). 10 Hierzu bereits bei der Verortung von Zahlen im Erkenntnisprozess (B. II. im 1. Kapitel des ersten Teils) u. bei der Beschreibung naturwissenschaftlicher Rationalitätserwartungen, die durch Zahlen im Verfassungsrecht hervorgerufen werden (B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Sinne)11 immer zugleich die Charakterisierung und Typisierung12 des Bezugsobjekts bedeutet. Der Quantifizierung wohnt daher ein Spannungsverhältnis inne. In ihr fallen – sofern Ausnahmetatbestände nicht bestehen – die Heranführung an den und die Absehung vom Einzelfall zusammen.13 Holger Fleischer spricht von der Quantifizierung als Übersetzung „ausfüllungsbedürftige[r] Rechtsbegriffe in feste Zahlen oder Verhältniswerte“.14 Dies ist ungenau, denn eine Übersetzung bedeutet (wie die Quantifizierung) zwar eine Interpretation, aber keine Konkretisierung des Ursprungsbegriffs.15 Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Quantifizierung gilt es zu berücksichtigen, dass nicht jede Auslegung der Verfassung mit deren Konkretisierung einhergeht.16 Die Konkretisierung setzt an der „noch nicht eindeutig[en]“17 Verfassungsnorm an. Sie bedeutet das „schöpferische[…] ‚Entfalten‘ der Verfassungsnorm“18 im Hinblick auf und unter Verarbeitung der tatsächlichen Problemstruktur als „zu ordnende[r] ‚Wirklichkeit‘“.19 Die Charakterisierung als Konkretisierung trifft somit eine methodische Aussage über die Quantifizierung. Sie ist „delegierte[…] Rechtsetzung“.20 Das bedeutet zum einen eine Bindung an die Verfassungsvorgaben. Die Quantifizierung ist wie die Konkretisierung jedenfalls auch Gesetzesanwendung und -auslegung.21 Es bedeutet zum anderen die Ausfüllung der Delegationsgrenzen durch Rechtsschöpfung. Zwar verfügt jede Auslegung über schöpferische Elemente, bei der Konkretisierung überbrückt die Rechtsschöpfung jedoch nicht nur unvermeidbar die Unsicherheiten der Auslegung, sondern ihr wird darüber hinaus Raum gewährt. Die 11 Zur Bezifferung in Abgrenzung zur bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung sogleich unter B. 12 Siehe in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur Bedeutungsschwäche von Zahlen unter B. I. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 13 Zu den Besonderheiten bei der mittelbaren Quantifizierung siehe sogleich die Ausführungen unter C. II. 1. 14 Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (ebd.): „Von ‚gegriffenen Größen‘ spricht man, wenn Gerichte ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe in feste Zahlen oder Verhältniswerte übersetzen […].“ (Kursivsetzung durch Verf.). 15 Siehe die Ausführungen unter C. II. 2. a) aa) im 4. Kapitel des dritten Teils. 16 A. A. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 49, 60. Nach Hesse ist Verfassungsauslegung Verfassungskonkretisierung. Die Gleichsetzung beruht auf einem spezifischen Verständnis der Verfassungsinterpretation, die er auf „[un]eindeutig[e]“ (ebd.) Verfassungsvorgaben beschränkt. 17 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 60. 18 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (506). 19 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 60 ff. (Zitat Rn. 60). Siehe auch Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (505 f.). 20 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 49 ff., 124 (Zitat S. 49). 21 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 132, 144 ff. Zur Abgrenzung von Deduktion, Konkretisierung und Rechtsfortbildung bei der Anwendung von Verfassungsrecht auch Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 124 ff.

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

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Rechtsschöpfung ist Wesensmerkmal der Konkretisierung.22 Die Dominanz schöpferischer Elemente ist bei der Verfassungsauslegung häufig, aber nicht immer gegeben. Für die Verfassung ist nicht nur ihre Unbestimmtheit, sondern auch ihre Präzision charakteristisch. Und auch unbestimmte Verfassungsnormen können aus der Sicht des zu beurteilenden Einzelfalls über eine eindeutige Bedeutung verfügen. Die Konkretisierung des unbestimmten Begriffs zur präzisen Zahl bedeutet die höchstmögliche Verengung des ihm innewohnenden Wertungsspielraums. Die Konkretisierung kann im Hinblick auf ihr Ergebnis, die Zahl, als „auf die Spitze getrieben“ bzw. „zu Ende gedacht“ charakterisiert werden.23 Die Einordnung als Konkretisierung determiniert die Quantifizierungsmethodik jedoch nur insoweit, als sie schöpferische Elemente anerkennt und in den Vordergrund rückt. Die zentrale Frage nach dem Weg vom unbestimmten Rechtsbegriff zur Zahl bleibt offen. Insbesondere über die (Ir-)Rationalität der Rechtsschöpfung ist nichts gesagt. Die Quantifizierungsmethodik bedarf gesonderter Untersuchung und soll bei der Begriffsbestimmung nicht vorweg genommen werden. Es soll daher einerseits nicht das schöpferische Element verabsolutiert werden und im Sinne der Irrationalität der Zahlenfestlegung von „gegriffenen Größen“24 die Rede sein. Der Begriff „Quantifizierung“ wird andererseits allein im Hinblick auf das Konkretisierungsergebnis, die Zahl, gewählt. Er ist kein terminologischer Hinweis darauf, dass sich der numerische Sinn eines unbestimmten Begriffs rein rational oder im Wege naturwissenschaftlicher Methodik erschließt, d. h. Wertungen weitgehend ausgeschlossen sind bzw. werden sollen.25 22

Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  124, 139. Zur Abgrenzung von Deduktion und Konkretisierung bei der Anwendung von Verfassungsrecht Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S.  124 f. Zur Rechtsschöpfung als integralem Bestandteil des Normvollzugs Hans Kelsen, in dessen Stufenbau der Rechtsordnung die Rechtsanwendung stets mit einer Rechtssetzung einhergeht. „Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so dass die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“ Ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 347 (Kursivsetzung durch Verf.). Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 23 Auch wenn der Begriff es nahe legt, sollen quantitative Aussagen angesichts verbleibender Wertungsspielräume jedenfalls nicht als Endergebnis der Quantifizierung gelten. Die Ausführungen zur Präzision von Zahlen im Verfassungstext (unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils) lassen sich auf die Verfassungsrechtsprechung übertragen. 24 Wenn Holger Fleischer von „gegriffenen Größen“ spricht, nimmt er eine methodische Verengung der Ausgangsdefinition auf solche Zahlen vor, die weder auf „empirische[n] Er­ fahrungen“ noch „Analogieschlüsse[n]“ beruhen. Ders., „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm­ Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (ebd.). Den Terminus der „gegriffen[en]“ im Sinne von irrationalen Zahlenfestlegungen verwenden auch Fritz Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quan­ tifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644) u. Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 198. 25 Zur Quantifizierungsmethodik bei der Erfassung tatsächlicher Phänomene der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen siehe die Ausführungen unter B. I. und II. im 2. Kapitel des ersten Teils. Vgl. dazu Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 197 f.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die Quantifizierung muss von der numerischen Struktur des Rechtssystems überhaupt abgegrenzt werden, die Folge der nach systemtheoretischer Vorstellung erfolgenden Ausdifferenzierung am Code „Recht/Unrecht“ ist.26 Die Kommunikationen im Rechtssystem sind in Folge dieser binären Codierung und entsprechend der Erfassung in digitalen Systemen in Zahlen darstellbar („Recht/ Unrecht“27 = 0/1).28 Es sind daneben weitere Ansatzpunkte im Rechtssystem für eine binäre (Binnen-)Codierung denkbar. Stark vereinfacht lassen sich auch rechtliche und mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen in Zahlen darstellen (verfassungsgemäß/ verfassungswidrig = 0/1). Die Quantifizierung nach vorliegendem Verständnis nimmt dagegen tatsächlich verwendete Zahlen, d. h. den konkreten Inhalt rechtlicher Entscheidungen und damit deren Komplexität in den Blick. Der Terminus der „Quantifizierung“ kann spezifiziert werden, indem der Rang der Ausgangsnorm und die quantifizierende Instanz näher in den Blick genommen werden. Die unbestimmte, zu quantifizierende Ausgangsnorm kann sowohl Bestandteil der Verfassung (und ggf. Verfassungsprinzip oder Ausdruck eines allgemeinen Verfassungsprinzips) als auch eine einfache Rechts- oder Verwaltungsvorschrift sein. Quantifizierende Akteure finden sich innerhalb aller drei Gewalten (Judikative, Exekutive und Legislative) und hierarchisch betrachtet nicht nur auf der obersten Ebene, d. h. innerhalb der Judikative sind Quantifizierungen nicht nur Bestandteil der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der Fachgerichte. Die verfassungsrechtliche Quantifizierung bestimmt sich durch den Rang der Ausgangsnorm: Ein unbestimmter Verfassungsrechtsbegriff wird zur Zahl konkretisiert. Die Kategorie der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung erweitert die Perspektive auf die quantifizierende Instanz. Die Konkretisierung des unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffs zur Zahl erfolgt durch ein Verfassungsgericht. Bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung konkretisiert das Bundesverfassungsgericht unbestimmte Verfassungsvorgaben zu Zahlen. Die normativen Anknüpfungspunkte müssen sich nicht unbedingt aus dem Grundgesetz ergeben. Wenn das Bundesverfassungsgericht in Landesverfassungsstreitigkeiten entscheidet (Art.  99 Halbsatz  1 GG), ist die entsprechende Landesverfassung Prüfungsmaßstab. In der ersten Entscheidung zu Sperrklauseln im Wahlrecht (BVerfGE 1, 208) sind Vorgaben der schleswig-holsteinischen Landesverfassung Ausgangspunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung.29 Ergebnis der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung sind immer Größen. Die Bestimmung

26

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 165 ff. (Zitat S. 172). Siehe soeben Fn. 26 im dritten Teil. 28 Siehe hierzu auch die Ausführungen zur Diskussion einer Digitalisierung des Rechts und richterlicher Entscheidungen in den 1970er Jahren unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 29 Siehe die Ausführungen unter B. I. im 2. Kapitel des dritten Teils. 27

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

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einer Bezugsgröße und deren Maßeinheiten ist (integrierte)  Vorstufe der Festlegung des konkreten Zahlenwerts. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Größen, die das Grundgesetz  – neben den Ordnungszahlen  – vorgibt, hingegen auf einen Sachverhalt anwendet, liegt keine Quantifizierung vor. Es kann dann problematisch sein, ob die grundgesetzlich geforderte Größe tatsächlich vorliegt. In dem Fall ist in die Subsumtion ggf. ein Messvorgang integriert. Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung als Konkretisierung unbestimmten Verfassungsrechts ist „delegierte Rechtssetzung“,30 aber sie ist keine verfassungsrichterliche Rechtsfortbildung.31 Sie müsste dazu an der Verfassungsgebung im Sinne einer Lückenschließung teilnehmen. Die Verfassungsgesetzgebung würde erst durch den Richter vervollständigt.32 Der zur Quantifizierung in Bezug genommene verfassungsrechtliche Normbestand ist jedoch nur unbestimmt und die Unbestimmtheit allein kann nicht als Gesetzeslücke charakterisiert werden. Das Bundesverfassungsgericht setzt nicht an „Löcher[n] im Normgewebe“33 an.34 Die Einordnung der Unbestimmtheit als Lücke im weiteren Sinne und der Konkretisierung als (zulässige) Rechtsfortbildung wäre über die Terminologie hinaus auch folgenlos. Die Konkretisierung lässt sich methodisch nicht mit den Instrumenten zur Lückenfüllung, dem Analogieschluss und der teleologischen Extension bzw. Reduktion, (nach-)vollziehen und sich deren Beschränkung auf die Heranziehung vorhandener Rechtsregeln bei der Konkretisierung auch nicht rechtfertigen.35

30

Anne Röthel, siehe soeben Fn. 20 im dritten Teil. A. A. Christoph Degenhart, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 808. 32 Vgl. Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (403); Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 11; Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1982 ff.). Zur Abgrenzung von Konkretisierung und Rechtsfortbildung von Verfassungsrecht Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 124 ff. 33 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 633. 34 Richterliche Rechtsfortbildung liegt jedenfalls vor, wenn der quantifizierte Rechtssatz zur Lückenfüllung des geschriebenen Rechts durch ein Gericht erst aufgestellt wird. Hierzu auf der Ebene des einfachen Rechts Walter Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (404); Fritz Hauseisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644); Karl Larenz zur Rspr. des BAG über Rückzahlungsklauseln bei Gratifikationen in Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 11 f. Bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung ist dies in keinem der untersuchten Beispiele der Fall. 35 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  125 ff. Siehe auch Fritz­ Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S.  11 f.; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 633. 31

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

B. Abgrenzung: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung und Zahlen in Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen liegen nicht immer vor, wenn Zahlen in Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen genannt werden. Von der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung muss die Bezifferung unterschieden werden.36 Sie liegt vor allem dann vor, wenn der Prüfungsgegenstand­ numerisch bestimmt ist. Dies kann von vornherein der Fall sein. In anderen Fällen wird der Prüfungsgegenstand erst vom Bundesverfassungsgericht für die Subsumtion unter eine Norm in Zahlen konkretisiert. Der Prüfungsmaßstab wird durch die Bezifferungen (noch) nicht zu Zahlen konkretisiert (quantifiziert) und eine Quantifizierung auch nicht notwendigerweise bei der Prüfung des numerisch bestimmten Sachverhalts vorgenommen. Dies illustrieren folgende Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen: Im Urteil zur Pendlerpauschale geht es um die Verfassungsmäßigkeit der Regelung im Einkommensteuergesetz, nach der Fahrten zum Arbeitsplatz nicht mehr ab dem 1., sondern erst ab dem 21. Kilometer als Werbungskosten geltend gemacht werden können. Das Bundesverfassungsgericht prüft nicht, ob eine Differenzierung gerade ab dem 21. Kilometer zulässig ist, sondern ob die Differenzierung überhaupt mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist.37 Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmtheit des Untreuetatbestands muss zur Sicherstellung des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen der wirtschaftliche Nachteil durch die Strafgerichte beziffert werden.38 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet nicht, ob im konkreten Fall oder dass erst ab einer bestimmten Höhe ein wirtschaftlicher Nachteil im Sinne des Untreuetatbestands besteht. Es muss überhaupt ein in Zahlen fassbarer Schaden vorliegen. Eine Quantifizierung in dem hier herausgearbeiteten Sinne erfolgt, obschon Zahlen eine Rolle spielen, in beiden Entscheidungen nicht. Gleiches gilt für die Frist- und Kostenentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht setzt dem Gesetzgeber Fristen zur Neuregelung, wenn es verfassungswidrige Gesetze nicht für nichtig, sondern für weiterhin anwendbar oder 36 Hierzu ausführlich bei der Nachzeichnung von Mustern der analysierten Verfassungsgerichtsentscheidungen unter B. I. im 3. Kapitel des dritten Teils. 37 BVerfGE 122, 210 (235 ff.). 38 „Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen  – etwa bei einem ohne weiteres greifbaren Mindestschaden – abgesehen, werden die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen müssen.“ „Dabei geht es darum, die Schadensfeststellung auf eine sichere Grundlage zu stellen, sie rational nachvollziehbar zu machen und sich zu vergewissern, ob im Einzelfall eine hinreichend sichere Grundlage für die Feststellung eines Vermögensnachteils überhaupt existiert oder ob man sich in einem Bereich bewegt, in dem von einem zahlenmäßig fassbaren Schaden noch nicht die Rede sein kann.“ BVerfGE 126, 170 (211 f.).

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

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unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.39 Für die Bemessung der Frist stellt das Bundesverfassungsgericht u. a. auf folgende Faktoren ab: Es berücksichtigt, wie lange das Parlament für eine Neuregelung braucht. Es stellt, um der Gestaltungsmacht des Parlaments zur tatsächlichen Wirksamkeit zu verhelfen, insbesondere die Komplexität der Regelungsmaterie in Rechnung. Relevant ist auch die Schwere des Verfassungsverstoßes. Es kommt darauf an, inwieweit der Bürger durch die Fortgeltung bzw. Nichtanwendbarkeit der verfassungswidrigen Regelung belastet wird.40 Es sind damit für die Dauer der Frist unbestimmte Verfassungsvorgaben wie der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip relevant. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen liegen dennoch nicht vor. Dies liegt daran, dass bei der Fristbemessung nicht die unmittelbare Orientierung an der Verfassung im Vordergrund steht. In den Verfassungsgerichtsentscheidungen kann kein Konkretisierungszusammenhang zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und den Fristen nachgezeichnet werden. Es stehen vielmehr tatsächliche Erwägungen wie die Praktikabilität der Frist und nicht zuletzt der Einsatz einer Frist als Druck- und Sanktionsmittel im Vordergrund, wenn das Bundesverfassungsgericht das Vorverhalten des Gesetzgebers bei der Abhilfe eines möglicherweise schon bekannten Verfassungsverstoßes in Rechnung stellt. Deutlicher wird das Fehlen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen bei den Kostenentscheidungen des Gerichts. Die Anordnung einer teilweisen Kostenerstattung richtet sich im Fall des § 34a Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) danach, inwieweit die Verfassungsbeschwerde begründet ist.41 § 34a Abs. 3 BVerfGG räumt dem Bundesverfassungsgericht Ermessen bei der Erstattung der Kosten ein.42 Verfassungsvorgaben werden nicht quantifiziert. Zahlen in den Entscheidungen sind schließlich auch dann nicht Ergebnis bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen, wenn sie Bestandteil verfassungsdogmatischer Hilfskonstruktionen zur Darstellung des Verfassungsinhalts sind. Beispiel ist die Dreistufenlehre zur Systematisierung möglicher Eingriffe in Art. 12 GG und entsprechender Anforderungen an deren Rechtfertigung.43 39

Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 51, 71. In den nachfolgenden Entscheidungen taucht nur der Fall der Unvereinbarkeitserklärung auf. Zu Fristen im Zusammenhang mit Unvereinbarkeitserklärungen siehe etwa BVerfGE 87, 153 (181); 99, 216 (244). 40 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 51; BVerfGE 85, 264 (327). 41 Wolfgang Kunze, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 34a Rn. 15. 42 Wolfgang Kunze, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 34a Rn. 58. 43 Siehe hierzu nur Thomas Mann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art.  12 Rn.  125 ff. m. w. N. Neben den Zahlen sind mit Zahlen bzw. der Zahlengenerierung­ zusammenhängende Begriffe wie Maß, Messen, Größe, Quantifizierung und Qualifizierung Bestandteil der Verfassungsrechtsdogmatik. Zur Messbarkeit als Charakteristikum rechtsstaatlichen Handelns Friedrich E. Schnapp, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 6. Aufl. 2012, Art. 20 Rn. 37.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

C. Ordnungskriterien für die Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung I. Größenarten, Maßeinheiten und Bezugsgruppen der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen Bei einer parallelen Betrachtung der Zahlenwerte in der Verfassung und der Verfassungsrechtsprechung fällt auf, dass dieselben Größenarten, nämlich Geld und Zeit (bzw. Alter), dominieren. Während im Verfassungstext nur in Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG ein konkreter Euro-Betrag normiert wird, geht es außer beim Ehegattensplitting und der relativen Grenze für die Parteienfinanzierung indes in allen Beispielsfällen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen um die Verfassungsmäßigkeit konkreter Geldbeträge. Im Gegensatz zum Verfassungstext werden bei den Zeitangaben, die in den untersuchten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen in Rede stehen, nicht unterschiedliche Maßeinheiten verwendet. Es wird die Verfassungsmäßigkeit von Jahresangaben überprüft. Bei den Mengenangaben des Grundgesetzes handelt es sich in vielen Fällen um Quoren. Diese dominante Rolle findet ebenfalls in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entsprechung. Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen im Zusammenhang mit Quoren finden sich in den Entscheidungen zu den Sperrklauseln im Wahlrecht und den Mitwirkungsrechten von Professoren in Hochschul­gremien.

II. Quantifizierungs-Typologie Es kann zwischen verschiedenen Typen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen unterschieden werden. Sie bilden Gegensatzpaare, die an unterschiedliche Merkmale anknüpfen. Die Quantifizierungstypen schließen sich außerhalb dieser Gegensatzpaare nicht gegenseitig aus. Die Kategorisierung stellt u. a. darauf ab, dass die Verfassungskonkretisierung in verschiedenen Stufen erfolgt: Quantifizierungen können bei der „Maßstabbildung“44 oder Subsumtion erfolgen (un­ mittelbar | mittelbar) und unmittelbar den verfassungsrechtlichen Maßstab konkretisieren oder auf eine schrittweise Präzisierung der Verfassungsvorgaben folgen (einstufig | mehrstufig). Verfassungsvorgaben werden positiv oder negativ numerisch bestimmt. Unterscheidungskriterium sind außerdem die Methodik (autonom | heteronom), Reichweite (umfassend | punktuell) und Präzision der Quantifizierung (präzise | in [unbestimmten] Bandbreiten).

44 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (182).

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

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1. Unmittelbar und mittelbar Die unmittelbare und mittelbare Quantifizierung lassen sich den Stufen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsbildung, der „Maßstabbildung“45 und Subsumtion, zuordnen. Zum Teil quantifiziert das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtliche Vorgaben, indem es sie bei der Entfaltung der Entscheidungsmaßstäbe unmittelbar zu Zahlen konkretisiert. Die Zahlenvorgaben können dort sachverhaltsbezogen formuliert sein. Die Trennung der „Maßstabbildung“46 von der Subsumtion47 kann aber auch dazu führen, dass die Zahlen als konkretisierter Verfassungsinhalt allgemeingültig formuliert sind. Für die mittelbare Quantifizierung ist ihr Sachverhaltsbezug kennzeichnend. Das Bundesverfassungsgericht trifft Aussagen über den numerischen Gehalt von Verfassungsvorgaben, indem es Zahlen in Gesetzen, Exekutiventscheidungen und Urteilen48 subsumiert und für (nicht) verfassungskonform erklärt.49 Die verfassungsgerichtliche Überprüfung legislativ festgelegter Zahlen knüpft nicht ausschließlich an der einfachgesetzlichen Ebene an. Verfassungsänderungen, d. h. auch im Wege verfassungsändernder Gesetzgebung in den Verfassungstext Eingang findende Zahlen, müssen (wenn auch eingeschränkt) ebenfalls verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen. Das Verfassungsgericht überprüft numerische Verfassungsänderungen an den Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG.50 Die Quantifizierung ist in den vorgenannten Fällen mittelbar, weil sie über die Subsumtion bestehender Zahlenwerte und nicht die originäre verfassungsgerichtliche Generierung von Zahlen erfolgt. Ihre Anerkennung hängt davon ab, ob die Quantifizierung als Konkretisierung auf die Entwicklung von Entscheidungsmaßstäben beschränkt ist oder die Subsumtion des in Rede stehenden Falls an der Konkretisierung der Verfassung teilhat.51

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Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 47 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils. 48 Zur umfassenden Kontrollgewalt des Bundesverfassungsgerichts Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 4 ff. 49 Warum es sich bei der Subsumtion von Zahlen unter die Verfassung um eine verfassungsgerichtliche Quantifizierung und damit Konkretisierung der Verfassung handelt, wird bei der Auswertung der Entscheidungen zum Finanzausgleich problematisiert. Siehe die Ausführungen unter A. I. 6. b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 50 Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 22 Rn. 17 ff., 25 f. Eine Änderung der Wahlperiode, die Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG zur Zeit auf vier Jahre festgeschrieben hat, muss sich etwa am Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) messen lassen. Demnach bedarf es zur demokratischen Legitimation des Parlaments regelmäßiger Wahlen. Auch wenn positiv eine bestimmte Dauer der Legislaturperiode aus dem demokratischen Prinzip nicht zwingend abgeleitet werden kann, muss es doch eine Grenze geben, ab der eine Verlängerung der Wahlperiode nicht mehr zulässig ist. Christoph Degenhart, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 76, 105. 51 Hierzu ausführlich in der Analyse der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zum­ Finanzausgleich unter A. I. 6. b) im 2. Kapitel des dritten Teils. 46

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die methodische Frage nach dem Weg vom unbestimmten Rechtsbegriff zur Zahl bleibt unverändert brisant. Die Quantifizierung durch Subsumtion numerisch bestimmter, einfachgesetzlicher Regelungen (bzw. von deren Folgewirkungen oder tatsächlichen Anknüpfungspunkten) ist von den Fällen zu unterscheiden, in denen das Bundesverfassungsgericht zur Quantifizierung der Verfassung numerisch bestimmte, einfachgesetzliche Regelungen nur in Bezug nimmt.52 Es handelt sich dann um heteronome,53 aber keine mittelbaren Quantifizierungen. Es sind außerdem nicht alle Quantifizierungen im „Subsumtionsteil“54 der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen mittelbar. Quantifizierungen durch Subsumtion sind immer mittelbar, es existieren aber auch unmittelbare Quantifizierungen anlässlich der Subsumtion. Sie liegen etwa vor, wenn das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungskonformität (angepasster) aktueller oder vergangener, in der konkreten Entscheidung nicht zur Prüfung stehender Regelungen verweist.55 Unmittelbare Quantifizierungen liegen außerdem vor, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Festlegung der Rechtsfolgen numerisch bestimmte Übergangsregelungen formuliert. 2. Umfassend und punktuell Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert bei der Quantifizierung Verfassungsvorgaben umfassend oder punktuell zu Zahlen. Bei der punktuellen Quantifizierung benennt das Gericht eine Zahl als verfassungskonform, daneben bleiben abweichende Quantifizierungen möglich. Bei der umfassenden Quantifizierung bildet das Bundesverfassungsgericht den gesamten Norminhalt in Bezug auf eine bestimmte verfassungsrechtliche Streitfrage in einer Zahl bzw. in Zahlen ab.

52 Dies ist etwa in der Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung der Fall. Das Bundes­ verfassungsgericht formuliert eine absolute Grenze für die unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung, indem es das Finanzierungsvolumen, wie es in den Jahren vor der Entscheidung einfachgesetzlich gewährt worden ist, als Maximalbetrag für die Zukunft festschreibt. Siehe die Ausführungen bei der Darstellung der Beispielsfälle bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen unter A. VII. 1. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils. 53 Hierzu sogleich unter C. II. 6.  54 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (170). 55 Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Höhe, in der Parteispenden als Sonderausgaben steuerlich absetzbar sind. Bei der Subsumtion der aktuellen Regelungen weist es darauf hin, dass die Anhebung des Betrags, in Höhe dessen Parteispenden unmittelbar von der­ Steuerschuld abgezogen werden können, entsprechend dem Anstieg des Durchschnittsein­ kommens verfassungskonform wäre. Bei der Prüfung der Publizitätsgrenze für Parteispenden verweist es auf die nicht mehr geltende Vorgängerregelung als auch aktuell verfassungskonforme Alternativregelung. Siehe die Ausführungen unter A. VII. 1. b) und d) im 2. Kapitel des dritten Teils.

1. Kap.: Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung

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3. Präzise und in (unbestimmten) Bandbreiten Eine Quantifizierung liegt vor, wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff präzise zur Zahl konkretisiert wird. Es kann auch eine Bandbreite verfassungskonformer Zahlen formuliert werden. Die Bildung einer numerischen Bandbreite bildet nur dann ein Gegenstück zur präzisen Quantifizierung, wenn die Möglichkeiten verfassungskonformer bzw. -widriger Zahlen nicht abschließend aufgezählt werden. Die Bandbreite muss unbestimmt bleiben. Ihre Ränder werden dann nicht genau umrissen, sondern offen gelassen. 4. Positiv und negativ Das Bundesverfassungsgericht bestimmt verfassungskonforme und verfassungswidrige Zahlen. Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen sind in dem einen Fall positiv, im anderen negativ. 5. Einstufig und mehrstufig Die Unterscheidung einstufiger und mehrstufiger Quantifizierungen knüpft an der Anzahl der Zwischenergebnisse bei der Verfassungskonkretisierung an. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert unbestimmte Verfassungsrechtsbegriffe umgehend zu Zahlen56 oder interpretiert die Vorgaben der Verfassung zunächst qualitativ und quantitativ, um die eigenen abgeleiteten (unbestimmten) Begriffe numerisch zu bestimmen.57 6. Autonom und heteronom Die Unterscheidung autonomer und heteronomer Quantifizierungen betrifft die Methodik der Zahlengenerierung durch das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert unbestimmte Verfassungsvorgaben, ohne Zahlen außerhalb der Verfassungsrechtsprechung in Bezug zu nehmen. Dann liegt eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung vor. Eine bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung ist heteronom, wenn das Gericht zur Quantifizierung auf Zahlen außerhalb der Verfassungsrechtsprechung zurückgreift, die auf Verfassungsebene, in einfachen Rechtsnormen, Urteilen der Fachgerichte oder 56 Bsp.: Quantifizierung des in Art. 14 Abs. 2 GG verankerten Spannungsverhältnisses zwischen Privat- und Sozialnützigkeit des Eigentums zum Halbteilungsgrundsatz. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. II. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 57 Bsp.: Quantifizierung des angemessenen Ausgleichs i. S. v. Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Verwaltungsentscheidungen (zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben) festgelegt worden sind oder tatsächliche Zusammenhänge abbilden. Für die Quantifizierung können Zahlen außerhalb der Verfassungsrechtsprechung maßgeblich sein, ohne dass ihre Inbezugnahme zu einer eindeutigen Quantifizierung der Verfassungsvorgaben führt.58 Eine Quantifizierung ist heteronom, wenn das Bundesverfassungsgericht eine rechtlich fixierte oder tatsächliche Größe als einen Bestimmungsfaktor unter mehreren für die Quantifizierung heranzieht. Sie ist auch dann heteronom, wenn das Gericht die Quantifizierung an eine einzige rechtlich fixierte oder tatsächliche Größe koppelt. 2. Kapitel

Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen A. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Geld Wenn das Bundesverfassungsgericht die Höhe von Geldleistungsansprüchen59 bzw. -pflichten auf deren Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft und der verfassungsrechtliche Entscheidungsmaßstab unbestimmt ist, muss es diesen quantifizieren. Die Analyse der Verfassungsrechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Quantifizierung legt den Schwerpunkt auf den Sachbereich „Geld“. Hier finden sich die meisten Beispiele und sämtliche Typen verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen.

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Laut Bundesverfassungsgericht muss das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum mindestens so hoch sein wie die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, wobei die Berechnung der durchschnittlichen Leistungen zum Teil  im Un­klaren bleibt. Hierzu sogleich unter A. II. 2. a) cc) im 2. Kapitel des dritten Teils. 59 Dabei kann es sich um Leistungsansprüche des Bürgers (z. B. Sozialleistungen), des Gesamtstaats (z. B. Steueransprüche)  oder einzelner Gliedstaaten (z. B. Ausgleichsansprüche im Finanzausgleich) handeln. Zum Teil ergibt sich der Leistungsanspruch unmittelbar aus der Verfassung (z. B. der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG). Zum Teil wird er erst durch einfaches Gesetzesrecht bei der Umsetzung unbestimmter Verfassungsvorgaben begründet (z. B. der Leistungsanspruch im horizontalen Länderfinanzausgleich nach § 5 Abs.  2, 10 Abs.  1 FAG, Gesetzgebungsauftrag des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 u. 2 GG). Hierzu Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd.  VII, Loseblattsammlung, Stand: 21.  Ergänzungslieferung April 1983, Art.  107 Rn. 68.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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I. Horizontaler Finanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen Die Entscheidungen zum horizontalen Finanzausgleich und zu den Bundesergänzungszuweisungen nehmen bei der Analyse der Verfassungsrechtsprechung im Sachbereich „Geld“ eine zentrale Rolle ein. Das Bundesverfassungsgericht trifft dort eine Fülle quantitativer und numerischer Aussagen. Zahlen finden immer dann verstärkte Verwendung im Recht (vorliegend in der Finanzausgleichsgesetzgebung und der sie kontrollierenden Verfassungsrechtsprechung), wenn der zu ordnende Lebensbereich zahlengeprägt ist. Dies ist beim Finanzausgleich der Fall, denn es geht um die Verteilung der Staatseinnahmen und damit von Geld im Bundesstaat. Die Zahlen und Rechenverfahren, die der Finanzausgleichsgesetzgeber zur Konkretisierung der Verfassung erlässt, sind fortwährend Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und unterliegen daher einer verstärkten Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Dies gilt innerhalb der verschiedenen Stufen der Einnahmenverteilung insbesondere für die Festlegung horizontaler Ausgleichsleistungen unter den Ländern nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1, 2 GG.60 Zugleich ist der methodische Umgang mit den und mehr noch die Bindungswirkung sowie Justiziabilität der unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Finanzausgleich „als [einer] Domäne des Politischen“61 umstritten. 1. Einordnung des horizontalen Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen in den Finanzausgleich im Grundgesetz Der Begriff Finanzausgleich (im weiteren Sinne) bezeichnet den Gesamtkomplex der staatlichen Einnahmenverteilung im Bundesstaat.62 Das Grundgesetz normiert in Art. 106, 107 GG ein geschlossenes Verteilungs- und Ausgleichsystem des Finanzaufkommens.63 Verteilung und Ausgleich erfolgen in verschiedenen, aufeinanderfolgenden Stufen, die primäre und sekundäre sowie vertikale und h­ orizontale

60 Rainer Wernsmann, BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 652 (652). 61 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S.  62. Wenn im Folgenden auf die Ausführungen Korioths zum Finanzausgleich verwiesen wird, muss berücksichtigt werden, dass er seinen Ausführungen eine frühere Fassung des Finanzausgleichsgesetzes (FAG vom 23. Juni 1993, BGBl. I, S. 944, 977, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 1995, BGBl. I, S. 1962) zu Grunde legt. Ders., ebd., S. 59, Fn. 1. 62 Ulrich Häde, Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (ebd.). 63 Die Verteilungskomponente ist notwendige Folge der Etablierung eines Mischsystems auf Seiten der staatlichen Einnahmen, im Rahmen dessen Bund und Länder neben eigenen über gemeinsame Einnahmen (Gemeinschaftssteuern, sog. Einnahmenverbund) verfügen. Christian Bumke/Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2013, Rn. 2538 ff., 2575.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Verteilungsmechanismen kombinieren. Deren Ziel ist eine Finanzausstattung von Bund und Ländern, die aufgaben- bzw. ausgabenangemessen ist.64 Ausgangspunkt ist Art. 106 GG, der den Steuerertrag vertikal zwischen Bund und Ländergesamtheit verteilt. Hiernach folgt gem. Art. 107 Abs. 1 GG die horizontale Aufteilung der Finanzmasse, die nach der ersten Stufe der Ländergesamtheit zugewiesen ist, auf die einzelnen Länder. Die ersten beiden Verteilungsstufen werden als primär charakterisiert. Das Grundgesetz regelt mit der Zuweisung der Ertragshoheiten die „originär[e] […] Finanzausstattung“65 von Bund und Ländern.66 Die nun folgenden Ausgleichsstufen sind demgegenüber sekundär. Sie fungieren als Korrektur67 der Primärverteilung und legen Umverteilungsleistungen fest.68 Im sekundären horizontalen Finanzausgleich (Länderfinanzausgleich oder Finanzausgleich im engeren Sinne) erfolgen Zuweisungen finanzkraftstarker an finanzkraftschwache Länder. Ziel ist ein angemessener Ausgleich der Länderfinanzkraft, Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG.69 Die Verteilung des Finanzaufkommens beschließt die (einen horizontalen Ausgleich bewirkende vertikale70) Möglichkeit 64

BVerfGE 72, 330 (383); 86, 148 (213); 116, 327 (378). Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rn. 59, siehe auch die Verweise auf die Verfassungsrechtsprechung in Fn. 198; Ulrich Häde, Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (2); Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 623, 648 f. Wolfgang Renzsch beklagt die Untauglichkeit des aktuellen Verfahrens zum Finanzausgleich (verfassungsrechtliche Vorgaben und einfachgesetzliche Konkretisierung), eine aufgabengerechte Finanzausstattung herbeizuführen. Ders., Geben und Nehmen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. August 2012, S. 8. 65 BVerfGE 72, 330 (385). 66 Ulrich Häde, Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (2). Bei der primären Ertragsverteilung findet grundsätzlich kein auf die Finanz- bzw. Leistungskraft der Länder abgestimmter Ausgleich statt. Allein bei der Verteilung des Umsatzsteueraufkommens spielen Bedarfskriterien eine Rolle (Art. 106 Abs. 3 Satz 3–6, 107 Abs. 1 Satz 4 GG) und Art. 107 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 GG normiert mit der Möglichkeit von Umsatzsteuerergänzungsanteilen ein „horizontal ausgleichende[s] Element“ (BVerfGE 116, 237 [379]). 67 Insoweit von einer Korrektur zu sprechen, ist auch hinsichtlich der quantitativen Größenverhältnisse angemessen: „Mit der Verteilung der Ertragshoheitsrechte sind die quantitativ bedeutsamsten Zuordnungsentscheidungen des Finanzausgleichs getroffen. Es bleibt die Aufgabe einer Feineinstellung der Länderfinanzausstattung. Sie geschieht auf den beiden Stufen des umverteilenden Finanzausgleichs.“ Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 537. 68 Zur Terminologie und Unterscheidung zwischen dem primären und sekundären Finanz­ ausgleich Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 107 Rn. 14 f.; Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rn. 60. 69 St. Rspr.; siehe nur BVerfGE 1, 117 (131); 86, 148 (213 ff.); 101, 158 (221). Das Bundesverfassungsgericht wertet den Finanzausgleich als subsidiäre Korrektur, nicht als Fortsetzung der Steuerverteilung. BVerfGE 72, 330 (386 f.); 86, 148 (214). Kritisch hierzu Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 543 f. 70 Nach BVerfGE 116, 327 (378) normiert Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG „die den horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern mit vertikalen Elementen abschließende Ermächtigung zur Gewährung von Ergänzungszuweisungen des Bundes“. Theodor Maunz verwendet

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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des Bundes, leistungsschwachen Ländern Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs zu gewähren, sog. Bundesergänzungszuweisungen gem. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG.71 Während der horizontale Finanzkraftausgleich primär aufkommensorientiert ist, können bei der Vergabe von Bundesergänzungszuweisungen auch Sonderlasten auf der Ausgabenseite der Länderhaushalte berücksichtigt werden.72 Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, die vorliegend auf Quantifizierungen untersucht werden, beziehen sich auf die dritte und vierte Stufe, den horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen. 2. Prüfungsmaßstab: Unbestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben in Art. 107 Abs. 2 GG Die Varianz der staatlichen Einnahmen- und Ausgabenstruktur im Bundesstaat und ihre Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung führen zu regelmäßigen politischen Auseinandersetzungen über die Verteilung des Finanzaufkommens. Inwieweit verfassungsmäßig zugewiesene Aufgaben erfüllbar sind, hängt von der Verfügbarkeit über die notwendigen Finanzmittel ab. Die Verteilung der Finanzen im Bundesstaat darf daher nicht allein Abbild der politischen Machtverhältnisse und abhängig vom politischen Verteilungskampf sein. Die wesentlichen Entscheidungen müssen auf Verfassungsebene getroffen werden. Bund und Ländern ist die „verfassungskräftige[…] Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen“ garantiert.73 Die Finanzverfassung bedient sich „an den entscheidenden Gelenkstellen der Finanzverteilung unbestimmter Verfassungsbegriffe“. Den Verteilungsregeln des Art. 107 Abs. 2 GG fehlt es „weithin [an] […] inhaltliche[r] Eindeutigkeit“,74 ihr „Wortlaut ist für sich genommen wenig aussagekräftig“.75 Die dritte und vierte den ­Terminus des „horizontale[n] Finanzausgleich[s] aus Mitteln des Bundes“. Ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd.  VII, Loseblattsammlung, Stand: 21.  Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 3. Anders Helmut Siekmann, der bei der Begriffsbildung nicht auf die Ausgleichswirkungen der Bundesergänzungszuweisungen zwischen den Ländern, sondern auf die Richtung der Zahlungsströme vom Bund zu den Ländern abstellt. Bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen handele es sich um einen „sekundären vertikalen Finanzausgleich“. Ders., in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 107 Rn. 44 (Zitat ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 71 St. Rspr.; BVerfGE 72, 330 (402); 86, 148 (261); 101, 158 (223). 72 BVerfGE 72, 330 (402); 116, 327 (380). 73 BVerfGE 34, 9 (20, Zitat ebd., Kursivsetzung durch Verf.); Ulrich Häde, Das Ende der­ Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (ebd.). 74 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 62 ff. (Zitate S. 68 u. 62). 75 BVerfGE 86, 148 (218) zum Berücksichtigungsgebot („berücksichtigen“) in Art.  107 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Stufe des Finanzausgleichs, d. h. die im engeren Sinne ausgleichenden Finanzzuweisungen im Bundesstaat, regelt Art. 107 Abs. 2 GG nicht im Detail. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen beschränken sich auf „unbestimmte Verfassungsbegriffe“76 als Verteilungsprinzipien, die in ihrem Inhalt erst konkretisiert werden müssen: Der horizontale Finanzausgleich soll einen „angemessenen Ausgleich“ bewirken. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG benennt als Bezugspunkt allein die „Finanzkraft der Länder“, „Finanzkraft und Finanzbedarf der Gemeinden“ sind „zu berücksichtigen“. Satz 3 stellt auf die „ergänzende[…] Deckung“ des „allgemeinen Finanzbedarfs“ „leistungsschwache[r] Länder[…]“ ab. Der Vorschrift kann mit Gewissheit nur entnommen werden, dass Ergänzungszuweisungen aus Bundesmitteln stammen müssen sowie dass ihre Gewährung im Ermessen des Bundes steht und ohne Zweckbindung erfolgt. Der Schwerpunkt der Auslegungsbemühungen liegt auf den Voraussetzungen der „ergänzenden“ Deckung des Finanz­bedarfs und der „Leistungsschwäche“ der Empfängerländer. „Stellung und Funktion der Bundesergänzungszuweisungen“ im Finanzausgleichsystem des Grundgesetzes sind unklar.77 Die Unschärfe der Vorgaben des Grundgesetzes für den Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen harmonisiert mit dem Regelungsgegenstand, der in mehrfacher Hinsicht Flexibilität auf Seiten der einfachgesetzlichen Konkretisierung erfordert. Der einfache Gesetzgeber muss auf Änderungen der tatsächlichen finanziellen Situation im Bundesstaat reagieren und auf den korrigierenden Verteilungsstufen der tatsächlichen Bedarfssituation entsprechen können, dazu über einen im Vergleich zur primären Steuerverteilung „bewegliche[re]n Ausgleichsposten“ verfügen.78

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Stefan Korioth wählt den Terminus des „unbestimmten Verfassungsbegriffs“ im Finanzausgleich in Anlehnung an Herbert Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Wilhelmine Dreißig (Hrsg.), Probleme des Finanzausgleichs I, 1978, S. 135 ff. Die Abwandlung der Begrifflichkeit soll verhindern, dass unreflektiert verwaltungsrechtliche Konnotationen in den Kontext des Verfassungsrechts Aufnahme finden. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 63 f. 77 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 63 ff., 542, 645 (Zitat ebd.). Siehe auch Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 107 Rn. 39. Zur heterogenen sprachlichen Regelungsstruktur des Finanzausgleichsrechts siehe die Ausführungen zur funktionsgerechten Ausgestaltung der Verfassung unter B. II. 2. im 3. Kapitel des zweiten Teils. 78 In diesem Sinne konstatiert Herbert Fischer-Menshausen eine „normative Zurückhaltung“ des „Verfassungsgeber[s]“ „insbesondere gegenüber komplexen Lebensbereichen und Wirkungszusammenhängen, die […] so geartet sind, daß sie für künftige Entwicklungen offengehalten werden müssen oder der freien politischen Auseinandersetzung, Entscheidung und Gestaltung vorbehalten bleiben sollen.“ Den Begriff des „beweglichen Ausgleichsposten[s]“, der im Text zur Charakterisierung der Korrekturmechanismen in Art. 107 Abs. 2 GG verwendet wird, zieht Fischer-Menshausen in Bezug auf die Umsatzsteuer als atypisches Element im Rahmen der Verteilung des Steuerertrags zwischen Bund und Ländern heran. Ders., Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Wilhelmine Dreißig (Hrsg.), Probleme des Finanzausgleichs I, 1978, S. 135 (135 f., 138).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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3. Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Überprüfung: Die einfachgesetzliche(n) Konkretisierung(en) des Art. 107 Abs. 2 GG Die konkreten Finanzströme79 im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen sind einfachgesetzlich geregelt. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG normieren einen Gesetzgebungsauftrag zur horizontalen Angleichung der Länderfinanzkraft. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG ermächtigt zur Regelung vertikaler Zuweisungen des Bundes, den Bundesergänzungszuweisungen. Es besteht insoweit ein Regelungsermessen des Bundesgesetzgebers.80 a) Gestufte Konkretisierung im Maßstäbeund Finanzausgleichsgesetz Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben für den horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen werden, wie vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 101, 15881 gefordert, gestuft im Maßstäbe- und im Finanzausgleichsgesetz konkretisiert.82 Der einfache Gesetzgeber legt auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 107 Abs. 2 GG zunächst im Maßstäbegesetz (MaßstG) übergeordnete Verteilungsgrundsätze fest. Er normiert die Voraussetzungen für die Ausgleichsansprüche und -verbindlichkeiten im horizontalen Finanzausgleich sowie die Gewährung von ­Bundesergänzungszuweisungen

79 Vergleicht man die Zuweisungen auf den verschiedenen Stufen des Finanzverteilungsund Ausgleichsystems ihrer Größe nach, ergibt sich, dass die Verteilung der primären Ertragshoheitsrechte quantitativ bedeutender als der umverteilende Finanzausgleich ist. Der umverteilende Finanzausgleich hat den Charakter einer „Feineinstellung“ und führt gleichwohl zum „weitgehenden Abbau der regionalen Finanzkraftunterschiede“. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 537, 540 (Zitate ebd.). Korioth macht daneben Gründe für die große Annäherung der Finanzausstattung der Länder in Art. 106 und Art. 107 Abs. 1 GG aus. Ders., ebd., S. 542 f. 80 Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd.  VII, Loseblattsammlung, Stand: 21. Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 3. 81 Die Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht quantifiziert, werden im Haupttext (zumindest auch) unter ihrer amtlichen Fundstelle aufgeführt. Dies geschieht angesichts der Vielzahl relevanter Entscheidungen aus Gründen der Übersichtlichkeit und besseren Vergleichbarkeit. Hinzu kommt, dass sich für die meisten analysierten Entscheidungen keine feste Benennung herausgebildet hat. Einer Entkontextualisierung der Entscheidungen (hierzu unter A. I. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils) wird dadurch angesichts der ausführlichen Darstellung der jeweiligen Streitgegenstände sowie der Nachzeichnung von Rechtsprechungslinien und -brüchen nicht Vorschub geleistet. 82 Das Maßstäbe- und das Finanzausgleichsgesetz regeln darüber hinaus die vertikale (Art. 106 Abs. 3 Satz 3–6 und Abs. 4 Satz 1 GG, zweiter Abschnitt des MaßstG, erster Abschnitt des FAG) und horizontale Umsatzsteuerverteilung (Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG, dritter Abschnitt des MaßstG, erster Abschnitt des FAG).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

und Maßstäbe für die Höhe der finanziellen Zuweisungen.83 Hierauf aufbauend werden die konkreten Zuteilungs- und Ausgleichsfolgen, d. h. die Höhe und Richtung der Geldströme im Finanzausgleichsgesetz (FAG), festgelegt.84 Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer Maßstabsgesetzgebung soll nicht nur die Bindung an die Verfassungsvorgaben sicherstellen,85 das Gericht führt außerdem seine Bemühungen früherer Verfahren um eine Rationalisierung der einfachgesetzlichen Gestaltung des Finanzausgleichs fort.86 b) Fokus: Zahlen im Finanzausgleichsgesetz Das FAG bestimmt, wer, in welcher Höhe im horizontalen Finanzausgleich über Ausgleichsansprüche verfügt und wem entsprechende Verbindlichkeiten obliegen (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG). Empfänger und Höhe der Leistungen werden zudem für die Bundesergänzungszuweisungen festgeschrieben. Die Festlegung der Zu­teilungs- und Ausgleichsfolgen bedeutet die Quantifizierung der ursprünglich ­unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben durch den einfachen Gesetzgeber: Sie sind „in Zahlen gefasst[…]“.87 Das FAG bedient sich zur Regelung des horizontalen Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen folgender Mechanismen:

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Das MaßstG soll als Selbstverpflichtung fungieren und die zeitlich vorgelagerte Festlegung von Maßstäben soll eine „rein interessensbedingte Verständigung über Geldsummen“ zumindest erschweren. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass das MaßstG in „Kontinuitätsverpflichtungen eingebunden“ wird, um seine Abänderung zur Verfolgung von „Finanzierungs­ interessen“ oder zur Wahrung von „Besitzständen und Privilegien“ zu verhindern. BVerfGE 101, 158 (217 f.). 84 BVerfGE 101, 158 (214 ff., Zitat S. 215); Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a GG Rn. 61 ff. 85 Zur Diskussion um den „Verfassungswert“ der Finanzausgleichsnormen unter A. I. 1. im 3. Kapitel des dritten Teils. 86 Siehe hierzu BVerfGE 101, 158 (230); 72, 330 (415 f.); 86, 148 (239). Eine Zusammenfassung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben für die Zahlengenerierung durch den Finanzausgleichsgesetzgeber findet sich sogleich unter A. I. 5. b), eine sachbereichsübergreifende Darstellung der Verfahrensvorgaben des Bundesverfassungsgerichts für den quantifizierenden Gesetzgeber unter B. II. im 3. Kapitel des dritten Teils. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum MaßstG hat vielfältige Kritik erfahren. Insbesondere erscheint zweifelhaft, ob sich in der Maßstabsgesetzgebung – wie vom Bundesverfassungsgericht angenommen – die Erstzuständigkeit des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation verwirklicht (BVerfGE 101, 158 [217 f., 238]). In BVerfGE 101, 158 führt das Bundesverfassungsgericht seine Vorgaben für die einfachgesetzliche Gestaltung des Finanzausgleichs fort und verdichtet sie. Das aktuelle MaßstG fixiert lediglich die Anforderungen an den Finanzausgleich, die das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz ableitet. Peter Selmer, Entscheidungsbesprechung des Urteils des BVerfG v. 11.11.1999 – 2 BvF 2/98 u. a., JuS 2000, S. 914 (915). 87 BVerfGE 101, 158 (215).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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aa) Rechenverfahren zur Gestaltung des horizontalen Finanzausgleichs Zur Herstellung eines angemessenen Ausgleichs der Länderfinanzkraft (Art. 107 Abs.  2 Satz 1 GG) stellt das FAG ein komplexes Rechenverfahren auf.88 Soweit Zahlen Bestandteil der einfachgesetzlichen Regelungen über den horizontalen Finanzausgleich sind, handelt es sich um Faktoren dieses Verfahrens. Die Ausgleichsverpflichteten, Ausgleichsberechtigten und Höhe der Ausgleichsleistungen sind nicht unmittelbar im FAG festgelegt, sondern Ergebnis der Finanzausgleichsrechnung. Kern des horizontalen Finanzausgleichs ist der Vergleich der Finanzkraftund Ausgleichsmesszahlen der Länder. Hieraus ergeben sich Ausgleichsverpflichtete, Ausgleichsberechtigte und Höhe der Ausgleichsleistungen (§§ 5, 10  FAG). Die Finanzkraftmesszahl zeigt das tatsächliche, absolute Finanzaufkommen eines Landes an. Die Ausgleichsmesszahl weist den Anteil des jeweiligen Landes am bundesdurchschnittlichen Länderfinanzaufkommen aus. Dazu wird das bundesdurchschnittlich je Einwohner erzielte Landesfinanzaufkommen mit der Einwohnerzahl des einzelnen Landes multipliziert.89 Unterdurchschnittlich ausgestattete Länder ­erhalten Ausgleichszahlungen ihrer überdurchschnittlich ausgestatten Bundesgenossen. Die Höhe der Ausgleichsverpflichtungen und -zuweisungen hängt davon ab, ob und um wie viel die Ausgleichs- die Finanzkraftmesszahl eines Landes unter- bzw. überschreitet.90 Im FAG sind zur Bemessung der Ausgleichszuweisungen und -beiträge Formeln niedergelegt.91 bb) Bundesergänzungszuweisungen: Anknüpfung an das Rechenverfahren des horizontalen Ausgleichs und Normierung fester Beträge Das FAG konkretisiert das Tatbestandsmerkmal der Leistungsschwäche des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG und normiert zwei Anknüpfungspunkte für die Zuteilung von Bundesergänzungszuweisungen: eine unterdurchschnittliche Finanzkraft 88 Siehe im FAG (BGBl. I 2001, S. 3955, 3956; zuletzt geändert durch Art. 2 G vom 27. Mai 2010, BGBl. I, S. 671) den zweiten Abschnitt „Finanzausgleich unter den Ländern“. 89 Bei den bundesdurchschnittlich pro Einwohner erzielten Einnahmen wird zwischen Landes- und Gemeindesteuern unterschieden. Sie werden mit den Einwohnerzahlen der Länder – auch hier wird zwischen Landes- und kommunaler Ebene unterschieden  – multipliziert und dann addiert. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 546. 90 Am Verfahrenskern des Vergleichs von Finanzkraft- und Ausgleichsmesszahlen haben alle Finanzausgleichsgesetze seit der erstmaligen Überprüfung in BVerfGE 1, 117 festgehalten. Zur Ausgestaltung des Verfahrens im Detail §§ 4–10 FAG und Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 545–547. 91 „Die Ausgleichszuweisungen eines ausgleichsberechtigten Landes werden ermittelt durch Multiplikation seiner Ausgleichsmesszahl mit einem der folgenden Faktoren F: 1. F = ¾ ∙ x – 317⁄20 000 […].“ (§ 10 Abs.  1 Satz 1 FAG) / „Die Ausgleichsbeiträge eines ausgleichspflichtigen Landes werden […] ermittelt durch Multiplikation seiner Ausgleichsmesszahl mit einem der folgenden Faktoren: […].“ (§ 10 Abs. 2 Satz 1 FAG).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

(allgemeine oder Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen) und ein  – für einzelne Fallgruppen anerkannter – Sonderbedarf der Länder (Sonderbedarfsbundes­ ergänzungszuweisungen).92 Die Bestimmung der Empfänger und Höhe allgemeiner Bundesergänzungszuweisungen geht aus einem Rechenverfahren hervor, das an den Kern des horizontalen Finanzausgleichs, den Länderfinanzkraftvergleich, anknüpft (§ 11 Abs. 2 FAG) und eine weitere Einebnung der Länderfinanzkraftunterschiede bewirkt. Bei den Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen93 sind die berücksichtigungsfähigen Sonderbedarfe,94 die Empfänger und die Höhe der Leistungen unmittelbar im FAG festgeschrieben. Den Empfängerstaaten wird zum Teil 92 Zur terminologischen Unterscheidung zwischen allgemeinen und Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen § 10 Abs. 2 MaßstG. Stefan Korioth bezeichnet die allgemeinen auch als Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 646. 93 Stefan Korioth sieht die besondere Funktion der vierten Stufe des Länderfinanzausgleichs darin, – im Wege der Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen – Sonderlasten, d. h. Defizite auf der Ausgabenseite, auszugleichen. „Die aufgabenangemessene Finanzausstattung [sei] […] trotz ausgeglichener Finanzkraft der Länder dann nicht bei allen Ländern gesichert, wenn es erhebliche Unterschiede in den Ausgabenlasten [gebe] […].“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 648 ff. (Zitat S. 649). Diese Einordnung darf nicht zu einer Gegenüberstellung von Fehlbetrags- und Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen dergestalt verleiten, dass es sich bei den einen um einen rein einnahmen-, bei den anderen um einen rein ausgabenbezogenen Ausgleich handelt. Die Perspektive auf die Ausgaben wird sowohl beim horizontalen Finanzausgleich bzw. den Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen als auch bei den Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen eingenommen – bloß ­unter anderen Vorzeichen. Der Ausgleichsmechanismus nach Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG, an den die Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen anknüpfen, stellt den „objektive[n] und abstrakte[n] Bedarf“ (Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 578) der Länder und Gemeinden in Rechnung. Für die verwendeten Bedarfsindikatoren bedeutet dies, dass sie „konkrete[…] Ausgabenbelastungen“ (Korioth, ebd.) außer Betracht lassen und unterschiedslos auf alle Länder angewendet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass Sonderbedarfe einzelner Länder nur ausnahmsweise berücksichtigt werden (BVerfGE 72, 330 [383, 400 f.]; 86, 148 [238]). Als ausgleichsrelevant wird allein der besondere Bedarf der Stadtstaaten und der Gemeinden bestimmter Länder (Einwohnerveredelungen in § 9 Abs. 2 u. 3 FAG) eingestuft (besondere Belastungen der Küstenländer wegen der Unterhaltung und Erneuerung ihrer Seehäfen werden in der aktuellen Fassung des FAG nicht mehr berücksichtigt). Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 571, 578 ff., 649 ff. 94 Nach dem geltenden FAG (2005/2010) erhalten die Länder Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen wegen teilungsbedingter Sonderlasten und einer unterproportionalen kommunalen Finanzkraft (§ 11 Abs. 3 FAG), wegen Sonderlasten durch strukturelle Arbeitslosigkeit (§ 11 Abs.  3a FAG) und wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung (§ 11 Abs.  4 FAG). Bundesergänzungszuweisungen wegen einer (extremen) Haushaltsnotlage, in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Überprüfung [siehe hierzu sogleich unter A. I. a) bb)], werden nach dem aktuellen FAG nicht gewährt. Die Länder, die ursprünglich Empfänger solcher Zuweisungen waren (nach § 11 Abs. 6 FAG a. F. Bremen und das Saarland bis Ende 2004) bzw. um ihren Empfängerstatus stritten (Berlin), werden bei den Bundesergänzungszuweisungen wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung, § 11 Abs. 4 FAG, berücksichtigt. In § 12 Abs. 1 u. 4 MaßstG finden sich nach wie vor Vorgaben für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen in Haushaltsnot­ lagen. Daniel Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, 2010, S. 212.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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unmittelbar ein bestimmter Geldbetrag zugewiesen, etwa beim Ausgleich von Sonderlasten durch strukturelle Arbeitslosigkeit nach § 11 Abs. 3a FAG und bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung gem. § 11 Abs. 4 FAG. Beim Sonderbedarfstatbestand der teilungsbedingten Sonderlasten und der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft wird zunächst die Gesamtsumme der Zuweisungen (nach Jahren gestaffelt) festgelegt. Sodann werden die prozentualen Anteile der Empfängerländer aufgeschlüsselt. Bei den Zahlen in den Bestimmungen des FAG, die die Sonderbedarfsergänzungszuweisungen regeln, handelt es sich mithin um konkrete Geldbeträge, Prozent- und Zeitangaben. Allein in Bezug auf die Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen wird ein vom horizontalen Ausgleich abweichender Regelungsmechanismus für den Ausgleich festgelegt. 4. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Überblick Das Bundesverfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit der einfachgesetzlichen Regelungen mit den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben. Bestimmungen des FAG sind von den Landesregierungen wiederholt im Wege der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG) vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen worden (BVerfGE 1, 117; 72, 330; 86, 148; 101, 158 und 116, 327). Führt man die konträren Anträge (Erklärung bestimmter Normen für verfassungswidrig bzw. -konform) auf die haushaltswirtschaftliche Situation der Länder bzw. ihren Status als Geber- oder Nehmerland zurück, werden die Differenzen über Auslegungsfragen als Auseinandersetzung monetärer Interessen entlarvt. Der wahre Kern des Streits um den Finanzausgleich liegt darin, dass die finanzschwachen Länder mehr Geld erhalten, die finanzstarken Länder weniger Geld zahlen wollen.95 In den Verfahren geht das Bundesverfassungsgericht je nach den vorgebrachten Angriffspunkten auf zentrale Fragen des Finanzausgleichs ein. Die erste Entscheidung zum grundgesetzlichen Finanzausgleich (BVerfGE 1, 117) ergeht vor den Finanzreformen 1955 und 1968/69.96 Prüfungsmaßstab ist Art. 106 Abs. 4 GG a. F., dessen Wortlaut von Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG erheblich abweicht. Der Ausgleich der Länderfinanzkraft ist demnach lediglich fakultativ.97 Gleichwohl werden die Weichen für die Folgerechtsprechung gestellt und das ­Bundesstaatsprinzip 95

Im Zusammenhang mit BVerfGE 101, 158 Rainer Wernsmann, BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 652 (653). 96 Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über den Finanzausgleich im Rechnungsjahr 1950 (FAG) sowie der dazugehörigen Ersten Durchführungsverordnung. 97 Erst ab 1955 ist der Länderfinanzausgleich obligatorisch. Die derzeitige Fassung des Art. 107 Abs. 2 GG geht auf die Finanzreform von 1969 zurück. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 620 f.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

wird zum zentralen Bezugspunkt bei der Auslegung erhoben. Dessen konträre Inhalte gelten von nun an als Grenzen der Finanzkraftangleichung. Auf der Grundlage der heutigen Fassung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Finanzausgleich urteilt das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal in BVerfGE 72, 330. Ihren Charakter als Ausgangspunkt behauptet die Entscheidung auch dem Inhalt nach: Das Bundesverfassungsgericht bejaht die (heftig umstrittene) Justiziabi­lität der finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben98 und legitimiert damit die Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich überhaupt. Die folgenden Entscheidungen bauen hierauf und aufeinander auf. Es erfolgt eine Verdichtung und Erweiterung der Maßstäbe für den horizontalen Finanzausgleich und die Gewäh­rung von Bundesergänzungszuweisungen. Dies verdeutlichen die zahlreichen internen Verweise. Brüche sind erst in BVerfGE 101, 158 beobachtbar. In BVerfGE 72, 330 und 86, 148 formuliert das Bundesverfassungsgericht Vorgaben für die Bestimmung der Länderfinanzkraft nach Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG. In BVerfGE 72, 330 begründet es zugleich seine Rechtsprechung zu den Bundesergänzungszuweisungen. In BVerfGE 86, 14899 und 116, 327100 steht die Existenz von Haushaltsnotlagen in einzelnen Bundesländern und die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen zu deren Abhilfe in Streit.101 Ab BVerfGE 101, 158 fordert das Bundesverfassungsgericht eine gestufte einfachgesetzliche Konkretisierung der finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben in einem Maßstäbe- und Finanzausgleichsgesetz.102

98

Siehe hierzu auch die Ausführungen unter A. I. 1. im 3. Kapitel des dritten Teils. Das Bundesverfassungsgericht erklärt das FAG insoweit für verfassungswidrig, als es Bremen neben dem Saarland nicht oder nur mit Abschlägen bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen wegen einer Haushaltsnotlage berücksichtigt. Beide Länder befänden sich in einer extremen Haushaltsnotlage; die Nicht- bzw. Minderberücksichtigung Bremens bedeute einen Verstoß gegen das föderative Gleichbehandlungsgebot. 100 In der jüngsten Entscheidung zum Finanzausgleich muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob sich Berlin in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. Auch Berlin hätte in diesem Fall in den Kreis der Empfänger von Sanierungshilfen (§ 11 Abs. 6 FAG a. F.) aufgenommen werden müssen. Dies hätte wiederum das föderale Gleichbehandlungsgebots verlangt. Eine extreme Haushaltsnotlage besteht nach der Annahme des Gerichts jedoch nicht. 101 Zuletzt haben das Saarland und Bremen einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gestellt und die Unvereinbarkeit des § 11 FAG (vom 20.12.2001, geändert durch Gesetz vom 24.12.2003 bzw. 22.11.2005) mit Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG gerügt, soweit ihnen ab 2005 keine Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen zum Zwecke der Haushaltssanierung gewährt wurden. Das Saarland hat zugleich einen Antrag im Organstreitverfahren erhoben und vorgebracht, der Bund komme seiner bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht nicht nach und verstoße dadurch gegen die verfassungsmäßigen Rechte des Saarlandes. Das Saarland und Bremen haben die vorgenannten Anträge im April 2011 zurückgenommen. Die verbundenen Verfahren wurden daraufhin eingestellt, siehe den Einstellungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts BVerfG, 2 BvF 3/05 vom 13. Juli 2011. 102 Zwischen dem Überprüfungsanliegen der Antragsteller und dem Schwerpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Ausführungen besteht in BVerfGE 101, 158 eine Diskrepanz. Auslöser der Normenkontrollanträge ist angesichts der Durchführung eines gesamtdeutschen Finanzausgleichs vor allem auch die Intensität der Finanzkraftangleichung und der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen. 99

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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5. Zahlen und Zahlenbezug in den Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Finanzausgleich Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für den einfachen Gesetzgeber verfü­ gen im Finanzausgleichsrecht103 jedenfalls über einen numerischen Bezug. Bei den Finanzzuweisungen bzw. der Finanzausstattung von Bund und Ländern handelt es sich um Geldbeträge, damit um Zahlenwerte. Wenn die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen auf verfassungsrechtliche Quantifizierungen untersucht werden sollen und es sich bei eben diesen um Konkretisierungen unbestimmter Verfassungsrechtsbegriffe zu Zahlen handelt, kommt es jedoch allein auf Aussagen des Bundesverfassungsgerichts mit einem eigenen numerischen Gehalt an. Von ihnen sind mögliche Vermeidungsstrategien verfassungsgerichtlicher Quantifizierung zu unterscheiden. Neben den numerischen Aussagen lässt sich eine verfahrensrechtliche Einbindung der Zahlengenerierung durch den Finanzausgleichsgesetzgeber in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen beobachten. a) Ergebniskontrolle des Finanzausgleichsgesetzes Sollen die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen aus den Entscheidungen zu den horizontalen Finanzausgleichsleistungen und Bundesergänzungszuweisungen herausgefiltert werden, muss bei der Analyse folgender Frage nachgegangen werden: Welche einfachgesetzliche Bestimmung des FAG misst das Gericht an welchem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab und welche nume­ rische Aussage generiert es dabei? Bezugspunkt der numerischen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts sind nicht immer unmittelbar im FAG festgelegte Zahlen. Die materielle Prüfung des Gerichts betrifft einzelne Schritte und (Teil-) Ergebnisse des Finanzausgleichs, nicht das einfachgesetzlich festgelegte Rechenverfahren insgesamt. Die numerischen Aussagen sind in einen verfassungsgerichtlichen Konkretisierungsprozess finanzverfassungsrechtlicher Vorgaben eingebettet, 103

Den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen liegt eine wechselnde einfache Rechtslage zu Grunde. Ein MaßstG wurde erstmals 2001 nach dem vierten Urteil zum Finanzausgleich vom 11. November 1999 (BVerfGE 101, 158) erlassen. Die Finanzausgleichsgesetzgebung geht auf das Jahr 1950 zurück. Die Regelungen des FAG haben seitdem – vor allem in Reaktion auf die Finanzverfassungsreform 1968/69, die Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich und die Integration der neuen Bundesländer in den Finanzausgleich – zahlreiche Änderungen erfahren. Die numerischen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts beziehen sich auf die Normierungen des FAG, nicht auf solche des MaßstG. Im FAG erfolgt die zahlenmäßige Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch den einfachen Gesetzgeber (siehe soeben im Haupttext). Eine Einordnung der in Bezug genommenen einfachgesetzlichen Normierungen in den Gesamtkomplex des FAG und eine Nachzeichnung einfachgesetzlicher Änderungen erfolgt nur, insoweit dies für das Verständnis der Verfassungsrechtsprechung notwendig ist. Ansonsten bleibt zu berücksichtigen, dass die im Folgenden aufgeführte Verfassungsrechtsprechung das FAG in seiner jeweils geltenden Fassung in Bezug nimmt.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

im Rahmen dessen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsvorgaben vor der Anwendung auf die Bestimmungen des FAG schrittweise präzisiert. aa) Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Sachbereich des horizontalen Finanzausgleichs, Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG Angesichts der Komplexität des Rechenverfahrens im FAG liegt die erste­ Herausforderung bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung darin, den einzelnen einfachgesetzlichen Verfahrensschritten eines der Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 2 Satz 1, 2 GG als Prüfungsmaßstab zuzuweisen.104 Nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG soll die Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen werden. Die Finanzkraft ist damit sowohl Gegenstand als auch Maßstab des horizontalen, umverteilenden Finanzausgleichs unter den Ländern. Dem entspricht das FAG, das zwischen den Finanzkraft- und Ausgleichsmesszahlen der Länder (ihrer „absoluten“ und „relative[n] Finanzkraft“105) unterscheidet und deren Verhältnis zum Ausgangspunkt des Ausgleichs macht.106 Die Finanzkraft ist der „Schlüsselbegriff“107 des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG, an dem die Konkretisierungsbemühungen des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung der Bestimmungen des FAG ansetzen. Es überprüft die einfachgesetzliche Zusammensetzung der Finanzkraftund Ausgleichsmesszahl und ihre Annäherung als angemessenen Ausgleich. (1) Bestimmung der tatsächlichen Finanzkraft der Länder (a) Ländereinnahmen Das Bundesverfassungsgericht trifft eine Weichenstellung und erste quantitative Aussage, wenn es bestimmt, dass der Begriff der Finanzkraft umfassend zu verstehen ist. Dies bedeutet, dass grundsätzlich alle Einnahmen eines Landes relevant sind.108 Dem einfachen Gesetzgeber wird gleichwohl ein Gestaltungsspielraum 104

Vgl. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 547. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 578. 106 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 548, 578; Fritz Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs gemäß Art. 107 II GG, 1984, S. 42. Siehe bereits die einführenden Erläuterungen zur Gestaltung des horizontalen Finanzausgleichs als Rechenverfahren im FAG. 107 Rolf Grawert, Die Kommunen im Länderfinanzausgleich, 1989, S. 53; Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 548. 108 BVerfGE 72, 330 (397 ff.). Siehe im Zusammenhang der Einbeziehung der Gemeindeeinnahmen auch BVerfGE 86, 148 (216). Der Rückgriff auf das Bundesstaatsprinzip bei der Auslegung der „Finanzkraft“ in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht wird von Stefan Korioth kritisiert, der im Gegensatz zur verfassungsgerichtlichen teleologischen eine systematische Auslegung favorisiert. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 549 ff. 105

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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eingeräumt: Zur Bestimmung der tatsächlichen Finanzkraft eines Landes müssen nicht alle Einnahmen addiert werden. „Finanzkraft der Länder ist ein unbestimmter Begriff, der vom Grundgesetz in Art.  107 Abs. 2 Satz 1 nicht definiert wird. Er ist vom Gesetzgeber im Finanzausgleichsgesetz anzuwenden und zu handhaben. Dabei ist der Gesetzgeber befugt, ihn begrenzt näher zu bestimmen. Die Wahrnehmung dieser Befugnis muß – im Hinblick auf Sinn und Gehalt dieses Begriffs – vertretbar sein. […] Aus der Verfassung läßt sich nicht detailliert ableiten, welche Einnahmen der Länder im einzelnen in die Berechnung ihrer Finanzkraft gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG einfließen müssen. Dies zu bestimmen ist Sache der – wenn auch begrenzten – Gestaltungs- und Abgrenzungsbefugnis des Gesetzgebers.“109

Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet den Gesetzgeber bei der Ermittlung der Finanzkraft auf das Kriterium der „Ausgleichsrelevanz“ und konkretisiert es im Wege der Aufstellung einer Reihe von Negativkriterien. Eine Einnahme kann u. a. „unberücksichtigt“ bleiben, „wenn sie ihrem Volumen nach nicht ausgleichsrelevant ist […].“110 Ab welcher Höhe das Volumen einer Einnahme ausgleichsrelevant ist, wird sodann nicht generell quantifiziert; das Bundesverfassungsgericht bejaht oder verneint im Einzelfall die Ausgleichsrelevanz. „Die Einnahmen der Länder aus der Grunderwerbsteuer, der Feuerschutzsteuer und der Spielbankabgabe sind ihrer Höhe nach ausgleichsrelevant; das Volumen der Grunderwerbsteuer betrug in allen am Finanzausgleich beteiligten Ländern seit 1982 jährlich mehrere Milliarden DM, das der Feuerschutzsteuer und der Spielbankabgabe jährlich einige hundert Millionen DM.“111 „Das Volumen der bergrechtlichen Förderabgabe ist ausgleichsrelevant. Die Gesamteinnahmen der Bundesländer hieraus belaufen sich derzeit jährlich auf knapp 2 Milliarden DM […].“112

(b) Einbeziehung der kommunalen Einnahmen Nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GG ist die „Finanzkraft“ der Gemeinden bei der Bestimmung der Länderfinanzkraft „zu berücksichtigen“.113 Die Terminologie weist auf einen Gestaltungsspielraum des Finanzausgleichsgesetzgebers hin. Zwei mögliche Bezugspunkte des Gestaltungsspielraums können unterschieden werden. Es geht darum, welche kommunalen Einnahmen überhaupt und in welcher Höhe diese in die Länderfinanzkraft einzubeziehen sind.114 Die Bedeutung des Begriffs „Finanzkraft“ wird in Bezug auf die Gemeinden grundsätzlich nicht 109

BVerfGE 72, 330 (399 f.). BVerfGE 72, 330 (400, Kursivsetzung durch Verf.). Eine Einnahme kann weiterhin dann unberücksichtigt bleiben, „wenn sie in allen Ländern verhältnismäßig gleich anfällt oder wenn der Aufwand für die Ermittlung der auszugleichenden Einnahmen zu dem möglichen Ausgleichseffekt außer Verhältnis steht.“ (ebd.). 111 BVerfGE 72, 330 (409, Kursivsetzung durch Verf.). 112 BVerfGE 72, 330 (410, Kursivsetzung durch Verf.). 113 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 565. 114 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 565. 110

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

anders verstanden als im ersten Halbsatz. Über die Einbeziehung kommunaler Einnahmen in die Finanzkraft eines Landes bestimmt ihre Ausgleichsrelevanz.115 Das Bundesverfassungsgericht legt auch in Bezug auf die Gemeindeeinnahmen keine allgemeine Grenzmarke fest, ab der ein ausgleichsrelevantes Volumen anzunehmen ist. Über die Ausgleichsrelevanz entscheidet es wiederum in Bezug auf den konkreten Fall: „Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen. Das höchste Aufkommen einer dieser ihrer Art nach herkömmlichen Steuern, die jeweils einzeln zu veranschlagen sind, beträgt bei der Vergnügungssteuer in ihren verschiedenen Spielarten für das Jahr 1989 etwas über 300 Mio. DM. Damit erreicht es noch nicht das Volumen, welches – auch im Blick auf die seit der Entscheidung des Senats vom 24. Juni 1986 eingetretene Entwicklung – als ausgleichsrelevant anzusehen ist (vgl. BVerfGE 72, 330 [409]).“116

Das Bundesverfassungsgericht überprüft dann die Verfassungsmäßigkeit der pauschalen Kürzung der kommunalen Steuereinnahmen (Grund- und Gewerbesteuer, Gemeindeanteil am Einkommensteueraufkommen) um 50 % bei Einbeziehung in die Finanzkraft der Länder, § 8 Abs. 5 FAG a. F.117 Es kommt darauf an, ob Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GG (Berücksichtigungsgebot) eine volle Einbeziehung der ausgleichsrelevanten kommunalen Einnahmen fordert bzw. inwiefern sich der Vorschrift quantitative (und numerische) Vorgaben entnehmen lassen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt Art.  107 Abs.  2 Satz 1 Halbsatz  2 GG zwar kein Reduzierungsgebot, indes eine Reduzierungsmöglichkeit auf – soweit „spezifische Gründe aus den Verhältnissen der Gemeinden“ hierfür sprechen.118 Das Gericht differenziert zwischen den Realsteuern und der Einkommensteuer. Die Kürzung des Aufkommens der Realsteuern könne durch die Verknüpfung von Steueraufkommen und der durch die Steuerobjekte verursachten, „örtlich radizierbaren Lasten“; die des Einkommensteueraufkommens mit der „pauschalen Berücksichtigung des gemeindlichen Finanzbedarfs“ (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz  2 GG) gerechtfertigt werden.119 Das Bundesverfassungsgericht 115

Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 566. Zu den Besonderheiten bei der Bestimmung der kommunalen Finanzkraft ebd., S. 567 f. 116 BVerfGE 86, 148 (225, Kursivsetzung durch Verf.). Das Bundesverfassungsgericht nimmt auf BVerfGE 72, 330 (409) Bezug. Siehe hierzu die Ausführungen soeben im Haupttext. Es sind in diesem Zusammenhang „in allen am Finanzausgleich beteiligten Ländern“ „jährlich einige hundert Millionen DM“ zur Begründung der Ausgleichsrelevanz einer Einnahme ausreichend. Mit BVerfGE 86, 148 erfolgt mithin eine Spezifizierung des ausgleichsrelevanten Einnahmevolumens. Es bedarf deutlich mehr als 300 Mio. DM. 117 Nach der aktuellen Fassung des FAG liegt der Abzug bei 64 % (§ 8 Abs. 3 FAG n. F.). 118 BVerfGE 86, 148 (218, Zitat ebd.). Kritisch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich methodisch vor allem auf die Systematik von Art. 106 und 107 GG stützt, Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 573 f., 576. Dessen Kritik bezieht sich nicht auf die Bedarfsberücksichtigung überhaupt, sondern auf eine Bedarfsberücksichtigung im Zusammenhang der Berechnung der Finanzkraftmesszahlen. 119 BVerfGE 86, 148 (221, 232, Zitate ebd.); Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 576.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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formuliert keine Vorgaben für die zulässige Kürzungshöhe, sondern entscheidet in Bezug auf die konkreten einfachgesetzlichen Regelungen: „Die Höhe dieser Lasten läßt sich freilich nicht genau quantifizieren. Dem Gesetzgeber verbleibt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Es liegt innerhalb dieses Rahmens, dem durch die öffentlichen Lasten bestimmten Bedarf im Wege eines pauschalen Abschlags vom Realsteueraufkommen Rechnung zu tragen. Die Bemessung dieses Abschlags einheitlich mit 50 v. H. für Grundsteuern und Gewerbesteuern hält sich noch in den Grenzen des Vertretbaren.“120

Das Gericht räumt dem Gesetzgeber auch einen Gestaltungsspielraum ein, soweit es um die Berücksichtigung des gemeindlichen Finanzbedarfs bei Einbeziehung des kommunalen Einkommensteueranteils geht. Bei Zugrundelegung finanzwissenschaftlicher Erkenntnisse sei die vorgenommene Pauschalierung nach Art und Höhe (50 v. H.) vertretbar.121 (2) Bestimmung der durchschnittlichen Länderfinanzkraft als Vergleichsmaßstab – Einwohnerwertung der Stadtstaaten Im Finanzausgleichsverfahren des FAG wird dann die tatsächliche mit der bundesdurchschnittlichen Finanzkraft verglichen, um die Notwendigkeit von Ausgleichsleistungen zu ermitteln. Die Ausgleichsmesszahl wird ermittelt, indem die bundesdurchschnittlich je Einwohner erzielten Einnahmen mit der Einwohnerzahl des jeweils in Betracht genommenen Landes multipliziert werden. Zur Berücksichtigung eines erhöhten Bedarfs werden die Einwohnerzahlen der Stadtstaaten und – abhängig von ihrer Größe – auch der Gemeinden höher gewichtet.122 Die sog. Einwohnerveredelung123 ist Ansatzpunkt für eine verfassungsgerichtliche Prüfung. Das Bundesverfassungsgericht formuliert wiederum keine numerischen Vorgaben. Den Ausführungen zur Einwohnerwertung der Stadtstaaten lässt sich lediglich die quantitative Aussage entnehmen, dass eine höhere ­Wertung­

120 BVerfGE 86, 148 (232, Kursivsetzung durch Verf.). Die „Grenzen des Vertretbaren“ lässt das Bundesverfassungsgericht offen. Den Ausführungen des Gerichts lässt sich allein eine Rechtfertigung der Kürzung überhaupt entnehmen, nicht, „warum dann gerade ein Abschlag von 50 v. H. eine vernünftige Lösung sein soll.“ Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 576. 121 BVerfGE 86, 148 (232 f.). Ulrich Häde kritisiert Finanzausgleichsgesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung. Es geht ihm weniger um die Pauschalierung des gemeindlichen­ Finanzbedarfs als um die Abhängigkeit des berücksichtigten Finanzbedarfs von den Steuereinnahmen. Dem liege „die Annahme zu Grunde, dass der Finanzbedarf einer Gemeinde umso größer ist, je höher ihre Einnahmen sind.“ Ders., Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (ebd.). 122 Stefan Korioth, der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 587 ff. (Zitat S. 587). 123 Stefan Korioth, der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S.  587. Siehe auch BVerfGE 86, 148 (240).

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überhaupt verfassungsrechtlich vertretbar sei.124 Das Gericht trifft eine numerische Aussage bei der Subsumtion. In Bezug auf Hamburg und Bremen kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass „die Einwohnerwertung in Höhe von 135 v. H.  noch innerhalb der Bandbreite angemessener Einwohnerwertungen“„lieg[e]“.125 (3) Bestimmung des „angemessenen“126 Ausgleichs – Umfang der Finanzausgleichsleistungen Die zentrale Frage im Sachbereich des horizontalen Finanzausgleichs ist die nach der Angemessenheit und damit Verfassungsmäßigkeit des Ausgleichs der Länderfinanzkraftdivergenzen durch das FAG. Das Bundesverfassungsgericht stößt erneut auf die Schwierigkeit, dass der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab und der einfachgesetzliche Prüfungsgegenstand über eine erhebliche Diskrepanz im Bestimmtheitsgrad verfügen: Die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG, einen „angemessenen“ Ausgleich herzustellen, ist höchst unbestimmt. Die Intensität der Angleichung der Länderfinanzkraft durch das FAG ist in (Prozent-)Zahlen darstellbar. Wie das FAG bestimmt das Bundesverfassungsgericht den Grad der einfachgesetzlichen Auffüllung, Abschöpfung und Angleichung der Länderfinanzkraft, indem es die tatsächliche und durchschnittliche Länderfinanzkraft (bzw. Finanzkraft- und Ausgleichsmesszahl) zueinander ins Verhältnis setzt.127 Bei Überprüfung der einfachgesetzlichen Ausgleichsintensität lässt sich in der Verfassungsrechtsprechung eine gestufte Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Angemessenheitspostulats (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) beobachten. Zwei Stränge systematischer Argumentation können nachgezeichnet werden. Sie unterscheiden sich durch die Weite der Perspektive128 und den Grad der Konkretisierung des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG: Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die Angemessenheit des Ausgleichs, indem es Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG einerseits

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BVerfGE 86, 148 (239). BVerfGE 86, 148 (245 f., Zitat S. 245). Ulrich Häde spricht davon, dass die einfachgesetzliche Einwohnerwertung der Stadtstaaten nach Ansicht des Gerichts im „verfassungsrechtlich zulässigen Bereich“ liege. Ders., Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (6). Zur Bestimmung der maßgeblichen Bandbreite durch den Gesetzgeber auf der Grundlage von Indikatoren siehe die Ausführungen sogleich unter A. I. 5. aa). 126 Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG. 127 Siehe etwa BVerfGE 101, 158 (168). 128 Die Perspektive, die bei der systematischen Auslegung eingenommen werden kann, beschreiben allgemein Klaus F. Röhl u. Hans Christian Röhl: „Die systematische Auslegung entnimmt das Verständnis der Norm aus ihrer Stellung im Gesetz, dem Regelungszusammenhang und allgemeineren Prinzipien, die das betreffende Rechtsgebiet beherrschen, kurz: aus dem System.“ Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 622. 125

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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in das Finanzausgleichsystem des Grundgesetzes einordnet und andererseits zum übergeordneten Verfassungsprinzip der Bundesstaatlichkeit in Bezug setzt.129 Während es bei der Verhältnisbestimmung zu den unmittelbar benachbarten Vorschriften über die Stufe quantitativer Konkretisierungen nicht hinausgeht, tätigt es auf der Grundlage des zweiten Argumentationsstrangs numerische Aussagen. Zum ersten Argumentationsstrang: Das Bundesverfassungsgericht ordnet den horizontalen Finanzausgleich in die Gesamtarchitektur des Verteilungssystems der Art. 106, 107 GG und dessen Konstruktion als Stufenbau130 ein. Zwischen primärer und sekundärer Ertragsverteilung bestünde eine Trennung dergestalt, dass nach der primären die originäre Finanzausstattung der Länder feststehe. Demnach könne „der horizontale Finanzausgleich […] nicht einfach als Fortsetzung der vertikalen Steuerverteilung mit anderen Mitteln […] [begriffen] werden […].“ Er sei „als Korrektur der von der Verfassung grundsätzlich gewollten Ertragsaufteilung und der dadurch bewirkten Finanzausstattung der Länder […] dieser gegenüber subsidiär.“131 Die Verhältnisbestimmung des Gerichts lässt sich in Bezug auf die Intensität des Ausgleichs quantitativ deuten.132 Zu numerischen Aussagen gelangt das Bundesverfassungsgericht, indem es den Finanzausgleich auf das Bundesstaatsprinzip zurückführt und ihn als spezifische Synthese der diametralen Inhalte des bündischen Prinzips des Einstehens für­ einander und der Autonomie der Gliedstaaten versteht. Es gelte bei der Auslegung daher sowohl die Solidarität als auch die Eigenverantwortung der Länder zu verwirklichen. Die Argumentationsstränge des Bundesverfassungsgerichts, das den Finanzausgleich auf den Bundesstaat bezogen und das gestufte verfassungsrechtliche Finanzausgleichsystems gewahrt wissen will, berühren sich. Es schließt im

129 Die Auslegung der Angemessenheit aus der Perspektive des Bundesstaatsprinzips lässt sich auch als teleologische Auslegung begreifen. So explizit das Bundesverfassungsgericht bei der Ermittlung des Umfangs der „Finanzkraft“ gem. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG in BVerfGE 72, 330 (397 f.). 130 „[…] das Grundgesetz [regelt] die Verteilung des Finanzaufkommens in verschiedenen, aufeinander aufbauenden und aufeinander bezogenen Stufen, wobei jeder Stufe bestimmte Verteilungs- und Ausgleichsziele zugeordnet sind.“ BVerfGE 72, 330 (383). Siehe auch die Einführung in das Sachgebiet „Finanzausgleich“ soeben unter A. I. 1.  131 BVerfGE 72, 330 (386, Zitat ebd.); 86, 148 (214); 101, 158 (221 f.). Kritik hieran äußert Stefan Korioth, der die aufeinander aufbauende Schrittfolge des Finanzverteilungs- und Ausgleichssystems im Grundgesetz zwar anerkennt und den horizontalen Finanzausgleich als Korrekturmechanismus begreift, diesen aber zugleich als Fortsetzung der Steuerverteilung ein­ ordnet. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 543 f. 132 Insoweit pflichtet auch Stefan Korioth dem Bundesverfassungsgericht bei: „[…] der­ Finanzausgleich [ist] kein Mittel […], das Ergebnis der Steuerverteilung durch umverteilende Finanztransfers völlig aufzuheben und finanzielle Gleichheit zwischen den Ländern herzustellen. Das differenzierende System des Art.  107 I GG wäre sinnlos, wenn es der Korrekturstufe des Art. 107 II S. 1 u. 2 GG nicht standhielte. Finanzkraftunterschiede dürfen nicht völlig aufgehoben werden.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 544 f.

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Verhältnis zu den primären Ausgleichsstufen und deren Verteilungsentscheidungen einen „Systemwechsel“ aus.133 Es ergeben sich Folgen für die Intensität des Finanzausgleichs unter den Ländern. Das Bundesverfassungsgericht formuliert eine Unter- und Obergrenze für den Ausgleich. Das Bundesstaatsprinzip sei grundsätzlich offen für die Einrichtung einer finanziellen Hilfeleistungspflicht finanzstärkerer gegenüber -schwächeren Ländern (Untergrenze).134 Es versperre sich indes einer entscheidenden Schwächung der Leistungsfähigkeit der Geberländer sowie einer Nivellierung der Länderfinanzen insgesamt (Obergrenze).135 Bei dem Verbot der Finanzkraftnivellierung handelt es sich um eine quantitative Aussage. Den Ausgleich der Spannungslage zwischen Hilfeleistungspflicht und Nivellierungsverbot beschreibt das Gericht zunächst in qualitativen Kategorien: Die „Zielrichtung [des horizontalen Länderfinanzausgleichs] ist, […] Unterschiede in der Finanzkraft der Länder […] in gewissem Umfang, wenn auch nicht voll auszugleichen.“136 „Die Ausgleichspflicht des Art. 107 Abs. 2 fordert […] nicht eine finanzielle Gleichstellung der Länder, sondern eine ihren Aufgaben entsprechende hinreichende Annäherung ihrer Finanzkraft […].“137

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BVerfGE 116, 327 (380, Zitat ebd.). So auch BVerfGE 72, 330 (387); 101, 158 (222). Das Bundesverfassungsgericht weist schon in BVerfGE 1, 117 (131) darauf hin, dass „das bundesstaatliche Prinzip […] seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten [be­gründet]. Eine dieser Pflichten besteh[e] darin, daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten […] [hätten]. Diese Pflichtbeziehung führ[e] nach der Natur der Sache zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbstständigkeit der Länder.“ Der Konnex zwischen Bundesstaatsprinzip und Art.  107 Abs.  2 Satz 1–2 GG bedeutet nach Theodor Maunz jedoch nicht die Unabänderlichkeit des horizontalen Finanzausgleichs i. S. d. Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesstaatsprinzip begründe zwar eine sog. Bundestreuepflicht, dieser lasse sich eine finanzielle Hilfeleistungspflicht jedoch i. d. R. nicht entnehmen. Dies bedeute zugleich nicht, dass das Bundesstaatsprinzip einer Hilfeleistungspflicht entgegenstehe; es sei „Sache der geltenden Bundesverfassung“ einen horizontalen Finanzausgleich  – wie in Art.  107 Abs.  2 Satz 1–2 GG geschehen  – festzuschreiben. Ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. VII, Loseblattsammlung, Stand: 21.  Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 8 (Zitat ebd.). In diesem Sinne kann auch das Bundesverfassungsgericht, etwa in BVerfGE 72, 330 (397 f.) verstanden werden: „Die Verpflichtung zum horizontalen Ausgleich folgt aus dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander. Das bündische Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht nach dem Grundgesetz darin, daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben.“ (Kursivsetzung durch Verf.). 135 St. Rspr.; siehe BVerfGE 1, 117 (130 f.); 86, 148 (250); 72, 330 (386 f.); 101, 158 (222). Zum Nivellierungsverbot BVerfGE 101, 158 (221 f.): Der „Finanzausgleich soll die Finanzkraftunterschiede unter den Ländern verringern, aber nicht beseitigen. […] Der annähernde, nicht gleichstellende Finanzausgleich hat zur Folge, daß der horizontale Finanzausgleich die Abstände zwischen allen 16 – ausgleichspflichtigen wie ausgleichsberechtigten – Ländern verringern, nicht aber aufheben […] darf. Eine Solidarität unter den Bundesstaaten mindert Unterschiede, ebnet sie nicht ein.“ Zur Bedeutung des Nivellierungsverbots auch Ulrich Häde, Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (3). 136 BVerfGE 72, 330 (387, Kursivsetzung durch Verf.). 137 BVerfGE 101, 158 (222, Kursivsetzung durch Verf.). 134

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„[…] die finanzstärkeren Länder [haben] den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten […]. Diese Pflichtbeziehung führt notwendigerweise zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbstständigkeit der Länder. […] Der Länderfinanzausgleich teilt die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite.“138

Das Bundesverfassungsgericht erklimmt eine weitere Konkretisierungsstufe. Anknüpfend an Angemessenheitspostulat und Nivellierungsverbot formuliert es eine weitere quantitative Vorgabe für den Ausgleich. Es schließt Änderungen der Finanzkraftreihenfolge der Länder im Wege des Finanzkraftausgleichs aus. „Eine gesetzliche Begrenzung der Ausgleichspflichten und Ausgleichsansprüche entspricht grundsätzlich dem Gebot des Art. 107 Abs. 2 GG, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder nur angemessen und ohne Nivellierung auszugleichen. Ausgleichsverpflichtungen dürfen insbesondere nicht dazu führen, dass die Reihenfolge der Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder verändert wird (vgl. BVerfGE 72, 330 [518 f.]).“139

In der neueren Rechtsprechung bezieht das Bundesverfassungsgericht zum Teil  neben den ausgleichspflichtigen auch die ausgleichsberechtigten Länder in die Betrachtung möglicher Änderungen der Finanzkraftreihenfolge vor und nach dem Ausgleich ein.140 Die Finanzkraftreihenfolge insgesamt darf nicht ins Gegenteil verkehrt werden: „Das Gebot, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder nur angemessen und ohne Nivellierung auszugleichen, verbietet außerdem eine Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge unter den Ländern im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs (vgl. BVerfGE 72, 330 [418 f.]; 86, 148 [250]). Der annähernde, nicht gleichstellende Finanzausgleich hat zur Folge, daß der horizontale Finanzausgleich die Abstände zwischen allen 16  – ausgleichspflichtigen 138 BVerfGE 72, 330 (397 f., Kursivsetzung durch Verf.). Theodor Maunz verankert die Verpflichtung des Gesetzgebers auf die Herstellung eines angemessenen, horizontalen Finanzausgleichs zwischen der Untergrenze, überhaupt für einen Ausgleich zu sorgen, und der Obergrenze eines Nivellierungsverbots der Länderfinanzkraft. Er erkennt also einen „erheblichen Beurteilungsspielraum“ an, die vom Bundesverfassungsgericht genannte „richtige Mitte“ (BVerfGE 72, 330 [398]) klingt bei ihm gleichwohl auch an. Der Finanzausgleich dürfe sich in seinem jeweiligen Ausmaß diesen Grenzen nicht so weit nähern, „daß sie fast schon erreicht“ seien. Der Finanzausgleichsgesetzgeber müsse „eine Linie zwischen oberster und unterster Grenze“ finden. Ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. VII, Loseblattsammlung, Stand: 21. Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 10, 47, 63 ff. (Zitate Rn. 47, 63 f.). 139 BVerfGE 86, 148 (250, siehe auch S. 254). Siehe auch BVerfGE 72, 330 (518 f.): „Dieser Zugriff auf die Freibeträge des § 10 Abs. 2 Satz 2 FAG darf aber nicht dazu führen, daß sich die Reihenfolge der Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder verändert. Eine solche Verkehrung der Reihenfolge widerspräche dem Gebot, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder nur angemessen und ohne Nivellierung auszugleichen.“ 140 Dass dies bis zur Entscheidung im 101. Band nicht der Fall ist, ergibt sich auch aus der Darstellung von Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 613 (Fn. 673), 635 f.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

wie ausgleichsberechtigten – Ländern verringern, nicht aber aufheben oder gar ins Gegenteil verkehren darf.“141

Eine weitergehende Konkretisierungsintensität der verfassungsrechtlichen Vorgaben lässt sich zunächst nicht feststellen. Dies gilt jedenfalls für die allgemein formulierten Ausführungen des Gerichts vor der Überprüfung der konkreten einfachgesetzlichen Bestimmungen. Bei bzw. ab und bis zu welcher Intensität der Finanzausgleich angemessen ist, bleibt vage. Es geht um die „richtige [d. h. verfassungsgemäße] Mitte“142 zwischen Ausgleich und Nivellierung.143 Erst bei der Subsumtion der Ausgleichsbestimmungen des FAG trifft das Bundesverfassungsgericht numerische Aussagen. In der vierten Entscheidung zum Finanzausgleich stellt es eine numerische Aussage zur verfassungsgemäßen Ausgleichsintensität auf. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts trifft die weitgehende einfachgesetzliche Angleichung der Länderfinanzen die „richtige Mitte“ zwischen den konfligierenden Inhalten des Bundesstaatsprinzips. Das Bundesverfassungsgericht wertet den Gesamtumfang der Finanzkraftauffüllung nach dem FAG (1993, 1998144) als verfassungsgemäß. „Wenn der Ausgleichsmechanismus des § 10 Abs. 1 und Abs. 2 FAG in zwei Stufen die Finanzkraft der finanzschwachen Länder auf 95 v. H. der durchschnittlichen Länderfinanzkraft auffüllt, so stellt er damit für den horizontalen Finanzausgleich eine vertretbare Balance zwischen Landesautonomie und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft her.“145

Soweit es um die Einhaltung des Nivellierungsverbots geht, können Aussagen zum zulässigen Grad der Finanzkraftauffüllung und -abschöpfung unterschieden werden.146 Auch hier ergibt sich, dass das Gericht eine weitgehende Angleichung der Länderfinanzkraft als verfassungskonform ansieht. 141

BVerfGE 101, 158 (222). Siehe auch BVerfGE 116, 327 (380): „Mit dem ‚angemessenen‘ Ausgleich gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG ist es auch unvereinbar, die Finanzkraftreihenfolge unter den ausgleichspflichtigen Ländern zu ändern oder die Reihenfolge der Länder ins Gegenteil zu verkehren (vgl. BVerfGE 72, 330 [418 f.]; 86, 148 [250, 254]; 101, 158 [222]).“ Stefan Korioth bezeichnet das Nivellierungsverbot und das daraus folgende Verbot einer Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge der Länder als „äußerste[…] Grenzmarken des angemessenen Ausgleichs“. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 613. 142 BVerfGE 72, 330 (398). 143 Hierzu Stefan Korioth: „Mit diesen beiden Verboten [Verbot der Finanzkraftnivellierung und der Veränderung der Finanzkraftreihenfolge] liegen aber nur die äußersten Grenzmarken des angemessenen Ausgleichs fest. Die Frage nach dem zulässigen und dem gebotenen Intensitätsgrad ist weiter offen.“ Korioth nimmt eine weitere Konkretisierung im Wege der systematischen Interpretation vor. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 613 ff. (Zitat S. 613). 144 In den Klammerzusätzen wird das jeweils überprüfte FAG mit dem Jahr des Inkrafttretens und ggf. zusätzlich mit dem Jahr der letzten Änderung zum Zeitpunkt der Überprüfung gekennzeichnet. 145 BVerfGE 101, 158 (231 f., Kursivsetzung durch Verf.). 146 Die Unterscheidung zwischen dem Grad der Finanzkraftauffüllung und -abschöpfung als Anknüpfungspunkte zur Bestimmung des angemessenen Ausgleichs nimmt auch Stefan­ Korioth vor. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 623 ff.

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In der ersten Entscheidung zum Finanzausgleich überprüft das Gericht die Angleichungsintensität zwischen Finanzkraft- und Ausgleichsmesszahlen durch das FAG (1951) und verneint eine Nivellierung der Länderfinanzen. Dazu stellt es­ zusätzliche Berechnungen zur Ausgleichsmasse und der Schwankungsbreite der Finanzkraft der Länder vor und nach dem Ausgleich an. „Auch von einer Nivellierung kann nicht gesprochen werden: […] Die §§ 14 und 15 des FAG bestimmen […], daß der Unterschied zwischen Finanzkraftmeßzahlen und Ausgleichmeßzahlen für die ersten 10 vom Hundert nur mit einem Viertel und darüber hinaus nur mit der Hälfte ausgeglichen werde. Hätte das Gesetz einen vollen Ausgleich herbeiführen wollen, so hätte nach den dem Entwurf des Gesetzes zugrunde liegenden Schätzungen eine ­Ausgleichsmasse von 630,3 Mill. DM von den ausgleichspflichtigen Ländern bereitgestellt werden müssen. Tatsächlich betrug die Ausgleichsmasse nach den Schätzungen des Entwurfs nur 281,2 Mill. DM […] und nach dem tatsächlichen Stande vom 8. Juni 1951 rund 286 Mill. DM. Die Finanzkraft der Länder, in Hundertteilen des Bundesdurchschnitts berechnet, schwankte vor dem Finanzausgleich zwischen 132,5 für Württemberg-Baden und 34,2 für Schleswig-Holstein, nach dem Finanzausgleich zwischen 117,6 für WürttembergBaden und 71 für Schleswig-Holstein. Auch hier ergibt sich deutlich, daß die Unterschiede zwischen wohlhabenderen und ärmeren Ländern nur gemildert, aber keineswegs beseitigt worden sind.“147

Zum zulässigen Umfang der Finanzkraftabschöpfung nimmt das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Entscheidung zum Finanzausgleich bei Überprüfung des FAG (1969, 1982)148 Stellung: „Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG fordert allerdings eine Interpretation des § 10 Abs. 2 Satz 2 FAG dahin, daß die Steuerkraft, die zwischen 102 und 110 v. H. der Ausgleichsmeßzahl liegt, mit mehr als 70 v. H., und die Steuerkraft, die zwischen 100 und 102 v. H. der Ausgleichsmeßzahl liegt, dann ebenfalls für die Ausgleichsbeträge der ausgleichspflichtigen Länder angesetzt wird, wenn nur so die erforderlichen Ausgleichszuweisungen aufgebracht werden können.“149

Es handelt sich um einen Sonderfall unter den numerischen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen zum Finanzausgleich. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt im Wege verfassungskonformer Auslegung des 147 BVerfGE 1, 117 (131 f., Kursivsetzung durch Verf.). Prüfungsgegenstand ist das Gesetz über den Finanzausgleich im Rechnungsjahr 1950 vom 16. März 1951 sowie die dazugehörige Erste Durchführungsverordnung. 148 Bei der in Rede stehenden Vorschrift handelt es sich um § 10 Abs.  2 FAG: „Die Ausgleichsbeiträge der ausgleichspflichtigen Länder werden mit einem einheitlichen Hundertsatz von den Beträgen errechnet, um die ihre Steuerkraftmeßzahl ihre Ausgleichsmeßzahl übersteigt. Hierbei bleibt die Steuerkraft, die zwischen 100 und 102 vom Hundert der Ausgleichsmeßzahl liegt, außer Ansatz, die Steuerkraft, die zwischen 102 und 110 vom Hundert der Ausgleichsmeßzahl liegt, wird mit 70 vom Hundert und die 110 vom Hundert der Ausgleichsmeßzahl übersteigende Steuerkraft voll angesetzt. Der Hundertsatz von den ausgleichspflichtigen Beträgen wird so bemessen, daß die Summe der Ausgleichsbeiträge mit der Summe der Ausgleichszuweisungen übereinstimmt.“ 149 BVerfGE 72, 330 (417, Kursivsetzung durch Verf.).

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§ 10 Abs. 2 Satz 3 FAG (1969, 1982)150 eine Durchbrechung der für den Regelfall geltenden einfachgesetzlichen Abschöpfungsgrenzen im horizontalen Finanzausgleich, wenn ansonsten die erforderlichen Ausgleichsleistungen nicht aufgebracht würden. Es gewinnt dabei auch eine numerische Verhältnisbestimmung („mehr als 70 v. H.“). Sie ist im FAG zuvor nicht explizit normiert.151 Das Bundesverfassungsgericht markiert auch keine eindeutige Ausgleichsgrenze, wenn es eine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit der Geberländer überprüft.152 In BVerfGE 1, 117 (132) überprüft das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung des Verbots anhand des Verhältnisses von Ausgleichsbeiträgen und Gesamtausgaben. „Das erste [eine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit der gebenden Länder] ist nicht der Fall, da die von den Antragstellern aufzubringenden Beträge in ihren Haushalten nicht mehr als 7,16 bzw. 4,08 vom Hundert der Gesamtausgaben ausmachen.“153

150 Demnach ist „der Hundertsatz von den ausgleichspflichtigen Beträgen […] so [zu] bemessen, daß die Summe der Ausgleichsbeiträge mit der Summe der Ausgleichszuweisungen übereinstimmt.“ 151 § 10 Abs.  2 Satz 3 FAG eröffnet hierfür entsprechenden Spielraum. Zum notwendigen Deutungsspielraum bei der verfassungskonformen Auslegung Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 624 f. Das Gericht legt auch das Verfahren der Abschöpfung der Finanzkraft über die regulären Höchstgrenzen hinaus fest, das sicherstellen soll, dass sich die Finanzkraftreihenfolge der ausgleichspflichtigen Länder nicht ändert. „Wenn ein Satz von 100 v. H. der Beträge, um die die Steuerkraftmeßzahl die Ausgleichsmeßzahl der ausgleichspflichtigen Länder  – unter Berücksichtigung der Freibeträge  – übersteigt, nicht­ ausreicht, um die Summe der Ausgleichsbeiträge an die Summe der Ausgleichs­zuweisungen anzugleichen, muß zunächst die Steuerkraft, die zwischen 102 und 110 v. H. der Ausgleichsmeßzahl liegt, mit mehr als 70 v. H.  angesetzt werden. Sollte auch der volle Ansatz dieser Steuer­kraft nicht ausreichen, muß solange auf die Steuerkraft, die zwischen 100 und 102 v. H. der Ausgleichsmeßzahl liegt, zugegriffen werden, bis die Summe der Ausgleichsbeiträge mit der Summe der Ausgleichszuweisungen übereinstimmt.“ BVerfGE 72, 330 (419). Dass trotz der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben zur Abschöpfungsintensität und zum -verfahren die Gefahr einer Änderung der Finanzkraftreihenfolge nicht gebannt gewesen ist, legt Stefan Korioth in Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 632, Fn. 742 dar. 152 Stefan Korioth verankert hier die entscheidende und gegenüber dem Nivellierungsverbot engere Grenze für den Ausgleich. Im Hinblick auf das übergeordnete Ziel des Länderfinanzausgleichs, die aufgabenangemessene Finanzausstattung, komme es zur Beurteilung seiner Angemessenheit bzw. der „richtigen Mitte“ (BVerfGE 72, 330 [398]) zwischen Finanzautonomie und -solidarität letztlich auf die trotz des Ausgleichs erhaltene bzw. durch eben diesen bewirkte Leistungskraft der Länder an. Eine weitgehende Nivellierung der Finanzkraft der Länder sei daher verfassungsgemäß, denn sie bedeute nicht zwangsläufig eine entsprechende Annäherung ihrer Leistungskraft. Es würden grundsätzlich keine besonderen Lasten in den Finanzausgleich einbezogen. Korioth sieht die Grenze für die maximale Finanzkraftreduktion der Geberländer dort erreicht, wo „der Ausgleich auf Seiten der starken Länder eine Finanzausstattung herbeiführte, die erstens nicht mehr aufgabenangemessen wäre und zweitens den besonderen finanziellen Handlungsspielraum des Geberlandes im Vergleich zur Lage vor dem Ausgleich entscheidend verengte.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 626, 628 f. (Zitat S. 628). 153 BVerfGE 1, 117 (131, Kursivsetzung durch Verf.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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bb) Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Sachbereich der Bundesergänzungszuweisungen, Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG (1) Zulässiges Maß an Bundesergänzungszuweisungen Die Frage nach dem zulässigen Maß an Bundesergänzungszuweisungen stellt sich in zweierlei Hinsicht. Das Bundesverfassungsgericht erörtert deren zulässiges Gesamtvolumen im Verhältnis zum Ausgleichsinstrument horizontaler Zuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. In der Binnensicht geht es um eine mögliche Nivellierung der Finanzkraftunterschiede der Länder. Aus dem Bild der Stufenabfolge des Verteilungs- und Ausgleichssystems des Finanzaufkommens im Bundesstaat darf eine Bindung an die Grenzen vorangegangener Ausgleichsentscheidungen und ein abnehmendes Volumen der Ausgleichsschritte nicht gefolgert werden.154 Es kommt auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben an. „Funktion und Stellung der Bundesergänzungszuweisungen im Gesamtsystem der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen“155 ergeben sich hieraus nicht unmittelbar. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG ist wie die vorangehenden Sätze unbestimmt. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt den Merkmalen der „Leistungsschwäche“ und der „ergänzenden Deckung“ des „allgemeinen Finanzbedarfs“ (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG) jedenfalls kein strenges Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis der Bundesergänzungszuweisungen zu den horizontalen Finanzausgleichsleistungen, wie es teilweise in der Literatur vertreten wird.156 Es konkretisiert die Verfassungsvorgaben wiederum schrittweise – qualitativ, quantitativ und numerisch.

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Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 645 f., 650. Siehe Stefan Korioth, der von „Unklarheiten über die Funktion und Stellung der Bundesergänzungszuweisungen im Gesamtsystem der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen“ spricht. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 643 f. 156 Demnach wird nicht nur eine strukturelle Parallelität von Voraussetzungen und Grenzen der horizontalen und vertikalen Ausgleichszahlungen angenommen (Die Leistungsschwäche im Sinne des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG wird mit der unterdurchschnittlichen Finanzkraft gem. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG gleichgesetzt. Die Obergrenze der Ausgleichszahlungen bilde horizontal wie vertikal das Nivellierungsverbot.). Das Volumen der Bundesergänzungszuweisungen sei außerdem durch das des horizontalen Länderfinanzausgleichs gedeckelt. Kritisch ­Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 645 f. unter Verweis auf Klaus Vogel/Paul Kirchhof, in: BK, Art. 107 Rn. 177; Rainer Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, 1993, S. 247 f. auf S. 646, Fn. 782. Die strikte Subsidiarität der Bundesergänzungszuweisungen entspricht jedenfalls nicht der Realität des FAG, das Bundesergänzungszuweisungen nicht nur zum Ausgleich allgemeiner Finanzkraftdefizite, sondern auch im Falle besonderer, nur bestimmte Länder treffender Lasten vorsieht, § 11 FAG. Siehe bereits ­Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 646. ­Rainer­ Wernsmann nimmt pauschal einen „subsidiären Charakter“ der Bundesergänzungszuweisungen an, indem er auf den verfassungsrechtlichen Maßstab der „ergänzenden Deckung“ verweist. Ders., BVerfGE 116, 327 – Berliner Haushaltsnotlage, in: Jörg Menzel/Ralf MüllerTerpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 809 (810). 155

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

(a) Gesamtvolumen Das Bundesverfassungsgericht verweist die Bundesergänzungszuweisungen gegenüber den vorherigen Stufen des Finanzausgleichs auf eine Korrekturfunktion.157 Hieran schließt die Konkretisierung des zulässigen Umfangs der Korrekturleistungen an.158 Der Gesamtbetrag der Bundesergänzungszuweisungen wird (jedenfalls) nicht (strikt) auf den der horizontalen Ausgleichsleistungen begrenzt. Das Gericht verweist auf die mögliche Abgeltung von Sonderlasten der Länder im Wege der Bundesergänzungszuweisungen, die eine funktionale Abkopplung vom horizontalen Finanzausgleich bedeutet. In BVerfGE 72, 330 umschreibt das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis von horizontalen Ausgleichsleistungen und vertikalen Zuweisungen des Bundes quantitativ. „Der Zweck des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG kann es gerade erfordern, nicht zuletzt wegen der hier möglichen Berücksichtigung von Sonderlasten einzelner Länder, Bundesergänzungszuweisungen in einer Höhe bereitzustellen, die im Verhältnis zum horizontalen ­Finanzausgleich nicht nur geringfügig sind. Falls sich der Gesetzgeber zur Berücksichtigung von Sonderlasten der Länder entschließt, kann es geboten sein, daß die Bundesergänzungszuweisungen insgesamt im Verhältnis zum horizontalen Länderfinanzausgleich ein ­beträchtliches Volumen erreichen.“159

157 St. Rspr.; siehe schon BVerfGE 72, 330: „Die grundsätzliche Bindung an die Steuerverteilung gemäß Art. 107 Abs. 1 GG gilt auch für die in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG vorgesehenen Bundesergänzungszuweisungen. […] Dort wo die Steuerverteilung innerhalb der Ländergesamtheit eine Finanzausstattung erbringt, die unter diesem Gesichtspunkt korrekturbedürftig ist, wird der Weg für den Bund eröffnet, die Stellung eines oder mehrerer seiner Glieder finanziell zu verbessern.“ (S. 387). „[…] die Bundesergänzungszuweisungen sind […] als Ergänzung, nicht als Ersatz des horizontalen Finanzausgleichs angelegt.“ (S.  402). BVerfGE 86, 148 (261): „Berücksichtigt der Gesetzgeber im Rahmen der Bundesergänzungszuweisungen Sonderlasten aus einer Haushaltsnotlage, so kann dies nur in dem Umfang geschehen, der der Funktion der Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Finanz­ausgleichs als dessen letzter Stufe entspricht. […] Die Bundesergänzungszuweisungen sind in der geltenden Finanzverfassung nur als Ergänzung, nicht als Ersatz des horizontalen Finanzausgleichs gedacht. Sie sollen weder diesen noch die vertikale Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern nach Art. 106 GG überlagern […], sind vielmehr dem horizontalen Finanzausgleich als ein abschließendes vertikales Ausgleichselement nachgeschaltet. Es sollen ergänzende Korrekturen angebracht werden können, wenn die Steuerverteilung innerhalb der Ländergesamtheit und auch der angemessene Ausgleich unter den Ländern eine Finanzausstattung erbringen, die unter dem Gesichtspunkt des bündischen Prinzips des Einstehens füreinander noch als änderungsbedürftig erscheint.“ BVerfGE 116, 327 (381): „Bundesergänzungszuweisungen [sind] als Ergänzung, nicht als Ersatz oder Fortsetzung des horizontalen Finanzausgleichs angelegt […].“ 158 „Das [die Korrekturfunktion der Bundesergänzungszuweisungen] begrenzt auch ihren Umfang im Verhältnis zum Volumen des horizontalen Finanzausgleichs.“ BVerfGE 86, 148 (261). 159 BVerfGE 72, 330 (403, siehe auch S. 419 f., Kursivsetzung durch Verf.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Es lassen sich hieraus im Gegensatz zu den quantitativen Konkretisierungen des Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG zunächst keine konkreten Folgen für das verfassungsgemäße Zuweisungsvolumen entnehmen. Die sich am vorangegangenen horizontalen Ausgleich orientierenden Mengenangaben erwecken den Anschein einer Begrenzung der Ergänzungszuweisungen. Tatsächlich lässt das Gericht nur eine Tendenz für die Bewertung und gewisse Großzügigkeit erkennen, entnimmt dem Grundgesetz aber letztlich „keine volumenmäßige Begrenzung für die Bundesergänzungszuweisungen.“160 Im Hinblick auf den Sonderbedarf der – nach der Wiedervereinigung in einen gesamtdeutschen Finanzausgleich integrierten – neuen Länder erklärt das Bundes­ verfassungsgericht dann ein Gesamtvolumen der Bundesergänzungszuweisungen für verfassungsgemäß, das das des horizontalen Finanzausgleichs erheblich übersteigt, und gibt das in der Korrekturfunktion anklingende Subsidiaritätsverhältnis dennoch nicht auf. Es strebt eine Widerspiegelung des Stufenverhältnisses im finanziellen Zuteilungsvolumen mittelfristig als Richtwert an, wenn es mit Blick auf die Lasten der Wiedervereinigung von einer vorübergehenden Recht­ fertigung spricht. Gestützt auf eine rechnerische Darstellung des Länderfinanzausgleichs für das Jahr 1998161 trifft das Gericht folgende numerische Aussage. „Im Jahr 1998 betrug das Volumen des Finanzausgleichs etwa 13,52 Milliarden DM (Tabelle, S. 193, Zeile 410), das der Bundesergänzungszuweisungen 25,65 Milliarden DM (Tabelle, S. 194, Zeile 465). Dieses Verhältnis ist mit Rücksicht auf den Sonderbedarf der neuen Länder – das Volumen der Sonderergänzungszuweisungen nach § 11 Abs. 4 FAG macht allein 14 Milliarden DM aus – als wiedervereinigungsbedingte Ausgleichsregelung vorübergehend zu rechtfertigen. Angesichts der Ergänzungsfunktion von Bundesergänzungszuweisungen bedarf diese Entwicklung jedoch auf längere Sicht auch im Hinblick auf die neuen Länder der Korrektur.“162

160 BVerfGE 72, 330 (403, siehe auch S. 419 f., Kursivsetzung durch Verf.). In BVerfGE 116, 327 differenziert das Bundesverfassungsgericht deutlicher zwischen dem zulässigen Volumen der allgemeinen und Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen. „Die Bindungen an die Maßstäbe des horizontalen Finanzausgleichs“ seien nur bei letzteren „deutlich gelockert“. Sie fänden in den „Sonderlasten ihre rechtfertigenden Gründe und Grenzen“. Ebd., S. 381 f., Zitate ebd. 161 BVerfGE 101, 158 (186 ff.). 162 BVerfGE 101, 158 (233, Kursivsetzung durch Verf.). § 10 Abs. 3 MaßstG fasst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum zulässigen Gesamtvolumen der Bundesergänzungszuweisungen zusammen: „Bundesergänzungszuweisungen stellen eine nachrangige und ergänzende Korrektur des Finanzausgleichs unter den Ländern dar. Dem ist bei der Bemessung des Gesamtumfangs der Bundesergänzungszuweisungen Rechnung zu tragen. Dieser darf daher im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Finanzausgleichs unter den Ländern nicht beträchtlich sein. Abweichungen von Satz 3 sind aus besonderen Gründen und vorübergehend zulässig.“ Zum zulässigen Gesamtvolumen von Bundesergänzungszuweisungen in Haushaltsnotlagen siehe die Ausführungen zum Urteil vom 27. Mai 1992 (BVerfGE 86, 148) sogleich unter A. I. 5. a) bb) (2) (a).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

(b) Geltung des Nivellierungsverbots? Für die Frage nach der Begrenzung des Volumens der Bundesergänzungszuweisungen durch ein Nivellierungsverbot der Länderfinanzen163 ist entscheidend, welcher Tatbestand die Zuweisungen auslöst. Das Bundesverfassungsgericht knüpft hieran quantitative Konsequenzen. Demnach gilt ein Nivellierungsverbot nur für die allgemeine Finanzkraftanhebung,164 nicht den Ausgleich von Sonderbedarfen durch Bundesergänzungszuweisungen.165

163 Hierzu bereits soeben bei der Darstellung der Verfassungsrechtsprechung zum Umfang der horizontalen Finanzausgleichsleistungen unter A. I. 5. a) aa). 164 BVerfGE 72, 330 (404): „Entschließt sich der Gesetzgeber, mit Hilfe der Bundesergänzungszuweisungen die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben, darf er die Zuweisungen allerdings nur so bemessen, daß die Finanzkraft jedes einzelnen Empfängerlandes die durchschnittliche Finanzkraft der Länder nicht übersteigt. Nur solche Länder können Empfänger von Bundesergänzungszuweisungen sein, die nach den Ergebnissen des horizontalen Länderfinanzausgleichs unter diesem Länderdurchschnitt geblieben sind, und die Ergänzungszuweisungen dürfen die Finanzkraft der Empfängerländer nicht über den­ Länderdurchschnitt hinaus erhöhen. Diese Grenze des gesetzgeberischen Spielraums bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen ergibt sich daraus, daß dem Bundesstaat des Grundgesetzes neben dem bündischen Prinzip des Eintretens füreinander zugleich ein­ Nivellierungsverbot […] eigen ist. Der Bund darf die Ergänzungszuweisungen nicht etwa dazu benutzen, leistungsschwachen Ländern eine überdurchschnittliche Finanzkraft zu verschaffen.“ (Kursivsetzung durch Verf.). Siehe auch BVerfGE 101, 158 (224 f.). 165 BVerfGE 101, 158 (234 f.): „Berücksichtigt der Gesetzgeber bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen dagegen Sonderlasten einzelner Länder, ist nicht ausgeschlossen, situationsabhängig und insoweit zeitlich begrenzt Zuweisungen auch solchen Ländern zu gewähren, deren Finanzkraft nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs den Länderdurchschnitt erreicht oder überschritten hat […]. Demzufolge können Bundesergänzungszuweisungen, die gerade der Berücksichtigung von Sonderbedarfen dienen, zeitweise zu Veränderungen der Finanzkraftreihenfolge führen; das Nivellierungsverbot greift insoweit nicht. Allerdings müssen für die Berücksichtigung von Sonderlasten außergewöhnliche Gegebenheiten vorliegen, die einer besonderen, den Ausnahmecharakter ausweisenden Begründungspflicht unterliegen. Im Regelfall darf die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen auch bei der Berücksichtigung von Sonderlasten nicht dazu führen, daß die Finanzkraft des begünstigten Landes die durchschnittliche Finanzkraft der Länder nach dem horizontalen Finanzausgleich übersteigt.“ Siehe auch BVerfGE 116, 327 (382); 101, 158 (224 f.); 72, 330 (404 f.). Im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Differenzierung, auch hinsichtlich des zulässigen Volumens der Bundesergänzungszuweisungen, Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 650. Indes tritt in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts deutlicher hervor, dass es sich bei der Überschreitung des Volumens des horizontalen Finanzausgleichs und der Angleichung der Finanzkraft bzw. Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge der Länder um eine vorübergehende und begründungsbedürftige Ausnahme handelt. „Sonderbedarfszuweisungen“ sind demnach gerade keine gleichberechtigte Alternative bzw. ein regulärer Modus der Gewährung von Bundesergänzungszuwei­ sungen.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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(2) Vorliegen einer (extremen) Haushaltsnotlage Einer der Sonderbedarfstatbestände, in denen das FAG Bundesergänzungszuweisungen gewährte, war bis Ende 2004 die Haushaltsnotlage (§ 11 Abs.  6 FAG a. F.166).167 Eine Haushaltsnotlage kann in Staatshaushalten mit hohem Fremdfinanzierungsanteil entstehen und dann eine Leistungsschwäche im Sinne des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG begründen. Entscheidend ist, inwiefern angesichts übermäßiger Tilgungs- und Zinsbelastungen noch haushaltswirtschaftliche Handlungsfähigkeit zur Erfüllung der verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben verbleibt.168 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in BVerfGE 86, 148 und 116, 327 über ihr Vorliegen und tätigt dabei numerische Aussagen. Sie beziehen sich nicht auf einfachgesetzliche Zahlenwerte im FAG und auch nicht auf ihre­ numerisch bestimmbaren Folgen, sondern sie betreffen die Voraussetzungen des Eingreifens der Regelungen des FAG, die Bundesergänzungszuweisungen wegen einer Haushaltsnotlage gewähren. (a) Ausgangspunkt: Das Urteil vom 27. Mai 1992 Bei der Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Lage des Saarlands und Bremens übernimmt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. Mai 1992 (BVerfGE 86, 148)169 nicht die Ergebnisse eines der konfligierenden finanzwissenschaftlichen Gutachten der Antragsteller. Es greift zwar auf die Daten einer Stellungnahme der Bundesregierung zurück,170 stellt dann aber „mittels […] intensiver Sachaufklärung“171 eine eigenständige finanzwirtschaftliche Analyse an. Es zieht zur Entscheidung über das Vorliegen einer Haushaltsnotlage im Saarland und in Bremen unvermittelt die Finanzierungs- und Belastungsquote (im Folgenden auch als Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quote bezeichnet) und 166 FAG vom 23. Juni 1993, BGBl. I, S. 944 (977). Von einer Haushaltsnotlage potentiell bedrohte Gliedstaaten erhalten nunmehr im Zuge der Einführung der Schuldenbremse im Grundgesetz sog. Konsolidierungshilfen. Dazu gehören nach Art. 143d Abs. 2 Satz 1 GG Berlin, Bremen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. 167 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Leistungsschwäche i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auch aufgrund von Sonderlasten gegeben sein und durch eine Haushaltsnotlage bedingte Lasten seien grundsätzlich berücksichtigungsfähiger Sonderbedarf. BVerfGE 72, 330 (402, 404); 86, 148 (260 f.). Nach Stefan Korioth liegt in der „Abgeltung von Sonderlasten“ „die spezifische Aufgabe der Bundesergänzungszuweisungen“. Ders., Der­ Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 651. 168 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 662. 169 In Frage steht die Verfassungsmäßigkeit der Nicht- bzw. Minderberücksichtigung Bremens gegenüber dem Saarland bei der Zuweisung von Bundesergänzungszuweisungen nach § 11a Abs. 3 FAG a. F. (1988, 1991). 170 BVerfGE 86, 148 (259). Das Bundesverfassungsgericht verweist auf eine entsprechende Anlage. Im Gegensatz zu BVerfGE 116, 327 (hierzu sogleich im Haupttext) werden in der Entscheidung nicht Tabellen mit Daten zur haushaltswirtschaftlichen Situation abgedruckt. 171 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 664.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

damit finanzwirtschaftliche Kennzahlen bzw. Indikatoren betreffend die haushaltswirtschaftliche Situation der Länder heran.172 Das Gericht charakterisiert die Haushaltsnotlage zwar mit Blick auf die Beeinträchtigung der haushaltswirtschaftlichen Handlungsfähigkeit eines Landes173, eine nähere begriffliche Konkretisierung, sei es im Wege qualitativer oder quantitativer Kriterien, erfolgt jedoch nicht. Die Haushaltsnotlage wird vor der Analyse des konkreten Sachverhalts nicht mit einer abstrakten, nichtnumerischen Definition näher eingegrenzt. Ausschlaggebend sind allein numerische Kriterien. Stefan Korioth konstatiert: „Die Haushaltsnotlage […] ist kein verfassungsrechtlicher Begriff, sondern die zusammenfassende Bezeichnung eines finanzwirtschaftlichen Datenkranzes in bezug auf den Haushalt einer Gebietskörperschaft.“174 Das Bundesverfassungsgericht verlässt das Muster der gestuften Konkretisierung. „Als Indikator für eine Haushaltsnotlage können die Finanzierungsquoten der jeweiligen Haushalte dienen, die das Verhältnis zwischen Netto-Kreditaufnahme und den Einnahmen oder Ausgaben des Haushalts aufweisen. Ebenso kann eine Haushaltsnotlage in den Belastungsquoten zum Ausdruck kommen, welche die Zinsausgaben ins Verhältnis zu den (steuerlichen) Einnahmen und den Ausgaben des Haushalts setzen. Beide Quoten vermögen, insbesondere wenn ihre Entwicklung und die Anstrengungen zu ihrer Verbesserung über die Jahre hinweg verfolgt werden, einzeln oder auch in ihrer Kombination anzuzeigen, inwieweit Kreditfinanzierung, eine daraus hervorgehende und möglicherweise kontinuierlich steigende Schuldenlast sowie damit korrespondierende Zinsausgaben die haushaltswirtschaft­ liche Handlungsfähigkeit beeinträchtigen oder gar – mit der Tendenz zur Leistungsunfähigkeit im Blick auf die verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben – ganz aufheben.“175

Als Indikatoren werden zwar allein die Finanzierungs- und Belastungsquote der Landeshaushalte herangezogen, sie werden indes an keiner Stelle als einzig in Frage kommende oder explizit als wesentliche Kennzahlen bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht schließt nicht aus, dass weitere Quoten als Indikatoren in Betracht kommen. Es bestimmt keine Schwellenwerte, ab denen eine Haushaltsnotlage 172 Stefan Korioth spricht von „Bemessungsmaßstäbe[n]“. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 663. Laut Bundesverfassungsgericht müssen nicht zwingend Finanzierungs- und Belastungsquote zur Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Lage herangezogen werden: „Als Indikator für eine Haushaltsnotlage können die Finanzierungsquoten der Haushalte dienen […]. Ebenso kann eine Haushaltsnotlage in den Belastungsquoten zum Ausdruck kommen […]. Beide Quoten vermögen […] einzeln oder auch in ihrer Kombination anzuzeigen […].“ BVerfGE 86, 148 (258 f., Kursivsetzung durch Verf.). Für deren gegenseitige Ergänzung und gegen ein striktes Alternativverhältnis Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 663. 173 Auch Stefan Korioth weist darauf hin, dass eine Finanzierung des Landes über Kredite noch keine Haushaltsnotlage hervorrufe. Sie entstehe erst in Folge der Kreditaufnahme, wenn die Zinsvorbelastung die haushaltswirtschaftliche Handlungsfähigkeit so einschnüre, dass die Erfüllung der verfassungsmäßig übertragenen Aufgaben erschwert bis unmöglich werde. „Die Notlage besteh[e] in einer Verschuldungsfalle, aus der sich die betroffene Gebietskörperschaft aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 662. 174 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 662. 175 BVerfGE 86, 148 (258 f.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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vorliegt. Ausschlaggebend für das Vorliegen einer Haushaltsnotlage im konkreten Fall sind der Vergleich zum Länderdurchschnitt und die Entwicklung der Kennzahlen über einen Fünf-Jahres-Zeitraum (1986–1990). Aus den verfassungsgerichtlichen Ausführungen ergibt sich keine (abschließende)  numerische Definition, sondern nur eine punktuelle numerische Bestimmung der Haushaltsnotlage. Abweichungen und Präzisierungen in einer späteren Entscheidung bleiben offen. „Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offenbleiben. Jedenfalls liegt eine Haushaltsnotlage vor, wenn, wie im Saarland (ohne Kommunen), die Kreditfinanzierungsquote für 1986 mit 14,1 v. H. gegenüber dem Durchschnitt der Bundesländer (6,9 v. H.) mehr als doppelt so hoch war und die Zins-Steuer-Quote zur selben Zeit mit 19,8 v. H. weit über dem Durchschnitt der Bundesländer (11,8 v. H.) lag […]. Bei Einbeziehung der Kommunen betrug 1986 die Kreditfinanzierungsquote des Saarlands 11,3 v. H. gegenüber einem Durchschnitt der Bundesländer von 5,3 v. H. und die Zins-Steuer-Quote 20,6 v. H. gegenüber einem Durchschnitt der Bundesländer von 12,0 v. H. Für Bremen betrug die Kreditfinanzierungsquote für 1986 19,3 v. H., also mehr als das Dreifache des Durchschnitts der Bundesländer, die Zins-Steuer-Quote 26,3 v. H., mithin mehr als das Zweifache des Länderdurchschnitts (einschließlich Kommunen).“176

BVerfGE 86, 148 lassen sich außerdem qualitative und quantitative Vorgaben sowie numerische Aussagen zum zulässigen Umfang der Hilfeleistungen entnehmen. Er ist untrennbar verknüpft mit der Unterscheidung des Gerichts zwischen regulären und extremen Haushaltsnotlagen. Laut Bundesverfassungsgericht müssen sich die Bundesergänzungszuweisungen auch im Falle der Haushaltsnotlage des Empfängerstaates im Rahmen ihrer Funktionsbestimmung einer „ergänzende[n] Korrektur[…]“ im Verhältnis zum horizontalen Finanzausgleich halten. Das Bundesverfassungsgericht stellt die qualitative Begrenzung einer „(vorübergehende[n]) Hilfe zur Selbsthilfe“ auf. Der Bund dürfe keine „Haushaltssanierung“ durchführen, zu der ein Land „aus eigener Kraft nicht mehr fähig“ sei.177 Ein „über das normale Maß hinausgehende[r] Umfang“ an Bundesergänzungszuweisungen sei nur in „extremen Haushaltsnotlage[n]“ ggf. gerechtfertigt.178 In dem Fall ermächtige das Bundesstaatsprinzip selbst zu Hilfemaßnahmen.179 Der gesteigerte Umfang der Hilfeleistungen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann nicht nur gerechtfertigte Folge der extremen Haushaltsnotlage, sondern entscheidet auch über ihr Vorliegen. 176

BVerfGE 86, 148 (259). BVerfGE 86, 148 (261, Zitate ebd.). 178 BVerfGE 86, 148 (263 ff., Zitate S. 263 u. 264). 179 BVerfGE 86, 148 (263). Eine Bindung an das bestehende (finanz-)verfassungsrechtliche Instrumentarium besteht nach den Ausführungen des Gerichts insoweit, als „die Pflicht bundesstaatlicher Hilfeleistung […] nicht aus sich heraus eigene Regelungs- und Eingriffsbefugnisse“ begründen könne. Es „dirigiere[…]“ „die Wahrnehmung bestehender Befugnisse nach Grund und Umfang“. BVerfGE 86, 148 (265). Bundesergänzungszuweisungen könnten in der extremen Haushaltsnotlage Bestandteil „konzeptionell abgestimmte[r] [Hilfe-]Maßnahmen“ sein. BVerfGE 86, 148 (263). 177

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

In BVerfGE 86, 148 stellt das Bundesverfassungsgericht mittels einer „Modellrechnung“ fest, ob den Haushaltsnotlagen im Saarland und in Bremen durch Zuweisungen im Rahmen der genannten Vorgaben abgeholfen werden kann.180 Es ermittelt den Aufwand, der notwendig ist, um innerhalb von fünf Jahren die Zins-Steuer-Quote Bremens und des Saarlands auf die des Landes mit der nächsthöchsten Quote (Schleswig-Holstein) zu reduzieren. Nach den finanzwirtschaftlichen Berechnungen des Bundesverfassungsgerichts liegt angesichts des notwendigen Umfangs der Hilfeleistungen in beiden Fällen eine extreme Haushaltsnotlage vor. Der haushaltswirtschaftliche Sanierungsfall wird (in Abgrenzung zur Hilfe zur Selbsthilfe) in Bezug auf den konkreten Fall, punktuell numerisch präzisiert. „Der Umfang der Mittel, die für das Saarland und Bremen als angemessene Hilfe zur Überwindung ihrer Haushaltsnotlage erforderlich wären, würde den Rahmen, der den Bundes­ergänzungszuweisungen nach ihrer ergänzenden Funktion als letztes Glied des bundesstaatlichen Finanzausgleichs gezogen ist, eindeutig sprengen. Das verdeutlicht eine Modellrechnung zur Ermittlung des notwendigen finanziellen Aufwands, um etwa die Zins-Steuer-Quote innerhalb von fünf Jahren  – dem Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung – auf den Satz zurückzuführen, den das Land mit der nächsthöchsten Zins-SteuerQuote, gegenwärtig Schleswig-Holstein (Land und Kommunen 1990) mit 13,7 vom Hundert bzw. (ohne Kommunen) 15,1 vom Hundert aufweist. […]: Für den notwendigen Ersatz der normal üblichen Nettokreditaufnahme und die stufenweise Entschuldung entstünde ein Finanzbedarf, der für das Saarland (allein Landeshaushalt) von 1992 bis 1996 von knapp 1 Mrd. DM auf über 1,5 Mrd. DM im Jahr, für Bremen von etwa 1,4 Mrd. DM auf 2 Mrd. DM im Jahr ansteigen würde. Die Gesamtlast für eine solche Haushaltsstabilisierung würde für das Saarland über 6 Mrd. DM, für Bremen über 8,5 Mrd. DM betragen. […] Dies zeigt eindeutig, daß es sich beim Saarland und bei Bremen um Sanierung, nicht mehr um Hilfe zur Selbsthilfe handelt. Die über einen Zeitraum von fünf Jahren notwendigen Unterstützungsleistungen würden ihrem Umfang nach für das Saarland (ohne Kommunen) und Bremen jeweils 20 v. H. und mehr des Haushalts ausmachen. Sie würden einen durchschnittlichen jährlichen Aufwand von geschätzt 2,5 Mrd. DM erfordern.“181

Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung schließt mit Ausführungen zur verfassungsgemäßen Höhe der Leistungen zur Abhilfe der – hier vorliegenden – extremen Haushaltsnotlage. Es findet sich in diesem Zusammenhang eine weitere numerische Aussage des Gerichts. Im Falle einer extremen Haushaltsnotlage falle es zunächst in den Entscheidungsspielraum des Bundesgesetzgebers, wie er der grundsätzlich bestehenden bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht nachkomme. Dies gelte auch für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen und deren Umfang.182 Bezogen auf die extreme Haushaltsnotlage im Saarland konstatiert das Bundesverfassungsgericht daher:

180

BVerfGE 86, 148 (262 ff., Zitat S. 262). BVerfGE 86, 148 (262 f., Kursivsetzung durch Verf.). 182 BVerfGE 86, 148 (269 ff.). 181

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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„Die Zuweisung von 75 Mio. DM Bundesergänzungszuweisungen, die das Gesetz dem Saarland wegen seiner Haushaltsnotlage gewährt, ist derzeit mit Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG vereinbar.“ „Entschließt er [der Bundesgesetzgeber] sich […] [jedoch], die Stabilisierungshilfe im wesentlichen durch Bundesergänzungszuweisungen zu leisten, kann es bei dem Betrag von 75 Mio. DM bei weitem nicht sein Bewenden haben.“183

Entschließe sich der Gesetzgeber zu einer Stabilisierungshilfe im Wege von Bundesergänzungszuweisungen, müsse er zudem das föderale Gleichbehandlungsgebot beachten. Es steuere nicht nur das „ob“, sondern auch das „wie viel“ der Zuweisungen und erlaube Differenzierungen nur nach einem „sachbezogenen […] Maßstab[…]“.184 (b) Verschärfung der Voraussetzungen im Urteil vom 19. Oktober 2006 Am 19.  Oktober 2006 (BVerfGE 116, 327) „verschärft“ das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen wegen einer Haushaltsnotlage.185 Bundesergänzungszuweisungen dürfen nur noch in einer Haushaltsnotlage gewährt werden, die absolut und relativ einen extremen Umfang erreicht. Gemessen an den verfassungsrechtlich zu erfüllenden Aufgaben muss die Existenz des in den Blick genommenen Landes bedroht sein (absoluter Maßstab). Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen „bundesstaatliche[n] Notstand“.186 Das potentielle Empfängerland darf sich aus der­ finanziellen Zwangslage nicht selbst befreien können und verfügt insoweit über 183

BVerfGE 86, 148 (271, Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 86, 148 (271 ff., Zitat S. 273). „Die Nichtberücksichtigung Bremens bei den Bundesergänzungszuweisungen wegen gegebener Haushaltsnotlage in den Jahren 1987 und 1988 und die Art der Minderberücksichtigung gegenüber dem Saarland in den Jahren seither verstößt [daher] gegen das föderative Gleichbehandlungsgebot.“ BVerfGE 86, 148 (271 f.). Bei der Überprüfung eines Ausgleichs für die Kosten politischer Führung tätigt das Bundesverfassungsgericht wider den ersten Anschein weniger numerische Vorgaben, als es die Begründung des einfachen Gesetzgebers in den Blick nimmt: „§ 11a Abs. 3 Satz 1 FAG ist mit Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG unvereinbar, insoweit er Bremen als Vorabbetrag für die Kosten politischer Führung einen Betrag zuweist, der pauschal 50 v. H. unter dem für das Saarland ausgewiesenen Betrag liegt. Soweit er Hamburg einen Vorabbetrag für Kosten politischer Führung nicht zuweist, ist er mit dem Grundgesetz vereinbar. […] Der Gesetzgeber hat den im Vergleich zum Saarland geringeren Betrag für Bremen damit begründet, daß für Bremen bereits ein Grundansatz der Kosten politischer Führung mit der Einwohnerwertung nach § 9 Abs. 2 FAG erfaßt sei, […]. […] Dies hält verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand. […] Die Nichtberücksichtigung Hamburgs ist deshalb gerechtfertigt, weil es sich bei der Freien und Hansestadt Hamburg nicht um ein leistungsschwaches Land handelt.“ BVerfGE 86, 148 (274 ff., Zitate ebd.). Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts sollen daher nicht als Beispiele quantitativer Aussagen angeführt werden. 185 Rainer Wernsmann, BVerfGE 116, 327 – Berliner Haushaltsnotlage, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S.  809 (813, Zitat ebd.). Ausdrücklich auch das Bundesverfassungsgericht in BVerfG 116, 327 (389). 186 BVerfGE 116, 327 (Leitsatz 2 a, S. 377). 184

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

eine Darlegungs- und Begründungslast. Die Haushaltsnotlage muss zudem relativ – im Vergleich zur haushaltswirtschaftlichen Lage der übrigen Bundes­länder – extrem sein.187 In BVerfGE 116, 327 entscheidet das Bundesverfassungsgericht nach BVerfGE 86, 148 erneut anhand eines Vergleich der haushaltswirtschaftlichen Situation der Länder über das Vorliegen einer (relativen) Haushaltsnotlage. 187 BVerfGE 116, 327 (Leitsatz 2 a, S. 377). Das Bundesverfassungsgericht begründet seine restriktive Rechtsprechung mit der Strukturwidrigkeit von Bundesergänzungszuweisungen wegen einer Haushaltsnotlage im Verteilungssystem der Art. 106, 107 GG. Es nimmt die Ursachen von Haushaltsnotlagen in den Blick. Als solche komme eine nicht aufgabengerechte Finanzausstattung in Betracht. Die Berücksichtigung von Sonderlasten bzw. Sonderbedarfen falle zwar grundsätzlich den Bundesergänzungszuweisungen zu. Das Bundesverfassungsgericht verweist jedoch darauf, dass sie „kein Instrument zur Korrektur etwaiger Verteilungsmängel auf vorangegangenen Stufen des Finanzausgleichs [sind]. Bundesergänzungszuweisungen sollen den horizontalen Finanzausgleich nicht ersetzen, sondern ihn lediglich ergänzen […].“ BVerfGE 116, 237 (378, siehe auch S. 381 u. 384). Jedenfalls könne es nicht Aufgabe einer bundesstaatlich begründeten Sanierungspflicht in einer extremen Haushaltsnotlage sein, „Defizite regulärer Ausgleichsmaßnahmen horizontaler oder vertikaler Art nachträglich zu beheben“. BVerfGE 116, 327 (385). Es liege zudem nicht an den Bundesergänzungszuweisungen, Folgewirkungen autonomer politischer Entscheidungen eines Landes auszugleichen. Das Bundesverfassungsgericht macht deutlich, dass „Bundesergänzungszuweisungen […] nicht dazu [dienen], augenblickbedingte finanzielle Notstände zu beheben, aktuelle Projekte zu finanzieren oder finanziellen Schwächen abzuhelfen, die eine unmittelbare und vorhersehbare Folge von politischen Entscheidungen eines Landes bilden. Eigenständigkeit und politische Autonomie brächten es mit sich, dass die Länder grundsätzlich für die haushaltspolitischen Folgen autonomer Entscheidungen selbst einzustehen und eine kurzfristige Finanzschwäche selbst zu überbrücken haben.“ BVerfGE 116, 327 (382, siehe auch S. 385 f.). So auch Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 651. Das Bundesverfassungsgericht ist in BVerfGE 86, 148 insoweit noch großzügiger: „Zwar sind sie [die Bundesergänzungszuweisungen] nicht dazu bestimmt, finanziellen Schwächen abzuhelfen, die eine unmittelbare und voraussehbare Folge eigener politischer Entscheidungen des Landes bilden. Ungeachtet dessen können aber bei einer Haushaltsnotsituation eines Landes, wenn eine Abhilfe auf andere Weise nicht möglich ist, auch Lasten, die durch diese Notsituation bedingt sind, als berücksichtigungsfähiger Sonderbedarf in Betracht kommen […].“ Ebd., S. 260 f., siehe auch BVerfGE 116, 327 (383). Das Bundesverfassungsgericht zieht in BVerfGE 116, 327 aus den „alternativen grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten“ und dem daraus erwachsenden „Dilemma der Bewältigung“ (S. 385) von Haushaltsnotlagen folgende Konsequenzen: „Stellt sich jede Bundesergänzungszuweisung wegen einer Haushaltsnotlage als eine Hilfsmaßnahme außerhalb der regulären Zwecke und des Systems des Finanzausgleichs dar, behält gleichwohl die zentrale Begründung für die Zulässigkeit und Notwendigkeit der bundesstaatlichen Hilfe im Fall einer extremen Haushaltsnotlage Gewicht, aber auch nur für den Fall einer ‚extremen‘ Haushaltsnotlage: Weil und soweit Situationen eintreten, in denen die verfassungsrechtlich gebotene Handlungsfähigkeit eines Landes anders nicht aufrecht zu erhalten ist, ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als u­ ltima ratio erlaubt und dann auch bundesstaatlich geboten.“ Ebd., S. 386, Kursivsetzung durch Verf. Das Bundesverfassungsgericht errichtet damit eine Sperre für Bundesergänzungszuweisungen in einfachen Haushaltsnotlagen. Anders Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 107 Rn. 60 a. E. (Zitat ebd.): Wenn es nur für den „Fall einer ‚extremen‘ Haushaltsnotlage im Gegensatz zu einer ‚einfachen‘ Notlage nicht auf das Vertretenmüssen ankomm[t]“, bleiben Ergänzungszuweisungen im Falle des fehlenden Verschuldens auch in einfachen Haushaltsnotlagen möglich.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Zur Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Lage Berlins bestimmt das Bundesverfassungsgericht zunächst eine Reihe geeigneter Indikatoren.188 Die haushaltswirtschaftlichen Kennzahlen entnimmt es vom Statistischen Bundesamt eigens zusammengestellten Tabellen. Sie sind in der Entscheidung abgedruckt und stellen damit einen Aspekt der besonderen Zahlenprägung der Entscheidung dar.189 In diesem Zusammenhang fallen methodische Reflexionen zur Eignung des Datenmaterials als tatsächlicher Entscheidungsgrundlage auf. Das Gericht formuliert somit nicht nur qualitative Vorgaben für die Festlegung der Zahlen des FAG,190 sondern bestimmt ebensolche auch für die eigene Zahlengenerierung. Es fordert „aktuelle, verlässliche und allgemein zugängliche Datengrundlagen“ „zur Berechnung der Indikatoren und zum Haushaltsvergleich“. Die selbstgesetzten Anforderungen sieht es bei den „vom Statistischen Bundesamt nach den Grundsätzen der Neutralität, Objektivität und wissenschaftlichen Unabhängigkeit aufbereiteten Haushaltsdaten“ gewahrt. Die Daten seien zwar durch die „Umbuchungspraxis in Bund und Ländern“ „beeinflussbar“; „‚klinisch-saubere‘ Zahlenreihen […] [aber] nicht verfügbar. Im Übrigen […] [seien] für Vergleiche von Haushaltsdaten der Länder bis ins Letzte ausgezirkelte Zahlenreihen nicht erforderlich; eine einmal gewählte Zahlenbasis […] [sei] nur konsequent fortzuführen, um aus solchen Vergleichen Tendenzaussagen herleiten zu können.“191 Das Bundesverfassungsgericht stützt sich u. a. auf die haushaltswirtschaftlichen Kennzahlen, die es bereits in BVerfGE 86, 148 zur Beurteilung der Haushaltslage herangezogen hat (Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quote), und nimmt sie als „Orientierungspunkte“192 in Bezug.193 Es bewahrt sich dadurch Flexibilität zur Berücksichtigung der Besonderheiten des Sachverhalts und öffnet den Blick für die Entwicklung der haushaltswirtschaftlichen Lage Berlins. Das Gericht zieht nicht nur die Lage des Saarland und Bremens (BVerfGE 86, 148) vergleichend heran, sondern nimmt die „Situation […] leistungsschwacher Länder“194 insgesamt in den Blick. Das wertende Vorgehen des Gerichts tritt nun deutlich in den Vordergrund. Es vergleicht die haushaltswirtschaftliche Lage im Bundesstaat und konstatiert, dass „bei einer […] Häufung prekärer Haushaltslagen […] etwaige isolierte, d. h. für einzelne Länder festzustellende gravierende Haushaltsnöte nur in besonders krassen Konstellationen geeignet [sind], den bundesstaatlichen Notstand zu begründen“.195 Das Bundesverfassungsgericht verweist außerdem auf etwaige Selbsthilfemöglichkeiten Berlins zur Sanierung seines Haushalts196 und kommt zu

188

BVerfGE 116, 327 (394 ff.). BVerfGE 116, 327 (362 ff.). 190 Hierzu sogleich unter A. I. 5. b) und unter B. II. im 3. Kapitel des dritten Teils. 191 BVerfGE 116, 327 (396 f.). 192 BVerfGE 116, 327 (389, Kursivsetzung durch Verf.). 193 BVerfGE 116, 327 (399 f., 402 f.). 194 BVerfGE 116, 327 (403). 195 BVerfGE 116, 327 (404, Kursivsetzung durch Verf.). 196 BVerfGE 116, 327 (405 ff.). 189

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

dem Schluss, dass in Berlin im Bundesvergleich zwar eine „angespannte“, aber keine extreme Haushaltsnotlage vorliege.197 b) Verfahrenskontrolle des Finanzausgleichsgesetzes – Methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung Das Bundesverfassungsgericht stellt methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung durch den Finanzausgleichsgesetzgeber auf. Sie beziehen sich auf die Generierung der Faktoren des Finanzausgleichs als ein dem Gesetzesinhalt vorgelagertes Verfahren. Es können in den Ausführungen des Gerichts „Mindestanforderungen an die Rationalität“ des Finanzausgleichsgesetzgebers nachgezeichnet werden.198 Das Bundesverfassungsgericht formuliert darüber hinaus methodische Vorgaben für das eigentliche Finanzausgleichsverfahren, den Gesetzesinhalt selbst. Auch sie beziehen sich auf die Generierung von Zahlen, denn der einfachgesetzliche Finanzausgleich ist Rechenverfahren zur Ermittlung finanzieller, in Zahlen gefasster Ausgleichsleistungen. Einige Verfahrensvorgaben des Bundesverfassungsgerichts beziehen sich sowohl auf die (dem FAG vorgelagerte) Generierung der einzelnen Berechnungsfaktoren als auch auf das (einfachgesetzlich ­orderung geregelte)  Finanzausgleichsverfahren insgesamt. Hierzu gehört die F einer Gleichbehandlung der Bundesländer. Die Verteilung der Finanzen im Bundesstaat muss sich nach „objektive[n] und sachgerechte[n] Maßstäbe[n]“ richten.199 aa) Zahlen als Gesetzesinhalt (1) Bestimmung der Berechnungsfaktoren im horizontalen Finanzausgleich: Rückführbarkeit auf Indikatoren und einfachgesetzliche Wertung, Beschränkung des Einflusses finanzwissenschaftlicher Gutachten Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Generierung der Faktoren in den einfachgesetzlichen Regelungen zum Finanzausgleich sind selbst zahlengeprägt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt keine exakte Abbildung der Finanzkraft bzw. des Finanzbedarfs der Länder durch den Gesetzgeber, schließt aber zugleich die Verwendung „frei gegriffen[er]“200 Größen aus. An die Stelle der 197

BVerfGE 116, 327 (399 ff.). In BVerfGE 86, 148 leiten die Antragsteller eben solche „aus der Regelungsaufgabe des Finanzausgleichsgesetzes“ her (S. 165). 199 Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd.  VII, Loseblattsammlung, Stand: 21. Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 8 a. E. Siehe auch BVerfGE 101, 158 (230, 235). 200 BVerfGE 86, 148 (212). Den Terminus der „gegriffenen Größen“ verwendet auch Holger Fleischer im Zusammenhang der fachrichterlichen Quantifizierung. Ders., „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus 198

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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exakten Berechnung tritt die Rückführbarkeit der Faktoren auf Indikatoren.201 Dies gilt allgemein für die Berechnung der Finanzkraft der Länder sowie im Detail für die Berücksichtigung der Seehafenlasten, die Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft und die Berücksichtigung struktureller Besonderheiten der Stadtstaaten.202 Die Anforderungen an die Indikatoren werden (teils auch innerhalb der Entscheidungen) unterschiedlich formuliert. Das Bundesverfassungsgericht spricht von „verläßliche[n], objektive[n]“203 oder „praktikable[n] und ökonomisch rationale[n] Indikatoren“204; von Indikatoren, die „verläßlich sind und auch das Volumen der Finanzkraft zuverlässig erfassen“205, sowie deren „Tragfähigkeit und Sach­ angemessenheit“.206 Das Bundesverfassungsgericht schließt mit der Bindung des Gesetzgebers an geeignete Indikatoren und die  – im Finanzausgleich allen Detailfragen übergeordnete  – Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen der Eigenverantwortung und Solidarität der Glieder des Bundesstaats207 einerseits die Verwendung „frei gegriffen[er]“ Größen aus.208 Bei der „Gewichtung der Einwohnerzahlen der Stadtstaaten“ erkennt es andererseits „normative Wertungen“ und damit einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers an. Die Bestimmung des Veredelungsfaktors gehe über die „rein technische Umsetzung objektiver, finanzwissenschaftlich ermittelbarer Größen hinaus[…] [und lasse] sich nicht auf eine bloße Rechenoperation reduzieren“.209

Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (ebd.). Zu „gegriffen[en]“ Zahlen siehe auch ­Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 198. Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils und Fn. 24, ebd. 201 St. Rspr.; allgemein BVerfGE 86, 148 (212, Zitat ebd.); in Bezug auf die Einwohnerwertung der Stadtstaaten BVerfGE 72, 330 (415 f.) u. 86, 148 (239) bzw. der Stadtstaaten und Kommunen 101, 158 (230 f.). In BVerfGE 86, 148 zählen die Antragsteller Hamburg und Bremen die Rückführbarkeit auf „verlässliche[…], objektivierbare[…] Indikatoren“ zu den „Mindestanforderungen an die Rationalität“, die sich „aus der Regelungsaufgabe des Finanzausgleichsgesetzes ergäben“ (S. 165; hierzu bereits soeben im Haupttext). 202 In Bezug auf die Ermittlung der Finanzkraft der Länder BVerfGE 72, 330 (399 f.); die Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft BVerfGE 86, 148 (216) und die Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Kommunen BVerfGE 86, 148 (225, 231, 241); die Berücksichtigung der Seehafenlasten BVerfGE 86, 148 (236) und die „Berücksichtigung der […] strukturellen Eigenart der Stadtstaaten“ BVerfGE 72, 330 (415 f., Zitat S. 415); 86, 148 (239). 203 BVerfGE 86, 148 (212). Auf S. 241 derselben Entscheidung ist von „verläßlichen objektivierbaren Indikatoren die Rede. Siehe auch BVerfGE 101, 158 (230) u. 72, 330 (416). Im Anschluss an die Ausführungen im 72. Band nennt das Bundesverfassungsgericht Beispiele, welche Indikatoren zur Bemessung des finanziellen Sonderbedarfs der Stadtstaaten in Betracht kommen (ebd.). 204 BVerfGE 101, 158 (228). 205 BVerfGE 86, 148 (216); siehe auch BVerfGE 72, 330 (399). 206 BVerfGE 86, 148 (233). 207 BVerfGE 86, 148 (240 f.). 208 Siehe BVerfGE 86, 148 (212, Zitat ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 209 BVerfGE 86, 148 (240).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

„Die finanzwissenschaftlich ermittelten Daten können […] nur Indizien sein, Anhaltspunkte geben und den Rahmen einer angemessenen Einwohnerwertung abstecken. Es verbleibt in der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers, innerhalb dieses Rahmens die genaue Höhe der Einwohnerwertung festzulegen. […] Soweit der Gesetzgeber sich für einen Veredelungs­ faktor entscheidet, muß dessen Ausgestaltung innerhalb der Bandbreite der Indikatoren verbleiben, die für die strukturelle Eigenart der Stadtstaaten aussagekräftig sind.“210

Die Anerkennung normativer Wertungen bei der Einwohnergewichtung der Stadtstaaten beschränkt damit zugleich den Einfluss finanzwissenschaftlicher Gutachten auf die einfachgesetzliche Festlegung der Faktoren des finanzausgleichrechtlichen Rechenverfahrens. Sie können „Grundlage“ der gesetzgeberischen Entscheidung sein, diese jedoch nicht ersetzen.211 Im Zusammenhang mit der Einwohnergewichtung der Stadtstaaten zeigt sich, dass die Verfahrens- mit der Ergebniskontrolle des Bundesverfassungsgerichts verschränkt ist. Die methodischen Vorgaben haben Einfluss auf die Ergebniskontrolle. Die Anerkennung normativer Wertungen bei der einfachgesetzlichen Entscheidung bedeutet den Rückzug auf eine Vertretbarkeitsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht.212 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht seine Kontrolle auf die einfachgesetzliche Entscheidung beschränkt,213 die Forderung verlässlicher Indikatoren gerät  – jedenfalls bei der Einwohnerwertung von Stadtstaaten und Kommunen  – zum Ausgangspunkt einer detaillierten Prüfung der die einfach­ gesetz­liche Entscheidung tragenden Erwägungen.214

210

BVerfGE 86, 148 (241, Kursivsetzung durch Verf.). Auf S. 245 spricht das Gericht von einer „Bandbreite angemessener Einwohnerwertungen“ (Kursivsetzung durch Verf.). 211 BVerfGE 86, 148 (240 f., Zitat S. 241). Die bundesverfassungsgerichtlichen Ausführungen beziehen sich auch hier auf die einfachgesetzliche Einwohnerwertung der Stadtstaaten. Maßgebliches Gutachten ist eines des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, siehe S. 239. 212 In BVerfGE 86, 148 wird die Verschränkung sichtbar, denn auf die methodischen Ausführungen zur Einwohnergewichtung der Stadtstaaten folgt die Vertretbarkeitsprüfung des vom Gesetzgeber gewählten Faktors von 135 % (S. 239 ff.). 213 BVerfGE 86, 148 (241). 214 BVerfGE 86, 148 (zur Einwohnerwertung der Kommunen S. 233 ff. und der Stadtstaaten S. 241 ff.). Das Gericht stützt sich dabei auf finanzwissenschaftlichen Sachverstand. BVerfGE 86, 148 (233). Kritisch Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S.  591, Fn.  601. Ders. wirft dem Bundesverfassungsgericht vor, es handele entgegen eigener Äußerungen, nach denen es „die Gestaltungsfreiheit des Finanzausgleichsgesetzgebers immer wieder betont“. Das Gericht „befa[sse] […] sich so eingehend mit Details, daß der Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab des Art. 107 II S. 1 GG – genauer: dem einen Wort Finanzkraft – verlorengeh[e]; der Übergang zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Norm w[erde] fließend.“ (ebd.). In BVerfGE 72, 330 beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht noch auf die Nennung „verlässlicher“ und „objektivierbarer“ Indikatoren, die zur Ermittlung des erhöhten Finanzbedarfs der Stadtstaaten in Betracht kommen (S. 416).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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(2) Einfachgesetzliche Überprüfung und Korrektur der Berechnungsfaktoren und Indikatoren als Begleitpflicht Die methodischen Vorgaben kombiniert das Bundesverfassungsgericht mit formellen Begleitpflichten. Das Bundesverfassungsgericht legt dem Gesetzgeber Prüfungspflichten hinsichtlich einiger Faktoren bzw. zu Grunde liegender Indikatoren des einfachgesetzlichen, den horizontalen Finanzausgleich umsetzenden Rechenverfahrens auf. Sie werden zuletzt in BVerfGE 101, 158 aufgezählt.215 Prüfungspflichten des Gesetzgebers können im Zusammenhang mit rechtlichen und tatsächlichen Änderungen stehen. In BVerfGE 101, 158 verweist das Bundesverfassungsgericht bei der Pflicht des Gesetzgebers zur Überprüfung der Höhe, in der er kommunale Steuereinnahmen bei der Ermittlung der Länderfinanzkraft berücksichtigt, auf die zwischenzeitliche, ausdrückliche Anerkennung der finanziellen Eigenverantwortung der Gemeinden im Grundgesetz.216 Hinsichtlich der Bildung der (die relative Finanzkraft abbildenden) Ausgleichsmesszahl im FAG steht insbesondere nach der Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleich die Gewichtung der Einwohnerzahlen von Stadtstaaten und Kommunen in Frage.217 215 BVerfGE 101, 158 (226 ff.). Das Bundesverfassungsgericht formuliert dort einen Prüfungsauftrag im Hinblick auf die einfachgesetzliche Berücksichtigung von Sonderbelastungen aus der Unterhaltung und Erneuerung der Seehäfen. Der Gesetzgeber müsse sie rechtfertigen und überprüfen, ob vergleichbare Mehrbedarfe bestehen. Ebd., S. 229. 216 BVerfGE 101, 158 (230). Die von BVerfGE 101, 158 (230) geforderte Sachgerechtigkeitsprüfung führt zu einer Heraufsetzung der vormaligen 50 %-Kürzung der gemeindlichen Steuer­ einnahmen auf 64 %. Ulrich Häde, Das Ende der Solidarität zwischen den Ländern?, LKV 2011, S. 1 (7). 217 Der Gesetzgeber müsse bei einer Veredelung der Einwohnerzahlen das Bestehen sowie die Art und Höhe der Berücksichtigung eines erhöhten Finanzbedarfs mit geeigneten Indikatoren begründen. BVerfGE 101, 158 (230 f.). Zur Einwohnergewichtung der Stadtstaaten: Bereits in BVerfGE 72, 330 trägt das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzgeber auf, die Ange­ messenheit des Veredelungsfaktors von damals 135 % bei der Einwohnerwertung der Stadtstaaten zu überprüfen. Im Vordergrund steht die Frage, in welchem Maße der Bedarf der Stadtstaaten erhöht und dem im Finanzausgleich Rechnung zu tragen ist: „Der Gesetzgeber hat die Angemessenheit der gegenwärtigen Regelung […] zu überprüfen und gegebenenfalls – sei es nach oben, sei es nach unten – zu korrigieren.“ Dazu bedarf es auch der Klärung, welche Indikatoren zur Ermittlung des erhöhten Finanzbedarfs der Stadtstaaten „verlässlich[…]“ sind. Das Bundesverfassungsgericht nennt Indikatoren, die „in Betracht“ kommen. BVerfGE 72, 330 (416, Zitate ebd.). Der Gesetzgeber entscheidet sich in der Folge auf der Grundlage eines Gutachtens des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung dafür, die genannte Regelung aufrecht zu erhalten. Dies wird vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 86, 148 (238 ff.) zunächst gebilligt. Dazu Stefan ­Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 587 ff. Zur Einwohnergewichtung der Kommunen: In den Kommunen ist die Veredelung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 101. Band an eine zunehmende Größe und Siedlungsdichte der Kommunen gekoppelt. Folge ist die Erhöhung der Ausgleichsmesszahl und damit die gesteigerte Chance des Erhalts und eine verminderte „Gefahr“ der Verpflichtung zu Ausgleichsleistungen. Bereits in BVerfGE 86, 148 formuliert das Bundesverfassungsgericht eine Prüfungspflicht im Hinblick auf die Indikatoren zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Kommunen. Der Gesetzgeber hat zu überprüfen, ob Gemeindegröße und Siedlungsdichte eine privilegierende Einwohnergewichtung rechtfertigen: „Der Gesetzgeber ist […] verpflichtet zu überprüfen, ob Gemeindegröße

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

(3) Begründungspflichten des Gesetzgebers In den jüngeren Entscheidungen zum Finanzausgleich verstärkt sich die Rationalisierung des Gesetzgebungsverfahrens. Das Bundesverfassungsgericht stellt Begründungspflichten des Gesetzgebers auf. Der Gesetzgeber unterliege einer Pflicht zur Begründung der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen. Die Benennung, Begründung und Überprüfung des Fortbestands der Sonderlasten folge aus dem „Ausnahmecharakter“ der Zuweisungen und dem föderativen Gleichbehandlungsgebot.218 BVerfGE 101, 158 lässt sich eine allgemeinere Begründungspflicht für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Finanzausgleichs entnehmen. Das Bundesverfassungsgericht fordert eine zweistufige Konkretisierung der finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben. Der Gesetzgeber muss die konkreten finanziellen Zuweisungen im FAG mit übergeordneten Prinzipien für den Ausgleich im MaßstG begründen.219 bb) Zahlen als Ergebnis des einfachgesetzlichen Verfahrens Auch die Anforderungen an das einfachgesetzlich niedergelegte Verfahren zum Finanzausgleich betreffen die Zahlengenerierung. Das Rechenverfahren zum horizontalen Finanzausgleich im FAG dient (auch) der Ermittlung der Höhe der Finanzausgleichsleistungen, die in Geld geleistet werden und damit in Zahlen darstellbar sind. Nach BVerfGE 101, 158 wird das Verfahren im FAG durch ein MaßstG geleitet. Das Gericht formuliert formelle Anforderungen an das übergeordnete und Siedlungsdichte unter heutigen Bedingungen noch zu einem erhöhten Bedarf führen und ob statt dessen oder zusätzlich andere Strukturmerkmale als Bedarfsindikatoren zu berücksichtigen sind. […] Zwar begründen die bestehenden ernsthaften Zweifel an der Tragfähigkeit der zugrunde gelegten Bedarfskriterien in § 9 Abs. 3 FAG noch nicht die Verfassungswidrigkeit der Regelung, zumal in der Finanz- und Kommunalwissenschaft derzeit keine gesicherten Erkenntnisse darüber zur Verfügung stehen, welche Bedarfskriterien denn als empirisch aufweisbar und verläßlich an die Stelle der bisherigen hätten treten sollen. Nachdem der Gesetzgeber sich aber in § 9 Abs. 3 FAG, wie es Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG nahelegt, für die Anwendung differenzierter Indikatoren der Bedarfsberücksichtigung entschieden hat, ist er nunmehr gehalten, eine umfassende Prüfung vorzunehmen.“ BVerfGE 86, 148 (233, 236). Dem ist er bis zur Entscheidung im 101. Band nicht nachgekommen. In einer BVerfGE 86, 148 zeitlich nachfolgenden Fassung des FAG (Beschluss 1993, Geltung seit 1995 für Gesamtdeutschland) hält der einfache Gesetzgeber ungeprüft an der bisherigen Bedarfswertung fest. Nunmehr findet sich in § 9 Abs. 3 FAG (gültig ab 1.1.2005) ein verändertes System der Einwohnergewichtung für die kommunale Ebene. Eine Veredelung der Einwohnerzahlen ist landesabhängig, betroffen sind neben Berlin, Bremen und Hamburg Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. 218 BVerfGE 116, 327 (382, Zitat ebd.). Siehe bereits BVerfGE 101, 158 (224 f.). Demgegenüber wird in BVerfGE 86, 148 (241) eine Begründungspflicht hinsichtlich der Einhaltung besonderer Verfahrensvorgaben bei der Generierung einzelner Faktoren des horizontalen Finanzausgleichs im FAG mit Blick auf die Einwohnerwertung der Stadtstaaten ausdrücklich verneint. 219 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn.  543, hier auch zur vorherigen Ablehnung von Begründungspflichten bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Finanzausgleichs durch das Bundesverfassungsgericht.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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MaßstG.220 Es müssten einheitliche Maßstäbe den horizontalen Finanzausgleich leiten. Ein Maßstabwechsel sei insbesondere im Falle einer Ergebniskorrektur rechtfertigungsbedürftig.221 Das Bundesverfassungsgericht verlangt vom Gesetzgeber die „Durchschaubarkeit und Ausgewogenheit“222, „Verständlichkeit“223 sowie die Nachvollziehbarkeit und Widerspruchsfreiheit224 der Regelungen.225 6. Verfassungsgerichtliche Quantifizierung im Finanzausgleichsrecht? Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts finden sich in den Entscheidungen zum Finanzausgleich jeweils nur im „Subsumtionsteil“.226 Es handelt sich hierbei nicht in allen Fällen um verfassungsgerichtliche Quantifizierungen. a) Tatsachenbeschreibung in Zahlen Die Quantifizierung als Sonderfall der Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe muss von der Bezifferung entscheidungserheblicher Tatsachen abgegrenzt werden. Soweit es bloß um tatsächliche Erhebungen geht und Daten gesammelt werden, werden nicht die Entscheidungsmaßstäbe (der Bewertungsmaßstab) konkretisiert, sondern der Sachverhalt (der Bewertungsgegenstand) aufbereitet. Die finanzwirtschaftlichen Daten im „Subsumtionsteil“227 der Finanzausgleichsentscheidungen sind zunächst nur Bezifferungen. Sie dienen der Beschreibung von entscheidungsrelevanten Aspekten der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen, bilden also Tatsachen ab. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Voraussetzungen, Anordnungen und Folgewirkungen des Finanzausgleichsgesetzes. Es wird nicht gestaltend tätig, nimmt aber in vielen Fällen eigene Berechnungen vor. Das Bundesverfassungsgericht nennt das Volumen von einigen Ländereinnahmen.228 Es stellt Berechnungen zum Ausmaß der einfachgesetzlich 220

BVerfGE 101, 158 (226 ff.). Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „Ausgleichskonzeption […], die anhand einheitlicher Maßstäbe die Angemessenheit des Ausgleichs grundsätzlich systemimmanent sichert. Wechsel der Maßstäbe bedürf[t]en eines besonderen Grundes und dürf[t]en nicht Ergebnisse hervorrufen, die zu den selbstgesetzten Maßstäben und Ausgleichsschritten in Widerspruch stehen.“ BVerfGE 101, 158 (231). Zum Spielraum für eine Ergebniskorrektur siehe auch BVerfGE 86, 148 (250 ff.). 222 BVerfGE 101, 158 (227). 223 BVerfGE 101, 158 (231). 224 BVerfGE 101, 158 (233, siehe auch S. 235). 225 Die Anforderungen werden zum Teil explizit auch auf die Generierung der Berechnungsfaktoren bezogen. In BVerfGE 101, 158 beanstandet das Bundesverfassungsgericht die fehlende Nachvollziehbarkeit der Bemessung von Bundesergänzungszuweisungen wegen hoher Kosten politischer Führung (S. 235). 226 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 227 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 228 Siehe auch die Ausführungen soeben unter A. I. 5. a) aa). 221

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

angeordneten horizontalen Finanzkraftangleichung unter Zuhilfenahme verschiedener Bezugsgrößen an.229 Es ermittelt das Gesamtvolumen des horizontalen Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen in absoluten Beträgen.230 Es bildet außerdem die tatsächlichen Umstände, an die das FAG anknüpft, im Wege finanzwissenschaftlicher Berechnungen in Zahlen ab. Im Zusammenhang der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen wegen einer Haushaltsnotlage ermittelt es finanzwirtschaftliche Kennzahlen hinsichtlich der Haushaltslage der Bundesländer und die Höhe zur Haushaltssanierung notwendiger Mittel. b) Subsumtion von Zahlen aa) Als mittelbare Quantifizierung Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch den Finanzausgleichsgesetzgeber. Wenn es einfachgesetzliche Zahlenbestimmungen231 für verfassungsgemäß bzw. -widrig erklärt oder die tatsächlichen, in Zahlen bestimmbaren Anknüpfungspunkte232 bzw. die numerischen Folgewirkungen233 des einfachgesetzlichen Prüfungsgegenstands bei der Subsumtion zum Ausgangspunkt des Verdikts der Verfassungswidrigkeit bzw. -mäßigkeit nimmt, könnten verfassungsgerichtliche Quantifizierungen vorliegen. Die Daten ließen dann ihren rein tatsächlichen Charakter hinter sich und konkretisierten die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Der Annahme bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen stünde jedenfalls nicht entgegen, dass das Gericht die Zahlen zur (positiven oder negativen) numerischen Konkretisierung des Verfassungsinhalts nicht selbst festlegt, sondern auf einfachgesetzlich vorliegende bzw. tatsächliche Zusammenhänge abbildende Zahlen abstellt. Es könnte sich um heteronome Quantifizierungen handeln. 229 Das Bundesverfassungsgericht ermittelt außerdem den Anteil der Ausgleichsleistungen der Geberländer an ihren Gesamtausgaben. BVerfGE 1, 117 (131 f.). Siehe auch die Darstellung der Verfassungsrechtsprechung zum angemessenen Ausgleich der Länderfinanzkraft (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) unter A. I. 5. a) aa) in diesem Kapitel. 230 BVerfGE 101, 158 (233). 231 Bsp.: Überprüfung der hälftigen Einbeziehung bestimmter kommunaler Einnahmen in die Finanzkraft der Länder, hierzu unter A. I. 5. a) aa) in diesem Kapitel. 232 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet (u. a.) anhand des Volumens einer Ländereinnahme, ob diese ausgleichsrelevant ist und ihre Einbeziehung in die Bemessung der Finanzkraft nach Art.  107 Abs.  1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gefordert bzw. gerechtfertigt ist. Anhand der finanzwissenschaftlichen Kennzahlen und der Höhe der zur Haushaltssanierung notwendigen Mittel entscheidet das Gericht über das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage, die eine Leistungsschwäche i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG als Voraussetzung der Gewährung von (Sonderbedarfs-)Bundesergänzungszuweisungen begründet. 233 Das Ausmaß der einfachgesetzlich angeordneten horizontalen Finanzkraftangleichung bestimmt über die Angemessenheit des Ausgleichs i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG. Anhand des Gesamtvolumens von Bundesergänzungszuweisungen und der Leistungen im horizontalem Finanzausgleich bestimmt das Bundesverfassungsgericht, ob die Bundesergänzungszuweisungen sich noch in den Grenzen einer „ergänzenden Deckung“ (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG) halten.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Das Vorliegen verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen erscheint aus einem anderen Grund problematisch. Das Bundesverfassungsgericht formuliert keine numerischen Vorgaben für den Gesetzgeber, sondern trifft numerische Aussagen nur in Bezug auf den konkreten Fall. Dies wird insbesondere bei der Beurteilung des Vorliegens von Haushaltsnotlagen in den Ländern deutlich und in BVerfGE 116, 327 auch offen reflektiert.234 Quantifizierungen des Art. 107 Abs. 2 GG kommen nur im Wege der Subsumtion der vorgenannten Zahlen in Betracht. Dazu müsste die Subsumtion aber überhaupt an der Quantifizierung teilhaben. Die Anwendung der Entscheidungsmaßstäbe auf einen konkreten Fall müsste die Konkretisierung der Entscheidungsmaßstäbe bedeuten. Denn Quantifizierung bedeutet die Konkretisierung von Verfassungsrecht in Zahlen, die numerische Präzisierung der Entscheidungsmaßstäbe.235 Anne Röthel definiert Quantifizierungen als „materielle[n] Bewertungsgrenzen […] in Form von Zahlenwerten“.236 Über das Verhältnis der Subsumtion zur Interpretation (bzw. Konkretisierung und Quantifizierung) gibt das Verfahren der rechtlichen Entscheidungsfindung Aufschluss. Es handelt sich dabei um einen wechselseitigen Prozess, in dem die Entscheidungsmaßstäbe (im Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt) und der Sachverhalt (im Hinblick auf die beurteilenden Entscheidungsmaßstäbe)  ermittelt, konkretisiert und dadurch einander angenähert werden. Am Schluss des Auswahl- und Konkretisierungsprozesses, dem „hermeneutischen Umkehrpunkt“, erfolgt mit der Subsumtion eine Kongruenzprüfung zwischen Sachverhalt und Entscheidungsmaßstäben.237 Es wird also eine Aussage darüber getroffen, ob der Prüfungsgegenstand vom Entscheidungsmaßstab erfasst ist und der Entscheidungsmaßstab (positiv bzw. negativ) inhaltlich bestimmt.238 Im gestuften Prozess der Verfassungsanwendung lässt der letzte Schritt, die Subsumtion, damit den Rückschluss auf den Ausgangspunkt, den Inhalt der Entscheidungsmaßstäbe, zu. Der Konkretisierungsprozess verläuft zweigeteilt: offen bzw. unmittelbar, solange Entscheidungsmaßstäbe formuliert werden und mittelbar, wenn die Entscheidungsmaßstäbe angewendet werden. Die Subsumtion ist Schlusspunkt der Konkretisie 234

Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils. Siehe die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 236 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 170. Röthel legt in ihrer Untersuchung den Fokus auf die Entwicklung von Entscheidungsmaßstäben (siehe nur S. 169), nimmt die Entscheidung des konkreten Falls vom Konkretisierungsprozess aber nicht aus (siehe etwa S. 173). 237 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, 1977, S.  198 f. (Zitat S. 198); Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S.  142 f. Siehe auch Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, AöR 82 (1957), S. 163 (188 ff.). 238 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, AöR 82 (1957), S. 163 (185 f., 190 ff.). Nach Jesch kann letztlich dahingestellt bleiben, „ob man die endgültige Interpretation oder die Subsumtion […] als Konkretisierung des [Entscheidungsmaßstabs] […] bezeichnet […]“, denn die gesetzlichen Anforderungen würden vor der Subsumtion so weit an den Sachverhalt herangeführt, dass eine Kongruenzprüfung überhaupt erst stattfinden könne (ebd., S. 192). 235

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

rung.239 In den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zum Finanzausgleich gewähren die numerischen Aussagen bei der Subsumtion Einblick in den numerischen Bedeutungsgehalt der normativen Entscheidungsmaßstäbe. Erst bei der Subsumtion erfolgt der Konkretisierungsschritt zur Zahl.240 Die unbestimmten Verfassungsvorgaben werden mittelbar quantifiziert. Soweit das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit einer einfachgesetzlichen Regelung anhand deren tatsächlichen Anknüpfungspunkte bzw. Folgewirkungen entscheidet, lassen diese mit der Subsumtion ihren Charakter als reine Tatsachenbeschreibungen hinter sich und gewinnen normativen Bedeutungsgehalt. Eine mittelbare Quantifizierung liegt auch dann vor, wenn das Bundesverfassungsgericht Zahlen im Wege der verfassungskonformen Auslegung der einfachgesetzlichen Finanzausgleichsbestimmungen gewinnt.241 Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert die Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs.  2 GG, indem es nur punktuelle Aussagen über deren numerischen Gehalt trifft. Es setzt zugleich voraus, dass der Verfassungsinhalt nicht präzise in Zahlen angegeben werden kann. Es existieren Bandbreiten verfassungsgemäßer Quantifizierungen, deren Grenzverlauf zudem offen bleibt.242 Auch aus einer Gesamtschau der numerischen Aussagen in den Entscheidungen zum Finanzausgleich ergeben sich keine präzisen, entscheidungsübergreifend geltenden Bandbreiten, die das Gericht voraussetzt. Es lässt sich den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen weder eine präzise numerische Untergrenze für die Ausgleichsrelevanz der Län 239 Allgemeiner gilt, dass die Subsumtion Teil des Auslegungsprozesses ist. Die Auslegung der Entscheidungsmaßstäbe und die Subsumtion bilden den Prozess der Rechtsanwendung. Dies ist auch für die Konkretisierung relevant, denn die Konkretisierung ist ein Sonderfall der Verfassungsauslegung (siehe die Begriffsbestimmung der Quantifizierung unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils). Hierzu Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 126: „Klargestellt sei, daß auch die Subsumtion als logisches Schlußverfahren ihren Platz in der Rechtsanwendung hat und als Anwendung des aufbereiteten Sachverhalts auf die Fallnorm notwendiger Bestandteil jeder Rechts- und Verfassungsanwendung ist.“ 240 Die methodische Problematik der Quantifizierung liegt darin begründet, dass mit der Konkretisierung zur Zahl die semantischen Bedeutungsspielräume der Entscheidungsmaßstäbe weitgehend reduziert werden. Die Quantifizierung kann sowohl bei der Aufstellung der „Fallnorm“, der Konkretisierung auf der Ebene der Entscheidungsmaßstäbe, als auch bei der Subsumtion erfolgen. Wo verfassungsrechtlich die Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung liegen, hängt also davon ab, wie weit die Entscheidungsmaßstäbe vor der Anwendung auf den Sachverhalt konkretisiert werden. Der Behauptung Franz Reimers, „verfassungsrechtlich [lägen] […] die Schwierigkeiten in der Aufstellung der Fallnorm […], […] dem Subsumtionsvorgang [müsse daher ] […] keine Aufmerksamkeit geschenkt“ werden, kann in Bezug auf die verfassungsgerichtliche Quantifizierung nicht gefolgt werden. Ders., Verfassungsprinzipien, 2001, S. 126. 241 Siehe BVerfGE 72, 330 (417) und die Analyse der Verfassungsrechtsprechung zur Angemessenheit des horizontalen Finanzkraftausgleichs unter A. I. 5. a) aa) in diesem Kapitel. 242 Stefan Korioth verweist darauf, dass „Versuche zahlenmäßiger Umschreibungen [der­ verfassungsgemäßen, horizontalen Zuweisungen an finanzschwache Länder] […] immer Spielräume des Gesetzgebers belassen“ haben. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 624 m. w. N.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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dereinnahmen243 noch eine ebensolche Obergrenze für die Angleichung der Länderfinanzkraft entnehmen. Genauso wenig lässt sich anhand der vorgestellten Entscheidungen die Angemessenheit des horizontalen Finanzausgleichs punktgenau bestimmen. bb) Vorbringen der Antragsteller für eine unmittelbare bzw. gegen jede Quantifizierung Der Rückzug auf mittelbare Quantifizierungen bedeutet im Umkehrschluss, dass das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar numerischen Vorgaben für den Finanzausgleichsgesetzgeber für die Umsetzung des horizontalen Finanzausgleichs und die Verpflichtung bzw. Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen aus der Verfassung ableitet. In den Auseinandersetzungen der Antragsteller in BVerfGE 101, 158 wird die Typik der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in Frage gestellt. Grundsätzlicher geht es darum, ob die Verfassungsvorgaben überhaupt Ansatzpunkt zur Quantifizierung durch das Bundesverfassungsgericht sein können. In den der Entscheidung vorausgehenden Normenkontrollanträgen argumentieren die „Zahlerländer“ Baden-Württemberg, Bayern und Hessen nicht nur für eine Beschränkung der zulässigen Finanzkraftabschöpfung der finanzstarken Länder, sondern auch gegen deren mittelbare Quantifizierung. Das Bundesverfassungsgericht müsse dem Finanzausgleichsgesetzgeber eine numerische Obergrenze auferlegen. Ein Halbteilungsgrundsatz244 gelte nicht nur im Steuerverfassungsrecht, sondern auch im Zusammenhang des horizontalen Länderfinanzausgleichs. Er quantifiziere die „richtige Mitte“245 zwischen Einstandspflicht und Autonomie der Länder, als die das Bundesverfassungsgericht die Angemessenheit des Ausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG kennzeichnet.246 Bremen, Niedersachsen 243 Siehe Stefan Korioth zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Ausgleichsrelevanz der Ländereinnahmen: „Zahlenmäßig beziffern läßt sich das bedeutsame Volumen kaum; als Annäherungswert kann jedoch angenommen werden, daß eine Abgabe, die bei der Ländergesamtheit Einnahmen von über 1 Mrd. DM pro Jahr erbringt, die Schwelle der Ausgleichsrelevanz überschritten hat.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 553 f. (Kursivsetzung durch Verf.). 244 Hierzu sogleich unter A. II. 1.  245 BVerfGE 72, 330 (398). 246 „Die Grenze des angemessenen Ausgleichs sei nach dem Grundsatz der ‚hälftigen Teilung‘ zu bestimmen. Wie dem Staatsbürger die Hälfte seines nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Ertrages zu verbleiben habe, so müsse auch die Abgabenpflicht aus dem Eigenen eines Geberlandes auf die Hälfte seiner überdurchschnittlichen Finanzkraft beschränkt bleiben. Auch wenn eine unmittelbare Übertragung der Rechtsprechung zum Steuerrecht auf den Länderfinanzausgleich nicht in Betracht komme, könne sich immerhin im Finanzausgleich für die finanzstarken Länder eine dem Steuerzahler vergleichbare ‚Gefahrenlage‘ ergeben. Da die finanzschwachen Länder in den von ihnen beherrschten Gesetzgebungsverfahren ‚übermächtig‘ seien, könnten deren Vertreter im Bundesrat und Bundestag der Versuchung unterliegen, Eigen­interessen den Vorzug vor einer angemessenen Abwägung zu geben. Insofern seien die finanzstarken Länder

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

und Schleswig-Holstein tragen hingegen vor, die Angemessenheit im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG lasse sich nicht mit einem Halbteilungsgrundsatz abbilden und mehr noch überhaupt nicht numerisch bestimmen. Die Verfassung sperre sich somit auch gegenüber einer mittelbaren Quantifizierung. Jede Finanzkraftabschöpfung sei verfassungsgemäß, solange sie den Abstand zur durchschnittlichen Finanzkraft nicht aufhebe.247 c) Vorgaben für die einfachgesetzliche Generierung von Zahlen Von den mittelbaren verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen müssen die Fälle abgegrenzt werden, in denen das Bundesverfassungsgericht methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung durch den Finanzausgleichsgesetzgeber formuliert. Sie verfügen nur über (abgestufte)  numerische Relevanz. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass sich die Vorgaben des Gerichts auf die numerischen Grundlagen der Zahlengenerierung beziehen (Bsp.: Zahlengenerierung anhand von Indikatoren). Das Gericht weicht einer eigenen numerischen Bestimmung aus und formuliert Rahmenbedingungen für die einfachgesetzliche Quantifizierung.

II. Absolute Steuerbelastungsgrenzen Art. 3 Abs. 1 GG normiert mit dem Gleichbehandlungsgebot ein formales Prinzip. Das Bundesverfassungsgericht verdichtet es im Steuerrecht zum inhaltlichen Gebot der Steuergerechtigkeit. Sie ist in horizontaler und vertikaler Richtung zu gewährleisten: Gleich hohe Einkommen sind gleich hoch, unterschiedlich hohe Einkommen unterschiedlich hoch zu besteuern. Steuergerechtigkeit fordert ein in vergleichbarer Weise ‚schutzbedürftig‘ wie der Steuerzahler. Bei der Auslegung von Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG stünden sich zwei gegenläufige Verfassungsprinzipien gegenüber: die Autonomie der Länder auch auf finanziellem Gebiet und ihre Verpflichtung, bundesstaatlich füreinander einzustehen. Allerdings seien diese beiden Prinzipien in ihrer Formulierung unbestimmt. Das Bundesverfassungsgericht müsse dies in Zahlenwerten konkretisieren, also quantifizieren. Diese Quantifizierung des durch Auslegung ermittelten Bereiches müsse plausibel sein; dabei sei in der Regel der einfachere Zahlenwert der plausiblere. Für jede andere vorzuschlagende Quantifizierung müsse dargetan werden, dass sie für sich eine größere Plausibilität beanspruchen könne. Dies sei kein deduktives, aber ein rationales Verfahren, das den Länderfinanzausgleich auf eine hälftige Teilung der Finanzkraftüberschüsse begrenze.“ BVerfGE 101, 158 (199 f.). 247 „Die Antragsteller […] machen geltend, daß sich der aus Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG abgeleitete Grundsatz der hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand nicht auf den Länderfinanzausgleich übertragen lasse. Eine solche Grenze könne auch nicht aus der ‚richtigen Mitte‘ im Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und bündischem Einstehen füreinander abgeleitet werden, weil sich hieraus keine quantifizierbaren Folgerungen ergäben. Die ‚richtige Mitte‘ sei keine ‚rechnerische Mitte‘. Vielmehr bestimme der Finanzausgleichsgesetzgeber, welche Mitte die ‚richtige‘ sei. […] Solange der horizontale Finanzausgleich nicht die gesamte, 100 v. H. der Ausgleichsmeßzahl übersteigende, Finanzkraft für die Ausgleichszuweisungen heranziehe, sei die Abschöpfung zulässig.“ BVerfGE 101, 158 (209 f.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Gleichmaß in der Besteuerung.248 Das Bundesverfassungsgericht beantwortet auch die Frage des rechten Maßes, wenn es die Steuergerechtigkeit zum Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit konkretisiert. Steuergerechtigkeit ist in vertikaler Richtung nicht nur als Gleichmaßgebot, sondern auch als Übermaßverbot zu verstehen.249 Das Leistungsfähigkeitsprinzip bleibt konkretisierungsbedürftig250 und wird als Übermaßverbot in entgegengesetzten Blickrichtungen relevant. Es wirft die Frage nach der steuerlichen Höchstbelastung und nach der Mindestverschonung des potentiell steuerpflichtigen Einkommens als den absoluten Grenzen individueller Besteuerung auf. Bei der Aufstellung absoluter Steuerbelastungsgrenzen kommt es neben der gleichheits- auf die freiheitsrechtliche verfassungsrechtliche Verankerung des Leistungsfähigkeitsprinzips an. Als Prüfungsmaßstab sind (zusätzlich) Freiheitsrechte heranzuziehen, denn Art. 3 Abs.  1 GG öffnet sich als Gleichheitsrecht nur einer relationalen Mäßigung der Steuergewalt im Verhältnis der Steuerpflichtigen untereinander. Die Bildung absoluter Grenzen individueller Besteuerung stellt dort eine Strukturwidrigkeit dar.251 Die Unter- bzw. Mindestverschonungsgrenze der Besteuerung folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art.  1 Abs.  1 i. V. m. dem 248 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 527. 249 Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 104, 109, 116: „Steuergerechtigkeit wird üblicherweise als Verteilungsgerechtigkeit und damit als Gleichheitsproblem verstanden. Dabei wird jedoch übersehen, daß auch die Höhe der Belastung als vertikale Dimension der Steuergerechtigkeit im weiteren Sinne relevant ist.“; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 517, zu den weiteren verfassungsrechtlichen „Wurzeln“ des Leistungsfähigkeitsprinzips Rn. 519 ff.; Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 6 ff., 13.  250 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 523. 251 Rainer Wernsmann, BVerfGE 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 447 (447 f.). Das Bundesverfassungsgericht stellt in BVerfGE 115, 97 (116 f., Zitate ebd.) dem Gebot der „Lastengleichheit […] in vertikaler Richtung“ bzw. der „vertikale[n] Steuergerechtigkeit (Art. 3 Abs. 1 GG)“, wonach eine angemessene relationale Besteuerung zu gewährleisten sei, das „Verbot übermäßiger Steuerbelastung (Art. 14 GG)“ gegenüber. Dieser Trennung gleichheits- und freiheitsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe sowie korrespondierend der Ableitung relationaler (Art. 3 Abs. 1 GG) und absoluter Besteuerungsgrenzen (Art. 14 GG) wird es indes selbst nicht gerecht, wenn es ein steuerlich zu verschonenden Existenzminimum im Rahmen der Gleichheitsprüfung nach Art. 3 Abs.  1 GG bestimmt. Zum Zusammenwirken gleichheits- und freiheitsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe bei der Prüfung einer leistungsgerechten Besteuerung Dieter Birk/Marc Desens/Henning Tappe, Steuerrecht, 16. Aufl. 2013, § 2 Rn. 188, 195–199; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 496, 530.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG).252 Der Zweite Senat zieht in BVerfGE 87, 153 Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heran.253 Der Steuerpflichtige muss mindestens in Höhe des Existenzminimums vom Steuerzugriff verschont bleiben. In der Entscheidung zum Schutz des Familienexistenzminimums wird der gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab (Art.  3 Abs.  1, 6 Abs.  1 GG) freiheitsrechtlich erweitert.254 Der Leistungsfähigkeitsvergleich unter den Steuerpflichtigen ergibt nur, dass Unterhaltspflichten überhaupt bei der Besteuerung berücksichtigt werden müssen, nicht in welcher Höhe dies mindestens der Fall sein muss. Geht es um die Ober- bzw. Höchstbelastungsgrenze und die Verfassungsmäßigkeit der Steuerbelastungshöhe jenseits des Existenzminimums, stellt das Bundesverfassungsgericht eine freiheitsrechtliche Prüfung am Maßstab des Art. 14, 12 bzw. 2 Abs. 1 GG an.255 Der Charakter der Steuer- als Geldschuld256 verlangt für die Ober- und Untergrenze der Besteuerung nach Antworten in Zahlen. Auf Verfassungsebene fehlen ausdrückliche (numerische)  Besteuerungsgrenzen257 und damit auch eindeutige 252

BVerfGE 82, 60 (85). Siehe auch Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 530; Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 113. 253 „Steuergesetze sind in ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung jedenfalls an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Dabei ist indes zu berücksichtigen, daß Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifen.“ BVerfGE 87, 153 (169). 254 BVerfGE 82, 60 (85 ff.); Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 511. 255 BVerfGE 115, 97 (110 ff.). Eine eigenständige freiheitsrechtliche Prüfung wird auch im Vermögensteuerbeschluss (BVerfGE 93, 121) durchgeführt. Demnach sollen die freiheitsrechtlichen Schranken der Vermögensbesteuerung zwar über die Sachgerechtigkeit einer Differenzierung i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG Aufschluss geben (S. 133 f.) und das Bundesverfassungsgericht erklärt die Grenzen, die es aus Art. 14 GG für die Vermögensbesteuerung ableitet, zu den tragenden Gründen des im Tenor festgestellten Gleichheitsverstoßes (S. 136), die verfassungsgerichtliche Prüfung des Gleichheitsverstoßes erfolgt dann aber unabhängig von den Ausführungen zu Art. 14 GG (und vice versa). Siehe auch Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (180); J­ oachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (458). Zu Art. 12 GG als Verfassungsmaßstab für die Steuerbelastung Paul Kirchhof, Die Steuern, in: J­osef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 145 ff. (insb. Rn. 147 a. E.); Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 556 ff. (insb. Rn. 563). 256 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 525. 257 Anders teilweise in der Schweiz, hierzu Christian Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland – Schweiz, 1997, S. 196 ff.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Anknüpfungspunkte für die Quantifizierung. Dies gilt auch über die vom Bundesverfassungsgericht unmittelbar in Bezug genommenen Vorschriften hinaus. Art.  106 Abs.  3 Satz 4 Nr.  2 Alt.  2 GG normiert zwar die Begrenzung der Steuer­belastung als „verfassungsgerechte[n] Grundsatz“,258 die Existenz absoluter Steuerbelastungsgrenzen klingt in der allgemeinen Formulierung jedoch nur an („Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden“). Das Prinzip der Steuerstaatlichkeit verlangt in finanzieller Hinsicht nach einem ausgeglichenes Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft. Der konkrete Verlauf der Steuerbelastungsgrenzen bleibt aber auch hiernach unbestimmt.259 1. Begrenzung der steuerlichen Höchstbelastung: Halbteilungsgrundsatz260 Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts ist die meist beachtete und zugleich umstrittenste Quantifizierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Aus der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie wird eine numerische Höchstgrenze für die Besteuerung abgeleitet. a) Aufstellung eines Halbteilungsgrundsatzes für die Vermögensbesteuerung am 22. Juni 1995 In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 (BVerf­ GE 93, 121) steht die Vereinbarkeit von § 10 Nr. 1 Vermögensteuergesetz (VStG) mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Frage. Die Vorschrift legt für das 258

Im Zusammenhang der Begründung einer Höchstbelastungsgrenze (jenseits einer erdrosselnden Steuerbelastung) BVerfGE 115, 97 (115 f., Zitat ebd.). Allgemein Klaus Vogel/­Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 582 f. 259 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 584. Hinsichtlich der Steuerbelastungshöhe besteht nicht nur ein verfassungsrechtliches Über-, sondern auch ein Untermaßverbot. Aus Art. 105, 106 GG folgt, dass der Gesetzgeber den ertragsberechtigten Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden ein gewisses Steueraufkommen sichern muss. Numerische Vorgaben ergeben sich hieraus (auch näherungsweise) nicht. Im Sinne eines Untermaßverbots kann auch das Prinzip der Steuerstaatlichkeit gedeutet werden (hierzu bereits im Text). Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 581, 584. 260 Der Begriff „Halbteilungsgrundsatz“ wird nicht nur im Steuerrecht, sondern in der (Verfassungs-)Rechtsprechung und Literatur in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Es ist daher vorliegend vom steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz die Rede, sofern sich sein Bezugspunkt nicht aus dem Kontext ergibt. In der Entscheidung, die den steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz begründet (BVerfGE 93, 121), taucht der Begriff gar nicht auf. Er wird durch das Bundesverfassungsgericht – soweit ersichtlich – zum ersten Mal in BVerfGE 19, 268 (Kirchensteuererhebung bei interkonfessionellen Ehen) verwendet, ebd. etwa S. 274.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

steuerpflichtige Vermögen einen einheitlichen Steuersatz fest, wobei die Höhe des Gesamtvermögens als Bemessungsgrundlage nach dem Bewertungsgesetz (BewG) bestimmt wird (§ 4 VStG). Das BewG zieht zur Bewertung der verschiedenen wirtschaftlichen Einheiten des Gesamtvermögens unterschiedliche Maßstäbe heran. Zum Teil gelten „Einheitswerte“; grundsätzlich ist der „gemeine Wert“ entscheidend (Veräußerungspreis). Während der „gemeine Wert“261 nach einem aktuellen Bewertungsmaßstab bemessen wird, gelten bei der Einheitswertbestimmung für Grundbesitz noch die Wertverhältnisse des Jahres 1964/1974.262 Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert zunächst den Gleichheitssatz als Prüfungsmaßstab für das Steuerrecht. Der Gesetzgeber verfüge über einen „weitreichenden Entscheidungsspielraum“ bei der „Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes“.263 Die Belastungsentscheidung müsse er dennoch immer so umsetzen, dass die Belastungsgleichheit gewahrt sei und nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werde. Im Falle eines einheitlichen Steuersatzes für das gesamte steuerpflichtige Vermögen müsse die gleichheitsgerechte Steuerbelastung bei der Bemessung der einzelnen Vermögensbestandteile gewährleistet werden.264 Wenn § 10 Nr.  1 VStG das zu Gegenwartswerten erfasste Vermögen mit demselben Steuersatz wie den Grundbesitz belastet, obwohl dessen Bewertung seit Jahrzehnten nicht mehr der Wertentwicklung angepasst worden ist, liege ein Verstoß gegen das Gebot leistungsgerechter Besteuerung vor.265 Das Bundesverfassungsgericht lotet dann die weiteren verfassungsrechtlichen Schranken der Besteuerung des Vermögens aus.266 Aus Art. 14 GG267 leite sich ein zweistufiger Schutz ab, deren Intensität sich nach der des Steuerzugriffs richte. 261

Zitate BVerfGE 93, 121 (123). Die für Grundbesitz geltenden Einheitswerte werden 1964 ermittelt und 1974, als sie zum ersten Mal angewandt werden (Art. 1 des Bewertungsänderungsgesetzes 1971), um 40 % erhöht (§ 121a BewG i. d. F. des Vermögenssteuerreformgesetzes 1974). Seitdem sind sie unverändert. BVerfGE 93, 121 (122–128, 144 f.). 263 Zitat BVerfGE 93, 121 (136). 264 BVerfGE 93, 121 (135 f.). 265 So auch BVerfGE 93, 121 (142 ff.). 266 BVerfGE 93, 121 (135 ff.). Das Bundesverfassungsgericht begründet sein Vorgehen damit, dass es durch die Ausführungen des vorlegenden Gerichts bei der Bestimmung des Prüfungsmaßstabs nicht gebunden sei. Anhand der verfassungsrechtlichen Schranken für die Vermögensteuer solle geprüft werden, ob für eine Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund besteht. ErnstWolfgang Böckenförde kritisiert im Sondervotum, dass die Ausführungen zu „Grund, Ausmaß, Bemessungsgrundlagen und rechtlicher Eigenart der Vermögensbesteuerung“ weder zur Beantwortung der Vorlagefrage nach einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG angestellt werden müssten noch aus der Verfassung abgeleitet werden könnten. BVerfGE 93, 121 (149 ff., Zitat S. 150). 267 Ob Art.  14 GG überhaupt bei der Auferlegung öffentlicher Abgaben als Prüfungsmaßstab unmittelbar einschlägig ist, hängt vom verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff ab. Der Zweite Senat bricht in BVerfGE 93, 121 mit dem objektbezogenen Eigentumsbegriff (siehe auch Fn.  1645 im dritten Teil). Die Vermögensteuer greife „in die in der Verfügungsgewalt und Nutzungsbefugnis über ein Vermögen angelegte allgemeine Handlungsfreiheit (Art.  2 Abs. 1 GG) gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich ein (Art. 14 GG).“ BVerfGE 93, 121 (137). Das Eigentum i. S. v. Art. 14 GG ist also 262

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Während der Vermögensstamm absolut geschützt sei,268 unterliege der Vermögensertrag einem relativen Schutz.269 Das Bundesverfassungsgericht übersetzt die Spannung zwischen Privatnützigkeit und Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG)270 in einen Halbteilungsgrundsatz und damit eine Zahlengrenze für die steuerliche Höchstbelastung: „Die Vermögensteuer darf […] zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrags bei typisierender Betrachtung von ­Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt […]“.271 ökonomischer „Handlungsspielraum“. Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 118 (Zitat ebd.). Eingehend zur verfassungsgerichtlichen Formulierung des Prüfungsmaßstabs im Vermögensteuerbeschluss Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S.  48, 51. Ernst-Wolfgang Böckenförde spricht im Sondervotum zu BVerfGE 93, 121 auch angesichts der Abstufung der Schutzintensität (hierzu sogleich im Text) von einem „prinzipiell neuen Konzept[…]“ des Eigentumsschutzes gegenüber der Besteuerung. Ebd., S. 154. Der Paradigmenwechsel im Eigentumsbegriff kündigt sich bereits in BVerfGE 87, 153 (159) an. Die Steuerfreiheit des Existenzminimums wird dort aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG abgeleitet. Ob der Steuerzugriff jenseits der Erdrosselung den Schutzbereich des Art. 14 GG berührt, bleibt nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts noch unklar. Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 44; Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß  – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (176); Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 538, zum Verhältnis der Art. 14 Abs. 1, 2 und Art. 2 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstäbe für die Besteuerung in der Verfassungsrechtsprechung Rn. 569 ff. 268 Der Steuerpflichtige müsse die Vermögenssteuer sowie seine gesamte Steuerlast aus den Erträgen entrichten können. Das Vermögen sei vor dem Zugriff durch die Vermögensteuer bereits vielfältig steuerlich belastet. Ein Zugriff auf die Vermögenssubstanz missachte, dass nach Art. 14 GG „die Privatnützigkeit des Erworbenen und die Verfügungsbefugnis über geschaffene vermögenswerte Rechtspositionen jedenfalls im Kern erhalten bleiben“ müsse. BVerfGE 93, 121 (135). Es trete eine „schrittweise[…] Konfiskation“ des Vermögens ein. Ebd., S. 135 ff., Zitat S. 137. Einem „besonderen Schutz“ unterliegt nach der Verfassungsrechtsprechung außerdem die „wirtschaftliche Grundlage persönlicher Lebensführung“. Ebd., S. 140 f. 269 BVerfGE 93, 121 (138). 270 „Nach Art. 14 II GG dient der Eigentumsgebrauch zugleich dem privaten Nutzen und dem Wohl der Allgemeinheit. Deshalb ist der Vermögensertrag einerseits für die steuerliche Gemeinlast zugänglich, andererseits muss dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben.“ BVerfGE 93, 121 (138). Das Spannungsverhältnis zwischen Sozialpflichtigkeit und Privatnützigkeit des Eigentums verweist nach Rainer Wernsmann auf den Widerstreit zwischen „Budget­recht des Parlaments und freiheitsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenzen“. Hinter der Sozialpflichtigkeit des Eigentums stehe eine Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers, der über die Ausgabenhöhe und damit über die Höhe des Refinanzierungsbedarfs, der neben Krediten im Wesentlichen durch Steuern getragen wird, bestimmt. Ders., BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (776 f., Zitat ebd.). 271 BVerfGE 93, 121 (138, Kursivsetzung durch Verf.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die Grenze der eigentumsgerechten Ertragsbelastung wird damit vom Verbot des erdrosselnden Zugriffs zu einer von der konkreten Lage des Steuerpflichtigen abstrahierenden, numerischen Grenze der hälftigen Teilung verschoben.272 Die Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes wirft Probleme auf. Unklar bleibt im Vermögensteuerbeschluss nicht nur, wie die Steuerlast zur Prüfung der Einhaltung der Besteuerungshöchstgrenze konkret bemessen werden soll (Brutto- versus Nettobetrachtung).273 Umstritten ist bereits, welche Steuern auf welches Steuerobjekt überhaupt einzubeziehen sind. Die Bandbreite der Auslegung wird durch ein enges Verständnis, nach dem das Prinzip der „hälftigen Teilung“274 nur für die Belastung des Vermögens(soll-)ertrags durch die Vermögensteuer und sonstige Steuern gilt, und eine weite Auffassung, nach dem es die Obergrenze der Gesamtsteuerlast durch Ertrags- und indirekte Steuern aufstellt,275 markiert. In diesem 272 Vgl. Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 52 ff. mit Einschränkungen für die indirekten Steuern auf S. 150 f. 273 BVerfGE 115, 97 (106). Die Formulierung des Gerichts, wonach es auf das Verhältnis an den Fiskus abgeführter und beim Steuerpflichtigen verbleibender Teile des „Soll­ ertrags bei ­typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen“ ankommt (BVerfGE 93, 121 [138]), spricht für eine Nettobetrachtung. Für eine Nettobetrachtung Tina Beyer mit der Begründung, dass ansonsten die Begrenzungswirkung des Halbteilungsgrundsatzes in den meisten Fällen leer liefe und ein Widerspruch zu den Anforderungen des Art. 3 GG bestünde, nach dem für die Leistungsfähigkeit das Netto­ einkommen ausschlaggebend sei. Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 62 ff. Im Sinne einer Bruttobetrachtung könnte hingegen verstanden werden, dass „der Gesetzgeber […] die[…] Belastungsobergrenze dadurch wahren [kann], daß er die Erträge in der Bemessungsgrundlage um Abzugstatbestände mindert […] und sodann den Steuersatz typisierend so bemißt, daß im Zusammenwirken von Abzugstatbeständen und Steuersätzen diese Obergrenze beachtet bleibt.“ BVerfGE 93, 121 (138). Zu den Bemessungsunklarheiten außerdem die Stellungnahme des Bundesministeriums der Finanzen in BVerfGE 115, 97 (103) u. Günther Felix, Zur steuerlich gemäßigten Belastungsobergrenze  – Steine statt Brot vom BVerfG?, NJW 1196, S. 703. 274 BVerfGE 93, 121 (138). 275 Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 118, 129 f. Kirchhof bezieht sich in Rn. 129 auf die „steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrags“, in Rn. 130 auf die „Gesamtsteuerlast“, ausgenommen sind wohl die indirekten Steuern. Siehe auch ders., Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (20 f.); Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 52 ff. mit Einschränkungen für die indirekten Steuern auf S. 58 ff. Eine vermittelnde Position nehmen Hans-Georg Dederer u. Rainer Wernsmann ein. Es sei die aus der Vermögens- und Einkommensbesteuerung resultierende Gesamtlast zu berücksichtigen. Dederer, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 586 (589 f.); Wernsmann, BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (776). Im Sinne des engen Verständnisses Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (184).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Zusammenhang wird relevant, dass die Geltung eines steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes (im Sinne des genannten weiten Verständnisses) in der wissenschaftlichen Literatur insbesondere von Paul Kirchhof vertreten worden ist.276 Fraglich ist dann, inwiefern dessen Konzept zum Schutz des Art. 14 GG vor Steuern bei der Interpretation des Vermögensteuerbeschlusses herangezogen werden kann. Dass die Vorarbeiten Kirchhofs bei der Entscheidungsfindung des Gerichts überhaupt relevant gewesen sind, legt dessen Funktion als Verfassungsrichter und Berichterstatter nahe.277 Ernst-Wolfgang Böckenförde suggeriert im Sondervotum einen maßgeblichen Einfluss, wenn er im Zusammenhang des (scharf kritisierten278) „prinzipiell neuen Konzepts“ des Eigentumsschutzes vor Besteuerung ausschließlich Publikationen Kirchhofs zitiert.279 Entscheidend für die Analyse kann dennoch nur das Urteil „des Bundesverfassungsgerichts“ („Das Bundesverfassungsgericht entscheidet […].“, § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), nicht eine private Stellungnahme eines Richters sein.280 Die Entscheidung schließt in den entscheidenden Passagen zwar stilistisch und terminologisch an Kirchhofs Konzept zum Schutz der Eigentumsfreiheit vor Steuern an,281 auf seine Arbeiten wird aber nicht explizit verwiesen. Über die tatsächliche Tragweite des Einflusses können nur Mutmaßungen angestellt werden. Das Verständnis der verfassungsgerichtlichen Ausführungen leitet die Orientierung am Streitgegenstand.282 In BVerfGE 93, 121 bezieht sich das Bundesverfassungsgericht auf eine spezifische Belastungssituation. Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz begrenzt

276 Siehe hierzu die Ausführungen in Fn. 985 im dritten Teil. Zu den weiteren Vertretern eines steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes siehe die Hinweise bei Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, S. 445 f. 277 Hans-Georg Dederer, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 586 (589 f.). 278 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. III. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 279 BVerfGE 93, 121 (154). Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 8 („By this, Böckenförde suggested to the world outside the Senate that Kirchhof had finally succeded to realise his long-held political ideas by using the Constitutional Court as a power base.“); Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 48, siehe dort Fn. 213. 280 Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 570 f. 281 Hans-Georg Dederer, BVerfGE 93, 121  – Vermögensteuer, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 586 (589 f.); Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 48. 282 Tina Beyer differenziert nicht hinreichend zwischen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und dem eigentumsrechtlichen Schutzkonzept Kirchhofs. Dies zeigt sich nicht nur bei der extensiven Auslegung des Halbteilungsgrundsatzes, sondern auch bei der Verortung des Ausgangspunkts der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung im Begriff „zugleich“ (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG). Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentums­ freiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, siehe insb. S. 51, 53 u. 147 (dort Fn. 916).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

daher allein die Belastung des Vermögens(soll-)ertrags durch die Vermögensteuer und sonstige Steuern.283 b) Der Halbteilungsgrundsatz als unmittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung Das Bundesverfassungsgericht nimmt in der Entscheidung nicht explizit den unbestimmten Rechtsbegriff „zugleich“ zum Ausgangspunkt der Quantifizierung,284 sondern löst das in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG angelegte Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung des Eigentums als grundrechtlich geschütztem Freiheitsrecht und seiner Sozialbindung auf der Maßstabsebene der Entscheidung in eine Zahlengrenze auf.285 Es liegt eine unmittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung vor. Der Halbteilungsgrundsatz ist angesichts seiner „Anwendungsprobleme“ von vornherein „keine eindeutige Besteuerungsobergrenze“.286 Hinzu tritt eine intendierte Unschärfe. Die Kennzeichnung der Grenze steuerlicher Höchstbelastung als Halbteilungsgrundsatz verweist bereits terminologisch auf ihre Flexibilität.287 283 Siehe die Interpretation in BVerfGE 115, 97 (108): „Den Ausführungen im Beschluss vom 22. Juni 1995 (BVerfGE 93, 121 [136 ff.]) lässt sich keine Belastungsobergrenze entnehmen, die unabhängig von der dort allein streitgegenständlichen Steuerart  – der Vermögensteuer  – Geltung beanspruchen könnte […]. In der Entscheidung wird der Halbteilungsgrundsatz allein aus der vermögensteuerspezifischen Belastungssituation entwickelt und bezieht sich daher nur auf solche Belastungen, die mitursächlich auf eine Vermögensteuerbelastung zurückzuführen sind, bei denen also die Vermögensteuer zu den übrigen Steuern ‚hinzutritt‘ (vgl. BVerfGE 93, 121 [138]). Es ging allein um die ‚Grenze der Gesamtbelastung des Vermögens‘ (vgl. BVerfGE 93, 121 [136]) durch eine Vermögensteuer, die neben der Einkommensteuer erhoben wird.“ 284 Anders Paul Kirchhof, der zur Konkretisierung der Anforderungen an die verfassungsgemäße Besteuerung an den Begriff „zugleich“ in Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpft. Ders., Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundes­ republik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 124 ff. 285 Die Aufstellung des eigentlichen Halbteilungsgrundsatzes wird wie folgt eingeleitet: „Nach Art. 14 Abs. 2 GG dient der Eigentumsgebrauch zugleich dem privaten Nutzen und dem Wohl der Allgemeinheit. Deshalb ist der Vermögensertrag einerseits für die steuerliche Gemeinlast zugänglich, andererseits muß dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben.“ BVerfGE 93, 121 (138). Anders Hans-Georg Dederer, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 586 (589): „Diesen hiermit zumindest für die Ertragsteuern eingeführten sog. Halbteilungsgrundsatz leitete das BVerfG­ offenbar aus dem Wörtchen ‚zugleich‘ in Art. 14 II ab.“ So auch Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 147; Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/ Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (778). 286 Zitat Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 52. 287 Vgl. Otto Depenheuer, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 386: „Als Grundsatz ist er flexibel genug, um in Fällen innerer und äußerer Notlagen, extremer Finanznot oder sonstiger Ausnahmelagen auch eine weitergehende Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu rechtfertigen.“

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Das Bundesverfassungsgericht legt mit der Vorgabe „in der Nähe einer hälftigen Teilung“ keine feste Obergrenze der Besteuerung fest. Es eröffnet vielmehr einen Spielraum bzw. eine Spannbreite verfassungsgemäßer Maximalbesteuerung, ohne dessen Grenzen exakt nachzuzeichnen. In BVerfGE 115, 97 (106) verwendet es den Begriff des „Toleranzbereichs“.288 Genaugenommen könnte bereits der Bezugspunkt dieser Spannbreite, die „hälftige Teilung“, unbestimmter als eine in Ziffern ausgedrückte, prozentuale Aufteilung zwischen Fiskus und Steuerpflichtigem (50 %) sein. Indes handelt es sich bloß um die adjektivische Umformung des mit 50 % korrespondierenden Zahlworts „die Hälfte“, deren Gründe wohl eher im Bemühen um die sprachliche Gewandtheit des Textes als in einer Flexibilisierung der Obergrenze der Besteuerung liegen.289 Die als Spannbreite ausgestaltete Grenze steuerlicher Belastung wird durch die Kombination mit einer Ausnahmeklausel weiter flexibilisiert: Nur „unter besonderen Voraussetzungen, etwa in staatlichen Ausnahmelagen, erlaub[e] die Verfassung […] [sogar] einen Zugriff auf die Vermögenssubstanz.“290

Sie betrifft beide Stufen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes, denn das Bundesverfassungsgericht erlaubt nicht nur explizit einen Zugriff auf die Vermögenssubstanz, sondern implizit auch den auf mehr als die Hälfte der Vermögenserträge. Die Konkretisierung der Verfassung zur Zahl wird durch die in höchstem Maße unbestimmten Rechtsbegriffe („besondere Voraussetzungen“, „staatliche Ausnahmelage“) der Ausnahmeklausel relativiert.

288

Sowohl die Beschwerdeführer der BVerfGE 115, 97 zu Grunde liegenden Verfassungsbeschwerde als auch der Stellung nehmende IV. Senat des Bundesfinanzhofs suchen diesen Toleranzbereich des Halbteilungsgrundsatzes näher auszuloten. In der Begründung einer möglichen Grundrechtsverletzung durch die Beschwerdeführer finden sich folgende Ausführungen: „Zwar seien unter Berücksichtigung eines Toleranzraums geringfügige Überschreitungen der 50 v. H.-Grenze im Einzelfall noch nicht verfassungswidrig. Die Gesamtbelastung der Beschwerdeführer [Einkommen- und Gewerbesteuerbelastung i. H. v. 57,58 v. H. der Einkünfte bzw. 59,95 v. H. des zu versteuernden Einkommens] liege jedoch außerhalb auch eines großzügig ausgelegten Toleranzbereichs.“ BVerfGE 115, 97 (100). Der IV. Senat des Bundesfinanzhofs begründet die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde u. a. damit, dass „die prozentuale Gesamtsteuerbelastung […] bei 50,73 v. H. (Bezugsgröße: zu versteuerndes Einkommen) bzw. bei 49,02 v. H. (Bezugsgröße: Gesamtbetrag der Einkünfte) und daher noch im zulässigen Toleranzbereichs eines etwa geltenden ‚Halbteilungsgrundsatzes‘“ liege. BVerfGE 115, 97 (104). 289 Sowohl im Sondervotum Ernst-Wolfgang Böckenfördes (BVerfGE 93, 121 [157]) als auch in der Literatur (siehe etwa Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S.  776 [ebd. u. S.  778]) wird die Belastungsgrenze des Halbteilungsgrundsatzes, ohne dass die ab­ weichende Darstellung überhaupt problematisiert wird, mit „etwa 50 v. H.“ (Böckenförde) bzw. „in Höhe von 50 %“/„höchstens zu 50 %“ (Wernsmann) angegeben. 290 BVerfGE 93, 121 (138).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

c) Ablehnung eines allgemeinen steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes am 18. Januar 2006 In einem Beschluss vom 18. Januar 2006 (BVerfGE 115, 97) prüft das Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Art. 14 GG die kumulative Belastung des zu versteuernden Einkommens mit Einkommen- und Gewerbesteuer.291 Das Bundesverfassungsgericht sieht den Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt, beschränkt aber angesichts der Abwägungsschwierigkeiten mit dem gesetzgeberischen Ziel der staatlichen Einnahmen­ erzielung die Verhältnismäßigkeits- auf eine Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).292 Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert den Maßstab der Angemessenheit zunächst relational: Die Angemessenheits­ prüfung sei Abwägungsvorgang. Er werde durch die gegensätzliche Ausrichtung des Eigentums in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG strukturiert: „einerseits“ die Sozialpflichtigkeit, „andererseits“ die Individualnützigkeit. Hieraus ergebe sich allerdings nur ein „Rahmen der Abwägung“. Der Zweite Senat verdichtet die sprachlich betonte Polarität anders als noch im Vermögensteuerbeschluss nicht zu einer numerischen Grenze für die Besteuerung.293 „Aus […] Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 GG […] lässt sich keine allgemein verbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung („Halbteilungsgrundsatz“) ableiten.“294 291

In BVerfGE 115, 97 lässt das Bundesverfassungsgericht offen, ob das Vermögen als solches in den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt. Jedenfalls schütze die Eigentumsfreiheit den „Bestand des Hinzuerworbenen“, an den Einkommen- und Gewerbesteuer tatbestandlich anknüpften. Das Bundesverfassungsgericht nähert sich damit, nachdem es in BVerfGE 93, 121 noch auf den aus dem Vermögen erwachsenden Handlungsspielraum abstellte, wieder dem objektbezogenen Eigentumsbegriff an. BVerfGE 115, 97 (111 ff.). Kritisch Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (779). 292 „Allerdings bietet die Belastung mit Steuern den im Verhältnismäßigkeitsprinzip enthaltenen Geboten der Eignung und der Erforderlichkeit kaum greifbare Ansatzpunkte für eine Begrenzung. […] Allein aus der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, im Rahmen einer Gesamtabwägung zur Angemessenheit und Zumutbarkeit der Steuerbelastung, können sich Obergrenzen für eine Steuerbelastung ergeben. […] Die Gewährleistung einklagbarer, auch den Gesetzgeber bindender Grundrechte verbietet es, speziell für das Steuerrecht die Kontrolle verfassungsrechtlicher Mäßigungsgebote dem Bundesverfassungsgericht gänzlich zu entziehen.“ BVerfGE 115, 97 (115 f.). Kritisch Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 120. Siehe auch die Ausführungen zum Quantifizierungsdilemma beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz unter C. II. im 6. Kapitel des dritten Teils. 293 BVerfGE 115, 97 (113 f., Zitate S. 114). 294 BVerfGE 115, 97 (114). Zuvor tritt der Bundesfinanzhof der Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes jenseits der kumulativen Belastung des Vermögens(soll)ertrags durch Einkommen- und Vermögensteuer entgegen. In seinem Urteil vom 11. August 1999, gegen das sich die Verfassungsbeschwerde in BVerfGE 115, 97 richtet, will er „dem Grundgesetz kein Gebot […] entnehmen, die Steuern auf das Einkommen und den Gewerbeertrag auf höchstens

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Nach Art. 14 Abs. 1, 2 GG existiere kein allgemeingültiger steuerverfassungsrechtlicher Halbteilungsgrundsatz. Eine numerische Obergrenze wird auch nicht für die Belastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer angenommen.295 Sie wird für die Vermögensbesteuerung im Umkehrschluss ausdrücklich offen gelassen. „Da die Vermögensteuer nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist, kann im Übrigen dahin stehen, ob die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebende Belastungsobergrenze bei einer Vermögensteuer, die zur Einkommen- und Gewerbesteuer hinzutritt, typischerweise ‚in der Nähe einer hälftigen Teilung‘ zu finden ist.“296

Tatsächlich entzieht das Gericht, indem es seine Gründe für die Ablehnung einer Zahlengrenze bei der Steuerbelastung allgemein formuliert, jeglicher Quantifizierung des Art.  14 GG (insbesondere des Begriffs „zugleich“) zur „hälftigen Teilung“297 die Grundlage.298 Die „Begründung“299 bedeutet keine methodische Fundierung. Das Bundesverfassungsgericht verweist nur pauschal auf die anerkannten Auslegungsmethoden. Es handelt sich nicht mehr als um eine Scheinargumentation. „Der Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG (‚zugleich‘) reicht zur Begründung einer mit Sinn und Zweck des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG sowie seiner Entstehungsgeschichte (vgl. JöR N. F. Band 1 [1951], S. 147) zu vereinbarenden Herleitung einer Höchstbelastungsgrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung nicht aus.“300

Die Abkehr von einer numerischen Höchstgrenze zu Gunsten einer allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutet aus Sicht des Gesetzgebers Flexibilität, den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden. Der dem ­Halbteilungsgrundsatz 50 % des Gesamtbetrags der Einkünfte oder des zu versteuernden Einkommens zu begrenzen“. BFH NJW 1999, S. 3798 (ebd.). Die Begründung legt eine Ablehnung des Halbteilungsgrundsatzes offen, die über den konkreten Fall hinaus weist: Art. 14 Abs. 1 GG schütze lediglich vor der Existenzgefährdung durch erdrosselnden Steuerzugriff. Auch „aus [der] […] Sozialpflichtigkeit des Eigentums […] [könne] eine Begrenzung der zulässigen Steuerbelastung im Sinne einer konkreten und quantifizierbaren Vorgabe […] nicht abgeleitet werden. Jedenfalls [lasse] […] Art. 14 II 2 GG kein Gebot der annähernd hälftigen Teilung eines verfügbaren Betrags (wie etwa des Sollertrags) erkennen. Der Formulierung ‚zugleich‘ vermag der Senat dem allgemeinen Sprachgebrauch als auch dem Wortsinn nach lediglich ein finales, nicht hingegen ein arithmetisches Element im Sinne einer Zuordnung zu rechnerisch etwa gleichen Teilen (50 %) zu entnehmen.“ BFH NJW 1999, S. 3798 (3799). Die Distanzierung des BFH vom Halbteilungsgrundsatz klingt bereits in einem Beschluss v. 17. Juli 1998 an: „Es erscheint bei summarischer Überprüfung ausgeschlossen, daß das BVerfG wegen der Verletzung eines, seine verfassungsrechtliche Existenz unterstellten, sogenannten ‚Halbteilungsgrundsatzes‘ den Einkommensteuertarif bis einschließlich 1996 für nichtig oder mit der Verfassung unvereinbar erklärt.“ BFH NJW 1998, S. 3223 (ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 295 BVerfGE 115, 97 (117 f.). 296 BVerfGE 115, 97 (118). 297 BVerfGE 93, 121 (138). 298 Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 17 f. 299 BVerfGE 115, 97 (114). 300 BVerfGE 115, 97 (114).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

zu Grunde liegende Gedanke der Ausgewogenheit beim Steuerzugriff ist in den verfassungsgerichtlichen Anforderungen an den Ausgleich und das Ergebnis der Abwägung weiterhin erkennbar. „Aufgabe des Gesetzgebers ist es, […] der Garantie des Eigentums (Art.  14 Abs.  1 Satz 1 GG) und dem Gebot einer sozial gerechten Eigentumsordnung (Art. 14 Abs. 2 GG) in gleicher Weise Rechnung zu tragen und die schutzwürdigen Interessen aller Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen (vgl. BVerfG 89, 237 [241]; 91, 294 [310]). Das in Art. 14 GG angelegte Spannungsverhältnis ist vom Gesetzgeber problem- und situationsbezogen jeweils zu einem interessengerechten Ausgleich zu bringen. Auch mit Blick auf die gesetzliche Auferlegung von Steuern kann Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG nicht mit Hilfe des Adverbs ‚zugleich‘ als ein striktes, grundsätzlich unabhängig von Zeit und Situation geltendes Gebot hälftiger Teilung zwischen Eigentümer und Staat gedeutet werden.“301

Das Bundesverfassungsgericht hält, obschon es einen allgemeinen steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz ablehnt, an der Vorstellung einer absoluten Belastungsobergrenze für die Besteuerung fest. Wenn der verfassungsgerichtlichen Angemessenheitsprüfung Raum gegeben werden soll, kann die Grenze verfassungsgemäßer Besteuerung nicht mehr starr beim erdrosselnd wirkenden Steuerzugriff verortet werden. Aufgrund der Belastungsintensität läge  – so das Bundesverfassungsgericht – in dem Fall schon begrifflich kaum mehr eine Steuer mehr vor.302 Die fixe Obergrenze der hälftigen Teilung löst eine unbestimmte, einzelfallbezogene Umschreibung ab. Das Bundesverfassungsgericht kennzeichnet die Belastungsobergrenze zunächst positiv und stellt darauf ab, dass auch nach dem Steuerzugriff „die Privatnützigkeit des Einkommens sichtbar“ bleiben muss.303 Es folgt eine negative Eingrenzung: „Auch wenn dem Übermaßverbot keine zahlenmäßig zu konkretisierende allgemeine Obergrenze der Besteuerung entnommen werden kann, darf allerdings die steuerliche Belastung auch höherer Einkommen für den Regelfall nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt.“304

Die unbestimmten verfassungsgerichtlichen Kriterien zur Überprüfung der steuerlichen Belastungshöhe lassen Raum für die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers. Welche Steuerbelastung verfassungsrechtlich angemessen ist, kann allenfalls näherungsweise eingegrenzt werden. Das Bundesverfassungsgericht verweist, wenn es die Wahrung der Privatnützigkeit des Eigentums verlangt, explizit auf den einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraum. 301

BVerfGE 115, 97 (114, Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 115, 97 (115 f.). Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (781). 303 BVerfGE 115, 97 (117) bezogen auf die Belastung hoher Einkommen im Rahmen eines progressiven Tarifverlaufs. 304 BVerfGE 115, 97 (117, Kursivsetzung durch Verf.). 302

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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„Ist letzteres gewährleistet, liegt es weitgehend im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, die Angemessenheit […] selbst zu bestimmen.“

Auch die Zusammenschau der relationalen und absoluten Kriterien des Bundesverfassungsgerichts ergibt jedoch keine praktisch umsetzbare Anleitung zur Angemessenheitsprüfung. Das Ausgangsproblem bleibt ungelöst: Wenn die Erzielung staatlicher Einnahmen bei der Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit kein „abwägungstaugliche[s] Ziel“305 darstellt, wie soll dann die Angemessenheit der Steuerbelastung geprüft werden? Das Bundesverfassungsgericht gewährt nur punktuell Einsicht in das Prüfungsverfahren, wenn es im Gegensatz zu den vorgenannten Kriterien die konkrete, in Zahlen darstellbare Belastungsintensität in Bezug nimmt und auf die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs der Steuerbelastung verweist. Es nennt Verfahrenspflichten des Steuergesetzgebers, von dem die Darlegung rechtfertigender Gründe gefordert werden könne. „Trotz mangelnder konkreter Verwaltungszwecke, die in ein Verhältnis zur Steuerbelastung gesetzt und bewertet werden könnten, bleibt die Möglichkeit, in Situationen zunehmender Steuerbelastung der Gesamtheit oder doch einer Mehrheit der Steuerpflichtigen, insbesondere etwa dann, wenn eine solche Belastung auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung gekennzeichnet werden kann, vom Gesetzgeber die Darlegung besonderer rechtfertigender Gründe zu fordern, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhn­ licher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe.“306

Die Begründung einer Darlegungspflicht des einfachen Gesetzgebers anstatt einer fixen Besteuerungshöchstgrenze bedeutet nicht nur die Einbindung in erhöhte Rationalitätsanforderungen,307 sondern lässt sich auch als Stärkung der Rolle des Parlaments interpretieren: Der Gesetzgebers kann das Verdikt der Verfassungswidrigkeit durch gute Gründe für die Steuerbelastungshöhe abwenden.308

305 Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 119. 306 BVerfGE 115, 97 (116). Die genannten Verfahrensvorgaben zeigen allenfalls punktuell auf, wie die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne vorgenommen werden soll. Unklar bleibt, wie eine Abwägung mit dem Ziel staatlicher Einnahmenerzielung überhaupt möglich sein soll. Klärungsbedürftig erscheint auch, ob die Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt eingeschränkt werden kann. Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 119 f. 307 Kritisch zu den erhöhten methodischen Vorgaben für den Gesetzgeber unter A. III. im 6. Kapitel des dritten Teils. 308 Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 20.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

d) Ablösung der unmittelbaren durch eine mittelbare Quantifizierung bei Überprüfung der konkreten steuerlichen Belastungshöhe In BVerfGE 115, 97 wird Art.  14 Abs.  2 GG nicht mehr unmittelbar quanti­ fiziert. Das Bundesverfassungsgericht trifft bei der Subsumtion mittelbar eine­ numerische Aussage, wenn es die einfachgesetzliche Belastung im konkreten Fall für verfassungsgemäß erklärt. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich dabei auf die „Berechnung des Beschwerdeführers“,309 ohne die konkreten Zahlenverhältnisse noch einmal explizit zu wiederholen. „Für den Streitfall ist nicht erkennbar, dass eine verfassungsrechtliche Obergrenze zumut­ barer Belastung durch Einkommen- und Gewerbesteuer – sei es im typischen Fall, sei es speziell im Fall des Beschwerdeführers – erreicht wäre, und zwar auch nicht, wenn man die Berechnung des Beschwerdeführers zugrunde legt (siehe bereits B. I.1.310). Das Einkommen- und Gewerbesteuerrecht ist auch für hohe Einkommen gegenwärtig nicht so ausgestaltet, dass eine übermäßige Steuerbelastung und damit eine Verletzung der Eigentumsgarantie festgestellt werden könnte. Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in seinen Grundrechten verletzt. Er unterliegt keinem unzumutbaren und damit unverhältnismäßigen Steuerzugriff, denn ihm bleibt auch nach Abzug der Einkommen- und Gewerbesteuer ein bedeutender Ertrag seiner erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit.“311

Das Bundesverfassungsgericht verneint eine „übermäßige […]Belastung“ durch Einkommen- und Gewerbesteuer, indem es eine auf das Kriterium der Angemessenheit reduzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführt. Dabei bleibt im Dunkeln, warum gerade 57,58 v. H. bzw. 59,95 v. H. als nicht „übermäßig“ (42, 42 v. H. bzw. 40,05 v. H. der Einkünfte bzw. des zu versteuernden Einkommens als „bedeutend“) bewertet werden. Dass das Gericht die konkrete Belastungshöhe bzw. den steuerlich verschonten Anteil an den Einkünften bei der Begründung der Verfassungsmäßigkeit nicht unmittelbar in Bezug nimmt, kann auf den Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers bei der Bestimmung der angemessenen Steuerbelastung zurückgeführt werden. Das Gericht muss die Verfassungsmäßigkeit des konkreten Zahlenwerts nicht begründen. Es lässt darüber hinaus jede argumentative Einbindung der Verfassungsmäßigkeit der Steuerbelastungshöhe vermissen. Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers wird nicht näher (numerisch) umrissen und ein internationaler Belastungsvergleich nicht durchgeführt. Allein bei dem Verweis auf den verbleibenden „bedeutende[n] Ertrag [der] […] erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit“ handelt sich um einen Ansatz für eine Begründung. Kriterien, die für die Bewertung der steuerlich verschonten Einkünfte als bedeutend ausschlaggebend sind, werden wiederum nicht genannt. Die Verneinung einer übermäßigen Belastung mit dem bedeutenden Restbetrag bedeutet somit lediglich eine Umkehrung der Perspektive 309

BVerfGE 115, 97 (117). = „Gesamtbelastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer bei 57,58 v. H. bzw. 59,95 v. H. [der Einkünfte bzw. des zu versteuernden Einkommens]“, BVerfGE 115, 97 (106). Zur abweichenden Belastungshöhe je nach Bezugsgröße siehe auch ebd., S. 99 f. 311 BVerfGE 115, 97 (117 f.). 310

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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ohne argumentativen Mehrwert. Das Bundesverfassungsgericht geht zwar davon aus, dass auch hinsichtlich der Steuerbelastung eine (reduzierte) Verhältnismäßigkeitsprüfung möglich ist und die Grundrechte (Art. 14 GG) ihre Maßstabsfunktion ohne Quantifizierung wirksam entfalten, beschränkt sich aber hinsichtlich des in Streit stehenden Sachverhalts auf eine bloße Feststellung der Verfassungsmäßigkeit unter allenfalls oberflächlicher verfassungsrechtlicher Anbindung. 2. Mindestverschonung bei der Besteuerung: Steuerfreiheit des Existenzminimums Das Bundesverfassungsgericht bestimmt nicht nur die steuerliche Höchstbelastung, sondern auch die „Untergrenze“,312 bis zu der das (potentiell steuerpflichtige)  Einkommen verschont bleiben muss. Demnach ist das Existenzminimum absolute Grenze der Besteuerung. Wenn Art.  1 Abs.  1, 20 Abs.  1 GG den Staat verpflichten, in Höhe des Existenzminimums Sozialleistungen zu gewähren,313 dürften dem Einzelnen durch den Steuerzugriff nicht die selbst erwirtschafteten, existenzsichernden Mittel genommen werden.314 In beiden Fällen bezeichnet das Existenzminimum den Betrag, der „zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird.“315 Die steuerverfassungsrechtliche Verschonung ist Spiegelbild der staatlichen Sozialleistungen zur Gewährleistung des Existenzminimums. Es werden dieselben verfassungsrechtlichen Vorgaben (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG) in unterschiedlichen Sachbereichen, nämlich in steuer- und sozialrechtlichen Zusammenhängen, durch das Bundesverfassungsgericht quantifiziert. Allein in BVerfGE 87, 153 werden die Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG nicht unmittelbar relevant. Es besteht demnach ein Abwehrrecht des Steuerpflichtigen gegenüber der Besteuerung des Existenzminimums aus Art.  2 Abs. 1, 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht stellt auf die Verfassungswidrigkeit des erdrosselnden Steuerzugriffs ab. Ein Gleichheitsverstoß komme wegen der Betroffenheit aller Steuerpflichtigen nicht in Betracht.316 312 So ausdrücklich das Bundesverfassungsgericht: „Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer.“ BVerfGE 87, 153 (169, Kursivsetzung durch Verf.). 313 Siehe die Ausführungen unter A. III. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 314 BVerfGE 82, 60 (85). In BVerfGE 93, 121 zählt das Bundesverfassungsgericht zu dem verfassungsrechtlich gegenüber dem Steuerzugriff „besonder[s]“ (ebd., S.  140) geschützten Eigentum außerdem das „der persönlichen Lebensgestaltung dienende[…] Vermögen[…]“ (ebd., S. 141) jenseits des Existenzminimums. Siehe hierzu Fn. 268 in den Ausführungen zur Aufstellung eines Halbteilungsgrundsatzes für die Vermögensbesteuerung und Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundes­ republik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 136, 138. 315 BVerfGE 82, 60 (85). 316 BVerfGE 87, 153 (169 f.). Siehe hierzu auch bereits die einleitenden Ausführungen zu den absoluten Steuerbelastungsgrenzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter A. II. in diesem Kapitel.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

a) Zahlen und Zahlenbezug in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen bei der Überprüfung der verfassungsgerechten Höhe der Steuerverschonung317 aa) Höhe des steuerfreien Existenzminimums – Kopplung an die einfachgesetzliche Sozialhilfe Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass die Höhe des steuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums von tatsächlichen Faktoren („allgemeine[…] wirtschaftliche[…] Verhältnisse“, „in der Rechtsgemeinschaft anerkannte[r] Mindestbedarf“) abhängt.318 Die „realitätsgerechte“ Festlegung des Existenzminimums319 317 Aus der Perspektive der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung verdienen in den nachfolgend besprochenen Entscheidungen nicht nur die Ausführungen zur verfassungsgerechten Höhe von Steuerentlastungen zur Verschonung des Existenzminimums Beachtung. Das Bundesverfassungsgericht überprüft in BVerfGE 82, 60 die (nach dem Einkommen gestaffelte) Höhe des Kindergelds (§ 10 Abs. 2 BKGG a. F.) auch in seiner Eigenschaft als Sozialleistung, u. a. am Maßstab von Sozialstaatsgrundsatz (Art.  20 Abs.  1 GG) und Familien­ förderungsgebot (6 Abs.  1 GG). Den unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen sich nach den Ausführungen des Gerichts keine numerischen Vorgaben entnehmen. Wenn das Verfassungsgericht bei der Subsumtion entscheidet, dass der einfache Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum durch die monetären Leistungen nicht überschritten hat, quantifiziert es die Verfassungsvorgaben mittelbar. Es nimmt dabei die numerisch bestimmten einfachgesetzlichen Regelungen in Bezug, wiederholt sie zur Konkretisierung des Gestaltungsspielraums aber nicht explizit. „Die Vorschrift verstößt nicht gegen den in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsgrundsatz. Dieser enthält zwar einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber […]. Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit läßt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. […] Soweit es nicht um die genannten Mindestvoraussetzungen geht, steht es in der Entscheidung des Gesetzgebers, in welchem Umfang soziale Hilfe […] gewährt werden kann und soll […]. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu […].“ Ebd., S. 79 f., Kursivsetzung durch Verf. „Mit der aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Pflicht des Staates, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern […], ist die Kürzung des Kindergeldes in seiner Funktion als allgemeine Sozialleistung ebenfalls vereinbar. Dem Gesetzgeber steht Gestaltungsfreiheit bei der Entscheidung darüber zu, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz verwirklichen will […]. Aus Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip läßt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen lassen sich aus dem Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG nicht herleiten […]. […] Nach diesen Grundsätzen kann bei einer Gesamtbetrachtung der Leistungen, die der Staat für Kinder erbringt […], nicht festgestellt werden, daß die Familienförderung durch den Staat offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt.“ Ebd., S. 81 f., Kursivsetzung durch Verf. Das Bundesverfassungsgericht verneint außerdem eine gleichheitswidrige Differenzierung durch § 10 Abs. 2 BKGG a. F. (Art. 3 Abs. 1 GG). Die einfachgesetzlich festgelegte Einkommensschwelle, ab der das Kindergeld gekürzt wird, verstoße nicht gegen das Willkürverbot. Das Gericht verweist auf Berechnungen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, der den Bruttoarbeitslohn, bei dem eine maximale Kindergeldkürzung vorgenommen wird, mit dem durchschnittlichen Bruttoarbeitslohn vergleicht. Ebd., S. 83. 318 BVerfGE 87, 153 (170, Zitate ebd.); 91, 93 (111). 319 BVerfGE 99, 246 (259 f.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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und Bewertung der tatsächlichen Faktoren falle in den Gestaltungsspielraum des (einfachen) Steuergesetzgebers.320 Das Bundesverfassungsgericht formuliert keine „exakte[n] betragliche[n] Vorgaben“321, sondern zieht sich in BVerfGE 82, 60 zunächst ausdrücklich auf eine Evidenzkontrolle zurück.322 Es konkretisiert zugleich die normativen Grenzen des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums, indem es das Steuerverfassungs- an das „Sozialhilferecht“ als „das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene“ koppelt.323 Das bedeutet: Der Steuergesetzgeber hat das Existenzminimum nur dann „angemessen quantifiziert[…]“324, wenn ein Betrag mindestens in Höhe der einfachgesetzlichen Sozialhilfe steuerlich verschont wird. „Der im Sozialhilferecht anerkannte Mindestbedarf“ ist mit anderen Worten „Maßgröße für das einkommensteuerliche Existenzminimum“.325 Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts sind „Regelsatz […], Leistungen für Unterkunft und Heizung […] [,] einmalige Hilfen“ und ein „Mehrbedarf für Erwerbstätige“ zu berücksichtigen.326 Dies ist zunächst nicht als strikte Untergrenze zu verstehen, d. h. der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bezieht sich (bis zu BVerfGE 99, 246) auch auf die Unterschreitung des sozialrechtlich anerkannten Bedarfs. Der Steuergesetzgeber verfügt außerdem über einen Pauschalisierungsspielraum. Es sind nicht die fiktiven, individuellen Sozialhilfeleistungen des jeweiligen Steuerpflichtigen, die den Referenzbetrag für das steuerverfassungsrechtlich zu verschonende Existenzminimum bilden. Der Gesetzgeber muss auf der Grundlage des bundeseinheitlichen Durchschnittssatzes an Sozialleistungen die Steuererleichterungen so bemessen, dass „in möglichst allen Fällen de[r] […] Bedarf [zur Existenzsicherung] ab[ge]deckt“ wird.327 320

BVerfGE 87, 153 (170); 91, 93 (111). Hans-Wolfgang Arndt/Andreas Schumacher, Kinder, Kinder … oder: Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Senate des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1999, S. 745 (745 f., Zitat S. 745). 322 BVerfGE 82, 60 (91 f.). In BVerfGE 87, 153 klingt diese Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle noch an, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Subsumtion konstatiert, die Höhe der Grundfreibeträge sei „deutlich“ zu niedrig (S. 175). 323 BVerfGE 99, 246 (259, Zitate ebd.). 324 BVerfGE 87, 153 (170). 325 BVerfGE 87, 153 (171, Kursivsetzung durch Verf.). „Soweit der Gesetzgeber […] im Sozial­hilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu decken hat (vgl. BVerfGE 40, 121 [133]), darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag jedenfalls nicht unterschreiten. Der Steuergesetzgeber muß dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt.“ BVerfGE 87, 153 (170 f.). Die Kopplung des Einkommensteuer- an das Sozialrecht hinsichtlich der Höhe des Existenzminimums des Steuerpflichtigen klingt bereits in BVerfGE 82, 60 an, wird aber hier noch nicht explizit ausgeführt („bis zu diesem Betrag“, ebd., S. 85). Siehe auch BVerfGE 91, 93 (111). 326 BVerfGE 87, 153 (171); 99, 246 (260). 327 BVerfGE 82, 60 (91 [Zitat ebd.], 94); 87, 153 (172); 91, 93 (112, 115). Zur Flexibilisierung der Bindung an das Sozialrecht in BVerfGE 91, 93 und zur entgegengesetzten Entwicklung in BVerfGE 99, 246 siehe die Ausführungen sogleich unter A. II. 2. a) cc) in diesem Kapitel. 321

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

bb) Erhöhung der Steuerverschonung des unterhaltspflichtigen Steuerschuldners (1) Familienlastenausgleich Ist der Steuerpflichtige verheiratet und/oder hat er Familie, muss die Steuerentlastung über die eigene Existenzsicherung hinausgehen. Eine gleichheitsgerechte Besteuerung erfordert eine erhöhte Verschonung des unterhaltspflichtigen Steuer­ pflichtigen, dessen Leistungsfähigkeit gegenüber Unverheirateten bzw. Kinderlosen reduziert ist.328 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein sog. Familienlastenausgleich durchzuführen.329 Prüfungsmaßstab des Gerichts ist Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG.330 Es konkretisiert die verfassungsrechtlichen Anforderungen stufenweise. Die Verortung der Steuerentlastung mindestens in Höhe des Existenzminimums der Unterhaltsberechtigten331 bedeutet eine quantitative Weichenstellung. Es müsse kein Familienlastenausgleich durchgeführt werden, der „in der vollen Höhe“ die Unterhaltsansprüche nach §§ 1601 ff. BGB in das Steuerrecht integriert.332 Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert mit der zwingenden Steuer­ freiheit des Existenzminimums die einst aufgestellte (qualitative)  Anforderung an den Gesetzgeber, bei der „steuerliche[n] Berücksichtigung zwingender Unterhaltsverpflichtungen nicht realitätsfremde Grenzen [zu] ziehen“.333 Auf die Höhe des steuerfreien Existenzminimums von Kindern geht das Gericht gesondert ein und nennt neben den einfachgesetzlichen Sozialleistungen (Regelsatz und Sonder 328

BVerfGE 82, 60 (86 f.); Dieter Birk/Marc Desens/Henning Tappe, Steuerrecht, 16. Aufl. 2013, § 2 Rn. 199. 329 Zum Begriff BVerfGE 82, 60 (61). 330 BVerfGE 82, 60 (85 f.). 331 „Bei der Besteuerung einer Familie [muss] das Existenzminimum sämtlicher Familien­ mitglieder steuerfrei bleiben […].“ BVerfGE 82, 60 (85 [Zitat ebd.], 87). 332 In Bezug auf Unterhaltsansprüche der Kinder des Steuerpflichtigen BVerfGE 82, 60 (91): „Andererseits folgt weder aus Art. 3 Abs. 1 noch aus Art. 6 Abs. 1 GG, daß der Gesetzgeber die Unterhaltsleistungen für Kinder in der vollen Höhe des bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs […] berücksichtigen müßte.“ 333 BVerfGE 66, 214 (223, Zitat ebd.). „Das Gebot, Unterhaltsaufwendungen für Kinder mindestens in Höhe des Existenzminimums von der Besteuerung auszunehmen, entspricht im Ergebnis dem Grundsatz, daß der Gesetzgeber bei der steuerlichen Berücksichtigung zwangsläufiger Unterhaltsaufwendungen nicht realitätsfremde Grenzen ziehen darf […].“ BVerfGE 82, 60 (88). Das gegenüber dem Steuergesetzgeber formulierte Verbot „realitätsfremde[r] Grenzen“ hat auch jenseits des Existenzminimums Relevanz. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fällt die Berücksichtigung von Berufsausbildungskosten bei der Besteuerung in den einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraum, gleichwohl sei nicht jede Beschränkung der Absetzbarkeit der Ausbildungskosten von Kindern mit einer leistungsgerechten Besteuerung (Art. 3 GG) vereinbar. Der Gesetzgeber „unterschreite […] die verfassungsrechtlich gebotene Grenze [aber] jedenfalls dann noch nicht, wenn er die Absetzbarkeit auf die Hälfte der üblicherweise anfallenden Kosten begrenze“. Zu berücksichtigen seien die durchschnittlichen, nicht die tatsächlichen Ausbildungskosten. BVerfGE 98, 346 (355). So auch BVerfG

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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leistungen334) den statistischen Bedarf als möglichen Orientierungspunkt.335 „Entscheidende Bedeutung für die Bemessung des Existenzminimums […] komm[e] den Leistungen der Sozialhilfe zu […].“336 Der Steuergesetzgeber verfügt demnach über einen weiten Gestaltungsspielraum. Er erfährt erst in späteren Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, nach dem Wechsel der Zuständigkeit für Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge im Bereich des Einkommensteuerrechts zum Zweiten Senat inhaltliche und methodische Beschränkungen.337 (2) Familienleistungsausgleich In BVerfGE 99, 216 erweitert das Bundesverfassungsgericht den Familienlastenzu einem Familienleistungsausgleich. Das Leistungsfähigkeitsprinzip und Art.  6 Abs. 1 GG forderten, die Betreuungs- und Erziehungsleistungen – unabhängig von den tatsächlich anfallenden Kosten und der Art der Erbringung338 – beim Unterhaltspflichtigen steuerlich freizustellen.339 Sie fallen nicht unter das durch die Sozialhilfe gesicherte (soziokulturelle) Existenzminimum. Das sozialrechtlich gewährte und das steuerverfassungsrechtlich geforderte Existenzminimum sind damit sachlich nicht 2 BvR 660/05 v. 12.1.2006, Absatz-Nr. 7. Hierzu Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 511. Es handelt sich hierbei um eine mittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung und einen weiteren Beispielsfall für eine hälftige Teilung durch das Gericht (siehe hierzu C. II. 3. b) aa) im 4. Kapitel des dritten Teils). 334 BVerfGE 82, 60 (94). 335 Siehe zu den bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben für die Festlegung der Sozialleistungen im einfachen Recht BVerfGE 125, 175 und die Ausführungen unter A. III. im 2. Kapitel des dritten Teils. 336 „Für die Ermittlung des Existenzminimums von Kindern kann auf die Maßstäbe zurückgegriffen werden, die sich aus statistisch ermittelten Richtsätzen oder normativ festgelegten Regelleistungen für den entsprechenden Bedarf ergeben […]. Entscheidende Bedeutung für die Bemessung des Existenzminimums […] kommt den Leistungen der Sozialhilfe zu, die gerade dieses Existenzminimum gewährleisten sollen und die verbrauchsbezogen ermittelt und regelmäßig den steigenden Lebenshaltungskosten angepaßt werden.“ BVerfGE 82, 60 (93 f.). 337 Hans-Wolfgang Arndt/Andreas Schumacher, Kinder, Kinder … oder: Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Senate des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1999, S. 745 (745 f.). Es werden vorliegend folgende Entscheidungen des Zweiten Senats besprochen: BVerfGE 87, 152; 99, 216; 99, 246 (siehe hierzu die nachfolgenden Ausführungen). 338 BVerfGE 99, 216 (233 f., 241). 339 BVerfGE 99, 216 (231, 233). Dies werde durch Kinderfreibeträge und Kindergeld nicht gewährleistet. BVerfGE 99, 216 (240, 241 f.). Die Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG), nach denen Alleinstehende, nicht aber verheiratete Paare Kinderbetreuungskosten von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abziehen können und über einen Haushaltsfreibetrags verfügen, verstießen gegen Art. 6 Abs. 1, 2 GG. BVerfGE 99, 216 (218 f., 230 f.). In BVerfGE 61, 319 geht das Bundesverfassungsgericht noch davon aus, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufgrund von Kinderbetreuungsaufwand nur bei Alleinerziehenden gemindert sei. „Zwangsläufige[r] Betreuungsaufwand […] [falle] bei Ehepaaren typischerweise nicht an […] oder [könne], wenn beide Partner berufstätig sind, aus dem erhöhten Familieneinkommen bestritten werden“ (S. 348, siehe auch S. 350 f.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

mehr deckungsgleich.340 Umso mehr fällt ins Gewicht, dass eine gestufte Konkretisierung und Vermittlung zur Quantifizierung des Bedarfs durch den Steuergesetzgeber fehlt. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich auf eine unbestimmte qualitative Umschreibung des Erziehungsbedarfs.341 Die „unvermeidbar anfallenden Aufwendungen“ werden „im Gegensatz zu den Kinderfreibetragsbeschlüssen“ nicht aufgeschlüsselt342 und auch keine methodischen Vorgaben für die Bemessung formuliert. Das Bundesverfassungsgericht setzt eine Frist zur Berücksichtigung der Betreuungs- und Erziehungsaufwendungen bei der Besteuerung (1. Januar 2000 bzw. 1. Januar 2002).343 Für den Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers trifft es eine Übergangsregelung, nach der sich zur Abgeltung der Kinderbetreuungskosten der Kinderfreibetrag „von Verfassungs wegen [um] 4.000 DM“, „für jedes weitere Kind“ „um 2.000 DM“ erhöht. Zur Abgeltung der Aufwendungen für den Erziehungsbedarf sei das Einkommen der Eltern „in Höhe von 5.616 DM“ steuerfrei.344 cc) Methodische Vorgaben für die Berechnung der maßgeblichen Sozialhilfeleistungen, Strenge der Kopplung an die sozialhilferechtliche Referenzgröße Die Bestimmung der sozialrechtlichen Referenzgröße ist voraussetzungsvoll. Der bundesdurchschnittliche Umfang an Sozialleistungen hängt nicht nur davon 340

Hans-Wolfgang Arndt/Andreas Schumacher, Kinder, Kinder … oder: Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Senate des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1999, S. 745 (747); Ute Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 (1902). Zur fehlenden Abdeckung des Erziehungsbedarfs durch die Sozialhilfe BVerfGE 99, 216 (241 f.). Aus den Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts geht indes nicht hervor, warum der Ausschluss von Kinderbetreuungskosten und Erziehungsbedarf zwar beim sozialverfassungsrechtlichen, aber nicht beim steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Demnach sollen „die allgemeinen Kosten […], die Eltern aufzubringen haben, um dem Kind eine Entwicklung zu ermöglichen, die es zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt“ (Erziehungsbedarf), vom soziokulturellen Existenzminimum ausgeschlossen sein. BVerfGE 99, 216 (242). 341 Das Bundesverfassungsgericht definiert den Erziehungsbedarf als die „Aufwendungen der Eltern, die dem Kind die persönliche Entfaltung, seine Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ermöglichen“, BVerfGE 99, 216 (241). Es spricht von den „allgemeinen Kosten […], die Eltern aufzubringen haben, um dem Kind eine Entwicklung zu ermöglichen, die es zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt […].“ „Hierzu gehört gegenwärtig […] die Mitgliedschaft in Vereinen sowie sonstige Formen der Begegnung mit anderen Kindern oder Jugendlichen außerhalb des häuslichen Bereichs, das Erlernen und Erproben moderner Kommunikationstechniken, der Zugang zu Kultur- und Sprachfähigkeit, die verantwortliche Nutzung der Freizeit und die Gestaltung der Ferien.“ BVerfGE 99, 216 (242). 342 Hans-Wolfgang Arndt/Andreas Schumacher, Kinder, Kinder … oder: Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Senate des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1999, S. 745 (747). 343 Regelungsauftrag und Fristsetzung erfolgen anlässlich der Unvereinbarkeitserklärung der Normen des EStG, die die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und die Gewährung eines Haushaltsfreibetrags auf Alleinstehende beschränken. BVerfGE 99, 216 (243 f.). 344 BVerfGE 99, 216 (244 f.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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ab, welche Posten der einfachgesetzlichen Sozialhilfe in die Berechnung einbe­ zogen werden. Die Höhe der einzelnen Posten ist von den „tatsächlichen“ Umständen abhängig und variiert außerdem je nach Berechnungsmethode.345 Das Bundes­verfassungsgericht begegnet diesem Umstand zunächst – ohne dies in den Entscheidungsbegründungen offen zu reflektieren  – mit einer Varianz im Prüfungsmaßstab. Es verzichtet auf eine numerisch eindeutige Konkretisierung der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen und integriert unterschiedliche Berechnungsmöglichkeiten in die Subsumtion, misst also die tatsächlich gewährten Steuererleichterungen an verschiedenen Bezugsgrößen. Eine offene Auseinandersetzung mit den methodischen Unsicherheiten bei der Berechnung der Referenzgröße ist erst in BVerfGE 91, 93 und 99, 246 beobachtbar.346 Die Konsequenzen des Gerichts (methodische Offenheit und gelockerte Bindung an das Sozialrecht) bedeuten zunächst die Anerkennung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums (BVerfGE 91, 93). In BVerfGE 99, 246 wird dann dessen in BVerfGE 99, 216 begonnene Verengung methodisch fortgeschrieben (methodische Vorgaben und Verengung der Bindung an das Sozialrecht). In BVerfGE 91, 93 liegt die Antwort des Bundesverfassungsgerichts in einer relativierten Bindung an die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen, nicht in der Präzisierung des Berechnungsverfahrens. „Der Betrag des zur Deckung des Existenzminimums objektiv erforderlichen Aufwands [lasse] […] sich nicht strikt mit dem Ergebnis einer Berechnung des durchschnittlichen Sozialhilfebedarfs nach einer bestimmten Methode gleichsetzen.“347 „Der durchschnittliche jährliche Sozialhilfebedarf [lasse sich] nur annäherungsweise ermitteln“. Das Gericht begreift die vom Bundesminister für Familie und Senioren zur Verfügung gestellten Rechenergebnisse348 als „Richtwerte“. Es flexibilisiert die Kopplung an das Sozialrecht über den oben genannten Pauschalisierungsspielraum hinaus. Die „zum Vergleich herangezogenen Richtwerte“ müssten evident unterschritten werden.349 Eine allgemeine numerische Grenze für eine noch bzw. nicht mehr zulässige Unterschreitung lasse sich nicht aufstellen, sondern hänge immer vom „Ausmaß der Un 345 BVerfGE 91, 93 (113, Zitat ebd.). In BVerfGE 99, 246 ergeben die Berechnungen des Bundesfinanzhofs (Vorlagebeschluss des III. Senats auf S.  251 ff.), der Bundesregierung (Stellungnahme auf S.  256 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts (Urteilsbegründung auf S. 262 ff.) jeweils unterschiedliche Beträge für die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen zu Gunsten von Kindern. 346 In beiden Fällen überprüft das Gericht die einfachgesetzlichen Regelungen zur Steuer­ entlastung von Eltern, indem es die Entlastungsbeträge den durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen zu Gunsten von Kindern gegenüberstellt. 347 BVerfGE 91, 93 (113). 348 Siehe BVerfGE 91, 93 (102 ff., 112). 349 BVerfGE 91, 93 (114, Zitate ebd.). „Die gesetzliche Regelung kann danach erst dann verfassungsrechtlich beanstandet werden, wenn die Unterschreitung der zum Vergleich herangezogenen Richtwerte ein Ausmaß erreicht, das selbst unter Berücksichtigung des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers und der in Betracht kommenden Ungenauigkeiten der Berechnung nicht mehr vertretbar erscheint.“

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

sicherheit“ bei der Generierung der jeweiligen Richtwerte ab.350 Bei den Berechnungen des Familienministeriums wird relevant, dass „tendenziell erhöhte  […] Werte […]“ für die durchschnittlichen Leistungen für die Unterkunft verwendet werden. Dies liegt an der Anwendung der „Pro-Kopf-“ an Stelle der „Mehrbedarfsmethode“.351 Das Bundesverfassungsgericht beziffert den Abweichungsspielraum des einfachen Gesetzgebers. Die ursprünglich eingeräumte Flexibilität bei der Beachtung der Referenzgröße wird dadurch teilweise zurückgenommen. „Jedenfalls kann aber bei Richtwerten, wie sie hier nach der Berechnung des Bundes­ ministers zum Vergleich herangezogen werden, die Verfassungswidrigkeit einer bestehenden Regelung noch nicht festgestellt werden, wenn diese Richtwerte um weniger als 15 vom Hundert unterschritten werden (vgl. auch BFHE 171, 534 [545]).“352

Einen entgegengesetzten Weg schlägt das Bundesverfassungsgericht in BVerf­ GE 99, 246 ein. Es konkretisiert punktuell die Berechnungsmethode für das im Sozialrecht durchschnittlich anerkannte Existenzminimum von Kindern: Der durchschnittliche Bedarf für die Unterkunft sei „nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln“.353 Die Kopplung des Steuerrechts an das Sozialrecht wird nicht mehr flexibel verstanden. Das Gericht verwirft nicht nur die 15 %-Toleranzgrenze, sondern gibt auch das Evidenzkriterium auf: „Den Bedarfszahlen liegen nicht durchschnittliche Richtwerte (so BVerfGE 91, 93 [112]), sondern nur der existenznotwendige Mindestbedarf zugrunde. Diese Bedarfsgrößen zur Feststellung der Existenzminima sind jeweils nur statistisch belegte Mindestbeträge, die deshalb zwar überschritten, aber nicht unterschritten werden dürfen […].“354 Entgegen dem ursprünglich eingeräumten Pauschalisierungsspielraum355 muss die Steuerverschonung nun „in allen Fällen“356, nicht nur „in möglichst allen Fällen“357 „den existenznotwendigen Bedarf abdecken“.358 Die Sozial 350

BVerfGE 91, 93 (114 f., Zitat S. 114). BVerfGE 91, 93 (113 f.); 99, 246 (263). 352 BVerfGE 91, 93 (115, Kursivsetzung durch Verf.). 353 BVerfGE 99, 246 (262 f., Zitat S. 262). 354 BVerfGE 99, 246 (263, Zitat ebd.). 355 Siehe die Ausführungen soeben unter A. II. 2. a) aa) in diesem Kapitel. 356 BVerfGE 99, 246 (261). 357 BVerfGE 82, 60 (91); 87, 153 (172). Während das Gericht dem Gesetzgeber in der Entscheidung im 82. Band noch großzügige Schranken zieht („der Gesetzgeber [dürfe sich] […] nicht an einem unteren Grenzwert oder an einem Durchschnittswert orientieren, der in einer größeren Zahl von Fällen nicht ausreichen würde“, S. 91), verweist es in BVerfGE 87, 153 bereits wie in BVerfGE 99, 246 (261) darauf, „kein Steuerpflichtiger [dürfe] […] infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen [werden] […], seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken.“ (S. 172). 358 BVerfGE 99, 246 (261). Wenn „in allen Fällen“ eine Steuerverschonung mindestens in Höhe des sozialrechtlichen Durchschnittsbedarfs gewährt werden muss, ist bei der Berechnung der tatsächlichen Entlastung des Steuerpflichtigen durch Kindergeld und -freibetrag sein persönlicher Grenzsteuersatz heranzuziehen. BVerfGE 99, 246 (263 ff.). In BVerfGE 91, 93 hält es das Bundesverfassungsgericht noch für ausreichend, dass bei bis zu einem Spitzensteuersatz von 45 % eine ausreichende Steuerentlastung gewährt wird. 351

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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hilfesätze sind eine zwingende Untergrenze für die Steuererleichterung. Bei der Subsumtion der einfachgesetzlichen Steuerverschonung kommt es nun nicht mehr auf eine Wertung an. Sie bedeutet einen rechnerischen Vergleich. dd) Tabellarische Auflistungen und numerische Vergleiche bei der Subsumtion In den Entscheidungen zum steuerfreien Existenzminimum erfolgt bei der Subsumtion ein numerischer Vergleich zwischen Prüfungsmaßstab und -gegenstand. Das Bundesverfassungsgericht wählt hierzu die tabellarische Darstellungsform und integriert zunächst unterschiedliche (außergerichtliche)  Berechnungsmethoden der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen und damit des verfassungsrechtlich mindestens geforderten steuerfreien Existenzminimums. Die Durchführung eines numerischen Vergleichs bedeutet zunächst nicht, dass das Verdikt der Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit der einfachgesetzlichen Steuererleichterungen letztlich auf einer Rechenleistung beruht. Sie müssen evident ungenügend sein und die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen nicht nur formal unterschreiten. Damit verbunden ist eine Wertung des Gerichts. In BVerfGE 82, 60 prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der Gesetzgeber seine Pflicht zur Gewährung einer Steuererleichterung zu Gunsten von Eltern in Höhe des Existenzminimums ihrer Kindern mit dem gem. § 10 Abs.  2 Bundes­ kindergeldgesetz (BKGG) a. F. gekürzten Kindergeld zuzüglich der Kinderfreibeträge im Einkommensteuerrecht „außer acht [lässt] […] oder [ihr] […] offensichtlich nicht genügt“.359 Es berechnet die tatsächlich gewährte jährliche Steuerentlastung (Umrechnung des Kindergelds in einen Freibetrag anhand verschiedener Steuer­quoten, Addition zum tatsächlich gewährten Kinderfreibetrag) und stellt sie in einer Tabelle gestaffelt nach der Anzahl der Kinder den verfassungsgemäßen monetären Erleichterungen gegenüber.360 Bei der Höhe des verfassungsrechtlich (mindestens) zu gewährenden Kinderexistenzminimums greift das Bundesverfassungsgericht auf einen Bericht der Besoldungskommission Bund/Länder vom 30. Januar 1984 zurück und unterscheidet zwischen den durchschnittlichen Gesamtleistungen an Sozialhilfe, dem statistischen Bedarf und dem tatsächlichen ­ erücksichtigung Unterhaltsaufwand.361 Die Gegenüberstellung ergebe auch bei B 359 Die steuerliche Entlastung von Eltern zur Sicherung einer leistungsgerechten Besteuerung erfolgt im sog. dualen System durch die Gewährung von Kinderfreibeträgen und Kindergeld. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Steuerentlastung wird nach der Darstellung des Bundesverfassungsgerichts wie folgt durchgeführt: „[…] das gekürzte Kindergeld [muss] in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerechnet und dann zusammen mit dem im Einkommensteuerrecht enthaltenen Freibetrag dem Betrag des Existenzminimums gegenübergestellt­ werden.“ BVerfGE 82, 60 (92, Zitat ebd.). Zur Beschränkung des Prüfungsumfangs BVerfGE 82, 60 (92). 360 BVerfGE 82, 60 (96). 361 BVerfGE 82, 60 (94 f.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

von „Unschärfen“ aufgrund der „schematische[n] Betrachtung“, „daß das gekürzte Kindergeld zusammen mit dem Kinderfreibetrag […] offensichtlich nicht ausreichte, um der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen mit Kindern in Höhe des Existenzminimums der Kinder Rechnung zu tragen“.362 In BVerfGE 87, 153 wählt das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung, ob der Grundfreibetrag des Einkommensteuerrechts363 das steuerverfassungsrechtlich zu berücksichtigende Existenzminimum abdeckt, ebenfalls die tabellarische Darstellung.364 Zur Bestimmung der durchschnittlichen jährlichen Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums greift es auf Berechnungen in der Vorlage des Finanzgerichts Münster (S. 160 ff.) und der Stellungnahme der Bundesregierung (S.  165 f.) zurück. „Die Gegenüberstellung [mit dem Grundfreibetrag] zeig[e], daß der durchschnittliche Sozialhilfebedarf jeweils deutlich über dem Grundfreibetrag liegt.“365 BVerfGE 91, 93 integriert bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des einfachgesetzlichen Familienlastenausgleichs ebenfalls eine „tabellarische Übersicht über die zu vergleichenden Beträge“.366 Hierbei handelt es sich um die aus Kindergeld und Kinderfreibeträgen errechneten „fiktiven Kinderfreibeträge“367 auf der einen und die durchschnittlichen Sozialhilfebeträge nach der Berechnung des Familienministeriums auf der anderen Seite, die das Bundesverfassungsgericht als „Richtwerte[…]“ begreift.368 Unter Berücksichtigung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers (15 %-Toleranzgrenze) sei „die Kürzung des Kindergeldes […] nicht zu beanstanden.“369 In BVerfGE 99, 246 überprüft das Bundesverfassungsgericht erneut die Höhe der Steuererleichterung durch Kinderfreibetrag und Kindergeld. Es behält die tabellarische Darstellungsform bei der Subsumtion bei370 und verzichtet nach der Präzisierung des Verfahrens zur Berechnung des Existenzminimums auf die Darstellung alternativer Berechnungsmethoden. Die Gegenüberstellung der sich bei verschiedenen Grenzsteuersätzen ergebenden tatsächlichen Steuererleichterungen und des verfassungsrechtlich anerkannten Bedarfs zur Existenzsicherung ergibt in

362

BVerfGE 82, 60 (95, Kursivsetzung durch Verf.). Nach BVerfGE 87, 153 trägt der Gesetzgeber der Steuerfreiheit des Existenzminimums auch dadurch Rechnung, dass „er zwangsläufige private Aufwendungen von der Bemessungsgrundlage abzieht […] und [die] […] höhere[…] Belastbarkeit der Steuerpflichtigen mit höherem Einkommen durch einen progressiven Tarif“ berücksichtigt (S. 170). Bei der Prüfung, ob im geltenden Einkommensteuerrecht mindestens der sozialrechtlich anerkannte Bedarf steuerfrei ist, stellt das Gericht dann aber allein auf den Grundfreibetrag ab (S. 173 ff.). 364 BVerfGE 87, 153 (174 f.). 365 BVerfGE 87, 153 (175, Kursivsetzung durch Verf.). 366 BVerfGE 91, 93 (112). 367 BVerfGE 91, 93 (113). 368 BVerfGE 91, 93 (112 ff., Zitat S. 112). 369 BVerfGE 91, 93 (116). 370 BVerfGE 99, 246 (266). 363

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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allen Fällen mit Ausnahme des Grenzsteuersatzes in Höhe von 30 % eine negative Differenz und damit nach Ansicht des Gerichts die Verfassungswidrigkeit der die Steuererleichterungen einräumenden einfachgesetzlichen Regelungen. b) Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen in den Entscheidungen zum steuerrechtlich zu berücksichtigenden Existenzminimum? aa) Unmittelbare Quantifizierung (1) Durch die Kopplung an die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen oder die Einbeziehung deren außergerichtlicher Berechnung? Das Bundesverfassungsgericht legt eine Untergrenze für die Steuerverschonung fest, indem es auf die durchschnittlich, einfachgesetzlich gewährten monetären Sozialhilfeleistungen verweist. Bereits diese Kopplung an das Sozialhilferecht könnte eine unmittelbare Quantifizierung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums bedeuten. Es müsste dadurch (zumindest näherungsweise) numerisch eingegrenzt werden. Problematisch erscheint, dass die durchschnittliche Unterstützung zum Lebensunterhalt – je nachdem, wie die verschiedenen Leistungen berechnet werden – unterschiedlich hoch ausfällt. Das Bundesverfassungsgericht legt keine Bandbreite verfassungsgemäßer Richtgrößen fest. Die unbestimmten Verfassungsvorgaben in Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG und deren Forderung nach einer Verschonung des Einkommens mindestens in Höhe des Existenzminimums werden daher auch bei der Angabe der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen in Zahlen nicht unmittelbar quantifiziert. Dies wird in BVerfGE 87, 153 (174 f.) deutlich. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich dort auf die Berechnungen der – neben dem Regelsatz – durchschnittlich gewährten laufenden und einmaligen Sozialhilfeleistungen durch das Finanzgericht Münster und die Bundesregierung. Die tabellarische Auflistung offenbart erhebliche Unterschiede der Ergebnisse.371 Aus der Sicht des Gerichts ist entscheidend, „daß der durchschnittliche Sozial­hilfebedarf jeweils deutlich über dem Grundfreibetrag liegt“.372 Es erklärt keine Berechnungsmethode für maßgeblich bzw. verhält sich auch nicht dazu, ob die unveränderte Übernahme einer der errechneten Gesamtleistungen als steuerrechtliches Existenzminimum verfassungskonform wäre. Die numerische Auflösung der maßgeblichen Leistungen bedeutet nicht die Festlegung von Richtwerten, von denen aus eine Spannbreite einer verfassungskonformen Steuerverschonung erkennbar wäre. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum erst mittelbar, wenn es den einfachgesetzlich gewährten Grundfreibetrag als verfassungswidrig bewertet. Die Quantifizierung erfolgt mit der Subsumtion der konkret gewährten Steuererleichterungen. Auch in BVerfGE 82, 60 (96) wird das steuer 371

BVerfGE 87, 153 (174 f.). BVerfGE 87, 153 (175, Kursivsetzung durch Verf.).

372

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

rechtlich zu verschonende Existenzminimum von Kindern mittelbar quantifiziert. Das Bundesverfassungsgericht beziffert zwar die „durchschnittl. jährl. Sozialhilfeleistungen“ und legt sich im Gegensatz zu BVerfGE 87, 153 auf einen Wert fest. Es nennt aber auch den „durchschnittl. jährl. Unterhaltsaufwand“373 als „aufschlussreich für die Vergleichsrechnung“374. Eine unmittelbare numerische Bestimmung ist darin noch weniger erkennbar als in BVerfGE 87, 153. Der Wechsel von einer mittelbaren zur unmittelbaren Quantifizierung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums durch die Einbeziehung außer­ gerichtlicher Berechnungen der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen erfolgt in BVerfGE 91, 93. Die Angabe der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen nach der Berechnung des Familienministeriums bedeutet eine unmittelbare Quantifizierung, denn das Bundesverfassungsgericht verwendet sie ausdrücklich „im Sinne von Richtwerten“.375 Es beziffert außerdem die Bandbreite verfassungsgemäßer Abweichungen von den sozialrechtlichen Referenzgrößen. Es wird dadurch einerseits die Bindungsintensität der in Bezug genommenen „Richtwerte[…]“,376 andererseits der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers numerisch präzisiert: „Jedenfalls kann aber bei Richtwerten, wie sie hier nach der Berechnung des Bundesministers zum Vergleich herangezogen werden, die Verfassungswidrigkeit einer bestehenden Regelung noch nicht festgestellt werden, wenn diese Richtwerte um weniger als 15 vom Hundert unterschritten werden […].“377 Auch in BVerfGE 99, 246 wird das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum unmittelbar quantifiziert. Wie in den vorherigen Entscheidungen liegt eine Quantifizierung nicht bereits in der Maßgeblichkeit der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen für die Höhe der Steuerverschonung. Das Bundesverfassungsgericht präzisiert zwar das Berechnungsverfahren der sozialhilferechtlichen Referenzgröße, dabei handelt es sich jedoch nur um eine punktuelle Verfahrensvorgabe. Sie betrifft allein die Berechnung der durchschnittlichen Leistungen für den Wohnbedarf. Das Bundesverfassungsgericht verhält sich nicht zu den Berechnungsmethoden weiterer Posten wie den Heizkosten378 und einmaligen Leistungen. Der Verweis auf die einfachgesetzlichen Sozialhilfeleistungen bedeutet nicht die Nachzeichnung einer numerischen Bandbreite verfassungsgemäßer Steuererleichterungen zur Berücksichtigung des Existenzminimums, denn die Höhe der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen differiert weiterhin je nach Berechnungsmethode.379 Das Bundesverfassungsgericht rekurriert bei den weiteren­ 373

Zitate BVerfGE 82, 60 (96). BVerfGE 82, 60 (94, Kursivsetzung durch Verf.). 375 BVerfGE 91, 93 (112). 376 BVerfGE 91, 93 (112). 377 BVerfGE 91, 93 (115). 378 Zu den unterschiedlichen Berechnungsmethoden BVerfGE 99, 246 (252 f.). 379 Siehe die unterschiedlichen durch den vorlegenden Bundesfinanzhof und die Stellung nehmende Bundesregierung errechneten relevanten Sozialhilfeleistungen für Kinder in BVerfGE 99, 246 (253, 257). 374

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Bestandteilen der Sozialhilfeleistungen zu Gunsten von Kindern auf die in der Stellungnahme der Bundesregierung beigebrachten Daten, ohne ihre methodische Generierung für verfassungskonform zu erklären.380 Allerdings verhält es sich zum Ergebnis der Berechnungen der Bundesregierung (, das nur in Bezug auf den Wohnbedarf nach der Mehrbedarfsmethode korrigiert wird): Ein „Existenzminimum in Höhe von 4.416 DM“ ist „von Verfassungs wegen zu berück­ sichtigen […]“.381

Dadurch wird das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum punktuell, unmittelbar verfassungsgerichtlich quantifiziert. Die unmittelbaren Quantifizierungen des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums sind sowohl in BVerfGE 91, 93 als auch in BVerfGE 99, 246 heteronom und unterscheiden sich dadurch etwa vom steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich auf außerverfassungsgerichtliche Quantifizierungen: Für das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum ist nicht nur die Quantifizierung des Existenzminimums durch den Sozialgesetzgeber maßgeblich, das Gericht übernimmt auch (weitgehend) die Berechnung der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen durch das Familienministerium bzw. die Bundesregierung. In BVerfGE 91, 93 und 99, 246 erfolgt nach der unmittelbaren keine mittelbare Quantifizierung durch die Subsumtion der einfachgesetzlich tatsächlich gewährten Steuererleichterungen, denn sie führt nicht zu einer weitergehenden numerischen Präzisierung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums. Dies liegt in BVerfGE 99, 246 schon daran, dass die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen – wie sie die Bundesregierung ermittelt hat – als (Mindest-)Betrag für die Steuerentlastung herangezogen werden. In künftigen Entscheidungen wird zur Bestimmung des steuerrechtlichen Kinderexistenzminimums der Rückgriff auf die durchschnittlichen, einfachgesetzlichen Sozialhilfeleistungen jedenfalls nicht mehr zur Quantifizierung ausreichen, denn das Bundesverfassungsgericht hat in BVerfGE 99, 216 auch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf für relevant erklärt. (2) Durch die Festlegung konkreter Entlastungsbeträge als Übergangsregelung In BVerfGE 99, 216 beziffert das Bundesverfassungsgericht für den Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers innerhalb der festgesetzten Fristen den Betreuungsund Erziehungsbedarf, der nach Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG bei Steuerpflichtigen mit Kindern zu berücksichtigen ist.382 Es quantifiziert damit bei der Festlegung der

380

BVerfGE 99, 246 (265). BVerfGE 99, 246 (265). 382 BVerfGE 99, 216 (245). 381

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Rechtsfolgen die unbestimmten Verfassungsvorgaben unmittelbar und an Stelle des parlamentarischen Gesetzgebers.383 Das Gericht trifft eine Übergangsregelung, die es in anderen Entscheidungen explizit auf § 35 BVerfGG stützt.384 Es fehlt nicht nur eine explizite methodisch Rückbindung der Beträge an die unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben und die hieraus abgeleitete Forderung der steuerrechtlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuung und Erziehungsbedarf, den Übergangsregelungen geht außerdem keine detailliert gestufte Konkretisierung der Verfassung voraus wie sie bei anderen bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen beobachtbar ist.385 Aus der Kompetenzübernahme folgt die methodische Forderung, sich an den Gestaltungsvorstellungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu orientieren.386 Dem wird das Bundesverfassungsgericht bei den Kinderbetreuungskosten in der Sache gerecht, indem es die bislang zu Gunsten erwerbstätiger Alleinstehender geltende einfachgesetzliche Regelung (§ 33c Abs. 3 Einkommensteuergesetz [EStG]387) übernimmt und ihren persönlichen Anwendungsbereich ausdehnt. Bei der Übergangsregelung zur Berücksichtigung der Erziehungsleistungen (5.616 DM) orientiert es sich „zahlenmäßig[…]“388 am bislang nur Alleinstehenden gewährten einfachgesetzlichen Haushaltsfreibetrag (§ 32 Abs. 3389 bzw. 7390 EStG) in Höhe von 4.212 DM bzw. 4.536 DM. Die merkliche Überschreitung begründet das Bundesverfassungsgericht nicht. Sie erscheint selbst bei Berücksichtigung von Preissteigerungen auch insofern nicht nachvollziehbar, als das Bundesverfassungsgericht in derselben Entscheidung konstatiert, 383 Malte Graßhof spricht von Regelungen „mit gesetzesvertretendem Charakter“ und von einer „Normgebung durch das Bundesverfassungsgericht“. Ders., in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 72, 80 (Zitate ebd.). 384 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn.  72, 83. Eine alternative Regelung für den Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers trifft das Bundesverfassungsgericht, wenn es die Hartz IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Es bestimmt dort, dass eine parlamentarische Neuregelung nach Fristablauf rückwirkend in Kraft zu setzen ist. BVerfGE 125, 175 (258 f.). 385 Siehe etwa die stufenweise qualitative, quantitative und numerische Konkretisierung der Verfassungsvorgaben zum horizontalen Länderfinanzausgleich (Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG) durch das Bundesverfassungsgericht, die insbesondere in Bezug auf die geforderte Angemessenheit des Ausgleichs zu beobachten ist (hierzu unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils). 386 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 79. 387 In der Form des Art.  3 Nr.  19 des Steuerbereinigungsgesetzes 1985 (BGBl. I 1984, S.  1493) bzw. des Art.  1 Nr.  13 des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 (BGBl. I 1985, S. 1153). Siehe BVerfGE 99, 216 (220). 388 BVerfGE 99, 216 (242). 389 EStG in der Form der Bekanntmachung der Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 24. Januar 1984 (BGBl. I, S. 113), siehe BVerfGE 99, 216 (222 f.). 390 EStG in der Form der Bekanntmachung der Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 15. April 1986 (BGBl. I, S. 441), siehe BVerfGE 99, 216 (223).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

223

dass das Einkommensteuerrecht „im ‚Haushaltsfreibetrag‘ […] einen kindbedingten Zusatzbedarf [berücksichtigt], der […] [den Erziehungsbedarf] des Kindes im rechnerischen Ergebnis abdeckt.“391 Die Höhe der verfassungsrechtlich geforderten Freistellung des Erziehungsbedarfs im Steuerrecht wird dadurch bereits mittelbar quantifiziert. bb) Abgrenzung: Tatsachenbeschreibung in Zahlen durch Ermittlung der tatsächlich gewährten Steuerentlastungen und Sozialleistungen Bei der Auflistung der Grundfreibeträge in BVerfGE 87, 153392 und der Berechnung der Steuerentlastung für Kinder in BVerfGE 82, 60;393 91, 93;394 99, 246395 handelt es sich wie bei den finanzwirtschaftlichen Daten in den Entscheidungen zum Finanzausgleich zunächst nur um tatsächliche numerische Erhebungen zur Konkretisierung des Prüfungsgegenstands. Die Ermittlung und Darstellung der Zahlen bedeutet keine verfassungsgerichtliche Quantifizierung.396 Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen liegen zunächst auch dann nicht vor, wenn die durch den Sozialgesetzgeber tatsächlich gewährten Hilfeleistungen berechnet werden. Die durchschnittlichen Sozialleistungen quantifizieren den Prüfungsmaßstab erst (unmittelbar), wenn sie als Richtgrößen397 oder als von Verfassungs wegen auch im Steuerrecht zu berücksichtigende Beträge398 in Bezug genommen werden. Bei der Subsumtion der durch den Steuergesetzgeber zur Verschonung des Existenzminimums gewährten Erleichterungen können wie in BVerfGE 82, 60 und 87, 153 mittelbare Quantifizierungen vorliegen. cc) Verfahrensvorgaben zur Berücksichtigung des Existenzminimums bei der Berechnung der Steuerschuld Das Bundesverfassungsgericht formuliert in den Entscheidungen Verfahrensvorgaben, die die Verschonung existenzsichernder Aufwendungen bei der Berechnung der Steuerschuld betreffen. Sie haben Einfluss auf die Höhe der Steuerschuld, es werden aber nicht unbestimmte Verfassungsbestimmungen numerisch konkretisiert. Für die Bemessung des Existenzminimums im Steuerrecht, d. h. die Quantifizierung der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG, sind die Verfahrensvorgaben nicht 391

BVerfGE 99, 216 (241). Ebd., S. 174 f. 393 Ebd., S. 95 f. 394 Ebd., S. 112. 395 Ebd., S. 266. 396 Zum Finanzausgleichsrecht siehe die Ausführungen unter A. I. 6. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 397 BVerfGE 91, 93 (112). 398 BVerfGE 99, 246 (265). 392

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

relevant. Es handelt sich nicht um verfassungsgerichtliche Quantifizierungen und sie sind auch nicht als mögliche Umgehung einer verfassungsgerichtlichen Quantifizierung zu erörtern. Eine solche Umgehung kommt nur dann in Betracht, wenn das Verfahrensergebnis in Zahlen gefasst ist und vom Bundesverfassungsgericht am Maßstab der Verfassung überprüft wird. In den vorliegenden Entscheidungen steht nicht die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Steuerschuld, sondern die der Steuererleichterungen zur Existenzsicherung in Frage.399

III. Hartz IV-Regelleistungen Am 9.  Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) überprüft das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelsätze der neu geschaffenen Grundsicherung für Erwerbsfähige. Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (sog. Hartz  IV-Gesetz)400 führt 2005 die vormals getrennte Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) als­ 399 Je nachdem, ob es sich um das Existenzminimum des Steuerpflichtigen selbst oder seiner unterhaltsberechtigten Familienmitglieder handelt, stellt das Gericht unterschiedliche Verfahrensvorgaben auf. Unterhaltspflichten des Steuerpflichtigen mindern seine steuerliche Leistungsfähigkeit im Vergleich zu unterhaltsunbelasteten Steuerpflichtigen. Nach BVerfGE 82, 60 (87) muss daher das Kinderexistenzminimum von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen werden („als besteuerbares Einkommen außer Betracht lassen“). Es genüge nicht, dass der Steuerpflichtige nach Steuern über die Mittel zur Erfüllung seiner Unterhaltspflichten verfügt. BVerfGE 82, 60 (86, 90). Rainer Wernsmann, BVerfGE 82, 60  – Steuerfreies Existenzminimum, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S.  447 (451 f.). Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht fordert zwar auch die Steuerfreiheit des Existenzminimums des Steuerpflichtigen. Im Gegensatz zu den Unterhaltspflichten sind jedoch alle Steuerpflichtigen betroffen. BVerfGE 91, 93 (108 ff.). Die Berücksichtigung des Existenzminimums bei der Besteuerung ist dann keine Frage der Belastungsgleichheit und der Abzug von der Bemessungsgrundlage nicht zwingend. Der Steuerpflichtige muss nach Begleichung seiner Einkommensteuerschuld noch über Mittel in Höhe des Existenzminimums verfügen. BVerfGE 87, 153 (169 f.: „Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder Steuerpflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Existenzminimum bemessenen Freibetrags verschont werden muß. In welcher Weise der Gesetzgeber dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe Rechnung trägt, ist ihm überlassen.“). Wenn das geltende Einkommensteuerrecht (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) das Existenzminimum als Grundfreibetrag berücksichtigt, das Existenzminimum als „Rechenposten“ (BVerfGE 91, 93 [108 ff.]) angesichts des progressiven Tarifverlaufs also „schrittweise kompensiert wird“ (BVerfGE 87, 153 [170)], ist dies verfassungsgemäß. Zu § 32a Abs.  1 Satz 2 Nr. 1 EStG auch Rainer Wernsmann, BVerfGE 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 447 (449 f.). 400 Die Begrifflichkeit des Hartz  IV-Gesetzes, der Hartz  IV-Regelleistungen etc. geht auf­ Peter Hartz zurück. Er leitete die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, deren Vorschläge zur Reform des Arbeitsmarktes ab 2003 sukzessive vom Gesetzgeber umgesetzt wurden. Karsten Schneider, BVerfGE 125, 175 – Hartz IV, in: Jörg Menzel/Ralf MüllerTerpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 885 (ebd.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

225

Arbeitslosengeld II (ALG II) zusammen.401 Leistungen werden demnach weitgehend pauschalisiert gewährt.402 Die Grundsicherung umfasst eine Regelleistung, Leistungen für Unterkunft und Heizung und nur noch in Ausnahmefällen einmalige Beihilfen für besonderen Bedarf.403 Die verfassungsgerichtlichen Vorgaben für die Höhe der Regelleistungen werden in unterschiedlichen Sachbereichen relevant. In einem Urteil vom 18.  Juli 2012 (BVerfGE 132, 134) bestimmt das Bundesverfassungsgericht, dass die Regelleistung nach dem SGB II, XII übergangsweise anstelle der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren ist.404 Es koppelt also verschiedene Sozialleistungen,405 auch soweit dies nicht einfachgesetzlich explizit angeordnet ist,406 aneinander. Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem vor den Hartz IV-Reformen entschieden, dass die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen Bezugsgröße für andere monetäre verfassungsrechtliche Abwehr- bzw. Leistungsansprüche gegenüber dem Staat sind. Es macht sie zur Grundlage weiterer verfassungsrechtlicher Quantifizierungen im Sachbereich „Geld“. Eine erste Schaltstelle findet sich im Steuerverfassungsrecht. Auch dort stellt sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Höhe des Existenzminimums.407 Der 401 Nicht erwerbsfähige, mit ALG II-Empfängern in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Familienangehörige erhalten nach der Reform Sozialgeld. Es wird weiterhin Sozialhilfe gewährt (SGB XII). Leistungsberechtigt sind Bedürftige im Rentenalter oder Erwerbsunfähige. Lothar Schneider, Grundsicherung für Arbeitssuchende  – SGB II, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/ Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 4 Rn. 1 f., 7 f., 109. Ders., Sozialhilfe – SGB XII, ebd., Kapitel 15 Rn. 2, 6, 8.  402 Karsten Schneider, BVerfGE 125, 175 – Hartz IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 885 (885 f.). 403 In den gesetzlich geregelten Sonderfällen wird außerdem ein Mehrbedarf (§ 21 SGB II), etwa für Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II), gewährt. Lothar Schneider, Grundsicherung für Arbeitssuchende  – SGB II, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 4 Rn. 107, 119 ff. 404 Siehe die Ausführungen unter A. III. 3. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 405 Siehe den Überblick bei Lothar Schneider, Sozialhilfe  – SGB XII, in: Rupert Hassel/­ Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 15 Rn. 5 ff. 406 Das SGB II verweist zum Beispiel zur Bestimmung der Regelleistung auf SGB XII i. V. m. der Regelsatzverordnung. Nach den von BVerfGE 125, 175 geforderten Reformen bestimmt sich der Regelbedarf weiterhin nach dem SGB XII. Statt der Regelsatzverordnung gilt nun ein sog. Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen (RBEG). Lothar Schneider, Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 4 Rn. 111 f. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Fn. 414 im dritten Teil. 407 Der Begriff des „Existenzminimums“ findet sich nicht im geschriebenen Verfassungstext. Er wird zum ersten Mal in BVerfGE 6, 55 (70) verwendet und findet erst im Nachgang der Verfassungsrechtsprechung Eingang in einfachgesetzliche Regelungen. Andreas v. Arnauld schreibt dem verfassungsgerichtlichen Begriff „integrierende Direktivkraft“ hinsichtlich der impliziten und expliziten einfachgesetzlichen Regelungen des Existenzminimums zu. Ders., Das Existenzminimum, in: ders./Andreas Musil (Hrsg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, S. 251 (263 ff., Zitat S. 264).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Staat ­sichert das Existenzminimum nicht nur über staatliche Leistungen im Sozialrecht, sondern auch über die Freistellung von der Besteuerung im Einkommensteuerrecht. Das Bundesverfassungsgericht koppelt das Steuerverfassungsrecht an das Sozialrecht: Zur Sicherung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen muss ein Betrag mindestens in der Höhe der einfachgesetzlichen Sozialhilfeleistungen steuerlich verschont werden.408 Anders verhält sich der Zusammenhang der einfachgesetzlichen Sozialhilfeleistungen zur Beamtenbesoldung. Hier formuliert das Gericht ein Abstandsgebot der Kinderzuschläge zu den Sozialhilfeleistungen, denn sie sollen über die Existenzsicherung hinaus eine amtsangemessene Alimentation sicherstellen.409 Nach den Hartz IV-Reformen existiert die Sozialhilfe zwar weiterhin neben dem Arbeitslosengeld II, sie hat jedoch im Zuge der Inkorporation des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in das SGB XII410 inhaltliche Änderungen erfahren.411 Es ist gleichwohl davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht auch aktuell zur Bestimmung der verfassungsgemäßen Höhe des steuerfreien Existenzminimums und der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte auf die Sozialhilfe Bezug nimmt, denn sie gewährt jenseits von Sondersituationen wie der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt oder des Asylgesuchs ein Minimum sozialer Sicherung. Es handelt sich unverändert um das „das Basis­ system aller Sozialleistungen“.412 Die geforderte Orientierung des Gesetzgebers an den Sozialhilfeleistungen in unterschiedlichen Sachbereichen „verstärkt den politischen Druck auf die Bedarfssätze“.413 Es erklärt sich vor diesem Hintergrund die besondere Bedeutung der Hartz  IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sie betrifft zwar die Regelleistungen des ALG II, für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung des steuerrechtlichen Existenzminimums und der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte ist sie wegen der weitgehenden Paralle­lität der Sozialhilfeleistungen und des ALG II dennoch relevant.

408

Siehe die Ausführungen unter A. II. 2. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. Siehe die Ausführungen unter A. V. im 2. Kapitel des dritten Teils. 410 Lothar Schneider, Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 4 Rn. 1. Ders., Sozialhilfe – SGB XII, ebd., Kapitel 15 Rn. 2. Zur Abgrenzung von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe siehe Fn. 401 im dritten Teil. 411 Es unterscheidet sich u. a. der Kreis der Leistungsberechtigten. Siehe Fn.  401 im dritten Teil und Lothar Schneider, Sozialhilfe – SGB XII, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-­ Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3.  Aufl. 2012, Kapitel  15 Rn. 2 f. 412 Zitat Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1. Nach Bieback u. Stahlmann handelt es sich weitergehend als nach der Verfassungsrechtsprechung bei den „Bedarfssätze[n] im Sozialhilferecht [um] […] Mindeststandards für alle anderen an realen Bedarfen orientierten staatlichen Förderleistungen“ (ebd., S. 1). Sie habe „maßstabsetzende Funktion“ für „andere[…] bedarfsbezogene[…] Lebensunterhaltssicherungen“ (ebd., S. 7). Diese schlüsseln sie auf S. 7 ff. näher auf. 413 Volker Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, NVwZ 1995, S. 426 (ebd.). 409

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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1. Zahlen und Zahlenbezug in der Entscheidung vom 9. Februar 2010 a) Evidenzkontrolle der Leistungshöhe In einem Urteil vom 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) überprüft das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelleistungen, die nach dem SGB II dem erwerbsfähigen Berechtigten sowie Partnern und Kindern (unter 14 Jahren) derselben Bedarfsgemeinschaft gewährt werden.414 Prüfungsmaßstab ist Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 1 GG. Er vereint mit der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip als verfassungsrechtlicher Grundentscheidung415 höchst unbestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben. Demnach muss der Einzelne über die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein“ verfügen, der Staat „erforderlichenfalls […] Sozialleistungen“ gewähren.416 Ein Novum der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 125. Band gegenüber seiner vorherigen Recht­ sprechung liegt darin, dass jedem Hilfsbedürftigen außerdem ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums zukommt.417 414 Die Überprüfung der Regelleistungen erfolgt im Verfahren der konkreten Normenkontrolle. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit von § 20 Abs. 2 Halbsatz 1, Abs. 3 Satz 1 und § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Halbsatz 1 SGB II in der Fassung der ursprünglichen Hartz IV-Reform­ gesetzgebung (Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003). Das SGB II selbst enthält keine Vorschriften zur Bemessung der Regelleistung, sondern verweist auf die Regelsatzverordnung (heute: Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen, RBEG) im Sozialhilferecht, § 28 bzw. 28a SGB XII. § 20 Abs. 2 SGB II normiert die Höhe des Leistungsanspruchs des erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen. Die Ansprüche von Mitgliedern derselben Bedarfsgemeinschaft werden in (prozentualer) Abhängigkeit von der Regelleistung des Hauptleistungsberechtigten bestimmt. Abs. 3 Satz 1 regelt den Fall, dass der Hilfsbedürftige mit einem (volljährigen) Partner in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Beide erhalten dann 90 % der Regelleistung nach Abs. 2. Kinder in der Bedarfsgemeinschaft erhalten nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Halbsatz 1 SGB II bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres pauschal 60 % der Regelleistung nach Abs. 2. Hierzu BVerfGE 125, 175 (178 ff.); Lothar Schneider, Grundsicherung für Arbeitssuchende  – SGB II, in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 4 Rn. 108 ff. 415 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 1 ff. u. § 8 Rn. 59 ff. 416 BVerfGE 82, 60 (85). 417 Als das Bundesverfassungsgericht die Höhe des steuerverfassungsrechtlich zu verschonenden Existenzminimums an die einfachgesetzlichen Sozialleistungen koppelt, besteht noch ein Gefälle in der Rechtsstellung des Grundrechtsträgers. Während der Steuerpflichtige aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG (siehe die Ausführungen unter A. II. 2. und A. II. 2. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils) über einen Abwehranspruch in Höhe des sozialrechtlichen Existenzminimums verfügt, ist die sozialverfassungsrechtliche Existenzsicherung in der Verfassungsrechtsprechung nur in ihrer objektivrechtlichen Dimension anerkannt. BVerfGE 125, 175 verstärkt den Gleichklang zwischen Steuer- und Sozialverfassungsrecht, indem es den steuerverfassungsrechtlichen Abwehranspruch um einen spiegelbildlichen Leistungsanspruch auf Gewährung des Existenzminimums nebst einem Anspruch auf einfachgesetzliche Konkretisierung aus Art.  1 Abs.  1, 20 Abs.  1 GG ergänzt. BVerfGE 125, 175 (222 f.). Karsten Schneider, BVerfGE 125, 175 – Hartz IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2.  Aufl. 2011, S.  885 (889 f.); Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S.  81 (82).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Nach der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts gibt die Verfassung keinen numerisch bestimmten Geldleistungsanspruch vor („Der Umfang dieses Anspruchs kann […] nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.“; „das Grundgesetz selbst [erlaubt] keine exakte Bezifferung des Anspruchs“418). Das Gericht schreibt die Höhe des sozialrechtlich zu sichernden Existenzminimums nicht als „unantastbar[en]“ Gehalt der Verfassung fest.419 Es weist vielmehr dem Gesetzgeber die Kompetenz zur Konkretisierung des Leistungsanspruch aus Art.  1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG zu.420 Er verfüge bei der Festlegung der Leistungshöhe über einen Gestaltungsspielraum.421 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies in BVerfGE 125, 175 nicht mit der Unbestimmtheit des Prüfungsmaßstabs. Es stellt darauf ab, dass der zur Existenzsicherung notwendige Leistungsumfang von den – einem steten Wandel unterworfenen – tatsächlichen Umständen abhänge.422 Es besteht insoweit eine Parallele zwischen der Hartz IV-Entscheidung und der bundesverfassungsgerichtlichen Konkretisierung des steuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums.423 Der Leistungsumfang lasse sich auf Tatsachenebene nicht lückenlos berechnen, sondern beruhe auf Wertungen. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers „umfass[e] die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs“.424 Oliver Lepsius kritisiert die fehlende Begründung durch das Bundesverfassungsgericht und die Verdeckung dieser Leerstelle durch die Zusammenschau früherer Entscheidungen unter Ausblendung ihrer Streitgegenstände. Ders., Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (231 ff.). Der in der Literatur konstatierte Sprung im Schutzniveau des Grundrechtspflichtigen findet in der Entscheidung keinen expliziten Niederschlag. Aus der Perspektive des Gerichts setzt sich die Entscheidung nicht durch die Anerkennung eines „neuen“ Grundrechts, sondern die Aufstellung von verfassungsrechtlichen Bemessungskriterien für Sozialleistungen von der bisherigen Rechtsprechung ab. BVerfGE 125, 175 (258); so auch nachfolgende Kammerentscheidungen. Dazu Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (81 f.). 418 BVerfGE 125, 175 (224 ff.). Siehe bereits BVerfGE 110, 412 (445): „Angesichts der Weite und Unbestimmtheit dieses Prinzips [des Sozialstaatsprinzips] lässt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren (vgl. BVerfGE 94, 241 [263] m. w. N.; stRspr).“ 419 Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S.  81 (83, Zitat ebd.). 420 BVerfGE 125, 175 (222, 223 f.). 421 BVerfGE 125, 175 (224 f.). 422 Der Gesetzgeber habe sich am „Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen“ (S. 222) zu orientieren. Der Leistungsumfang „häng[e] von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab“ (S. 224). 423 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. II. 2. a) im 2. Kapitel des dritten Teils und ­Matthias Herdegen, in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. 1, Loseblattsammlung, Stand: 55. Ergänzungslieferung Mai 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 121: „Das Maß menschenwürdiger Existenzstandards entzieht sich einer unabänderlichen Fixierung; denn es wird sowohl von sich wandelnden gesellschaftlichen Anschauungen als auch von der technologischen Entwicklung und der schwankenden Leistungskraft des modernen Sozialstaats bestimmt.“ 424 BVerfGE 125, 175 (224 f., Zitat ebd.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Dem einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraum entspricht (bei der Ergebniskontrolle) eine zurückgenommene Prüfungsintensität.425 Das Bundesverfassungsgericht bestimmt die Grenzen des Spielraums, indem es den Prüfungsmaßstab wie in den Entscheidungen zum Finanzausgleich gestuft – erst qualitativ, dann quantitativ – konkretisiert, über eine quantitative Beschreibungsebene aber nicht hinaus geht. Die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers bei der verfassungsrechtlichen Quantifizierung wird nicht numerisch begrenzt. Das Gericht prüft außerdem allein eine „defizitäre Gestaltung“.426 Der Mindestumfang an Leistungen wird restriktiv bemessen. Der einfache Gesetzgeber müsse nur die „unbedingt erforderlich[en]“ „Mittel“ gewähren.427 Das Bundesverfassungsgericht stellt aber auch klar: Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG sichern das „gesamte Existenzminimum“.428 Das Gericht kategorisiert auf der nächsten Konkretisierungsstufe den geschützten Bedarf: Hilfsbedürftigen müssten Leistungen zur Sicherung der „physische[n]“ und sozialen „Existenz“ gewährt werden.429 Der restriktive Zuschnitt der Leistungen wird im Hinblick auf das soziale Existenzminimum terminologisch sichtbar. Der Leistungsanspruch sei so zu bemessen, dass er die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst“.430 Stephan Rixen folgert hieraus einen „Nachrang […] der soziokulturellen Existenzbedingungen“ insgesamt.431 Mit seiner Deutung harmonisieren die weiteren Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, das nur in Bezug auf die Weite des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums einen expliziten Unterschied zwischen physischem und sozialem Existenzminimum macht. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sei „enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert und weiter, wo es um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.“432 425

Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (83). BVerfGE 125, 175 (224). 427 „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreck[e] sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Existenzminimums unbedingt erforderlich [seien].“ BVerfGE 125, 175 (223). Siehe hierzu Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (82): „‚Unbedingt erforderlich‘ signalisiert, dass das Niveau der beanspruchbaren Leistungen von Verfassungs wegen nicht großzügig bemessen ist. Der normative Rahmen dessen, was durch den Gesetzgeber im Rahmen des Gestaltungsspielraums […] konkretisiert werden kann, ist eng.“ Von einem „eng[en]“ „normativen Rahmen“ zu sprechen ist irreführend, denn den Gesetzgeber beschränkt nur eine verfassungsrechtliche Untergrenze, deren Verletzung überdies anhand großzügiger Kriterien überprüft wird (siehe hierzu die weiteren Ausführungen im Haupttext). 428 BVerfGE 125, 175 (223 f., Zitate S. 223). 429 BVerfGE 125, 175 (223, Zitat ebd.). 430 BVerfGE 125, 175 (223, Kursivsetzung durch Verf.). 431 Ders., Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (83). 432 BVerfGE 125, 175 (225). 426

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

„Die materielle [quantitative] Kontrolle [auf der Grundlage der genannten qualitativen Vorgaben beschränkt sich] darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind […].“433 Die „Negativevidenzprüfung“434 entspricht der Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Prüfung auf eine „defizitäre Gestaltung“.435 Das Bundesverfassungsgericht umschreibt die Untergrenze für die einfachgesetzlich gewährten Leistungen mit einem unbestimmten quantitativen Kriterium („unzureichend“). Durch das Erfordernis der Evidenz („evident unzureichend“) wird die Untergrenze für die Leistungsgewährung zu Gunsten des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers nochmals verschoben. Kriterien für die Evidenzprüfung, die über die konkrete Reichweite des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums fallübergreifend Auskunft geben, fehlen.436 Das Bundesverfassungsgericht zeichnet die Untergrenze des Gestaltungsspielraums insbesondere nicht numerisch nach und belässt damit „den unverhandelbaren Kern sozialstaatlicher Sicherung“ innerhalb des „im Einzelnen […] flexible[n] […] Konzept[s]“ des Existenzminimums437 im Unscharfen.438 Nach dem Ausschluss einer verfassungsrechtlich verankerten, numerisch bestimmten Leistungshöhe ist dies konsequent. Wenn sich Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG nicht positiv zu einer bestimmten (Mindest-)Leistungshöhe quantifizieren lassen, muss dies auch negativ gewendet für die Untergrenze der verfassungsgemäßen Leistungsgewährung gelten. Denn Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG gewähren dem Hilfsbedürftigen nur die unbedingt erforderlichen Leistungen. Die Achtung des einfachgesetzlichen Entscheidungsspielraums äußert sich in BVerfGE 125, 175 nicht nur durch die negative Formulierung des quantitativen Prüfungskriteriums, sondern auch durch den Verzicht auf eine unmittelbare Quantifizierung, d. h. numerische Vorgaben. Numerische Aussagen des Bundesverfassungsgerichts finden sich erst bei der Subsumtion: „Die in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von gerundet 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend erkannt werden.“439 433

BVerfGE 125, 175 (226, Zitat ebd.). Sozialgericht Berlin, Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vom 25.  April 2012  – S 55 AS 9238/12 –, http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/s_55_as_9238.12.html (abgerufen am 2.5.2012), Kursivsetzung durch Verf. 435 BVerfGE 125, 175 (224). 436 „Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ist entsprechend zurückgenommen, wobei die Kriterien, die erkennen lassen, wie weit oder wie eng der Gestaltungsspielraum ist, im Dunkeln bleiben, also vom BVerfG im Fall des Falles erst noch anlassbedingt entwickelt werden können.“ Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (83, siehe auch S. 86: „unstreitige Kriterien der Evidenz fehlen“). 437 Andreas v. Arnauld, Das Existenzminimum, in: ders./Andreas Musil (Hrsg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, S. 251 (265). 438 Siehe auch Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (87). 439 BVerfGE 125, 175 (229). Warum die genannten Beträge nicht evident unzureichend sind, wird für die Regelleistung des Hauptleistungsempfängers (345 Euro), für Partner in der Bedarfsgemeinschaft (311 Euro) und Kinder unter 14 Jahren (207 Euro) auf S. 229 f., 230 f. u. 231 f. 434

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Das Gericht wird seiner zurückgenommenen Konkretisierungsintensität bei der „Maßstabbildung“440 auch im Entscheidungsausspruch gerecht. Demnach muss der Gesetzgeber die Regelleistungen nach dem SGB II wegen der Verfassungswidrigkeit ihrer Bemessung neu bestimmen. Das Gericht nimmt indes das Ergebnis nicht vorweg und trifft auch für den Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers innerhalb der ihm gesetzten Frist keine Regelung über die Leistungshöhe.441 b) Verfahrensvorgaben für die Bemessung der Regelleistungen Das Bundesverfassungsgericht sucht die fehlende Formulierung numerischer Vorgaben und eingeschränkte Ergebniskontrolle durch eine erhöhte Prüfungsintensität des einfachgesetzlichen Verfahrens zur Festlegung der Regelleistungen auszugleichen.442 „Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist.“443

Die in materieller Hinsicht erhebliche Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wird verfahrensrechtlich eingeschränkt. Das Gericht stellt dabei auf die „Bedeutung des [betroffenen] Grundrechts“ (Art. 1 Abs. 1 GG) ab.444 Mögen sich die existenzder Entscheidung näher ausgeführt. Demnach werde durch die Regelleistungen jeweils das physische Existenzminimum abgedeckt. Hinsichtlich des soziokulturellen Existenzminimums verweist das Gericht pauschal auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. 440 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 441 BVerfGE 125, 175 (256): „Wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen.“ Der zurückhaltende Entscheidungsmodus des Gerichts ist nicht zwangsläufige Folge der Achtung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums, vgl. im Zusammenhang bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen nur die Entscheidung zum Familienleistungsausgleich (BVerfGE 99, 216 [244 f.]). Der Verzicht auf eine bzw. das Vorliegen einer Übergangsregelung in BVerfGE 125, 175 und 99, 216 könnte mit den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten für die Verfassungswidrigkeit der einfachgesetzlichen Regelungen erklärt werden. Während bei den ALG II-Regelsätzen allein das Verfahren zur Bemessung der Leistungen verfassungswidrig ist, sieht sich das Gericht in BVerfGE 99, 216 mit der Untätigkeit des Steuergesetzgebers konfrontiert. Er hat leistungsmindernde Aufwendungen für die Betreuung und Erziehung von Kindern beim Steuerpflichtigen gar nicht erst berücksichtigt. Die Festlegung von Übergangsregelungen hebt sich in der Entscheidung zum Familienleistungsausgleich von der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts im Übrigen ab. Es nimmt auch dort außerhalb der Übergangsregelung keine unmittelbare Quantifizierung vor. 442 Zu den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an das Verfahren der Regelsatzfestsetzung im Sozialhilferecht vor der Hartz IV-Entscheidung Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (13). 443 BVerfGE 125, 175 (226, Kursivsetzung durch Verf.). Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 23. 444 BVerfGE 125, 175 (226, Zitat ebd.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

sichernden Leistungen des SGB II auch jenseits der evidenten Verfassungswidrigkeit und innerhalb der einfachgesetzlichen Gestaltungsbandbreite gegen eine numerische Überprüfung sperren, die „Leistungsbemessung“, d. h. die Festlegung von Zahlen durch den einfachen Gesetzgeber, muss gemessen am „Ziel des Grundrechts“ bestimmten methodischen Anforderungen genügen.445 Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 2 GG fordern laut Verfassungsgericht,446 dass der Umfang der Grundsicherung für Erwerbsfähige Ergebnis nachvollziehbarer, „schlüssiger Berechnungsverfahren“ ist. Dazu habe „der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren […] realitätsgerecht zu bemessen […]“.447 Das Prinzip der Folgerichtigkeit fordere, dass Abweichungen von der „selbst gewählten Methode“ sachlich gerechtfertigt seien.448 Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber außerdem verpflichtet, das Verfahren („Methoden und Berechnungsschritte“) zur Festlegung der Regelsätze „nachvollziehbar zu begründen“, um eine Prüfung am Maßstab der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG zu ermöglichen. Ausdrücklich ist zwar nur von einer „Obliegenheit“ die Rede.449 De facto besteht jedoch eine Pflicht des Gesetzgebers, denn die Vernachlässigung der Begründungsanforderungen wertet das Bundesverfassungsgericht als Verletzung der verfassungsrechtlichen Verfahrensvorgaben.450 Das Bundesverfassungsgericht präzisiert die Verfahrensvorgaben bei der Subsumtion. Die Wahl des „Statistikmodells“451 zur Bemessung der Regelsätze sei verfassungsgemäß. Es sei grundsätzlich „vertretbar[…]“, zur Bemessung des Arbeitslosengelds II auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statis 445 BVerfGE 125, 175 (226, Zitate ebd.). Siehe auch Karsten Schneider, BVerfGE 125, 175 – Hartz  IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S.  885 (887). Anders das Bundessozialgericht in seinem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss: Eine methodische Bindung des einfachen Gesetzgebers bestehe grundsätzlich nicht („Bedenken gegen die Methode zur Ermittlung der Regelleistung griffen nicht durch, da es keinen Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Verfahren oder auf ein bestimmtes Ergebnis gebe. Weil immer ein Wertungsspielraum bleibe, könne nicht geprüft werden, ob der Gesetzgeber ‚richtig‘ gerechnet habe.“). Der Gesetzgeber sei jedoch über Art. 3 GG an den Grundsatz der Folgerichtigkeit und danach an die einmal gewählte Methode („von ihm selbst statuierte Sachgesetzlichkeit“) gebunden. BVerfGE 125, 175 (210 f., Zitate S. 210). 446 Vgl. BVerfGE 125, 175 (226, 238). Siehe hierzu auch Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (637). Dann geht jedoch nicht darauf ein, dass das Bundesverfassungsgericht die einfachgesetzlichen Verfahrenspflichten an Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG anbindet und erörtert sie nur als einen möglichen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt. 447 BVerfGE 125, 175 (225 f., Zitate ebd.). 448 BVerfGE 125, 175 (238). 449 BVerfGE 125, 175 (226, 238 [Zitate ebd.]). 450 Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S.  81 (86). Siehe nur BVerfGE 125, 175 (241): „Die Nichtberücksichtigung einer gesamten Abteilung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe weicht aber in einer Weise vom Statistik­ modell ab, die einer besonderen Begründung bedurft hätte.“ 451 BVerfGE 125, 175 (234).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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tischen Bundesamts, dort auf die Ausgaben der einkommensschwächsten 20 % der Einpersonenhaushalte, abzustellen.452 Der Schwerpunkt der Verfahrensprüfung liegt auf der folgerichtigen Umsetzung des einfachgesetzlich gewählten Bemessungskonzepts. Es sind die „unvertretbare[n]“453 Abweichungen des Gesetzgebers vom „Statistikmodell“454 und dessen „Strukturprinzipien“,455 die dazu führen, dass das Bemessungsverfahren verfassungswidrig ist und damit die Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen begründet. Sie äußern sich u. a. in den Schätzungen des Gesetzgebers, die jedes tatsächlichen Bezugs im Sinne einer empirischen Fundierung der Bedarfsbemessung entbehren.456 – Der Gesetzgeber bezieht die nach Abteilungen geordneten, statistisch ermittelten Ausgaben nur zu bestimmten Prozentsätzen in den Regelsatz ein. Es sollen die nicht regelleistungsrelevanten Ausgaben, die der Finanzierung nicht existenzsichernder Güter und Dienstleistungen dienen oder durch andere soziale Leistungen gedeckt sind, abgezogen werden. Die tatsächlichen Abschläge lassen sich jedoch sachlich nicht rechtfertigen. Der Gesetzgeber schätzt sie „ins Blaue hinein“,457 ohne hinreichende Tatsachengrundlage. Dabei werden Aus­ gaben abgezogen, „ohne dass fest[steht], ob [sie] das unterste Quintil der Einpersonenhaushalte überhaupt […] getätigt hat“.458 – Die Aktualisierung der Summe „regelleistungsrelevante[r]“ Ausgaben, die auf der Grundlage der letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zunächst für das Jahr 1998 bestimmt werden, „entsprechend der Steigerung des […] Rentenwerts“ bedeutet innerhalb des „Statistikmodells“ (s. o.) eine weitere Strukturwidrigkeit. Der Rentenwert steht zur Ermittlung der existenzsichernden Aufwendungen und ihrer Veränderungen in keinerlei Zusammenhang.459 – Wie die Bemessung der nicht regelleistungsrelevanten Ausgaben innerhalb der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe entbehrt auch die Höhe des Sozialgelds für Kinder unter 14 Jahren (60 % der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Halbsatz 1 SGB II a. F.) der empirischen Grundlage. Sie ist völlig „frei gegriffen“460 452

BVerfGE 125, 175 (234 ff., Zitat S. 234). BVerfGE 125, 175 (242). 454 BVerfGE 125, 175 (234). 455 BVerfGE 125, 175 (242). 456 BVerfGE 125, 175 (242). Ist das Verfahren zur Bestimmung der Regelleistung des Hauptleistungsberechtigten verfassungswidrig, wirkt sich dies auch auf die Regelleistung von Partnern einer Bedarfsgemeinschaft und das Sozialgeld von (unter 14 jährigen) Kindern im SGB II aus. Das SGB II bestimmt die letztgenannten Leistungen als Prozentsatz der Regelleistung des Hauptleistungsberechtigten. BVerfGE 125, 175 (244 f.). Der Bemessung des Sozialgelds von Kindern haftet zudem ein eigener Verfahrensfehler an (s. u.). 457 BVerfGE 125, 175 (238). 458 BVerfGE 125, 175 (239). 459 BVerfGE 125, 175 (242 f., Zitate ebd.). 460 BVerfGE 86, 148 (212). Vgl. in diesem Zusammenhang die Anforderungen an die Ermittlung der Berechnungsfaktoren des horizontalen Finanzausgleichs durch den Gesetzgeber (unter A. I. 5. b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils). 453

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

und in ihrer Pauschalität zudem nicht am kindlichen Bedarf ausgerichtet: „Sein [des Gesetzgebers] vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung.“461 461 BVerfGE 125, 175 (245 ff., Zitat S. 246). „Die Annahme des Gesetzgebers, dass der zur Sicherung des Existenzminimums zu deckende Bedarf für zwei Partner insgesamt 180 % des entsprechenden Bedarfs eines Alleinstehenden beträgt, kann sich allerdings auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen. Dieser Betrag beruht auf der modifizierten Differenzrechnung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, die der Regelung des § 2 Abs.  3 Regelsatzverordnung 1990 zugrunde lag.“ BVerfGE 125, 175 (245). Das Sozial­ gericht Berlin geht in einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12, http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/s_55_as_9238.12.html, abgerufen am 2.5.2012) auch nach der einfachgesetzlichen Reform der SGB II und XII zur Umsetzung des Hartz IV-Urteils (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch v. 24. März 2011, BGBl. I 2011/12, S. 453 ff.) weiterhin von der Verfassungswidrigkeit der Regelsatzbemessung aus. Es stellt auf sachlich ungerechtfertigte Abweichungen vom Statistikmodell ab. Der Gesetzgeber habe u. a. aufgrund folgender Ausgestaltungen bei der Bemessung seinen Gestaltungsspielraum überschritten (die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf einen DIN A4-Ausdruck der Online-Quelle): – Es fehle an einer tauglichen Referenzgruppe zur Bestimmung der existenzsichernden Aufwendungen von Alleinstehenden. Der Gesetzgeber stelle auf die nach dem Nettoeinkommen unteren 15 % der Haushalte ab, ohne dies „tragfähig“ zu begründen (S. 19 ff., Zitat S. 19). Der besondere Bedarf von Leistungsberechtigten mit Kindern werde überhaupt nicht erfasst (S. 22). Die Berechnung des Bedarfs beruhe außerdem auf „Zirkelschlüssen“, denn in die Referenzhauhalte würden auch solche eingeschlossen, die Grundsicherungsleistungen erhielten bzw. grundsicherungsleistungsberechtigt seien (S. 22 ff., Zitat S. 22). BAföG-Empfänger dürften ebenfalls nicht berücksichtigt werden – sie verfügten nicht einmal über den existenzsichernden Bedarf (S. 25 f.). Zum Teil fehle den erhobenen Daten die „statistische Signifikanz“ (S. 26 f., Zitat S. 26). – Die Kürzung einzelner Ausgabenpositionen sei weiterhin nicht nachvollziehbar und vernachlässige die soziale Komponente des Existenzminimums (S. 27 ff., hinsichtlich des Bedarfs von Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren S. 30 f.). – Die geringe Nettoeinkommensgrenze bei der Referenzgruppe und extensive Kürzung der Ausgaben insgesamt entziehe dem Statistikmodell und der pauschalierenden Bemessung des Bedarfs die Grundlage: Ein interner Ausgleich zwischen den einzelnen Ausgabenposten könne nicht mehr durchgeführt werden (S. 18, 22, 29). Ansparleistungen für größere Anschaffungen könnten nicht erbracht werden. Der Gesetzgeber setze bei der Reduktion der Leistungen zur Tilgung staatlicher Darlehen (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB II) Mittel beim Leistungsberechtigten voraus, über die er tatsächlich nicht verfüge (S. 26 f., 29). Zwar geht das Sozialgericht davon aus, „dass nicht jeder einzelne Fehler bei der insgesamt sehr komplizierten und komplexen Ermittlung der Regelbedarfe und angesichts der strengen methodischen Prüfung, die das BVerfG verlangt, bei betragsmäßiger Geringfügigkeit die verfassungsgerichtliche Klärung erlauben kann […]. Insofern [sei] […] dem Gesetzgeber im demokratischen Prozess und bei der ihm auferlegten kontinuierlichen Prüfung der gesellschaftlichen Veränderungen und des methodischen Instrumentariums zu vertrauen. Indes [sei] […] angesichts der Vielzahl von Fehlern, deren Zusammenwirken und deren Ausmaß das hier geprüfte einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.“ (S. 31) Das Sozialgericht kommt aufgrund der Verfahrensfehler zu dem Schluss, die Regelleistungen für Alleinstehende seien ca. 36, die eines drei Personen-Haushalts (Eltern, 16-jähriges Kind) ca. 100 Euro pro Monat zu niedrig.

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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2. Ausschluss der unmittelbaren Quantifizierung der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG; Mittelbare Quantifizierungen bei der Überprüfung der Leistungshöhe „Innerhalb der materiellen Bandbreiten, welche diese Evidenzkontrolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern.“462

Das Bundesverfassungsgericht verneint ausdrücklich die Möglichkeit einer unmittelbaren Quantifizierung des Prüfungsmaßstabs (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG). BVerfGE 125, 175 hebt sich damit von Entscheidungen ab, in denen bei einem numerisch bestimmten Prüfungsgegenstand Möglichkeit oder Fehlen einer unmittelbaren Quantifizierung nicht offen reflektiert werden.463 Die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Quantifizierung wird auf den Bereich „innerhalb der materiellen Bandbreiten“ beschränkt. In BVerfGE 125, 175 gibt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber gleichwohl keine numerischen Grenzen seines Gestaltungsspielraums vor, sondern umschreibt die Untergrenze des Leistungsanspruchs mit dem Kriterium des evidenten Ungenügens. Die Überprüfung der einfachgesetzlichen Regelleistungen im „Subsumtionsteil“464 der Entscheidung bedeutet eine mittelbare und punktuelle Quantifizierung des verfassungsrechtlich zu gewährenden Existenzminimums und der Reichweite des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums. Für verschiedene Bezugsgruppen wird bestimmt, welche Regelleistungen jedenfalls nicht evident unzureichend sind und damit innerhalb des Gestaltungsspielraums des einfachen Gesetzgebers liegen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Leistungen nach dem SGB II, ohne vergleichend auf staatliche Leistungen in anderen Sachbereichen abzustellen.465 Insoweit sind die mittelbaren Quantifizierungen autonom. Die Regelleistungen werden insbesondere nicht an die steuer­rechtlichen Beträge zur Berücksichtigung existenzsichernder Aufwendungen bzw. Unterhaltsverpflichtungen des Steuerpflichtigen rückgebunden.466 Da 462

BVerfGE 125, 175 (226, Kursivsetzung durch Verf.). Vgl. etwa die Verfassungsrechtsprechung zur Angemessenheit des Finanzausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG, hierzu unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 464 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 465 „Der Gesetzgeber kann in anderen Bereichen unterschiedliche Wertungen nach der jeweiligen ratio legis treffen und dabei auch über das hinausgehen, was er von Verfassungs wegen denjenigen zur Verfügung stellen muss, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können. Aus anderen Rechtsbereichen können daher keine Rückschlüsse auf die notwendige Höhe der Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gezogen werden.“ BVerfGE 125, 175 (230). 466 Ausdrücklich das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Regelleistungen für Kinder (unter 14) nach dem SGB II und die „einkommensteuerliche[…] Berücksichtigung von Aufwendungen für Kinder nach § 32 Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG)“. Die fehlende Maßgeblichkeit des Kinderfreibetrags (§ 32 Abs.  6 EStG) für das Sozialgeld (§ 28 Abs.  1 Satz 3 Nr. 1 Halbsatz 1 SGB II) wird auf die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe und Leistungsgründe zurückgeführt. BVerfGE 125, 175 (232, Zitat ebd.). 463

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

das Bundesverfassungsgericht bereits für das Steuerverfassungsrecht eine Mindestverschonung in Höhe der Sozialhilfe der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft statuiert, wäre eine Rückkopplung des Sozialrechts an das Steuerrecht auch zirkulär. Methodisch fällt weiterhin auf, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Regelleistungen des Hauptleistungsempfängers und von Kindern bis zum 14. Lebensjahr auf externen Sachverstand rekurriert, hierzu gehört neben Untersuchungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge der Vierte Existenzminimumsbericht der Bundesregierung vom 20. November 2011 sowie die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit.467 3. Die Überprüfung der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Vergleich a) Anwendung der Maßstäbe der Hartz IV-Entscheidung 2012 überprüft das Bundesverfassungsgericht die monetären Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997, § 3 Abs. 2 Satz 2 und 3 i. V. m. Abs. 1 Satz 4 AsylbLG468 (BVerfGE 132, 134). Es greift auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zurück, die es in BVerfGE 125, 175 bei der Überprüfung der Hartz IV-Regelsätze für die Bemessung existenzsichernder, staatlicher Leistungen entwickelt hat.469 Die Maßstabs­ parallelität erklärt sich aus dem Verhältnis der allgemeinen Sozialleistungen zu den 467

BVerfGE 125, 175 (229 f.). Die folgenden Ausführungen nehmen das AsylbLG in der Fassung vom 5. August 1997 in Bezug. Demnach gewährt das AsylbLG bestimmten ausländischen Staatsangehörigen Leistungen zur Existenzsicherung. § 1 AsylbLG nennt „Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und andere im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befindliche Personen, Geduldete und vollziehbar Aus­ reisepflichtige sowie deren Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder.“ Nach den gesetzlichen Bestimmungen sollen neben einem „Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens“ (§ 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG) vorrangig Sachleistungen gewährt werden. Ein Ersatz durch Geldleistungen ist möglich, § 3 Abs.  2 AsylbLG. Hiervon wird in der Praxis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 überwiegend Gebrauch gemacht. Die Leistungen sind im Vergleich zu sonstigen Sozialleistungen zur Existenzsicherung deutlich niedriger. BVerfGE 132, 134 (137 Rn. 2, 138 ff. Rn. 5 ff., 143 ff. Rn. 18 ff., 147 f. Rn. 29 ff.). 469 Maximilian Steinbeis, Sozialstaat ist nicht nur für die Unsrigen, http://verfassungsblog.de/ sozialstaat-ist-nicht-nur-fr-die-unsrigen/ (abgerufen am 20.7.2012). Im Einzelnen ist zu beobachten: Das Gericht übernimmt die gestufte verfassungsrechtliche Maßstabbildung aus BVerfGE 125, 175. BVerfGE 132, 134 (159 ff. Rn.  62 ff.). Dem Gesetzgeber kommt, auch dies ist bereits Inhalt von BVerfGE 125, 175, bei der notwendigen einfachgesetzlichen Konkretisierung von Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG und Festlegung der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum zu. BVerfGE 132, 134 (159 Rn. 62, 161 Rn. 67). Ihr „Umfang [könne] […] nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.“; „das Grundgesetz selbst [gebe] keine exakte Bezifferung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen vor  […]“. BVerfGE 132, 134 (160 Rn. 66, 165 Rn. 78). Damit korrespondiert eine Zurücknahme der Prüfungsintensität des Verfassungsgerichts, das nur ein evidentes Ungenügen der einfachgesetzlichen Leistungen überprüft. BVerfGE 132, 134 (165 Rn. 77 f.). 468

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Leistungen nach dem AsylbLG. Das Bundesverfassungsgericht stuft das AsylbLG gegenüber dem SGB II und XII als „Sonderregelung“ ein.470 Gemessen an Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, die den Staat verpflichten ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten, seien die Geldleistungen nach § 3 AsylbLG „evident unzureichend“.471 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies nicht mit der konkreten Höhe der Geldleistungen. Das „offensichtlich[e]“472 Ungenügen der Leistungen liege an der (entgegen den einfachgesetzlichen Vorgaben473) nie vorgenommenen Anpassung an den „erheblichen, etwa bei einem Drittel der Grundleistung liegenden Preisanstieg[…]“.474 Das Gericht verweist auf den „erhebliche[n] Abstand“ zu den Sozialleistungen nach dem SGB II und XII.475 Die Leistungen sind auch unabhängig von ihrer konkreten Höhe verfassungswidrig, denn sie werden laut Verfassungsgericht nicht in einem verfassungsgerechten Verfahren ermittelt.476 Nach den „Gesetzesmaterialen“ sei nicht von einer nachvollziehbaren, bedarfsorientierten Bemessung, sondern von einer „bloße[n] Kostenschätzung“ auszugehen.477 Genaugenommen fehlt jegliches­ 470

BVerfG, Pressemitteilung Nr. 35/2012 vom 30. Mai 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 („Das Asylbewerberleistungsgesetz ist eine Sonderregelung zu den Sozialleistungen, die neben dem SGB II bzw. SGB XII gilt.“). 471 BVerfGE 132, 134 (166 Rn. 81). 472 „Dass die im Jahr 1993 das Existenzminimum abdeckenden Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz den existenznotwendigen Bedarf eines auch nur kurzzeitigen Aufenthalts bereits 2007 nicht mehr sichern konnten, ist offensichtlich.“ BVerfGE 132, 134 (167 Rn. 84, Kursivsetzung durch Verf.). 473 Siehe § 3 Abs. 3 AsylbLG, nach dem eine Erhöhung der Leistungen im Falle eines Anstiegs „der tatsächlichen Lebenshaltungskosten“ auf dem Verordnungswege vorgesehen ist. BVerfGE 132, 134 (168 Rn. 85). 474 BVerfGE 132, 134 (166 ff. Rn. 82 ff.). Zu den Berechnungen des Preisanstiegs („34,4 % seit Inkrafttreten des Gesetzes“) siehe S. 166 f. Rn. 83. 475 BVerfGE 132, 134 (168 ff. Rn. 86 ff., Zitat S. 168 Rn. 86). Das Bundesverfassungsgericht stellt auf die Differenz zwischen den Leistungen für den erwachsenen Haushaltsvorstand nach dem AsylbLG und nach dem SGB II, XII von „einem Drittel“ (S. 168 f. Rn. 86 f., Zitat S. 168 Rn. 86) sowie zwischen den Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG und den Leistungen des allgemeinen Fürsorgerechts zur Deckung des soziokulturellen Bedarfs in Höhe von 27 bis 54 % (S. 169 f. Rn. 88) ab. Es stellt Berechnungen zur Ermittlung der Leistungsdifferenzen an. Siehe schon die Darstellung des Sachverhalts, im Rahmen dessen das Gericht die Differenz zu den Sozialleistungen zur Deckung des soziokulturellen Bedarfs nach dem SGB II, XII nach Altersstufen gestaffelt tabellarisch aufführt (S. 148 Rn. 32). 476 BVerfGE 132, 134 (170 Rn. 90). Erneut wird auf die Vorgaben in BVerfGE 125, 175 zurückgegriffen: „Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs folgerichtig in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht bemessen, begründet werden können (vgl. BVerfGE 125, 175 m. w. N.).“ BVerfGE 132, 134 (162 Rn. 69). 477 BVerfGE 132, 134 (170 ff. Rn. 90 ff., Zitat S. 170 Rn. 90). „Die [Gesetzes-]Materialien weisen lediglich die Beträge aus, die – nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – ausreichen sollen, um einen unterstellten Bedarf zu decken […]. Auch sonst sind belastbare Bemessungsgrundlagen nicht erkennbar geworden.“ Ebd., S. 171 Rn. 91.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Verfahren zur Leistungsbemessung. Der Verfassungsverstoß ist dadurch eklatanter als bei der Festlegung der monetären Regelleistungen für erwerbsfähige Bedürftige im SGB II.478 Das Bundesverfassungsgericht formuliert eine Übergangsregelung, in der es auf die bereits vorliegende Quantifizierung des Existenzminimums durch den einfachen Gesetzgeber zurückgreift: Bis zur Neuregelung seien die Leistungen nach dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe, auf das § 28 SGB XII bei der Festsetzung der Sozialhilfeleistungen verweist,479 zu bestimmen: „Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes [seien] […] die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums“.480 b) Quantifizierungen durch das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das grundgesetzlich gewährleistete Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG) mittelbar (negativ), wenn es die monetären Leistungen nach dem AsylbLG als „evident unzureichend“481 beurteilt. Die Übergangsregelung bedeutet eine unmittelbare Quantifizierung des Existenzminimums. Zwar beziffert das Gericht die auszuzahlenden Leistungen nicht direkt, es weist aber dennoch eine konkrete Leistungshöhe aus. Indem es die Hartz IV-­ Regelsätze für maßgeblich erklärt, können die monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG eindeutig numerisch bestimmt werden.

IV. W-Besoldung von Hochschullehrern Das Bundesverfassungsgericht prüft in seinem Urteil zur Hochschullehrerbesoldung (BVerfGE 130, 263) im Verfahren der konkreten Normenkontrolle die Verfassungsmäßigkeit der Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe W 2 im Rahmen der W-Besoldung.482 Wie in der Hartz  IV-Entscheidung des Bundesverfassungs 478

Christoph Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, S. 646 (647). 479 Das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz ist unmittelbar für die Sozialhilfesätze relevant. Auf § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz verweist außerdem das SGB II. Hierzu bereits in den Ausführungen zur Evidenzkontrolle der Regelleistungshöhe des ALG II, siehe dort Fn. 414. 480 BVerfGE 132, 134 (174 ff. Rn. 98 ff., Zitat S. 174 f. Rn. 100). 481 BVerfGE 132, 134 (166 Rn. 80 f.). 482 Das Professorenbesoldungsreformgesetz (BGBl. I 2002, S.  686 ff.) ersetzt 2002 die bis dato geltende Besoldung von Hochschullehrern nach der Besoldungsordnung C durch die sog. W-Besoldung. Die Besoldung beruht demnach auf zwei Säulen, den reduzierten, nunmehr dienstalterunabhängigen Grundgehältern und variablen Leistungsbezügen. Für die Leistungsbezüge gilt zunächst ein sog. Vergaberahmen. Er ergibt sich aus der Festschreibung der Gesamtausgaben für die Besoldung. Die durchschnittlichen jährlichen Besoldungsausgaben werden an

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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gerichts steht die Höhe einer staatlichen Leistung verfassungsrechtlich auf dem Prüfstand. Die Urteile verfügen hinsichtlich ihrer Prüfungsstruktur und -intensität über weitgehende Parallelen. 1. Konkretisierung des Alimentationsprinzips a) Keine numerischen Vorgaben für die Höhe der Beamtenbesoldung Prüfungsmaßstab der Besoldungsregeln ist das Alimentationsprinzip als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums,483 Art.  33 Abs.  5 GG.484 Es eröffne einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Festlegung von „Struktur“ und „Höhe der Besoldung“.485 Das Bundesverfassungsgericht stellt im Gegensatz zum Hartz IV-Urteil (BVerfGE 125, 175) nicht unmittelbar auf die Abhängigkeit der Leistungshöhe von den tatsächlichen Umständen und die Notwendigkeit von Wertungen auf Tatsachenebene,486 sondern den Charakter des Alimentationsprinzips als „verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive“ ab.487 Er erlaube die Abstimmung der Besoldung auf die „tatsächlichen“ Gegebenheiten.488 Die Besoldungshöhe lasse sich „der Verfassung nicht unmittelbar, als fester und exakt bezifferter beziehungsweise bezifferbarer Betrag […] entnehmen“.489 Das Bundesverfassungsgericht nennt die „Einstufung von Ämtern“ eine „zuvörderst […] politische, vom parlamentarischen Gesetzgeber zu entscheidende Frage“.490 Es lehnt sich auch sprachlich an die Hartz  IV-Entscheidung an, nach der „das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des [sozialrechtlichen Leistungs-] Anspruchs [zur Sicherung des Existenzminimums] erlaubt […]“.491 die durchschnittlichen Besoldungsausgaben des Jahres 2001 gekoppelt. Die W-Besoldung ist in Anlagen zu § 32 BBesG geregelt. Vorliegend kommt es zudem auf die (Anlagen der) hessischen Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetze an, in denen der Landesgesetzgeber nach der Föderalismusreform I 2006 die Bundes- durch eine Landesbesoldungsordnung W ersetzt und die Besoldungsanpassungen vornimmt. 483 Einführend Fritjof Wagner/Sabine Leppek, Beamtenrecht, 10. Aufl. 2009, Rn. 28 ff. 484 Das Bundesverfassungsgericht führt aus, Art. 33 Abs. 5 GG normiere einen „Regelungsauftrag an den Gesetzgeber“ und – „soweit deren subjektive Rechtsstellung betroffen ist“ – „ein grundrechtsgleiches Recht der Beamten“. BVerfGE 130, 263 (292). Die Anerkennung des Alimentationsprinzips als hergebrachten Grundsatz im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG bedeutet, dass der Beamte über einen verfassungsrechtlich gesicherten Leistungsanspruch auf amtsangemesse Besoldung verfügt. 485 BVerfGE 130, 263 (294). 486 Siehe die Ausführungen unter A. III. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 487 BVerfGE 130, 263 (294). 488 „Innerhalb seines weiten Spielraums politischen Ermessens darf der Gesetzgeber das Besoldungsrecht den tatsächlichen Notwendigkeiten und der fortschreitenden Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anpassen.“ BVerfGE 130, 263 (294, Kursivsetzung durch Verf.). 489 BVerfGE 130, 263 (294). 490 BVerfGE 130, 263 (295). 491 BVerfGE 125, 175 (225 f.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Besoldungshöhe entsprechend zurückhaltend. Der Prüfungsmaßstab wird auch hier gestuft konkretisiert. Das Bundesverfassungsgericht formuliert zunächst positive Kriterien für die Besol­ dung. Die Verfassung fordere nicht nur überhaupt die Alimentation des Beamten, sondern eine (amts-)angemessene Alimentation. Das Gericht formuliert ein qualitatives Prüfungsprogramm, das verglichen mit der Angemessenheitsprüfung im Finanzausgleichsrecht detailliert ausfällt:492 Die amtsangemessene Alimentation bestimme sich absolut anhand einer Matrix qualitativer Kriterien, den „alimentationsrechtlichen Determinanten“493 (das Gericht nennt u. a. den „Dienstrang“, die mit dem „Amt verbundene Verantwortung“ und die „Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit“494), und relativ im Verhältnis zur Besoldung anderer Beamter derselben und anderer Besoldungsordnungen („systeminterne[r] Besoldungsvergleich“) sowie anhand eines „systemexternen Gehaltsvergleich[s] mit der Privatwirtschaft“.495 Quantifizierungen des Alimentationsprinzips in anderen einfachgesetzlichen Regelungen bzw. private Absprachen über die Leistungshöhe werden damit nicht wie bei der Bindung des steuerrechtlichen Existenzminimums an die einfachgesetzliche Sozialhilfe im Sinne einer festen betragsmäßigen Kopplung496 für verbindlich erklärt. Vom Gesetzgeber wird eine gesetzesintern497 und -extern systemgerechte Regelung gefordert. Der Gesetzgeber müsse den genannten Bemessungskriterien indes nicht bestmöglich gerecht werden, um das Alimentationsprinzip zu wahren, sondern ihnen „Rechnung tragen“.498 Bei der quantitativen Prüfung der konkreten Besoldungshöhe am Maßstab der genannten Kriterien komme es auf die Einhaltung einer Untergrenze an. Es findet sich an dieser Stelle eine negative Formulierung in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Nur was „evident unzureichend“ sei, sei nicht angemessen: „Im Ergebnis beschränkt sich die materielle Kontrolle auf die Frage, ob die dem Beamten gewährten Bezüge evident unzureichend sind. Dies ist der Fall, wenn der unantastbare Kern 492 Dass die qualitativen verfassungsrechtlichen Maßgaben für die Alimentierung schärfer ­gefasst werden können als für die staatlichen Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums zeichnet sich bereits in BVerfGE 44, 249 ab: „Alimentation des Beamten und seiner Familie ist etwas anderes und Eindeutigeres als staatliche Hilfe zur Erhaltung eines Mindestmaßes sozialer Sicherung und eines sozialen Standards für alle.“ (S. 264 f., Kursivsetzung durch Verf.). 493 BVerfGE 130, 263 (305). 494 BVerfGE 130, 263 (292). 495 BVerfGE 130, 263 (292 ff., Zitate S. 293). 496 Siehe die analysierte Verfassungsrechtsprechung ab BVerfGE 87, 153 (zur Kopplung dort auf S.  171) und hierzu die Ausführungen unter A. II. 2. a) aa)  im 2.  Kapitel des dritten Teils. 497 Die Forderung gesetzesinterner Systemgerechtigkeit wird insbesondere deutlich, wenn das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Insoweit muss sich der Gesetzgeber an seiner Konkretisierung des Alimentationsprinzips in Gestalt der Besoldungsordnung A festhalten lassen.“ BVerfGE 130, 263 (304). 498 BVerfGE 130, 263 (293).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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gehalt der Alimentation als Untergrenze nicht mehr gewahrt ist […], was anhand einer Gesamtschau der oben dargelegten Kriterien und unter Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen zu prüfen ist.“499

Das Bundesverfassungsgericht legt damit in den Entscheidungen zur Hochschullehrerbesoldung und den Hartz  IV-Regelsätzen trotz unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Maßstäbe (angemessene Alimentation nach Art. 33 Abs. 5 GG bzw. Sicherung des Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG) mit dem evidenten Ungenügen dasselbe quantitative Prüfungskriterium an die Höhe der einfachgesetzlichen Leistungen an. b) Ausgleich durch verfahrensrechtliche Einbindung des einfachen Gesetzgebers Angesichts der zurückgenommenen materiellen Kontrolldichte ergeben sich aus dem Alimentationsprinzip Anforderungen an das einfachgesetzliche Verfahren zur Festlegung der Besoldungsbestimmungen. Das Bundesverfassungsgericht zieht in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine Parallele zur Hartz IVEntscheidung.500 „Zwar schuldet der Gesetzgeber von Verfassungs wegen grundsätzlich nur ein wirksames Gesetz […]. Da aber das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung einer amtsangemessenen Alimentation keine quantifizierbaren Vorgaben im Sinne einer exakten Besoldungshöhe liefert, bedarf es prozeduraler Sicherungen, damit die verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive des Art. 33 Abs. 5 GG auch tatsächlich eingehalten wird (vgl. BVerfGE 125, 175 zur Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums […]).“501

Es begründet die „‚zweite Säule‘ des Alimentationsprinzips“ außerdem fallspezifisch mit dem Übergang zur leistungsorientierten Besoldung von Hochschullehrern. Die prozedurale Einbindung des „Systemwechsel[s]“ soll „Unsicherheiten“ und „Prognoseirrtümer[n]“ des Gesetzgebers begegnen.502 Zugleich wird ihm ein „Einschätzungs- und Prognosespielraum“ eingeräumt. Die Kontrolldichte bei der Überprüfung der Grundgehaltssätze der W 2-Besoldung und der Hartz IV-Regelsätze ist nicht deckungsgleich. Während in der Entscheidung zur Professorenbesoldung die materiellen Vorgaben für die Generierung der Besoldungshöhe detaillierter ausformuliert werden, wird bei den Verfahrensvorgaben allgemein auf „Begründungs-, Überprüfungs- und Beobachtungspflichten“ verwiesen.503 Im Gegensatz zur Hartz IV-Entscheidung, im Rahmen derer das

499

BVerfGE 130, 263 (295). BVerfGE 130, 263 (301 f.). 501 BVerfGE 130, 263 (301). 502 BVerfGE 130, 263 (301, Zitate ebd.). 503 BVerfGE 130, 263 (302, Zitat ebd.). 500

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Gericht die Anforderungen an ein verfassungskonformes Verfahren im Rahmen der Subsumtion nochmals präzisiert, kommt es aufgrund des evidenten Ungenügens der Grundgehaltssätze zur Begründung der Verfassungswidrigkeit nicht auf eine Verfahrensprüfung an. 2. Ausschluss der unmittelbaren Quantifizierung des Alimentationsprinzips; Mittelbare Quantifizierung bei der Subsumtion der Grundgehaltssätze Das Bundesverfassungsgericht reflektiert wie bei der Überprüfung der Hartz IVRegelsätze504 die fehlende unmittelbare Quantifizierbarkeit des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. „[…] das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung einer amtsangemessenen Alimentation [liefert] keine quantifizierbaren Vorgaben im Sinne einer exakten Besoldungshöhe […]“505

Das Gericht übernimmt den Terminus der „quantifizierbaren Vorgaben“ aus BVerfGE 125, 175,506 spricht aber abweichend hiervon nicht explizit von „materiel­ len Bandbreiten“,507 die sich dem einfachen Gesetzgeber zur verfassungsrechtlichen Quantifizierung öffnen. Das Alimentationsprinzip und damit Art. 33 Abs. 5 GG werden erst bei der Subsumtion mittelbar und negativ quantifiziert.508 Das Bundesverfassungsgericht überprüft nach Entfaltung der Prüfungsmaßstäbe die Höhe der Grundgehaltssätze509 504

Siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. 1. a) und 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. BVerfGE 130, 263 (301, Kursivsetzung durch Verf.). 506 Siehe BVerfGE 125, 175 (226). 507 BVerfGE 125, 175 (226). 508 Die verfassungsgerichtliche Quantifizierung ist in BVerfGE 130, 263 insofern „entzerrt“, als die konkreten Geldbeträge der W 2-Besoldung nicht explizit unter die unbestimmten Verfassungsvorgaben subsumiert werden. Die Besoldungshöhe wird nur im Zuge des Vergleichs mit der Besoldungsordnung A beziffert (S. 304 f.). 509 Die Aufsplittung der W-Besoldung in Grundgehalt und Leistungsbezüge wirft zunächst die Frage auf, ob bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Besoldungshöhe auf beide Besoldungsbestandteile oder nur das Grundgehalt abzustellen ist. Entscheidend ist, wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Strukturveränderungen der traditionellen Beamtenbesoldung reicht. Strukturelle Neuausrichtungen des Besoldungssystems, im Rahmen derer leistungsbezogene Besoldungselemente integriert werden, sind grundsätzlich möglich. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „Überschneidung des Leistungsprinzips mit dem Alimentationsprinzip“. BVerfGE 130, 263 (295 ff., Zitat S. 297). Es entscheidet zugleich über das Verhältnis zwischen den hergebrachten Grundsätzen. Eine leistungsbezogene Besoldung findet im Alimentationsprinzip ihre „Schranke“. Auch wenn Professoren traditionell leistungsorientierter als andere Beamte besoldet werden, „Leistungsbezüge müssen, um kompensatorische Wirkung für ein durch niedrige Grundgehaltssätze entstandenes Alimentationsdefizit entfalten zu können, für jeden Amtsträger zugänglich und hinreichend verstetigt sein“ sowie sich „angemessen im Ruhegehalt niederschlagen.“ BVerfGE 130, 263 (296 ff., Zitate S. 297 u. 300 f.). Dies ist bei der Besoldungsordnung W nicht der Fall. BVerfGE 130, 263 (308 ff.). 505

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

243

der W 2-Besoldungsordnung: Die Alimentation eines Hochschullehrers in Höhe von 3.890,03 Euro510 bzw. 3.948,86 Euro511 sei „evident unzureichend“ bzw. „unangemessen“.512 Die Bandbreite, die sich dem Gesetzgeber bei der Festlegung der Besoldungshöhe angesichts seines Gestaltungsspielraums eröffnet, wird dadurch nur punktuell beziffert. Sie kristallisiert sich näher durch die Verortung der W 2-Besoldung innerhalb verschiedener Besoldungsstufen der Besoldungsgruppen A 13 bis A 15513 heraus. Beim „systeminterne[n] Besoldungsvergleich“514 vergleicht das Bundesverfassungsgericht die Amtsbezüge der Hochschullehrer (W 2) mit denen anderer Beamter des höheren Dienstes. Bereits die bloßen Gegenüberstellungen implizieren die Wertung, die das Gericht mit dem Vorliegen eines (angesichts der „Ausbildung, Verantwortung und Beanspruchung“515 eines W  2-Professors) „evidente[n] Missverhältnis[ses]“ als übergreifendes Ergebnis formuliert.516 Der „systemexterne[…] Gehaltsvergleich mit der Privatwirtschaft“517 „bestätigt“ nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das evidente Ungenügen der W 2-Besoldung.518 Das Bundesverfassungsgericht stellt darauf ab, „dass nur 20 % der Vergleichsgruppe [„Vollzeitbeschäftigte[…] in leitender Stellung“ mit „Universitätsabschluss“] weniger als der W  2-Professor verdienen, während es im Vergleich zur früheren Besoldungsgruppe C 3 (Stufe 11) 39 % der Vergleichsgruppe waren. Die W 2-Professoren [seien] […] danach in der betreffenden Verdienstskala weit unten angesiedelt […]“.519 Die vom Bundesverfassungsgericht

510

= Grundgehalt der Besoldungsgruppe W 2 nach der Bundesbesoldungsordnung (BBesO) bei Ernennung des Klägers im Ausgangsverfahren. BVerfGE 130, 263 (304). 511 = Grundgehalt der Besoldungsgruppe W  2 bei Einführung der hessischen Besoldungs­ ordnung. Die Grundgehaltserhöhungen durch den hessischen Landesgesetzgeber sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu vernachlässigen, da mit ihnen und prozentual im selben Verhältnis das Grundgehalt in den übrigen Besoldungsordnungen des höheren Dienstes­ angehoben wird, so dass es nach einer relativen Betrachtung weiterhin beim evidenten Ungenügen der W 2-Besoldung bleibt. BVerfGE 130, 263 (305). 512 Siehe nur BVerfGE 130, 263 (291, 302 f., Zitate S. 303). Ergebnis der konkreten Normenkontrolle ist also, dass die Anlagen zu § 32 BBesG bzw. zu den hessischen Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzen verfassungswidrig sind, soweit sie die Alimentation zu niedrig festsetzen. Zum Prüfungsgegenstand bereits Fn. 482 im dritten Teil. 513 Zu den Gründen für die Auswahl der Besoldungsordnung A „als Vergleichsgruppe für die W-Besoldung“ BVerfGE 130, 263 (303, Zitat ebd.). 514 BVerfGE 130, 263 (293). 515 BVerfGE 130, 263 (305). 516 BVerfGE 130, 263 (304 f., Zitat S. 304). 517 BVerfGE 130, 263 (293). 518 BVerfGE 130, 263 (303 [Zitat ebd.], 307). 519 BVerfGE 130, 263 (307 f., Zitate S.  307). Das Gericht stützt sich zur Erfassung der „Rechtswirklichkeit“ in Zahlen wie bereits in BVerfGE 116, 327 (zur Erfassung der haushaltswirtschaftlichen Situation in den Ländern und Beurteilung einer etwaigen Haushaltsnotlage Berlins) auf Erhebungen des statistischen Bundesamtes, nämlich die Verdienststrukturerhebung 2006. In der Entscheidung zur W-Besoldung (BVerfGE 130, 263) wird das Statistische Bundesamt als sachverständige Auskunftsperson i. S. v. § 27a BVerfGG in der mündlichen Verhandlung hinzugezogen (ebd., S. 289 f.).

244

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

angestellten numerischen Vergleiche sollen die Verfassungswidrigkeit der überprüften Besoldungsregelungen begründen, sie können darüber hinaus auch als­ Anhaltspunkte für eine verfassungsgemäße Neuregelung herangezogen werden.

V. Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte Die Höhe der Beamtenbezüge steht bereits in BVerfGE 44, 249; 81, 363; 99, 300 verfassungsrechtlich auf dem Prüfstand. Die Entscheidungen teilen die Ausnahmestellung der Entscheidung zur Professorenbesoldung: Das Bundesverfassungsgericht geht in allen Fällen von einer Überschreitung der weiten Grenzen des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums bei der Konkretisierung des Alimentationsprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG) aus. 1. Mittelbare Quantifizierung mittels Beschluss am 30. März 1977 In einem Beschluss vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249) prüft das Bundesverfassungsgericht nach Verfassungsbeschwerden von Beamten, eines Richters und Soldaten mit jeweils mehr als zwei Kindern, ob deren Dienstbezüge gemessen am Alimentationsprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG)520 hinreichend sind. Anlass sind Änderungen alimentationsrechtlicher Regelungen zur Berücksichtigung der finanziellen Belastung durch Kinder.521 Das Bundesverfassungsgericht folgt weitgehend dem Prüfungsmuster der bereits vorgestellten Entscheidungen zum Finanzausgleich, den ALG II-Regelsätzen und der W 2-Besoldung. Es betont zunächst, dass die Verfassung auch für die einfachgesetzliche Zahlenfestlegung einen wirksamen Prüfungsmaßstab darstellt: „Die vom Dienstherrn nach Maßgabe der Verfassung geschuldete Alimentierung ist nicht eine dem Umfang nach beliebig variable Größe […].“522„Das Alimentationsprinzip [als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG] liefert einen Maßstabsbegriff, der jeweils den Zeitverhältnissen gemäß zu konkretisieren ist.“523 Das 520 Berufssoldaten sind in ihrem „Besoldungs- und Versorgungsanspruch“ unmittelbar durch Art. 14 GG geschützt; es gelten dieselben Grundsätze wie für den Schutz der Berufsbeamten durch Art. 33 Abs. 5 GG. BVerfGE 44, 249 (281). 521 Die Änderungen beruhen auf dem Siebenten Gesetz zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I, S. 3716). Der Kinderzuschlag wird gestrichen und die Beamten werden in den allgemeinen Familienlastenausgleich einbezogen. Dieser sieht in Folge der Steuerreform 1974 keine steuerlichen Vergünstigungen bei ­Kindern mehr vor, sondern gewährt einkommensunabhängig Kindergeld. Es bleibt bei einer Erhöhung des Ortszuschlags in Abhängigkeit von der Kinderzahl. BVerfGE 44, 249 (251 ff.). 522 BVerfGE 44, 249 (264). 523 BVerfGE 44, 249 (266).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

245

Alimentationsprinzip als unbestimmter verfassungsrechtlicher ­Prüfungsmaßstab wird durch stufenweise Konkretisierung (Entwicklung qualitativer und quantitativer Maßstäbe für die Besoldung) an den numerisch bestimmten Prüfungsgegenstand, hier die in Geld gewährte Besoldung einschließlich der Bestandteile zum Ausgleich kinderbedingter Belastungen,524 herangeführt. Das Bundesverfassungsgericht nennt wie in der Entscheidung zur W-Besoldung zunächst verschiedene absolute „Gesichtspunkte[…]“,525 etwa den „Dienstrang“, die „Ausbildung“ und „Beanspruchung des Amtsinhabers“,526 an denen die Alimentation auszurichten ist. Sie müsse die existentiellen „Grundbedürfnisse“ des Beamten „befriedigen“527 und darüber hinaus ein „Minimum an ‚Lebenskomfort‘“528 gewähren. Das Bundesverfassungsgericht koppelt die Besoldungshöhe an die Entwicklung von Lebensstandard und Lebensunterhaltungskosten („Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse“, „allgemeine[r] Lebensstandard“, „allgemeine[…] Verbrauchs- und Lebensgewohnheiten“529). Die Abhängigkeit von den tatsächlichen Verhältnissen, auf die das­ Bundesverfassungsgericht genauso bei der Höhe der W-Besoldung530 und des ALG II-Regelbedarfs531 verweist, klingt auch an, wenn die Konkretisierung des Alimentationsprinzips an die jeweiligen „Zeitverhältnisse[…]“532 gekoppelt wird. Die Höhe der Besoldung sei schließlich von den Familienverhältnissen des Beamten und der damit verbundenen Unterhaltsbelastung abhängig. Das Bundesverfassungsgericht führt damit eine relationale Prüfung der Besoldungshöhe ein. Die Beamten müssten sich „in der Lebenswirklichkeit […] ohne Rücksicht auf die Größe ihrer Familie ‚[…] annähernd das gleiche leisten‘ können.“533 Auch die Prüfungsintensität verläuft parallel zu den vorgenannten Entscheidun­ gen. Dem Alimentationsprinzip werden unmittelbar keine numerischen Vorgaben für die Besoldungshöhe entnommen. Die Konkretisierung zur Zahl fällt in den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert im Zusammenhang der Berücksichtigung kinderbedingter Lasten, die Besoldungshöhe lasse „sich nicht auf Heller und Pfennig ausrechnen; deshalb [müsse] […] dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum für die Regelung zuge­standen werden“.534

524

BVerfGE 44, 249 (278). BVerfGE 44, 249 (265). 526 BVerfGE 44, 249 (265). 527 BVerfGE 44, 249 (265). 528 BVerfGE 44, 249 (266). 529 BVerfGE 44, 249 (265 f.). 530 Siehe die Ausführungen unter A. IV. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 531 Siehe die Ausführungen unter A. III. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 532 BVerfGE 44, 249 (266). 533 BVerfGE 44, 249 (267, Zitat ebd.). 534 BVerfGE 44, 249 (267, Kursivsetzung durch Verf.). Das Bundesverfassungsgericht achtet den einfachgesetzlichen Entscheidungsspielraum auch im Entscheidungsausspruch, wenn es sich auf die „Feststellung der Verfassungswidrigkeit“ der alimentationsrechtlichen Regelungen zurückzieht (S. 283). 525

246

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Es beschränkt die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Einhaltung der Untergrenze des „eindeutig“ evidenten Ungenügens. Das Evidenzkriterium ist gegenüber den Entscheidungen zu den Hartz IV-Regelsätzen und zur W-Besoldung von Hochschullehrern verschärft („eindeutig“), damit der einfachgesetzliche Gestaltungsspielraum erweitert: „Führt eine Regelung eindeutig evidentermaßen dazu, daß die Familie wegen der größeren Zahl der Kinder und der mit ihrem Unterhalt und ihrer Erziehung verbundenen Ausgaben […] bescheidener leben muß als der – beamten- und besoldungsrechtlich gleich eingestufte – ledige Beamte, kinderlos verheiratete Beamte oder die Beamtenfamilie mit einem oder zwei Kinder, so ist der Grundsatz amtsangemessener Alimentierung für jene Familie mit größerer Kinderzahl verletzt.“535

Im Gegensatz zu den Entscheidungen im Finanzausgleichsrecht, zu den Hartz IVRegelsätzen oder zur Professorenbesoldung sucht das Bundesverfassungsgericht die zurückgenommene materielle Kontrolle noch nicht durch Verfahrensvorgaben für den einfachen Gesetzgeber zur Festlegung der Besoldungshöhe auszugleichen. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das Alimentationsprinzip mittelbar bei der Subsumtion. Es stellt zur Ermittlung der kinderspezifischen Belastungen des Beamten zunächst auf verschiedene Vergleichsgrößen ab: „die statistisch ermittelten Ausbildungskosten für ein heranwachsendes Kind, die Unterhaltsrichtsätze des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, die Versorgungsbezüge für Waisen, die Sozialhilfesätze, die Unterhaltssätze im Familienrecht und de[n] Regelunterhalt für nichteheliche Kinder (vgl. § 1 der auf § 1615 f Abs. 2 BGB gestützten […] Regelunterhalt-Verordnung […] samt den sog. Berliner, Düsseldorfer und Kölner Tabellen […])“.536 Die Verfassungswidrigkeit der Besoldungshöhe kinder­reicher Beamter ergibt sich für das Gericht auf der Grundlage dieser Erhebungen aus einem Besoldungsvergleich. Es betont, dass die vorgenannten Vergleichsgrößen „nicht unmittelbar […] Ansprüche[…] auf eine Besoldung in bestimmter Höhe“537 begründen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Besoldung müsse jedoch berücksichtigt werden, dass bei Familien mit mehr als zwei Kindern kinderspezifische Belastungen nicht mehr durch die „allgemeinen Gehaltsbestandsteile“ aufgefangen werden könnten.538 Das Bundesverfassungsgericht stellt exemplarisch auf Beamte verschiedener Besoldungsgruppen ab und führt tabellarisch die  – nach Anzahl der Kinder abgestufte – Besoldungshöhe (einschließlich Kindergeld) auf.539 Aus der Besoldungstabelle liest es ein gegen das Prinzip der amtsangemessenen Alimentation verstoßendes Missverhältnis ab, subsumiert also Zahlen unter 535

BVerfGE 44, 249 (267 f., Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 44, 249 (274). Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die vorgenannten Ausführungen, wenn es in BVerfGE 82, 60 hinsichtlich der Höhe des „Existenzminimums von Kindern“ auf den „statistisch“ berechneten bzw. „normativ festgelegten […] Bedarf“ verweist (ebd., S. 93 f.). Siehe die Ausführungen unter A. II. 2. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils. 537 BVerfGE 44, 249 (274). 538 BVerfGE 44, 249 (274 f., Zitat S. 275). 539 BVerfGE 44, 249 (278). 536

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

247

die ­unbestimmte Verfassungsvorgabe.540 Der Besoldungsvergleich von Beamten mit bis zu zwei Kindern und mehr als zwei Kindern ergebe die evidente Unterversorgung der letztgenannten Gruppe.541 Es bestehe kein „angemessene[s] [Besoldungs-]Verhältnis“542 zwischen den Beamten. 2. Ergänzung der mittelbaren Quantifizierung um Verfahrensvorgaben des Gerichts am 22. März 1990 In seinem Beschluss vom 22. März 1990 (BVerfGE 81, 363) konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die in BVerfGE 44, 249 entwickelten Maßstäbe für die amtsangemessene Besoldung.543 Der durch die Besoldung grundsätzlich zu garantierende Lebenskomfort verringere sich mit zunehmender Größe der Familie des Beamten.544 Das Bundesverfassungsgericht ergänzt die materiellen Kriterien um Verfahrensvorgaben für die Bemessung der ab dem dritten Kind zu gewährenden zusätzlichen Besoldungsbestandteile. Sie betreffen die Maßgeblichkeit der in BVerfGE 44, 249 genannten Richtgrößen für die kinderspezifischen Belastungen.545 Sie seien „Orientierungsgröße[n]“,546 deren Sachspezifität bei der Bemessung der kinderspezifischen Besoldungsbestandteile im Wege der Wertung zu berücksichtigen sei.547 Das Bundesverfassungsgericht erfasst die Besoldung nach den zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung stehenden Vorschriften des Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes erneut tabellarisch. Es werden die monatlichen Bezüge 540 Das Bundesverfassungsgericht führt in diesem Zusammenhang aus: „In einer drastischen Verkürzung heißt das: Gleichgültig ob Wachtmeister, Obersekretär, Amtmann, Regierungsdirektor oder Leitender Ministerialrat, die 8köpfige Familie erhält nur rd. 700 DM mehr als die 4köpfige Familie; anders ausgedrückt: Bei dieser Verdoppelung der Kopfzahl der Familie steigt das Gehalt des Wachtmeisters um 43,12 %, das des Obersekretärs um 35,43 %, das des Amtsmanns um 26,09 %, das des Regierungsdirektors um 18,44 %, das des Leitenden Ministerialrats um 15,75 %.“ BVerfGE 44, 249 (278). 541 BVerfGE 44, 249 (271 f., 276 f.). Wie im Urteil zur W-Besoldung ist die verfassungsgerichtliche Quantifizierung „entzerrt“, denn die tabellarisch aufgeführten Geldbeträge werden bei ihrer Beurteilung als evident unzureichend nicht nochmals explizit genannt. 542 BVerfGE 44, 249 (276). 543 BVerfGE 81, 363 (376). In BVerfGE 81, 363 überprüft das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der konkreten Normenkontrolle die Vorschriften des Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes vom 20. März 1979 (BGBl. I, S. 357) betreffend die kinderspezifischen Besoldungsbestandteile in der Besoldungsgruppe A 11. Zum Prüfungsgegenstand näher BVerfGE 81, 363 (364 ff.). 544 BVerfGE 81, 363 (376). 545 Die in BVerfGE 44, 249 genannten Richtgrößen werden in BVerfGE 81, 363 um „vom Statistischen Bundesamt errechnete[…] Indices für die Lebenshaltung eines Kindes“ ergänzt. BVerfGE 81, 363 (378 f.). 546 BVerfGE 81, 363 (379). 547 „Der Gesetzgeber darf also nicht in der Weise verfahren, daß er die verfügbaren Regelsätze addiert und deren arithmetisches Mittel seiner Regelung zugrundelegt. Vielmehr muß er diese Regelsätze nach Maßgabe ihrer Aussagekraft gewichten.“ BVerfGE 81, 363 (379).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

in der Besoldungsgruppe A 11 für die Jahre 1978 und 1979 nach der Kinderzahl gestaffelt dargestellt. Das Gericht rechnet die Differenzen zwischen den monatlichen Bezügen aus. Es handelt sich um die pro Kind zusätzlich gewährten Besoldungsbestandteile: „im Jahre 1978 für das dritte Kind 233,57 DM, für das vierte 248,27 DM, für das fünfte 245,91 DM und für das sechste 241,21 DM“; „für das Jahr 1979 […] 257,37 DM, 285,61 DM, 283,48 und 284,98 DM.“548 Das Gericht subsumiert sodann, dass die kinderspezifischen Besoldungsbestandteile gemessen an den „verfassungsrechtlichen Erfordernissen“549 bzw. „der Grenze […], welche die einem Beamten der Besoldungsgruppe A 11 mit mehr als zwei Kindern geschuldete Alimentation nicht unterschreiten darf“,550 zu gering ausfällt. Das Prüfungskriterium des eindeutig evidenten Ungenügens wird nicht explizit wiederholt. Die Bemessung der zusätzlichen Bezüge entspreche außerdem nicht den Verfahrensanforderungen des Gerichts. Sie beruhten auf einem Bericht der Besoldungskommission Bund/Länder aus dem Jahr 1977, das den „Bedarf im Besoldungsrecht für jedes Kind“ berechnet, indem es den Durchschnittswert aus den in BVerfGE 44, 249 genannten Vergleichsgrößen bildet. Damit werde es „der unterschiedlichen Aussagekraft jener Regelsätze […] nicht gerecht.“551 Es wird dagegen der vom Statistischen Bundesamt für das Jahr 1976 berechnete „Mindestbedarf eines Kindes“ in Höhe von 305,32 DM als „maßstabsgerechter Anhaltspunkt“ ausgemacht. Er berücksichtige den qualitativen Unterschied der Sozialhilfe als Absicherung des existentiellen Mindestbedarfs und der Alimentation, denn der durch das Bundesamt errechnete kinderspezifische Bedarf sei „um fast 15 %“ höher als der Sozialhilfesatz.552 Die Subsumtion der besoldungsrechtlichen Regelungen553 bedeutet eine mittelbare, negative Quantifizierung des Alimentationsprinzips. Das Bundesverfassungsgericht legt punktuell fest, in welcher Höhe kinderspezifische Besoldungsbestandteile ab dem dritten Kind jedenfalls nicht amtsangemessen sind. Der Verweis auf den durch das Statistische Bundesamt errechneten Mindestbedarf stellt keine unmittelbare Quantifizierung von Art. 33 Abs. 5 GG dar. Die Bestimmung eines „Anhaltspunkt[es]“554 für die verfassungsgerechte Besoldung bedeutet im Gegensatz zur Festlegung von „Richtwerten“,555 von denen aus eine Bandbreite 548

BVerfGE 81, 363 (380 f., Zitat S. 381). BVerfGE 81, 363 (379). 550 BVerfGE 81, 363 (383). 551 BVerfGE 81, 363 (380 f., Zitat S. 381). 552 BVerfGE 81, 363 (382 f., Zitate S. 382). 553 „Aus alledem folgt, daß der Besoldungsgesetzgeber mit den im Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetz getroffenen Regelungen deutlich unterhalb der Grenze geblieben ist, welche die einem Beamten der Besoldungsgruppe A 11 mit mehr als zwei Kindern geschuldete Alimentation nicht unterschreiten darf. Art. I § 1 Nr. 8 in Verbindung mit Anlage 2 des 7.  BBesErhG ist daher mit Art.  33 Abs.  5 GG nicht vereinbar, soweit der Gesetzgeber es­ unterlassen hat, die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei verheirateten Beamten der Besoldungsgruppe A 11 mit mehr als zwei Kindern in einer dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen.“ BVerfGE 81, 363 (383). 554 BVerfGE 81, 363 (382). 555 BVerfGE 91, 93 (112). 549

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

249

verfassungsgemäßer Abweichungen beziffert wird,556 keine verbindliche Inhaltsbestimmung der Verfassung. Wenn das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 81, 363 auf die „fast 15 %“-Abweichung des Mindestbedarfs von der Sozialhilfe verweist, bedeutet dies noch nicht die Angabe eines verfassungsgemäßen Abweichungsspielraums, sondern es wird die Verfassungsgerechtigkeit der Orientierung an dem errechneten Bedarf nur näher begründet. 3. Unmittelbare Quantifizierung im Beschluss vom 24. November 1998 Am 24. November 1998 (BVerfGE 99, 300) erweitert das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens die aus dem Alimentationsprinzip (Art. 33 Abs. 5 GG) abgeleiteten Maßstäbe für die Besoldung aus BVerfGE 44, 249 und 81, 363.557 „Ein um 15 v. H. über dem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf liegender Betrag („15 v. H.Betrag“) läßt den verfassungsgebotenen Unterschied zwischen der der Sozialhilfe obliegenden Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs und dem dem Beamten (und seiner Familie) geschuldeten Unterhalt derzeit hinreichend deutlich werden (vgl. BVerfGE 81, 363 [382 f.]). Diese Berechnungsmethode führt nicht zu einer absoluten Bestimmung dessen, was die dem Beamten zu gewährende Alimentation ausmacht. Weisen die dem Beamten für sein drittes und jedes weitere Kind gewährten Zuschläge nicht einmal einen Abstand von 15 v. H. zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf auf, so hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten.“558

Das vage Abgrenzungskriterium zwischen einer noch und nicht mehr angemessenen Besoldung kinderreicher Beamter, die relational zu bestimmende eindeutig evidente Unterversorgung, wird durch eine numerische Untergrenze für die kinderspezifischen Besoldungsbestandteile, die dem Beamten bei mehr als zwei Kindern zusätzlich zu gewähren sind, ersetzt. Das Bundesverfassungsgericht formuliert ein Abstandsgebot von mindestens 15 % zum sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf“.559 Der in BVerfGE 81, 363 als „maßstabsgerechter Anhaltspunkt“560 ausgemachte, durch das Statistische Bundesamt errechnete Mindestbedarf (auf die entsprechende Passage der Entscheidung wird explizit verwiesen) ist nach der Interpretation des Gerichts nun verfassungsrechtlicher Inhalt des Alimentationsprinzips. 556

Siehe die Ausführungen zur Verfassungsrechtsprechung zum steuerfreien Existenzminimum unter A. II. a) cc) und b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 557 BVerfGE 99, 300 (314). 558 BVerfGE 99, 300 (321 f., Kursivsetzung durch Verf.). 559 Zur Relevanz des Sozialhilferechts für die Bemessung des kinderspezifischen Bedarfs BVerfGE 44, 249 (274) und BVerfGE 99, 300 (316). Zur Wesensverschiedenheit der sozial­ hilferechtlich gewährten Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums und der amtsangemessenen Alimentation von Beamten BVerfGE 44, 249 (264 f.) und BVerfGE 99, 300 (316). 560 BVerfGE 81, 363 (382).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Problematisch erscheint, ob das Gericht den eigenen, dem Besoldungsgesetzgeber in BVerfGE 81, 363 auferlegten Verfahrensvorgaben gerecht wird. Es wird lediglich eine der Rechtsordnung zu entnehmende Größe für den Kindesbedarf zur Ermittlung der zusätzlichen besoldungsrechtlichen Leistungen als maßgeblich herausgegriffen. Ob die Erhöhung der Sozialhilfeleistungen um 15 % auf einer eigenen Wertung des Bundesverfassungsgerichts beruht oder ob es lediglich die Richtgröße des Statistischen Bundesamts aus BVerfGE 81, 363 übernimmt, ist nicht einsehbar. Unabhängig von der damit aufgeworfenen Frage der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskohärenz liefert das Bundesverfassungsgericht jedenfalls die Anleitung für die Berechnung des konkret zu gewährenden Geldbetrags, indem es die Sozialhilfeleistungen als Bezugspunkt der kinderspezifischen Mehrbesoldung näher aufschlüsselt. Es stellt wie bei der Bemessung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums561 nicht auf die fiktiven, im Einzelfall tatsächlich zu gewährenden, sondern die Kindern durchschnittlich gewährten sozialhilferechtlichen Leistungen ab. Der „sozialhilferechtliche Gesamtbedarf“ ist demnach die Summe aus dem bundesdurchschnittlichen Regelsatz, einem „durchschnittliche[n] Zuschlag von 20 v. H. zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt, der „Durchschnittsmiete“ für einen „Wohnbedarf von 11 m2“ und den „Energiekosten“ in Höhe von „20 v. H. der Kaltmiete“.562 Die Subsumtion erfolgt dann tabellarisch im Wege einer „Vergleichsberechnung[…]“563: Der errechnete Prüfungsmaßstab (durchschnittlicher „sozialhilferechtliche[r] Gesamtbedarf[…]“564 pro Monat + 15 %) wird dem Prüfungsgegenstand („durchschnittliche[r] Nettomehrbetrag […], den der Beamte [monatlich zusätzlich] für sein drittes und jedes weitere Kind erhält“565) getrennt nach Besoldungsgruppen und Jahren (vgl. die einzelnen angegriffenen Regelungen) gegenübergestellt.566 Das Zurückbleiben der durchschnittlichen Mehrbesoldung kinderreicher Beamter hinter dem durchschnittlichen „sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf“567 bedeutet die Verletzung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums und damit die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen besoldungsrechtlichen Regelungen.568 Das Bundesverfassungsgericht stützt sich explizit auf § 35 BVerfGG, erlässt also eine 561

Siehe die Ausführungen unter A. II. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. BVerfGE 99, 300 (322). Hinsichtlich der Höhe und Berechnung der Leistungsbestandteile stützt sich das Bundesverfassungsgericht auf frühere Entscheidungen, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, „den Bericht der Besoldungskommission Bund/Länder über besoldungsrechtliche Folgerungen aus der am 1. Januar 1983 in Kraft getretenen einkommensabhängigen Kürzung des Kindergeldes vom 30. Januar 1984“, den „Bericht [der Bundesregierung] über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien im Jahr 1996“ sowie Erhebungen des Statistischen Bundesamts (ebd.). 563 BVerfGE 99, 300 (323). 564 BVerfGE 99, 300 (321). 565 BVerfGE 99, 300 (323). 566 BVerfGE 99, 300 (323–329). 567 BVerfGE 99, 300 (321). 568 BVerfGE 99, 300 (329 f.). 562

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Anordnung für die Vollstreckung der Entscheidung, wenn es Dienstherren und Fachgerichte verpflichtet, bei Untätigkeit des Gesetzgebers ab dem 1. Januar 2000 eine dem zuvor festgestellten Mindestabstand entsprechende Mehrbesoldung ab dem dritten Kind zu gewähren.569 Die Konkretisierung der zusätzlich zu gewährenden Besoldungsbestandteile durch die Festsetzung eines 15 v. H.-Abstands zu den durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen bedeutet eine unmittelbare, heteronome Quantifizierung des Alimentationsprinzips, Art. 33 Abs. 5 GG. Das Bundesverfassungsgericht trifft auf Maßstabsebene eine numerische Aussage über die amtsangemessene Alimentation. Die Verankerung des gebotenen Abstands zwischen Sozialhilfe und Besoldung gerade bei 15 % wird durch das Bundesverfassungsgericht nicht eigens argumentativ fundiert. Gleiches gilt für die maßgebliche Höhe und Berechnung der Sozialhilfebestandteile. Die im Wege der tabellarischen Gegenüberstellung erfolgende Subsumtion bedeutet keine weitere Konkretisierung und damit keine von der unmittelbaren zu unterscheidende mittelbare Quantifizierung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Die Übergangsregelung bei Untätigkeit des Gesetzgebers stellt eine weitere unmittelbare Quantifizierung des Gerichts dar. Eine numerische Bindung des Gesetzgebers tritt zwar bereits unabhängig von der Übergangsregelung ein,570 jedoch besteht allein bei einer fristgerechten Neuregelung ein nach oben­ offener Gestaltungsspielraum.

VI. Ehegattensplitting 1. Verfassungsrechtsprechung zum Ehegattensplitting Die Besteuerung der Ehegatten ist im geltenden Einkommensteuerrecht in §§ 26, 26b, 32a Abs.  5 Einkommensteuergesetz (EStG) geregelt. Als Ausnahme von der Individualbesteuerung ist eine (fakultative)  Zusammenveranlagung vorgesehen. Das Einkommen der Ehepartner wird demnach zunächst addiert, dann hälftig auf die Ehegatten verteilt und mit dem für die jeweilige Hälfte geltenden Steuersatz versteuert.571 Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Verfassungskonformität dieses sogenannten Splittingverfahrens in verschiedenen Entscheidungen geäußert. 569

BVerfGE 99, 300 (304, 331 f.). Es ist vorliegend zwar allein die Übergangsregelung in die Entscheidungsformel aufgenommen worden, unabhängig vom Streit um die Bindung des Gesetzgebers auch an die tragenden Gründe (hierzu: Andreas Heusch, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-­ Wilhelm Dollinger [Hrsg.], Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 31 Rn. 58 f.) ist dieser jedenfalls faktisch gezwungen, die Quantifizierung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, um keine erneute gleichlautende Entscheidung zu provozieren. Zur faktischen Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 157 (167). 571 Dieter Birk/Marc Desens/Henning Tappe, Steuerrecht, 16. Aufl. 2013, § 5 Rn. 636 ff. 570

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

In der Entscheidung zur Unvereinbarkeit der Zusammenveranlagung von Ehegatten (ohne Splitting) nach § 26 EStG a. F. mit Art. 6 Abs. 1 GG572 (BVerfGE 6, 55) weist das Bundesverfassungsgericht auf das Splittingverfahren als verfassungskonforme Möglichkeit der Ehegattenbesteuerung hin.573 „Die Einführung begünstigender steuerrechtlicher Vorschriften (z. B. des ‚splitting‘) wäre […] verfassungsrechtlich unbedenklich.“574

In BVerfGE 61, 319 geht das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dic­tum575 über den pauschalen Hinweis in BVerfGE 6, 55 hinaus. „Damit ist das Ehegattensplitting keine beliebig veränderbare Steuer-‚Vergünstigung‘, ­sondern – unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers – eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Art. 3 Abs. 1 GG) orientierte sachgerechte Besteuerung.“576 572 § 26 EStG a. F. sah die Zusammenveranlagung von Ehegatten bei der Einkommensteuer ohne Splittingverfahren vor. Mann und Frau galten demnach im Einkommensteuerrecht als ein Steuerpflichtiger. Im Falle der Berufstätigkeit von Mann und Frau fiel die Steuerlast der Ehegatten daher wegen der progressiven Steuerbelastung höher aus als wenn sie – unverheiratet – individuell besteuert worden wären. Zu den Ursachen einer höheren Steuerbelastung bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten ohne Splittingverfahren siehe auch Rainer Wernsmann, BVerfGE 6, 55 – Ehegattensplitting, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 90 (ebd.). 573 Rainer Wernsmann, BVerfGE 6, 55  – Ehegattensplitting, in: Jörg Menzel/Ralf MüllerTerpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 90 (94). 574 BVerfGE 6, 55 (76 f.). Das Ehegattensplitting führt freilich nur dann zu einer Steuervergünstigung, wenn die Ehegatten unterschiedlich hohes Einkommen erzielen. Sie ist umso höher, je größer die Differenz zwischen den Einkommen ausfällt, und auf die später beginnende sowie flacher verlaufende Progression zurückzuführen. Wenn nur ein Ehegatte steuerpflichtiges Einkommen erzielt, wirkt sich außerdem die Verdoppelung des Grundfreibetrags günstig aus. Siehe u. a. Ute Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 (1898); BVerfGE 61, 319 (323 f.). Das Bundesverfassungsgericht stellt in BVerfGE 6, 55 (80) fest: „Will man aus dem Gesichtspunkt der Sozialstaatlichkeit und des Schutzes von Ehe und Familie der besonderen Lage des Ehemannes und Familienvaters, der für mehrere Personen aufzukommen hat, Rechnung tragen, so gibt es dazu verschiedene, in der Öffentlichkeit bereits erörtere Wege (Erhöhung der Freibeträge, Einführung des ‚splitting‘).“ 575 Rainer Wernsmann, BVerfGE 6, 55  – Ehegattensplitting, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-­ Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 90 (94). 576 BVerfGE 61, 319 (347). Das Ehegattensplitting entspreche einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, denn die Ehe sei eine „Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs“, „in der ein Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit zwischen den Partnern stattfinde[…]“ (ebd., S. 345 f.). Das Ehegattensplitting bedeute die steuerrechtliche Verwirklichung der „Gleichwertigkeit der Arbeit von Mann und Frau, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Haus- oder Berufsarbeit handelt“ (ebd., S. 346). Es werde die freie „Aufgabenverteilung“ in der Ehe, wie von Art. 6 Abs. 1 GG gefordert, geschützt (ebd., S. 347). Nicht zuletzt sollen F ­ amilien gefördert werden – die Steuervergünstigung ermögliche einem Ehepartner, ganz die persönliche Betreuung der Kinder zu übernehmen oder eine professionelle (Teil-)Betreuung zu finanzieren (ebd., S. 350 f.). Umstritten ist, ob ein verfassungsrechtliches Gebot zur Anwendung des Ehegattensplittings bei der Besteuerung besteht und sich insbesondere die zitierten Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem Sinne deuten lassen. Ablehnend Ute ­Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW  2000, S.  1896 (1897 f.). In BVerfGE 108, 351

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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2. Ehegattensplitting als bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung? Beim Verweis des Bundesverfassungsgerichts auf das Splitting als verfassungsgerechte Besteuerungsform handelt es sich um eine unmittelbare Quantifizierung der Art.  6 Abs.  1, 3 Abs.  1 GG. Das Bundesverfassungsgericht nennt zwar ausdrücklich kein Zahlenverhältnis, nach dem das gemeinsame Einkommen auf die Ehegatten zur Ermittlung des Steuersatzes verteilt wird. Das Splitting ist jedoch ein fester Fachterminus des deutschen Einkommensteuerrechts und bezeichnet ein Verfahren, im Rahmen dessen das Ehegatteneinkommen hälftig geteilt wird. Es leitet sich vom englischen „to split“, das teilen bzw. halbieren bedeutet, ab. Das Bundesverfassungsgericht kennzeichnet also die hälftige Teilung und damit dasselbe Zahlenverhältnis wie beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz und der relativen Deckelung der Parteienfinanzierung als verfassungskonform. Abgesehen von der numerischen Parallele unterscheidet sich die vorliegende verfassungsgerichtliche Quantifizierung jedoch von den vorgenannten. Es handelt sich nicht um eine materielle Grenze, sondern eine formelle Vorgabe für ein verfassungsgerechtes Besteuerungsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht nennt eine verfassungskonforme Möglichkeit der Ehegattenbesteuerung, keine zwingende Vorgabe für den Gesetzgeber.577

VII. Parteienfinanzierung Das aktuelle Parteiengesetz (PartG) normiert eine Form der Parteienfinanzierung, die auf zwei Säulen beruht und neben der privaten eine staatliche Finanzierung vorsieht. Innerhalb der staatlichen Finanzierung lassen sich direkte Geldleistungen und eine indirekte Unterstützung durch im Einkommensteuergesetz nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht „zu den Verfassungsfragen des Ehegattensplittings Stellung […], denn sie sind nicht entscheidungserheblich“ (ebd., S. 366). Die Ausgestaltung des Ehegattensplittings, nach der die Steuervorteile der bestehenden Ehe zugewiesen werden, „entspreche dem Schutzauftrag nach Art. 6 Abs. 1 GG“ (ebd., S. 367). Auf die Diskussionen in der Literatur um die Verfassungsmäßigkeit des Ehegattensplittings soll hier nicht näher eingegangen werden. Die Kritik richtet sich jedenfalls nicht gegen die hälftige Aufteilung des Ehegatteneinkommens, also gegen die verfassungsrechtliche Quantifizierung. Zur Kritik siehe nur Ute Sacksofsky, die die Vereinbarkeit des Ehegattensplittings mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip und Art. 3 Abs. 2 GG diskutiert. Dies., Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 (1899 ff. m. w. N.). Im Falle der Abschaffung des Ehegattensplittings müssten bei der Besteuerung die Unterhaltspflichten mindestens in Höhe des Existenzminimums berücksichtigt werden. Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG. Siehe BVerfGE 82, 60; Rainer Wernsmann, BVerfGE 6, 55 – Ehegattensplitting, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 90 (94 f.). Zu den weiteren alternativ diskutierten Modellen zur Besteuerung von Ehepartnern Ute Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 (1903). 577 Siehe hierzu bereits Fn. 574 im dritten Teil.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

(EStG) normierte Steuererleichterungen für Mitgliedsbeträge und Spenden unterscheiden.578 Die aktuellen Maßstäbe für die staatliche Finanzierung und Offenlegung der privaten Finanzierung hat das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 85, 264 und 111, 382 nachgezeichnet.579 Unter dem Gesichtspunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung ist insbesondere das Urteil des Zweiten Senats vom 9. April 1992 (BVerfGE 85, 264) relevant. Auf weitere Verfassungsgerichtsentscheidungen zur Parteienfinanzierung und deren Quantifizierungen wird im­ Zusammenhang der Erörterung einzelner Finanzierungsfragen verwiesen. 1. Zahlen und Zahlenbezug im Urteil zur Parteienfinanzierung vom 9. April 1992 a) Grenzen der direkten staatlichen Finanzierung Mit Blick auf die spätere methodische Problematisierung und die kompetenziellen Schranken der bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung muss im Zusammenhang der direkten Parteienfinanzierung zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3.  Dezember 1968 (BVerfGE 24, 300) Erwähnung finden. Das Gericht prüft dort am Maßstab der Chancengleichheit der Parteien die Voraussetzungen für die Wahlkampfkostenerstattung im PartG, wonach die Parteien mindestens 2,5 % der Zweitstimmen in der letzten Wahl erreichen müssen. Es kombiniert eine mittelbare mit einer unmittelbaren Quantifizierung, indem es die 2,5 %-Grenze für verfassungswidrig, deren Absenkung auf 0,5 % aber für verfassungsgemäß erklärt.580 Es „müßte […] eine Partei rund 835 000 Stimmen auf sich vereinigen, ehe sie die 2,5 v. H.Grenze erreicht. Diese Anforderung an den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlkampfbemühungen ist jedoch nicht vertretbar. Ein Mindeststimmenanteil von 0,5 v. H. der abge 578 Klaus Ritgen, BVerfGE 85, 264  – Parteienfinanzierung, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-­ Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 508 (ebd.). 579 Klaus Ritgen, BVerfGE 85, 264 – Parteienfinanzierung, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-­Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2.  Aufl. 2011, S.  508 (513 f.). Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung ergeht in einem Organstreitverfahren, das DIE GRÜNEN gegen Teile des Fünften Gesetzes zur Änderung der Parteienfinanzierung und anderer Gesetze vom 22. Dezember 1988 (BGBl. I, S. 2615) anstrengen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft auf der Grundlage der Änderungen Vorschriften des Parteiengesetzes (PartG). Es stellt insoweit auf die Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 1989 (BGBl. I, S. 327) ab. BVerfGE 85, 264 (268 ff.). 580 Auch in diesem Zusammenhang ist eine gestufte Konkretisierung der Verfassung zu beobachten. Bevor das Bundesverfassungsgericht die einfachgesetzliche Zahlengrenze für die Wahlkampfkostenerstattung bei der Prüfung in Bezug nimmt, fordert es für Durchbrechungen der Chancengleichheit der Parteien einen „besonderen zwingenden Grund“ und fasst hierunter die Ernsthaftigkeit der parteipolitischen Bemühungen. Es bezieht sich auf seine frühere Rechtsprechung, wonach ein zur Gewähr der Ernsthaftigkeit einfachgesetzlich normiertes Mindestquorum die 5 %-Grenze, die als Sperrklausel den Einzug von Splitterparteien ins Parlament verhindern soll, deutlich unterschreiten müsse. BVerfGE 24, 300 (339–342, Zitat S. 339).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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gebenen Stimmen würde bedeuten, daß eine Partei 167 000 Stimmen gewinnen muß. Einer Partei, die so viele Stimmen auf sich zu vereinigen vermag, kann jedoch die Ernsthaftigkeit ihrer Wahlkampfbemühungen nicht bestritten werden.“581

Am 9. April 1992 (BVerfGE 85, 264) überprüft das Bundesverfassungsgericht dann § 18 Abs. 6 PartG a. F., der in einem sog. Sockelbetrag unmittelbar und unabhängig von den Wahlkampfkosten staatliche Unterstützung gewährt.582 Prüfungsmaßstab ist die in Art. 21 Abs. 1 GG garantierte Staatsfreiheit der Parteien.583 Das Bundesverfassungsgericht richtet die Grundsätze für die Finanzierung außerdem an der ihnen garantierten Chancengleichheit aus.584 Es entwickelt Grenzen für die direkte staatliche Finanzierung, indem es die verfassungsrechtlichen Vorgaben stufenweise präzisiert. Auf einer hohen Abstraktionsebene umschreibt es das 581

BVerfGE 24, 300 (342, Kursivsetzung durch Verf.). In BVerfGE 24, 300 finden sich bei der Prüfung der Vorgaben des PartG für die Wahlkampfkostenerstattung weitere (mittelbare) Quantifizierungen. Das Verfassungsgericht erklärt es für verfassungsgemäß, wenn „eine Partei, für die in einem Land keine Landesliste zugelassen war, nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 PartG nur dann ihre Wahlkampfkosten erstattet erhält, wenn sie in einem Wahlkreis dieses Landes mindestens 10 v. H. der abgegebenen gültigen Erststimmen erreicht“. Ebd., S. 343. Die pauschale Gewährung von 2,50 DM je Wahlberechtigtem sei mit Art. 21 Abs. 1, 20 Abs. 2 GG vereinbar, die die Parteienfinanzierung auf die „notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfes“ beschränken würden – „Sie entspricht den Kosten eines Wahlkampfes, ‚der unter den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen einer angemessenen werbenden Darstellung der Programme und Ziele und der notwendigen Auseinandersetzung der um die politische Macht kämpfenden Parteien dient‘ (BVerfGE 20, 56 [115/116]).“ Das Bundesverfassungsgericht stellt vor allem auf die verfassungsgerechte Methodik des Gesetzgebers bei der Ermittlung der Pauschale ab. Ebd., S. 305 f., 335 ff. (Zitate S. 306/335, 336). 582 Das System der unmittelbaren staatlichen Zuwendungen an Parteien in Form von Wahlkampfkostenerstattung und Sockelbetrag ist nach BVerfGE 85, 264 vom Bundesgesetzgeber reformiert worden. Es wird nun eine allgemeine teilweise Finanzierung abhängig vom Wahlerfolg (sog. Wählerstimmenanteil) und der Höhe der Zuwendungen durch Beiträge und Spenden (sog. Zuwendungsanteil) gewährt – hierzu BVerfGE 111, 382 (384 f.). In BVerfGE 111, 382 urteilt das Bundesverfassungsgericht über eine Reform der Voraussetzungen für die Gewährung des Zuwendungsanteils im PartG. Während es zunächst ausgereicht hat, wenn eine Partei bei einer der letzten Parlamentswahlen in den Ländern 1 % bzw. 0,5 % der Stimmen bei den Bundestags- oder Europawahlen auf sich vereinen konnte, wird 2002 das PartG reformiert und ein „Drei-Länder-Quorum“ etabliert. Nach der Neuregelung muss eine Partei bei mindestens drei der vergangenen Landtagswahlen 1 % der Stimmen gewonnen haben, um den Zuwendungsanteil zu erhalten. Alternative Voraussetzung ist das Erreichen von 5 % der Stimmen in einer der letzten Landtagswahlen oder – wie bislang – 0,5 % der Stimmen bei der letzten Bundestagswahl bzw. den Wahlen zum Europäischen Parlament. Laut BVerfGE 111, 382 handelt es sich bei der Neuregelung um einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Das Bundesverfassungsgericht stellt jedoch nicht darauf, dass die Parteien gerade in drei Ländern einen Mindeststimmenanteil vereinnahmen müssen, und auch nicht auf die konkrete Höhe der geforderten Mindeststimmenanteile ab. In BVerfGE 111, 382 findet sich daher keine bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung. 583 BVerfGE 85, 264 (283). 584 BVerfGE 85, 264 (288). Explizit ist die Parteienfinanzierung nur in Art.  21 Abs.  1 Satz 4 GG angesprochen. Die dort verankerte Rechenschaftspflicht der Parteien lässt die Frage nach Möglichkeit und Grenzen einer Staatsfinanzierung offen. Hierzu Gregor Stricker, Der Parteienfinanzierungsstaat, 1998, S. 23.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Spannungsfeld, das sich bei der Sicherung der verfassungsrechtlichen Funktion der Parteien eröffnet: Auf der einen Seite bedarf die Organisation und Vermittlung politischer Willensbildung durch die Parteien finanzieller Mittel, auf der anderen Seite muss der Einfluss staatlicher Organe auf den (partei-)politischen Willens­ bildungsprozess abgewehrt sowie die Identität der Parteien als gesellschaftliche Organisationen gewahrt werden.585 Bei der Entwicklung konkreter Maßstäbe für die unmittelbare Mittelzuwendung durch den Staat müsse die gesellschaftliche Verankerung der Parteien erhalten werden. Die staatliche Unterstützung dürfe nicht das Bemühen um gesellschaftliche Unterstützung entbehrlich machen.586 Hieran anknüpfend fächert das Gericht die Anforderungen an die Parteienfinanzierung auf und formuliert neben „Kriterien der Mittelverteilung“ Vorgaben für den „Umfang[…]“ der Finanzierung.587 Die allgemeine Parteienfinanzierung588 müsse auf eine „Teilfinanzierung“589 beschränkt werden. Es bestehe ein Vorrang der Selbst- vor einer Fremd-, d. h. Staatsfinanzierung. Das Gericht entwickelt hieraus eine relative und absolute Obergrenze für den Umfang der Staatsfinanzierung.590

585

BVerfGE 85, 264 (284 ff., Zitat S. 287). BVerfGE 85, 264 (287 f., 292). Uwe Volkmann beschreibt eine Akzentverschiebung in der Verfassungsrechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht leite bei der Nachzeichnung verfassungsrechtlicher Grenzen für die staatliche Finanzierung nicht mehr das Bild einer getrennten gesellschaftlichen und staatlichen Willensbildung (siehe v. a. BVerfGE 20, 56), sondern die Funktionssicherung der Parteien als Organisator und Mittler im Willensbildungsprozess. Ders., Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S.  325 (326–328). Vgl. auch Klaus­ Ritgen, BVerfGE 85, 264 – Parteienfinanzierung, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 508 (511). 587 BVerfGE 85, 264 (288 ff., Zitate S. 288). Zu den Verteilungskriterien: Die direkte staatliche Parteienfinanzierung ist nur dann verfassungsgemäß, wenn für die Mittelvergabe auch die Zahl der Wählerstimmen und die Summe der Eigeneinnahmen (Mitgliedsbeiträge und Spenden) maßgeblich sind (S. 292 ff.). 588 Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung ist sie nach BVerfGE 85, 264 verfassungsgemäß. Das Bundesverfassungsgericht begründet dies mit der andauernden, durch die Parteien bewerkstelligten Rückkopplung zwischen der gesellschaftlichen und staatlichen Willensbildung. Ebd., S. 285 ff. „Die den Parteien in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG aufgegebene Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes beschränkt sich mithin nicht auf die unmittelbare Wahlvorbereitung. Diese bildet lediglich einen allenfalls in organisatorischer Hinsicht selbstständigen Teil  ihrer Aufgabe; sachlich-inhaltlich fügt sich die Beteiligung an Wahlen in die ständige Wirksamkeit der Parteien bruchlos ein […].“ Ebd., S. 286. 589 BVerfGE 85, 264 (287). 590 Die unmittelbare Maßgeblichkeit des Vorrangs der „Selbstfinanzierung der Parteien“ für die Grenzen der staatlichen Unterstützung wird in der Formulierung der Entscheidungsbegründung deutlich sichtbar: „Der Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien gestattet daher die Zuführung staatlicher Mittel nur bis zur Höhe einer relativen Obergrenze […].“ BVerfGE 85, 264 (S. 289, Kursivsetzung durch Verf.); „Daraus folgt indes nicht nur, daß das Gesamtvolumen staatlicher Zuwendungen an die Parteien die Summe ihrer selbsterwirtschafteten Einnahmen nicht übersteigen darf, sondern auch, daß eine Steigerung dieser Einnahmen nicht ohne weiteres dazu führen darf, daß der Umfang der Staatsfinanzierung der Parteien weiter anschwillt.“ Ebd., S. 290, Kursivsetzung durch Verf. 586

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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aa) Relative Obergrenze Mit der Entwicklung einer relativen Obergrenze benennt es einen beweglichen Maßstab für den Mittelumfang. Demnach darf die staatliche Unterstützung einer Partei nicht höher sein als ihre Eigeneinnahmen.591 Die relative lässt sich als numerische Obergrenze und „goldene Regel der Parteienfinanzierung“592 begreifen: „de[r] Staatsanteil an den Parteieinnahmen [wird] auf […] 50 v. H.“ „begrenz[t]“.593 bb) Absolute Obergrenze und Übergangsregelung für die direkte Finanzierung „Eine Steigerung [der] […] [Eigen-]Einnahmen [dürfe jedoch] nicht ohne weiteres dazu führen […], daß der Umfang der Staatsfinanzierung der Parteien weiter anschwillt.“594 Das Bundesverfassungsgericht zeichnet daher neben der relativen eine absolute Obergrenze für die unmittelbare Staatsfinanzierung nach. Es lassen sich zwei Konkretisierungsschritte unterscheiden.595 Die absolute Begrenzung der Mittelzuwendung wird zunächst abstrakt-qualitativ umschrieben: „Der Umfang der Staatsfinanzierung muß sich auf das beschränken, was zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Parteien unerläßlich ist und von den Parteien nicht selbst aufgebracht werden kann.“ Das Gebot der „sparsame[n] Verwendung öffentlicher Mittel“ gelte auch für die Parteienfinanzierung.596 Das Bundesverfassungsgericht schreibt – „gemessen an diesem Maßstab“597 – den status quo als verfassungsgerechten Umfang der Staatsfinanzierung fest. Es vermeidet gleichzeitig eine vollkommene Statik der Finanzierung, indem es die aktuell einfachgesetzlich 591

Nach BVerfGE 85, 264 bilden die Eigeneinnahmen durch Spenden und Mitgliedsbeiträge die relative Obergrenze der staatlichen Parteienfinanzierung (S. 289 f.). 592 Hans Herbert v. Arnim, Verfassungsfragen der Parteienfinanzierung, ZRP 1982, S.  294 (301). Hierzu Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (327, Fn. 34). 593 Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S.  325 (327).­ Volkmann und v. Arnim beziehen sich bei der Einordnung als 50 %-Grenze auf BVerfGE 20, 56 (102), wonach „eine völlige oder auch nur überwiegende Deckung des Geldbedarfs der Parteien aus öffentlichen Mitteln“ verfassungswidrig ist. Nach Volkmann präzisiert das Gericht mit der relativen Obergrenze in BVerfGE 85, 264 die frühere Vorgabe (S. 327). Siehe auch Rolf Schwartmann, Verfassungsfragen der Allgemeinfinanzierung politischer Parteien, 1995, S. 38 f. In BVerfGE 111, 382 ist die Rede davon, dass „eine politische Partei sich immer mindestens hälftig staatsfrei finanzier[en]“ muss (S. 408, Kursivsetzung durch Verf.). 594 BVerfGE 85, 264 (290). 595 Zur gestuften Entwicklung einer absoluten Obergrenze durch das Bundesverfassungsgericht auch Rolf Schwartmann, Verfassungsfragen der Allgemeinfinanzierung politischer Parteien, 1995, S. 90 ff. Schwartmann unterscheidet drei Konkretisierungsschritte, indem er die Festschreibung des status quo der Finanzierung und die Gleichsetzung des status quo mit den Zuwendungen in den Jahren 1989 bis 1992 nochmals unterscheidet (ebd., S. 94). 596 BVerfGE 85, 264 (290). 597 BVerfGE 85, 264 (291).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

gewährleisteten Mittel als aus der Verfassung abgeleitete598 absolute Obergrenze für Anpassungen an gravierende Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse öffnet. Es liegt nahe, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang vor allem an Änderungen des Geldwerts gedacht hat, deren Berücksichtigung jedenfalls bei unmittelbar verfassungsrechtlich festgeschriebenen Zahlen und dem Fehlen von Ausnahmeklauseln problematisch sein kann.599 „Der Umfang der den Parteien in den Jahren 1989 bis 1992 aus öffentlichen Kassen zugeflossenen finanziellen Mittel muß, solange die bestehenden Verhältnisse keine einschneidende Veränderung erfahren, als hinreichend angesehen werden. Der sich aus diesen Zuwendungen als Mittelwert für ein Jahr ergebende Betrag bildet das Gesamtvolumen staatlicher Mittel, die den Parteien äußerstenfalls von Bund und Ländern insgesamt zugewendet werden dürfen („absolute Obergrenze“).“600

Die „aus öffentlichen Kassen zugeflossenen finanziellen Mittel“ umfassen nach den weiteren Ausführungen des Gerichts den Sockelbetrag, die (übrige)  Wahlkampfkostenerstattung und die im Chancenausgleich zugewiesenen Beträge. Es regelt außerdem Detailfragen: „Soweit in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-­Anhalt und Thüringen die Wahlkampfkostenerstattung bei den letzten Landtagswahlen hinter dem im übrigen Bundesgebiet üblichen Betrag von fünf Deutsche Mark je Wahlberechtigten zurückgeblieben ist, kann für die Festlegung der absoluten Obergrenze von diesem üblichen Betrag ausgegangen werden.“601

Die Verfassungswidrigkeit der Sockelbetragsregelung kann sich wegen der Festschreibung der aktuellen Finanzierung als verfassungsrechtliche Obergrenze nicht aus dem Umfang der zugewendeten Mittel ergeben.602 Sie ist laut Bundesverfassungsgericht erst Folge der Erfolgsunabhängigkeit des Verteilungsmodus. Der Erfolg der Parteien müsse „zu einem jeweils ins Gewicht fallenden, im einzelnen allerdings vom Gesetzgeber zu bestimmenden Anteil“ berücksichtigt werden.603 Die Konkretisierung des Erfolgsparameters, ggf. dessen Quantifizierung obliegt dem Gesetzgeber. Das Gericht belässt die verfassungsrechtlichen Vorgaben anders als das maximale Finanzierungsvolumen unbestimmt.

598 Die Verfassung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daneben auch Maßstab für die Kriterien der Verteilung der staatlichen Mittel unter den Parteien („Der Verfassung sind auch Maßgaben dafür zu entnehmen, wie die den Parteien zur Verfügung gestellten Mittel unter ihnen zu verteilen sind.“), BVerfGE 85, 264 (292), hierzu sogleich im Text. 599 Die Sensibilität des Bundesverfassungsgerichts für Geldwertänderungen zeigt sich im Zusammenhang der Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der Publizitätsgrenze im PartG in BVerfGE 85, 264 (323). Zur Berücksichtigung extremer Geldwertschwankungen bei der­ Auslegung von Zahlen im Grundgesetz siehe die Ausführungen unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 600 BVerfGE 85, 264 (Leitsatz 2 b [Zitat], S. 291). 601 BVerfGE 85, 264 (291). 602 Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (329). 603 BVerfGE 85, 264 (292 ff., Zitat S. 292).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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Im Entscheidungsausspruch geht das Bundesverfassungsgericht über die Feststellung des Verfassungsverstoßes durch § 18 Abs. 6 PartG a. F. hinaus.604 Die Regelung zum Sockelbetrag sei nichtig („entfällt mit sofortiger Wirkung“), die abschlagsweise Erstattung der Kosten für den Bundestagswahlkampf ersatz- und übergangsweise „als endgültige Leistung[…]“ zu gewähren. Der Gesetzgeber könne statt der geltenden einfachgesetzlichen Pauschale von 5 DM eine Pauschale von maximal 6,50 DM je Wahlberechtigten gewähren: „Hinsichtlich der Höhe der Zahlungen ist es dem Gesetzgeber unbenommen, von einer Pauschale nach § 18 Abs. 1 PartG von bis zu 6,50 DM je Wahlberechtigten auszugehen […].“605 b) Grenzen der indirekten staatlichen Finanzierung: Höchstbeträge für die steuerliche Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden In BVerfGE 85, 264 überprüft das Bundesverfassungsgericht die Höchstbeträge für die als Sonderausgaben absetzbaren (Beiträge und)606 Spenden in § 10b Einkommensteuergesetz (EStG) a. F. und § 9 Nr. 3 Buchst. b) Körperschaftsteuergesetz (KStG) a. F. Sie fügen sich in ein System der steuerlichen Begünstigung ein, in dem die Abzugs- durch eine „sogenannte Kleinbetragsregelung“ in § 34g EStG a.F607 flankiert wird. Demnach reduziert sich bei Zuwendungen an Parteien bis zu den dort bestimmten Grenzen die Steuerschuld unmittelbar.608 Die gesetzlichen Höchstbeträge in Höhe von 60.000 bzw. bei Ehegatten in Höhe von 120.000 DM pro Jahr in § 10b EStG a. F. und in Höhe von 60.000 DM in § 9 Nr. 3 Buchst. b) KStG a. F. gehen auf BVerfGE 73, 40 zurück: Das Bundesverfassungsgericht überprüft dort die einfachgesetzlichen Regelungen, nach denen sich die Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an Parteien noch in Prozent des Einkommens (bzw. Promille der Umsätze und des Lohns) bemisst. Demnach kommt einkommensstärkeren Steuerpflichtigen auch bei Berücksichtigung der damals schon bestehenden Kleinstbetragsregelung im progressiven Steuertarifsystem eine absolut und relativ höhere Steuerersparnis zu Gute. Das Gericht verlangt zur Wahrung der gleichen Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung eine Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit

604 Zum Entscheidungsausspruch im Organstreitverfahren Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 373. 605 BVerfGE 85, 264 (327 f., Zitate ebd.). 606 Formal erfassen die steuerrechtlichen Regelungen zwar auch die von den Parteien erhobenen Mitgliedsbeiträge (der Gesetzgeber spricht von „Zuwendungen“ und versteht darunter „Spenden und Mitgliedsbeiträge“, siehe § 10b Abs. 1 Satz 1 EStG), tatsächlich erreichen diese aber bei weitem nicht die einfachgesetzlich festgelegten und verfassungsgerichtlich überprüften Höchstbeträge. Siehe hierzu auch BVerfGE 85, 264 (299 f.). 607 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Fassung vom 22.  Dezember 1983, BGBl. I, S. 1577. Siehe BVerfGE 85, 264 (316). 608 Hierzu und zu vorherigen Regelungen zu Steuererleichterungen bei Zuwendungen an­ Parteien Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (331 f., Zitat S. 331).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

auf einen „Höchstbetrag“. Er dürfe „im Hinblick auf die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien“ „100 000 DM nicht überschreiten“.609 609 BVerfGE 73, 40 (71, 84 [Zitate ebd.]). Das Gericht macht im Entscheidungsausspruch nochmals deutlich, dass es sich bei den 100.000 DM um keine durch den Gesetzgeber unverändert umzusetzende Vorgabe, sondern um eine Begrenzung dessen Gestaltungsspielraums (nach oben) handelt: „Innerhalb der ihm vorgegebenen Grenzen wird der Gesetzgeber zu bestimmen haben, in welcher Höhe Ausgaben zur Förderung staatspolitischer Zwecke abzugsfähig sein sollen.“ BVerfGE 73, 40 (101, Kursivsetzung durch Verf.). Der hoch gegriffene Betrag erklärt sich auch angesichts der Annahme des Gerichts, die einfachgesetzliche Chancenausgleichsregelung relativiere partiell die aus der steuerlichen Ungleichbehandlung folgenden ungleichen politischen Einflussmöglichkeiten. Eine Steuervergünstigung sei erst dann mit dem gleichen Recht der Bürger auf politische Teilhabe nicht mehr vereinbar, wenn der Steuerpflichtige durch sie „bestimmenden Einfluss“ auf eine Partei ausüben könne. Ebd., S.  82 f., Zitat S. 83. Zu BVerfGE 73, 40 und der verfassungsgerichtlichen Obergrenze auch Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (331). Durch die Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit auf maximal 100.000 DM quantifiziert das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben unmittelbar. Nach dem Entscheidungsausspruch ist der genannte Maximalbetrag übergangsweise, bis zur gesetzlichen Neuregelung nicht Schranke der gesetzlichen Gestaltungsfreiheit, sondern gilt „unter Wegfall der Begrenzungen auf die bisher vorgesehenen Vomhundertsätze“ als starre Vorgabe. Die 100.000 DM sollen für diese Zeit „für jeden Steuerpflichtigen“ steuerlich abzugsfähig sein. BVerfGE 73, 40 (101 f., Zitate S. 102). Ernst-Wolfgang Böckenförde kritisiert in seinem Sondervotum den Maximalbetrag für die steuerliche Abzugsfähigkeit als „außerhalb jeder Rechtfertigungsmöglichkeit“ liegend. Er verweist auf die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den einfachgesetzlichen Höchstbeträgen, nach der es einen Sonderausgabenabzug i. H. v. 600 bzw. 1.200 DM als verfassungsgemäß eingestuft und Anpassungen nur unter bestimmte Voraussetzungen für möglich gehalten hat. Bei der Festlegung des Höchstbetrags sei nunmehr zu berücksichtigen, dass nach der Kleinstbetragsregelung in § 34g EStG bereits Zuwendungen bis zu 1.200 bzw. 2.400 DM i. H. v. 50 % von der Steuerschuld abgezogen würden. Die Sonderausgabenregelung würde erst jenseits dieser Beträge relevant. Der einfachgesetzlich angeordnete Chancenausgleich habe auf den ungleichen Einfluss der Bürger in Folge von Steuervergünstigungen keinen Einfluss, sondern betreffe allein das Verhältnis der Parteien untereinander. Der Gesetzgeber verfüge zwar über einen Gestaltungsspielraum, dieser werde jedoch insoweit durch das Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung eingeschränkt, als „dem durchschnittlich verdienenden Bürger die reale Möglichkeit verbleib[en müsse], an der Steuervergünstigung absolut und proportional in vergleichbarer Weise teilzuhaben.“ Bei einem Durchschnittseinkommen sei der Maximalbetrag i. H. v. 100.000 DM für politische Zuwendungen bei weitem nicht erreichbar. BVerfGE 73, 40 (109 ff., insb. S. 113 f., Zitat S. 114). Böckenförde kritisiert somit nur die Höhe der von der Senatsmehrheit gezogenen Grenze und nicht die Vornahme einer unmittelbaren Quantifizierung überhaupt. Anders in seinem zeitlich nachfolgendem Sondervotum zu BVerfGE 93, 121: Böckenförde stellt dort ausdrücklich klar, dass sich der Verfassung keine Maximalgrenze für den Steuerzugriff unmittelbar entnehmen lasse: „In Zahlen nachrechenbare Maßgaben […] sind weder möglich noch in der Verfassung enthalten.“ Ebd., S. 157 (Zitat ebd.). In BVerfGE 73, 40 überprüft das Bundesverfassungsgericht außerdem weitere einfachgesetzliche Zahlenbestimmungen: (1) Der Gesetzgeber geht zum Zeitpunkt der Entscheidung im Zusammenhang des Chancenausgleichverfahrens von einer durchschnittlichen Steuervergünstigung für Mitgliedsbeiträge und Spenden i. H. v. 40 % aus. Nach Ansicht des Gerichts handelt es sich um eine hinreichend fundierte Prognose des einfachen Gesetzgebers. Die exakte Höhe der Steuervergünstigungen lasse sich nicht vorhersehen. BVerfGE 73, 40 (88 ff.). (2) Im Rahmen der Wahlkampfkostenerstattung seien „nur die Aufwendungen“ „erstattungsfähig“, „die unter den jeweiligen

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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In BVerfGE 85, 264 misst das Bundesverfassungsgericht die Höchstbeträge der § 10b EStG a. F. und § 9 Nr. 3 Buchst. b) KStG a. F. an zwei Gleichheitsmaßstäben, der Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und der Gleichheit der Bürger in ihren politischen Mitwirkungsrechten.610 Das Gericht konkretisiert den Maßstab der Chancengleichheit (nach den allgemeinen Ausführungen im Zusammenhang der Überprüfung der Chancenausgleichsregelung, s. u.) sogleich in Bezug auf die zur Überprüfung stehenden Steuervergünstigungen für Parteispenden. Es nähert sich dem Inhalt der verfassungsrechtlich geforderten Chancengleichheit aus der Perspektive der Verfassungsverletzung: „Die steuerliche Begünstigung von Spenden an politische Parteien“ verzerre den Wettbewerb zwischen den Parteien, „wenn […] Parteien“ bevorteilt würden, „die eine größere Anziehungskraft auf Steuerpflichtige mit­ hohen Einkünften ausüben als andere Parteien […].“611 Hierauf aufbauend zeichnet es die Grenze zwischen einem verfassungswidrigen und verfassungsgemäßen Umfang an Steuervergünstigungen anhand qualitativer Kriterien und aus gegensätzlichen Perspektiven nach. Es formuliert eine positive und eine negative Grenzbestimmung („Die verfassungsrechtliche Grenze einer zulässigen steuerlichen Begünstigung von Beiträgen und Spenden an politische Parteien, die nicht durch anderweitige Leistungen des Staates wirksam ausgeglichen wird, verläuft mithin da, wo sie ein Ausmaß erreicht, das geeignet ist, die vorgegebene Wettbewerbslage zwischen den Parteien in einer ernsthaft ins Gewicht fallenden Weise zu verändern. Diese Grenze ist nicht erreicht, wenn die steuerliche Begünstigung von der Mehrzahl der Steuerpflichtigen in gleicher Weise genutzt werden kann […].“).612 Auf der Grundlage dieser unbestimmten Vorgaben trifft das Gericht bei der Subsumtion der einfachgesetzlichen Steuervergünstigungen dann eine numerische Aussage. „Mit den angegriffenen Regelungen ist die Grenze überschritten. Es ist offenkundig, daß der durchschnittliche Einkommensbezieher den steuerwirksamen Spendenrahmen von 60 000 DM – bei der Zusammenveranlagung Verheirateter von 120 000 DM – auch nicht annähernd auszuschöpfen vermag.“613 p­ olitischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zur Durchführung eines Wahlkampfes erforderlich sind“. Wenn die Wahlkampfkosten pauschaliert mit 5 DM pro Wahlberechtigtem angesetzt und nach den gewonnenen Stimmen auf die Parteien verteilt würden, sei dadurch diese „der Wahlkampfkostenerstattung gezogene Grenze“ nicht überschritten. BVerfGE 73, 40 (95 f., Zitate S. 96). Es handelt sich allein im zweiten Fall um eine mittelbare Quantifizierung. Im ersten Fall stellt das Bundesverfassungsgericht beim Verdikt der Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht auf den konkreten Zahlenwert, sondern dessen Generierung ab. Vgl. insoweit die Verfahrensvorgaben für den Finanzausgleichsgesetzgeber, siehe hierzu insbesondere die Ausführungen unter A. I. 5. b) aa). 610 BVerfGE 85, 264 (312, 314 f., zur normativen Verankerung insb. auch S. 315: „beide wurzeln im Gleichheitssatz in Verbindung mit dem demokratischen Prinzip und sind im Sinne einer strikten Gleichheit zu verstehen“). 611 BVerfGE 85, 264 (313). 612 BVerfGE 85, 264 (313, Kursivsetzung durch Verf.). 613 BVerfGE 85, 264 (313).

262

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Der einfachgesetzliche Höchstbetrag an Steuervergünstigungen ist nach Ansicht des Gerichts evident („offenkundig“) verfassungswidrig. Es begründet die Bevorteilung von Parteien mit einkommensstärkerem Klientel nicht nur damit, dass Spielraum für die Ausnutzung der einfachgesetzlichen Höchstbeträge nur bei einem überdurchschnittlichen Einkommen bestehe – die „Beträge [lägen] […] deutlich oberhalb des jährlichen Durchschnittseinkommens“. Es sei außerdem die höhere Steuerentlastung einkommensstärkerer Spender aufgrund des progressiven Steuertarifs zu berücksichtigen.614 Vor diesem Hintergrund konstatiert das Gericht auch im Hinblick auf das Recht des Bürgers auf gleiche politische Mitwirkung: „Die steuerliche Abzugsfähigkeit von […] Spenden an politische Parteien bis zur Höhe von 60 000 DM – bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten bis 120 000 DM – im Kalenderjahr, wie sie § 10 b Abs. 2 EStG erlaubt, läßt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.“615

Das Bundesverfassungsgericht geht dann erneut auf die in BVerfGE 73, 40 (75 f.) für verfassungskonform erklärte Kleinbetragsregelung des § 34g EStG a. F. ein, wonach die dort festgelegte Beitrags- bzw. Spendenhöhe unmittelbar von der Steuerschuld abgezogen wird. „Mit guten Gründen konnte der Gesetzgeber der Meinung sein, daß im Veranlagungszeitraum 1984, für den die Vorschrift erstmals zur Anwendung kam, ein Beitrags- oder Spendenvolumen von 1200/2400 DM für den Durchschnittsverdiener erreichbar war; er konnte also die größtmögliche steuerliche Begünstigung erlangen. Folgerichtig stünde eine dem Anstieg der Durchschnittseinkommen folgende Anhebung der in § 34g Satz 2 EStG genannten Beträge der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheit unter den Einkommensbeziehern nicht entgegen.“616

c) „Berechnungsmodus“617 der Chancenausgleichsregelung In das PartG ist in der BVerfGE 85, 264 zu Grunde liegenden Fassung ein Chancenausgleich integriert, um die durch die Steuerentlastungen erreichten mittelbaren finanziellen Vorteile der Parteien auszugleichen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Ausgleichsregelungen am Maßstab der Chancengleichheit der Parteien, Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG.618 Es legt im Einzelnen dar, 614 BVerfGE 85, 264 (313 ff., Zitat S. 316). Ein wirksamer finanzieller Ausgleich zu Gunsten der durch die steuerrechtlichen Regelungen benachteiligten Parteien mit einkommensschwächerer Wählerstruktur erfolgt nicht, auch nicht durch die einfachgesetzlichen Regelungen zum sog. Chancenausgleich (siehe hierzu sogleich die Ausführungen unter A. VII. 1. c) im 2. Kapitel des dritten Teils). Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit kann daher nicht abgewendet werden. BVerfGE 85, 264 (313). 615 BVerfGE 85, 264 (315 f.). 616 BVerfGE 85, 264 (316 f.). Für die verfassungsgerichtliche Beurteilung ist neben den geringeren Höchstbeträgen entscheidend, dass die Höhe der Steuervergünstigung unabhängig vom Steuersatz ist (ebd.). 617 BVerfGE 85, 264 (311). 618 BVerfGE 85, 264 (296 ff.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

263

dass das einfachgesetzliche Berechnungsverfahren nicht geeignet ist, einen Ausgleich zu erzielen, sondern die Ausgleichregelungen im Gegenteil störend in den Parteienwettbewerb eingreifen.619 Es verdeutlicht dies an den tatsächlichen Auswirkungen der Regelungen und anhand des Chancenausgleichs für das Rechnungsjahr 1990 nach einer tabellarischen Übersicht der Bundestagsverwaltung.620 d) Numerische Schwelle für die Offenlegungspflicht von Spendern Das Bundesverfassungsgericht überprüft außerdem § 25 Abs. 2 PartG a. F., der bestimmt, dass bei Parteispenden ab 40.000 DM der Spender im Rechenschaftsbericht anzugeben ist. Prüfungsmaßstab ist Art.  21 Abs.  1 Satz 4 GG. Das Gericht konkretisiert die Vorschrift im Hinblick auf eine Publizitätsgrenze. Art.  21 Abs.  3 GG erlaube dem Gesetzgeber Einschränkungen der nach dem Wortlaut des Art.  21 Abs.  1 Satz 4 GG „möglichst“ umfassend zu verstehenden Rechenschaftslegungspflicht der Parteien. Hierzu gehöre auch die Beschränkung der Offenlegungspflicht des Ursprungs von Spenden.621 Bei der Überprüfung der Verfassungskonformität von § 25 Abs. 2 PartG a. F. ist entscheidend, wieweit Einschränkungen der Publizitätspflicht gehen dürfen, ab welcher Höhe der Ursprung einer Spende also nach den Vorgaben der Verfassung offengelegt werden muss. Das Bundesverfassungsgericht spricht von der „kritische[n] Grenze“ von Zuwendungen.622 Es stellt auf den Sinn und Zweck von Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG ab. Es solle sichergestellt werden, dass Einflussnahmen auf die Willensbildung der Parteien im Wege finanzieller Zuwendungen durch Parteiexterne, vor allem durch Vertreter der Wirtschaft, nachvollziehbar sind.623 Eine Offenlegung des Ursprungs von Spenden sei daher nur dann erforderlich, wenn ihrem „Umfang“ nach „politischer Einfluß ausgeübt werden“ könne.624 Dabei sei auch zu berücksichtigen, inwieweit mit einer Spende die „unteren Organisationsebenen einer Partei und […] kleinere […] Parteien“ beeinflusst werden könnten.625 Das Bundesverfassungsgericht spricht 619 BVerfGE 85, 264 (301 ff.). Hinsichtlich der Mitgliedsbeiträge bedarf es nach den Ausführungen des Gerichts schon keines Chancenausgleichs. Es fehle an Wettbewerbsverfälschungen durch die einfachgesetzlichen Steuervergünstigungen. Der gleichwohl angeordnete einfachgesetzliche Ausgleich bedeute daher einen verfassungswidrigen Eingriff in den Parteienwettbewerb (S. 298 ff.). 620 BVerfGE 85, 264 (302 ff.). Die Tabelle  1 zum Chancenausgleich 1990 findet sich auf den Seiten 304 f. Das Bundesverfassungsgericht legt außerdem Berechnungen zu den Änderungen vor, die sich ergeben hätten, wenn DIE GRÜNEN bei den Parlamentswahlen 1990 die 5 %-Hürde überwunden hätten und in den einfachgesetzlich angeordneten Beitragsausgleich einbezogen worden wären. Siehe die Tabelle auf den Seiten 308 f. 621 BVerfGE 85, 264 (319 f., Zitat S. 319). 622 BVerfGE 85, 264 (321). 623 BVerfGE 85, 264 (319 f.). 624 BVerfGE 85, 264 (320 f., Zitat S. 321). 625 BVerfGE 85, 264 (322).

264

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

vom „Richtmaß für die zulässige Höhe der Publizitätsgrenze“.626 Es belässt die Vorgaben der Verfassung zur Publizitätsgrenze unbestimmt und grenzt deren konkreten Verlauf nur näherungsweise ein. Die Festlegung der Publizitätsgrenze fällt in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (Art. 21 Abs. 3 GG): „Die Bestimmung dieser Grenze obliegt dem Gesetzgeber, der hierbei einen gewissen Einschätzungsspielraum hat, bei dessen Wahrnehmung er nicht zuletzt auch Gesichtspunkte der Praktikabilität berücksichtigen darf.“627 Nach BVerfGE 85, 264 hat der Gesetzgeber mit dem Schwellenwert von 40.000 DM diesen Gestaltungsspielraum überschritten. „Die Antragsgegner haben schließlich durch die Anhebung des Betrages, von dem an Spenden an eine Partei oder einen oder mehrere ihrer Gebietverbände unter Angabe des Namens und der Anschrift des Spenders sowie der Gesamthöhe der Spende im Rechenschaftsbericht zu verzeichnen sind (sogenannte Publizitätsgrenze)  auf 40 000 DM in § 25 Abs.  2 PartG (Art. 1 Nr. 7 ÄndG) gegen Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG verstoßen.“628

Das Bundesverfassungsgericht begründet den Verfassungsverstoß der aktuellen Publizitätsgrenze mit dem Verweis auf ihre „auch unter heutigen Gegebenheiten“, d. h. bei Berücksichtigung der Veränderungen des „Geldwert[s]“ und des „Finanzvolumen[s]“629 der Parteien, verfassungskonforme Vorgängerregelung.630 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der politischen Einflussmöglichkeiten setzt es die 20.000 DM zum „Haushaltsvolumen der […] Parteigliederungen“ ins Verhältnis: „Durch eine Geldleistung oder geldwerte Zuwendung in einer Höhe von 20.000 DM kann […] wennschon nicht auf Bundes- oder Landesebene, so doch auf örtlicher und mitunter auch auf Kreisebene, gemessen am Haushaltsvolumen der entsprechenden Parteigliederungen, ein nicht unerheblicher politischer Einfluß ausgeübt werden […].“631 Konkrete Zahlen zu dem Budget der Parteien nennt es nicht, sondern verweist auf Sachverständige im Gesetzgebungsverfahren, das den Änderungen des PartG zu Grunde liegt.632 Hieraus folgert es, dass „das Grundgesetz […] einer Erhöhung der Publizitätsgrenze über 20 000 DM hinaus – jedenfalls zur Zeit – entgegen[steht].“633

Im Entscheidungsausspruch bestimmt das Bundesverfassungsgericht, dass „§ 25 Abs. 2 PartG […] ab sofort mit der Maßgabe anzuwenden [sei], daß die Parteien Spenden, deren Gesamtwert 20 000 DM im Kalenderjahr übersteigt, in ihren Rechenschaftsberichten zu verzeichnen haben“.634

626

BVerfGE 85, 264 (323). BVerfGE 85, 264 (321, Zitat ebd.). 628 BVerfGE 85, 264 (318 f.). 629 BVerfGE 85, 264 (323). 630 Zur Verfassungskonformität der 20.000 DM-Grenze bereits BVerfGE 24, 300 (356). 631 BVerfGE 85, 264 (323). 632 BVerfGE 85, 264 (323). 633 BVerfGE 85, 264 (319, siehe auch S. 323). 634 BVerfGE 85, 264 (328). 627

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

265

2. Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen zur Regulierung der Parteienfinanzierung? BVerfGE 85, 264 beinhaltet neben den Berechnungen des Bundesverfassungsgerichts zu den tatsächlichen Auswirkungen der Chancenausgleichsregelung eine Reihe unmittelbarer und mittelbarer Quantifizierungen. Bei der relativen und absoluten Obergrenze der Parteienfinanzierung handelt es sich um unmittelbare Quantifizierungen der Staatsfreiheit und Chancengleichheit der Parteien. Das Bundesverfassungsgericht nennt zwar, wenn es die relative Grenze formuliert, wie schon beim Ehegattensplitting keine konkrete Zahl. Die Inbezugsetzung von staatlichen Mitteln und Eigeneinnahmen lässt sich jedoch eindeutig numerisch übersetzen, wenngleich wegen der (zwangsläufigen) sprachlichen Unbestimmtheit der Formulierung („Das Gesamtvolumen solcher staatlicher Zuwendungen an eine Partei darf die Summe ihrer selbst erwirtschafteten Einnahmen (vgl. § 24 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 und 8 PartG) nicht überschreiten.“635) keine exakte 50 %-Finanzierungsobergrenze angenommen werden kann, sondern Abweichungsspielraum nach oben besteht.636 Auch die absolute Obergrenze für die Parteienfinanzierung fasst das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich in Zahlen. Sie kann als Durchschnittswert der den Parteien von 1989 bis 1992 zugeflossenen Geldleistungen, die das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen aufschlüsselt, berechnet werden. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt die Details der Berechnung, wenn es den ansetzbaren Betrag für die Wahlkampfkosten­ erstattung in den ostdeutschen Ländern nennt. Dass abweichend von einer tatsächlich geringeren Erstattung „von fünf Deutsche Mark je Wahlberechtigten“ ausgegangen werden „kann“,637 bedeutet keine unkalkulierbare Flexibilisierung der Obergrenze, sondern es erhöht sich der Maximalbetrag für die staatliche Finanzierung. Obwohl das Bundesverfassungsgericht indirekt die der zurückliegenden­ Finanzierung zu Grunde liegenden Regelungen des PartG für verfassungsgemäß erklärt, quantifiziert es die Verfassungsvorgaben nicht mittelbar. Es schreibt den sich ­hieraus ergebenden Finanzierungsumfang für die Zukunft fort, nimmt also die einfachgesetzlichen Regelungen für die unmittelbare Quantifizierung lediglich in Bezug. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts erinnert an die Quantifizierung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht greift dort ebenfalls auf einfachgesetzliche Regelungen zurück. Wenn es das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum an die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen bindet, gestaltet es dessen Höhe jedoch dynamisch. Eine solche Dynamisierung tritt in Bezug auf die verfassungsrechtliche Obergrenze der Parteienfinanzierung nicht ein, denn es ist die einfachgesetzliche Zuweisung

635

BVerfGE 85, 264 (289). A. A. Uwe Volkmann, der von einer „exakt[en]“ Begrenzung der Staatsfinanzierung ausgeht. Ders., Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (327). 637 BVerfGE 85, 264 (291, Kursivsetzung durch Verf.). 636

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

staatlicher Leistungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums ­maßgeblich. In der­ Übergangsregelung beziffert das Gericht die absolute Grenze für die unmittelbare Parteienfinanzierung in Relation zum einzelnen Wahlberechtigten. Es verhält sich nicht dazu, inwieweit es den absoluten, die direkten Zuwendungen insgesamt in den Blick nehmenden Finanzierungsspielraum ausschöpft. Insoweit wäre wegen der Abhängigkeit der Erstattungsregelung von der Anzahl der Wahlberechtigten auch allenfalls eine Prognoseentscheidung möglich. Es handelt sich um eine eigenständige unmittelbare Quantifizierung. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert außerdem die Chancengleichheit der Parteien und die Gleichheit der Bürger in ihren politischen Mitwirkungsrechten, wenn es die maximale Berücksichtigung von Spenden bei der Berechnung der Steuerschuld numerisch bestimmt. Das Gericht hält die Höchstbeträge für die steuerliche Absetzbarkeit von Parteispenden in den zur Prüfung gestellten Normen des EStG und KStG für unvereinbar mit den genannten Gleichheitssätzen. Dies bedeutet eine mittelbare, negative Quantifizierung des Verfassungsinhalts. Die Beurteilung der Beträge, die nach der Kleinbetragsregelung unmittelbar von der Steuerschuld abgezogen werden, als verfassungskonform bedeutet ebenfalls eine mittelbare, indes positive Quantifizierung der genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das Gericht knüpft hieran mit einer unmittelbaren Quantifizierung an, denn es verweist auf die Verfassungskonformität einer Erhöhung der Kleinbetragsregelung entsprechend dem gestiegenen Durchschnitts­ einkommen. Wenn das Bundesverfassungsgericht die einfachgesetzlich normierte Publizitätsgrenze in Höhe von 40.000 DM als verfassungswidrig einordnet, quantifiziert es die Rechenlegungspflicht der Parteien (Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG) mittelbar und negativ. Das Gericht begründet die mittelbare mit einer unmittelbaren Quantifizierung. Es hält die zuvor geltende Publizitätsgrenze in Höhe von 20.000 DM „auch unter heutigen Gegebenheiten“638 für verfassungskonform („Das Grundgesetz steht einer Erhöhung der Publizitätsgrenze über 20 000 DM hinaus  – jedenfalls zur Zeit – entgegen.“639). Das Gericht verweist auf die Regelung also nicht nur als im Zeitpunkt ihrer Geltung verfassungskonform („damals als gerechtfertigt angesehene[r] Betrag[…]“),640 sondern als aktuelle, verfassungskonforme Alternativregelung. Die unmittelbare Quantifizierung bedeutet entgegen den Ausführungen

638

BVerfGE 85, 264 (323). BVerfGE 85, 264 (319). 640 BVerfGE 85, 264 (323). Wenn das Bundesverfassungsgericht die Fortgeltung der ursprünglichen Publizitätsgrenze anordnet, verweist es darauf, dass „die bis zum Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 22. Dezember 1988 geltende Fassung des § 25 Abs. 2 PartG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden war“. BVerfGE 85, 264 (328). Es handelt sich um eine Wiederholung der mittelbaren Quantifizierung des Art.  21 Abs.  1 Satz 4 GG aus BVerfGE 24, 300 (356). Siehe die Ausführungen unter A. VII. 1. d) im 2. Kapitel des dritten Teils, dort Fn. 630. 639

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

267

zur Anhebung der Kleinbetragsregelung nicht nur eine konkrete Anleitung für den Gesetzgeber für eine verfassungskonforme Neuregelung. Das Bundesverfassungsgericht ordnet in BVerfGE 85, 264 ihre übergangsweise Geltung an. Dem Gesetzgeber steht es offen, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums eine hiervon abweichende niedrigere Schwelle festzulegen.

B. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Quoren641 I. Sperrklauseln im Wahlrecht Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Sperrklauseln betrifft sämtliche staatliche Ebenen. Im Jahre 1952 stellt das Gericht allgemeine Grundsätze zum verfassungsgemäßen Verlauf von Sperrklauseln bei Beurteilung der für die schleswig-holsteinischen Landtagwahlen (landesgesetzlich) geltenden 7,5 %-Hürde für die Teilnahme am Verhältnisausgleich auf (BVerfGE 1, 208). Demnach ist eine Sperrklausel in Höhe von 5 % grundsätzlich mit der Wahlrechtsgleichheit der Bürger und Chancengleichheit der Parteien vereinbar.642 Einfachgesetzlich geltende 5 %-Klauseln sind – so die spätere Rechtsprechung  – im Bundeswahlrecht, nicht jedoch auf kommunaler und europäischer Ebene verfassungsgemäß.643

641 Zum Begriff des Quorums bereits in den Ausführungen zu den Darstellungsmodi und Zahlsorten im Grundgesetz unter A. II. 1. im 1. Kapitel des zweiten Teils, dort Fn. 27. 642 Auf die 5 %-Klausel nimmt das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung Bezug. Das Gericht schränkt dort den Anwendungsbereich der 5 %-Sperrklausel ein. Nach BVerfGE 85, 264 (293 f.) gilt sie nicht für die Wahlkampfkostenerstattung. Ggf. müssten die nachteiligen finanziellen Folgewirkungen der 5 %-Sperrklausel im Rahmen der Parteienfinanzierung ausgeglichen werden, BVerfGE 85, 264 (294). 643 Eine einheitliche Darstellung und der Vergleich der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in den Entscheidungen zu den verschiedenen Sperrklauseln ist sinnvoll, auch wenn das Gericht – soweit es als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holsteins (Art. 99 GG) entscheidet  – den Prüfungsmaßstab der dortigen Landesverfassung, ansonsten dem Grundgesetz entnimmt. Das Bundesverfassungsgericht misst die Sperrklauseln in allen Fällen an der Wahlrechtsgleichheit der Bürger und der Chancengleichheit der Parteien. Der inhaltliche Gehalt der Maßgaben fällt je nach Normierungsebene laut Verfassungsrechtsprechung nicht unterschiedlich aus. Das liegt auch daran, dass das Grundgesetz in die schleswig-holsteinische Landesverfassung als Prüfungsmaßstab „hinein wirk[t]“. BVerfGE 1, 208 (232 f., Zitat S. 232). Dies erklärt, warum nach BVerfGE 1, 208 (242, siehe auch S. 255) die Chancengleichheit der Parteien in der schleswig-holsteinischen Landesverfassung zwar keinen spezifischen Anknüpfungspunkt findet (Art. 21 GG auf Bundesebene), sich jedoch „als Bestandteil der demokra­ tischen Ordnung von selbst“ „versteht“ (S. 242).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

1. Beurteilung der 7,5 %-Sperrklausel im Wahlrecht Schleswig-Holsteins: Ausgangspunkt der Sperrklauselrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Allgemeine Grundsätze für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sperrklauseln: 5 % als verfassungsrechtliche Obergrenze 1952 steht § 3 Abs. 1 des Wahlgesetzes für den Landtag in Schleswig-Holstein (LWG) auf dem Prüfstand. Im Land gilt ein gemischtes Wahlsystem aus Mehrheitsund Verhältniswahl. Voraussetzung für die Teilnahme der Parteien am Verhältnisausgleich644 ist die Wahl eines Bewerbers in mindestens einem Wahlkreis, alternativ die Vereinnahmung von mindestens 7,5 % der Stimmen im Land. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Anhebung der Sperrklausel von 5 % im LWG 1950 auf 7,5 % in § 3 Abs. 1 LWG 1951.645 Es misst § 3 Abs. 1 LWG am Grundsatz der „Gleichheit der Wahl“.646 Die Sperrklausel durchbreche die Chancengleichheit der Parteien und das gleiche Wahlrecht der Bürger,647 denn bei der Verhältniswahl gelte neben der Zählwert- eine Erfolgswertgleichheit der Stimmen.648 Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die „gesetzliche Differenzierung“649 (auch in ihrem konkreten Ausmaß) durch einen „zwingenden Grund“650 gerechtfertigt ist und erkennt eine mögliche Rechtfertigung in der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Es bestehe ein „Spannungsverhältnis“651 zwischen der Wahlrechtsgleichheit als Modus für die verfassungsgerechte Durchführung von Wahlen und der parlamentarischen Handlungsfähigkeit als verfassungsrechtlicher Anforderung an das Wahlergebnis, denn die Verhältniswahl begünstige den Einzug kleinerer Parteien ins Parlament. In der Entscheidung ist von „Splitterparteien“ die Rede.652 Aber inwieweit ist eine Durchbrechung der Wahlrechtsgleichheit verfassungsrechtlich gerechtfertigt? Das Bundesverfassungsgericht sucht den „Grad der zu 644 Der Verhältnisausgleich bezeichnet die Verteilung von Parlamentssitzen auf die Landes­ listen der Parteien nach dem Verhältnis der Stimmen, die sie insgesamt in Schleswig-Holstein erzielt haben. BVerfGE 1, 208 (211). 645 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in einem Organstreitverfahren zwischen dem Südschleswigschen Wählerverband und der Landesregierung sowie dem Landtag SchleswigHolsteins und über Verfassungsbeschwerden gegen § 3 Abs. 1 LWG 1951. 646 BVerfGE 1, 208 (241, Zitat ebd.). 647 BVerfGE 1, 208 (242). Später stellt das Bundesverfassungsgericht bei der Abwägung explizit auf die „Integration politischer Kräfte“ ab. BVerfGE 95, 408 (419). 648 BVerfGE 1, 208 (243 ff.). 649 BVerfGE 1, 208 (247). 650 BVerfGE 1, 208 (249 [Zitat], siehe auch S. 255). Das Bundesverfassungsgericht weist bei der Prüfung der 5 %-Klausel im Europawahlgesetz ausdrücklich darauf hin, dass bei der Prüfung, ob Durchbrechungen von Wahlrechts- und Chancengleichheit gerechtfertigt sind, auf die „gleichen Maßstäbe[…]“ zurückzugreifen ist. BVerfGE 129, 300 (320). 651 BVerfGE 1, 208 (247): „Hier treten sich zwei Prinzipien gegenüber, die in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen.“ 652 BVerfGE 1, 208 (247 f., Zitat S. 249).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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lässigen Differenzierung“653 vor allem aus den „Wertungen, die im Rechtsbewußtsein der konkreten Rechtsgemeinschaft lebendig sind“, zu bestimmen und stellt vergleichend auf verschiedene bundes- und landesrechtliche Wahlgesetze ab.654 Hieraus ergibt sich, dass zumeist eine Sperrklausel in Höhe von 5 % gilt.655 Auf die bei der Bundestagswahl geltende 5 %-Klausel geht das Gericht in den Entscheidungsgründen an späterer Stelle nochmals ein. Es hält eine homogene Ausgestaltung von Bundes- und Landeswahlrecht für „sinnvoll[…]“, um unterschiedliche rechtliche Wertungen über die Bedeutung einer Partei – je nachdem, ob es sich um die Bundes- oder Landesebene handelt – zu vermeiden.656 Die 5 % kristallisieren sich damit als Anhaltspunkt für die verfassungsgerechte Einschränkung der „Gleichheit der Wahl“657 heraus. Das Bundesverfassungsgericht stellt außerdem auf das „Wesen[…] der Splitterparteien und [die] […] Gründe ihrer Benachteiligung“658 ab. Sie sind für das Bundesverfassungsgericht nicht insoweit relevant, als es hieraus unmittelbar abstrakte numerische Vorgaben für einen verfassungsgerechten Sperrklauselverlauf ableitet. Die Definition der Splitterpartei ist Ausgangspunkt einer Betrachtung der tatsächlichen (partei-)politischen Situation in Schleswig-Holstein.659 Auf sie kommt es  – sollen die Grenzen für eine verfassungsgemäße Sperrklauselregelung festgelegt werden  – ebenfalls an. Sie ergibt, dass der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) – obwohl keine Splitterpartei – bei einer Sperrklausel in Höhe von 7,5 % wohl nicht mehr im Parlament vertreten wäre, während er eine 5 %-Hürde für die Teilnahme am Verhältnisausgleich in der Vergangenheit überwinden konnte.660 Das Bundesverfassungsgericht verweist auf den einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraum („Bei der Einführung solcher Sperrklauseln und bei der Bestimmung der Höhe des Quorums hat der Gesetzgeber Spielraum für freie Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat aber 653

BVerfGE 1, 208 (249, Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 1, 208 (249 ff., Zitat S.  249). Das Gewicht des Rechtsvergleichs für die Bestimmung der verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit zeigt die Einleitung der später aufgestellten numerischen Regeln des Bundesverfassungsgerichts an: „die aus den Wahlgesetzen abzulesende allgemeine Rechtsüberzeugung [„ergibt“] im gegenwärtigen Zeitpunkt zwei Grundsätze: […]“ – BVerfGE 1, 208 (256, Kursivsetzung durch Verf.). Siehe hierzu auch sogleich im Haupttext. 655 BVerfGE 1, 208 (249–252). Die Sperrklauseln sind teils auf Verfassungsebene, teils einfachgesetzlich geregelt und beziehen sich teils auf das gesamte Wahlgebiet, teils auf einzelne Bereiche. In Bremen wird beispielsweise zwischen den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven unterschieden: Eine Partei muss, um am – gesondert nach Wahlbereichen stattfindenden – Verhältnisausgleich teilnehmen zu können, die 5 % im jeweiligen Wahlbereich überschritten haben. Hierzu ebd., S. 249. 656 BVerfGE 1, 208 (255, Zitat ebd.). 657 BVerfGE 1, 208 (241). 658 BVerfGE 1, 208 (252). 659 Die tatsächliche (partei-)politische Situation ist auch entscheidend, wenn das Bundesverfassungsgericht den Ausgleich des (sich als zu hoch erweisenden) Quorums für den Zugang zum Verhältnisausgleich durch die einfachgesetzliche Alternative der Erringung mindestens eines Direktmandats verneint. BVerfGE 1, 208 (258 ff., siehe auch Leitsatz 12). 660 BVerfGE 1, 208 (254, siehe auch die Ausführungen bei der Subsumtion auf S. 257). 654

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

über die Einhaltung der rechtlichen Grenzen, die der Modifikation des Gleichheitssatzes in der Gestaltung des Wahlrechts gezogen sind, zu wachen.“)661 und findet dann folgende Regel für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Sperrklauselregelungen, wobei es die Bedeutung des Vergleichs mit anderen Sperrklauselregelungen im Bundesgebiet nochmals hervorhebt („Für diese Prüfung ergibt die aus den Wahlgesetzen abzulesende allgemeine Rechtsüberzeugung im gegenwärtigen Zeitpunkt zwei Grundsätze.“): „a) In der Regel können Wahlgesetze nicht verworfen werden, wenn sie das Quorum nicht über 5 % ansetzen. Es müßten besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, die ein solches Quorum unzulässig machen würden. b) Es müssen ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5 % zu rechtfertigen.“662

5 % bilden die Obergrenze für die Einschränkung der Erfolgswert- und Chancengleichheit. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt einen Fixpunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sperrklauseln (Im Regelfall „können Wahlgesetze nicht verworfen werden, wenn sie das Quorum nicht über 5 % ansetzen.“), von dem im Ausnahmefall Abweichungen („nach unten“ und „nach oben“) möglich sind. Es zeichnet ein differenziertes Bild der Bindungsintensität des einfachen Gesetzgebers an die 5 %-Grenze, indem es gegensätzliche Perspektiven einnimmt. Die Einhaltung bzw. Unterschreitung der Obergrenze kann verfassungswidrig, Überschreitungen verfassungsgemäß sein. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt die Voraussetzungen, wobei die Begründungslast für die Verfassungsmäßigkeit der Überschreitung der 5 % schwerer wiegt („ganz besondere, zwingende Gründe“) als für die Annahme der Verfassungswidrigkeit trotz ihrer Einhaltung bzw. Unterschreitung („besondere Umstände des Einzelfalls“). Die 5 % sind äußerste Grenze der Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit.663 Das Bundesverfassungsgericht formuliert die numerischen „Grundsätze“664 für die einfachgesetzliche Festlegung von Sperrklauseln zwar im „Maßstäbeteil“665 des Urteils und legt allgemeingültig formulierte Vorgaben fest („Bei der E ­ inführung 661 BVerfGE 1, 208 (256). Siehe auch BVerfGE 95, 408 (420) und die Verfassungsrechtsprechung zu den Sperrklauseln auf kommunaler Ebene (hierzu sogleich im Haupttext). Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber dort ebenfalls einen Gestaltungsspielraum ein: „Es [das Bundesverfassungsgericht] kann insbesondere nicht die Aufgabe des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren übernehmen und alle zur Überprüfung der Fünf-Prozent-Sperrklausel relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen […].“ BVerfGE 120, 82 (113). 662 BVerfGE 1, 208 (256, Kursivsetzung durch Verf.). 663 Die Begründunglast für die Überwindung der Grundregel zeichnet sich bereits sprachlich ab: „In der Regel können Wahlgesetze nicht verworfen werden, wenn sie das Quorum nicht über 5 % ansetzen.“ Die negative Formulierung zeigt die Festigkeit der Grundregel und notwendige Schwere der Ausnahmetatbestände zu ihrer Überwindung an. 664 BVerfGE 1, 208 (256). 665 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (182).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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solcher Sperrklauseln […].“666), entwickelt diese aber in Bezug auf den konkreten Fall und die Überprüfung der 7,5 %-Sperrklausel für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein. b) Die 5 %-Grenze als verfassungsgerichtliche Quantifizierung Bei der 5 %-Grenze für Sperrklauselregelungen handelt es sich um eine unmittelbare Quantifizierung. Das Bundesverfassungsgericht löst das „Spannungsverhältnis“667 zwischen der Erfolgswertgleichheit der Bürger und Chancengleichheit der Parteien auf der einen und der Funktionsfähigkeit des Parlaments auf der anderen Seite numerisch auf. Die Zahlenfestlegung hebt sich von unmittelbaren bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen wie dem steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz ab: Das Bundesverfassungsgericht sucht sie nicht nur überhaupt methodisch zu begründen. Es leistet erheblichen Begründungs­ aufwand. Zwei Begründungsstränge lassen sich unterscheiden. Das Bundesverfassungsgericht stellt zum einen auf die vorherrschende rechtliche Wertung im Bundesgebiet und die unterschiedlichen Sperrklausel-Regelungen ab. Die Festlegung der (für den Regelfall geltenden) Obergrenze bei 5 % bedeutet die verfassungsrechtliche Festschreibung der bundes- und landesrechtlich (vorwiegend)  geltenden Sperrklauseln. Das Gericht stellt zum anderen auf den Schutzweck der Sperrklauselregelung ab und führt anhand der tatsächlichen politischen Situation in ­Schleswig-Holstein eine Folgenbetrachtung durch.668 2. Fortentwicklung der Sperrklauselrechtsprechung: Verwerfung von 5 %- bzw. 3 %-Klauseln auf Kommunal- und Europaebene Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch die Sperrklauselregelung im Bundeswahlrecht verfassungsgemäß.669 Die pauschale Behauptung von drohenden Funktionsbeeinträchtigungen des gewählten Organs kann 666

BVerfGE 1, 208 (256). BVerfGE 1, 208 (247). 668 In BVerfGE 95, 408 (418 f.) spricht das Verfassungsgericht von der „gefestigte[n] Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis“, auf die bei Durchbrechungen der Erfolgswertgleichheit und Chancengleichheit abgestellt werden könne. „Der Gesetzgeber [dürfe] […] sich […] nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern [müsse] sich an der politischen Wirklichkeit orientieren […].“ 669 BVerfGE 95, 408 (419, 435). Zu BVerfGE 95, 408 siehe auch Fn. 696 bei der Darstellung der Rechtsprechung zu den Grundmandaten als weiteren Beispielsfall einer (mittelbaren) Quantifizierung im Wahlrecht außerhalb der Inbezugnahme von Quoren. Das Bundesverfassungsgericht modifiziert die 5 %-Grenze aus BVerfGE 1, 208 auch nicht in BVerfGE 82, 322, in der Entscheidung zum Wahlrecht der ersten Bundestagswahlen nach der Wiedervereinigung. Es geht zwar davon aus, dass eine für das gesamtdeutsche Wahlgebiet geltende 5 %-Klausel 667

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

eine Sperrklausel und deren Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit jedoch nicht rechtfertigen. Funktionsbeeinträchtigungen müssen hinreichend wahrscheinlich sein.670 Bereits in der Entscheidung vom 5. April 1952 (BVerfGE 1, 208) beziehen sich die numerischen Aussagen des Gerichts zum verfassungsgemäßen Verlauf der Sperrklausel auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung tatsächlichen politischen Gegebenheiten.671 Später betont das Bundesverfassungsgericht, dass es auf die Art und Funktionsweise des gewählten Organs zum für die Entscheidung relevanten „Zeitpunkt“672 ankomme.673 Das Bundesverfassungsgericht hält daher 2008 (als Landesverfassungsgericht für Schleswig Holstein gem. Art. 99 GG) auf kommunaler Ebene674 und 2011 für die Wahlen zum Europäischen Parlament675 eine verfassungswidrig ist. Sie trage nicht der besonderen Situation der Parteien nach der Wiedervereinigung Rechnung. Gleiches gelte aber für eine Herabsetzung einer (weiterhin für das gesamte Wahlgebiet geltenden) 5 %-Hürde. Als mögliche verfassungskonforme Neuregelung verweist das Gericht (nebst der Ermöglichung von Listenvereinigungen unter den Parteien in der ehemaligen DDR) auf eine 5 %-Klausel, die entweder in den Gebieten der Bundesrepublik oder der ehemaligen DDR durch die Parteien überwunden werden muss. „Der Gesetzgeber wäre [dann] auch in der Lage, die regionalisierte Sperrklausel im Blick auf die besondere Bedeutung der ersten gesamtdeutschen freien Wahl unterhalb von 5 v. H. anzusetzen; das ist ebenso eine Frage seiner Gestaltungsfreiheit wie die Entscheidung über das ‚ob‘ einer Sperrklausel (vgl. BVerfGE 4, 31 [40]).“ 670 In Bezug auf kommunale Vertretungskörperschaften BVerfGE 120, 82 (114 f.). Siehe auch BVerfGE 129, 300 (323). 671 BVerfGE 1, 208 (256 [„im gegenwärtigen Zeitpunkt zwei Grundsätze“], 259 [„Nun sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf politische Realitäten bezogen, und das Gericht darf nicht den politischen Raum außer acht lassen, in dem sich seine Entscheidungen auswirken. Es geht hier nicht um ein abstraktes Wahlrecht, sondern um ein konkretes Wahlgesetz in einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt.“]). Hierzu Hans Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren und Wahlprüfung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  III, 3.  Aufl.  2005, § 46 Rn. 38, 43. 672 BVerfGE 82, 322 (338); 129, 300 (322). 673 In Bezug auf kommunale Vertretungskörperschaften BVerfGE 120, 82 (110 f.). Siehe auch BVerfGE 129, 300 (320 f.). 674 Bei der Beurteilung der 5 %-Klausel auf kommunaler Ebene stellt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, dass es sich bei „Gemeindevertretungen und Kreistage[n]“ „nicht [um] Parlamente im staatsrechtlichen Sinne“, sondern um Verwaltungsorgane handelt. BVerfGE 120, 82 (112). „Die Aufgaben der Gesetzgebung und Regierungsbildung“ (BVerfGE 95, 408 [421 f.]), die es bei den Parlamenten auf Bundes- und Landesebene zu sichern gelte, übten die kommunalen Vertretungsorgane nicht aus. BVerfGE 120, 82 (112). Die Funktionsfähigkeit der Gemeindeverwaltung sei durch die Direktwahl des Bürgermeisters bzw. Landrats und Vorschriften zur Entscheidungsfindung bei Nichterreichbarkeit der vorgeschriebenen Quoren sowie „zur vorläufigen Haushaltsführung“ gesichert. BVerfGE 120, 82 (116 ff., Zitat S. 116). 675 2011 überprüft das Bundesverfassungsgericht § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz (EuWG), nach dem auch bei Wahlen zum Europäischen Parlament eine 5 %-Sperrklausel gilt (BVerfGE 129, 300). Das Verfassungsgericht entscheidet: Die institutionellen Besonderheiten des Euro­päischen Parlaments begegnen der Zersplitterungsgefahr, die im Falle einer Mandatsverteilung unabhängig von einem bestimmten Mindesterfolg der Parteien für die nationalen Parlamente konstatiert wurde. Unter den Abgeordneten verschiedenster Parteizugehörigkeit verfügen die Fraktionen über stabilisierende Integrationskraft; ihnen obliegt die Hauptarbeit im Parlament (S. 327 ff.).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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5 %-Sperrklausel nicht (mehr) für gerechtfertigt. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2014 ist auch die zwischenzeitlich im Europawahlgesetz (EuWG) verankerte 3 %-Sperrklausel nicht verfassungsgemäß.676 Bei der Verwerfung der 5 %- bzw. 3 %-Klauseln für die kommunale und europäische Ebene handelt es sich um mittelbare negative Quantifizierungen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien: Die Differenzierung zwischen den Parteien bei der Marke von 5 % bzw. 3 % der Zweitstimmen ist verfassungswidrig. Dass das Bundesverfassungsgericht 2014 auch die 3 %-Sperrklausel im EuWG verwarf, konnte nicht überraschen. Aus der Abwägung der Entscheidung des Jahres 2011 ergibt sich nicht nur die Verfassungswidrigkeit der 5 %-Klausel im EuWG. Die Ausführungen des Gerichts lassen die Rechtfertigung überhaupt keiner Sperrklausel mehr zu.677 Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der überprüften Regelung vorgebracht werden, sprechen (zum Zeitpunkt der Entscheidung) implizit bereits gegen niedrigere Sperrklauseln.678 Das Bundesverfassungsgericht zeigt daher, etwa in einer Übergangsregelung, auch keine verfassungsgemäßen Alternativen zu den einfachgesetzlich festgelegten 5 % auf. In Zahlen ist nur eine 0 %-Sperrklausel verfassungsgemäß. Insoweit lassen sich die verfassungsgerichtlichen Ausführungen positiv wenden. In seiner Entscheidung zur 3 %-Sperrklausel erkennt das Bundesverfassungsgericht nicht an, dass sich „die für die Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse […] seit dem Urteil vom 9. November 2011 […] entscheidend geändert“ haben679 und macht neben der mittelbaren die 0-Quantifizierung explizit: „Da eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht gegenwärtig […] bereits nicht erforderlich ist, es also der Rechtfertigung bereits dem Grunde nach fehlt, kommt es auf Fragen der Angemessenheit der Drei-Prozent-Klausel nicht an.“680 Noch deutlicher wird die 0-Quantifizierung im Sondervotum Peter Müllers: „Die Entscheidung des Senats führt zur Unzulässigkeit jeglicher Sperrklausel bei der Wahl des­ Das Bundesverfassungsgericht betont die Flexibilität der Arbeitsstrukturen des Europäischen Parlaments angesichts der Bewältigung des seit seiner Gründung beobachtbaren Kompetenzzuwachses und erwartet auch die Bewältigung der Integration einer höheren Anzahl von Abgeordneten ohne Fraktionszugehörigkeit (S. 334 f.). Eine EU-Regierung, die sich auf stabile Mehrheiten stützen können muss, existiere nicht und auch die Gesetzgebung sei nicht von konstanten Mehrheitsverhältnissen abhängig (S. 335 ff.). Die Durchbrechung von Chancengleichheit und Erfolgswertgleichheit, damit die Verengung des politischen Prozesses durch eine 5 %-Klausel, sei auf europäischer Ebene nicht gerechtfertigt (S. 316). Anders noch BVerfGE 51, 222. 676 BVerfGE 135, 259. 677 Dies gilt auch für die Entscheidung zur 5 %-Klausel auf kommunaler Ebene, BVerfGE 120, 82. 678 So in der Tendenz die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 21.  Mai 2013 (S. 1) bzw. 22. Mai 2013 (S. 1 u. 8) und Eckart Lohse, Die Angst vor dem Tod des Reiters, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23. Juni 2013, S. 5 anlässlich der Pläne von CDU/ CSU, FDP, den Grünen und der SPD trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 2 Abs. 7 EuWG für die Europawahl eine 3 %-Klausel einzuführen. 679 BVerfGE 135, 259 (291 Rn. 63). 680 BVerfGE 135, 259 (298 f. Rn. 81).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Europäischen Parlaments.“681 Die Verwerfung der 5 %- bzw. 3 %-Klausel durch das Bundesverfassungsgericht nimmt unter den mittelbaren Quantifizierungen somit eine Sonderstellung ein, denn sie geht mit einer (unmittelbaren) 0-Quantifizierung einher.682

II. Mitwirkungsrechte von Professoren in Hochschulgremien Quantifizierungen in Quoren nimmt das Bundesverfassungsgericht außer in den Urteilen zu den Sperrklauseln im Wahlrecht in BVerfGE 35, 79 vor. Es entscheidet dort am Maßstab des Art. 5 Abs. 3 GG über die Mitwirkungsrechte von Professoren in Hochschulgremien nach dem niedersächsischen sog. Vorschaltgesetz (VorschaltG), das in der Regel gleiche Mitbestimmungsrechte der verschiedenen Hochschulgruppen in den universitären Selbstverwaltungsorganen vorsieht und erhöhte Einflussmöglichkeiten der Professoren nur in Berufungsangelegenheiten durch eine entsprechende Besetzung der Berufungskommissionen sicherstellt. Das Gericht quantifiziert den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab auch in diesem Zusammenhang stufenweise und räumt dem Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit bei der Hochschulorganisation ein: „Im Gebiet der organisatorischen Gestaltung des Hochschulwesens verbleibt somit dem Gesetzgeber ein breiter Raum zur Verwirklichung seiner hochschulpolitischen Auffassungen.“683 Es zieht dem einfachgesetzlichen Spielraum zunächst qualitative Schranken, denn gem. Art. 5 Abs. 3 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG müsse der „besonderen Stellung der Hochschullehrer […] Rechnung [ge]tragen“ werden.684 Bei den ihnen einzuräumenden Mitwirkungsrechten in den Hochschulgremien differenziert es zwischen verschiedenen Entscheidungsgegenständen und trifft wiederum qualitative Maßgaben. In Fragen betreffend die Lehre müsse den Hochschullehrern ein „maßgebende[r]“,685 in Forschungsfragen und bei Berufungsangelegenheiten ein „ausschlaggebender Einfluß“686 zukommen. Bei Überprüfung der entsprechenden Regelungen des VorschaltG präzisiert das Gericht das „genaue[…] Zahlenverhältnis“687 für eine verfassungsgemäße Stimmenverteilung in den Hochschulgremien. Die Regelungen, nach denen Professoren „50 % der Stimmen eingeräumt“ werden, seien nur in Fragen betreffend die Lehre verfassungsgemäß. In Forschungs- und Berufungsfragen würde ihnen dadurch „nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, de[r] ausschlaggebende[…] Einfluß eingeräumt“.688 Es handelt sich um punktuelle­ 681

BVerfGE 135, 259 (305 Rn. 13) – Sondervotum Müller. Siehe auch die Ausführungen zur Typologie der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen unter A. II. 1. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 683 BVerfGE 35, 79 (116 ff., Zitat S. 120). 684 BVerfGE 35, 79 (127). 685 BVerfGE 35, 79 (132). 686 BVerfGE 35, 79 (132, 134). 687 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 165. 688 BVerfGE 35, 79 (141 ff., Zitate S. 142 f.). 682

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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mittelbare Quantifizierungen der Art. 5 Abs. 3, 3 Abs. 1 GG. Helmut Simon und Wiltraut Rupp-von Brünneck stellen im Sondervotum klar: „Die insoweit in der Urteilsbegründung verwendete unbestimmte Formulierung, der Gruppe der Hochschullehrer sei in Berufungs- und Forschungsangelegenheiten der ‚ausschlaggebende Einfluß‘ zu sichern, bedeutet zusammen mit der verfassungsrechtlichen Beanstandung der einschlägigen Vorschriften des Vorschaltgesetzes, daß es innerhalb des Systems der Gruppenuniversität verfassungswidrig sein soll, wenn der Gruppe der Hochschullehrer ‚nur‘ 50 % und nicht mindestens 51 % der Stimmen im Verhältnis zu den anderen Gruppen eingeräumt werden.“689

C. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen in Zeit bzw. Alter Das Bundesverfassungsgericht leitet in verschiedenen Sachbereichen zeitliche Grenzen aus dem Grundgesetz ab. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen finden sich bei der Konkretisierung des Parteienbegriffs des Grundgesetzes (Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 GG). Im Rahmen eines durch den „Bund der Deutschen“ angestrengten Organstreits kommt es auf die Verfassungsmäßigkeit einer durch § 2 Abs.  2 Parteiengesetz­ (PartG) aufgestellten zeitlichen Grenze an. Demnach verliert eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei, „wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat.“ Das Bundesverfassungsgericht zieht den verfassungsrechtlichen Parteibegriff aus Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 GG als Prüfungsmaßstab heran und konkretisiert ihn stufenweise qualitativ und quantitativ. Es stellt dann auf der Maßstabsebene nur fest, dass eine Beteiligung an Wahlen in Bund und Ländern innerhalb einer „vernünftigen Zeitspanne“690 zu erfolgen habe. „Wie lang dieser Zeitraum bemessen ist, erg[e]b[e] sich nicht unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 GG“,691 sondern falle in den einfachgesetzlicher Gestaltungsspielraum. Die durch § 2 Abs. 2 PartG normierten „sechs Jahre“ hielten sich innerhalb der „durch Art. 21 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen“.692 Die einfachgesetzlich normierte, numerisch bestimmte Zeitspanne wird bei der Subsumtion explizit genannt. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das Grundgesetz mittelbar und punktuell. 689

BVerfGE 35, 79 (149). Helmut Simon u. Wiltraut Rupp-von Brünneck kritisieren einen Übergriff des Bundesverfassungsgerichts in die Kompetenzen des Gesetzgebers und erheben den auch methodisch relevanten Vorwurf der Anstellung von „Zweckmäßigkeitserwägungen“ durch das Gericht (ebd., S. 150). Zu BVerfGE 35, 79 siehe auch Ralf Müller-Terpitz, BVerfGE 35, 79 – Hochschulurteil, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 231 ff. 690 BVerfGE 24, 260 (265). 691 BVerfGE 24, 260 (265). 692 BVerfGE 24, 260 (265).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

„§ 2 Abs. 2 PartG, nach dem eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei verliert, ‚wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat‘, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“693

In einer späteren Entscheidung ergänzt das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahmeklausel. „Die Vorschrift, nach der eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei verliert, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat, besagt nicht, daß für die Eigenschaft einer Ver­einigung als Partei allein die Teilnahme an Parlamentswahlen maßgeblich ist. Auch eine lückenhafte Teilnahme an Wahlen, bei der die Unterbrechung der Wahlteilnahme weniger als sechs Jahre beträgt, kann durchaus im Zusammenhang mit anderen Momenten die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung als Partei in Frage stellen.“694

Das Bundesverfassungsgericht knüpft an § 2 Abs. 2 PartG an. Die vom Gesetzgeber aufgestellten sechs Jahre seien nicht als starre Untergrenze zu verstehen. Inwieweit die einfachgesetzliche Zeitgrenze bei der Beurteilung einer Vereinigung als Partei unterschritten werden kann, hängt demnach vom Einzelfall ab. Es liegt eine heteronome und unpräzise unmittelbare verfassungsgerichtliche Quantifizierung des Art. 21 Abs. 1 GG vor. In der Entscheidung zum Nichtraucherschutzgesetz Baden-Württembergs und Berlins leitet das Bundesverfassungsgericht aus Art. 12 GG eine Altersgrenze ab. Es legt die Berufsfreiheit dahingehend aus, dass sich – soweit Ausnahmen vom Rauchverbot gesetzlich vorgesehen sind – diese auch auf sog. Einraumkneipen erstrecken müssen. Das Gericht stellt in einer entsprechenden Übergangsregelung (§ 35 BVerfGG) einschränkende Bedingungen auf. Unter anderem müsse unter 18jährigen der Zutritt verwehrt sein.695 Es liegt darin eine unmittelbare, negative Quantifizierung der Verfassung.

D. Weitere bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen Es existieren außerdem bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen, die nicht den Kategorien Geld, Quoren oder Zeit unterfallen.

693

BVerfGE 24, 260 (265, Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 91, 262 (272, Kursivsetzung der Wendung „weniger als sechs Jahre“ durch Verf.). Das Bundesverfassungsgericht verweist auf eine „dauerhaft schwache[…] Organisation, […] existenzgefährdende[n] Mitgliederschwund oder auch ein[…] beständige[s] Fehlen finanzieller Mittel“. Ebd. 695 BVerfGE 121, 317 (318, 377). Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die Ausnahmeregelung außerdem dahingehend, dass „die Gaststätte am Eingangsbereich in deutlich erkennbarer Weise als Rauchergaststätte, zu der Personen mit nicht vollendetem 18. Lebensjahr keinen Zutritt haben, gekennzeichnet“ sein muss. Ebd., S. 318. Siehe zu BVerfGE 121, 319 auch die Ausführungen unter D. II. im 2. Kapitel des dritten Teils. 694

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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I. Im Wahlrecht: Verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten Hierzu gehören insbesondere Quantifizierungen im Wahlrecht. Es existieren neben den Entscheidungen zu den Sperrklauseln weitere Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht zulässige Differenzierungen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien in Zahlen bestimmt.696 Im geltenden Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit und zulässigen Anzahl an Überhangmandaten, § 1 Abs. 1 Bundeswahlgesetz (BWG).697 Das Bundesverfassungsgericht überprüft § 6 Abs. 5 BWG,698 der Überhangmandate ausgleichslos und unbegrenzt zulässt. 1. Erste Grenzen für Überhangmandate in der Verfassungsrechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass mit der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien überhaupt eine verfassungsrechtliche Grenze für ausgleichslose Überhangmandate existiert. Nachdem es wiederholt über die Verfassungsmäßigkeit der konkreten Anzahl anfallender Überhangmandate entschieden hat, konkretisiert es in BVerfGE 95, 335 den von der Verfassung vorgegebenen Grenzverlauf.699 Es müsse der Charakter der Bundestagswahl, die nach der Entscheidung des Gesetzgebers auch Verhältnis 696 In BVerfGE 95, 408 (siehe bereits Fn. 669 im dritten Teil) überprüft das Bundesverfassungsgericht die Grundmandatsklausel im Bundeswahlgesetz. Sie besagt, dass eine Partei auch dann am Verhältnisausgleich teilnimmt, wenn sie zwar nicht die 5 %-Hürde überwunden, aber drei Direktmandate gewonnen hat. Das Gericht äußert sich zur verfassungskonformen Anzahl an Grundmandaten als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich. „Für die Zahl der Grundmandate erg[ä]ben sich keine verfassungsrechtlichen Vorgaben.“ Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers reiche so weit als die Zugangshürden insgesamt „keine höhere Sperrwirkung als ein Fünfprozentquorum entfalte[n]. Dies sei bei der aktuellen Regelung sichergestellt. Im übrigen [sei] […] es der Beurteilung des Gesetzgebers anheimgegeben, auf wie viele Wahlkreiserfolge er als Ausdruck eines besonderen politischen Gewichts abhebt (vgl. BVerfGE 6, 84 [96]).“ Ebd., S. 425. Die einfachgesetzlich vorgesehene Anzahl an drei Grundmandaten als Voraussetzung der Teilnahme am Verhältnisausgleich ist damit verfassungsgemäß. Es liegt eine mittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung vor. 697 Überhangmandate entstehen, wenn die Direktmandate einer Partei die Anzahl an Sitzen, die ihr nach den gewonnenen Zweitstimmen zustehen, übersteigen. Soweit kein Ausgleich erfolgt, weicht dann die Stimmverteilung im Bundestag vom Zweitstimmenergebnis ab. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 35. 698 § 6 Abs. 5 BWG bleibt auch nach der Wahlrechtsreform vom Dezember 2011, die die seit 1956 mögliche Verbindung der Landeslisten der Parteien aufhebt, unverändert. BVerfGE 131, 316 (324 ff.). 699 Hierzu zusammenfassend BVerfGE 131, 316 (360). Das Bundesverfassungsgericht spricht in BVerfGE 95, 335 zunächst allgemein davon, dass sich Überhangmandate „in Grenzen“ halten müssten (S. 349, 365).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

wahl sei, gewahrt werden. Das Gericht verweist auf die 5 %-Klausel als „Orientierungspunkt“700 für den Grenzverlauf, gibt aber keine konkrete Zahl zulässiger Überhangmandate an.701 Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht unmittelbar, sondern verweist auf einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers: „Er hat zu bestimmen, in welchem Ausmaß eine Erhöhung der Sitzzahl nach der in § 6 Abs. 5 BWG getroffenen Regelung hinzunehmen ist.“702 Das Bundesverfassungsgericht weicht auf eine mittelbare Quantifizierung aus, wenn es die „gegenwärtige Erhöhung der Sitzzahl [als] […] verfassungsrechtlich hinnehmbar“703 beurteilt. Das Sondervotum704 fasst die Grenzen enger und verzichtet zugleich auf jeden numerischen Bezug. Überhangmandate seien verfassungswidrig und nur soweit zulässig, als sie sich zwangsläufig aus der Sitzzuteilung nach den Grundsätzen der Verhältniswahl ergäben.705 2. „Die goldene Fünfzehn“706 als unmittelbare verfassungsgerichtliche Quantifizierung 2012 nennt das Bundesverfassungsgericht eine verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten (BVerfGE 131, 316).707 Es knüpft an die ständige Rechtsprechung an, nach der § 6 Abs. 5 BWG die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien durchbricht.708 Das Bundesverfassungsgericht verlangt angesichts der das geltende Wahlsystem prägenden Elemente einer Verhältniswahl709 die Er 700 BVerfGE 95, 335 (366). Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 36. Das Gericht spricht in BVerfGE 131, 316 (368) von einem „Orientierungswert“. 701 BVerfGE 95, 335 (366); 131, 316 (368). Die Offenheit der Entscheidung verkennt M ­ ichael Wild, nach dessen Beobachtung das Bundesverfassungsgericht „eine zahlenmäßige Grenze von 5 % der Gesamtsitze“ festlegt. Ders., BVerfGE 95, 335 – Überhangmandate III, in: Jörg Menzel/ Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 618 (621). 702 BVerfGE 95, 335 (366). 703 BVerfGE 95, 335 (366). 704 BVerfGE 95, 335 (367 ff.). Das Urteil zu den Überhangmandaten im 95. Band erging mit Stimmengleichheit. Nach § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG bedeutete dies die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen des BWahlG. 705 BVerfGE 95, 335 (392). 706 Zitat nach Günter Bannas, Die goldene Fünfzehn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2012, S. 3. 707 Das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 25. Juli 2012 (BVerfGE 131, 316) befasst sich außerdem mit dem Auftreten von negativen Stimmgewichten und der Reststimmenverwertung nach der derzeitigen Ausgestaltung des Wahlrechts durch das Bundeswahlgesetz (BWG). Es steht das einfachgesetzlich geregelte Wahl- als Rechenverfahren in Frage. Während das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen selbstständig zahlengeprägte Sachverhalte am Maßstab der Verfassung überprüft, zieht es vorliegend angesichts der Komplexität der Materie Mathematiker als Sachverständige hinzu. Ebd., S. 331. 708 BVerfGE 131, 316 (362). 709 Siehe BVerfGE 131, 316 (357 ff., 361). Die Verteilung der Sitze erfolgt nach dem Verhältnis der Zweitstimmen. Der Gesetzgeber drängt in § 6 Abs. 1 Satz 4 letzte Alt. BWG „den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung der Listenmandate“ zurück (ebd., S. 369).

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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folgswertgleichheit der Stimmen.710 Ihr liefen Überhangmandate grundsätzlich zuwider, denn ein Teil der Wähler könne durch sie auch mit ihren Erststimmen die Sitzverteilung im Bundestag beeinflussen.711 Ausgleichslose Überhangmandate seien dennoch grundsätzlich gerechtfertigt, weil sie Folge der in das Wahlsystem integrierten Personenwahl seien.712 Das Bundesverfassungsgericht weist den Ausgleich zwischen den durch Verhältnis- und Personenwahl verfolgten, „von der Verfassung legitimierte[n] Zielen“ (Beide „lassen sich innerhalb [des geltenden] […] Wahlsystems nicht in voller Reinheit verwirklichen.“713) vorrangig dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgeber zu: „Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, die Zahl hinnehmbarer Überhangmandate festzulegen […].714 Das Bundesverfassungsgericht formuliert Grenzen und konkretisiert stufenweise, inwieweit die Durchbrechung von Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit gerechtfertigt ist. Ausgangspunkt für die Gewinnung einer numerischen Vorgabe ist folgende quantitative Aussage: „Jedoch sind in dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl Überhangmandate nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.“715

Das Bundesverfassungsgericht richtet auch die verfassungsrechtliche Beurteilung im Detail an der einfachgesetzlichen Festlegung des Wahlsystems aus. Die Anzahl an Überhangmandaten muss sich hier einfügen, d. h. systemgerecht716 sein.717 Das Gericht formuliert weitere unbestimmte Maßgaben („Überhangmandate [seien] […] nur in eng begrenztem Umfang“ zulässig und dürften nicht „regelmäßig in größerer Zahl an[fallen“].718) und entwickelt dann auf der Grundlage 710

BVerfGE 131, 316 (359). BVerfGE 131, 316 (358 ff.). 712 BVerfGE 131, 316 (357 ff., 365 ff.). 713 BVerfGE 131, 316 (366). 714 BVerfGE 131, 316 (366 f., Zitat S. 367). Siehe auch bereits S. 338 f.: „Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen […]. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat.“ 715 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11. Siehe auch BVerfGE 131, 316 (367): „Die Zuteilung zusätzlicher Bundestagssitze außerhalb des Proporzes darf nicht dazu führen, dass der Grundcharakter der Wahl als einer am Ergebnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 95, 335 ).“ 716 Wenn in Bezug auf die verfassungsgemäße Höchstzahl an Überhangmandaten von Systemgerechtigkeit die Rede ist, bezieht diese sich im Gegensatz zu den sonstigen Fällen systemgerechter Quantifizierungen nicht auf sachbereichsspezifische Vergleichsgrößen innerhalb der Rechtsordnung, sondern das einfachgesetzlich festlegte Wahlsystem. Siehe die Beispiele unter A. III. 2. a) im 3. Kapitel des dritten Teils. 717 BVerfGE 131, 316 (Leitsatz 2: „in dem vom Gesetzgeber geschaffenen System“, S. 367: „Das Ausmaß der mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundenen Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen muss sich jedoch innerhalb des gesetzgeberischen Konzepts halten […].“). 718 BVerfGE 131, 316 (368). 711

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

einfachgesetzlicher „Wertungen“ einen „handhabbaren Maßstab“719 für die zulässige Zahl ausgleichsloser Überhangmandate. Die 5 %-Sperrklausel habe BVerfGE 95, 335 als Orientierungspunkt zu hoch gegriffen. Dies ergebe sich aus der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT), nach der einer Fraktion mindestens 5 % der Mitglieder des Bundestags angehören müssen. „Erreichte die Zahl der Überhangmandate [aber] Fraktionsstärke, käme ihnen ein Gewicht zu, das einer eigenständigen politischen Kraft im Parlament entspräche.“720 Der Gesetzgeber habe mit dem Änderungsgesetz 2011 „den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung der Listenmandate ein[…]dämmen“ wollen (s. § 6 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2a BWG).721 „Die Zahl der Überhangmandate [dürfe daher] etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten [nicht] überschreite[n].“722

Das Gericht stützt sich zur näheren Konkretisierung der verfassungsgemäßen Einschränkung der Erfolgswertgleichheit durch Überhangmandate auf die unter­ verfassungsrechtliche Regelung der Mindeststärke einer Fraktion im Bundestag. § 10 Abs. 1 GOBT („Die Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages […].“) fällt gegenüber den Systementscheidungen im BWG präziser aus und leitet die Eingrenzung der Überhangmandaten zwar als sachfremdere Regelung, aber auch nuancierter. Es liegt eine unmittelbare Quantifizierung vor, denn das Gericht konkretisiert die maximale Differenzierung der Erfolgswertgleichheit durch Überhangsmandate mit einer Zahl („die Hälfte“). Das Gericht formuliert eine relative Grenze. Die Zahlenangabe wird nicht präzise gefasst („etwa die Hälfte“), sondern gestattet ein unbestimmtes Abweichen nach oben und nach unten. Die Bezugsgröße bleibt numerisch unbestimmt. Die „für die Bildung einer Fraktion erforderliche[…] Zahl von Abgeordneten“ und damit die zulässige Anzahl an Überhangmandaten hängen von der konkreten Anzahl an Sitzen des Bundestags der jeweiligen Legislaturperiode ab.723 Das Bundesverfassungsgericht legt dann innerhalb des verbleibenden Konkretisierungsspielraums die maximal zulässige „Zahl von 15 Überhangmandaten“724 fest. Es bestimmt die halbe Fraktionsstärke somit in Bezug auf die gesetzliche Mindestzahl von 598 Abgeordneten, § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG. Etwaige, bereits beste 719

BVerfGE 131, 316 (368). BVerfGE 131, 316 (368 f., Zitat S. 369). 721 BVerfGE 131, 316 (369, Zitat ebd.). 722 BVerfGE 131, 316 (357, Kursivsetzung durch Verf.). 723 § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT stellt auf die „Mitglieder des Bundestags“ ab. Die gesetzliche Mitgliederzahl ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG und setzt sich aus den dort genannten 598 Abgeordneten zuzüglich der Überhangmandate zusammen. Es kommt also auf die „Gesamtzahl der Abgeordneten“ (BVerfGE 84, 304 [325]) der jeweiligen Legislaturperiode an. Der Präzisionsgrad der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung entspricht dem Halb­ teilungsgrundsatz (siehe hierzu die Ausführungen unter A. II. 1. b)  im 2.  Kapitel des dritten Teils), allerdings verzichtet das Bundesverfassungsgericht bei den Überhangmandaten auf eine Ausnahmeklausel. 724 BVerfGE 131, 316 (370, Kursivsetzung durch Verf.). 720

2. Kap.: Beispiele bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen

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hende Überhangmandate werden nicht berücksichtigt.725 Das Gericht verweist auf BVerfGE 95, 335. Wenn dort 16 Überhangmandate bei 656 Bundestagsabgeordneten (§ 1 Abs. 2 BWahlG a. F.) als verfassungsgemäß eingestuft würden, entspräche dies der auf die Fraktionsbildung bezogenen „Größenordnung“.726 Die genannten 15 Überhangmandate sind entgegen dem ersten Anschein nicht als präzise Grenze zu verstehen. Dies ergibt sich schon daraus, dass das Gericht dem Gesetzgeber keine strikte Kappung der Überhangmandate vorschreibt („Der Gesetzgeber hat im Hinblick auf die [Prognose, zukünftig in größerem Umfang auftretender Überhangmandate] […] von Verfassungs wegen Vorkehrungen zur Wahrung der Wahlrechts- und Chancengleichheit in Bezug auf den Anfall von Überhangsmandaten zu treffen.“727). Das Bundesverfassungsgericht füllt nicht ausdrücklich den Konkretisierungsspielraum der in Teilen unbestimmt bleibenden Beschränkung auf „etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten“ aus. Es spricht eher beiläufig und im Sinne einer gleichbedeutenden Regelung von den „15 Überhangmandaten“, wenn es die „richterliche[…] Normkonkretisierung“ methodisch reflektiert. In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts ist von „eine[r] zulässige[n] Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten“ die Rede.728 Im Gegensatz zu früheren Entscheidungen problematisiert das Bundesverfassungsgericht die mit der Festlegung von „15 Überhangmandaten“729 vorgenommene unmittelbare Quantifizierung. Es reflektiert die methodischen Schwierigkeiten der Zahlengenerierung und räumt ein, die Quantifizierung könne „als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden“. Dies liege 725 Bei 598 Abgeordneten liegt die Mindeststärke einer Fraktion bei 30 Abgeordneten. Eine halbe Fraktionsstärke ist dann bei 15 Abgeordneten erreicht. Es sind alternative Bezugsgrößen für die vom Bundesverfassungsgericht genannte halbe Fraktionsstärke denkbar. Wenn die Fraktionsstärke abhängig von der Gesamtzahl an Mandaten einschließlich der jeweiligen Überhangmandate ist, bedeutete die Kopplung der zulässigen Überhangmandate an die Mindestgröße einer Fraktion im Bundestag der jeweiligen Legislaturperiode jedoch überhaupt keine Begrenzung. Es wäre eine Begrenzung der Anzahl zulässiger Überhangmandate möglich, wenn auf die jeweilige Mitgliederzahl des Bundestags der letzten Legislaturperiode ab­gestellt würde. Die Anzahl an Bundestagsmitgliedern würde dann nicht mehr ansteigen (der Anstieg der Abgeordnetenzahl im Bundestag über die im BWahlG genannten 598 beruht allein auf einer schwankenden Anzahl an Überhangmandaten), könnte jedoch absinken, wenn Parteien weniger Überhangmandate erringen würden. Für die folgende Legislaturperiode wären dann auch weniger Überhangmandate verfassungsgemäß. Nach diesem Berechnungsmodus wäre also nicht ausgeschlossen, dass sich die Zahl zulässiger Überhangmandate bei einem sehr geringen Wert einpendelt. 726 BVerfGE 131, 316 (370). 727 BVerfGE 131, 316 (372). 728 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 (Kursivsetzung durch Verf.). § 6 Abs. 5 BWG ist angesichts der dargestellten verfassungsrechtlichen Grenzen verfassungswidrig, denn die Vorschrift lässt unbegrenzt und ausgleichslos Überhangmandate zu (s. o.), es muss aber tatsächlich mit einer erheblichen Anzahl an Überhangmandaten gerechnet werden. BVerfGE 131, 316 (370 ff., 375 f.). 729 BVerfGE 131, 316 (370).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

daran, dass „verschiedene Anliegen“ des geltenden Wahlsystems gegeneinander abgewogen werden müssten.730 Das Gericht erkennt außerdem eine kompetenzielle Problematik. Mit der Entwicklung numerischer Vorgaben setze es sich in Widerspruch zur einfachgesetzlichen Prärogative für den Ausgleich. Es sei „jedoch im speziellen Zusammenhang Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, gleichheitsrechtliche Anforderungen an das Sitzzuteilungssystem so zu konkretisieren, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht auf verlässlicher verfassungsrechtlicher Grundlage gestalten [könne] […] und infolgedessen das Risiko einer Bundestagsauflösung im ­Wahlprüfungsverfahren wegen unzureichender Normierung minimiert [werde] […]“.731

II. In der Rechtsprechung zu den Grundrechten In der Rechtsprechung zu den Grundrechten finden sich weitere Quantifizierungsbeispiele, im Rahmen derer das Bundesverfassungsgericht nicht die ansonsten vorherrschenden Größenarten Geld, Quoren oder Zeit in Bezug nimmt. In der Entscheidung zu den landesrechtlichen Nichtraucherschutzgesetzen732 konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die bei unveränderten Regelungskonzepten wegen Art. 12 Abs. 1 GG vorzusehende Ausnahme vom Rauchverbot auch insoweit, als es die maximale Größe der besonders zu berücksichtigenden Einraumkneipen bestimmt. „Bis zu einer Neuregelung […] gelten die Vorschriften mit der Maßgabe fort, dass in Gaststätten mit weniger als 75 Quadratmetern und ohne abgetrennten Nebenraum, […] der Gaststättenbetreiber das Rauchen gestatten darf […].“733

Es handelt sich um eine unmittelbare und heteronome Quantifizierung. Das Gericht stellt bei der maßgeblichen Fläche auf eine frühere Vereinbarung mit dem Bundesgesundheitsministerium ab, in der sich der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband verpflichtet, auf die Verwirklichung eines verbesserten Nichtraucherschutzes hinzuwirken. „Betriebe mit weniger als 75 m2 Gastfläche“ betraf die dort vorgesehene stufenweise „Einrichtung von Nichtraucherbereichen“ explizit nicht.734 Im Hinblick auf die Quantifizierungstypologie erscheint eine letzte bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung hervorhebenswert. In seiner einstweiligen Anordnung zur Platzvergabe im „NSU-Prozess“ betont das Bundesverfassungsgericht den „weiten Entscheidungsspielraum“ des Vorsitzenden Richters bei der 730

BVerfGE 131, 316 (370, Zitat ebd.). BVerfGE 131, 316 (370, Zitat ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 732 Siehe hierzu bereits die Ausführungen zu den bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in Zeit bzw. Alter unter C. im 2. Kapitel des dritten Teils. 733 BVerfGE 121, 317 (318, siehe auch die Ausführungen auf S. 376 f., Kursivsetzung durch Verf.). 734 BVerfGE 121, 317 (324 [Zitate ebd.], 376 f.). 731

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Platzvergabe735 und fordert dennoch Maßnahmen zur Abwendung schwerer Nachteile der Vertreter bestimmter ausländischer Medien im Hinblick auf deren Chancengleichheit „im publizistischen Wettbewerb“ (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG).736 Es schließt hieran eine gestufte unmittelbare und autonome Quantifizierung an. Es sei eine „angemessene Zahl“737 von Sitzen zur Verfügung zu stellen. „Möglich wäre, ein Zusatzkontingent von nicht weniger als drei Plätzen zu eröffnen, in dem nach dem Prioritätsprinzip oder etwa nach dem Losverfahren Plätze vergeben werden. Es bleibt dem Vorsitzenden aber auch unbenommen anstelle dessen die Sitzvergabe oder die Akkreditierung insgesamt nach anderen Regeln zu gestalten.“738

3. Kapitel

Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung – Quantifizierungen in der Darstellung des Bundesverfassungsgerichts Nachfolgend soll ein entscheidungsübergreifendes Bild der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung gemäß der Darstellung durch das Bundesverfassungsgericht gezeichnet werden (unter A). Es geht darum, den (gestuften) Prozess, die Typen und die Methodik der Quantifizierungen in den Entscheidungsbegründungen nachzuvollziehen. Die Beschränkung auf die Entscheidungsdarstellung wird insbesondere relevant, wenn der Fokus auf die Zahlengenerierung fällt. Ob und inwieweit einer vorgegebenen rationalen Begründung oder aufgedeckten Begründungsdefiziten tatsächlich Irrationalität zu Grunde liegt, soll zunächst ausgeblendet werden. Auf die tatsächliche Entscheidungsgenerierung kommt es bei der Herausarbeitung von Mustern der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen nicht an.739 Abschließend gilt es den Blick zu weiten, denn es soll ein vollständiges Bild der Zahlen bzw. des Zahlenbezugs der analysierten Entscheidungen wiedergegeben werden. Hierfür muss zwischen den Quantifizierungen sowie Bezifferungen und Verfahrensvorgaben des Bundesverfassungsgerichts differenziert werden (unter B). Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert in verschiedenen Verfahrensarten. Hierzu gehören vor allem das Verfassungsbeschwerdeverfahren (Art.  93 Abs.  1 735

BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 21 (Zitat ebd.). BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 20. 737 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. 738 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013  – 1 BvR 990/13  –, Absatz-Nr.  27 (Kursivsetzung durch Verf.). 739 Zur Differenz zwischen der tatsächlichen Entscheidungsfindung und deren Darstellung einführend Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 610 f. m. w. N. 736

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Nr. 4a GG),740 die konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG)741 und abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2  GG),742 aber auch das Organstreit- (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG bzw. Art. 99 GG),743 Wahlprüfungs- (Art. 41 Abs. 2 GG)744 und Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG)745.746 Eine der untersuchten Quantifizierungen ergeht als einstweilige Anordnung nach § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).747 Zwischen der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung und einer bestimmten Verfahrensart besteht keine Korrelation. Indes sind in den meisten Fällen einfachgesetzliche Regelungen Prüfungsgegenstand. Auch die Urteilsverfassungs-748 und Wahlprüfungsbeschwerden richten sich mittelbar ausdrücklich gegen Parlamentsgesetze. Es lassen sich unabhängig von der Verfahrensart wiederkehrende Strukturen der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen nachzeichnen. 740

Folgende Entscheidungen ergehen (auch) im Verfassungsbeschwerdeverfahren: BVerfGE 115, 97 (Ablehnung Halbteilungsgrundsatz); 91, 93; 99, 216 (steuerfreies Existenzminimum); 44, 249 (Besoldung kinderreicher Beamter); 61, 319 (Ehegattensplitting II); 73, 40 (Parteien­ finanzierung I); 1, 208; 82, 322 (5 %-Klausel); 35, 79 (Professoren in Hochschulgremien); BVerfGE 131, 316 (Überhangmandate II) u. BVerfGE 121, 317 (Rauchverbot). 741 Folgende Entscheidungen ergehen im konkreten Normenkontrollverfahren: BVerfGE 93, 121 (Aufstellung Halbteilungsgrundsatz); 82, 60; 87, 153; 99, 246 (steuerfreies Existenzminimum); 125, 175 (Hartz IV-Regelsätze); 132, 134 (AsylbLG); 130, 263 (Professorenbesoldung); 81, 363; 99, 300 (Besoldung kinderreicher Beamter) und 6, 55 (Ehegattensplitting I). 742 Sämtliche Entscheidungen zum Finanzausgleich ergehen im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle: BVerfGE 1, 117; 72, 330; 86, 148; 101, 158; 116, 327. Außerdem BVerfGE 95, 335 (Überhangmandate I) u. BVerfGE 131, 316 (Überhangmandate II). 743 Folgende Entscheidungen ergehen (auch) im Organstreitverfahren: BVerfGE 73, 40; 85, 264 (Parteienfinanzierung I u. II); 1, 208; 82, 322; 120, 82 (5 %-Klausel); 24, 260 (Parteibegriff I); BVerfGE 131, 316 (Überhangmandate II). In BVerfGE 1, 208 u. 120, 82 wird das Bundesverfassungsgericht in Landesorganstreitverfahren als Landesverfassungsgericht für SchleswigHolstein tätig (Art. 99 GG). 744 Folgende Entscheidungen ergehen im Wahlprüfungsverfahren: BVerfGE 95, 408 (Grundmandatsklausel); 129, 300 (5 %-Klausel). 745 BVerfGE 91, 262 (Parteibegriff II). 746 Die Häufigkeit der Verfahrensarten stimmt in etwa mit der Gesamtstatistik des Bundesverfassungsgerichts über die „Eingänge nach Verfahrensarten“ überein, wobei dort die Anzahl der Verfassungsbeschwerden (188.187 seit 1951) die der konkreten Normenkontrollanträge (3.511 seit 1951) deutlich übertrifft. Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren (218 seit 1951) sind etwas häufiger als Anträge auf abstrakte Normenkontrollen (172 seit 1951) und im Organstreitverfahren (180 seit 1951). Einstweilige Anordnungen nehmen im Gegensatz zu den vorliegend untersuchten Entscheidungen in der Gesamtstatistik der eingegangenen Anträge einen der vorderen Plätze ein (2.370 seit 1951, bis 1970 werden auch sonstige Verfahrensarten hinzu gezählt). Schließlich beruht keine der Entscheidungen auf einem Bund-Länder-Streit (Art.  93 Abs.  1 Nr. 3 GG). Sie sind auch in der Gesamtstatistik des Bundesverfassungsgerichts mit einer – im Vergleich – geringen Anzahl vertreten (45 seit 1951, hinzugerechnet sind die Verfahren nach Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG). Die Gesamtstatistik findet sich auf http://www.bundesverfassungs gericht.de/organisation/gb2011/A-I-4.html (abgerufen am 26.7.2012). 747 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/12 – (NSU-Prozess). Beim Hauptsacheverfahren handelt es sich um ein Verfassungsbeschwerdeverfahren. 748 Lediglich im Verfassungsbeschwerdeverfahren in BVerfGE 115, 97 sind als Eingriffsakt neben dem Urteil des Bundesfinanzhofs die streitentscheidenden Normen des Einkommensteuer- und Gewerbesteuergesetzes nicht ausdrücklich als Prüfungsgegenstand genannt.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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A. Zahlen als bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen I. Der Weg zur Quantifizierung 1. Unbestimmte Verfassungsrechtsbegriffe als Prüfungsmaßstab und Ausgangspunkt verfassungsgerichtlicher Quantifizierung Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundgesetz. In den untersuchten Entscheidungen sind (zumeist materiellrechtliche749) höchst unbe­ stimmte Verfassungsnormen bzw. Verfassungsrechtsbegriffe750 entscheidungsrelevant und bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung Ausgangspunkt der Konkretisierung zu Zahlen.751 Ihnen lassen sich keine Quantifizierungsverbote752 entnehmen. In einigen Fällen, etwa bei der Bestimmung des „angemessen[en]“ Finanzkraftausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG, liegt allein eine mittelbare Quantifizierung, die auf den konkreten Streitgegenstand abstellt, näher. 749 Materiellrechtliche Verfassungsvorschriften normieren inhaltliche Vorgaben, d. h. sie treffen keine Regelungen über Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formfragen. Zur Unterscheidung von materiellrechtlichen und organisationsrechtlichen Bestimmungen im Grundgesetz bereits unter A. IV. im 1.  Kapitel des zweiten Teils. Allein die vorliegend untersuchte Finanzausgleichsrechtsprechung nimmt mit Art. 107 Abs. 2 GG eine Vorschrift über die (Ertrags-)Kompetenzen der Länder in Bezug. Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 104a Rn. 1. 750 Dass die entscheidungsrelevanten Vorschriften in hohem Maße unbestimmt sind, ergibt sich nicht zwangläufig aus deren Verortung in der Verfassung. Die Analyse des Verfassungs­ textes hat ergeben, dass dessen pauschale Charakterisierung als unbestimmt verfehlt ist. Die unbestimmten materiellen durchschneiden formelle Vorschriften von höchster Präzision. Zur Unbestimmtheit der Verfassung siehe die Ausführungen unter A. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils und unter B. II. 1. im 3. Kapitel des zweiten Teils. 751 In den Entscheidungen zum horizontalen Finanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen ist Art.  107 Abs.  2 GG Prüfungsmaßstab; bei der Aufstellung und Verwerfung des Halbteilungsgrundsatzes Art. 14 Abs. 1, 2 GG; in den Entscheidungen zur Steuerfreiheit des Existenzminimums und zur Höhe sowie Bemessung der Grundleistungen nach dem SGB II sowie dem AsylbLG Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG; bei der Überprüfung der Höhe der Professorenbesoldung und der Besoldung kinderreicher Beamter Art. 33 Abs. 5 GG („hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums“); bei den Äußerungen zum Ehegattensplitting als verfassungskonforme Art der Ehegattenbesteuerung Art. 6 Abs. 1 GG; bei der Überprüfung der Parteienfinanzierung Art. 21 Abs. 1 GG (Staatsfreiheit der Parteien), Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG (Chancengleichheit der Parteien), Art. 38 Abs. 1 GG (Wahlrechtsgleichheit der Bürger) und Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG; bei der Qualifizierung der 5 %-Hürde als verfassungskonforme Sperrklauselregelung im Wahlrecht ebenfalls Art.  21 Abs.  1 i. V. m. Art.  3 Abs.  1 GG (Chancengleichheit der Parteien) und Art.  38 Abs.  1 GG (Wahlrechtsgleichheit der Bürger). Sofern das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein­ auftritt, ist auf die Normen der entsprechenden Landesverfassung abzustellen. 752 Hierzu für die Ebene des einfachen Rechts Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-­ Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (82 f., 84, 89).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Das Grundgesetz ist zwar nach seiner funktionsgerechten Ausgestaltung in seinen materiellrechtlichen Vorschriften ohnehin weitgehend unbestimmt, es finden sich jedoch Ausgangspunkte der Quantifizierung, die im Vergleich nochmals über gesteigerte Unbestimmtheit verfügen.753 Zu den maßstäblichen Grundgesetzbestimmungen gehören übergeordnete Verfassungsprinzipien wie das Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip.754 Zum Teil  sind sie nicht unmittelbarer Ansatzpunkt der Quantifizierung, sondern das Bundesverfassungsgericht zieht sie bei der Konkretisierung weiterer unbestimmter Verfassungsvorschriften heran. Dies lässt sich etwa im Finanzausgleichsrecht beobachten. Es verschärft sich hierdurch zunächst die Unbestimmtheit des Prüfungsmaßstabs.755 Im Fall der Parteienfinanzierung fehlt gar ein expliziter normativer Anhaltspunkt.756 Im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Quantifizierung kommt es auf einen spezifischen Aspekt der Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen an. Es handelt sich zwar im Finanzausgleichsrecht teils um (unbestimmte) implizite Zahlenangaben,757 die im Gegensatz zu anderen Ausgangspunkten bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung wie der Menschenwürde (Art.  1 Abs.  1 Satz 1 GG) im Urteil zu den Hartz IV-Regelsätzen oder den hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art.  33 Abs.  5 GG) im Urteil zur Hochschullehrerbesoldung758 auf die Konkretisierung in Zahlen angelegt sind. Die Verfassungsvorgaben verfügen aber in keinem Fall über eine präzise numerische Bedeutung.759 Sie verweisen nicht auf empirisch nachprüfbare Zusammenhänge, 753 Siehe etwa BVerfGE 125, 175. Die Hartz IV-Regelleistungen werden dort am Maßstab der Menschenwürde und des Sozialstaatsprinzips gemessen. Hierzu die Ausführungen unter A. III. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 754 Hartmut Maurer spricht von „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen“. Ders., Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 1 ff. (Zitat ebd.). 755 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S.  79 f. („Finanzausgleichsnormen stehen im Spannungsfeld hochabstrakter Staatsziel- und Staatsstruktur­ begriffe, insbesondere der Bundesstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit, so daß zu den offenen Spezialnormen des Finanzausgleichs die Verbindung zu den offenen Fundamentalnormen des Staatsorganisationsrechts tritt. So sind finanzverfassungsrechtliche Normen, die das Bundesstaatsprinzip konkretisieren, auf diese Staatsformbestimmung zu beziehen.“). Das Bundesverfassungsgericht rekurriert zum Beispiel zur Konkretisierung der Angemessenheit des Finanzkraftausgleichs i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG auf das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Siehe die Ausführungen unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 756 Zur Parteienfinanzierung Gregor Stricker, Der Parteienfinanzierungsstaat, 1998, S. 22 ff. („Die Bedeutsamkeit der politischen Parteien für das demokratische System findet indes in der Frage ihrer Finanzierung kaum einen ausdrücklichen normativen Widerhall im Grundgesetz.“, S. 23). 757 Hierzu gehört etwa die Angemessenheit des horizontalen Finanzausgleichs (Art.  107 Abs. 2 Satz 1 GG). Siehe die Ausführungen sogleich im Haupttext. 758 BVerfGE 125, 175 u. BVerfGE 130, 263. 759 Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34. Siehe auch die Ausführungen unter C. III. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. Zu den impliziten, unbestimmten Zahlenangaben bereits in der Bestandsaufnahme von Zahlen im Grundgesetz unter B. I. 2. im 1. Kapitel des zweiten Teils.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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sondern es handelt sich nach der Terminologie Walter Jellineks um „Begriffe und Sätze des Wertens und Wollens“.760 Das Gericht verfügt bei der Konkretisierung in Zahlen über keine expliziten Vorgaben, wie sie etwa Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG normiert. Die Unbestimmtheit der Maßstabsnormen wirft die Frage nach ihrem „Verfassungswert“761 auf.762 Dies ist insbesondere im Finanzausgleichsrecht, dem zentralem Anknüpfungspunkt bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen, der Fall. Stefan Korioth führt dort die Unsicherheiten betreffend den Verfassungsmaßstab darauf zurück, dass es sich nicht um einen tradierten Normbestand handele. Das Bundesverfassungsgericht könne bei der Konkretisierung nicht auf Vorläufer­ reglungen und gewachsene Argumentationslinien zurückgreifen.763 Die Frage nach dem „Verfassungswert“764 wird als mögliche Sachbereichsspezifität der Finanzausgleichsnormen verhandelt. Die Auseinandersetzungen kreisen um deren Geltungskraft, besondere Flexibilität der Interpretation und Justiziabilität.765 Das Bundesverfassungsgericht schließt in seinem zweiten Urteil zum Finanzausgleich vom 24. Juni 1986 (BVerfGE 72, 330) strukturelle Eigenheiten der Finanzverfassung gegenüber anderen Sachbereichen der Verfassung aus. Sie verfüge gegenüber der

760 Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1964, S. 61. Bei Jellinek findet sich ein Gegenbeispiel zu den vorliegend einschlägigen Grundgesetzvorschriften. Er führt eine bayerische Polizeiverordnung an, die sich über empirische Erhebungen (eindeutig) quantifizieren lässt. Sie bestimmt: „Die Fahrgeschwindigkeit der Motorwagen darf – nach einer Polizeiverordnung – die mittlere Geschwindigkeit von Personenfuhrwerken nicht übersteigen.“ Ebd., S. 19 (Kursivsetzung durch Verf.). 761 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 62, siehe auch S. 64. 762 Bei Art. 1 Abs. 1 GG ist die weniger weit reichende Frage aufgeworfen, ob es sich bei der Menschenwürde um ein (subjektives) Grundrecht oder bloß eine objektive Verfassungsvorschrift handelt. Den Grundrechtscharakter bejaht die herrschende Meinung. So auch Wolfram Höfling, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 5–7 m. w. N. 763 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 60 ff. 764 Stefan Korioth, Fn. 761 im dritten Teil. 765 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, insb. S.  64. Die dargestellte Dreiteilung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die Justiziabilität auf die Durchsetzung der Rechtsgeltung bezieht und daher von der Rechtsgeltung der finanzausgleichsrechtlichen Normen unterschieden werden muss (auch wenn eine effektive Rechtsbindung kaum ohne gerichtliche Kontrolle gedacht werden kann). Dazu Helmut Siekmann, in:­ Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a Rn. 32. Es muss außerdem die Frage nach dem Maß der Flexibilität bei der Auslegung getrennt vom Problemkomplex der Justiziabilität verhandelt werden. Etwaige methodische Besonderheiten geben noch keine Auskunft darüber, wer bei Spielräumen in der Interpretation bzw. in zweifelhaften Fällen entscheidet. Dazu S­ tefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, insb. S. 77 f. Klaus Vogel u. Christian Waldhoff nehmen eine abweichende Unterscheidung vor und problematisieren unter der Überschrift der Justiziabilität der Finanzverfassung das „ob“ und „wie weit“ der gerichtlichen Kontrolle. Dies., Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 622 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

politischen Entscheidungsfindung über uneingeschränkte rechtliche Steuerungskraft und sei in ihrem Normativitätsanspruch nicht auf ein Konsensgebot oder Willkürverbot reduziert. Das Verfassungsgericht nimmt ihre ­uneingeschränkte Justiziabilität an.766 Gegen die Sachbereichsspezifität der Finanzausgleichsnormen im Grundgesetz spricht bereits, dass sie gegenüber den normativen Anknüpfungspunkten der übrigen, analysierten bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen nicht über eine besondere Offenheit in ihrer Begrifflichkeit verfügen.767 Im Gegensatz zu den Prüfungsmaßstäben anderer Entscheidungen sind sie auf die Konkretisierung in Zahlen (durch die Finanzausgleichsgesetzgebung und die sie kontrollierende Verfassungsrechtsprechung) angelegt.768 Es handelt sich um versteckte, sog. implizite Zahlenangaben.769 In Art.  107 Abs.  2 GG ist die Zahlenaffinität der unbestimmten Rechtsbegriffe zum Teil  inhaltlich begründet („Finanzkraft“, „Finanzbedarf“). Zum Teil werden unbestimmte Begriffe verwendet, bei deren Auslegung es darum geht „auf einer gleitenden Skala […] [einen] Schwellen­wert festzulegen“ (Wann liegt ein „angemessener Ausgleich“ oder eine „ergänzende Deckung“ vor?).770 Die Zahlenaffinität der Vorgaben für den Finanzausgleich führt andererseits nicht dazu, dass diese graduell bestimmter als die

766 „Diese Ordnungsfunktion der Finanzverfassung schließt es aus, ihre Regelung  – sei es insgesamt, sei es in Teilen  – als Recht von minderer Geltungskraft anzusehen, das etwa bis zur Willkürgrenze abweichenden Kompromissen und Handhabungen zugänglich ist, sofern nur ein vertretbares Ergebnis erreicht wird. Ebensowenig sind die Normen der Finanzverfassung mit minder verbindlichen Regelungen im Bereich des Völkerrechts (‚soft law‘) vergleichbar. […] Das Grundgesetz hat auch in diesem Bereich, der nicht das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern das Verhältnis zwischen Bund und Ländern sowie der Länder untereinander betrifft, rechtliche Positionen, Verfahrensregeln und Handlungsrahmen festgelegt, die Verbindlichkeit beanspruchen. Dadurch erhalten politische Kooperation und Auseinandersetzung der Glieder des föderativen Staatsverbandes Regeln und Form.“ BVerfGE 72, 330 (388 f.). Siehe auch BVerfGE 67, 256 (288 f.). Die Finanzverfassung wird dort als „feste[r] Rahmen“ bezeichnet (ebd., S. 289). Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 64 ff., 71; Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art.  104a Rn.  24 ff.; Hans-Wolfgang Arndt, Anmerkung zu BVerfGE 86, 148, JZ 1992, S. 971 (insb. S. 971: „Denn daß Art. 107 Abs. 2 GG nicht nur durch politische Dezision auszufüllen ist, sondern normative, vom BVerfG zu kontrollierende Vorgaben enthält, dürfte nach allgemeinem Verfassungsverständnis unbestreitbar sein.“). A. A. Fritz Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, 1984, S. 103 ff. Für die Finanzverfassung als grundgesetzinterne „Sonderordnung“ Gerhard Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950, Zitat S. 11. 767 Vgl. etwa die sprachliche Fassung der Grundrechte im Grundgesetz. Siehe Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 75 und die Ausführungen zur funktionsgerechten Ausgestaltung des Grundgesetzes unter B. im 3. Kapitel des zweiten Teils. 768 Jürgen W. Hidien, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand: 97. Lieferung November 2001, Art. 106 Rn. 355. 769 Siehe hierzu die Ausführungen in der Analyse des Grundgesetzes auf seine Zahlengeprägtheit unter B. I. im 1. Kapitel des zweiten Teils. 770 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 242.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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sonstigen Ausgangspunkte für die Quantifizierung sind. Die Angemessenheit des Länderfinanzkraftausgleichs verlangt eine Abwägungsentscheidung771 und es stehen sich bei der Konkretisierung „Güter[…] und Interessen“ gegenüber, von denen Anne Röthel ausgeht, dass sie sich „kaum mit Geld bewerten lassen“ und „nicht mit feiner Maßeinheit skalieren lassen“.772 Sachbereichsübergreifend gilt: Die Verfassung verwendet unbestimmte Begriffe, aber sie verwendet keine „Leerformeln“773. Es lässt sich im Wege der Auslegung jedenfalls eine negative Bedeutung der normativen Maßgaben ausmachen.774 Die Unbestimmtheit des Verfassungsmaßstabs führt zu keinen Verbindlichkeitseinbußen.775 Mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung ist lediglich festzustellen, dass es sich um „kein[en] Zollstock [handelt], den man an den [jeweils in Rede stehenden] Fall einfach ‚anlegen‘ könnte, sondern ein Maß, das, bevor man es anlegt, noch einer ‚Feineinstellung‘ bedarf, die der zur Anwendung Berufene seinerseits vorzunehmen hat.“776 Den zur „Anwendung Berufene[n]“ auszumachen, ist eine Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Die Unbestimmtheit der einschlägigen Grundgesetzbestimmungen wirkt sich allein auf die verfassungsgerichtliche Prüfungsintensität aus.777

771 Anne Röthel unterscheidet bei der Qualifizierung im Zivilrecht zwischen „Gewichtungsbegriffen“ und „Abwägungsbegriffen“. Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 205 ff. (Zitate S. 205 u. 209). 772 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 224. Die Verwendung impliziter Zahlenangaben kann auch nicht insoweit zur Begründung des Sonderstatus des Finanzausgleichsrechts herangezogen werden, als diese besonders häufig in Zahlen konkretisiert werden. Andere Verfassungsvorgaben werden ebenso zum Ausgangspunkt bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen genommen. Vgl. Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des ­Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 637. 773 Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 24. 774 Vgl. für die Rechtsprinzipien Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S.  24. A. A. Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 223. Die Differenzierung zwischen einem Begriffshof und -kern mache nur bei Tatsachenurteilen Sinn. Bei Werturteilen ließen sich keine eindeutigen Fälle ausmachen. Siehe auch die Ausführungen unter A. I. 4. im 6. Kapitel des dritten Teils. 775 Zur durchgehenden normativen Bindungskraft des Grundgesetzes, auch der Prinzipien und Programmsätze Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 (315 ff.). 776 Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 179. 777 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 75. Ders. zeichnet ausgehend vom Finanzausgleich und in Anschluss an Philipp Heck ein allgemeines Modell der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch das Bundesverfassungsgericht (ebd., S. 68 ff.). Siehe hierzu die Ausführungen unter A. II. im 5. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

2. Gestufte Konkretisierung der unbestimmten Verfassungsvorgaben: Über qualitative und quantitative Maßstäbe zu Zahlen Die entscheidungsrelevanten Verfassungsnormen sind vorliegend zu unbestimmt, als dass sie das Verfassungsgericht unmittelbar als subsumtionsfähige Prüfungsmaßstäbe anwenden könnte. Es präzisiert daher den verbindlichen Rahmen, den die verfassungsrechtlichen Vorgaben gegenüber dem einfachen Gesetzgeber normieren.778 Dabei entkoppelt das Gericht in den Entscheidungsbegründungen die Entfaltung der Prüfungsmaßstäbe („Maßstäbeteil“) von deren Anwendung auf den konkreten Sachverhalt („Subsumtionsteil“).779 Die Reichweite des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums kristallisiert sich über die ihm abstrakt und konkret auferlegten Grenzen heraus.780 Dieser Entscheidungsmodus des Bundesverfassungsgerichts ist insbesondere in den Finanzausgleichsentscheidungen gut erkennbar: Die Konkretisierung der Prüfungsmaßstäbe wird von der Anwendung auf den konkreten Fall weitgehend entkoppelt und die eigentliche Streitentscheidung ist in eine „lehrbuchartige“781 Erklärung des verfassungsrechtlichen Finanzverteilungs- und Ausgleichssystems eingebettet. Wiederholungen und Verweise auf frühere Entscheidungen verfestigen die verfassungsgerichtliche Maßstabskonkretisierung. Das Bundesverfassungsgericht hält selbst in seinem vierten Urteil zum Finanzausgleich aus dem Jahr 1999 (BVerfGE 101, 158) an seinem Prüfungsmodus fest.782 Obwohl das Gericht dort die verfassungskonkretisierende Maßstabsetzung explizit in die Hände des einfachen Gesetzgebers legt,783 ist eine

778 Peter Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd.  1, 2001, S. 333 (342): „Der spezielle Normierungsstil des Grundgesetzes führt regelmäßig zu besonderer Verdichtungsbedürftigkeit der Verfassungsaussagen zwecks Beurteilung des jeweiligen Prüfungsgegenstands; d. h. zum Erfordernis gegenständlich aktualisierender Konkretisierung.“ In Bezug auf die Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich Klaus ­Vogel/ Christian ­Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art.  104a bis 115 GG), 1999, Rn.  63: „Die Rechtsprechung zum Länderfinanzausgleich muß diese allgemein gehaltenen Umschreibungen verlassen und die Aussagen des Grundgesetzes anwendungsfähig, d. h. justiziabel­ machen.“ 779 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (168 ff., Zitate S. 170); Peter Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 333 (360): „In zahlreichen Entscheidungen vermittelt das Gericht den Eindruck, zunächst gelte es, die im Verfassungstext enthaltenen Begriffe als solche zu präzisieren, während erst in einem zweiten Schritt die so erläuterte Norm auf den zu beurteilenden Fall anzuwenden sei.“ 780 Zur Eröffnung eines einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums durch das Grundgesetz siehe auch die Ausführungen unter A. II. im 5. Kapitel des dritten Teils. 781 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (200). 782 Siehe BVerfGE 101, 158 (219–226). 783 BVerfGE 101, 158 (214 ff.).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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diesbezügliche Zurückhaltung nicht erkennbar. Die dualistische Struktur führt einerseits zur Selbstbezüglichkeit und Abkopplung von den normativen Vorgaben des Grundgesetzes. In ihr ist andererseits die Gefahr einer „Entkontextualisierung“784 und damit das Paradox einer Entscheidung unter Ausblendung des konkreten Streitgegenstands angelegt.785 In den Entscheidungen zu den Besoldungszuschlägen kinderreicher Beamter wird dies an den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen sichtbar. Das Gericht macht den vom Statistischen Bundesamt errechneten „Mindestbedarf eines Kindes“, der um „fast 15 %“786 höher als der Sozialhilfesatz sei, zunächst als „Anhaltspunkt“787 für die Verfassungskonformität der einfachgesetzlich festgelegten, zusätzlichen Besoldungsleistungen aus (BVerfGE 81, 363). In einer späteren Entscheidung (BVerfGE 99, 300) verfestigt es den Orientierungswert zur (vom Gesetzgeber zu beachtenden) unmittelbaren Quantifizierung. Der um 15 % erhöhte Sozialhilfesatz ist nun Untergrenze der zusätzlichen Besoldungsleistungen und konkretisierter Verfassungsgehalt. Die Selbstreferenz geht mit dem Verzicht auf eine verfassungsrechtliche Anbindung einher, denn das Gericht knüpft bei der Quantifizierung nicht ausdrücklich an das verfassungsrechtliche Alimentationsprinzip an. In den Entscheidungen lässt sich ein gestufter Konkretisierungsprozess nachvollziehen. Peter Lerche deutet ihn an, wenn er im Hinblick auf den bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsmodus von „auslegungssteuernde[n] Zwischenvorstellungen“788 spricht. Es können in diesem Prozess verschiedene Konkretisierungstypen unterschieden werden.789 Bei zunehmender Konkretisierungsintensität folgen auf qualitative quantitative Konkretisierungen.790 Quantitative Aussagen sind solche, die „Menge, Anzahl; Ausmaß [oder] […] Umfang“ einer Sache betreffen.791 Zum Teil  werden verschiedene Größen zueinander ins 784 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (182, Zitat ebd.). 785 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (171 ff., 200 ff.). 786 BVerfGE 81, 363 (382). 787 BVerfGE 81, 363 (382). 788 Peter Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd.  1, 2001, S. 333 (343 ff.). 789 Eine „Konkretisierungstypologie“ für das Privatrecht findet sich bei Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  167 ff. Auch Röthel geht von verschiedenen Stufen im Konkretisierungsprozess aus. Sie unterscheidet zwischen Beurteilungsmaßstäben bzw. ­-relationen, Qualifizierungen und Quantifizierungen („Konkretisierungen in Form von Zahlenwerten“, ebd., S. 240). Die Entwicklung quantitativer Maßstäbe im Konkretisierungsprozess erscheint indes nicht als eigener Konkretisierungstyp. Eine gestufte Konkretisierung wird auch nicht in Bezug auf einzelne Auslegungsprozesse nachgezeichnet. 790 Siehe bspw. die Konkretisierung des angemessenen Ausgleichs (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) durch das Bundesverfassungsgericht. Hierzu die Ausführungen unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 791 „Quantität“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 22, 21. Aufl. 2006, S. 366 (Zitat ebd.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Verhältnis gesetzt.792 Die quantitativen Aussagen sind der Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs zu Zahlen (Quantifizierung) nicht zwingend vorgeschaltet.793 Eine zunehmende Präzisierung der Prüfungsmaßstäbe vollzieht sich nicht nur zwischen den Konkretisierungstypen, sondern auch innerhalb der qualitativen Konkretisierung.794 Das Bundesverfassungsgericht schließt795 den Konkretisierungsprozess 792

Dies ist bei der Kopplung der verfassungsrechtlichen Konkretisierung an einfachgesetzliche Größen der Fall. Das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum darf laut Bundes­ verfassungsgericht etwa die Sozialhilfe nicht unterschreiten. Relationale Konkretisierungen finden sich aber auch außerhalb solcher Kopplungen. Das Verfassungsgericht konkretisiert den angemessene Ausgleich nach Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG quantitativ, indem es das Maß der Finanzkraftangleichung näher bestimmt. Nach BVerfGE 72, 330 (387) sollen die Finanzkraftdivergenzen „in gewissem Umfang, wenn auch nicht voll“ ausgeglichen werden. In diesem Fall ist die relationale Konkretisierung bereits im Prüfungsmaßstab angelegt, bei dem es sich in der Terminologie Anne Röthels um einen „Abwägungsbegriff“ (siehe Fn. 771 im dritten Teil) handelt. Quantitative Aussagen, die keine Verhältnisbestimmungen sind, liegen vor, wenn von staatlichen Leistungen – wie bei den ALG II-Regelsätzen oder der W-Besoldung – verlangt wird, dass sie nicht „evident unzureichend“ (BVerfGE 125, 175 [226], BVerfGE 130, 263 [295]) sind. Bei der Prüfung des evidenten Ungenügens im konkreten Fall stützt sich das Verfassungsgericht dann wiederum auf Vergleichsgrößen, vgl. nur die Rechtsprechung zur W-Besoldung (siehe hierzu die Ausführungen unter A. IV. 1. a) und 2. im 2. Kapitel des dritten Teils). 793 (1) Ein Beispiel für die Subsumtion einer numerischen Aussage unter eine qualitativ präzisierte Verfassungsvorgabe findet sich in BVerfGE 72, 330 (409): unbestimmtes Tatbestandsmerkmal = „Finanzkraft“, Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG; qualitative Konkretisierung = alle ausgleichsrelevanten Einnahmen; numerische Aussage = ausgleichsrelevante Einnahme bei einem Volumen von jährlich mehreren Milliarden DM in allen am Finanzausgleich beteiligten Ländern seit 1982. Siehe hierzu unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. (2) Ein Beispiel für die Subsumtion einer numerischen Aussage unter eine quantitativ präzisierte Verfassungsvorgabe findet sich in BVerfGE 1, 117 (131 f.): unbestimmtes Tatbestandsmerkmal = angemessener Ausgleich, Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG; quantitative Konkretisierung = keine Nivellierung der Finanzkraftunterschiede unter den Ländern; numerische Aussage: keine Nivellierung, wenn der Unterschied zwischen Finanzkraft- und Ausgleichsmesszahl hinsichtlich der ersten 10 % nur zu 25 % und darüber hinaus zu 50 % ausgeglichen wird. Siehe hierzu ebenfalls unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 794 Dies lässt sich bspw. in Bezug auf die Konkretisierung des angemessenen Ausgleichs der Länderfinanzkraft i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG nachvollziehen. Eine erste qualitative Konkretisierung nimmt das Bundesverfassungsgericht vor, indem es die Intensität des Finanzkraftausgleichs auf das Bundesstaatsprinzip und dessen konfligierenden Prinzipien von Autonomie und Solidarität rückbezieht. Hieraus ergibt sich in einem zweiten qualitativen Konkretisierungsschritt eine Unter- und Obergrenze für den Ausgleich, nämlich die Verfassungsmäßigkeit der Hilfeleistungspflicht und Verfassungswidrigkeit einer entscheidenden Schwächung der Leistungsfähigkeit der Geberländer. Allein beim Nivellierungsverbot der Finanzkraftunterschiede im Bundesstaat handelt es sich in diesem Zusammenhang um eine quantitative Aussage. Das Bundesverfassungsgericht präzisiert auf dieser Grundlage den angemessenen Ausgleich dann ein drittes Mal qualitativ. Zentral ist die Vorgabe für den Finanzausgleichsgesetzgeber, „die richtige Mitte“ zwischen der Vereinheitlichung und der Wahrung des notwendigen Abstands der Länderfinanzen zu finden (BVerfGE 72, 330 [397 f.]). 795 In Anlehnung an die Unterscheidung Anne Röthels zwischen „geschlossene[n] und offene[n] Normkonkretisierung[en]“. Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 176 ff. (Zitat S. 176).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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der Entscheidungsmaßstäbe, indem es sie zu Zahlen präzisiert.796 Dies geschieht bei der mittelbaren Quantifizierung erst in Bezug auf den konkreten Fall bei der Subsumtion einfachgesetzlicher Zahlen unter die nicht numerisch präzisierten Verfassungsvorgaben.797 Das Bundesverfassungsgericht nimmt in keinem der untersuchten Fälle ein Quantifizierungsverbot in dem Sinne an, dass sich die unbestimmten Verfassungsvorgaben einer Konkretisierung in Zahlen sperren. Allein eine unmittelbare Quantifizierung schließt es teils explizit aus. In seinem Berlin-Urteil aus dem Jahr 2006 (BVerfGE 116, 327) reflektiert das Bundesverfassungsgericht vor der mittelbaren Quantifizierung der extremen Haushaltsnotlage und damit des Tatbestandsmerkmals der Leistungsschwäche in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG das Fehlen numerischer Entscheidungsmaßstäbe: „Was im Einzelnen unter einer  – relativen  – Haushaltsnotlage zu verstehen ist, lässt sich verfassungsrechtlich nicht generell abstrakt bestimmen, insbesondere nicht präzise quanti­ fizieren.“798

Das Gericht knüpft an seine Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Lage des Saarlands und Bremens von 1992 (BVerfGE 86, 148) an, in der es konstatiert: „Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offenbleiben.“799 Das Schema der gestuften Konkretisierung auf der Maßstabsebene ist in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Während die Bedeutung der Angemessenheit des Finanzkraftausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG detailliert entfaltet wird, ist dies hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Leistungsschwäche nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in beiden soeben genannten Entscheidungen (BVerfGE 86, 148; 116, 327) eine Leistungsschwäche im Sinne des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG bei einer extremen Haushaltsnotlage an, ohne Leitlinien für deren Vorliegen aufzustellen. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt dann auf der Ermittlung der tatsächlichen­ budgetären Situation in den Ländern und das Gericht entscheidet über das Vorliegen einer Haushaltsnotlage im konkreten Fall.800 Auch der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz, nach dem nur die höchstens hälftige Besteuerung des Vermögensertrags verfassungsgemäß ist, wird an Art. 14 Abs. 1, 2 GG nicht schrittweise argumentativ rückgebunden. 796

Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 171. Zur Teilhabe der Subsumtion an der Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs und zur­ Charakterisierung der Subsumtion von Zahlen unter einen nicht numerisch konkretisierten Prüfungsmaßstab als mittelbare Quantifizierung siehe die Ausführungen zu den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen im Finanzausgleichsrecht unter A. I. 6. b)  im 2.  Kapitel des dritten Teils. 798 BVerfGE 116, 327 (389). Siehe hierzu auch sogleich die Ausführungen unter III. 2. b) aa). 799 BVerfGE 86, 148 (259). 800 Siehe hierzu sogleich unter III. 2. b) aa). 797

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

3. Annäherung von Prüfungsmaßstab und -gegenstand: Gestufte Konkretisierung und finanzwissenschaftliche Berechnungen Im verfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess werden vor der Subsumtion Verfassungsmaßstäbe und Prüfungsgegenstände in einem wechselseitigen Konkretisierungsprozess einander angenähert.801 Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert einerseits stufenweise die unbestimmten Verfassungsvorgaben, andererseits wird der zu prüfende Sachverhalt teils rechnerisch aufbereitet.802 Das Gericht wird bei der Ermittlung der relevanten Sachverhaltsgesichtspunkte konkretisierend tätig, es betritt jedoch im Vergleich zu dem in den meisten Fällen jedenfalls mittelbar zu prüfenden, numerisch bestimmten Parlamentsgesetz bzw. dem einfachgesetzlich geregelten, in Zahlen strukturierten Lebenssachverhalt keine höhere Konkretisierungsebene. Von der Konkretisierung des Sachverhalts in Zahlen sind rechnerische Vergleiche im Zusammenhang der Subsumtion zu unterscheiden, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur W-Besoldung vornimmt.803 Die Trennung der Entscheidungsbegründungen in einen „Maßstäbe-“ und „Subsumtionsteil“804 reduziert bzw. gefährdet, aber verdeckt  – soweit tatsächlich durchgeführt  – auch die problemspezifische Auslegung der Entscheidungsmaßstäbe und die maßstabsbezogene Konkretisierung des zu beurteilenden Sachverhalts im Wege eines Hin- und Herwanderns des bundesverfassungsgerichtlichen Blicks zwischen Verfassung und Streitgegenstand. Bei der Subsumtion fällt eine Diskrepanz in der Konkretisierungsintensität zwischen Verfassungsvorgaben und Prüfungsgegenstand auf. Dies ist bei der mittelbaren Quantifizierung am auffälligsten, wenn Zahlen unter einen nichtnumerischen Prüfungsmaßstab subsumiert werden. Die konkretisierten Verfassungsvorgaben „legitimieren“ zwar nicht jede einfachgesetzliche Zahl, bleiben aber „vage“.805 801 Siehe hierzu insbesondere die Analyse der Entscheidungen zum Finanzausgleich, wonach die Subsumtion numerischer Prüfungsgegenstände unter nichtnumerische Entscheidungsmaßstäbe eine mittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung bedeutet (unter A. I. 6. b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils). 802 Siehe hierzu sogleich unter B. I. 803 Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Beamtenbesoldung vergleichend in den Blick und stellt außerdem die W-Besoldung und den Verdienst in der Privatwirtschaft einander gegenüber, hierzu unter A. IV. 1. a) und 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. 804 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 805 Vgl. Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (2 ff., Zitate S. 2 u. 4). Bieback u. Stahlmann werfen der Verwaltungsrechtsprechung bei der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben zu Höhe und Inhalt der Sozialhilfeleistungen vor, „sehr vage“ (ebd., S. 2, siehe auch S. 3) zu bleiben. Die Konkretisierung von § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG a. F. (Gewährung sozialer Kommunikationsmittel in „vertretbaren Umfange“) durch das Bundesverwaltungsgericht sei „so allgemein“, dass sie „jede Entscheidung legitimieren“ (ebd., S. 4) könne. Stephan Rixen stellt bei der Analyse von BVerfGE 125, 175 fest, dass zwar ein Maßstab für die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Regelsätze nach dem SGB II aufgestellt werde (evidentes Ungenügen), „unstreitige Kriterien der Evidenz“ allerdings nicht entfaltet würden. Ders., Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (86).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Auch wenn der Prüfungsmaßstab numerisch konkretisiert worden ist, ist er nicht so eindeutig gefasst, dass es bei der Subsumtion nur noch auf einen rein rechnerischen Vergleich ankäme.806 Die Beobachtung entspricht der Annahme Dietrich Jeschs, wonach unbestimmte Entscheidungsmaßstäbe und Sachverhalt nur begrenzt einander angenähert werden können. Unbestimmte Rechtsbegriffe ließen sich nicht in konkrete „Tatsachenbegriffe“ zerlegen, sondern bezögen sich auf eine Gesamtsituation, die von nicht ausdrücklich benennbaren „Imponderabilien“ geprägt sei.807 Die Konkretisierung des Entscheidungsmaßstabs erfolgt dann nicht nur im Hinblick auf die zu bewertenden Tatsachen vor der eigentlichen Subsumtion, sondern auch durch die Subsumtion der zu bewertenden Tatsachen. Die Subsumtion ist in ihrer Konkretisierungsleistung von der vorherigen begrifflichen Annäherung von Entscheidungsmaßstäben und Tatbestand zu trennen.808

II. Typen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen in den untersuchten Entscheidungen Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert die unbestimmten Verfassungsvorgaben sowohl unmittelbar als auch mittelbar.809 Präferenzen der Senate für einen bestimmten Quantifizierungstyp lassen sich nicht ausmachen. Sowohl die meisten Beispiele unmittelbarer als auch mittelbarer Quantifizierungen entstammen der Rechtsprechung des Zweiten Senats. Besonderheiten bei der Quantifizierung je nach Senatszuständigkeit sind in der Regel810 nicht erkennbar. Der Nachzeichnung von Mustern in der (Quantifizierungs-)Rechtsprechung der verschiedenen Senate steht bereits entgegen, dass es seit Bestehen des Bundesverfassungsgerichts öfters Änderungen bei der Verteilung der Zuständigkeiten gegeben hat. In Folge zahlreicher Plenumsbeschlüsse gem. § 14 Abs. 4 BVerfGG kann nicht mehr mit derselben Eindeutigkeit vom Ersten Senat als „Grundrechte-Senat“ und vom Zweiten Senat als „Staatsgerichtshofs-Senat“ gesprochen werden wie einfachgesetzlich

806 Zur Quantifizierung in unbestimmten Bandbreiten siehe bereits die Quantifizierungstypologie und dort die Ausführungen unter C. II. 5. im 1. Kapitel des dritten Teils. 807 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, AöR 82 (1957), S.  163 (194 ff., 202 f., Zitate S. 194 f.). „Das Problem des unbestimmten Rechtsbegriffs ist ein Problem der nicht-mitteilbaren Imponderabilien, der schriftlich nicht niederlegbaren intuitiven Erfassung der Gesamtsituation.“ Ebd., S. 203. 808 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, AöR 82 (1957), S.  163 (193 ff.). Zur Teilhabe der Subsumtion an der Konkretisierung des Prüfungsgegenstands siehe bereits die Ausführungen unter A. I. 6. b) im 2. Kapitel des dritten Teils. 809 Definitionen der unmittelbaren und mittelbaren Quantifizierung finden sich bei der Aufstellung von Ordnungskriterien für die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen zu Beginn des 3. Teils dieser Arbeit. 810 Zu den Auswirkungen eines Senatswechsels auf die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen des Existenzminimums im Steuerrecht unter A. II. 2. a) cc) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

ursprünglich vorgesehen811 und bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen sind sowohl Bestandteil von Entscheidungen zu den Grundrechten als auch im Staatsorganisationsrecht. Unmittelbare Quantifizierungen sind in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts atypisch. Auf der Maßstabsebene steht die Einhegung einfachgesetzlicher Zahlenfestlegungen durch unbestimmte inhaltliche und methodische Vorgaben im Vordergrund. Numerische Aussagen finden sich erst bei der Beurteilung des konkreten Falls. Das Ausweichen des Bundesverfassungsgerichts auf eine mittelbare Quantifizierung bei der Überprüfung des Vorliegens einer Haushalts­ notlage im Saarland und in Bremen (BVerfGE 86, 148) ist paradigmatisch: „Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offenbleiben. Jedenfalls liegt eine Haushaltsnotlage vor, wenn […].“812

In den jüngeren Urteilen zu den Regelsätzen nach dem Zweiten Buch des­ Sozialgesetzbuches (SGB II, 9.  Februar 2010) und dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG, 18.  Juli 2012) sowie zur W-Besoldung von Hochschullehrern (14.  Februar 2012), die teils vom Ersten, teils vom Zweiten Senat gefällt werden, fällt ein übereinstimmendes Prüfungsmuster auf. Das Bundesverfassungsgericht nimmt seine Prüfungsintensität zurück und räumt dem parlamentarischen Gesetzgeber eine Prärogative bei der Quantifizierung der Verfassung ein. Es stellt dort explizit fest, dass sich keine exakten numerischen Vorgaben aus der Verfassung deduzieren lassen. Das Gericht leitet unmittelbar auch keine numerischen Bandbreiten aus der Verfassung ab, sondern hegt die Quantifizierungskompetenz des einfachen Gesetzgebers durch methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung und eine nachgeordnete Kontrolle der einfachgesetzlichen Zahlenfestlegung (mittelbare Quantifizierung) ein. Dieses Prüfungsmuster ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Vorbild. Es wird bereits zuvor, etwa bei der Überprüfung des Finanzausgleichsgesetzes (FAG), angewendet. Seit der Hartz  IV-Entscheidung formuliert es das Gericht akzentuierter und verlegt den Prüfungsschwerpunkt auf das einfachgesetzliche Verfahren der Zahlenfestlegung. Christoph Möllers spricht von einem „neu[en]“ „Maßstab“ in der Verfassungsrechtsprechung.813 Dieser läuft der typischen Entscheidungsrationalität des Gesetzgebers zuwider.814 Im Vordergrund stehen die Prüfungskriterien der Sach-, Folge- und System­gerechtigkeit. 811

Ralf Eschelbach, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2.  Aufl. 2005, § 14 Rn.  9 f. (Zitate Rn.  9). A. A. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 38. 812 BVerfGE 86, 148 (259). Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 5. bb) im 2. Kapitel des dritten Teils. 813 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (384 f., Zitate S. 384). 814 Zur Entscheidungstypik von Gericht und Gesetzgeber siehe die Ausführungen unter A. I. im 5. Kapitel des dritten Teils.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Es ist keine Regel erkennbar, wann das Bundesverfassungsgericht die Verfassung unmittelbar und unter welchen Umständen es sie mittelbar quantifiziert. Es kann jedenfalls nicht darauf abgestellt werden, ob bereits Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den in Streit stehenden Quantifizierungsfragen ergangen sind. Das Gericht quantifiziert das steuerfreie Existenzminimum, die Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte und die verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten unmittelbar, nachdem es hierzu schon einige Male im Wege mittelbarer Quantifizierungen und Verfahrensvorgaben entschieden hat. Die Sperrklausel-Entscheidung vom 5. April 1952 (BVerfGE 1, 208) und die Verweise auf das Ehegattensplitting als verfassungskonforme Besteuerung bauen hingegen nicht auf einer etablierten Verfassungsrechtsprechung zum jeweiligen Sachbereich auf. Ebenso wenig kann danach unterschieden werden, ob die Festlegung von Zahlen auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Vorgaben in besonderer Weise politisch umstritten ist. Das Bundesverfassungsgericht könnte der politischen Debatte Raum geben, indem es dem Gesetzgeber die Prärogative bei der Quantifizierung einräumt und die einfachgesetzlichen Zahlenfestlegungen dann am Maßstab der Verfassung überprüft (mittelbare Quantifizierung). Jedoch kann bereits kaum unterschieden werden, wann eine numerische Regelung in besonderer Weise in Streit steht. Obwohl die Höhe der Grundversorgung nach dem AsylbLG und eine angemessene Professorenbesoldung zum Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen und ein breiter gesellschaftlicher Diskurs nicht absehbar ist, zieht sich das Bundesverfassungsgericht auf mittelbare Quantifizierungen zurück. Die unmittelbaren und mittelbaren Quantifizierungen des Gerichts lassen sich danach ordnen, ob sie positiv oder negativ sind. Sie können außerdem unter dem Gesichtspunkt ihrer Autonomie (autonom | heteronom), Reichweite (umfassend | punktuell) und Präzision (präzise | unbestimmt) charakterisiert werden. Bei aller Detailliertheit815 der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und dem Fokus auf Zahlenfestlegungen bei der Analyse darf insbesondere nicht übersehen werden: Das Gericht erkennt in Anbetracht der unbestimmten Prüfungsmaßstäbe bzw. wegen der Abhängigkeit der verfassungsrechtlichen Konkretisierungen von den tatsächlichen Umständen explizit oder implizit einen „Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers“ an.816 Die qualitativen und quantitativen 815 Das Bundesverfassungsgericht formuliert etwa in den Entscheidungen zum Finanzausgleich – hierauf weist schon die Länge der Entscheidungen hin – detaillierte Vorgaben für den Gesetzgeber, was auch eine der Ursachen für die Streitfreudigkeit im Finanzausgleichsrecht ist. Hans-Wolfgang Arndt konstatiert eine „formale“ und „materielle[…] Fehlentwicklung“ der Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich. Ders., Anmerkung zu BVerfGE 86, 148, JZ 1992, S. 971 (Zitate ebd.). 816 Für Entscheidungen im Finanzverfassungsrecht Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 76 f. (Zitat S. 76). Siehe vor allem die Begründung des Bundesverfassungsgerichts für die zurückhaltende Prüfung des FAG in BVerfGE 101, 158 (238): „Eine abschließende Würdigung einzelner Regelungen oder des Gesamtsystems des Finanzausgleichsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht kommt derzeit nicht in Betracht. Die

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Konkretisierungen der Verfassungsmaßstäbe zeichnen die Grenzen dieses Spielraums nach. Das Bundesverfassungsgericht achtet ihn sowohl bei der unmittelbaren als auch mittelbaren Quantifizierung, indem es die Verfassung (explizit, bei den scheinbar präzisen unmittelbaren Quantifizierungen implizit817) in Bandbreiten quantifiziert.818 Es nennt zwar verfassungsgemäße Zahlen bzw. entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit ihm vorgegebener Zahlen. Dabei handelt es sich aber nicht mehr als um Orientierungspunkte eben dieser Bandbreiten, von denen (innerhalb der Bandbreiten) auch abgewichen werden darf. Es ist nicht nur ein bestimmter Zahlenwert verfassungsgemäß. Das Bundesverfassungsgericht formuliert auch keine präzisen Zahlenkorridore. Die Grenzen der Bandbreiten bleiben unbestimmt. Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung in (unbestimmten) Bandbreiten ist genauso wie die Unbestimmtheit von Zahlen im Verfassungstext auf die Einbindung und Umformung von Zahlen in nichtnumerische, sprachliche Zeichen zurückzuführen.819 Zukünftige Entscheidungen des Gesetzgebers in Zahlen werden, jedenfalls bei der mittelbaren Quantifizierung, weitgehend offen gehalten. Wegen der Abfassung in Bandbreiten bedeutet die Quantifizierung in der Verfassungsrechtsprechung keine höchstmögliche Verengung des den unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffen innewohnenden Wertungsspielraums.820 Auch Quantifizierungen sind noch Präzisierungen zugänglich. Dies verdeutlicht exemplarisch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht vom Juli 2012. Eine erste Quantifizierung der Wahlrechts- und Chancengleichheit, die Verankerung der zulässigen Höchstzahl an Überhangmandaten bei einer halben Fraktionsstärke, wird noch innerhalb der Entscheidung mit der Festlegung von „etwa“821 15 verfassungsgerechte Ausformung finanzausgleichsrechtlicher Maßstäbe ist dem Gesetzgeber­ zugewiesen. Dies gebieten die Offenheit der verfassungsgesetzlichen Verteilungsregeln, deren komplexe gegenseitige Zuordnung innerhalb des gestuften finanzausgleichsrechtlichen Normengefüges sowie die erheblichen Unsicherheiten bei der notwendigen Einschätzung gegenwärtiger und zukünftiger wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen.“ 817 Siehe hierzu sogleich die Ausführungen unter 1. c). 818 Hans-Wolfgang Arndt kritisiert in Bezug auf BVerfGE 86, 148 angesichts der Ambivalenz der Kontrollintensität, die in der Anerkennung eines Gestaltungsspielraums bei gleichzeitiger Formulierung detaillierter Vorgaben für den Gesetzgeber zum Ausdruck komme, „dem Gericht [sei es] nicht gelungen, überzeugend die Grenze[n] [der verfassungsgerichtlichen Kontrolle] zu markieren“. Er plädiert für einen Rückzug des Gerichts auf eine Evidenzkontrolle. Ders., Anmerkung zu BVerfGE 86, 148, JZ 1992, S. 971 (ebd.). Er scheint damit den Weg des Bundesverfassungsgerichts bei der Quantifizierung ab dem Hartz IV-Urteil vorwegzunehmen. Allerdings ist dort die Detailfreudigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei den Verfahrensvorgaben für den Gesetzgeber ungebrochen. 819 Im Unterschied zur bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung existieren (bei Ausblendung ihrer „regulären“ Einbindung in den umgebenden Normtext) im Verfassungstext jedoch präzise Zahlenangaben. Sie sind von den mit Ausnahmeklauseln kombinierten Zahlen und den impliziten unbestimmte Zahlenangaben zu unterscheiden. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 4. und B. I. 2. im 1. Kapitel und unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 820 Die bundesverfassungsgerichtliche weicht insoweit von der Ausgangsdefinition der Quantifizierung (unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils) ab. 821 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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zulässigen Überhangmandaten präzisiert und auch diese (unmittelbare) Quantifizierung verläuft in Bandbreiten und ist daher einer weiteren (einfachgesetzlichen) Präzisierung zugänglich.822 Allein in der Zusammenschau numerischer Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu bestimmten verfassungsrechtlichen Quantifizierungsfragen gewinnen die Bandbreiten konkretere Gestalt,823 konkrete Unter- und/oder Obergrenzen kristallisieren sich jedoch – dies zeigt sich deutlich in den Entscheidungen zum Finanzausgleich824 – nicht heraus. Eine entscheidungsübergreifende Präzisierung der Bandbreiten darf außerdem nicht ausblenden, dass Quantifizierungen wie jede Konkretisierung der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht kontextabhängig sind. Eine Kontextabhängigkeit im engeren Sinne ist bei der mittelbaren Quantifizierung beobachtbar, denn die Verfassung wird über die Subsumtion numerisch bestimmter Prüfungsgegenstände quantifiziert. Auch die unmittelbaren Quantifizierungen erfolgen immer mit Blick auf den in Rede stehenden Sachverhalt und eine Kontextabhängigkeit im weiteren Sinne bedeutet auch die Einbettung dieses Sachverhalts in eine bestimmte tatsächliche und rechtliche historische Situation.825 Dies mag das Bundesverfassungsgericht im Regelfall durch seine duale Entscheidungsstruktur erfolgreich verdecken, die Kontextabhängigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in Geld ist im Falle einer extremen Geldentwertung oder -aufwertung jedoch unhintergehbar. Sie sind immer auf einen bestimmten Geldwert bezogen und können bei Geldwertschwankungen, auch wenn sie das Bundesverfassungsgericht nicht explizit mit Ausnahmeklauseln kombiniert hat,826 angepasst werden. Die Frage einer Anpassung auf der Ebene der Verfassungsrechtsprechung stellt sich freilich nur, sofern das Gericht die Verfassung – anders als etwa im Beschluss zum steuerfreien Existenzminimum 1994 (BVerfGE 91, 93) – nicht über eine einfachgesetzliche Richtgröße quantifiziert, sondern konkrete Geldbeträge für verfassungswidrig oder -gemäß erklärt.827 822

Siehe die Ausführungen unter D. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. Dies lässt sich sowohl in Bezug auf die unmittelbaren als auch mittelbaren Quantifizierungen nachvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht präzisiert mit den numerischen Angaben zum steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum in BVerfGE 99, 246 die unmittelbare Quantifizierung aus BVerfGE 91, 93. Eine präzisere numerische Vorstellung der Angemessenheit des horizontalen Finanzkraftausgleichs ergibt die Zusammenschau der mittelbaren Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 1, 117 (131 f.); 72, 330 (417); 101, 158 (231 f.). 824 Siehe hierzu die Ausführungen zu den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen im Finanzausgleichsrecht unter A. I. 6. b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 825 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 1 Rn. 45, § 2 Rn. 64; Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 58 f. 826 Siehe die Ausnahmeklauseln beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz und der absoluten Obergrenze für die Parteienfinanzierung. Bei der Darstellung der Verfassungsrechtsprechung zur Parteienfinanzierung wird bereits das Problem von Geldwertänderungen reflektiert (unter VII. 1. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils). 827 Die Sensibilität des Bundesverfassungsgerichts für Geldwertänderungen wird im Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Quantifizierung in BVerfGE 85, 264 (323) bei Beurteilung der einfachgesetzlichen Regelungen zur steuerlichen Absetzbarkeit und Offenlegungspflicht von Parteispenden deutlich. Siehe hierzu die Ausführungen unter VII. 1. d) im 2. Kapitel des dritten Teils. 823

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

1. Unmittelbare828 bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung a) Positiv Das Bundesverfassungsgericht legt bei der unmittelbaren Quantifizierung den Verfassungsinhalt positiv fest. Es entscheidet nicht, welche Zahlen nicht verfassungskonform sind. b) Autonom und heteronom Autonome unmittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen sind der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz und das Ehegattensplitting. Das Bundesverfassungsgericht kennzeichnet das Splittingverfahren als verfassungskonform bevor es im Einkommensteuergesetz (EStG) in Verbindung mit der Zusammenveranlagung Besteuerungsoption für die Ehegatten wird. Zu den autonomen Quantifizierungen gehört außerdem die relative Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung. Es handelt sich in allen vorgenannten Fällen autonomer Quantifizierungen um relative Grenzen, die sich jeweils auf tatsächliche (und nicht wie die unmittelbaren, heteronomen Quantifizierungen auf normative) Größen beziehen. Bezugsgrößen sind die Steuerbelastung beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz, das addierte Einkommen der Ehegatten beim Ehegattensplitting und die Eigeneinnahmen der Parteien bei der Parteienfinanzierung. Die Inbezugnahme tatsächlicher Größen führt nicht zur Einordnung der Quantifizierungen als heteronom: Die Zahlengrenzen werden auf die tatsächlichen Größen angewendet, umgekehrt sind die tatsächlichen Größen aber nicht für die Zahlengenerierung relevant. Eine autonome Quantifizierung, aber keine relative Grenze stellt allein die Mindestanzahl zusätzlich zu vergebender Zuschauerplätze im NSU-Verfahren dar. Bei der unmittelbaren Quantifizierung wird die Verfassung nicht über die Subsumtion von Zahlen numerisch konkretisiert, aber es sind in der Regel jenseits der Subsumtion einfachgesetzliche Zahlenbestimmungen für das Bundesverfassungsgericht relevant. Die Quantifizierungen sind dann heteronom und nehmen wegen der Relevanz einfachgesetzlich festgelegter Zahlen strenggenommen eine Zwischenstellung zwischen den unmittelbaren und mittelbaren Quantifizierungen ein. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das steuerfreie Existenzminimum (auch) unmittelbar, indem es auf die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) als Mindestgröße abstellt. Die Be 828 Einführend zu den Ordnungskriterien für die Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts unter C. II. im 1. Kapitel des dritten Teils. Es finden sich dort Definitionen der im Folgenden verwendeten Begriffe, nämlich der unmittelbaren bzw. mittelbaren, positiven bzw. negativen, umfassenden bzw. punktuellen, präzisen bzw. unbestimmten und autonomen bzw. heteronomen Quantifizierung.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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soldungszuschläge für Beamte mit mehr als zwei Kindern müssen pro Kind mindestens so hoch sein wie dessen um 15 % erhöhter „sozialhilferechtliche[r] Gesamtbedarf“.829 Weitere heteronome Quantifizierungen liegen in folgenden Fällen vor: Eine absolute Obergrenze für die unmittelbare Staatsfinanzierung der Parteien ergibt sich nach der Verfassungsrechtsprechung aus der durchschnittlichen, durch das PartG angeordneten Finanzierung der Jahre 1989 bis 1992. Für die Verortung der regelmäßig verfassungsgemäßen Sperrklausel bei 5 % zieht das Gericht die Sperrklausel-Regelungen von Wahlgesetzen auf (inter-)nationaler, Bundes- und Landesebene heran. Einen Sonderfall heteronomer Quantifizierung stellt die Rechtsprechung zur verfassungsgemäßen Anzahl von Überhangmandaten dar. Das Bundesverfassungsgericht stellt auf § 10 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) und damit auf eine „parlamentsinterne“ „Regelung sui generis“ ab.830 Die Übergangsregelungen in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zum steuerfreien Existenzminimum, zu den Geldleistungen nach dem AsylbLG, zur Besoldung kinderreicher Beamter, zur direkten staatlichen Parteienfinanzierung, der Publizitätsgrenze von Parteispenden und zu den Ausnahmen vom Rauchverbot sind ausnahmslos heteronom. Im Gegensatz zu den autonomen handelt es sich bei den heteronomen unmittelbaren Quantifizierungen mit Ausnahme der Sperrklauselrechtsprechung nicht um relative Grenzen, sondern um absolute Zahlenangaben.831 Bei den heteronomen kann zwischen sogenannten zukunfts- und vergangenheitsorientierten Quantifizierungen unterschieden werden. Die Zukunftsorientierung meint eine Flexibilität im Sinne einer Anpassungsoffenheit der Quantifizierung. Sie ist bei der Quantifizierung des steuerfreien Existenzminimums, der Besoldungszuschläge für kinder­reiche Beamte und der maximalen Anzahl an Überhangmandaten beobachtbar. Sie ergibt sich daraus, dass (mit den durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen bzw. der Mindestfraktionsstärke nach der derzeit geltenden gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestags) zur Quantifizierung nicht auf die normativen Größen abgestellt wird, für die das Bundesverfassungsgericht seine numerischen Vorgaben formuliert. Ändern sich die Bezugsgrößen, ändert sich auch die Quantifizierung. In diesem Sinne sind die Quantifizierungen des steuerfreien Existenzminimums und der Besoldungszuschläge für kin­der­ reiche Beamte offen gegenüber etwaigen Leistungsanpassungen im Sozialhilferecht. Wenn das Bundesverfassungsgericht zur unmittelbaren Quantifizierung des steuerfreien Existenzminimums die aktuellen durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen in Bezug nimmt, schreibt es nicht die Höhe des verfassungsrechtlich geforderten steuerfreien Existenzminimums für die Zukunft fest. Die Quantifizierung

829

BVerfGE 99, 300 (321). Str., so Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 94 f. (Zitate Rn. 95) m. w. N. 831 Dies gilt auch für die unmittelbare Quantifizierung in BVerfGE 99, 300. Das Bundes­ verfassungsgericht quantifiziert nicht abschließend, indem es auf 15 % des „sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs“ (ebd., 321 f.) abstellt, sondern gibt eine Anleitung für die Berechnung der Sozialhilfeleistungen als Bezugspunkt der kinderspezifischen Mehrbesoldung. Demnach lässt sich die verfassungsrechtlich geforderte Mehrbesoldung konkret be­rechnen. 830

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

ist Momentaufnahme, die bis zur Änderung der Sozialhilfeleistungen gilt. Eine Vergangenheitsorientierung bedeutet hingegen, dass einfachgesetzliche Zahlengrenzen eines bestimmten für relevant erachteten Zeitraums im Wege der unmittelbaren Quantifizierung als verfassungskonform festgeschrieben werden. Abweichungen sind dann (bei den Sperrklauseln in der Regel) verfassungswidrig, so dass eine verfassungsrechtliche Versteinerung der einfachgesetzlichen Rechtslage eintritt. Dies gilt für die absolute Grenze der Parteienfinanzierung und eingeschränkt auch für die Sperrklauseln im Wahlrecht. Die Einschränkung ergibt sich bei den Sperrklauseln zunächst daraus, dass das Bundesverfassungsgericht auf die einfachgesetzlichen Regeln auf Bundesebene und in den Ländern zur Quantifizierung abstellt, aber eine Entscheidung nur für die Organisation der Landtagswahlen in Schleswig-­Holstein trifft (BVerfGE 1, 208). Die Überlegungen des Gerichts werden aber in der Folge, durch die allgemeine Formulierung der Sperrklauselregelung begünstigt, auf die anderen staatlichen Teilbereiche übertragen. Die dadurch eingetretene Festschreibung der Rechtslage, wie sie sich aus der umfassenden Analyse aus dem Jahr 1952 (BVerfGE 1, 208) ergibt, wird erst in Verfassungsgerichtsentscheidungen jüngerer Zeit aufgebrochen. Sie stellen auf die institutionellen und tatsächlichen Besonderheiten der verschiedenen staatlichen Ebenen ab und verwerfen die 5 %-Regel für Kommunal- und Europawahlen.832 c) In (unbestimmten) Bandbreiten Die unmittelbare Quantifizierung bedeutet keine präzise Quantifizierung der Verfassungsvorgaben. Das Bundesverfassungsgericht verwendet verschiedene Mechanismen, mit denen es unbestimmte Verfassungsvorgaben quantifiziert und die verfassungsgemäßen Zahlen dennoch nicht eindeutig bestimmt. Zum Teil sind die Zahlen, die das Bundesverfassungsgericht festlegt, unscharf,833 zum Teil als Richtwert834 oder Regelbestimmung835 formuliert. In den beiden letzten Fällen wird den Zahlen explizit der Charakter von Toleranzwerten zugeschrieben. Teils

832

Siehe die Ausführungen unter B. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. „Die Vermögensteuer darf deshalb zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrags […] in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt […].“ BVerfGE 93, 121 (138, Kursivsetzung durch Verf.), sog. Halbteilungsgrundsatz. 834 Siehe das Bundesverfassungsgericht zu den durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen als Maßstab für das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum: „Es bestehen keine Bedenken, insoweit – wenigstens im Sinne von Richtwerten – die Ergebnisse der Berechnung, die der Bundesminister für Familie und Senioren im vorliegenden Verfahren vorgelegt hat, in den Vergleich einzustellen.“ BVerfGE 91, 93 (112, Kursivsetzung durch Verf.). 835 „In der Regel können Wahlgesetze nicht verworfen werden, wenn sie das Quorum nicht über 5 % ansetzen.“ BVerfGE 1, 208 (256, Kursivsetzung durch Verf.). Die 5 % sind keine starre Maximalgrenze, sondern Orientierungswert für die Verfassungskonformität einer Sperrklauselregelung. 833

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

303

umschreibt das Gericht den Abweichungsspielraum.836 Im Einzelfall schränkt es ihn numerisch ein. Ein verfassungsgemäßes Handeln des Gesetzgebers wird auch dann nicht exakt umgrenzt und auf einen bzw. einige Zahlenwerte reduziert, d. h. es werden keine dem einfachen Recht vergleichbaren Grenzwerte gesetzt.837 Das Gericht erlaubt ein an bestimmten Grenzmarken orientiertes Abweichen838 bzw. bewirkt die Ungenauigkeit der Quantifizierung jedenfalls durch die Variabilität der Bezugsgröße.839 In einigen Fällen werden Zahlen von unbestimmten Ausnahme-840 oder Anpassungsklauseln841 flankiert. Walther Ecker konstatiert hinsichtlich der Quantifizierungen durch die Fachgerichte, sie seien „oft anfänglich nur als unverbindliche vorläufige Annäherungswerte (‚etwa‘) gedacht, die innerhalb eines Toleranzbereichs liegen und ein Abweichen nach der einen oder anderen Seite gestatten.“842 Hiervon sind die unmittelbaren Quantifizierungen zu unterscheiden, die auf den ersten Blick präzise ausfallen. Sie sollen anhand von Beispielen aus der Verfassungsrechtsprechung gesondert untersucht werden. In der jüngsten, vorliegend analysierten Entscheidung zum steuerfreien Existenzminimum (BVerfGE 99, 246) zieht das Bundesverfassungsgericht die außergerichtlich berechneten durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen nicht mehr nur als Richtwert für die Steuererleichterungen zur Verschonung des Existenzminimums heran, sondern interpretiert sie als „von Verfassungs wegen zu berücksichtigende[s] Existenzminimum“.843 836

Siehe die Abweichungsspielräume von der im Regelfall verfassungskonformen 5 %-Sperrklausel im Wahlrecht: „Es müßten besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, die ein solches Quorum unzulässig machen würden. […] Es müssen ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5 % zu rechtfertigen.“ BVerfGE 1, 208 (256). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt die Voraussetzungen, unter denen ein Abweichen nach oben ausnahmsweise verfassungskonform und eine Einhaltung der 5 % verfassungswidrig ist. Die Starrheit bzw. Flexibilität des Regelwerts kristallisiert sich im Wege des Perspektivwechsels näher heraus. Siehe hierzu bereits unter B. I. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 837 Die verminderte Präzision der unmittelbaren, bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung wird im Vergleich zu den Grenzwerten im einfachen Recht deutlich. Sie ziehen „absolute […]Linie[n]“, an deren Überschreitung rechtliche Konsequenzen geknüpft sind. Georg Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 10 ff. (Zitat S. 11). 838 „Jedenfalls kann […] die Verfassungswidrigkeit […] noch nicht festgestellt werden, wenn diese Richtwerte um weniger als 15 vom Hundert unterschritten werden […].“ BVerfGE 91, 93 (115, Kursivsetzung durch Verf.). 839 BVerfGE 99, 300 (321 f.). 840 Etwa beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz: „Unter besonderen Voraussetzungen, etwa in staatlichen Ausnahmelagen, erlaubt die Verfassung […] einen Zugriff auf die Vermögenssubstanz.“ BVerfGE 93, 121 (138). 841 Die absolute Obergrenze für die unmittelbare Staatsfinanzierung der Parteien kann als Durchschnittswert der vergangenen Finanzierung exakt berechnet werden. Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gilt sie aber nur, solange keine gravierenden tatsächlichen Veränderungen eintreten. BVerfGE 85, 264 (Leitsatz 2 b [Zitat], S. 291). 842 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (405). 843 BVerfGE 99, 246 (265).

304

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Zuvor beziffert es den Abweichungsspielraum von den ­durchschnittlichen Sozial­ hilfeleistungen (BVerfGE 91, 93).844 Ebenso verfährt es bei der Bemessung der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte (BVerfGE 99, 300), nur dass es sich hier nicht zur maximal zulässigen Abweichung, sondern zum Minimalabstand von den Sozialleistungen verhält.845 Das Bundesverfassungsgericht scheint auch präzise zu quantifizieren, wenn es in Übergangsregelungen fixe Beträge für Steuererleichterungen zur Berücksichtigung von Betreuungskosten und Erziehungsaufwand, für die Mehrbesoldung kinderreicher Beamter oder für die direkte staatliche Parteienfinanzierung festsetzt. Präzise scheint außerdem die Kennzeichnung eines „Mindeststimmenanteil[s]“846 von 0,5 % bei der Wahlkampfkostenerstattung sowie des Splittings bei der Ehegattenbesteuerung (= Maßgröße des Einkommensteuertarifs der zusammen veranlagten Ehegatten ist die Hälfte der addierten Einkünfte der Ehegatten) als verfassungskonform. In all diesen Fällen erweist sich jedoch, dass auch die scheinbar präzisen bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen tatsächlich unbestimmt sind. Dies liegt an Abweichungsmöglichkeiten des Gesetzgebers von den numerischen Vorgaben des Gerichts. Sie ergeben sich beim steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum und der Mehrbesoldung daraus, dass die maßgeblichen durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen unterschiedlich berechnet werden können. Die den Berechnungen zu Grunde liegenden Daten sind außerdem nicht statisch. Die einzelnen Leistungen sind gegenüber Anpassungen (nach unten und oben) offen.847 Das Bundesverfassungsgericht stellt auf die jeweils aktuellen, durchschnittlichen Leistungen nach einer bestimmten Berechnungsmethode ab.848 In BVerfGE 91, 93 bestimmt es darüber hinaus nur die verfassungsgemäße, einfachgesetzliche Verschonung vom Steuerzugriff. Die Schwelle zur Verfassungswidrig 844

BVerfGE 91, 93 (115). BVerfGE 99, 300 (321 f.). 846 BVerfGE 24, 300 (342). 847 Hierzu bereits soeben unter II. 1. b) im 3. Kapitel des dritten Teils. 848 Siehe in diesem Zusammenhang die folgenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts: (1) „Jedenfalls kann aber bei Richtwerten, wie sie hier nach der Berechnung des Bundesministers zum Vergleich herangezogen werden, die Verfassungswidrigkeit einer bestehenden Regelung noch nicht festgestellt werden, wenn diese Richtwerte um weniger als 15 vom Hundert unterschritten werden […].“ BVerfGE 91, 93 (115, Kursivsetzung durch Verf.). (2) „Wird die Höhe des existenznotwendigen Mindestbedarfs nach den von der Bundesregierung mitgeteilten Daten […] und der neuerdings zugrunde gelegten Ermittlungsmethode – Wohnkosten nach der Mehrbedarfsmethode auf der Grundlage einer Sondererhebung des Statistischen Bundesamts […] – berechnet […], so beträgt der existenznotwendige Mindestbedarf eines Kindes im Veranlagungszeitraum 1987 4.416 DM pro Kind und Jahr. […] Diesem von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Existenzminimum in Höhe von 4.416 DM […].“ BVerfGE 99, 246 (265, Kursivsetzung durch Verf.). (3) „Ein um 15 v. H. über dem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf liegender Betrag (‚15 v. H.-Betrag‘) läßt den verfassungsgebotenen Unterschied zwischen der der Sozialhilfe obliegenden Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs und dem dem Beamten (und seiner Familie) geschuldeten Unterhalt derzeit hinreichend deutlich werden (vgl. BVerfGE 81, 363 [382 f.]). […] Weisen die dem Beamten für sein drittes und jedes weitere Kind gewährten Zuschläge nicht einmal einen Abstand von 15 v. H. zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf auf, so hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten.“ BVerfGE 99, 300 (321 f., Kursivsetzung durch Verf.). 845

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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keit bleibt offen („Jedenfalls kann […] die Verfassungswidrigkeit […] noch nicht festgestellt werden, wenn […]“.849). Von den Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts kann der Gesetzgeber ebenfalls abweichende Regelungen treffen. Gleiches gilt für das zu erreichende Quorum bei der Wahlkampfkostenerstattung (BVerfGE 24, 300) und das Splittingverfahren, das zwar verfassungskonform, aber nicht die einzige verfassungskonforme Möglichkeit der Ehegattenbesteuerung ist.850 Die Verwerfung des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes (BVerfGE 115, 97) fällt hingegen nicht unter die erörterte Fallgruppe scheinbar präziser unmittelbarer Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts. Sofern man auf die allgemein formulierte methodische Argumentation des Gerichts wider die Quantifizierung von Art. 14 Abs. 1, 2 GG abstellt, wird explizit nur einer hälftigen Teilung bei der Steuerbelastung der Boden entzogen. Die Verfassungsmäßigkeit alternativer numerischer Abgrenzungen bleibt offen. Das Gericht führt zwar weitergehend aus, aus dem Übermaßverbot bei der Besteuerung lasse sich keine numerische Grenze für die Steuerbelastung ableiten,851 dabei handelt es sich im Gegensatz zur Verwerfung der 5 %- bzw. 3 %-Sperrklauseln für die kommunale Ebene und die Wahlen zum Europäischen Parlament jedoch nicht um eine (unmittelbare) 0-Quantifizierung, deren Präzision dann gesondert diskutiert werden müsste.852 Keine numerische Grenze bedeutet nicht 0, sondern die Entscheidung zu Gunsten einer Überprüfung der jeweiligen konkreten Steuerbelastungshöhe und damit einer mittelbaren Quantifizierung erst bei der Subsumtion. Unter dem Gesichtspunkt der Präzision nimmt allein die Quantifizierung in der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts, die im April 2013 gegenüber dem Vorsitzenden Richter im „NSU-Prozess“ ergeht, eine Sonderrolle ein. Die Einräumung eines „Zusatzkontingent[s] von nicht weniger als drei Plätzen“ für Vertreter von Medien aus den Herkunftsstaaten der Opfer wird als „möglich[e]“,853 durch den Vorsitzenden des Strafsenats zu ergreifende Maßnahme genannt. Es wird hierdurch eine Bandbreite zusätzlich zu vergebender Sitze aufgestellt, die nach unten präzise begrenzt ist. Es besteht insoweit keine numerische Ausweichmöglichkeit, d. h. die Vergabe von weniger als drei Plätzen ist in keinem Fall verfassungskonform. Ein Gestaltungsspielraum eröffnet sich nur nach oben – es können mehr als drei zusätzliche Plätze vergeben werden. Er wird außerdem durch eine alternative Handlungsoption gewahrt: „Es bleibt dem Vorsitzenden […] unbenommen anstelle dessen die Sitzvergabe oder die Akkreditierung insgesamt 849

BVerfGE 91, 93 (115). Zum Ehegattensplitting die Ausführungen unter A. VI. 1. im 2. Kapitel des dritten Teils, dort Fn. 574 u. 576. 851 Zu BVerfGE 115, 97 ausführlich die Ausführungen unter A. II. 1. c) im 2. Kapitel des dritten Teils. 852 Zur Verwerfung der Sperrklauseln als 0-Quantifizierung unter B. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils; zur fehlenden Präzision der 0-Quantifizierung sogleich bei der Charakterisierung der mittelbaren Quantifizierungen als unbestimmt (Verlauf in Bandbreiten) unter A. II. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 853 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. 850

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

nach anderen Regeln zu gestalten.“854 Die erhöhte Präzision der numerischen Vorgabe liegt daran, dass es sich um eine Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes handelt.855 Anhand der Vergabe zusätzlicher Presseplätze im „NSU-Prozess“ zeigt sich außerdem: Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert präziser, wenn die Einheiten der betreffenden Quantifizierung nicht weiter aufspaltbar sind. Grundsätzlich ist die Ausdifferenzierungsmöglichkeit der Quantifizierungen von der betroffenen Größenart abhängig. Während Geldsummen, Quoren oder Zeitangaben, d. h. die vorliegend hauptsächlich behandelten Quantifizierungen, beliebig detailliert angegeben werden können bzw. soweit ausdifferenziert werden können, wie es die Orientierung am Plausibilitätsmaßstab856 erlaubt, können im vorliegenden Fall nur ganze, nicht halbe oder Viertel-Plätze im Gerichtssaal an Medienvertreter vergeben werden. Es ergibt sich also das Paradox, dass die höhere Präzision auf mangelnden Präzisierungsmöglichkeiten bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung beruht. Diese Starrheit der Quantifizierung ist auch bei den verfassungsgerichtlich für zulässig erklärten Überhangmandaten beobachtbar. Dort sind immer nur ganze Mandate betroffen und es ist wiederum eine begrenzte Flexibilität der quantifizierten Bandbreite zu beobachten. Sie reicht weniger weit als in anderen untersuchten Fällen verfassungsgerichtlicher Quantifizierung. Im Ergebnis ist festzuhalten: Bis auf den soeben erörterten Ausnahmefall in der einstweiligen Anordnung zur Platzvergabe des Oberlandesgerichts München im „NSU-Prozess“ verfügen die Zahlengrenzen, die das Bundesverfassungsgericht festlegt, über Flexibilität. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt bei der unmittelbaren Quantifizierung Bandbreiten857 verfassungsgemäßer Zahlenbestimmungen. Es räumt „Toleranzen“858 ein. Die Grenzen der Bandbreiten sind nicht eindeutig bestimmt, sondern nach den Ausführungen des Gerichts allenfalls näherungsweise bestimmbar. Das Bundesverfassungsgericht legt auch insoweit keine präzisen Grenzwerte fest. Die Bandbreiten umschließen Penumbren, innerhalb derer nicht einsehbar ist, welche Werte noch verfassungskonform bzw. 854

BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. Siehe hierzu die Ausführungen unter C. III. 3. im 6. Kapitel des dritten Teils. 856 Siehe hierzu die Ausführungen unter C. II. 3., insb. dort unter b) bb) im 4. Kapitel des dritten Teils. 857 Der Begriff der Bandbreite taucht im Zusammenhang einer unmittelbaren Quantifizierung auf Landesverfassungsebene auf. 1999 überprüft der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Abschaffung des Bayerischen Senats durch einen Volksentscheid. Bei Verfassungsänderungen im Wege der Volksgesetzgebung sei ein Quorum erforderlich, dessen „punktgenaue“ Bestimmung dem Gesetzgeber obliege. Dessen Gestaltungsspielraum verenge sich jedoch angesichts des erforderlichen schonenden Ausgleichs verschiedener Vorgaben der Bayerischen Verfassung […] auf eine „relativ enge Bandbreite“. Möglich sei etwa ein Zustimmungsquorum von „25 % der stimmberechtigten Bürger“. BayVerfGH NVwZ-RR 2000, S. 65 (69, Zitate ebd., Kursivsetzung durch Verf.); siehe auch Fn. 928 im dritten Teil. 858 Karl-Jürgen Bieback u. Günther Stahlmann weisen darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht (BVerw­GE 35, 178 [180]) bei der Überprüfung von Sozialhilfeleistungen „‚aus tatsächlichen Gründen‘ mangels ausreichenden statistischen Materials“ „Toleranzen“ annimmt. Dies., Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (3). 855

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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schon verfassungswidrig sind.859 Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert nur näherungsweise. Beim Vergleich der verschiedenen Bandbreiten unmittelbarer Quantifizierungen der Verfassung stellt sich heraus, dass diese mehr oder weniger scharf beschrieben und umgrenzt werden. Die scheinbar präzisen Quantifizierungen erweisen sich als besonders unbestimmt. Dies liegt an Folgendem: Die scheinbare Präzision bedeutet einen Verzicht auf die Artikulation der tatsächlich fehlenden Präzision. Der Verlauf der bestehenden Bandbreite liegt dann im Dunkeln. Es bleibt völlig offen, inwieweit von den numerischen Vorgaben abgewichen werden kann. Wenn Abweichungsmöglichkeiten nicht explizit thematisiert werden, spricht dies aber eher dafür, dass der Spielraum hierfür gering ist. Allein im Urteil zu den Voraussetzungen der Wahlkampfkostenerstattung der Parteien (BVerfGE 24, 300) ist aufgrund der atypischen Kombination der unmittelbaren mit einer mittelbaren Quantifizierung gewiss, dass das Quorum jedenfalls nicht von den als verfassungskonform gekennzeichneten 0,5 % auf 2,5 % erhöht werden darf. Die abgestufte Bestimmtheit bei der unmittelbaren Quantifizierung der Verfassung erklärt jedenfalls, warum in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsgemäßen Höchstzahl an Überhangmandaten zwei unmittelbare Quantifizierungen aufeinander folgen und innerhalb der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen eine Präzisierung möglich ist. Die numerische Obergrenze „die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten“ wird dort nochmals numerisch präzisiert („15 Überhangmandate[…]“).860 Es ist genauso denkbar, dass eine mittelbare auf eine unmittelbare Quantifizierung folgt, wenn sie die unbestimmten Verfassungsvorgaben weitergehend präzisiert. Durch die Quantifizierung in Bandbreiten hält das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzgeber einen Spielraum zur politischen Gestaltung offen. d) Punktuell Die Zahlen der unmittelbaren Quantifizierungen bilden die verfassungsrechtlichen Vorgaben wegen der numerischen Abweichungsmöglichkeiten immer nur punktuell ab. Es gilt nichts anderes für die scheinbar präzisen Quantifizierungen, auch wenn die Abweichungsmöglichkeiten dort nicht expliziert sind. Die Quantifizierung in Bandbreiten und die punktuelle Quantifizierung schließen einander also nicht aus. Der punktuelle Charakter wird insbesondere bei den unmittelbaren Quantifizierungen in Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Sie gelten zwar nur so lange der parlamentarische Gesetzgeber nicht die von ihm geforderte gesetzliche Lösung verabschiedet, entfalten aber auch für die ge 859 Die Bandbreiten der unmittelbaren Quantifizierung ähneln den Richtwerten im einfachen Recht. Georg Buchholz unterscheidet im Umweltrecht zwischen Grenz- bzw. Schwellen-, Richt- und Zielwerten. Im Gegensatz zu den Grenzwerten würden Richtwerte in einem „Übergangsbereich“ „Abweichungen“ „erlauben“. Ders., Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 10 ff. (Zitat S. 12). 860 BVerfGE 131, 316 (357, 370).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

setzliche Neuregelung rechtliche Wirkung. Sie sind für den Gesetzgeber insoweit verbindlich, als das Gericht mögliche verfassungsgemäße Regelungen formuliert. Der einfachgesetzliche Gestaltungsspielraum wird dadurch punktuell beziffert. Der Gesetzgeber kann abweichende Regelungen treffen.861 2. Mittelbare bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert Verfassungsvorgaben mittelbar, indem es einfachgesetzliche Zahlenbestimmungen bzw. die numerisch bestimmbaren Folgewirkungen einfachgesetzlicher Regelungen subsumiert und für (nicht) verfassungskonform erklärt. Eine mittelbare Quantifizierung liegt auch dann vor, wenn das Bundesverfassungsgericht anhand der tatsächlichen, in Zahlen bestimmbaren Anknüpfungspunkte einer einfachgesetzlichen Regelung über deren Verfassungsmäßigkeit entscheidet. Zahlen sind dann wie bei der Entscheidung über eine Haushaltsnotlage (als Voraussetzung der Leistungsschwäche im Sinne des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG)862 unter Umständen Teil  einer wertenden Gesamtbetrachtung und ein Aspekt unter mehreren zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmals. Soweit die Zahlen nicht ausdrücklich einfachgesetzlich verankert sind, „streifen“ sie bei der Subsumtion ihren tatsächlichen Charakter „ab“, denn bei der Subsumtion werden normative Aussagen über den Verfassungsinhalt getroffen. Die mittelbaren bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen sind von den Fällen zu unterscheiden, in denen sich das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfahrensprüfung zurückzieht und die Zahlengenerierung durch den Gesetzgeber überprüft.863 Mittelbare Quantifizierungen durch die Subsumtion von Zahlen in Exekutivakten und Urteilen der Fachgerichte spielen in den untersuchten Entscheidungen keine Rolle. 861 In BVerfGE 99, 216 (245) erscheint ein Abweichen des Gesetzgebers schon deshalb nicht per se verfassungswidrig, da sich das Bundesverfassungsgericht bei der Bezifferung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs, der nach Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG auch bei nicht alleinerziehenden Steuerpflichtigen mit Kindern übergangsweise zu berücksichtigen sei (Erhöhung des Kinderfreibetrags um 4.000 DM bzw. 2.000 DM für jedes weitere Kind; Steuerfreiheit des Elterneinkommens in Höhe von 5.616 DM), nicht auf empirische Erhebungen zum tatsächlichen Betreuungs- und Erziehungsaufwand stützt. Vgl. dazu Peter Glanegger, der allerdings keine normative Wirkung im Sinne einer punktuellen Quantifizierung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums annimmt: „Inwieweit das Sanktionsprogramm des BVerfG für eine künftige Regelung durch den Gesetzgeber verbindlich ist, muß als zweifelhaft gelten. Sicherlich hat das Gericht mit derartigen, ohne weitere Erhebungen gefundenen Beträgen für den Betreuungs- und für den Erziehungsbedarf das Gewaltenteilungsprinzip beeinträchtigt. Dem Gesetzgeber bleibt es m. E. unbenommen, Erhebungen darüber durchzuführen, in welchem Umfang und bis zu welcher Altersgrenze Eltern üblicherweise Betreuungsaufwendungen für Kinder erbringen und Erziehungsbeiträge in der geschilderten Form leisten.“ Ders., Der Kinderbetreuungs- und Kindererziehungsbedarf nach dem Beschluß des BVerfG vom 10.11.1998, 2 BvR 1057–91, 1226–91, 980–91, DStR 1999, S. 227 (228). 862 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 5. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils. 863 Siehe die Ausführungen unter B. II. im 3. Kapitel des dritten Teils.

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a) Positiv und negativ Bei den mittelbaren Quantifizierungen lassen sich Zahlen nicht in allen Fällen subsumieren. Der Verfassungsinhalt wird über Zahlen positiv und negativ bestimmt. b) Zwangsläufig heteronom Die mittelbaren Quantifizierungen sind zwangsläufig heteronom. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in allen Fällen Zahlen außerhalb der Verfassungsrechtsprechung in Bezug. Dies ist in den analysierten Entscheidungen offenkundig, wenn das Bundesverfassungsgericht einfachgesetzlich verankerte Zahlen subsumiert und hierdurch unbestimmte Verfassungsvorgaben quantifiziert.864 Es handelt sich aber auch dann um mittelbare, heteronome Quantifizierungen, wenn die zur Quantifizierung verwendeten Zahlen nicht einfachgesetzlich verankert und Prüfungsgegenstand sind, sondern das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit einer Regelung mit deren tatsächlichen, numerischen Anknüpfungspunkten bzw. Folgewirkungen begründet. Das Gericht stützt sich dann zwar auf die eigene (numerische) Darstellung der tatsächlichen Zusammenhänge der einfachgesetzlichen Regelung. Entscheidend ist aber, dass es sich um die Abbildung vorgefundener Zusammenhänge handelt. c) In (unbestimmten) Bandbreiten Bei der mittelbaren Quantifizierung der Verfassung durch die Subsumtion von Zahlen in einfachen Gesetzen sind grundsätzlich verschiedene Aussagen des Bundesverfassungsgerichts möglich. Es kann nicht nur die Vereinbarkeit einer Zahl mit der Verfassung feststellen, sondern umgekehrt auch zu dem Ergebnis kommen, eine Zahl sei mit der Verfassung unvereinbar. Das Gericht kann die Feststellung der (fehlenden) Verfassungsmäßigkeit außerdem mit der Einräumung eines Spielraums für den Gesetzgeber kombinieren, indem es dessen Gestaltungsfreiheit anerkennt und die überprüfte Zahl innerhalb oder außerhalb von ihr verankert.865 Den Gestaltungsspielraum kann es mit unterschiedlicher Präzision umreißen. Die völlige Offenhaltung und die Nachzeichnung des Grenzverlaufs mit Zahlen markie 864 Dies ist in den Entscheidungen zum Finanzausgleich der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht die unbestimmten Vorgaben des Art. 107 Abs. 2 GG quantifiziert, indem es die Verfassungsmäßigkeit der Faktoren im Rechenverfahren des horizontalen Finanzausgleichs und der Höhe von Bundesergänzungszuweisungen, die im FAG in Gestalt konkreter Geldbeträge festgelegt sind, prüft. 865 Die unterschiedlichen Formen mittelbarer Quantifizierung sind integraler Bestandteil der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Sie dürfen nicht mit den möglichen Entscheidungsaussprüchen bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von (numerisch bestimmten) einfachen Gesetzen gleichgesetzt werden. Hierzu Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 378 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

ren die Extreme: eine fehlende und numerische, d. h. absolute Präzision. Bei der unmittelbaren Quantifizierung legt das Bundesverfassungsgericht (auch) gegenüber dem Gesetzgeber unbestimmte Bandbreiten verfassungsgemäßer Zahlen fest. Bei der mittelbaren Quantifizierung ist ein vergleichbares Vorgehen beobachtbar. In den untersuchten Entscheidungen stellt das Bundesverfassungsgericht zum Teil lapidar, ohne argumentative Anbindung866 die (Un-)Vereinbarkeit bestimmter Zahlen mit den (konkretisierten) verfassungsrechtlichen Vorgaben fest.867 Zum Teil entscheidet es, ob die Zahlen gemessen an den verfassungsrechtlichen Vorgaben „in den Grenzen des Vertretbaren“868 liegen bzw. „vertretbar“869 sind. Sie dürfen nicht „unzumutbar[…] und […] unverhältnismäßig[…]“870 oder „unangemessen“871 sein. Das Gericht prüft, ob sie „evident unzureichend“872 sind. Hieraus kann nicht ohne weiteres auf eine verminderte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bzw. einen einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraum geschlossen werden, inner 866 Zu den Begründungsdefiziten der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen ausführlich unter A. III. 2. b) bb) im 3. Kapitel des dritten Teils. 867 Dies ist etwa in BVerfGE 72, 330 (409) der Fall: „Die Einnahmen der Länder aus der Grunderwerbsteuer, der Feuerschutzsteuer und der Spielbankabgabe sind ihrer Höhe nach ausgleichsrelevant; das Volumen der Grunderwerbsteuer betrug in allen am Finanzausgleich beteiligten Ländern seit 1982 jährlich mehrere Milliarden DM, das der Feuerschutzsteuer und der Spielbankabgabe jährlich einige hundert Millionen DM.“ Siehe auch BVerfGE 1, 117 (13: keine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit der Geberländer im horizontalen Finanzausgleich); BVerfGE 101, 158 (233: Volumen der Bundesergänzungszuweisungen im Vergleich zum horizontalen Finanzausgleich gerechtfertigt). Ein Beispiel für die Feststellung der fehlenden Erfüllung der verfassungsrechtlichen Vorgaben findet sich in BVerfGE 86, 148 (263): „Dies zeigt eindeutig, daß es sich beim Saarland und bei Bremen um Sanierung, nicht mehr um Hilfe zur Selbsthilfe handelt.“ 868 BVerfGE 86, 148 (232). Das Bundesverfassungsgericht äußert sich dort zur eingeschränkten Berücksichtigung des kommunalen Realsteueraufkommens im horizontalen Finanzausgleich durch das FAG (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz GG). Siehe dazu die Ausführungen unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 869 Eine Angleichung der „Finanzkraft der finanzschwachen Länder auf 95 v. H. der durchschnittlichen Länderfinanzkraft“ im horizontalen Finanzausgleich stellt nach BVerfGE 101, 158 (231 f.) „eine vertretbare Balance zwischen Landesautonomie und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft“ dar (Kursivsetzung durch Verf.). Siehe die Darstellung der Verfassungsrechtsprechung zum „angemessenen“ Finanzausgleich (Art.  107 Abs.  2 Satz 1 GG) unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 870 So das Bundesverfassungsgericht zur Belastung des Beschwerdeführers in BVerfGE 115, 97 (117) durch Einkommen- und Gewerbesteuer. 871 Das Bundesverfassungsgericht verwendet das Kriterium „unangemessen“ in der Entscheidung zur W-Besoldung im Rahmen der Evidenzprüfung der Leistungshöhe (hierzu sogleich). BVerfGE 130, 263 (303, 304). 872 BVerfGE 125, 175 (229); 130, 263 (295, 303); 132, 134 (166 Rn. 81). In der ersten Entscheidung zur Besoldung kinderreicher Beamter (BVerfGE 44, 249 [267]) wird das Evidenzkriterium verschärft („eindeutig evidentermaßen“). Das Evidenzkriterium wird in den Entscheidungen außerdem nicht terminologisch einheitlich benannt. In der Entscheidung zum Familienlastenausgleich (BVerfGE 82, 60 [82]) geht das Gericht vom „offensichtlich[en]“ Ungenügen von Kindergeld und -freibetrag zur Deckung des Kinderexistenzminimums aus. Die maximale Steuervergünstigung für Parteispenden ist nach BVerfGE 85, 264 (313) „­ offenkundig“

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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halb dessen auch alternative Zahlen verfassungsgemäß wären. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit aktuell, nicht hypothetisch in Streit stehender Zahlen. Es ist nicht unmittelbar einsehbar, was es unter der Vertretbarkeit und dem evidenten Ungenügen bzw. der Angemessenheit von Zahlen versteht. Das Bundesverfassungsgericht verankert die Prüfungsmaßstäbe nicht verfassungsnormativ. Es führt insbesondere keine klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung durch.873 Ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ergibt sich auch nicht daraus, dass in der Konkretisierungsintensität der verfassungsrechtlichen Vorgaben seitens Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber,874 also zwischen Prüfungsmaßstab und -gegenstand, eine Diskrepanz verbleibt und Zahlen an nicht numerisch bestimmten Prüfungsmaßstäben gemessen werden. Eine Vertretbarkeits- und Evidenzkontrolle wird jedoch in der Regel bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums durchgeführt. Das Bundesverfassungsgericht zu hoch. In einigen Entscheidungen erfolgt bei der „Maßstabbildung“ (Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil) kein ausdrücklicher Rückzug auf eine Evidenzprüfung, das Evidenzkriterium kommt erst bei der Subsumtion zur Sprache, so ebenfalls im Urteil zur Parteienfinanzierung, siehe BVerfGE 85, 264 (313). 873 Dies gilt auch für BVerfGE 115, 97 (117), wonach die Überprüfung der Steuerbelastung nach der Verwerfung des Halbteilungsgrundsatzes nicht „unzumutbar[…] und […] unverhältnismäßig[…]“ sein darf. Siehe die Ausführungen unter A. II. 1. c)  im 2.  Kapitel des dritten Teils. Im Staatsorganisationsrecht und damit bei der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung des Finanzausgleichs nach dem FAG ist umstritten, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überhaupt anwendbar ist. Hierzu Albert Bleckmann, Begründung und Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, JuS 1994, S. 177 (181 ff.); Andreas Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003, zum Finanzausgleich S. 172 ff. Stefan Korioth stellt klar, dass entsprechende sprachliche Anklänge der Verfassungsnormen nicht zwangs­ läufig auf eine vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung des FAG verweisen. Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 616 f. Das Bundesverfassungsgericht thematisiert die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutete jedenfalls einen Spielraum verfassungsgemäßer Zahlen. Siehe in diesem Zusammenhang Heusch zum horizontalen Finanzausgleich: „Aus diesen Erwägungen ergeben sich keine konkreten Zahlen für den vorzunehmenden Ausgleich. […] Im Übrigen ist auch die fehlende Ableitbarkeit konkreter Zahlen kein Spezifikum der verfassungsrechtlichen Regelung des horizontalen Finanzausgleichs. Ähnliche Probleme bestehen im Staat-BürgerVerhältnis etwa bei der Bemessung der noch zulässigen Steuerlast.“ Es bestehe ein „Spielraum für den Gesetzgeber, dessen Grenzen durch verfassungsrechtliche Deduktionen nicht weiter konkretisiert werden können.“ Ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003, S. 183. 874 Eine parallele Konkretisierung der Verfassungsvorgaben erfolgt im Finanzausgleichsrecht, wenn sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der einfache Gesetzgeber die unbestimmten Tatbestandsmerkmale des Art.  107 Abs.  2 GG zum Ausgangspunkt ihrer Konkretisierungsbemühungen nehmen. Für das Bundesverfassungsgericht sind sie Maßstab der Überprüfung der einfachgesetzlichen Bestimmungen des Finanzausgleichsgesetzgebers; das FAG seinerseits setzt „die Verpflichtung des Art. 107 II S. 1 GG zum angemessenen Ausgleich der Länderfinanzkraft […] um“. Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 545. Wenn Gesetzgebung als Verfassungskonkretisierung beschrieben wird, wird sie nicht auf den bloßen Verfassungsvollzug beschränkt. Siehe hierzu die Ausführungen zur parlamentarischen Entscheidungsrationalität unter A. I. im 5. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

überträgt bei der mittelbaren Quantifizierung den Dreischritt zunehmender Kontrollintensität von „Evidenzkontrolle“ („evident unzureichend“), „Vertretbarkeitskontrolle“ („in den Grenzen des Vertretbaren“, „vertretbar“) und „intensivierte[r] inhaltliche[r] Kontrolle“ („unzumutbar[…] und […] unverhältnismäßig[…]“), den es an Prognosen und Tatsachenannahmen des Gesetzgebers anlegt,875 auf Zahlenfestlegungen als normative Entscheidungen des Gesetzgebers.876 Die Weite des Gestaltungsspielraums wird bei der mittelbaren Quantifizierung (neben den weiteren Konkretisierungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf der Maßstabsebene)  im Kern über die vorgenannten qualitativen und quantitativen Prüfungskriterien gesteuert. Deren etwaige negative Formulierung bedeutet die Rücknahme der Kontrollintensität durch das Bundesverfassungsgericht zu Gunsten des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums. Die Entscheidungen verweisen außerdem explizit auf einen Spielraum des Gesetzgebers bei der Quantifizierung der Verfassungsvorgaben. Dies ist etwa im zweiten Urteil zum Finanzausgleich (BVerfGE 72, 330) der Fall. Das Bundesverfassungsgericht erkennt dort bei der Frage, ab welchem Volumen Ländereinnahmen in den horizontalen Finanzausgleich einzubeziehen sind, und somit im Hinblick auf numerische Vorannahmen des FAG ausdrücklich die Konkretisierungs- als Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers bei unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffen an: „Finanzkraft der Länder ist ein unbestimmter Begriff, der vom Grundgesetz in Art.  107 Abs. 2 Satz 1 nicht definiert wird. Er ist vom Gesetzgeber im Finanzausgleichsgesetz anzuwenden und zu handhaben. Dabei ist der Gesetzgeber befugt, ihn begrenzt näher zu bestimmen. Die Wahrnehmung dieser Befugnis muß – im Hinblick auf den Sinn und Gehalt dieses Begriffs – vertretbar sein. […] Aus der Verfassung läßt sich nicht detailliert ableiten, welche Einnahmen der Länder im einzelnen in die Berechnung ihrer Finanzkraft gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG einfließen müssen. Dies zu bestimmen ist Sache der – wenn auch begrenzten – Gestaltungs- und Abgrenzungsbefugnis des Gesetzgebers.“877 875

Die genannten Maßstäbe ergeben sich aus BVerfGE 50, 290 (333). Die klare Abstufung der Prüfungskriterien wird in BVerfGE 88, 203 (262 f.) aufgegeben. Klaus Schlaich/Stefan­ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 532 ff. (Zitate Rn. 532). Zum Teil begegnet das Bundesverfassungsgericht auch außerhalb der Überprüfung von Zahlen normativen Entscheidungen mit einer gestuften Kontrollintensität, siehe die unterschiedlich strenge Prüfung einer Ungleichbehandlung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nach BVerfGE 88, 87 (96 f.); 90, 46 (56); 91, 389 (401). Hierzu Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 759. 876 Zur Unterscheidung von Prognoseentscheidungen und normativen Entscheidungen des Gesetzgebers: Gesetze sind immer Prognoseentscheidungen, denn sie beruhen auf Annahmen über eine unsichere Wirklichkeit. Das Bundesverfassungsgericht trennt Annahmen über die tatsächlichen Anknüpfungspunkte und Folgen von Gesetzen von der eigentlichen gesetzgeberischen als normativer Entscheidung, die die einschlägigen Verfassungsnormen zu beachten hat (Bsp.: In welcher Höhe ist der Finanzausgleich angemessen i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG? Wie hoch müssen die Hartz IV-Regelsätze sein, damit sie das sozialverfassungsrechtliche Existenzminimum i. S. d. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG sicherstellen?). 877 BVerfGE 72, 330 (399 f.).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Zum Teil nimmt das Gericht seine Prüfungsintensität mit dem Hinweis zurück, eine unmittelbare und präzise Quantifizierung sei nicht möglich.878 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Prognosen und Tatsachenannahmen könnten Hinweise bergen, was unter den vorstehenden, verfassungsgerichtlichen Kriterien zu verstehen ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht für eine vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers die „sachgerechte[…] und vertretbare[…] Beurteilung des erreichbaren Materials“, die Ausnutzung „zugängliche[r] Erkenntnisquellen“879 und die Heranziehung „gute[r] Gründe[…]“880 fordert, begnügt es sich mit der Einhaltung zusätzlicher verfahrensrechtlicher Anforderungen.881 Auch in den analysierten Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht mittelbar quantifiziert, statuiert es zum Teil methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung durch den Gesetzgeber. Indes ist die Prüfung der Vertretbarkeit bzw. des evidenten Ungenügens der Zahlen mit den zusätzlichen

878 „Die Höhe dieser Lasten läßt sich freilich nicht genau quantifizieren. Dem Gesetzgeber verbleibt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum.“ BVerfGE 86, 148 (232). „Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offenbleiben. Jedenfalls liegt eine Haushaltsnotlage vor, wenn […].“ BVerfGE 86, 148 (259). „Was im Einzelnen unter einer – relativen – Haushaltsnotlage zu verstehen ist, lässt sich verfassungsrechtlich nicht generell abstrakt bestimmen, insbesondere nicht präzise quantifizieren. […] Ein für allemal feststehende Zieloder Schwellenwerte gibt es insoweit nicht. […] Einfache quantitative Relationen  – etwa zu den mit Hilfe von Kennzahlen festzustellenden Differenzen zwischen der Haushaltslage verschiedener Länder – kann es für die Bestimmung der Schwelle zu einem potentiell Sanierungspflichten und -ansprüche auslösenden ‚bundesstaatlichen Notstand‘ […] nicht geben […].“ BVerfGE 116, 327 (388 f.). Die Alimentierung (kinderreicher) Beamter „läßt sich nicht auf Heller und Pfennig ausrechnen; deshalb muß dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum für die Regelung zugestanden werden.“ BVerfGE 44, 249 (267). „Der Umfang dieses Anspruchs kann […] nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.“, „das Grundgesetz selbst [erlaubt] keine exakte Bezifferung des Anspruchs“ BVerfGE 125, 175 (224, 225 f.). Die Besoldungshöhe lässt sich „der Verfassung nicht unmittelbar, als fester und exakt bezifferter beziehungsweise bezifferbarer Betrag […] entnehmen.“ BVerfGE 130, 263 (294). 879 Der „[Vertretbarkeits-]Maßstab verlangt, daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also eher um Anforderungen des Verfahrens. Wird diesen Genüge getan, so erfüllen sie jedoch die Voraussetzung inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung zu beachten hat.“ BVerfGE 50, 290 (334). Hierzu Klaus­ Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 743. 880 „Die verfassungsgerichtliche Prüfung erstreckt sich auf die Vertretbarkeit der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung; die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nach Art. 16a Abs. 3 GG kann nur festgestellt werden, wenn der Gesetzgeber sich bei seiner Entscheidung nicht von guten Gründen hat leiten lassen.“ BVerfGE 94, 115 (Leitsatz 4 d, S. 144). Hierzu Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 761. 881 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 533.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Verfahrensanforderungen nicht deckungsgleich.882 Dies wird besonders deutlich in den Urteilen zu den Hartz IV-Regelsätzen, zum AsylbLG und zur W-Besoldung, in denen die Prüfung des evidenten Ungenügens der Leistungen getrennt von der Einhaltung eines verfassungsgerechten Verfahrens zur Leistungsbestimmung erfolgt. Die nicht evident unzureichende ist nicht die verfahrensgerecht ermittelte Leistungshöhe und das gewählte Berechnungsverfahren muss selbst vertretbar sein.883 Wenn Zahlen vertretbar sein müssen bzw. nicht evident unzureichend sein dürfen, bedeutet dies eine inhaltliche Prüfung.884 Die Anforderungen an Tatsachen und Prognoseentscheidungen sind nur beschränkt auf die normative Festlegung von Zahlen auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Vorgaben übertragbar: Zahlen, die der Gesetzgeber festlegt, müssen gemessen am verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab jedenfalls gut begründbar, d. h. plausibel sein.885 Dies verlangen die Kriterien nicht „unzumutbar[…] und […] unverhältnismäßig[…]“, „vertretbar“ und nicht „evident unzureichend“ in unterschiedlicher Intensität. Es handelt sich um eine „gleitende[…] Skala der Kontrolldichten“, wonach „das BVerfG in besonders gewichtigen Fällen besonders intensiv prüft.“886 Es ergibt sich hieraus ein Folgeproblem: Wenn die verfassungsgerichtliche Prüfungsintensität einfachgesetzlicher Entscheidungen „materiell-rechtlich“, nämlich durch die betroffenen Verfassungsnormen „gesteuert“ wird,887 ist der Rückzug auf eine Evidenzprüfung der Höhe der Hartz IV-Regelleistungen und der monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG erklärungsbedürftig. Denn die Sicherung des Existenzminimums

882 Das Bundesverfassungsgericht fordert beispielsweise, dass die Faktoren im Rechenverfahren des Finanzausgleichs mit Hilfe von Indikatoren ermittelt werden. Es formuliert außerdem Verfahrenspflichten für den Finanzausgleich insgesamt. Siehe die Ausführungen zur Verfahrenskontrolle des FAG unter A. I. 5. b) im 2. Kapitel des dritten Teils. Teils fehlen Verfahrensvorschriften für die Zahlengenerierung, etwa für die Kürzungshöhe der Steuereinnahmen der Gemeinden, die nach Art. 107 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG bei der Bemessung der Länderfinanzkraft zu berücksichtigen sind. Die Vertretbarkeitsprüfung bedeutet in den übrigen Fällen keine rein rechnerische Rückführbarkeit auf Indikatoren. Das Bundesverfassungsgericht erkennt Wertungen des Gesetzgebers an. Und allein die Einhaltung der Verfahrenspflichten aus dem Maßstäbeurteil macht die Intensität der Finanzkraftangleichung noch nicht vertretbar. 883 Siehe die Prüfung des „Statistikmodells“ zur Berechnung der Hartz  IV-Regelsätze in BVerfGE 125, 175 (234 ff.). 884 Vgl. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 533. 885 Eingehend zum Plausibilitätsmaßstab für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung in den Ausführungen zur Quantifizierungsmethodik unter C. II. 3. a) im 4. Kapitel des dritten Teils. Weitergehende Anforderungen formuliert Stefan Korioth für eine vertretbare Angleichung der Finanzkraft im horizontalen Finanzausgleich: „Die lapidare Benennung des Ausgleichsgegenstandes, aber auch die Verpflichtung, nicht einen exakten, sondern lediglich einen angemessenen Ausgleich zwischen den Ländern sicherzustellen, eröffnet einen Gestaltungsspielraum, bei dem es darauf ankommt, innerhalb des von der Verfassung gezogenen Rahmens konsensfähige, praktikable und ökonomisch rationale Lösungen zu finden.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 551 f. 886 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 536. 887 Für Tatsachen und Prognoseentscheidungen Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 537 (Zitate ebd.).

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verlangen Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG und die Menschenwürde, deren Schutz nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich und direkt zu Beginn der Verfassung formuliert ist, stellt aus der Sicht des Verfassungsgerichts „in der freiheitlichen Demokratie“ „de[n] oberste[n] Wert“ dar.888 Die erhöhten Anforderungen an das einfach­ gesetzliche Verfahren zur Ermittlung der existenzsichernden Leistungen könnten die ­zurückhaltende Überprüfung der Leistungshöhe, also des Verfahrensergebnisses, jedoch kompensieren.889 Der Rückzug des Bundesverfassungsgerichts auf die Prüfung der Vertretbarkeit, des evidenten Ungenügens etc. von Zahlen bedeutet die kontrollierte Eröffnung eines Gestaltungsspielraums für den quantifizierenden Gesetzgeber. Wie die unmittelbare hält die mittelbare Quantifizierung einen Spielraum zur politischen Entscheidung offen. Zahlen werden bei der Subsumtion innerhalb oder außerhalb des einfachgesetzlichen, numerischen Spielraums verankert. Die Prüfungskriterien öffnen sich einer Reihe verfassungskonformer Zahlen. Der Quantifizierungsspielraum des Gesetzgebers bedeutet eine Bandbreite verfassungsgemäßer Zahlenfestlegungen. Bei der Überprüfung der Hartz IV-Regelleistungen greift das Bundesverfassungsgericht das Bild der Bandbreite auf: „Innerhalb der materiellen Bandbreiten, welche diese Evidenzkontrolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern.“890

Die verfassungsgerichtlich überprüfte einfachgesetzliche Zahl ist nur ein Ausschnitt verfassungsgemäßer bzw. -widriger Zahlenbestimmungen. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Wege mittelbarer Quantifizierungen einfachgesetzlich festgelegte Zahlen als verfassungskonform bzw. -widrig kennzeichnet, schränkt es dadurch den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bzw. die Bandbreite verfassungsgemäßer Zahlen im Gegensatz zur unmittelbaren Quantifizierung von zwei Seiten, positiv und negativ, numerisch ein. Zum Teil  wird der Gestaltungsspielraum durch Übergangsregelungen zusätzlich eingeschränkt. Eingehend reflektiert das Bundesverfassungsgericht den eigenen Prüfungsmodus, das Ausweichen auf eine mittelbare Quantifizierung und die Einräumung eines einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums, in seinem Berlin-Urteil (BVerfGE 116, 327). Bei der Beurteilung einer (extremen) Haushaltsnotlage als Voraussetzung einer Leistungsschwäche im Sinne des Art.  107 Abs.  2 Satz 3 GG besteht die Besonderheit, dass die budgetäre Situation in den Ländern anhand von Indikatoren als „Gesamtbild“891 in den Blick genommen werden muss:892 888 BVerfGE 5, 85 (204, Zitate ebd.). Nach Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Thorsten Kingreen/ Ralf Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, § 7 Rn. 364. 889 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 890 BVerfGE 125, 175 (226, Kursivsetzung durch Verf.). 891 BVerfGE 116, 327 (336). 892 Siehe die Ausführungen zu BVerfGE 116, 327 unter A. I. 5. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die Indikatoren „dienen […] als Orientierungspunkte für vertretbare Zahlenkorridore, um im länderübergreifenden Vergleich haushaltswirtschaftliche Situationen bewerten und für gewisse Zeiträume prognostizieren zu können […].“893

Wie bei den unmittelbaren stellt sich bei den mittelbaren Quantifizierungen die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht durchgehend in Bandbreiten quantifiziert. Die Verwerfung der 5 %- bzw. 3 %-Klausel im Gemeinde- und Kreiswahlgesetz von Schleswig-Holstein (GKWG) und im Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (EuWG) als verfassungswidrig bedeutet positiv gewendet und scheinbar präzise die Kennzeichnung von Sperrklauseln allein in Höhe von 0 % als verfassungsgemäß. Das Bundesverfassungsgericht erkennt jedoch auch in diesem Zusammenhang Abweichungsmöglichkeiten des Gesetzgebers an, die tatsächlich zur Unbestimmtheit der vorgenannten Quantifizierungen führen. Die „verfassungsrechtliche Rechtfertigung“894 einer Sperrklausel wird nicht „nicht ein für allemal abstrakt beurteilt“,895 sondern hängt von den „gegenwärtig[en]“896 (bzw. prognostizierten) „rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen“897 ab. Das Bundesverfassungsgericht koppelt die 0-Quantifizierungen an die „politische[…] Wirklichkeit“898 zum Zeitpunkt der Entscheidung.899 Ändern sich diese, kann auch die Errichtung einer Sperrklausel verfassungsgemäß sein. Die Verfassungsmäßigkeit numerischer Abgrenzungen für abweichende tatsächliche Konstellationen wird offen gelassen. Bei den vorgenannten und damit bei allen untersuchten bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen handelt es sich um Quantifizierungen in Bandbreiten. Die Grenzen der Bandbreiten bleiben unbestimmt.900 Dies gilt für die mittelbare in der Regel noch mehr als für die unmittelbare Quantifizierung. Während das Gericht im Wege unmittelbarer Quantifizierungen explizit Spannbreiten verfassungs 893

BVerfGE 116, 327 (389, Kursivsetzung durch Verf.). BVerfGE 120, 82 (106, 108); 129, 300 (321). 895 BVerfGE 120, 82 (108);129, 300 (322). 896 BVerfGE 120, 82 (109). 897 BVerfGE 129, 300 (Leitsatz, siehe auch S. 324). 898 BVerfGE 129, 300 (321). 899 In diesem Sinne gehen Johannes Dietlein u. Daniel Riedel für die kommunale Ebene in Nordrhein-Westfalen davon aus, dass sich Sperrklauseln auch nach der Verwerfung der 5 %-Klausel im Kommunalwahlrecht durch den VerfGH NRW im Falle der Darlegung drohender Funktionsstörungen der Vertretungskörperschaften rechtfertigen lassen. Dies., Zugangs­ hürden im Kommunalwahlrecht, 2012, S. 79, 81. Zur Verwerfung der 5 % bzw. 3 %-Sperrklauseln durch das Bundesverfassungsgericht bereits die Ausführungen unter B. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teil. 900 Siehe Stephan Rixen zur bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle der Hartz IV-Regelsätze: „Zudem entspricht dem Gestaltungsspielraum nur eine zurückhaltende Ergebniskontrolle durch das BVerfG […]. Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ist entsprechend zurückgenommen, wobei die Kriterien, die erkennen lassen, wie weit oder wie eng der Gestaltungsspielraum ist, im Dunkeln bleiben, also vom BVerfG im Fall des Falles erst noch anlassbedingt entwickelt werden können.“; „[…] das BVerfG [hat] […] nur die Fragen der Bemessung der Regelsätze entschieden. Es hat gerade nicht entschieden, wo genau die Grenze des Existenzminimums verläuft.“ Ders., Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (83, 87). 894

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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gemäßer einfachgesetzlicher Zahlenwerte formuliert (ausgenommen sind die Fälle scheinbar präziser Quantifizierungen), werden die qualitativen bzw. quantitativen Konkretisierungen der Verfassungsvorgaben auf der Maßstabsebene und vor der mittelbaren Quantifizierung nicht in Zahlen abgebildet. Dass Bandbreiten verfassungsgemäßer Zahlen bestehen, ergibt sich bei der mittelbaren Quantifizierung aus der Anerkennung eines einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums. Er wird bei der Subsumtion nur näherungsweise und punktuell numerisch konkretisiert.901 Einigen mittelbaren Quantifizierungen lassen sich indes indirekt Aussagen über die Grenzen der Bandbreiten verfassungsgemäßer Zahlenfestlegungen entnehmen. Unbestimmt bleibt in diesen Fällen nur der konkrete Grenzverlauf der Bandbreiten. Wenn das Bundesverfassungsgericht die einfachgesetzlichen Zahlenfestlegungen für „noch“ oder „nicht mehr“ mit der Verfassung vereinbar hält bzw. erklärt, sie hielten sich „noch“ oder „nicht mehr in den Grenzen des Vertretbaren“,902 nähert es sich dem Grenzverlauf der jeweiligen Bandbreite zwischen den verfassungsgemäßen und verfassungswidrigen einfachgesetzlichen Quantifizierungen an. Der Gesetzgeber gewinnt auch durch die mittelbare Quantifizierung, vor ­allem durch das „Gesamtbild“903 der haushaltswirtschaftlichen Analyse in den Ländern bei der Entscheidung über eine Haushaltsnotlage, „Orientierungspunkte“904 für­ zukünftige Quantifizierungen.905 901

Vgl. exemplarisch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Angemessenheit des horizontalen Finanzausgleichs i. S. d. Art.  107 Abs.  2 Satz 1 u. 2 GG (hierzu unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils). Das Bundesverfassungsgericht erstreckt den Gestaltungsspielraum, den es dem Gesetzgeber bei der Organisation des Finanzausgleichs einräumt, auch auf die Zielbestimmung des angemessenen Ausgleichs und entscheidet punktuell über die Vertretbarkeit der einfachgesetzlichen Ausgleichsleistungen. Den Verfassungsgerichtsentscheidungen lässt sich keine exakte Obergrenze für den Ausgleich entnehmen. Das Problem der Einhaltung einer Untergrenze stellt sich in den Entscheidungen bereits nicht. Hierzu ­Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. VII, Loseblattsammlung, Stand: 21. Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 8, 47, 61 ff. 902 Siehe nur BVerfGE 86, 148 (225, Kursivsetzung durch Verf.): „Damit erreicht es [Aufkommen Vergnügungssteuer] noch nicht das Volumen, welches – auch im Blick auf die seit der Entscheidung des Senats vom 24. Juni 1986 eingetretene Entwicklung – als ausgleichsrelevant anzusehen ist […].“; BVerfGE 86, 148 (232, Kursivsetzung durch Verf.): Die Bemessung dieses Abschlags einheitlich mit 50 v. H. für Grundsteuern und Gewerbesteuern hält sich noch in den Grenzen des Vertretbaren.“; BVerfGE 86, 148 (245, Kursivsetzung durch Verf.): „[…] die Einwohnerwertung in Höhe von 135 v. H. [liegt] noch innerhalb der Bandbreite angemessener Einwohnerwertungen.“; BVerfGE 91, 93 (115, Kursivsetzung durch Verf.): „Jedenfalls kann aber bei Richtwerten, wie sie hier nach der Berechnung des Bundesministers zum Vergleich herangezogen werden, die Verfassungswidrigkeit einer bestehenden Regelung [Berücksichtigung des Existenzminimums im Steuerrecht] noch nicht festgestellt werden, wenn diese Richtwerte um weniger als 15 vom Hundert unterschritten werden […].“ 903 BVerfGE 116, 327 (336). 904 BVerfGE 116, 327 (389). 905 Der Berliner Senat führt im Normenkontrollantrag zu BVerfGE 116, 327 aus: „Weder der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch dem Maßstäbegesetz lasse sich entnehmen, welchen Grenzwert die genannten Parameter überschreiten müssten, damit von einer Haushaltsnotlage gesprochen werden könne. […] Auch insoweit sei auf die vom B ­ undesverfassungsgericht

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

d) Punktuell Dass das Bundesverfassungsgericht numerische Aussagen bei der Subsumtion in Bezug auf einen konkreten Fall trifft, wirkt sich auch auf den Umfang der Quantifizierungen aus. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, ob bestimmte Zahlen mit den qualitativen oder quantitativen Vorgaben vereinbar sind, die es aus der Verfassung ableitet. Es entscheidet über einen konkreten Prüfungsgegenstand, nicht über ggf. zukünftig in Streit stehende andere Zahlen.906 Es handelt sich immer nur um punktuelle numerische Konkretisierungen der unbestimmten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Haushaltslage in den Ländern anhand verschiedener Kennziffern beurteilt, bedeutet dies eine „mehrdimensionale“907 und punktuelle mittelbare Quantifizierung. Allein die Verwerfung der 5 %- bzw. 3 %-Klausel, die sich als 0-Quantifizierung interpretieren lässt,908 könnte von der Punktualität der mittelbaren Quantifizierungen ab­ weichen. Indes bestehen auch bei diesen scheinbar präzisen Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts im Falle der Veränderung des tatsächlichen oder normativen Kontexts Abweichungsmöglichkeiten des Gesetzgebers.909 Sie bedeuten daher nicht nur eine unbestimmte, sondern auch punktuelle Abbildung der zu quantifizierenden Verfassungsvorgaben in Zahlen.910

III. Quantifizierungsmethodik in den Entscheidungsbegründungen Vollzieht man die Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts schrittweise nach, sind die qualitativen und quantitativen Konkretisierungen in den Entscheidungen argumentativ eingebunden. Dies gilt etwa in Bezug auf den angemessen Ausgleich (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) in den Entscheidungen zum Finanzausgleich. Bei der Konkretisierung der einzelnen Vorgaben des Art.  107 Abs.  2 Satz 1 bis 3 GG lassen sich wiederkehrende methodische Begründungsstränge entwickelten Maßstäbe zurückzugreifen und darauf abzustellen, ob das Gesamtbild der Haushaltslage dem gleichwertig erscheine, was 1992 für Bremen und das Saarland gegolten habe.“ BVerfGE 116, 327 (335 f.). Andreas Heusch erkennt in dem Umstand, dass keine Zahlen als Grenzen für den einfachen Gesetzgeber aus der Verfassung deduziert werden (können), einen „poten­tielle[n] Streitpunkt, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu politischen Auseinandersetzungen führt.“ Ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003, S. 183. 906 Spätere Entscheidungen werden durch den Prüfungsmodus, wonach einfachgesetzliche Zahlen auf ihre verfassungsrechtliche Vertretbarkeit überprüft werden, explizit offen gehalten werden. 907 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 247. 908 Siehe die Ausführungen unter B. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. 909 Siehe die Ausführungen unter A. II. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 910 Vgl. die Ausführungen zu den scheinbar präzisen unmittelbaren Quantifizierungen unter A. II. 1. d) im 3. Kapitel des dritten Teils.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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und ­damit Muster in der verfassungsgerichtlichen Argumentation nachzeichnen.911 Zum Teil erfolgt eine explizite Anwendung der klassischen Auslegungscanones.912 Bei der „Maßstabbildung“913 wird der Eindruck methodischer Rationalität durch die (in den zahlreichen internen Verweisen sichtbar werdende) Kontinuität der Entscheidungen verstärkt.914 Das Bundesverfassungsgericht geht bei der Begründung seiner Entscheidungen über deren normative Anbindung hinaus, ordnet sie in den übergreifenden, über die konkrete Entscheidung hinausgehenden Diskurs des Rechtssystems ein und argumentiert dadurch zwangsläufig selbstbezüglich.915 Es wiederholt frühere Konkretisierungen, bevor es auf die Besonderheiten des in Streit stehenden Sachverhalts eingeht. Dadurch kommt es zu sachverhaltsgelösten,

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Das Bundesverfassungsgericht ordnet die vorgesehenen horizontalen und vertikalen Korrekturen der Finanzausstattung der Länder nach Art. 107 Abs. 2 GG in das mehrstufige System der Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat ein. Die Auslegung des Art. 107 Abs. 2 GG berücksichtigt weiterhin die auf die Finanzverfassung einwirkenden Verfassungsprinzipien. Zentraler Bezugspunkt ist das Bundesstaatsprinzip, denn das System der Finanzverteilung im Grundgesetz ist bundesstaatlich begründet: Es soll Bund und Ländern eine Finanzausstattung zuweisen, die eine eigenständige und eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung, damit die Entfaltung eigener Staatlichkeit, ermöglicht. BVerfGE 72, 330 (383). Siehe auch BVerfGE 1, 117 (131); 32, 333 (338); 55, 274 (300 f.); 86, 148 (218 ff.). Die Finanzverfassung insgesamt ist „tragende[r] Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung“. BVerfGE 55, 274 (300). Konkret bedeutet dies, dass die dem Bundesstaatsprinzip inhärenten (gegenläufigen) Prinzipien die (Höhe der) Zuweisungen bei der Finanzverteilung und beim Finanzausgleich leiten. Hierin wird der grundlegende „Zielkonflikt“ des horizontalen Finanzausgleichs gesehen. Paul Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich als Ergänzung fehlender und als Garant vorhandener Finanzautonomie, 1982, S. 1 (Zitat ebd.); Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 540. Auch das föderative Gleichbehandlungsgebot, das in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ebenfalls Ausprägung des Bundesstaatsprinzips ist, steuert die Zuweisung finanzieller Leistungen. 912 In BVerfGE 72, 339 (397 ff.) erfolgt eine mustergültige Anwendung der Auslegungskriterien der klassischen juristischen Hermeneutik. Die Bedeutung der „Finanzkraft“ in Art. 107 Abs.  2 Satz 1 GG wird anhand der Auslegungskriterien Wortlaut, Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte, Systematik und Staatspraxis ermittelt. Siehe auch die Auslegung des Berücksichtigungsgebots (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GG) in BVerfGE 86, 148 (218 ff.). Die Entstehungsgeschichte als Auslegungskriterium ist von untergeordneter Bedeutung, denn sie wird nur bestätigend herangezogen bzw. kann „eindeutige[…] [Auslegung-]Ergebnisse[…]“ nicht überspielen. BVerfGE 72, 339 (398); 86, 148 (221 [Zitat ebd.], 224). Siehe auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 54. 913 Oliver Lepsius, Fn. 44 im dritten Teil. 914 Oliver Lepsius führt den Eindruck methodischer Rationalität der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts neben der Kontinuität bei der „Maßstabbildung“ auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Subsumtion zurück. Der tatsächliche Weg der Rechtserkenntnis, nämlich die Relevanz des Kontexts der Entscheidung und die Dezision als Element der Entscheidungsfindung, würden dadurch verdeckt. Ders., Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (insb. S. 198, 201, 205, Zitat S. 182). 915 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (78 ff.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

„lehrbuchartige[n]“916 Ausführungen, die sich ausdehnen und sich in ihrem Kernbestand mit jeder neuen Entscheidung verfestigen.917 Bei der methodischen Analyse der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung liegt innerhalb der gestuften Konkretisierung der unbestimmten Verfassungsvorgaben der Fokus auf der Zahlenfindung durch das Bundesverfassungsgericht. Es geht darum, inwieweit die Quantifizierungen der unbestimmten, verfassungsnormativen Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht begründet werden und die Höhe verfassungsgerichtlich festgelegter Zahlen (nicht etwaige Verfahrensvorgaben zur Zahlenbestimmung durch den Gesetzgeber) in der Darstellung der Entscheidungsfindung methodisch nachvollziehbar ist oder – im Gegenteil – bei den Zahlen die argumentative Rückbindung an die Verfassung abreißt.918 Die Frage nach der argumentativen Anbindung stellt sich unabhängig davon, ob Konkretisierungen unbestimmter Verfassungsvorgaben zu Zahlen tatsächlich lückenlos rational nachvollzogen werden können.919 1. Anschein methodischer Rationalität Die Quantifizierungen lassen sich nach dem methodischen Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts nicht in allen Fällen logisch zwingend aus der Verfassung deduzieren. Es erkennt explizit an, dass zur Entscheidung über das Vorliegen einer Haushaltsnotlage in Berlin (BVerfGE 116, 327) und damit zur (mittelbaren) Quantifizierung der Verfassung Wertungen erforderlich sind.920 In anderen Urteilen, wie dem zum steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz (BVerfGE 93, 121), fehlen Anhaltspunkte für eine Wertung des Gerichts. Es erweckt dann den Anschein einer formalen Logik der Entscheidungsfindung. In allen Fällen suggeriert es die Rationalität der Bandbreiten verfassungsgemäßer Zahlenbestimmungen und stützt sich auf die anerkannten Kriterien zur Verfassungsauslegung. Es offenbart ein Rationalitätsverständnis rechtlicher bzw. (verfas 916

Oliver Lepsius, Fn. 781 im dritten Teil. Dies ist insbesondere in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum horizontalen Finanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen nachvollziehbar: BVerfGE 1, 117; 72, 330; 86, 148; 101, 158 u. 116, 327. 918 Die Quantifizierungsmethodik des Bundesverfassungsgerichts soll nicht auf ihre Übereinstimmung mit einem bestimmten Auslegungskonzept überprüft werden. Das Gericht folgt zwar nach seinem Selbstverständnis, wie es aus den Entscheidungen hervorgeht, der klassischen hermeneutischen Methode, weicht hiervon aber tatsächlich ab. Hierzu und zu den verschiedenen Konzepten der Verfassungsauslegung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089 (2090 ff. u. Fn. 4); Gerd Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 22 ff. 919 Siehe hierzu die Ausführungen zur Quantifizierungsmethodik jenseits der Darstellung durch das Bundesverfassungsgericht unter C. im 4. Kapitel des dritten Teils. 920 BVerfGE 116, 327 (389). Zur methodischen Reflexion des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 116, 327 eingehend unter A. III. 2. b) aa) im 3. Kapitel des dritten Teils. 917

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sungs-)gerichtlicher Entscheidungen, das methodische Schwierigkeiten und irrationale Momente jedenfalls nicht offen reflektiert. a) Quantifizierung als Abwägungsentscheidung Die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen beruhen zum Teil  auf einer Abwägung konfligierender Verfassungsinhalte. Die Vorstellung der Verfassung als Einheit921 verlangt, zur verfassungsrechtlichen Beurteilung eines konkreten Falls Verfassungsinhalte, die in einem Spannungsverhältnis stehen, in Ausgleich zu bringen.922 Eine Abwägung findet zur numerischen Bestimmung der Angemessenheit des horizontalen Finanzausgleichs, der verfassungsgemäßen Höhe der Steuerbelastung sowie einer Sperrklauselregelung im Wahlrecht („Hier treten sich zwei Prinzipien gegenüber, die in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen.“923), der Grenzen der direkten staatlichen Parteienfinanzierung und der zulässigen Anzahl an Überhangmandaten statt. Sie erfolgt zum Ausgleich widerstreitender Verfassungsprinzipien bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe924 und bei der Prüfung von (Grund-)Rechtseingriffen.925 Die Abwägung 921 Gerd Roellecke stellt zur Erläuterung der Sicht des Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassung als Einheit auf BVerfGE 1, 14 (32) ab: „Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt. Aus dem Gesamtinhalt der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen untergeordnet sind. Das Grundgesetz geht, wie sich insbesondere aus Art. 79 Abs. 3 ergibt, ersichtlich von dieser Auffassung aus. […] Jede Verfassungsbestimmung muß so ausgelegt werden, daß sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers vereinbar ist.“ Ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 22 (32 ff., zu BVerfGE 1, 14 auf S. 32). 922 Peter Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: ­Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd.  1, 2001, S. 333 (349); vgl. auch Gerd Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 22 (34). 923 BVerfGE 1, 208 (247 f.). 924 Die Bestimmung der verfassungsgemäßen Intensität des horizontalen Finanzausgleichs nimmt eine Sonderstellung unter den Abwägungsprozessen der untersuchten Entscheidungen ein. Die Verfassungsvorgabe des angemessenen Ausgleichs i. S. d. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG unter den Ländern ist auf eine Abwägung angelegt. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert sie, indem es sie auf das Bundesstaatsprinzip und dessen konfligierenden Inhalte von Autonomie und Verantwortung der Gliedstaaten bezieht. Vgl. Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 107 Rn. 125 ff. und die Ausführungen unter A. I. 1. im 3. Kapitel des dritten Teils. 925 Zu den Anwendungsfällen der Abwägung im Verfassungsrecht Klaus F. Röhl/Hans­ Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 652, 659.

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bezieht sich dann auf das Verhältnis des jeweils betroffenen Rechts und gegenläufiger Verfassungsinhalte.926 Andere verfassungsgerichtliche Quantifizierungen können nicht auf einen Abwägungsprozess zurückbezogen werden.927 Es besteht daher kein Zusammenhang zwischen der Methodik und Art der Quantifizierung dergestalt, dass gerade die Abwägung konfligierender Verfassungsinhalte zur Quantifizierung in Bandbreiten führt.928 Die Quantifizierung der Verfassung 926 Bei der Aufstellung des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes prüft das Bundesverfassungsgericht abstrakt, inwieweit eine Einschränkung des Eigentumsrechts verfassungsgemäß wäre. Die hälftige Teilung bildet nach Ansicht des Gerichts das Verhältnis von Individual- und Sozialnützigkeit des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1, 2 GG ab. In den übrigen aufgezählten Beispielsfällen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung bezieht sich die Abwägung auf eine konkrete etwaige Rechtsverletzung. Nach Verwerfung des Halbteilungsgrundsatzes prüft das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der konkreten Steuerbelastung und wägt im Rahmen einer (eingeschränkten) Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen verfassungsrechtlich geschütztem Eigentum und dem Finanzierungsinteresse des Staates ab. Zur Bestimmung einer Höchstgrenze für die Steuerbelastung Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 120: „Die Formulierung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 GG deutet auf eine wertend-abwägende Bestimmung der Grenze hin.“ Den Grenzen der direkten staatlichen Parteienfinanzierung liegt das Spannungsfeld zwischen der Staatsfreiheit der Parteien und der finanziellen Sicherstellung der Parteientätigkeit zu Grunde. Zur Verfassungsmäßigkeit einer 5 %-Sperrklausel führt die Abwägung von Chancengleichheit der Parteien sowie Erfolgswertgleichheit der Stimmen einerseits und der Funktionsfähigkeit des Parlaments andererseits („Hier treten sich zwei Prinzipien gegenüber, die in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen.“ BVerfGE 1, 208 [247 f.]). Bei der Bestimmung der zulässigen Anzahl an Überhangmandaten erwächst die Notwendigkeit einer Abwägung der Ausgestaltung des Wahlsystems als personalisierter Verhältniswahl. Überhangmandate müssen sich demnach zur Wahrung von Wahlrechts- und Chancengleichheit in Grenzen halten. Ihre grundsätzliche Rechtfertigung ergibt sich nicht unmittelbar aus der Verfassung. Art. 38 Abs. 3 GG, der nicht ein bestimmtes Wahlsystem verfassungsrechtlich verankert, sondern dessen Festlegung dem einfachen Gesetzgeber überantwortet, öffnet sich auch einem Mischsystem zwischen Personen- und Verhältniswahl, dessen Folge die Überhangmandate sind. Kritisch zur Abwägung von Grundrechten mit „andere[n] Verfassungswerte[n]“ Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 663 f. (Zitat S. 663), die terminologisch und sachlich auf der Vorstellung der Verfassung als Wertordnung aufbauen. 927 In den Entscheidungen zum steuerfreien Existenzminimum, zu den Hartz IV-Regelsätzen, den monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG, der W-Besoldung und den Besoldungszuschlägen für kinderreiche Beamte findet keine Abwägung zur Quantifizierung statt. Es geht um die Bestimmung der grundsätzlichen Höhe verfassungsrechtlicher Abwehr- bzw. Leistungsansprüche. In allen Fällen steht nicht die Rechtfertigung eines Eingriffs in eine verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition in Frage. Auch bei der methodischen Analyse bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen und im Hinblick auf die teils zu Grunde liegenden Abwägungsentscheidungen lässt sich ein Vergleich zu den Grenzwerten im einfachen Recht ziehen. Georg Buchholz unterscheidet nach der Art der Generierung zwischen „maximierte[n]“ und „optimierte[n] Grenzwerte[n]“. Während erstere „unipolar“ im Hinblick auf einen singulären Schutzzweck festgesetzt würden, würden letztere eine Abwägungsentscheidung zwischen mehreren verfolgten Zielen darstellen. Ders., Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 46 f. (Zitate ebd.). 928 Zu dieser Annahme verleitet ein Quantifizierungsbeispiel aus dem Bereich der Landesverfassungsrechtsprechung: 1999 überprüft der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Verfassungs-

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in Bandbreiten bildet vielmehr die Unbestimmtheit der Verfassungsvorgaben ab. Quantifizierungen verfügen auch jenseits der Ausgestaltung als Abwägungsentscheidung insofern über eine dualistische Struktur als sie Grenzen „auf einer linearen Skala“ markieren und dadurch „zwei Werte oder Gesichtspunkte zueinander in Beziehung setzen“. „Mehrdimensionale Entscheidungen“ können im Wege der Festlegung eines einzelnen Zahlenwerts in der Regel nicht sachgerecht getroffen werden.929 b) Quantifizierung als systemgerechte Entscheidung In einigen Fällen gestaltet das Bundesverfassungsgericht unmittelbare Quantifizierungen systemgerecht930 und legt an mittelbare Quantifizierungen den Maßstab der Systemgerechtigkeit an.931 Dieser bezieht sich auf die (Höhe der) Zahl als Ergebnis des Quantifizierungsprozesses, die bei der mittelbaren Quantifizierung Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung ist. Systemgerechtigkeit bezeichnet allgemein die Anforderung fehlender Widersprüchlichkeit verschiedener, als Einheit wahrgenommener Regeln untereinander. Die Quantifizierung ist systemgerecht, wenn die zu generierende Zahl (durch das Bundesverfassungsgericht bzw. bei der mittelbaren Quantifizierung zunächst vom einfachen Gesetzgeber) in eine Matrix sachbereichsspezifischer Zahlen eingepasst und auf andere, bereits feststehende normative Größen abgestimmt wird.932 Es spielen somit nicht bei jeder mittelbaren Quantifizierung, bei der zunächst lediglich eine bereits feststehende Größe ­ ystemgerechtigkeitserwägungen am Maßstab der Verfassung überprüft wird, auch S mäßigkeit der Abschaffung des Bayerischen Senats durch einen Volksentscheid. Bei Verfassungsänderungen im Wege der Volksgesetzgebung sei ein Quorum erforderlich, deren „punktgenaue“ Bestimmung dem Gesetzgeber obliege. Dessen Gestaltungsspielraum verenge sich jedoch angesichts des erforderlichen Ausgleichs verschiedener Vorgaben der Bayerischen Verfassung (erhöhter Bestandsschutz, Gewährleistung angemessener demokratischer Legitimation, Vermeidung praktisch unüberwindbarer Hürden zur Verfassungsänderung) auf eine „relativ enge Bandbreite“. BayVerfGH NVwZ-RR 2000, S. 65 (69, Zitat ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 929 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 247 (Zitate ebd.). 930 Bei den unmittelbaren Quantifizierungen sind dies alle, die auch als heteronom charakterisiert werden, z. B. die 5 %-Klausel (BVerfGE 1, 208). Allein die absolute Grenze für die­ unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung ist eine heteronome, aber keine systemgerechte unmittelbare Quantifizierung. Sie schreibt den Umfang der Parteienfinanzierung, wie er sich aus dem Parteiengesetz ergibt, lediglich für die Zukunft fest und nimmt keine Vergleichsgrößen in Bezug. 931 Beispiele: BVerfGE 130, 263 – W-Besoldung; 44, 249 – Kinderreiche Beamte I; 81, 363 – Kinderreiche Beamte II. Zur Systemgerechtigkeit jetzt grundlegend Peter Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, 2014, insb. S. 53 ff., 509 ff. 932 Im Verhältnis der monetären (Regel-)Leistungen nach dem SGB II und dem AsylbLG Christoph Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, S. 646 (648 ff.). Fritz Haueisen verweist darauf, dass die Sozialgerichte Zahlen zur Quantifizierung unbestimmter Rechtsbegriffe „teilweise […] durch Vergleiche mit anderen gesetzlichen Regelungen gew[i]nnen.“ Ders., Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644).

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eine Rolle. In der verfassungsgerichtlichen Anforderung einer wertenden Abstimmung wird (vor allem bei der Relevanz normativer Größen unterschiedlicher Sachbereiche933) ein Einheitsverständnis einsehbar, das sich auf die Rechtsordnung als Ganzes bezieht und über die logische Widerspruchsfreiheit hinaus die Harmonie normativer Wertungsentscheidungen fordert.934 Die als System verstandene Rechtsordnung ist nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts nicht Produzent neuer Rechtsvorschriften, sondern wird als Argument bei der (systematischen) Auslegung herangezogen.935 Es lebt nicht der Konstruktivismus der Begriffsjurisprudenz unter neuem Namen wieder auf.936 Der Maßstab der Systemgerechtigkeit kann als mehrdimensional charakterisiert werden, denn es geht potentiell darum, Relationen zwischen der zu generierenden Zahl und verschiedenen anderen Größen herzustellen. Systemgerechtigkeit bedeutet die Orientierung an anderen Zahlen, die flexibel gestaltet ist bzw. Spielraum lässt. Es handelt sich um einen Sonderfall der systemgerechten Quantifizierung, wenn sie an eine einzelne einfachgesetzliche Größe fest gekoppelt wird.937 Ein Sonderfall der Systemgerechtigkeits- ist außerdem die Folgerichtigkeitsprüfung. Sie bezieht sich auf das einfachgesetzliche Verfahren der Zahlengenerierung938 und verläuft eindimensional bzw. linear: Folgerichtigkeit 933 Siehe die Anforderungen an die Bemessung der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte. Hierzu sogleich im Haupttext. 934 Zum Verständnis der Rechtsordnung als Werteinheit Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 443, 451 f. 935 Zum „Systemargument“ außerhalb der Quantifizierungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 442 f. (Zitat S. 442), 452. 936 Zur Begriffsjurisprudenz siehe die Ausführungen zum historischen Wandel des Methodenverständnisses im (Staats-)Recht unter A. I. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 937 Eine feste Kopplung besteht zwischen dem Existenzminimum im Steuerrecht und der durchschnittlich einfachgesetzlich gewährten Sozialhilfe (BVerfGE 82, 60; 87, 153; 91, 93; 99, 216; 99, 246), den Besoldungszuschlägen für kinderreiche Beamte und dem sozialhilferechtlich anerkannten Gesamtbedarf eines Kindes in BVerfGE 99, 300 sowie der maximalen Anzahl an Überhangmandaten und der Mindestfraktionsstärke im Bundestag (BVerfGE 131, 316). Die feste Kopplung bedeutet, dass die Bezugsgröße bei der Quantifizierung als Mindest- (durchschnittliche Sozialhilfe)  bzw. Maximalwert (halbe Fraktionsstärke)  berücksichtigt werden muss. Sie bedeutet keine strikte numerische Anbindung, die dazu führt, dass jedes Unterschreiten der durchschnittlichen Sozialhilfe durch das im Steuerrecht anerkannte Existenzminimum bzw. jedes Überschreiten der halben Mindestfraktionsstärke durch Überhangmandate verfassungswidrig ist. Allein die Anbindung der Höhe zusätzlicher Besoldungsleistungen an den­ sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf von Kindern öffnet sich nach BVerfGE 99, 300 (321 f.) insofern keinem numerischen Abweichungsspielraum, als das bundesverfassungsgerichtliche Abstandsgebot von mindestens 15 % nicht unterschritten werden darf. 938 Vgl. Christoph Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetz­ geberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, S. 646 (649, Fn. 29 mit Verweis auf Veith Mehde/ Stefanie Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 [386 ff.]). Philipp Dann unterscheidet die Folgerichtigkeit nicht von der Systemgerechtigkeit. Er verwendet die Folgerichtigkeit als Oberbegriff für Rationalitätsanforderungen an Inhalt („Substanz“) und Verfahren eines Gesetzes („die Rationalität seines Entstehens“). Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (631, 636 f., Zitate S. 636).

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bedeutet, dass einzelne Verfahrensschritte dem ursprünglich festgelegten Konzept zur Zahlengenerierung entsprechen.939 Folgende Beispiele systemgerechter Quantifizierungen sollen näher in den Blick genommen werden: Das Bundesverfassungsgericht fordert systemgerechte Quantifizierungen in den Entscheidungen zur W-Besoldung und den Besoldungszuschlägen für kinderreiche Beamte. Darüber hinaus quantifiziert das Bundesverfassungsgericht in der Ausgangsentscheidung zu den Sperrklauseln im Wahlrecht systemgerecht. Die Systemgerechtigkeit der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung ist von den Systemgerechtigkeitsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts, die vor allem anlässlich der Urteile zur Pendlerpauschale und zum Rauchverbot in Bezug auf ein einfachgesetzliches Regelungskonzept diskutiert werden, zu unterscheiden. Demnach darf der Gesetzgeber nicht „von einem selbstgesetzen System abweich[en]“;940 Philipp Dann spricht von einer „Konzeptbefolgungspflicht“.941 Das maßgebliche „System“ ist demnach zwar umstritten,942 fällt aber in seiner Reichweite zumindest gegenüber den normativen Vergleichsgrößen der systemgerechten Quantifizierung, die innerhalb einer als Einheit verstandenen Rechtsordnung einen sachbereichsspezifischen Verbund formieren, begrenzter aus. Die Konzeptbefolgungspflicht des Gesetzgebers beschränkt sich außerdem auf eine normative Binnensicht, die sich systemexternen „Irritationen“943 nicht aussetzt.944 Das Bundesverfassungsgericht spricht allein in der Entscheidung zur W-Besoldung und nach dem Verdikt des evidenten Ungenügens der Grundgehaltssätze in Bezug auf ein neues Besoldungsmodell explizit vom Gebot der „Systemgerechtigkeit“ und bezieht es auf die Sicherstellung einer verfassungsgerechten Alimentation.945 Den 939 Das Bundesverfassungsgericht verlangt vom Verfahren zur Festlegung der Hartz  IV-­ Regel­sätze und der monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG ausdrücklich, dass sie folgerichtig ausgestaltet sind. 940 Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, 15. Aufl., Stand: 1. Juli 2012, Art. 3 Rn. 87. 941 Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (635). 942 Zur Diskussion um Begriff und Reichweite des Systems Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, 15. Aufl., Stand: 1. Juli 2012, Art. 3 Rn. 88; Lerke Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 98. 943 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 442. 944 Siehe hierzu sogleich die Ausführungen zur Anpassung der W-Besoldung und der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte an vertraglich vereinbarte bzw. tatsächliche Vergleichsgrößen. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Vorliegen einer Haushaltsnotlage handelt es sich demgegenüber nicht um eine systemgerechte Quantifizierung, die sich Irritationen durch systemfremde, tatsächliche Vergleichsgrößen aussetzt. Es geht um einen rein tatsächlichen Vergleich der haushaltswirtschaftlichen Situation von Bund und Ländern. 945 „Angesichts dieser Gestaltungsmöglichkeiten trifft den Gesetzgeber die Pflicht, nachdem er sich in Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für ein bestimmtes Neuregelungsmodell entschieden hat, dessen Funktionsfähigkeit und Systemgerechtigkeit zu beobachten und gegebenenfalls erforderliche Nachbesserungen vorzunehmen.“ BVerfGE 130, 263 (312, Kursivsetzung durch Verf.).

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Terminus der systemgerechten Quantifizierung verwendet es selbst nicht.946 Wenn vorliegend dennoch Quantifizierungen als systemgerecht bezeichnet werden, liegt dies daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff des „Systems“ vor­ allem in der Entscheidung zur W-Besoldung wiederholt, in verschiedenen Kombinationen und auch im Zusammenhang systemgerechter Quantifizierungen verwendet.947 Erst die Folgerichtigkeit der Zahlengenerierung unterfällt wieder der allgemeinen Diskussion zur Systembindung als Konzeptbefolgungspflicht des­ Gesetzgebers, die zwar alternativ zur Systemgerechtigkeit den Begriff der Folgerichtigkeit verwendet, aber nicht sachlich zwischen Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit unterscheidet.948 Den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Höhe einer Zahl, die vorliegend als systemgerecht bezeichnet werden, liegt eine bestimmte Struktur zu Grunde: Es kann zwischen einer Ausgangs- und Bezugsgröße unterschieden werden. Die Kopplung zwischen beiden, die „eigentliche Systemgerechtigkeit“, formuliert das Bundesverfassungsgericht unterschiedlich. In der Entscheidung zur Professorenbesoldung prüft das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Grundgehaltssätze in der Besoldungsgruppe W  2 im Rahmen der W-Besoldungsordnung (Ausgangsgröße). Gesetzesinterne Bezugsgrößen finden sich in den Besoldungsgruppen der Besoldungsordnung A (Besoldungsgruppen A 13, 14 und 15). Aus der Sicht des Gerichts sind für die Auswahl der Bezugsgruppe die zumindest entfernt vergleichbaren Eingangsvoraussetzungen 946 In Bezug auf die Quantifizierung taucht der Begriff der Systemgerechtigkeit nur in den Ausführungen der Beschwerdeführer in BVerfGE 44, 249 (257) auf: Das „Gebot der Systemgerechtigkeit […] aus Art. 3 Abs. 1 GG“ fordere eine auf die Ämterhierarchie abgestimmte, gestufte Bemessung der Besoldungszuschläge für Kinder. Der Höhe nach sei auf den – von der Besoldungshöhe und damit vom bekleideten Amt abhängigen  – Anstieg der zivilrechtlichen Unterhaltspflichten abzustellen. 947 Hieraus einige Beispiele: Mit Blick auf die Ablösung der C- durch die W-Besoldung spricht das Bundesverfassungsgericht mehrmals von einem „Systemwechsel“. BVerfGE 130, 263 (Leitsätze 2 u. 4, S. 295, 297 f., 301 f.). Bei der Überprüfung der Höhe der Grundgehaltssätze führt es einen „systeminterne[n] Besoldungsvergleich“ und einen „systemexternen Gehaltsvergleich“ durch, wobei es die „Systemunterschiede“ „zwischen Staatsdienst und Privatwirtschaft“ (ebd., S.  293 f.) berücksichtigt (siehe hierzu sogleich die Darstellung der systemgerechten bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung bei der W-Besoldung). Als System bezeichnet das Gericht indes nicht nur die Beamtenbesoldung insgesamt, sondern auch Teilbereiche, nämlich die Besoldungsordnungen W (ebd., S. 271), C (ebd., S. 277, 296, 311) und A (ebd., S. 304). Den Begriff des Systems verwendet das Bundesverfassungsgericht auch in den übrigen, im Hinblick auf die Systemgerechtigkeit der Quantifizierungen näher untersuchten Entscheidungen. Bei der Überprüfung der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte stellt es auf „das gegenwärtige System der Besoldungsstruktur“ ab. BVerfGE 44, 240 (274). In BVerfGE 1, 208 wird der Systembegriff vor allem in Bezug auf Wahlsysteme verwendet (ebd., S. 244, 248). 948 Zwischen Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit unterscheidet z. B. nicht Lerke Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 98 (Systemgerechtigkeit sei die „Folgerichtigkeit einfachgesetzlicher Wertungen“.); siehe auch Uwe Kischel, in: Epping/ Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, 15. Aufl., Stand: 1. Juli 2012, Art. 3 Rn. 87.1.

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(Hochschulstudium) entscheidend.949 Es stellt damit auf einfachgesetzliche Konkretisierungen desselben verfassungsrechtlichen Maßstabs (Alimentationsprinzip, Art.  33 Abs.  5 GG) ab950 und spricht von einem „systeminterne[n] Besoldungsvergleich“.951 Hinzu tritt eine gesetzesexterne Bezugsgröße: das Gehalt in der Privatwirtschaft. Die Rede ist von einem „systemexternen Gehaltsvergleich“.952 Entscheidend für den Vergleich ist nicht mehr die Systemzugehörigkeit, sondern nur noch die Sachbereichsspezifität der Vergleichsgröße. Systemgerechtigkeit wird über die Anpassung an ein fremdes System bzw. „systemexterne“ Gegebenheiten hergestellt.953 Das Bundesverfassungsgericht geht damit über herkömmliche Systemgerechtigkeitserwägungen hinaus, die systemintern im Hinblick auf ein vom Gesetzgeber errichteten Regelungssystem argumentieren.954 Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber bei der Festlegung der W 2-Besoldung den genannten Größen im Wege einer „Gesamtschau“955 „Rechnung tragen“.956 Der Gesetzgeber müsse sie berücksichtigen.957 In früheren Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der Besoldung kinderreicher Beamter beziehen sich die Erwägungen des Gerichts, die vorliegend als solche der Systemgerechtigkeit bezeichnet werden sollen, auf die Besoldungszuschläge zum Ausgleich kinderspezifischer Belastungen (Ausgangsgröße). Das Bundesverfassungsgericht stellt zu deren Bemessung auf tatsächliche und normative Vergleichsgrößen (aus der „Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit“958), den „statistisch ermittelten“ bzw. „normativ festgelegten Bedarf“,959 ab.960 „In Frage 949

BVerfGE 130, 263 (303). „Der Gesetzgeber [müsse sich] an seiner Konkretisierung des Alimentationsprinzips in Gestalt der Besoldungsordnung A festhalten lassen.“ BVerfGE 130, 263 (304). 951 BVerfGE 130, 263 (293, Kursivsetzung durch Verf.). 952 BVerfGE 130, 263 (293, Kursivsetzung durch Verf.). 953 Das Bundesverfassungsgericht schränkt die geforderte Systemanpassung sogleich wieder ein: „Angesichts der zwischen Staatsdienst und Privatwirtschaft bestehenden Systemunterschiede müss[t]en die Konditionen (nur) insgesamt vergleichbar sein […].“ BVerfGE 130, 263 (294, Kursivsetzung durch Verf.). 954 Siehe die Ausführungen zur Konzeptbefolgungspflicht in den Urteilen zu Pendler­pauschale und Rauchverbot soeben im Haupttext. 955 BVerfGE 130, 263 (293). 956 BVerfGE 130, 263 (293). 957 Das Bundesverfassungsgericht fordert die „Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen“. BVerfGE 130, 263 (295, Kursivsetzung durch Verf.). 958 BVerfGE 44, 249 (274). 959 BVerfGE 82, 60 (93 f., Zitate ebd.). In BVerfGE 82, 60 (Ermittlung des steuerrechtlich zu berücksichtigenden Existenzminimums von Kindern) geht das Bundesverfassungsgericht insoweit wie in BVerfGE 44, 249 vor und verweist im Zusammenhang des vorliegend verwendeten Zitats auch auf die vorgenannte Entscheidung. 960 Als Maßstab für die Gesamtbesoldung werden zunächst auch die „Einkommensverhältnisse der Normalfamilie mit bis zu 2 Kindern“ genannt. Den Beamtenfamilien müsste grundsätzlich unabhängig von der Kinderzahl ein vergleichbarer Lebensstandard gesichert werden. BVerfGE 44, 249 (267, 272 [Zitat ebd.]). Bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der einfachgesetzlich gewährten Besoldungszuschläge (hierzu sogleich im Haupttext) wird auf diesen Vergleichsmaßstab dann nicht mehr Bezug genommen. 950

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kommen […] z. B. die statistisch [anfallenden] […] Ausbildungskosten […], die Unterhaltsrichtsätze des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, die Versorgungsbezüge für Waisen, die Sozialhilfesätze [für Kinder], die Unterhaltssätze im Familienrecht und der Regelunterhalt für nichteheliche Kinder“.961 Die Vergleichs­ größen entstammen anders als in der Entscheidung zur W-Besoldung nicht dem vom Gesetzgeber errichteten Besoldungssystem. Systemgrenzen werden nicht markiert.962 Das Bundesverfassungsgericht bindet den Gesetzgeber an die genannten Größen als „aussagefähige Maßstäbe“963, wobei es von einer festen betragsmäßigen Kopplung Abstand nimmt („Gewiß können die hieraus zu entnehmenden Zahlen nicht unmittelbar zur Begründung von Ansprüchen auf eine Besoldung in bestimmter Höhe herangezogen werden.“964). Später spricht das Bundesverfassungsgericht von „Orientierungsgrößen, die zu gewichten sind“,965 bevor es zu einer festen Kopplung übergeht und zur Abgeltung der Belastungen bei mehr als zwei Kindern eine Besoldungserhöhung mindestens in Höhe eines Betrags verlangt, der „15 v. H. über dem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf“ liegt.966 In seiner Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Wahlgesetz (BVerfGE 1, 208) stellt das Gericht zur Ermittlung der verfassungsgerechten Höhe einer Sperrklauselregelung im Rahmen der personalisierten Verhältniswahl (Ausgangsgröße) Systemgerechtigkeitserwägungen an. Es bezieht sie auf die „Wertungen, die im Rechtsbewußtsein der konkreten Rechtsgemeinschaft lebendig sind“967 und die in historischen und geltenden Sperrklauselregelungen in Bundes- und Landeswahlgesetzen zum Ausdruck kommen. Wenngleich es formuliert: „der Grad der zulässigen Differenzierung bestimmt sich nach […]“968 und „die aus den Wahlgesetzen abzulesende allgemeine Rechtsüberzeugung [„ergibt“] […] im gegenwärtigen Zeitpunkt zwei Grundsätze“,969 geht es nicht von einer strikten Kopplung aus. An anderer Stelle ist beispielsweise davon die Rede, es „spr[e]ch[e] […] viel“ für die homogene Ausgestaltung der Sperrklauselregelungen auf Bundesund Landesebene. Sie sei nicht zwingend, aber „sinnvoll[…]“.970 Inwieweit die in Bezug genommenen Wertungen bzw. landes- und bundesgesetzlichen Regelungen maßgeblich sind, bleibt letztlich unklar. Im Vergleich formuliert das Bundes­ 961

BVerfGE 44, 249 (274). In der Diskussion um die allgemeine Systemgerechtigkeit wird vertreten, dass eine Abstimmung einfachgesetzlicher Regelungen auch über verschiedene „Ordnungssysteme[…]“ hinweg erforderlich sei. Hierzu Lerke Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 101, die als Beispiel für ein „systemübergreifendes Denken“ (­Zitat ebd.) ein Beispiel aus der Quantifizierungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wählt, die Vorgaben zur steuer- und sozialrechtlichen Sicherung des Existenzminimums. 963 BVerfGE 44, 249 (274). 964 BVerfGE 44, 249 (274). 965 BVerfGE 81, 363 (379). 966 BVerfGE 99, 300 (321). 967 BVerfGE 1, 208 (249). 968 BVerfGE 1, 208 (249, Kursivsetzung durch Verf.). 969 BVerfGE 1, 208 (256, Kursivsetzung durch Verf.). 970 BVerfGE 1, 208 (255). 962

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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verfassungs­gericht in den Urteilen zur Beamtenbesoldung die Bezugsgröße und die Kopplung zwischen Ausgangs- und Bezugsgröße deutlich präziser. Die Zusammenschau der Entscheidungen ergibt, dass sich das Bundesverfassungsgericht zumeist auf normative Größen bezieht.971 Eine Ausnahme findet sich allein unter den Bezugsgrößen für die Besoldungsbestandteile zum Ausgleich kinderspezifischer Belastungen. Das Gericht zieht jedenfalls mit den „statistisch [anfallenden] […] Ausbildungskosten“972 auch einen tatsächlichen Maßstab für die Konkretisierung des Alimentationsprinzips aus Art.  33 Abs.  5 GG heran.973 Es ist insbesondere die Berücksichtigung tatsächlicher Bezugsgrößen, die offenlegt, dass die systemgerechte Quantifizierung über eine systematische Auslegung hinausgeht.974 Normative Vergleichsgrößen sind Quantifizierungen der einschlägigen und anderer verfassungsrechtlicher Vorgaben: Das Bundesverfassungsgericht vergleicht die Besoldung unterschiedlicher Besoldungsordnungen, -gruppen und -stufen, also verschiedene Konkretisierungen des Alimentationsprinzips, stellt bei der Prüfung der Beamtenbesoldung aber zum Vergleich auch auf die Sozialhilfesätze ab, die das nach Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG zu gewährende Existenzminimum quantifizieren. Die systemgerechte Quantifizierung ist Ausdruck der Achtung des Bundesverfassungsgerichts vor der einfachgesetzlichen Konkretisierungskompetenz und Gestaltungsfreiheit. Die „Berücksichtigung“ von975 bzw. Orientierung an976 Vergleichsgrößen bedeutet eine Abstimmung im Sinne einer Anpassung und Abgrenzung. Dies lässt sich bei der Beamtenbesoldung nachvoll 971

Dies gilt auch für den „systemexternen Gehaltsvergleich“ (BVerfGE 130, 263 [293]) in der Entscheidung zur W-Besoldung. Das Bundesverfassungsgericht stellt zwar auf eine „Verdienststrukturerhebung“ des Statistisches Bundesamts ab (ebd., S. 307 f., Zitat S. 307), die Entlohnung in der Privatwirtschaft ist jedoch vertraglich und damit rechtlich geregelt. Das Bundesverfassungsgericht stimmt weitere Quantifizierungen auf normative, aber außergesetzliche Bezugsgrößen ab. In der Entscheidung zu den Landesnichtraucherschutzgesetzen entnimmt es die Größe vom Rauchverbot auszunehmender Kneipen einer früheren, freiwilligen Vereinbarung zwischen Bundesgesundheitsministerium und Deutschem Hotel- und Gaststättenverband. Die verfassungsrechtlich zulässige Anzahl ausgleichsloser Überhangmandate bezieht es auf die in der Geschäftsordnung des Bundestags geregelte Fraktionsstärke. 972 BVerfGE 44, 249 (274). 973 Bei den „Unterhaltssätze[n] im Familienrecht und de[m] Regelunterhalt für nichteheliche Kinder“ (BVerfGE 44, 249 [274]) könnte es sich um eine weitere tatsächliche Bezugsgröße handeln. Dies hängt davon ab, ob die von den Gerichten herangezogenen Unterhaltstabellen, aus denen sich der Kindesunterhalt als Bezugsgröße ergibt, über Rechtscharakter verfügen. Hierzu Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 251, S. 286 f. Das Bundesverfassungsgericht verweist auf die „Berliner, Düsseldorfer und Kölner Tabellen“. BVerfGE 44, 249 (274). Aktuell existiert nur noch die Düsseldorfer Tabelle, die auf der Grundlage der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Richtsätze für den Unterhalt enthält. Röthel bezieht Systemgerechtigkeitsanforderungen an Konkretisierungen durch die Zivilgerichte allein auf Gesetze und weitere gerichtlich aufgestellte Regeln. Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 106. 974 Anders für die Normkonkretisierung im Privatrecht Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 251, S. 136 ff., siehe auch soeben Fn. 973 im dritten Teil. 975 BVerfGE 130, 263 (295). 976 Vgl. BVerfGE 81, 363 (379).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

ziehen. Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Tätigkeit im Staatsdienst im Vergleich zu „Einkommen […] außerhalb des öffentlichen Dienstes“ finanziell „attraktiv“ bleibt (Anpassung nach oben).977 Der explizite Hinweis in früheren Entscheidungen zur Beamtenbesoldung, dass die Besoldung die Existenzsicherung im Sozialrecht übersteigen muss (Abgrenzung nach unten),978 erübrigt sich damit. Eine Abgrenzung erfolgt weiterhin zwischen der W- und A-Besoldung: „Das dem Professorenamt zugeordnete Grundgehalt [darf] nicht im unteren Bereich der Besoldung des höheren Dienstes […] angesiedelt sein.“979 Das Bundesverfassungsgericht verankert die Systemgerechtigkeitserwägungen nicht im Rahmen einer Gleichheits-980 oder Verhältnismäßigkeitsprüfung.981 Sie sind (unreflektierter982) Bestandteil der materiellrechtlichen Prüfung, die in der Entscheidung zur 7,5 %-Sperrklausel in Schleswig Holstein (BVerfGE 1, 208) eine Abwägungsentscheidung zwischen der Wahlrechtsgleichheit (Chancengleichheit der Parteien und Erfolgswertgleichheit) und der Funktionsfähigkeit des Parlaments bedeutet. Die Bemessung der Beamtenbesoldung richtet sich allein an der Forderung (amts-) angemessener Besoldung des Art. 33 Abs. 5 GG aus. Ein Ausgleich mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Positionen erfolgt nicht.983 2. Tatsächliche Begründungsdefizite In den Entscheidungen werden die Quantifizierungen durch das Bundesverfassungsgericht nicht lückenlos hergeleitet bzw. begründet. Zwar können auch hinsicht­ lich der qualitativen und quantitativen Konkretisierungen Begründungsdefizite 977 BVerfGE 130, 263 (293 f., Zitate ebd.). Das Bundesverfassungsgericht stellt auf eine „verwandte[…] Beschäftigungsgruppe[..]“  – die „Gruppe aller Vollzeitbeschäftigten in leitender Stellung, die über einen Universitätsabschluss verfügen“ – ab (ebd., S. 307). 978 BVerfGE 81, 363 (382 f.). 979 BVerfGE 130, 263 (307). Zum Vergleich zwischen der W-Besoldung und den verschiedenen Besoldungsgruppen der Besoldungsordnung A siehe ebd. auch S. 303 ff. 980 Siehe BVerfGE 122, 210. Allein die Beschwerdeführer in BVerfGE 44, 249 begründen ihre Forderung, bei der Höhe der kinderbezogenen Besoldungsbestandteile auf die zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen abzustellen, mit dem „Gebot der Systemgerechtigkeit“, das sie aus Art. 3 Abs. 1 GG ableiten (ebd., S. 257). 981 Siehe BVerfGE 121, 317. 982 Vgl. Philipp Dann für die Systemgerechtigkeits- als Folgerichtigkeitsprüfung des einfachgesetzlichen Verfahrens zur Festlegung der ALG II-Regelsätze in BVerfGE 125, 175. Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (637). Er spricht ebd. von „frei schwebend[en]“ Rationalitätsanforderungen. Dem kann vorliegend nur eingeschränkt gefolgt werden, denn jedenfalls erfolgt eine Anbindung der System­ gerechtigkeitserwägungen und auch der Folgerichtigkeitsprüfung bei den ALG II-Regelsätzen an die einschlägigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe. Siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. II. 2. b) im 3. Kapitel des dritten Teils. 983 In anderen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht mit der Einheit der Rechtsordnung argumentiert, leitet es Abstimmungserfordernisse unterschiedlicher normativer Regelungen explizit aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. Siehe etwa BVerfGE 98, 106 (118 f.). Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 452.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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nicht ausgeschlossen werden, bei den numerischen Aussagen reißt in der Darstellung des Bundesverfassungsgerichts die methodische Rückbindung an die unbestimmten Verfassungsvorgaben ab und die argumentative Fundierung betrifft nicht eindeutig das jeweilige Quantifizierungsergebnis. Es findet keine argumentative Anbindung der Zahlenbestimmungen an die Verfassung und auch keine Argumentation für die konkrete Zahl über diese Anbindung hinaus statt. Der Quantifizierungsprozess bleibt, was die Festlegung der konkreten Zahlen angeht, im Dunkeln. Dies gilt sowohl für die unmittelbaren als auch die mittelbaren Quantifizierungen des Gerichts und unabhängig davon, ob das Gericht wie in der Entscheidung über eine extreme Haushaltsnotlage in Berlin (BVerfGE 116, 327) ein Wertungselement bei der Quantifizierung einräumt. Bei den unmittelbaren Quantifizierungen können die Begründungsdefizite insbesondere bei der Aufstellung eines Halbteilungsgrundsatzes für die steuerliche Höchstbelastung (BVerfGE 93, 121) nachvollzogen werden: Das Bundesverfassungsgericht integriert den Halbteilungsgrundsatz zwar in ein gestuftes Schutzkonzept des Vermögens gegenüber dem Steuerzugriff des Staates, das es auf der Grundlage des Art. 14 GG entwickelt. Es fehlt jedoch eine explizite methodische Verknüpfung von Zahl und Verfassung. Das Gericht stützt sich auf den Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG, um ­daraus ohne nähere Begründung eine 50 %-Grenze für die Vermögensbesteuerung abzuleiten („deshalb“984).985 984

BVerfGE 93, 121 (138). Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 9: „In the decision, the majority of the Senate just paraphrases the second sentence of art. 14 para. 2 and concludes without any further argumentation […].“ Tina Beyer spricht davon, der Halbteilungsgrundsatz werde vom Bundesverfassungsgericht „mit dem lapidaren Hinweis auf Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG aufgestellt[…]“. Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 149. Hinsichtlich der argumentativen Fundierung fällt eine Diskrepanz zwischen der amtlichen Begründung und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen des beteiligten Verfassungsrichters Paul Kirchhof auf, der die Interpretation von „zugleich“ mit „zu gleichen Teilen“ methodisch zu begründen sucht. Ders., Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  V, 3.  Aufl. 2007, § 118 Rn. 126 ff. (Zitat Rn. 126). Die Entstehungsgeschichte des Art. 14 Abs. 2 GG belege, dass der Begriff überhaupt über „juristischen Gehalt“ verfüge: Im Parlamentarischen Rat sei die Streichung des Begriffs diskutiert, aber abgelehnt worden. Die Wendung „zugleich“ solle darauf hinweisen, dass die Sozialpflichtigkeit des Eigentums begrenzt sei. „Zugleich“ könne seinem Wortsinn nach (Kirchhof zieht Trübners Deutsches Wörterbuch und das Grimm’sche Wörterbuch heran) sowohl „im selben Augenblick“ als auch „zu gleichen Teilen“ bzw. „in gleicher Weise“ bedeuten. Die Auslegung von „zugleich“ als „Gleichzeitigkeit [er]gäbe [im Zusammenhang des Art. 14 Abs. 2 GG jedoch] keinen oder allenfalls einen sehr blassen Sinn.“ Ebd., Rn. 127 f. (Zitate ebd.). Die numerische Auslegung zur hälftigen Teilung harmoniert mit historischen Vorstellungen von Besteuerungsgrenzen. Kirchhof verweist auf das Zweite politische Testament von Friedrich dem Großen von 1768. Ebd., Rn. 9 u. 129. Einige der Ausführungen Friedrichs des Großen im Abschnitt über die „Finanzverwaltung“ verfügen über inhaltliche und (angesichts der Kombination von Grundregel und Ausnahmeklausel) strukturelle Ähnlichkeit mit dem steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz: „Hier zeigt sich noch eine 985

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die Abwägung gegenläufiger Verfassungsinhalte und die Systemgerechtigkeitserwägungen als wiederkehrende Begründungsmuster bei der Quantifizierung führen auch jenseits der strikten Deduzierbarkeit aus den unbestimmten Verfassungsvorgaben nicht dazu, dass der durch die qualitativen und quantitativen Konkretisierungen aufgestellte Rahmen für die konkreten Zahlenfestlegungen erkennbar rational ausgefüllt würde. Die Rationalisierung im Wege der Abwägung scheitert, denn Abwägungsprozesse lassen sich innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung selbst nur eingeschränkt nachvollziehen. Dies liegt daran, dass das große Frage: muß man in Bezug auf die Steuern das Wohl des Staats oder des Einzelnen vorziehen, oder welche Partei soll man nehmen? Ich antworte, daß der Staat aus Einzelnen zusammengesetzt ist und es nur ein Wohl für den Fürsten und seine Untertanen gibt. Die Hirte scheren ihre Schafe, aber sie ziehen ihnen nicht das Fell ab. Es ist gerecht, daß jeder Einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen, aber es ist gar nicht gerecht, daß er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Souverän teilt. Bauer, Bürger und Edelmann müssen in einem gut verwalteten Staat einen großen Teil ihrer Einkünfte selbst genießen und sie nicht mit der Regierung teilen. Der einzige Fall, den ich ausnehme, in dem die Umstände dazu zwingen könnten, an die Substanz zu gehen, wäre, wenn nach dem Durchstehen eines langen Krieges alles vor dem Zusammenbruch stände, wenn es nötig wäre, einen weiteren Feldzug zu führen, um das Land zu retten oder es zu beschützen, könnte man außerordentliche Steuern erheben.“ in: Richard Dietrich (Bearb.), Die politischen Testamente der H ­ ohenzollern, Köln 1986, S. 462/463 (499, Kursivsetzung d. Verf.). Kirchhof zieht das Zweite politische Testament nicht unmittelbar zur Begründung des numerischen Verhältnisses der hälftigen Teilung heran. Es wird als Beleg dafür genannt, dass sich „in Deutschland […] Staatstheorie und Staatsrecht [bemühten], den steuerlichen Zugriff an Gleichmaß und Übermaßverbot zu binden“. Ders., Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 9. Das Bundesverfassungsgericht trage mit dem Halbteilungsgrundsatz „der Lebenserfahrung Rechnung, die schon ­Friedrich der Große praktizierte, daß nur ein Recht in Zahlen greifbare Schranken der Besteuerungsgewalt setzt, das eigentumsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip also quantifiziert werden muß.“ Ebd., Rn. 129. Den Arbeiten Kirchhofs lässt sich eine Affinität für die hälftige Teilung als verfassungsrechtlich erhebliche numerische Grenze entnehmen. Sie wird auch bei der Bewertung der Höhe der Staatsquote am Bruttoinlandsprodukt relevant: „Heute dürfte sich der Anteil des Staates an der realen Finanzmächtigkeit der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts nähern. Dadurch ist strukturell die Freiheitsverteilung zwischen freiheitsverpflichtetem Staat und freiheitsberechtigtem Privateigentümer gefährdet.“ Ders., Die Steuern, in: Josef ­Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 77. Die Begründung des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes durch Kirchhof ist vielfach angreifbar. Siehe aus der Vielzahl der kritischen Stimmen nur Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the f­ ifty-percent rule of the Federal C ­ onstitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S.  15; Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S.  147 f.; Hans-Georg ­Dederer, BVerfGE 93, 121  – Vermögensteuer, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S.  586 (590); Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß  – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (184). Zur Kritik außerdem die Ausführungen unter C. III. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. Die wissenschaftliche Arbeit Kirchhofs spielt bei der Analyse des Vermögensteuerbeschlusses allenfalls eine untergeordnete Rolle. Sie kann jedenfalls nicht zum Ausgleich fehlender methodischer Ausführungen in der amtlichen Begründung herangezogen werden. Siehe die Ausführungen unter A. II. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils.

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Grundgesetz Abwägungsergebnisse nicht vorzeichnet und auch keine Kollisionsnormen in der Verfassung existieren. Der abwägende Verfassungsrichter verfügt kaum über normative Anleitung und bewegt sich bei der Rechtsfindung gleichsam auf „freie[m] Feld“.986 Abwägung und Systemgerechtigkeitserwägungen erfolgen zwar zur Quantifizierung der verfassungsnormativen Vorgaben, begründen aber nicht die konkreten Bandbreiten verfassungsgemäßer Zahlen bzw. erklären nicht, warum bestimmte Zahlen innerhalb oder außerhalb der Bandbreiten liegen (d. h. mit der Verfassung [un-]vereinbar sind). Der Sprung von den qualitativen bzw. quantitativen Konkretisierungen zu numerischen Aussagen wird in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen nur eingegrenzt. Hinsichtlich der konkreten Zahlenfestlegungen verfügen sie über einen „blinden Fleck“. a) Fokus: Defizitäre Begründung der Quantifizierungen trotz Systemgerechtigkeitserwägungen Die Begründungsdefizite der Quantifizierungen sind im Falle von System­ gerechtigkeitserwägungen lediglich abgemildert. In den meisten Fällen systemgerechter Quantifizierungen handelt es sich bei den tatsächlichen und normativen Vergleichsgrößen um „Orientierungsgröße[n]“987 für die Quantifizierung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Die Systemgerechtigkeitserwägungen bedeuten dann eine weitgehende Begründung der Quantifizierungen durch das Gericht, denn es passt die zu generierende in ein System bestehender Größen ein. Es besteht hierbei eine präzise inhaltliche, nämlich numerische Vergleichbarkeit. Die Abstellung auf Vergleichs- als „Orientierungsgröße[n]“988 bedeutet jedoch auch, dass deren Relevanz für die Quantifizierung nicht eindeutig ist. Das Bundesverfassungsgericht umschreibt, inwieweit sie maßgeblich sind. Bei der mittelbaren Quantifizierung beschränkt sich die Überprüfung der einfachgesetzlichen Zahlen 986 Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 4 ff., 7 ff.; Heinrich Honsell, ­Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S.  1689 (1696); Zitat bei Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1982). Nach Klaus F. Röhl u. Hans Christian Röhl liegt jeder Abwägung eine Wertung zu Grunde, die sich nur begrenzt rationalisieren lässt. Sie verweisen vor allem auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, aber auch „Argumentationslast- und Optimierungstheorien“ (S. 660). Entgegen der „heimliche[n] Hintergrundtheorie“ einer „einzig[…] richtige[n]“ Abwägungsentscheidung (S. 653) gebe es „keine rechnerische oder quantifizierende Methodik der Abwägung“ (S. 654). Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 654 ff. Siehe auch Peter Lerche, nach dem Abwägungsergebnisse in Folge ihrer „Plausibilität“ jedoch i. d. R. dem „Rechtsgefühl“ entsprechen. Ders., Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 333 (351 f., Zitat S. 351). Siehe auch Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (4): „Noch unvorhersehbarer werden die Entscheidungen, wenn neben vage rechtliche Kriterien und einfache empirische Behauptungen völlig offene und unstrukturierte Abwägungsprozesse treten.“ 987 BVerfGE 81, 363 (379). 988 BVerfGE 81, 363 (379).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

durch das Gericht dann nicht auf einen rein numerischen Vergleich und die zu prüfenden Zahlen müssen unter die Bezugsgrößen nicht lediglich subsumiert werden. Die Systemkompatibilität der Quantifizierung bedeutet mehr als die logische Widerspruchsfreiheit und welche Zahlen verfassungsgemäß sind, hängt von Wertungen ab.989 Die Wertungen des Gerichts sind nach den Entscheidungsbegründungen aber nur bedingt einsehbar. Begründungsdefizite der Quantifizierungen bleiben bestehen. Zum Teil bestehen bei den systemgerechten Quantifizierungen die mit der wertenden Abstimmung auf „Orientierungsgröße[n]“990 verbundenen Unsicherheiten nicht. Das Bundesverfassungsgericht koppelt bei der Konkretisierung den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab fest an eine einfachgesetzliche Bezugsgröße. Es kommt bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines numerisch bestimmten Prüfungsgegenstands dann allein auf einen rechnerischen Vergleich mit dem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab bzw. der einfachgesetzlichen Bezugsgröße an. Das Bundesverfassungsgericht stellt eine solche Kopplung, die einen rein rechnerischen Vergleich nach sich zieht, in BVerfGE 99, 246 zwischen dem steuerverfassungsrechtlich freizustellenden Existenzminimum und den durchschnittlichen, einfachgesetzlichen Sozialleistungen her. Das Bundesverfassungsgericht bindet zwei Quantifizierungen desselben verfassungsrechtlichen Maßstabs (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG) aneinander. Sozialleistungen „in Höhe von 4.416 DM“991 sind Mindestgröße für das Existenzminimum im Steuerrecht. Eine vergleichbare Kopplung des numerischen Gehalts der Verfassung an eine einfachgesetzliche Größe findet sich in BVerfGE 99, 300.992 Die dort konstatierte Bindung der nach Art. 33 Abs. 5 GG zu gewährenden Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte an die einfachgesetzlichen Sozialhilfeleistungen lässt ebenfalls keine Wertungsspielräume offen. Es wird dort auf die einfachgesetzliche Quantifizierung vom Prüfungsmaßstab (Art. 33 Abs. 5 GG, Alimentationsprinzip) abweichender Verfassungsnormen (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG) zurückgegriffen. Das Problem verfassungsgerichtlicher Begründungsdefizite bei der Quantifizierung ist jedoch im Falle der Systemgerechtigkeit als fester Kopplung nur dann beigelegt, wenn die Konkretisierung des unbestimmten verfassungsrechtlichen zum numerischen Prüfungsmaßstab rational einsehbar ist. Das Bundesverfassungsgericht müsste die Auswahl und die Höhe bzw. Berechnung der Bezugsgröße begründen. Dem kommt es nur punktuell nach. Ein Begründungsdefizit tritt in den Fällen der Kopplung der Verfassungskonkretisierung an das einfache Recht bereits bei der Auswahl der Referenzgröße auf. Bei der Bemessung des steuerfreien Existenzminimums steht in Frage, ob sich das steuerfreie Existenzminimum des Unterhaltsverpflichteten (auch) nach dem einfachgesetzlich anerkannten Kindesunterhalt bestimmt. Nach 989 Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 439 ff., 451 f. 990 BVerfGE 81, 363 (379). 991 BVerfGE 99, 246 (265). 992 BVerfGE 99, 300 (321).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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der Entscheidung zum Familienexistenzminimum erhöht sich das steuerrechtlich zu berücksichtigende Existenzminimum des Unterhaltsverpflichteten nur um die Sozialleistungsansprüche der Unterhaltsberechtigten. Dem Bundesverfassungsgericht wird vorgeworfen, es habe die beschränkte steuerrechtliche Relevanz der Unterhaltsverpflichtungen nicht ausreichend begründet.993 Es stellt lediglich fest: „Es ist aber auch sachlich nicht geboten, die steuerliche Entlastung für kindesbedingte Aufwendungen am bürgerlich-rechtlichen Unterhalt auszurichten und sie damit letztlich nach dem sozialen Status der einzelnen Familie zu bestimmen […].“994

Allein hinsichtlich der Höhe der jeweiligen Bezugsgröße könnte die verfassungsgerichtliche Begründungspflicht eingeschränkt sein, denn zur Konkretisierung wird eine einfachgesetzliche und damit politische Größe herangezogen. Zwar sind sowohl Gericht als auch Gesetzgeber an die Verfassung gebunden (Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG), sie unterliegen jedoch unterschiedlichen Entscheidungsrationalitäten. Nur dem Bundesverfassungsgericht obliegt es, den verbindlichen Rahmen der Verfassung methodisch nachvollziehbar nachzuzeichnen, der Gesetzgeber füllt verfassungsrechtliche Entscheidungsspielräume frei gestaltend aus.995 Indes qualifiziert das Bundesverfassungsgericht die Höhe der einfachgesetzlichen Bezugsgröße, indem es sie zur Quantifizierung der Verfassung heranzieht, als verfassungsgemäß. Die verfassungsgerichtliche Begründung muss daher auch die Höhe der Bezugsgröße umfassen. In den Entscheidungen zum steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum thematisiert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, warum die einfachgesetzliche Sozialhilfe der Höhe nach eine verfassungsgemäße Konkretisierung der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG sein soll. Hinsichtlich einzelner Sozialhilfeposten ist bereits unklar, wie sie überhaupt berechnet werden sollen. In BVerfGE 99, 246 legt sich das Gericht bei der Bemessung des durchschnittlichen Sozialhilfebedarfs von Kindern hinsichtlich der Leistungen für die Unterkunft methodisch fest. Warum es der sog. Mehrbedarfs- gegenüber der Pro-Kopf-Methode den Vorzug gibt, wird begründet. Die übrigen Teilleistungen setzt es in einer bestimmten Höhe an, ohne auf die zu Grunde liegenden Berechnungsmethoden überhaupt einzugehen. Aufgrund der dargestellten Begründungsmängel ist auch die system­gerechte Quantifizierung verfassungsrechtlicher Vorgaben im Wege der Kopplung an eine einfachgesetzliche Quantifizierung nur eingeschränkt nachvollziehbar. 993 In Bezug auf den Kindesunterhalt Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 511. 994 BVerfGE 82, 60 (91). Zur Begründung der beschränkten Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums verweist das Bundesverfassungsgericht außerdem auf die Vermeidung „unverhältnismäßig[er]“ Komplexität im Steuerverfahren und darauf, dass der Unterhalt beim Kind nicht versteuert werde (ebd.). Kritik auch an diesen weiteren Argumenten des Bundesverfassungsgerichts bei Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 511. 995 Zu den unterschiedlichen Entscheidungsrationalitäten der Verfassungsrechtsprechung und der Gesetzgebung im Detail unter A. I. im 5. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

b) „I know it when I see it.“ Der Entscheidungsmodus des Bundesverfassungsgerichts findet eine Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung. In seiner abweichenden Meinung zu Jacobellis v. Ohio (1964) entscheidet der Richter am United States Supreme Court Potter Stewart über das Vorliegen von sogenannter hard-core porno­graphy wie folgt: „I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description; and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that.“996

Stewart stellt auf eine unmittelbare Anschauung des Streitgegenstands ab. Das Besondere des Entscheidungsmodus erscheint damit begründungsbedürftig, schließlich entscheiden Gerichte immer über konkrete Fälle. Der konkrete Sachverhalt tritt in Jacobellis v. Ohio hervor, denn Stewart subsumiert unter die Bereichsausnahme der im 1st Amendment verankerten Meinungsfreiheit und konkretisierte (negative) Verfassungsvorgabe hard-core pornography,997 ohne sie zuvor näher zu definieren. Die Formulierung „I know it when I see it“ ist apodiktisch. Es klingt außerdem das Kriterium der Evidenz an. Stewart schlüsselt seine Entscheidung auch hernach nicht in einzelne Erklärungsstränge auf, verzichtet also sowohl auf eine vorgeschaltete als auch nachgeschaltete Begründung. „Eine nachvollziehbare Subsumtion eines Sachverhalts unter abstrakte Rechtssätze findet nicht statt.“ „Die entscheidungserheblichen Kriterien [„bleiben“] im Dunkeln“.998 Auch wenn die Entscheidung letztlich nicht nachvollziehbar ist – Stewart gewährt einen Einblick in den tatsächlichen Entscheidungsfindungsprozess. Er legt offen, dass er nähere Kriterien zur Entscheidung nicht angewandt hat bzw. sich außerstande sieht, solche auszuformulieren. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Quantifizierung ist vergleichbar, denn es entscheidet aus der unmittelbaren Anschauung möglicher Quantifizierungsergebnisse und ersetzt Begründungszusammenhänge durch Apodiktik.

996

Jacobellis, 378 U. S. at 197 (Stewart, J., concurring), Kursivsetzung durch Verf. Der Entscheidungsmodus Stewarts taucht auch in anderen Zusammenhängen auf. Hans Singer wird die Äußerung zugeschrieben, informelle Arbeit könne ebenso wenig wie eine Giraffe definiert werden. Man erkenne sie jedoch, sobald man sie sehe. Andreas Eckert, Beziehungsarbeit ist kein Fall von Schwarzarbeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Februar 2013, S. N 4. 997 Zu den Bereichsausnahmen des First Amendment gehören obszöne Äußerungen. Deren Abgrenzung von verfassungsrechtlich geschützten Meinungsäußerungen war vor der Etablierung des „Miller-Tests“ (Miller v. California) umstritten. In die Auseinandersetzung fällt auch die dargestellte abweichende Meinung von Stewart. Hierzu Martin Empt, Virtuelle Kinder­ pornografie als verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit?, ZUM 2002, S. 613 (615 f., Zitat S. 616). 998 Thorsten Feldmann, Werbung im Internet für erotische Dienstleistungen, jurisPR-ITR 11/2008 Anm. 5 zu OLG Zweibrücken, Beschluss vom 07.04.2008 – 1 Ss 178/07 (Zitate ebd.).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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aa) Verfassungsgerichtliche Quantifizierung aus der unmittelbaren Anschauung konkreter Zahlenwerte Die Parallele zum Sondervotum Stewarts wird insbesondere bei der mittelbaren Quantifizierung deutlich. Das Bundesverfassungsgericht subsumiert einfach­gesetz­ liche Zahlen bzw. stellt bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung auf die tatsächlichen numerischen Anknüpfungspunkte oder Folgewirkungen einfacher Gesetze ab, ohne den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab zuvor abstrakt numerisch zu definieren.999 Es hebt sich dadurch von seinem regulären Entscheidungsmodus ab, selbst wenn es von der Konkretisierung des Entscheidungsmaßstabs vor dessen Anwendung auf den jeweiligen Streitgegenstand nicht völlig absieht. Zwar ist es ein allgemeines Phänomen, dass bei der Subsumtion ein nicht in derselben Intensität konkretisierter Prüfungsmaßstab und -gegenstand aufeinander treffen.1000 Die Diskrepanz ist indes besonders groß, wenn (exakte)  Zahlen unter (notwendigerweise unbestimmte, weil) nichtnumerische Maßstäbe subsumiert werden. Und auch wenn die Bedeutung normativer Vorgaben allgemein im Hinblick auf einen konkreten Fall bestimmt wird,1001 gilt dies wiederum insbesondere für unbestimmte Rechtsbegriffe und mehr noch für ihre mittelbare Quantifizierung.1002 Ihre Bedeutung ist weniger als in den übrigen Fällen vorgegeben1003 und eine Zahlenzuschreibung erfolgt überhaupt erst über die Subsumtion. Bei der Beurteilung des Vorliegens einer Haushaltsnotlage in der Finanzausgleichsrechtsprechung tritt die Quantifizierung aus der unmittelbaren Anschauung des konkreten Falls deutlich hervor. Das Bundesverfassungsgericht verzichtet zunächst nicht nur auf eine abstrakte numerische Definition, sondern überhaupt auf eine gestufte Konkretisierung des Entscheidungsmaßstabs. Erst im Berlin-­Urteil vom 19.  Oktober 2006 (BVerfGE 116, 327) stellt es vom konkreten Fall losgelöste, absolute und relative Kriterien einer (extremen) Haushaltsnotlage auf. Die­ 999 Wie bei Stewart klingt teils der Rückzug auf eine Evidenzprüfung an, siehe nur BVerfGE 186, 148 (259): „Jedenfalls liegt eine Haushaltsnotlage vor, wenn […].“ Teils ist die Kontrollintensität explizit weiter gefasst und dies wird dann auch in einigen Fällen methodisch reflektiert. Hierzu ausführlich bei der Herausarbeitung typischer Merkmale der mittelbaren Quanti­ fizierung unter A. II. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1000 Siehe die Ausführungen unter A. I. 3. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1001 Siehe hierzu ebenfalls bereits unter A. I. 3. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1002 Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 58 f. Bayer illustriert die Relevanz des konkreten Falls für die Bedeutung der normativen Vorgaben anhand einer mittelbaren Quantifizierung im Strafrecht: „Zu den Schutzgütern der einfachen Brandstiftung, § 308 StGB, gehört auch eine ‚Waldung‘. Was ist eine Waldung? Die typisch juristische Antwort lautet: ‚Das kommt darauf an‘. Es wird nämlich nicht abstrakt entschieden, wieviel Bäume ein Baumbestand haben muß, um eine Waldung zu sein, sondern es wird von Fall zu Fall erwogen, ob ein Untersatz von der Art: ‚Dieser Baumbestand ist eine Waldung im Sinne des § 308‘ möglich ist oder nicht. Dies hängt dann unter anderem von der topographischen Beschaffenheit der landschaftlichen Umgebung ab.“ Ebd., S. 59. 1003 Zur „vorgegebenen“ Bedeutung als Idealisierung und Ansatzpunkt für die Rechtsbindung siehe unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Haushaltsnotlage wird dann anhand der tatsächlichen Verhältnisse quantifiziert und das Gericht unternimmt eine eingehende finanzwissenschaftliche Analyse der budgetären Situation in den Ländern. Das Bundesverfassungsgericht reflektiert den eigenen Entscheidungsmodus und macht wiederum vergleichbar mit Stewart in Jacobellis v. Ohio die eigene Methodik, die es bereits zuvor bei der Entscheidung über die vom Saarland und Bremen beanspruchten Ergänzungszuweisungen angewandt hat (BVerfGE 86, 148), explizit. Das Bundesverfassungsgericht nimmt zur Möglichkeit der abstrakten Definition, weitergehend der unmittelbaren Quantifizierung einer relativen Haushaltsnotlage Stellung und beleuchtet damit einen Konkretisierungsschritt bei der Anwendung unbestimmter verfassungsrechtlicher Vorgaben, den es in den meisten anderen Fällen mittelbarer Quantifizierung und bei den weiteren Beispielsfällen im Sachbereich des Finanzausgleichs ausnahmslos auslässt, ohne hierauf hinzuweisen. „Was im Einzelnen unter einer  – relativen  – Haushaltsnotlage zu verstehen ist, lässt sich verfassungsrechtlich nicht generell abstrakt bestimmen, insbesondere nicht präzise quantifizieren. Erforderlich wird stets eine vergleichende Gesamtbewertung der Finanzlage in der bundesstaatlichen Gemeinschaft mit Hilfe aussagekräftiger und möglichst klar definierter haushaltswirtschaftlicher Kennzahlen sein, kombiniert auch mit Pro-Einwohner-Zahlenangaben. Ein für allemal feststehende Ziel- oder Schwellenwerte gibt es insoweit nicht. Vielmehr dienen verschiedene mit aktuellen Daten zu berechnende Indikatoren als Orien­ tierungspunkte für vertretbare Zahlenkorridore, um im länderübergreifenden Vergleich haushaltswirtschaftliche Situationen bewerten und für gewisse Zeiträume prognostizieren zu können […]. Einfache quantitative Relationen – etwa zu den mit Hilfe von Kennzahlen festzustellenden Differenzen zwischen der Haushaltslage verschiedener Länder – kann es für die Bestimmung der Schwelle zu einem potentiell Sanierungspflichten und -ansprüche auslösenden ‚bundesstaatlichen Notstand‘ schon deshalb nicht geben, weil immer die Frage zu beantworten bleibt, wieweit das Land selbst noch über eigene Potentiale zur Verhinderung oder Behebung eines solchen Notstands verfügt. Dies muss dazu führen, dass die quantitativen Elemente, die der Senat in seiner Entscheidung im Jahr 1992 für die Bestimmung so genannter einfacher und so genannter extremer Haushaltsnotlagen herangezogen hat […], nicht mehr ohne weiteres fortzuschreiben, sondern verschärfend zu ergänzen sind.“1004

Der Ausschluss einer abstrakten Definition der relativen Haushaltsnotlage  – sei es im Wege qualitativer, quantitativer oder numerischer Kriterien  – bedeutet also, dass die prinzipielle Abbildbarkeit einer Haushaltsnotlage in haushaltswirtschaftlichen Kennzahlen nicht Ausgangspunkt für das Bundesverfassungsgericht ist, allgemeingültige „Ziel- oder Schwellenwerte“ bzw. „einfache quantitative Relationen“ anhand eines abschließenden Kreises „aussagekräftiger“ Indikatoren zu formulieren. Über das Vorliegen einer relativen Haushaltsnotlage entscheidet von Fall zu Fall der konkrete Vergleich der haushaltswirtschaftlichen Lage der Gliedstaaten. Die Erfassung der Haushaltslage über Indikatoren ist dabei immer nur Ausgangspunkt einer wertenden Gesamtbetrachtung des Gerichts. Bei der­ 1004

BVerfGE 116, 327 (389, bis auf die Wendung „nicht geben“ Kursivsetzung durch Verf.).

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Entscheidung über eine Haushaltsnotlage wird mehr noch als bei den sonstigen Fällen mittelbarer Quantifizierung offenbar, dass numerische Aussagen über die verfassungsrechtlichen Vorgaben getroffen werden können und von den Besonderheiten des Einzelfalls gleichwohl nicht abgesehen werden muss. Die numerischen Aussagen sind situativ; sie gelten nur für den entschiedenen Einzelfall. Es erweist sich die besondere Kontextabhängigkeit mittelbarer Quantifizierungen. Frühere Entscheidungen über das Bestehen einer Haushaltsnotlage sind nur begrenzt anschlussfähig. Die finanzwissenschaftlichen Daten, die zur Begründung oder Ablehnung einer Haushaltsnotlage dienen, können nur punktuell Auskunft über „vertretbare Zahlenkorridore“ geben. Bei welchen finanzwissenschaftlichen Werten sich ein Land in einer Haushaltsnotlage befindet, lässt sich damit für zukünftige Konstellationen nicht verlässlich vorhersagen.1005 Dieser Prüfungsmodus des Bundesverfassungsgerichts im Berlin-Urteil (BVerfGE 116, 327) zeichnet sich bereits im vorausgegangenen Normenkontrollantrag des Berliner Senats und den Stellungnahmen der Bundesregierung sowie der Ländermehrheit ab. Nach Ansicht des Berliner Senats kommt es nicht auf die Überschreitung bestimmter „Grenzwert[e]“, sondern das „Gesamtbild“ zur Feststellung einer Haushaltsnotlage an.1006 Die richterliche Entscheidungsfindung aus der unmittelbaren Anschauung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne Stewarts kommt hier terminologisch zum Ausdruck. Die Bundesregierung und die Mehrzahl der Länder halten ebenfalls „die rein formale Erfüllung bestimmter Schwellenwerte […] zur Feststellung einer extremen Haushaltsnotlage nicht“1007 für ausreichend und verweisen darauf, dass „als nicht abschließend zu verstehende Indikatoren – im Sinne symptomatischer, situationsbezogener und numerisch erfassbarer Sachverhalte – […] verschiedene Verhältnisbestimmungen in Betracht [„kämen“].“1008 Der Entscheidungsmodus der unmittelbaren Anschauung gilt ebenso für die unmittelbare Quantifizierung, auch wenn in diesem Zusammenhang die Verfassungsvorgaben auf der Maßstabsebene vor der Subsumtion des konkreten Einzelfalls zu Zahlen konkretisiert werden. Die konkreten Zahlenwerte werden nicht 1005

In diesem Sinne gehen auch die Bundesregierung und die Ländermehrheit in ihrer Stellungnahme davon aus, dass „eine unbesehene Übertragung der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1992 für die Beurteilung der damaligen Haushaltssituationen Bremens und des Saarlands herangezogenen Indikatoren Kreditfinanzierungsquote und Zins-Steuer-Quote auf die Haushaltssituation Berlins […] die vom Bundesverfassungsgericht intendierte Funktion der Indikatoren [„verkenne“]. Nicht der Indikator als Wert an sich sei ausschlaggebend. Maßgebend sei vielmehr das Vermögen der Indikatoren, Rückschlüsse auf eine bestimmte Haushaltssituation zu ermöglichen.“ BVerfGE 116, 327 (344). 1006 „Weder der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch dem Maßstäbegesetz lasse sich entnehmen, welchen Grenzwert die genannten Parameter überschreiten müssten, damit von einer Haushaltsnotlage gesprochen werden könne.“ BVerfGE 116, 327 (335). „Auch insoweit sei auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe zurückzugreifen und darauf abzustellen, ob das Gesamtbild der Haushaltslage dem gleichwertig erscheine, was 1992 für Bremen und das Saarland gegolten habe.“ BVerfGE 116, 327 (336). 1007 BVerfGE 116, 327 (344). 1008 BVerfGE 116, 327 (344).

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im Wege lückenloser methodischer Rationalität begründet, sondern das Bundesverfassungsgericht legt aus der Ansehung möglicher Werte eine Zahl bzw. Bandbreite von Zahlen als verfassungsgemäß fest („I know it when I see it […].“1009). Der Entscheidungsmodus bei der mittelbaren und unmittelbaren Quantifizierung ist letztlich derselbe: Das Gericht trifft in Anbetracht konkreter Zahlenwerte eine Entscheidung über den numerischen Gehalt der Verfassungsvorgaben. Gegenüber Stewart lassen sich zwei Unterschiede ausmachen. In den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen werden methodische Erwägungen angestellt. Welcher Zahlenwert verfassungsgemäß ist, wird dadurch zumindest eingeschränkt. Und auch wenn das Gericht zum Teil die Möglichkeit einer unmittelbaren Quantifizierung ausschließt, es legt seinen Entscheidungsmodus der unmittelbaren Anschauung nicht ebenso radikal wie Stewart offen. bb) Ersetzung von Begründungszusammenhängen durch Apodiktik Wenn von tatsächlichen Defiziten, von „blinden Flecken“ in den Entscheidungsbegründungen die Rede ist, handelt es sich nicht um explizite Leerstellen. Uwe Volkmann konstatiert angesichts der Aufstellung einer absoluten Grenze für die unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung durch das Bundesverfassungsgericht, dass „Apodiktik“ die methodische Herleitung „ersetzt“.1010 Zwar mag jede Entscheidung notwendigerweise apodiktisch erscheinen  – es wird dadurch ihre Unentscheidbarkeit verdeckt1011 und die auf der Unentscheidbarkeit beruhende, daher unumgehbare Uneinsehbarkeit ihrer Generierung findet auf der Begründungsebene eine Entsprechung (die Entscheidung ist dann auch insoweit „Mysterium“1012)1013 –, die Quantifizierung hebt sich wiederum graduell ab. Volkmann verweist im Urteil zur Parteienfinanzierung vom 9.  April 1992 (BVerfGE 85, 264) auf „Formulierungen wie ‚muß als hinreichend angesehen werden‘ oder ‚es kann ausgegangen werden‘“.1014 Ähnliche Formulierungen finden 1009

Jacobellis, 378 U. S. at 197 (Stewart, J., concurring). Ders., Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (329). Siehe auch Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (200). 1011 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S.  69 (81): „In diesem Gespräch der Rechtsprechung mit sich selbst wird das Anderssein-Können der Entscheidung immer latent gehalten, es wird verdrängt.“ Zur Unentscheidbarkeit jeder (gerichtlichen) Entscheidung unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1012 Die Charakterisierung der Entscheidung als „Mysterium“ geht auf Jaques Derrida zurück. Siehe hierzu Fn. 1273 im dritten Teil. 1013 Zur Uneinsehbarkeit der Entscheidungsgenerierung unter E. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1014 Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (329, Zitat ebd.). In der Verfassungsgerichtsentscheidung finden sich die dargebrachten Formulierungen auf S. 291. 1010

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sich auch im Zusammenhang weiterer numerischer Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, etwa in den Entscheidungen zum horizontalen Finanzausgleich und zu der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen. Die Beobachtungen Volkmanns gelten für die Feststellung der fehlenden Ausgleichsrelevanz bestimmter Ländereinnahmen („Das höchste Aufkommen einer dieser […] Steuern […] beträgt […] etwas über 300 Mio. DM. Damit erreicht es noch nicht das Volumen, welches […] als ausgleichsrelevant anzusehen ist […].“1015), die Überprüfung des Umfangs der horizontalen Finanzausgleichsleistungen („Das erste [eine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit der gebenden Länder] ist nicht der Fall, da […]“1016) sowie des Vorliegens einer Haushaltsnotlage als Voraussetzung von (Sonderbedarfs-)Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG („Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offen bleiben. Jedenfalls liegt eine Haushaltsnotlage vor, wenn, wie im Saarland […].“1017). Die Apodiktik bei der Feststellung einer Haushaltsnotlage ist abgemildert. Jedenfalls steht sie in Diskrepanz zur detaillierten finanzwissenschaftlichen Analyse der tatsächlichen budgetären Situation. Obschon das Bundesverfassungsgericht im Berlin-Urteil (BVerfGE 116, 327) zudem sein wertendes Vorgehen offen einräumt, ist die Wertungsentscheidung selbst (Warum bedeutet die numerisch umrissene Haushaltslage [k]eine Notlage und Leistungsschwäche im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG?) in der Begründung wenn überhaupt nur bedingt einsehbar. Der Zusammenhang zwischen der über Indikatoren erfassten Haushaltssituation und deren Bewertung als Notlage kann aufgrund des Fehlens abstrakter Maßstäbe nicht nachvollzogen werden.1018 Apodiktische Formulierungen finden sich außerdem bei der Bestimmung des zulässigen Maßes regulärer Bundesergänzungszuweisungen („Dies zeigt eindeutig, daß es sich beim Saarland und bei Bremen um Sanierung, nicht mehr um Hilfe zur Selbsthilfe handelt.“1019) und außerhalb der Finanzausgleichsrechtsprechung bei der Überprüfung der Höhe der Steuerbelastung („Für den Streitfall ist nicht erkennbar, dass eine verfassungsrechtliche Obergrenze […] erreicht wäre.“1020) nach Verwerfung eines allgemeinen steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes im Beschluss vom 18. Januar 2006 (BVerfGE 115, 97). Letztlich liegt die Apodiktik, die Volkmann in der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur Parteienfinanzierung ausmacht, darin: Die (fehlende) Verfassungsmäßigkeit der Zahlen wird in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen ohne argumentative Anbindung an die (konkretisierten) verfassungsrechtlichen Vorgaben bzw. das (fehlende) Vorliegen einer (konkretisierten) verfassungsrechtlichen Vorgabe wird angesichts der zur Prüfung stehenden Zahlen lapidar festgestellt. Das 1015

BVerfGE 86, 148 (225). BVerfGE 1, 117 (131). 1017 BVerfGE 86, 148 (259). 1018 BVerfGE 116, 327 (389). 1019 BVerfGE 86, 148 (263). 1020 BVerfGE 115, 97 (117). 1016

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Bundesverfassungsgericht leitet Zahlen aus nicht numerisch konkretisierten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäben ab, ohne Einsicht in diesen Prozess zu gewähren oder ihn zu problematisieren.1021 Dabei erweckt es den Anschein, als rechtfertigten die dargebrachten Argumente zur qualitativen und quantitativen Konkretisierung der Verfassung auch die numerischen Aussagen. Die tatsächliche Entscheidungsfindung, insbesondere die Dezision des Gerichts, ist nicht unmittelbar einsehbar. Dieses Vorgehen stimmt mit der Beobachtung Katharina v. Schlieffens überein, nach der das Gericht rhetorische Stilmittel vor allem an zentralen Passagen und anstatt einer rationalen, insbesondere normgebundenen Argumentation einsetzt.1022 Sie weist Stilmittel der Überbrückung argumentativer Lücken zu, die bei der Deduktion einer Entscheidung aus einer Rechtsnorm auftreten und umso wahrscheinlicher seien, „je größer [ein] […] gedankliche[r] Sprung“ innerhalb einer als „Begriffstransformation[…]“ verstandenen Deduktion ausfiele.1023 Der größte „gedankliche Sprung“ aber liegt zwischen der unbestimmten Verfassungsbestimmung und der konkreten Zahl. Das Stilmittel der apodiktischen Sprechweise suggeriert einerseits, dass die Ableitung der konkreten Zahl aus der Verfassung keiner Begründung bedarf, sondern sich zwangsläufig aus den nichtnumerischen Konkretisierungsschritten im Quantifizierungsprozess ergibt, und hält dadurch einen allgemeinen Eindruck methodischer Rationalität aufrecht. Das Bundesverfassungsgericht folgt bei den Quantifizierungen seinem regulären Modus der Entscheidungsbegründung, bei der es sich einer „Rhetorik der Stringenz [bedient] und […] Zweifel oder Unsicherheit“ übergeht.1024 Andererseits macht zu viel Sicherheit auch misstrauisch, ob die Entscheidung nicht auch anders hätte ausfallen können.1025 Jedenfalls erschwert die Apodiktik in der Begründung den Diskurs als nachträgliche, kompensatorische Rationalisierung und Sicherstellung der demokratischen Rückbindung judikativer Herrschaft.1026 Sie könnte nicht auf der stilistischen Oberfläche der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, ihrem „Pathos“1027 verhar 1021 Problematisiert wird nur die (Un-)Möglichkeit einer unmittelbaren Quantifizierung (siehe die Ausführungen unter A. I. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils), nicht die Quantifizierung schlechthin. 1022 Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (122 f., 134). 1023 Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (131, Zitat ebd.). 1024 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 611. 1025 Vgl. Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (79). 1026 Vgl. hierzu Dieter Grimm, Was das Grundgesetz will, ist eine politische Frage, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 2011, S. 30. 1027 Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (118 f., 121 f.).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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ren, sondern im Gegensatz zur Uneinsehbarkeit der Entscheidung selbst1028 als undemokratische Sprechweise im Widerspruch zur Institution, die sie verwendet, und der politischen Ordnung, in die sie eingebunden ist, stehen. Das Bundesverfassungsgericht, das in den ihm zugewiesenen Fällen eine Entscheidung fällen muss, steht damit vor einem Dilemma.1029 Es ist zu befürchten, dass die Aufdeckung einer irrationalen im Sinne einer nicht argumentativ am Maßstab von Normen oder sonst rational begründeten bzw. begründbaren Entscheidungsfindung der Akzeptanz der Entscheidungen entgegensteht. Wenn mehr noch die Unentscheidbarkeit Charakteristikum der Entscheidung ist,1030 könnte Apodiktik bei der Entscheidungsdarstellung unvermeidbar sein.

B. Zahlen und Zahlenbezug außerhalb bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen Zahlen, aber keine verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen liegen bei den Bezifferungen durch das Bundesverfassungsgericht vor (I). Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts verfügen außerhalb der Quantifizierungen außerdem bei den Verfahrensvorgaben für den Gesetzgeber über einen Zahlenbezug (II).

I. Bezifferungen1031 Von den Quantifizierungen sind die Bezifferungen des Bundesverfassungsgerichts zu unterscheiden. Wie die Quantifizierungen sind sie Ausdruck der besonderen Zahlenprägung der vorliegend analysierten Entscheidungen. Sie dienen im Ausgangspunkt immer der Erfassung tatsächlicher Zusammenhänge in Zahlen. Bezifferungen liegen vor, wenn das Gericht den zu beurteilenden Sachverhalt durch finanzwissenschaftliche Berechnungen aufbereitet. Hierzu werden Tat­sachen in Zahlen abgebildet, an die zur Prüfung stehende einfachgesetzliche Bestimmungen anknüpfen, bzw. deren tatsächlichen, numerischen Folgewirkungen beschrieben. Bezifferungen liegen außerdem dann vor, wenn das Gericht tatsächliche und einfachgesetzliche Vergleichsgrößen zur Bewertung des numerisch bestimmten Prüfungsgegenstands angibt. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich bei den Bezifferungen auf externe Quellen. Die relevanten Daten sind in einigen Entscheidungen tabellarisch zu 1028 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (75 ff.). 1029 Siehe auch die Ausführungen unter E. I. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils, zum Entscheidungszwang des Bundesverfassungsgerichts bei der Quantifizierung unter B. im 6. Kapitel des dritten Teils. 1030 Siehe hierzu sogleich bei der Erörterung der Quantifizierungsmethodik unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1031 Siehe hierzu bereits unter B. im 1. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

sammengestellt und abgedruckt. Das Gericht integriert mit der rechnerischen Darstellung des Länderfinanzausgleichs 1998 durch das Institut für Angewandte Mathematik der Universität Karlsruhe1032 und einer Zusammenstellung haushaltswirtschaftlicher Kennzahlen durch das Statistische Bundesamt1033 extensive Tabellen mit Zahlen in die Entscheidungen zum Finanzausgleich. In den Entscheidungen zum steuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum und zu den Besoldungszuschlägen kinderreicher Beamter stellen die rezipierten Daten die durchschnittlich gewährten Sozialhilfeleistungen sowie weitere tatsächliche und einfachgesetzliche Vergleichsgrößen dar. Zum Teil nimmt das Bundesverfassungsgericht selbst Berechnungen vor. Es setzt sich außerdem mit der Methodik bei der Berechnung der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen, der Bezugsgröße für das durch den Steuergesetzgeber aus verfassungsrechtlicher Sicht zu verschonende Existenzminimum, auseinander.1034 Wenn das Bundesverfassungsgericht rechnet, verstößt es nicht gegen die Methodenvorgaben des Grundgesetzes. Die Rechenarbeit ist nach den verfassungsrechtlichen Methodenanforderungen („Iudex non calculat.“) nicht pauschal aus dem Aufgabenkreis des Richters ausgeschlossen.1035 Auch wenn rechtliche Entscheidungen nicht berechnet werden können, kann und darf das Bundesverfassungsgericht zur Ermittlung rechtlich relevanter Tatsachen rechnen. Das geforderte wertende Vorgehen bei der Entscheidungsfindung wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt.1036 Das Bundesverfassungsgericht rechnet richtig. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage nach der ökonomischen Sinnhaftigkeit der Berechnungen und der Widerspruchsfreiheit seiner Rechenmethoden.1037 Bezifferungen sind keine Quantifizierungen, denn sie führen nicht per se zur numerischen Konkretisierung des jeweils einschlägigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Es fehlt ihnen für sich genommen das für die Quantifizierung notwendige Bewertungsmoment.1038 Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Bezifferungen jedoch zum Teil zum Ausgangspunkt seiner Quantifizierungen. 1032

BVerfGE 101, 158 (186 ff.). BVerfGE 116, 327 (362 ff.). 1034 BVerfGE 99, 246 (262 f.). 1035 Missverständlich Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 3. Aufl. 1983, S. 102 Nr. 150 (Zitat ebd.). 1036 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1037 Beides verneint Peter Bareis, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der einfachgesetzlichen Regelungen zum Familienlastenausgleich das Kindergeld in einen Kinderfreibetrag umrechnet, um es zum tatsächlichen Kinderfreibetrag zu addieren und am Maßstab der durchschnittlich gewährten Sozialleistungen zu Gunsten von Kindern zu messen. Ders., Begründungsmängel in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zum Kinderlastenausgleich, DStR 1991, S. 1164. Zum kritisierten Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60) siehe die Ausführungen unter A. II. 2. a) dd) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1038 Für die richterliche Normkonkretisierung im Privatrecht Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 251, 264 f. (Zitat S. 265). Röthel grenzt die gesetzlich eröffnete bzw. autonome judikative Rezeption externer Quantifizierungen von der Inbezugnahme reiner Tatsachen- bzw. Entscheidungssammlungen ab. Als Beispiele dienen u. a. der ­Mietspiegel (ebd., 1033

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

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Zumeist liegen die Bezifferungen mittelbaren Quantifizierungen zu Grunde. Dies ist der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht anhand des rechnerisch ermittelten Gesetzesinhalts über dessen Verfassungsmäßigkeit entscheidet. Es beziffert den Prüfungsgegenstand; die Bezifferungen wiederum dienen der Begründung des (Nicht-)Vorliegens der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Sie geben über die Subsumtion Einblick in den numerischen Gehalt der Verfassung, führen mithin zu ihrer mittelbaren Quantifizierung. Die ursprünglich den Tatsachenfestfeststellungen zuzuordnenden Berechnungen werden dadurch in den Rang normativer Aussage gehoben. Nur insoweit kann dann davon die Rede sein, das Bundesverfassungsgericht berechne nicht numerisch bestimmte Tatbestandsmerkmale im Grundgesetz. Bezifferungen bzw. bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen auf der Grundlage der Bezifferungen bedeuten nicht, dass das Gericht Zahlen im Wege eines Rechenprozesses aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben deduziert und seine Berechnungen dienen umgekehrt nicht der unmittelbaren methodischen Rückbindung einfachgesetzlich festgelegter Zahlen an die unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben. Beispielsfälle für mittelbare Quantifizierungen, die sich auf tatsächliche Berechnungen stützen, finden sich in den Urteilen zum Finanzausgleich. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert, indem es die Regelungen im Finanzausgleichsgesetz (FAG) wegen ihrer numerisch bestimmten tatsächlichen Anknüpfungspunkte bzw. Folgewirkungen für verfassungsgemäß bzw. -widrig erklärt. Wenn das Gericht die horizontalen Finanzausgleichsleistungen zu den Gesamtausgaben der Länder in Bezug setzt, überprüft es anhand der Folgewirkungen der einfachgesetzlichen Finanzausgleichsregelungen eine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit der Länder und damit die Angemessenheit des Finanzkraftausgleichs im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG. Im Zusammenhang der Bundesergänzungszuweisungen entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob finanzwissenschaftliche Kennzahlen die Annahme einer (extremen) Haushaltsnotlage und eine Leistungsschwäche im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht stellt auch in seinem Urteil zur Parteienfinanzierung vom 9. April 1992 (BVerfGE 85, 264) tatsächliche Berechnungen an. Dies gilt wider den ersten Anschein nicht für die absolute Grenze der Parteienfinanzierung und unmittelbare Quantifizierung des Art. 21 Abs. 1 GG. Ihr liegen keine tatsächlichen Berechnungen zu Grunde, die absolute Grenze der Parteienfinanzierung ist auf der Grundlage der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nur berechenbar. Etwas anderes gilt für die Beurteilung der in das Parteiengesetz integrierten Chancenausgleichsregelung. Das Gericht ermittelt deren Folgen für die Finanzausstattung der Parteien und stützt sich dabei auf eine Berechnung des Chancenausgleichs durch die Bundestagsverwaltung für das Jahr 1990, die es im Urteil in einer tabellarischen Übersicht veröffentlicht.1039 Es S.  255 f.), die „Schwacke“-Liste (ebd., S.  265 f.) und die „Schmerzensgeldtabellen“ (ebd., 266 ff.). Zahlen, die originär zur Tatsachenbeschreibung eingesetzt werden, könnten der judikativen Quantifizierung der Entscheidungsmaßstäbe aber als Ausgangs- und Anhaltspunkt dienen (ebd., S. 268). 1039 BVerfGE 85, 264 (308 f.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

handelt sich hierbei um die Feststellung von Tatsachen, die allerdings nicht zur mittelbaren Quantifizierung der Verfassung führt. Das Bundesverfassungsgericht stellt lediglich fest, dass die Ungleichbehandlung der Parteien in Folge der Steuerbegünstigung von Beiträgen und Spenden tatsächlich nicht ausgeglichen wird. Es erklärt die Regelungen des Chancenausgleichs für verfassungswidrig, ohne dass es auf konkrete Rechenergebnisse ankäme oder diese explizit in Bezug genommen würden. Die Heranziehung tatsächlicher und einfachgesetzlicher Vergleichsgrößen zur Bewertung des numerisch bestimmten Prüfungsgegenstands durch das Bundesverfassungsgericht betrifft die Maßstabsebene der Entscheidung, führt aber nicht zwangsläufig zur (unmittelbaren) Quantifizierung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. In einigen Entscheidungen zum steuerfreien Existenzminimum und der Besoldung kinderreicher Beamter ist dies jedoch der Fall. Das Gericht erhebt dort die durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen als einfachgesetzliche Vergleichsgröße vor der Subsumtion zum numerischen Inhalt der Verfassungsvorgaben. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert somit die Verfassung von den Bezifferungen ausgehend nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar.

II. Verfahrensvorgaben für den quantifizierenden Gesetzgeber Das Bundesverfassungsgericht formuliert Verfahrensvorgaben für die Zahlengenerierung durch den einfachen Gesetzgeber. Es macht sich zur Sicherstellung der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch die einfachgesetzliche Konkretisierung und zur Rationalisierung der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung1040 ein Instrument zu Nutze, das bereits im geschriebenen Verfassungstext Ver 1040 Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S.  81 (84, 87). Auch Philipp Dann deutet die Ausweitung verfahrensrechtlicher Anforderungen als gewandeltes Verständnis gesetzgeberischer Rationalität bzw. als eine Erhöhung der Rationalitätsanforderungen an den Gesetzgeber. Er spricht von einem „allgemeine[m] Rationalitätserfordernis“, einem „Rationalitätsargument“, „verfassungsgerichtliche[n] Rationalitätserwartungen“ bzw. „Rationalitätsgeboten“. Die Rationalitäts- bedeutet demnach eine Folgerichtigkeitsprüfung. Die in der vorliegenden Arbeit neben dem Folgerichtigkeitskriterium angelegten Rationalitätsstandards sind bei Dann Teil der Folgerichtigkeitsprüfung, siehe hierzu bereits Fn. 938 im dritten Teil. Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (630 f., Zitate ebd.). Nach Christoph Möllers kreiert das Bundesverfassungsgericht in der Hartz  IV-Entscheidung ein „Recht auf ein rationales Gesetzgebungsverfahren“. Ders., Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (385). Ein Beispiel für die Rationalisierung der Entscheidungsfindung des Gesetzgebers durch Verfahrensvorgaben findet sich bereits in BVerfGE 116, 327. Allerdings werden dort den Ländern, nicht dem Finanzausgleichsgesetzgeber Verfahrenspflichten auferlegt. Sie sollen dem Problem der Bewertung verbleibender Handlungsmöglichkeiten der Länder in Haushaltsnotlagen abhelfen. „Dem in diesem Zusammenhang auftretenden Problem notwendiger, politisch aber wohl immer umstrittener Bewertung noch vorhandener Handlungsmöglichkeiten des Landes ist mit Hilfe angemessener und zumutbarer Ausgestaltung der Darlegungs- und Begründungslasten zu begegnen.“ Ebd., S. 391.

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wendung findet (siehe nur Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 Satz 2 GG für die Festsetzung der Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern durch den Gesetzgeber).1041 Verfahrensvorgaben sind Teil  der Entscheidungen zum Finanzausgleich, zum steuerfreien Existenzminimum, zu den Hartz IV-Regelsätzen und den monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG, zur W-Besoldung von Hochschullehrern und zu den Besoldungszuschlägen für kinderreiche Beamte. Die Zahlen, deren Generierung das Bundesverfassungsgericht beeinflusst, sind teils Inhalt (Bsp.: Grundleistung nach dem AsylbLG), teils nicht ausdrücklich normierte Vergleichsgröße (Bsp.: maßgebliche Sozialhilfeleistungen für die Höhe des steuerfreien Existenzminimums) oder Folge der einfachgesetzlichen Bestimmungen (Bsp.: Höhe der Zahlungen im horizontalen Finanzausgleich). Nur in einigen Fällen, etwa bei der Ermittlung der horizontalen Finanzausgleichszahlungen oder des Hartz IV-Regelsatzes, hat der Gesetzgeber die Festlegung von Zahlen ausdrücklich geregelt. Eine Sonderstellung nehmen die Verfahrensvorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen zum Ehegattensplitting und der einstweiligen Anordnung zur Platzvergabe im „NSU-Prozess“ ein. Das Gericht formuliert Zahlen als Verfahrensvorgaben. Es handelt sich um bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen der einschlägigen unbestimmten Verfassungsvorgaben. Bei den Berechnungen des Gesetzgebers geht es nur vordergründig um die Abbildung tatsächlicher Zusammenhänge in Zahlen. Wenn der Gesetzgeber die tatsächliche Finanzkraft der Länder oder das Existenzminimum als Grundlage der Hartz IV-Regelleistungen berechnet, orientiert er sich nicht an einer naturwissenschaftlichen Rationalität. Wertungen sind integraler, nicht unvermeidbarer Bestandteil seiner Berechnungen und das Bundesverfassungsgericht hält ihm hierfür (auch im Zuge der noch nachzuzeichnenden Intensivierung der Verfahrensvorgaben) einen Spielraum offen. Wertungen betreffen bereits die Wahl des Berechnungsverfahrens und setzen sich bei der Ermittlung der Berechnungsfaktoren fort.1042 Die eingeschränkte normative Programmierung des Gesetzgebers durch die unbestimmten Verfassungsvorgaben gilt auch für die einfachgesetzlichen­ 1041 Hierzu Herbert Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Wilhelmine Dreißig (Hrsg.), Probleme des Finanzausgleichs I, 1978, S. 135 (138 ff.). 1042 Dies stellt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in der Hartz IV-Entscheidung klar: Die Ermittlung des existenzsichernden Bedarfs sei kein reines Rechenproblem; die Berechnungen seien mit Wertungen verbunden. BVerfGE 125, 175 (222, 224 f.). Siehe hierzu Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (3, 5). Siehe auch Stephan Rixen zu Wertungen in Stellungnahmen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV) und Sachverständigengutachten zum regelsatzrelevanten Bedarf, auf die sich das Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung der Leistungen nach dem SGB II stützt (siehe etwa BVerfGE 125, 175 [231, 245, 249 f.]). Während Rixen die Wertungen durch den DV noch mit dessen Interessengeleitetheit durch Kommunen und Leistungsempfänger begründet, räumt er bei den Sachverständigengutachten unabhängig von einer Interessenabhängigkeit ein, dass „deren Festlegungen einen wertenden Anteil haben können“. Ders., Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (85 f., Zitat S. 86).

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Quantifizierungsverfahren. Die bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben determinieren die Verfahren nicht im Detail.1043 Die Wertungen des quantifizierenden Gesetzgebers bedeuten andererseits, dass er die unbestimmten Verfassungsvorgaben nicht berechnet. Er leitet ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht rechnerisch Zahlen aus der Verfassung ab. Es wird ein weiteres Mal die geisteswissenschaftliche Verarbeitung der „Wirklichkeit“ durch das Recht deutlich.1044 1. Abgrenzung: Ergebnis- und Verfahrenskontrolle Eine Differenzierung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzgeber nach den Kategorien der Ergebnis- und Verfahrenskontrolle ist problematisch. Eine Ergebniskontrolle kann jedenfalls nicht nur deshalb angenommen werden, weil der Gesetzgeber die Zahlengenerierung ausdrücklich geregelt hat. In den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zum Finanzausgleich ließe sich auch vertreten, das Gericht formuliere durchweg Verfahrensvorgaben. Das Bundesverfassungsgericht prüft dort die Bemessung der tatsächlichen und durchschnittlichen Finanzkraft als Ausgleichsposten, d. h. einzelne Rechenschritte im FAG, die Ausgleichsintensität im horizontalen Finanzausgleich insgesamt sowie die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen. Betroffen sind in allen Fällen Schritte des Finanzverteilungsverfahrens im Bundesstaat. Die Annahme einer Ergebniskontrolle kann genauso wenig davon abhängen, ob das Bundesverfassungsgericht numerische Vorgaben bzw. Aussagen formuliert. Eine Verfahrenskontrolle läge dann vor, wenn das Bundesverfassungsgericht nichtnumerische Vorgaben mit numerischem Bezug formuliert. Das Ehegattensplitting und die Mindestanzahl zusätzlich zu vergebender Plätze im „NSU-Prozess“ sind jedoch Beispiele dafür, dass Verfahrens- zugleich numerische Vorgaben sein können. Es soll vorliegend außerdem untersucht werden, ob es sich bei den Verfahrensvorgaben um eine Strategie des Bundesverfassungsgerichts handelt, Quantifizierungen zu umgehen. Dann können aus den Verfahrens- numerische Vorgaben aber nicht schon per definitionem ausgeschieden werden. Die Verfahrens- soll von der Ergebniskontrolle in der nachfolgenden Analyse ungeachtet einer teils engen Verknüpfung1045 daher idealtypisch unterschieden und 1043

In Bezug auf die Wahrung der Menschenwürde bei der Festlegung der Sozialhilfeleistungen Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (5): Die „Wahrung der Menschenwürde […] setzt mehrere, normativ nicht programmierte und auch kaum programmierbare Vorentscheidungen voraus (welcher Bedarf und welches System der Bedarfsmessung sowie Festlegung der Vergleichsgruppen).“ 1044 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. und C. im 3. Kapitel des ersten Teils. 1045 In den Entscheidungen zum Finanzausgleich wird deutlich, dass die Verfahrens- und Ergebniskontrolle zum Teil  eng verknüpft sind. (1) Laut Bundesverfassungsgericht hat sich die Berücksichtigung von Ländereinnahmen bei der Bemessung der Finanzkraft an deren

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eine Verfahrenskontrolle immer dann angenommen werden, wenn das Bundesverfassungsgericht methodische Vorgaben für den (quantifizierenden) Gesetzgeber formuliert.1046 2. Verfahrensvorgaben in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Auch innerhalb der Verfahrensvorgaben des Bundesverfassungsgerichts lassen sich jenseits der Sonderfälle „Ehegattensplitting“ und „Platzvergabe im NSU-Prozess“ Rechtsprechungsmuster herausarbeiten. Das Gericht stellt, wenn es Zahlen in einfachgesetzlichen Regelungen überprüft und im Zuge dessen Verfassungsvorgaben mittelbar quantifiziert, methodische Vorgaben für die Zahlengenerierung auf. a) Vor der Hartz IV-Entscheidung: Punktuelle Einflussnahmen auf die Zahlengenerierung Vor der Hartz IV-Entscheidung nimmt das Bundesverfassungsgericht nur punktuell auf die Zahlengenerierung durch den Gesetzgeber Einfluss. In einigen Fällen fordert es die Begründung der Belastungs- bzw. Leistungsbemessung durch den Gesetzgeber1047 bzw. hält die Einforderung einer Begründung jedenfalls für möglich.1048 Bei der Bemessung des steuerfreien Existenzminimums und der ­Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte beziehen sich die methodischen Vorgaben auf die Ermittlung der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen als Vergleichsgröße.

Ausgleichsrelevanz zu orientieren (BVerfGE 72, 330 [400]). Es handelt sich um eine methodische Vorgabe für einen Teilkomplex des Finanzausgleichverfahrens. Das Gericht konkretisiert die geforderte Ausgleichsrelevanz und ordnet die Höhe einzelner Einnahmen der Länder als (nicht) ausgleichsrelevant ein. In Bezug auf einen Teilschritt des Finanzausgleichverfahrens wird eine Ergebniskontrolle vorgenommen. (2) An anderer Stelle bestimmt das Bundesverfassungsgericht, wie die Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder über die regulären einfachgesetzlichen Höchstgrenzen hinaus abgeschöpft werden muss, damit es nicht zu einer Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge kommt (BVerfGE 72, 330 [419]). Es handelt sich um methodische Vorgaben. Sie werden um inhaltliche ergänzt, wenn das Bundesverfassungsgericht auch die Höhe der jeweils vorzunehmenden Finanzkraftabschöpfung bestimmt. 1046 Bei den methodischen Reflexionen der eigenen Entscheidungsfindung durch das Bundesverfassungsgericht handelt es sich nicht um eine Verfahrenskontrolle im dargestellten Sinn. Siehe etwa BVerfGE 116, 327 (389, 396 f.). 1047 Dies ist bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen der Fall, siehe BVerfGE 116, 327 (382). Zu den weiteren Verfahrensanforderungen bei der Zahlengenerierung zum Finanzausgleich sogleich im Haupttext. 1048 So bei der Überprüfung der Steuerbelastung nach der Verwerfung des Halbteilungsgrundsatzes in BVerfGE 115, 97 (116).

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Allein die Verfahrensvorgaben in den Entscheidungen zum horizontalen Finanzausgleich behaupten angesichts ihres Umfangs eine Sonderstellung. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich dort zuweilen auf methodische Vorgaben für die einfachgesetzliche Zahlengenerierung und das Verfahren zur Ermittlung der Finanzausgleichsleistungen.1049 Die umfassende Rationalisierung der Zahlengenerierung in der Hartz IV-Entscheidung kündigt sich bereits an. Das Gericht formuliert eine Anleitung für die Generierung einiger Faktoren im Rechenverfahren des Finanzausgleichs (Bsp.: Ermittlung der Finanzkraft der Länder, Einwohnerwertung der Stadtstaaten, Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft). Deren Höhe müsse nicht punktgenau ermittelt werden, dürfe aber auch „nicht „frei gegriffen werden“.1050 Es verlangt die Rückführbarkeit auf Indikatoren und räumt dem Gesetzgeber zugleich Raum für Wertungen ein. Das bedeutet einen gefilterten Eingang finanzwissenschaftlichen Fachwissens in die Entscheidungen. Es wird im Spannungsfeld von geforderter Berechenbarkeit und zugestandener Eigenwertung für den Finanzausgleichsgesetzgeber relevant. Ein Wertungsspielraum verbleibt dem Gesetzgeber auch bei der Ausgestaltung des Verfahrens zur Zahlengenerierung, etwa bei der Auswahl geeigneter Indikatoren. Das Bundesverfassungsgericht weist mit dem Bild der „Bandbreite“, das bereits zur Charakterisierung der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen verwendet worden ist, auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hin: „Soweit der Gesetzgeber sich für einen Veredelungsfaktor entscheidet, muß dessen Ausgestaltung innerhalb der Bandbreite der Indikatoren verbleiben, die für die strukturelle Eigenart der Stadtstaaten aussagekräftig sind.“1051 Das Bundesverfassungsgericht ist um eine Verobjektivierung der Zahlengenerierung durch den Bundesgesetzgeber, zugleich um die Formulierung praktikabler Anforderungen bemüht.1052 Hinzu treten allgemeine Vorgaben für die einfachgesetzliche Organisation des Finanzausgleichs. Das Bundesverfassungsgericht formuliert u. a. ein Folgerichtigkeitsgebot,1053 ohne es (im Gegensatz zur Hartz  IV-Entscheidung) bereits explizit als solches zu bezeichnen.

1049

Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 5. b) im 2. Kapitel des dritten Teils. BVerfGE 86, 148 (212). 1051 BVerfGE 86, 148 (241). 1052 Nach Stefan Korioth „tritt“ „aus Gründen der Praktikabilität, die Vergröberungen und Vereinfachungen zuläßt, […] an die Stelle der Addition die Finanzkraftbestimmung durch Indikatoren.“ Ders., Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 551 f. 1053 Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 107 Rn. 64. Dieser spricht wahlweise davon, die Ausgestaltung des Finanzausgleichs durch den Gesetzgeber habe folgerichtig bzw. systemgerecht zu erfolgen. Er differenziert also terminologisch nicht zwischen dem Inhalt und der Generierung von Zahlenbestimmungen. Hierzu bereits unter A. III. 1. b) in diesem Kapitel. 1050

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b) Seit der Hartz IV-Entscheidung: Einbindung des quantifizierenden Gesetzgebers in umfassende Rationalitätsanforderungen Seit der Hartz IV-Entscheidung (BVerfGE 125, 175) flankieren1054 erhöhte Verfahrensanforderungen die zurückgenommene materielle Kontrolle, nach der die Höhe staatlicher Leistungen nur auf ihr evidentes Ungenügen überprüft und der jeweilige verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab mittelbar quantifiziert wird.1055 Christoph Möllers spricht von einem „neu[en]“ „Maßstab“1056 für den Gesetzgeber bei der Leistungsbemessung. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Regelsätzen, den Geldleistungen nach dem AsylbLG und zur W-Besoldung unterliegen demselben Muster. In den Entscheidungen zum AsylbLG und zur W-Besoldung kommt es auf die Verfahrensvorgaben allein wegen des evidenten Ungenügens der Leistungen nicht mehr an, während in der Hartz IV-Entscheidung die Verfahrenskontrolle bei der Überprüfung der in Streit stehenden Regelsätze im Vordergrund steht. Die Ergebniskontrolle, nach der die gewährten Leistungen jedenfalls nicht evident zu niedrig sind, fällt dagegen kaum ins Gewicht. Der Unterschied im Prüfungsmodus der untersuchten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen verschärft sich somit – je nachdem, ob die einschlägigen Verfassungsvorgaben unmittelbar oder mittelbar quantifiziert werden: Die mittelbare Quantifizierung begleitet (wie in der Hartz  IV-Entscheidung) teils eine extensive Verfahrenskontrolle. Bei der unmittelbaren Quantifizierung legt das Bundesverfassungsgericht zum Teil  das eigene Berechnungsverfahren offen (etwa bei der Ermittlung der Mindestzuschläge für kinderreiche Beamte im Beschluss vom 24. November 1998),1057 eine Verfahrenskontrolle entfällt dagegen trotz verbleibender Spielräume für eine Quantifizierung durch den einfachen Gesetzgeber. Es wird nur eine Ergebniskontrolle durchgeführt. Das Bundesverfassungsgericht leitet die Rationalitätsanforderungen an den Gesetzgeber aus den Grundrechten ab, die auch für die Höhe der gewährten Leistungen maßgeblich sind. In der Entscheidung zu den Hartz IV-Regelsätzen führt das

1054

BVerfGE 130, 263 (301). Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (384: „Im Ergebnis entwickelt es statt eines materiellen Maßstabs einen Verfahrensmaßstab […].“). Das Gericht verzichtet genaugenommen nicht auf eine materielle Prüfung, fasst sie nur im Gegensatz zu den Verfahrensanforderungen sehr weit. Der Rückzug auf eine Evidenzprüfung ist bereits bei Prüfung der Besoldungszuschläge für kinderreiche Beamte in BVerfGE 44, 249 beobachtbar. Siehe die Ausführungen unter A. V. 1. im 2. Kapitel des dritten Teils. 1056 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (384). 1057 BVerfGE 99, 300 (322), hierzu die Ausführungen unter A. V. 3. im 2. Kapitel des dritten Teils. 1055

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Bundesverfassungsgericht aus, die „Leistungsbemessung“ durch den einfachen Ge­setzgeber müsse gemessen am „Ziel des Grundrechts“ bestimmten methodi­ schen Anforderungen genügen.1058 Die Verfahrensanforderungen treten „als ‚zweite Säule‘“ neben die „materielle Dimension“ des Grundrechts.1059 „Der Grundrechtsschutz erstreckt sich […] auf das Verfahren“.1060 Zahlen in einfachen Gesetzen sollen verfahrensrechtlich an die Verfassung rückgebunden werden. Die Verfahrenskontrolle bedeutet vor allem eine Folgerichtigkeitsprüfung. Der Gesetzgeber wird an die eigenen „Regelungskonzepte bzw. -strukturen“ gebunden1061 und die Anwendung bzw. Abweichungen vom ursprünglichen Bemessungskonzept werden auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Hiervon zu unterscheiden1062

1058

BVerfGE 125, 175 (226, Kursivsetzung durch Verf.): „Es [„das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“] erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden.“ Siehe auch BVerfGE 132, 134 (162 Rn.  69, Kursivsetzung durch Verf.): „Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs folgerichtig in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht bemessen, begründet werden können (vgl. BVerfGE 125, 175 m. w. N.).“ sowie ebd., S. 162 Rn. 70 (Kursivsetzung durch Verf.): „Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen […].“ Außerdem BVerfGE 130, 263 (301, Kursivsetzung durch Verf.): „Daher kommt es auf die Einhaltung prozeduraler Anforderungen an, die als ‚zweite Säule‘ des Alimentationsprinzips neben seine auf eine Evidenzkontrolle beschränkte materielle Dimension treten und seiner Flankierung, Absicherung und Verstärkung dienen.“ sowie ebd. (Kursivsetzung durch Verf.): „Da aber das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung einer amtsangemessenen ­Alimentation keine quantifizierbaren Vorgaben im Sinne einer exakten Besoldungshöhe liefert, bedarf es prozeduraler Sicherungen, damit die verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive des Art. 33 Abs 5 GG auch tatsächlich eingehalten wird (vgl. BVerfGE 125, 175 […]).“ ­Philipp Dann übergeht bei der Analyse von BVerfGE 125, 175, dass das Bundesverfassungsgericht die Rationalitätsanforderungen an die Regelsatzbestimmung ausdrücklich auf Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG stützt. Der geforderten, gesteigerten „prozedurale[n] Rationalität“ (S. 636) fehle die „präzise Anknüpfung im Verfassungstext“ (S. 644) und sie lasse sich aus Art. 1 Abs. 1 GG auch so detailliert nicht herleiten (S. 637 f.). Dann erklärt die Rationalisierung der einfachgesetzlichen Entscheidungsfindung, die sich auch in den Urteilen zur Pendlerpauschale und zum Rauchverbot beobachten lasse, mit dem „vorrechtliche[n] Verständnis [der Verfassungsrichter] von Vernünftigkeit und Kohärenz“ (S. 637 ff., Zitat S. 637). Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 ff. 1059 BVerfGE 130, 263 (301, Zitate ebd.). 1060 BVerfGE 125, 175 (226). 1061 Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S.  81 (84, Zitat ebd.). 1062 Die Rationalitätsanforderungen an das Verfahren gehen also über den Folgerichtigkeitsmaßstab hinaus. Anders Stephan Rixen, der das Kriterium der Folgerichtigkeit weiter versteht. Die „Pflicht zur empirisch fundierten Grundrechtskonkretisierung“ und die „Pflicht zur transparent begründeten Grundrechtskonkretisierung“ sind demnach Ausprägungen des Folgerichtigkeitsmaßstabs. Er ist übergeordnetes, die übrigen Rationalitätsanforderungen umspannendes Kriterium. Ders., Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (85 f., Zitate ebd.).

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ist die Pflicht zur empirischen Fundierung der Leistungsbemessung.1063 Den Gesetzgeber trifft außerdem eine Begründungspflicht, dass die erhöhten Verfahrensanforderungen eingehalten worden sind.1064 Im Urteil zur W-Besoldung werden dem Gesetzgeber „Begründungs-, Überprüfungs- und Beobachtungspflichten“1065 auferlegt, dass die Besoldungshöhe und das Besoldungssystem mit dem Alimentationsprinzip vereinbar sind. Allein im Urteil zu den monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG verweist das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang der Verfahrensanforderungen zwar wie bei der Entscheidung über die W-Besoldung auf das Hartz  IV-Urteil,1066 fordert dann aber nur eine Begründbarkeit der Leistungen: „Das Grundgesetz schreibt […] nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen […] ist. […] Entscheidend ist, ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsichernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt.“1067 „Die Art und die Höhe der Leistungen müssen sich mit einer Methode erklären lassen […].“1068

Dies entspricht dem allgemeinen Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts, das bei der Überprüfung eines Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit nur eine Ergebniskontrolle vornimmt, d. h. ein Gesetz nicht einschließlich seiner Begründung, sondern nur auf seine Begründbarkeit im Einklang mit den verfassungsrechtlichen 1063 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (207 f.); Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (85 f.). 1064 Von den im Haupttext genannten Begründungspflichten ist die Begründungspflicht bei den Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen (BVerfGE 116, 327 [382]) zu unterscheiden. Demnach muss nicht die Einhaltung besonderer Verfahrensvorgaben bei der einfach­ gesetzlichen Quantifizierung (ablehnend für die Berechnungsfaktoren im horizontalen Finanzausgleich BVerfGE 86, 148 [212, 241], hierzu Fn. 218 im dritten Teil), sondern das Bestehen eines Sonderbedarfs als Voraussetzung der Ergänzungszuweisungen besonders begründet­ werden. 1065 BVerfGE 130, 263 (302). Das Bundesverfassungsgericht bezieht die Verfahrensanforderungen auf die „kontinuierliche[…] Fortschreibung der Besoldungshöhe in Gestalt von regelmäßigen Besoldungsanpassungen [und auf] […] strukturelle[…] Neuausrichtungen in Gestalt von Systemwechseln“ (ebd.). 1066 Das Bundesverfassungsgericht verweist auf BVerfGE 125, 175 (226). Siehe BVerfGE 132, 134 (165 Rn. 79) (AsylbLG) und BVerfGE 130, 263 (301) (W-Besoldung). Zur Deutung der Begründungsobliegenheit betreffend die Generierung der Hartz IV-Regelleistungen als Begründungspflicht siehe die Ausführungen unter A. III. 1. b) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1067 BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70). 1068 BVerfGE 132, 134 (165 Rn.  79). Siehe auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Pressemitteilung, wonach für die Höhe der monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG „keine nachvollziehbaren Berechnungen vorgelegt worden oder ersichtlich“ sind. BVerfG, Pressemitteilung Nr. 56/2012 vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 (Kursivsetzung durch Verf.). Allgemein für eine Interpretation der in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen genannten Begründungspflichten als Begründungsobliegenheiten Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (342).

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Vorgaben überprüft.1069 Soweit eine Begründbarkeit der Leistungen nicht erkennbar ist, unterfällt dies freilich dem Risiko des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich bei der Verfahrensprüfung der monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG auf die Gesetzesmaterialien, woraus sich indes „keine Hinweise […] entnehmen“ lassen, dass überhaupt „ein Bemessungsverfahren zur Bestimmung der Geldleistungen“ durchgeführt worden ist.1070 Im Gegensatz zur Hartz  IV-Entscheidung, in der die Vernachlässigung der Begründungsanforderungen bereits als Verletzung der verfassungsrechtlichen Verfahrensvorgaben gewertet wird, stellt das Gericht klar: „Auch sonst sind belastbare Bemessungsgrundlagen nicht erkennbar geworden.“1071 Es besteht damit zwar keine Begründungspflicht, aber eine Obliegenheit des Gesetzgebers, die Leistungsbemessung als Berechnungsverfahren gemäß den verfassungsgerichtlichen Verfahrensvorgaben darzustellen.1072 Seit der Hartz IV-Entscheidung sind die Verfahrensvorgaben zwar erhöht, das Bundesverfassungsgericht gibt den Modus der Leistungsfestsetzung jedoch weiterhin nicht im Detail vor. Es hält sich auch insoweit an das Vorbild der geschriebenen Verfassung, die dem Gesetzgeber bei der Festsetzung der Umsatzsteueranteile in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 Satz 2 GG zwar eine Verfahrensvorgabe auferlegt, aber durch die Verpflichtung auf einen „billige[n] Ausgleich“ (Art.  106 Abs.  3 Satz 4 Nr. 2 GG) zugleich Raum für die politische Kompromissfindung lässt. Es wird von ihm „nicht gefordert, daß er die […] Bemessung der Steuerbeteiligungsansprüche auf ein exaktes und systematisch entwickeltes Rechensystem gründet, das die festgesetzten Anteilsprozentsätze als nachprüfbares Ergebnis arithmetischer Datenkalkulation ausweist.“1073 c) Erhöhte Anforderungen an das Verfahren zur Kompensation einer zurückgenommenen Kontrolle der Leistungshöhe Seit der Hartz IV-Entscheidung sind gegensätzliche Entwicklungen der verfassungsgerichtlichen Prüfungsintensität beobachtbar. Die Kontrolle der Leistungshöhe wird gegenüber der zuvor im Zusammenhang mittelbarer Quantifizierungen zumeist durchgeführten Vertretbarkeitsprüfung nochmals zurückgenommen. 1069

Ekkehard Hofmann, Abwägung im Recht, 2007, S. 435, 439 f. „Die Materialien weisen lediglich die Beträge aus, die – nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung – ausreichen sollen, um einen unterstellten Bedarf zu decken (vgl. BTDrucks. 12/4451, S. 8 zu § 2).“ BVerfGE 132, 134 (171 Rn. 91). 1071 BVerfGE 132, 134 (171 Rn. 91). 1072 Zur Begründungsobliegenheit des Gesetzgebers Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (342). 1073 Herbert Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Wilhelmine Dreißig (Hrsg.), Probleme des Finanzausgleichs I, 1978, S. 135 (142). 1070

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Das Bundesverfassungsgericht formuliert weiterhin keine unmittelbaren numerischen Vorgaben für die zu gewährenden Leistungen und überprüft die Leistungshöhe nur auf ihr evidentes Ungenügen. Zugleich trägt das Gericht erhöhte, differenziertere Anforderungen an das einfachgesetzliche Verfahren der Zahlenfestlegung heran und nimmt eine entsprechend intensivierte Verfahrenskontrolle vor. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Quantifizierung wird also materiell ausgedehnt und durch die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Entscheidungsfindung zugleich formal eingeschränkt.1074 Dies bedeutet eine Kompensation,1075 die im Urteil zur W-Besoldung besonders deutlich zum Ausdruck kommt: „Da aber das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung einer amtsangemessenen Alimentation keine quantifizierbaren Vorgaben im Sinne einer exakten Besoldungshöhe liefert, bedarf es prozeduraler Sicherungen, damit die verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive des Art. 33 Abs. 5 GG auch tatsächlich eingehalten wird […]. Die prozeduralen Anforderungen an den Gesetzgeber kompensieren die Schwierigkeit, das verfassungsrechtlich gebotene Besoldungsniveau anhand materieller Kriterien zu bestimmen. Zudem stellt diese prozedurale Absicherung einen Ausgleich dafür dar, dass die Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses einschließlich der Festlegung der Besoldungshöhe der Regelungskompetenz des Gesetzgebers unterliegt. Insofern entfaltet die prozedurale Dimension des Alimentationsprinzips Schutz- und Ausgleichsfunktion.“1076

Für die Rücknahme der materiellen Kontrolle, die korrespondierende Erweiterung und nachfolgende Relativierung des gesetzgeberischen Spielraums durch methodische Vorgaben gibt es zwei Gründe. Zum einen hängt die Leistungsbemessung in der vorgenannten Entscheidungstrias Hartz-IV-Regelleistungen, W-Besoldung und AsylbLG von umfangreichen tatsächlichen Vorermittlungen ab, die das Bundesverfassungsgericht nicht bewältigen kann.1077 Zum anderen beruht die Gewährung der staatlichen Leistungen auf Verteilungsentscheidungen, in denen eine Vielzahl, zum Teil  inkommensurable Rechtsgüter miteinander konfligieren.1078 1074 Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (632 f.); Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, Sozial­ recht aktuell 2010, S. 81 (85, 87 a. E.); Karsten Schneider, BVerfGE 125, 175 – Hartz IV, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S.  885 (887). 1075 Grundlegend zur Kompensation einer weiten materiellen Grenzziehung im Verhältnis zum gesetzgeberischen Ermessen durch eine verfahrensrechtliche Einbindung vor der Hartz  IV-Entscheidung Klaus Messerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S.  819, 821 f., 851 ff., 865 ff. Zur möglichen Kompensation mangelnder materieller Vorgaben und einer entsprechend eingeschränkten fachgerichtlichen Kontrolle durch das Verfahren der Regelsatzfestsetzung im Sozialhilferecht bereits Karl-Jürgen Bieback/Günther Stahlmann, Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (5, 11 ff., 13). 1076 BVerfGE 130, 263 (301 f., Kursivsetzung durch Verf.). 1077 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (208 f.). 1078 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (209).

356

3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Eine bipolare Struktur fehlt bereits der Verteilung der staatlichen Einnahmen im Finanzausgleich, auch wenn sie das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang noch durch die Ableitung gegensätzlicher Prinzipien aus dem Bundesstaatsprinzip vorzugeben sucht. Zu den tatsächlichen Erhebungs- treten somit inhaltliche Bewertungsschwierigkeiten des Gerichts. Es ist ihm daher primär eine formale Kontrolle des gesetzgeberischen Vorgehens und auf der Grundlage der Tatsachenerhebungen des Gesetzgebers nur eine extrem eingeschränkte materielle Kontrolle möglich. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Gerichts setzt an den Darlegungslasten des Gesetzgebers an.1079 Die Prüfung der evidenten Verfassungswidrigkeit der Leistungshöhe bedeutet eine allenfalls rudimentäre Abwägungsentscheidung. 3. Das Urteil zum AsylbLG: Verfahrensvorgaben oder Anforderungen an den Gesetzesinhalt? In den Entscheidungen zu den Hartz IV-Regelsätzen und zur W-Besoldung liegt es nahe, dass das Bundesverfassungsgericht mit den Anforderungen an das einfachgesetzliche Verfahren zur Zahlenfestlegung formelle Vorgaben aufstellt, die die Art. 76 ff. GG ergänzen.1080 Bei der Überprüfung der monetären Grundleistungen nach dem AsylbLG führt das Bundesverfassungsgericht indes aus: „Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen beziehen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz beinhaltet in den Art.  76 ff. GG Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sichern. Das Grundgesetz schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und berechnen ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.  1 Abs.  1 GG in Verbindung mit Art.  20 Abs. 1 GG bringt insofern für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich […].“1081

Das Bundesverfassungsgericht versteht die Kriterien der Leistungsbemessung aus der Hartz IV-Entscheidung ausschließlich als Anforderungen an den Gesetzesinhalt. Zwar wirkt sich auch das formelle Gesetzgebungsverfahren mittelbar auf den Gesetzesinhalt aus, die Art. 76 ff. GG sollen jedoch ausdrücklich nicht modi 1079 Bereits in Bezug auf BVerfGE 115, 97 und die Prüfung der einfachgesetzlich vorgesehenen Steuerbelastung Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 120. 1080 Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (641). 1081 BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70, Kursivsetzung durch Verf.).

3. Kap.: Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung

357

fiziert sein.1082 Das Bundesverfassungsgericht begründet keine „spezifischen“, die Art. 76 ff. GG ergänzenden Verfahrenspflichten. Mehr noch: Es verneint neben der Begründungspflicht die positive Einhaltung weiterer Verfahrensvorgaben (wie die der realitätsgerechten und folgerichtigen Berechnung der Leistungen) überhaupt. Es muss nur möglich sein, dass die Zahlen realitätsgerecht, folgerichtig und damit verfassungsgerecht generiert worden sind. Sie „müssen“ [sich methodisch] […] erklären lassen“. Das Bundesverfassungsgericht prüft, „ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sind.“1083 Die Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Anforderungen an den Gesetzgeber verschwimmt.1084 Problematisch bleibt, ob es sich bei der Klarstellung des Gerichts nicht nur um ein Spiel mit Begriffen handelt, das an der Modifikation der Art. 76 ff. GG in der Sache nichts ändert. Die Methodenpflichten aus der Hartz IV-Entscheidung sind im Urteil zum AsylbLG zumindest Obliegenheiten des Gesetzgebers.1085 Er wird methodisch zwar nicht in die Pflicht genommen, die fehlende Möglichkeit der methodengerechten Bemessung der Leistungen unterfällt jedoch seinem Risikobereich. Das Bundesverfassungsgericht unternimmt in der Entscheidung eine detaillierte Prüfung der tatsächlichen Leistungsbemessung auf ihre Realitäts- sowie Sachgerechtigkeit und Schlüssigkeit.1086 Für die Vereinbarkeit der Leistungen mit den Verfassungsvorgaben ist weiterhin nicht nur das Ergebnis, sondern auch das Verfahren relevant.1087 Wenn weder eine Begründungspflicht des Gesetzgebers 1082

Philipp Dann interpretiert die Hartz IV-Entscheidung noch dahingehend, dass „das Gericht […] eine Pflicht zu einem technisch-prozedural optimierten Gesetzgebungsverfahren“ (S. 636) aufstellt. Seiner Meinung nach ist „das Konzept eines ‚inneren Gesetzgebungsverfahren‘“ (S. 640) betroffen, das „frei schwebend“ (S. 637) keine Grundlage in den Art. 76 GG ff. finde. Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (636 ff.). 1083 BVerfGE 132, 134 (165 Rn. 79). 1084 Christoph Möllers spricht im Hinblick auf Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers und Folgerichtigkeitsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts von „Anforderungen an das gesetzgeberische Verfahren im Ganzen, die sich an der Grenze zwischen einer Verfahrens- und Inhaltskontrolle bewegen.“ Ders., Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (396). Eine nicht näher problematisierte Gleichsetzung von Verfahrensrecht und formellem Recht erfolgt hingegen bei Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 504. 1085 Zur Begründungsobliegenheit des Gesetzgebers siehe bereits die Ausführungen soeben im Haupttext unter B. II. 2. b). 1086 BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70, 170 ff. Rn. 90 ff.). 1087 Anders Maximilian Steinbeis, dem zu Folge das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber im Gegensatz zur Hartz  IV-Entscheidung nicht auf eine bestimmte Methode festlegt, auch wenn es weiterhin überhaupt eine Methode des Gesetzgebers bei der Leistungsbemessung fordert. Ders., Sozialstaat ist nicht nur für die Unsrigen, http://www.verfassungsblog.de/de/ sozialstaat-ist-nicht-nur-fr-die-unsrigen/#.UeEPvOByCMM (abgerufen am 13.7.2013). ­Steinbeis übersieht, dass der Gesetzgeber auch in der Entscheidung zu den Hartz IV-Regelsätzen nicht zur Einhaltung einer bestimmten Methode verpflichtet ist bzw. dass das Bundesverfassungsgericht seine Einschränkungen bei der Methodenwahl, die Verpflichtung auf die realitäts- und sach­ gerechte sowie transparente Leistungsbemessung, in der Entscheidung zum AsylbLG beibehält.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

besteht noch das Gesetzgebungsverfahren modifiziert ist, bleibt nicht zuletzt offen, wie der Gesetzgeber dem bereits in der Hartz IV-Entscheidung aufgestellten Transparenzgebot für die Leistungsbemessung, an dem das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung der Geldleistungen nach dem AsylbLG ausdrücklich festhält,1088 gerecht werden soll. 4. Kapitel

Quantifizierungsmethodik In den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommen Zahlen in verschiedenen Zusammenhängen vor und Quantifizierungen müssen von Bezifferungen unterschieden werden. Es handelt sich dabei unter anderem um Berechnungen zur Sachverhaltsstrukturierung.1089 Die Darstellung verfassungsgerichtlich zu beurteilender Tatsachen folgt einer naturwissenschaftlichen Rationalität, nach der Wertungen zwar (bei der Wahl der relevanten Tatsachen, des Berechnungsverfahrens sowie der einzubeziehenden Faktoren) relevant werden, aber zu Gunsten einer intendierten wertfreien Abbildung der „Rechtswirklichkeit“ möglichst vermieden werden sollen. Es sind an dieser Stelle naturwissenschaftliche Elemente in die rechtliche als primär geisteswissenschaftliche Sicht auf die „Wirklichkeit“ integriert.1090 Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Quantifizierungen demgegenüber einer spezifischen Entscheidungsrationalität unterliegen. Im Zusammenhang von Quantifizierungen sind Zahlen nicht das Ergebnis tatsächlicher Berechnungen, sondern normative Entscheidungen und rufen gegensätzliche methodische Erwartungen hervor. Einerseits unterliegt das Quantifizierungsergebnis, die Zahl, einer naturwissenschaftlichen Rationalitätsvermutung. Sie erweckt insbesondere für den Laien, der mit den tatsächlichen Entscheidungsrationalitäten des Rechtssystems nicht vertraut ist, den Anschein der Berechenbarkeit.1091 Berechenbar sind die Zahlen allenfalls in einem übertragenen Sinn, denn die quantifizierten, normativen Maßstäbe sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Werden Zahlen im Kontext verfassungsgerichtlicher Entscheidungen verwendet, bedeutet Be­ rechenbarkeit rechtsmethodisch gewendet die rein logische Deduktion aus den verfassungsgesetzlichen Vorgaben.1092 Mit Zahlen wird ein „Subsumtionsdogma“ 1088

BVerfGE 132, 134 (170 Rn. 90). Siehe die Ausführungen unter B. I. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1090 Zur Möglichkeit der Integration naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen in eine primär geisteswissenschaftliche „Wirklichkeitsanschauung“ bereits unter A. II. im 3. Kapitel des ersten Teil. 1091 Siehe bereits die Ausführungen unter B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1092 Ein Verständnis der Quantifizierung als reiner Deduktion klingt zunächst bei Klaus Vogel an, wenn er von der Ableitung von Zahlen aus unbestimmten Rechtsbegriffen spricht. Er erkennt jedoch im Gegenteil ein dezisionistisches Element bei der Quantifizierung an und geht insbesondere auf die Plausibilität der Zahlenwerte ein. Ders., Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1258). 1089

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

359

assoziiert, nach dem „Rechtsanwendung“ in der „Subsumtion eines Sachverhalts unter die Tatbestandsmerkmale einer Rechtsnorm“1093 aufgeht. Verfassungsrechtsbegriffe verfügen demnach über eine sichere Bedeutung (Bedeutungsidealismus) und die Verfassung birgt die Lösung konkreter Rechtsfragen.1094 Die Anwendung von Verfassungsrecht wird zur mathematischen Gleichung und die Quantifizierungen wären entgegen der ersten Begriffsbestimmung1095 keine Konkretisierungen von Verfassungsrecht. Nimmt man andererseits den Quantifizierungsprozess in den Blick, erscheint es angesichts der Unbestimmtheit der Verfassungsvorgaben zweifelhaft, ob Zahlen als exakte1096 Zeichen logisch abgeleitet werden können. Zur Quantifizierung könnte nicht nur eine erhebliche Konkretisierungsleistung notwendig sein, die schöpferische Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts könnte weniger auf (rationalisierbaren) Wertungen als (nicht rationalisierbaren) Dezisionen beruhen. Vor der Auseinandersetzung mit der Methodik bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen (unter C. bis D.) sind anknüpfend an die dargestellten gegensätzlichen Erwartungen zunächst die Extrempositionen in der historischen Diskussion um die Methodik im (Staats-) Recht (unter A.) nachzuzeichnen und ihnen die allgemeinen methodischen Anforderungen des Grundgesetzes an (verfassungs-) gerichtliche Entscheidungen gegenüberzustellen (unter B.).

A. Historischer Wandel des Methodenverständnisses im (Staats-)Recht: Negierung und Verabsolutierung des schöpferischen Elements in der (Verfassungs-)Rechtsprechung Die historische Diskussion um die Methodik (verfassungs-)gerichtlicher Entscheidungen erscheint im Zeitraffer polarisiert. Die Charakterisierung der gerichtlichen Entscheidungsfindung oszilliert zwischen den Extrempositionen der Negierung bzw. Verabsolutierung eines schöpferischen Elements. Die Entscheidungsfindung wird als Nachzeichnung vorgegebenen Rechts bzw. freie Rechtsschöpfung verstanden, d. h. Rechtsprechung bedeutet alternativ entweder Rechtsanwendung oder Rechtssetzung.1097 Unterschiedliche Methodenpositionen korrelieren mit spezifischen Vorstellungen vom Recht, das sich als „lückenloses

1093

Zitate Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 67. Allg. zum „Subsumtionsdogma“ Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 67 ff. Zum Bedeutungsidealismus ebd., S. 42 f. 1095 Siehe die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 1096 Siehe die Ausführungen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1097 Zu „Normsetzung und Normanwendung“ als „alternativ[…] [verstandenen] Formen der Normaktualisierung“ Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 307 ff. (Zitat S. 308). 1094

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

[…] System“1098 und (Begriffs-)Pyramide,1099 binärer Code,1100 Willensprodukt1101 und zum Teil als Stufenbau1102 darstellt, von der Rationalität der Rechtsfindung und der Maßgeblichkeit positiven Rechts, weiter gefasst der Normorientierung der Entscheidungsfindung.

I. Methodische Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen Eine logisch-mathematische Form der Erkenntnisgewinnung setzt sich in der Neuzeit und zunächst in der naturwissenschaftlichen Methodik durch.1103 Hieran knüpft eine Strömung in der Rechtswissenschaft an, die die ursprünglich spezifisch naturwissenschaftliche Rationalität verabsolutiert und auch das Recht an ihr ausrichtet. Sie führt die für die Scholastik typische Reduktion der Rechtsprechung auf die Rechtsanwendung ins Extreme.1104 Das Recht wird mathematisiert, d. h. Systembildung und Entscheidungsfindung verlaufen more geometrico.1105

1098

Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 194 ff., 247 ff., 275 (Zitat ebd.). Die Begriffsjurisprudenz ordnet das Recht in einer Begriffspyramide an, hierzu unter A. I. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1100 Die Rechtsinformatik geht von der Übersetzbarkeit des Rechts in einen binären Code aus, hierzu unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1101 Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 281 ff. 1102 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.  Aufl. 1960, S.  228 ff. Zum Gesetzespositivismus Hans Kelsens einführend Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, § 3 Rn. 97 ff. Zur Methodik der Rechtsanwendung im Stufenbau B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1103 Siehe die Ausführungen unter A. II. im 2. Kapitel des ersten Teils. 1104 Hierzu Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 44 ff. 1105 Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2.  Aufl. 2012, S.  169 ff. Die Durchsetzung aufklärerischen Gedankenguts bedeutet keine umfassende „Mathematisierung“ des Rechts bzw. der Rechtsfindung. Sie lässt sich nur in einzelnen Aspekten nachzeichnen. Die System- und Methodenvorstellungen der Aufklärung sind ambivalent. Sie schließt einerseits an den neuzeitlichen Methodenumbruch an, denn ihr Bemühen um eine Rationalisierung des Rechts folgt dem Vorbild der Naturwissenschaft. Die Naturrechtsbewegung der Aufklärung beherrscht die Vorstellung vom Recht als System, das sich nach dem Prinzip logischer Deduktion zusammensetzt. Manfred Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, 8. Aufl. 1995, S.  208 f.; Norbert Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, S.  237. Für das Prozessrecht werden formale Regeln zur Beweiswürdigung entwickelt. Cornelia Vismann u. Thomas Weitin sprechen von Urteilen nach „mathematische[m] Kalkül“ und einer „Arithmetik des Beweises“. Dies., in: dies. (Hrsg.), Urteilen/ Entscheiden, 2006, Einleitung, S.  7 (11). Die in der Kodifikationsbewegung zum Ausdruck kommende und für die Aufklärung typische Überzeugung, das Recht könne aus der Vernunft geschöpft werden, bleibt andererseits hinter der Vorstellung einer Berechenbarkeit des Rechts zurück. Hierzu Bernd Rüthers/­Christian ­Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn.  445 ff.; Benjamin Lahusen, Alles Recht geht vom Volksgeist aus, Die Zeit, 20.  Oktober 2011, S.  22. Das Recht öffnet sich während der Aufklärung mehr noch gegenüber subjektiven Tendenzen. Im Prozessrecht setzt sich eine freie, richterliche Beweiswürdigung durch. Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 7 (11 f.). 1099

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

361

In der Begriffsjurisprudenz des 19.  Jahrhunderts und der Digitalisierungsdiskussion der 1970er Jahre erfährt diese Entwicklung ihre späteren historischen Höhe­punkte.1106 Sie integrieren für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich typische „quantifizierende [→ Digitalisierung] und modellorientiert-deduktive [→ Begriffs­jurispru­denz] Formen des Denkens“1107 in die Jurisprudenz. Soweit die strikte Rationalisierung schöpferische Beiträge des Rechtsanwenders überhaupt in den Blick nimmt, wertet sie diese nicht als genuine Bestandteile, sondern als Störfaktoren einer als Automatismus verstandenen Rechtsfindung. Die Verwendung einer genuin naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit zur Beschreibung der juristischen Methodik macht die Anlehnung an die Naturwissenschaften terminologisch sichtbar. 1. Begriffsjurisprudenz Die Vorstellung von der Judikative als Vollzugsorgan bricht sich im Staatsrecht schon vor der Etablierung der Begriffsjurisprudenz Bahn. Georg Friedrich Kolb reduziert 1839 im Staats-Lexikon Carl von Rottecks und Carl Welckers die Aufgabe des Richters darauf, auf der Grundlage des geltenden Rechts „in Rechtssachen [seinen] […] Befund auszusprechen“, und spricht ihm dabei „jede Willens-­Thätigkeit“ ab.1108 Die strikte Begriffsjurisprudenz des 19.  Jahrhunderts, mit der sich überhaupt erst eine eigene Methodik und damit das öffentliche Recht als selbstständige Disziplin herauskristallisieren werden,1109 vollzieht eine Mathematisierung der richterlichen Entscheidungsfindung.1110 Gemeint ist die Reduktion der Rechtsprechung auf die Rechtsanwendung ohne Wertungs- und Entscheidungsfreiräume („Subsumtions- und Lückenlosigkeitsdogma“1111). Das Schlagwort der Mathematisierung verweist außerdem auf einen Konstruktivismus, nach dem Normen nicht nur zu Begriffen abstrahiert, sondern hieraus auch Entscheidungen abgeleitet werden können („Inversionsverfah­

1106 Katharina v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd.  2, 2005, S.  405 (406). Zum Verständnis der Rechtsordnung als „deduktiv-axiomatisches System“ mathematischer Rationalität auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 440. 1107 Andreas Rödder, Zahl und Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Juli 2010, S. 7. 1108 Georg Friedrich Kolb, Justiz; Justiz-Gewalt oder Hoheit; Justizsache; Justizverwaltung; Justizstellen; Justizministerium, in: Carl v. Rotteck/Carl Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 8, 2. Aufl. 1847, S. 1 (6, Zitat ebd.); Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 310. 1109 Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, S. 17 f. 1110 Inwieweit die tatsächliche Entscheidungsfindung der Gerichte im 19. Jahrhundert den begriffsjuristischen Idealen entspricht bzw. eine etwaige rechtsschöpferische Tätigkeit der Richter theoretisch reflektiert wird, soll hier nicht erörtert werden. Siehe hierzu Regina Ogorek, Aufklärung über Justiz, 2. Halbband, 2. Aufl. 2008. 1111 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 67.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

ren“1112).  Dem entspricht die ­Anerkennung der konstruktivistisch verfahrenden Rechtswissenschaft als Rechtsquelle. Deren Rechtssätze stellen neues, verbindliches Recht dar.1113 Eine solche mechanisierte1114 und zugleich autonom-schöpferische Begriffsjuris­ prudenz verfolgt in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts mehr noch als der Staatsrechtler Paul Laband1115 im Zivilrecht Rudolf von Jhering, der in seinem Frühwerk an die begriffsjuristische Position Georg Friedrich Puchtas anknüpft und diese ins Extreme führt. Er unterscheidet im „Geist des römischen Rechts“ die Interpretation von der Konstruktion des Rechts. Die Konstruktion bezeichnet er als „höhere[…] Stufe“,1116 erkennt aber in der Interpretation (als Deduktion, die „nichts specifisch Anderes, Neues, sondern immer die ursprüngliche Rechtssubstanz“ „zu Tage förder[e]“1117) zugleich ihre Voraussetzung. Der Konstruktion weist er eine „naturhistorische[…] Methode“1118 zu. Jhering spricht von einer „Wissenschaft, die […] sich als Naturwissenschaft auf geistigem Gebiet bezeichnen läßt“,1119

1112

Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 69. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 67 ff.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 201 f., 247 ff., 268 ff. Die im Text genannten Vorwürfe treffen weder auf Carl Friedrich von Savigny noch Georg Friedrich Puchta zu, die beide der Begriffsjurisprudenz zugerechnet werden. Im Werk Savignys mögen hierzu Vergleiche des Rechtssystems und der Rechtsfindung mit der Mathematik verleiten. Zu Savigny und Puchta Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 62 f.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 26 f. 1114 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 64 („mechanische Begriffsjurisprudenz“). 1115 Für den staatsrechtlichen Positivismus Friedrich von Gerbers und Labands ist die strikt logische, allein an die normativen Vorgaben anknüpfende rechtliche Entscheidungsfindung schon deshalb nicht charakteristisch, weil sie im Wege der versteckten methodischen Privilegierung des Monarchen einer auf die monarchische Exekutive ausgerichteten inhaltlichen Vorstellung vom Staatswillen zum Durchbruch verhelfen. Sie vertreten einen „Staatswillenspositivismus“. Zitat Hauke Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: Leviathan 31 (3), S. 362. Siehe außerdem Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2012, § 14 Rn.  481 ff. (insb. Rn.  484); Christoph Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt, Der Staat 43 (2004), S.  399 (404); Christoph Schönberger, Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille, in: Stanley L. Paulsen/­Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek, 2000, S.  3 (5 f.); zur Stellung des Monarchen bei Gerber M ­ ichael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1999, S. 334. 1116 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abt., 2. Aufl. 1869, S. 342. 1117 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abt., 2. Aufl. 1869, S. 342. 1118 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abt., 2. Aufl. 1869, S. 345. 1119 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abt., 2. Aufl. 1869, S. 345. 1113

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

363

sowie einer „Chemie des Rechts“.1120 Das Recht lasse sich auf Rechtsbegriffe reduzieren, zwischen denen ein rein logisches Verhältnis bestehe. Begriffe niedriger könnten aus denen höherer Ordnung deduziert und Begriffe niedrigerer unter die höherer Ordnung subsumiert werden, ohne dass ein gestaltendes Element hinzutrete. Dem in diesem Sinne methodisch mechanisch operierenden Rechtssystem weist Jhering schöpferische Kraft zu, denn die Begriffe seien Bausteine, die zu „neue[n] Begriffe[n] und Rechtssätze[n]“1121 kombiniert werden könnten.1122 Auffallend ist Jherings Verwendung naturwissenschaftlicher, insbesondere aus der Chemie stammender Kategorien und Begrifflichkeiten. Die Unterwerfung des Rechts unter naturwissenschaftliche Gesetzlichkeiten und einen ebensolchen Präzisionsanspruch schlägt sich terminologisch nieder. Neben der sachlichen Verbindungslinie erklärt die historische Einordnung seiner juristischen Arbeiten die Präferenz für eine an die Naturwissenschaft angelehnte, bildhafte Sprache. Sie entstehen im Zeitalter der Industrialisierung, die durch die breitenwirksame, praktische Verwertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse kennzeichnet ist.1123 Jhering, dessen umfassender (naturwissenschaftlicher) Rationalitätsglaube aus dieser spezifischen, historischen Situation erwächst, setzt sich in seinen dogmatischen Arbeiten mit den praktischen Problemen des industriellen Zeitalters auseinander.1124 2. Digitalisierungsdiskussion Versuche, das Recht an einer spezifisch naturwissenschaftlichen Rationalität auszurichten, erleben in den 1970er Jahren eine Renaissance. Die Erfindung des Computers führt zu neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -generierung. Quantifizierungsfragen erlangen eine in der Wissenschaftsgeschichte nie 1120 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abt., 2. Aufl. 1869, S. 319. 1121 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1. Teil, 2. Aufl. 1866, S. 40. 1122 Die Rede ist auch von einer „Vermehrung des Rechts aus sich selbst, einem Wachstum von innen heraus“. Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1. Teil, 2. Aufl. 1866, S. 40. Zur Begriffsjurisprudenz Jherings Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 24 ff. und Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 64 ff. 1123 Siehe hierzu die Ausführungen zu den historischen Verzifferungsprozessen der „Rechtswirklichkeit“ unter A. III. im 2. Kapitel des ersten Teils. 1124 Jhering veröffentlicht unter anderem zum Nachbarrecht, dessen Bedeutung angesichts der zunehmenden industriellen Grundstücksnutzung und dem einhergehenden Immissionsanstieg zunimmt: Rudolf v. Jhering, Zur Lehre von den Beschränkungen des Grundstückseigenthümers im Interesse der Nachbarn, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 6 (1862), S.  81. Ein Hinweis auf die Rezeption dieses Beitrags in der Rechtspraxis findet sich bei Andreas Thier, Nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis und Nationalsozialismus, in: Hans-Georg Hermann u. a. (Hrsg.), Von den Leges Barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus, Festschrift für Hermann Nehlsen, 2008, S. 458 (463).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

dagewesene Bedeutung.1125 In der Rechtswissenschaft entsteht mit der Rechtsinformatik eine neue Fachrichtung. Diskutiert wird die Digitalisierung des Rechts und der Rechtsfindung. Als strikt logisches, produktives System steht das digitalisierte Recht in der Nachfolge der Begriffsjurisprudenz. Im Zentrum der Diskussion um die Digitalisierung stehen Kompatibilitätsfragen. Die Arbeitsprozesse des Computers beruhen auf „streng logische[n] Operationen“,1126 die binär codiert sind und sich in die Einheiten 0 und 1 als Ausdruck des Gegensatzes von „‚Impuls‘ und ‚Nichtimpuls‘“1127 aufgliedern lassen. Wenn Recht mit dem Computer verarbeitet werden soll, muss es hieran anschlussfähig sein und in die entsprechende „Symbolik“ transformiert werden.1128 Die Digitalisierung einer rechtlichen Information erfordert ihre Umformung in den binären Code. Erst ihre Decodierung macht sie nach den Regeln der allgemeinen menschlichen Kommunikation dann wieder lesbar.1129 Unproblematisch ist die Digitalisierung von Normen, soweit es um die Erfassung des Rechts in Datenbanken zu Dokumentationszwecken geht.1130 Sie stößt an Grenzen, soweit die normativen Vorgaben der Rechtsanwendung dienen. Sie müssen dann nicht nur elektronisch abgebildet werden,1131 sondern die digitalisierte Entscheidungsfindung programmieren und dazu in ihrem Sinngehalt erfasst werden. Nur soweit das Recht numerische Informationen enthält, kann es in die oben beschriebenen Arbeitsprozesse unproblematisch eingespeist werden. Die notwendige „axiomatisch-deduktive[…]“ Aufbereitung ist insbesondere bei unbestimmten normativen Vorgaben nur begrenzt möglich. Sie lassen sich nicht auf eine

1125

Hierauf weist die Verwendungsfrequenz des Begriffs „Quantifizierung“ in den deutschsprachigen, beim Onlinesuchdienst Google erfassten Büchern (Erscheinungsjahr 1900 bis 2008), http://books.google.com/ngrams/graph?content=Quantifizierung&year_start=1900&year_ end=2008&corpus=20&smoothing=3&share (Abruf am 16.11.2012), hin. Nach ersten Treffern ab dem Jahr 1900, verweilt die von „Google books Ngram Viewer“ zur Verfügung gestellte Graphik nach leichten Anstiegen ab 1919 bzw. 1944 bei einer niedrigen, relativ konstanten Trefferzahl, bevor sie ab 1960 rasant ansteigt und 1975 ihren Höhepunkt erreicht. Danach flacht sie geringfügig ab und erreicht 2008 beinahe ihr Niveau von 1975. 1126 Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S. 433 (436). 1127 Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S. 122 f. 1128 Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S. 433 (438, Zitat ebd.); Walter Schmidt, Die Programmierung von Verwaltungsentscheidungen, AöR 96 (1971), S. 321 (325). 1129 Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S. 122 f. 1130 Nicht die Digitalisierung an sich, sondern Art und Umfang der „Registrierung“ werfen dann Probleme auf. Sie muss gewährleisten, dass die erfassten Informationen sinnvoll vernetzt und möglichst umfassend zugänglich sind. Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S. 433 (436 ff., Zitat S. 437). 1131 Beim Zugriff auf juristische Datenbanken erhält „der Abrufer den Rechtsstoff so […], wie er einprogrammiert wurde.“ Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S. 433 (437).

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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überschaubare Anzahl an Axiomen zurückführen und die Berücksichtigung schöpferischer Elemente bei der digitalen Rechtsfindung ist höchst problematisch.1132 Schöpferische Elemente können allein in Form von Zufallsentscheidungen in einen digitalen Rechtsfindungsprozess integriert werden.1133 Diese Reduktion der Rechtsschöpfung auf zufällige Weichenstellungen bei der Entscheidungsfindung könnte mit den verfassungsrechtlichen Methodenanforderungen in Konflikt geraten,1134 die – so weit ist vorzugreifen – eine so weit als mögliche rationale bzw. rationalisierbare Rechtsprechung verlangen. Das Konfliktpotential wird anhand eines Vergleichs mit der richterlichen Rechtsschöpfung deutlich. Sie lässt sich zum Teil auf rationalisierbare Wertungen zurückführen. Soweit Entscheidungen des Richters nicht an einer übergeordneten Rationalität ausgerichtet sind und als zufällig bewertet werden (Dezision), können sie gleichwohl durch subjektive Beweggründe gesteuert sein.1135 Demgegenüber bedeutet das digitalisierte Zufallselement die „Ausschaltung des bewussten Gestaltens“1136 und die Entledigung der Entscheidung in die Anonymität, die „ohne erkennbaren Grund und ohne 1132 Peter Raisch, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, S.  433 (434 ff., 438 [Zitat ebd.]). Siehe auch Walter Schmidt, Die Programmierung von Verwaltungsentscheidungen, AöR 96 (1971), S. 321 (325, 352). 1133 Adalbert Podlech, Logische Anforderungen kybernetischer Systeme an ihre Anwendung auf Rechtssätze, BB 1968, S. 106 (108). Zufällig ist dann – soweit das schöpferische Element nicht den Auswurf einer Entscheidung überhaupt betrifft – deren Ausgang, nicht die Entscheidung selbst. Dies gilt genauso für die dezisionistischen Bestandteile der persönlichen richterlichen Entscheidung. Hierzu und zur schöpferisch-gestaltenden Funktion der Zufallsentscheidung im (Verfassungs-)Recht die Ausführungen unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1134 Adalbert Podlech nennt als theoretische Grenze für die Digitalisierung der Rechtsanwendung/-findung die soziale Tragbarkeit des Zufallselements. In etwaigen verfassungsrechtlichen Anforderungen erkennt er allein praktische Probleme für die Digitalisierung. Das bedeutet nicht nur eine Banalisierung der vorliegend diskutierten verfassungsrechtlichen Vorbehalte, mit der Einordnung der sozialen Akzeptanz als theoretische Grenze verschwimmt außerdem die von ihm aufgestellte Unterscheidung praktischer und theoretischer Vorbehalte. Podlech ist schließlich dahingehend zu kritisieren, dass er zwischen dem Zufallselement digitaler Rechtsentscheidungen und solchen, die durch den Richter bzw. andere personal besetzte Gremien getroffen werden, keinen Unterschied macht (siehe insb. S.  109: „Da sich vermutlich keine Rechtsordnung angeben läßt, die hinreichende Bedingung dafür ist, daß es keine Zufallsentscheidung gibt, ist allein der Umstand, daß die Anwendung kybernetischer Systeme zu Zufallsentscheidungen führt, kein Argument gegen eine solche Anwendung.“). Er verkennt damit die sogleich im Haupttext vorgenommenen Differenzierungen. Ders., Logische Anforderungen kybernetischer Systeme an ihre Anwendung auf Rechtssätze, BB 1968, S. 106 (107, 108 f.). 1135 Siehe hierzu ausführlich die Ausführungen unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. Zur fehlenden Deckungsgleichheit der richterlichen Auslegung mit „mathematische[r] Logik“ auch Reimer Schmidt, Zahlen im Recht  – einige Bemerkungen, in: Claus-Wilhelm Canaris/Uwe Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 559 (568 f. [Zitat ebd.], siehe auch S. 570). 1136 „Zufall“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 30, 21. Aufl. 2006, S. 691 (693).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Absicht“1137 ein Ergebnis generiert. Den hieraus erwachsenden Bedenken kann nicht entgegengehalten werden, es lasse sich die Wahrscheinlichkeit des (digital) zufallsgenerierten Ergebnisses berechnen, es sei insoweit also auch rationalisierbar. Zweifelhaft erscheint nicht nur, ob ein digitales Berechnen auch ein digitales Entscheiden bedeutet.1138 Die Berechenbarkeit zeigt auch an, dass die Frage nach der un-/genügenden Rationalität des Zufallsprinzips als einzigem schöpferischen Moment bei der digitalen Rechtsfindung letztlich fehlgeht. Die Digitalisierung und damit binäre Codierung der rechtlichen Entscheidungsfindung bedeuten die Kollision verschiedener Rationalitätsverständnisse. Der digitale Arbeitsmodus folgt einer naturwissenschaftlichen Rationalität, die mit den geisteswissenschaftlichen Rationalitätsanforderungen an juristische Entscheidungen nicht konform geht. Wenn die digitalisierte Rechtsfindung auch (naturwissenschaftlich) rational verläuft, sieht sie doch darüber hinweg, dass im Zentrum der juristischen Entscheidungsfindung eine Wertung des Entscheidenden steht. „Die juristische Entscheidung ist im Kern unlogisch.“1139 Damit hängt eine weitere verfassungsrechtliche Problematik der Digitalisierung eng zusammen. Sie liegt darin, dass die Entscheidung über Recht und Unrecht aus der Hand des Richters in die einer Maschine gelegt wird, über den Rechtszwang also maschinell entschieden wird. Dem stehen Art.  92 GG und grundlegende Verfassungsprinzipien wie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip entgegen. Durchgesetzt hat sich die Digitalisierung jedenfalls nur sehr begrenzt und im Bereich bis ins Detail normierter, spielraumfreier Entscheidungen wie im elektronischen Mahnverfahren.

II. Richterliche Entscheidungsfindung als Rechtsschöpfung: Freirechtsbewegung und postmoderne Methodenvorstellungen Die Reduktion judikativer Entscheidungen auf einen mechanischen Vorgang naturwissenschaftlicher Rationalität ruft in der Methodengeschichte Widerspruch hervor. Interessensjurisprudenz, Freirechtslehre und postmoderne Methodenlehre verbindet die Einsicht, dass die richterliche Entscheidungsfindung immer (auch) Rechtsschöpfung bedeutet. Die Abkehr von der Begriffsjurisprudenz lässt keinen Raum mehr für eine wissenschaftliche Rechtserzeugung. Anfang des 20. Jahrhunderts setzt sich die Anerkennung der Rechtsprechung als Rechtsquelle durch. Der Richterspruch bindet, obwohl er selbst nicht normativ determiniert ist.1140

1137

„Zufall“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 30, 21. Aufl. 2006, S. 691 (Zitat ebd.). Zur Unvorhersehbarkeit als Wesensmerkmal von Entscheidungen unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1139 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 134. Zur Rechtsschöpfung im Rahmen der richterlichen Entscheidungsfindung sogleich unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1140 Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 305 ff. 1138

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Die Vorstellung des Richters als eines „Subsumtionsautomaten“,1141 der mit festgelegten „Werkzeugen der Rechtstechnik“1142 als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“1143 eine vorgegebene, einzig richtige Entscheidung der fallentscheidenden Normen freilegt, wird bereits von der Interessensjurisprudenz als „Juristen-Phantasma“1144 entlarvt.1145 Vor allem Jhering, einst entschiedener Vertreter der Begriffsjurisprudenz, und Philipp Heck wenden sich gegen eine als „Mathematik“1146 verstandene Rechtsanwendung und brechen mit der Anerkennung eines wertend-schöpferischen Elements das Recht als abgeschlossenes, rein logisches System auf. Im Zentrum des Methodenwandels steht ein neuartiges Verständnis des Rechts, das als Willensprodukt angesehen wird.1147 Hiermit korrespondiert die Funktion von Rechtsnormen, die auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Zwecksetzungen bezogen werden. Interessen werden als ihre Kausalfaktoren, aber auch als Gegenstand und Maßstab des Regelungszugriffs ausgemacht. Unter Flexibilisierung des strikt logisch-deduktiven Modells wird Gesetzesanwendung und -auslegung interessengeleitet und damit kontextgebunden verstanden.1148 „Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postuliert, hat zu geschehen, möge es logisch deduzierbar oder unmöglich sein.“1149 Die Kritik der Interessensjurisprudenz steigern Freirechtsschule und postmoderne Methodenlehre zur Identifikation der Rechtsprechung und freier Rechtsschöpfung. 1141

Klaus F. Röhl und Hans Christian Röhl nennen Beispiele für Metaphern in der Rechtstheorie. Hierzu gehört auch die Charakterisierung des Richters als „Subsumtionsautomat[…]“. Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 180. Paul Bockelmann spricht auch von einem „logische[n] Automatismus“. Ders., Richter und Gesetz, in: Erich Kaufmann/Ulrich S ­ cheuner/ Werner Weber (Hrsg.), Rechtsprobleme in Staat und Kirche, Festschrift für Rudolf Smend, 1952, S. 23 (26). 1142 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 180. 1143 Charles de Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. 1, 1979, liv. XI, chap. VI. 1144 Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 7 (ebd.). 1145 Siehe auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl in Bezug auf die Begriffsjurisprudenz. Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 68 f.: Das Lückenlosigkeitsdogma „verbindet sich mit dem Subsumtionsdogma, indem es die in irgendeiner Weise gefundenen Lösungen aus den zuvor nicht hinreichend definierten Begriffen herausholt.“ 1146 Rudolf v. Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 4. Aufl. 1891, S. 274 ([…] ich habe mir stets die Jurisprudenz als die Mathematik des Rechts gedacht. Der Jurist rechnet mit seinen Begriffen, wie der Mathematiker mit seinen Größen […].“) u. 342. Siehe bereits ders., Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Teil/Abt. 1, 2. Aufl. 1871, S.  311 f.: „Jener ganze Kultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer­ Mathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des Wesens des Rechts.“ 1147 Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 281 ff. 1148 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 44 ff.; Jan ­Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 342 f., 347, 366 f. 1149 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Teil/Abt. 1, 2. Aufl. 1871, S. 312.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Die postulierte Bindung des Richters an normative Vorgaben schlage sich in der tatsächlichen Urteilsfindung nicht nieder. Oskar Bülow leitet den Umbruch in der Methodenlehre ein: In seiner Schrift „Gesetz und Richteramt“ betont er 1885 den rechtsschöpferischen Charakter richterlicher Entscheidungen und wendet sich gegen ein Verständnis des Richterspruchs als zwingenden Subsumtionsschluss. Den expliziten Übergang zum Voluntarismus vollzieht die Freirechtsbewegung.1150 Zu deren Vertretern gehören Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz, Ernst Fuchs und Hermann Isay.1151 Sie finden angesichts der Lückenhaftigkeit und Unklarheit von Gesetz und Recht zu ihrer Überzeugung von einer Rechtsfindung durch den Richter, die jenseits des eindeutigen Wortsinns gesetzlicher Vorgaben tatsächlich frei ist.1152 Die kritische Auseinandersetzung der Freirechtsschule mit dem rechtswissenschaftlichen Positivismus deckt in der historischen Rückschau die Parallelen zur Digitalisierung des Rechts auf, die den menschlichen „Subsumtionsautomaten“1153 bloß durch den Computer ersetzten wird:1154 „Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hilfe rein logischer Operationen und einer nur ihm verständlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.“1155

Die postmoderne Methodenlehre knüpft an die Freirechtsbewegung an und stellt die Möglichkeit einer normgebundenen Rechtsprechung schlechthin in Frage.1156 Gemeint sind nicht Abmahnungen einer doppelzüngigen Justiz, wonach Methodik 1150

Bülow erkennt an, dass die jeweiligen normativen Vorgaben bei der Urteilsfindung mehrere Lösungen offen halten. Er spricht sich nicht explizit für eine subjektive Ausfüllung des richterlichen Entscheidungsfreiraums aus. Seine Ausführungen lassen sich auch als „teleologische[…] Auslegungslehre“ und Anerkennung eines rechtsschöpferischen Moments in der Urteilsfindung deuten. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 59 (Zitat ebd.). Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 18 Rn. 610. 1151 Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 18 Rn. 610. 1152 Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 47 f. mit einem Verweis auf Hermann Kantorowicz in Fn. 63: „Was uns in dem einen Fall extensiv oder analogisch, in dem anderen Fall wörtlich oder gar restriktiv interpretieren heißt, ist eben nicht das Gesetz oder die Logik, sondern das freie Recht oder der Wille, – bald der Wille, erwünschte Ergebnisse zu erzielen, bald derjenige, unerwünschten auszuweichen.“ Gnaeus Flavius (Hermann­ Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 24; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 335 ff., zur Schwierigkeit einer klaren Umgrenzung der Freirechtsschule S. 348 f. 1153 Siehe Fn. 1141 im dritten Teil. 1154 Hierzu Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972, S. 24. 1155 Gnaeus Flavius (Hermann Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, in: Hermann Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, hrsg. v. Thomas Würtenberger, 1962, S. 13 (14). 1156 Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 18 Rn. 610a.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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die wahre Natur gerichtlicher Entscheidungen verschleiert und bloß pseudorationaler Deckmantel von Entscheidungen ist, die tatsächlich unabhängig vom Rechtstext getroffen werden. Der Vorwurf, die klassische Methodenlehre diene der „Camouflage [von] Dezision“1157, nicht der Rationalisierung von Entscheidungen,1158 lässt die Möglichkeit der methodengerechten Entscheidungsfindung letztlich offen. Basis postmoderner Rechtskritik ist eine konstruktivistische Wissenschaftstheorie, nach der keine objektiv vorgegebene „Wirklichkeit“ und damit Wahrheit erkannt werden kann, sondern Erkennen stets Konstruktion bedeutet.1159 Für die Anwendung von Rechtstexten folgt daraus, dass deren Begriffe über keine feste sprachliche Bedeutung verfügen. Ihr Inhalt ist nicht nur nicht eindeutig, sondern nicht vorgegeben und wird erst durch Interpretation erzeugt. Eine objektiv richtige oder „definitiv[e]“ Textinterpretation ist nicht möglich.1160 Die Rechtsprechung zeichnet nicht gesetzliche Vorgaben nach, sondern die Generierung einer konkreten rechtlichen Lösung bedeutet die Konstruktion der gesetzlichen Vorgaben. Rechtsprechung ist nicht Auslegung, sondern Rechtsschöpfung. Der klassischen Methodenlehre, die auf das Auffinden eines vorgegebenen Sinns zielt und damit auf der Trennung von Rechtserzeugung und -anwendung basiert, wird ihr grundsätzliches Versagen attestiert. Die Nachzeichnung gerichtlicher Methodik und die Formulierung methodischer Anforderungen werden – dies gilt bereits für den Fall der erstgenannten Verschleierungstaktik – der tatsächlichen Entscheidungsfindung nicht gerecht. Sie entzieht sich nach der konstruktivistischen Überzeugung der Steuerung im Wege der Methodik. Wer nun eine vollkommen freie Rechtsetzung 1157 Horst Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Rationalisierung der Entscheidungsfindung oder Camouflage der Dezision?, in: Burkhardt Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 457 (458). 1158 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (169 ff.); Horst Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Rationalisierung der Entscheidungsfindung oder Camouflage der Dezision?, in: Burkhardt Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 457 ff. Zur „Herstellung“ und „Darstellung“ juristischer Entscheidungen Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 610 f. 1159 Klaus F. Röhl, Auflösung des Rechts, in: Stephan Lorenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, 2005, S. 1161 (1166 f.); ders./Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 98 ff. Siehe hierzu auch schon die einleitenden Bemerkungen zur Erkenntnis als Konstruktion in Fn. 21 im ersten Teil. 1160 Klaus F. Röhl, Auflösung des Rechts, in: Stephan Lorenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, 2005, S. 1161 (1167, Zitat ebd.). Sabine Müller-Mall begründet das Fehlgehen der Vorstellung eines vorgegebenen und nachzuzeichnenden Norminhalts an Ludwig Wittgenstein anknüpfend damit, dass eine Regel nicht ihre eigene Anwendung steuern könne. Zeichen würden außerdem (auch in Rechtstexten) nicht über „ein[en] verwendungsstabile[n] Sinn“ verfügen, Rechtserzeugung und -anwendung daher zusammenfallen. Dies., Interpretation als Rechtserzeugung, in: Thomas Groh/Jörn Lorenz (Hrsg.), Interpretatio mundi, 2010, S.  235 (239 ff., 245 ff., Zitat S.  246). Siehe auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 327 ff., zur Gebrauchstheorie der Bedeutung und zum Regel­skeptizismus S. 42 ff., 46 ff. Mit der Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Wittgenstein und der Möglichkeit ihrer Fruchtbarmachung für die Bedeutungsermittlung im Recht beschäftigt sich auch Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 11 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

des Rechtsanwenders annimmt, missversteht jedoch die postmoderne Auflösung des Deduktionszusammenhangs. Bedeutung bildet sich in sozialer Interaktion­ heraus und es sind in diesem Zusammenhang die klassischen Auslegungscanones als Argumentformen relevant.

B. Realität und verfassungsrechtliche Idealität (verfassungs-)gerichtlicher Methodik nach Überwindung der historischen Antipoden Die Methodenanforderungen des Grundgesetzes an (verfassungs-)gerichtliche Entscheidungen bedeuten einen Kompromiss zwischen den historischen Anti­ poden. Die Verfassung überwindet die Polarität von Rechtsanwendung und Rechtssetzung,1161 ohne die Rechtssetzung zu Lasten der Rechtsanwendung absolut zu setzen. Sie ist damit für die Realität der Entscheidungsfindung anschlussfähig, denn sie stellt sowohl die Herausforderung der rein rationalen Theorien durch schöpferische Elemente als auch die tatsächlichen Bindungen der Rechtsfindung in Rechnung.1162

I. Rechtsbindung Die deutsche Verfassungsordnung verfügt über eine innersystemische Rationalität, die die Möglichkeit der Rechtsbindung und damit grundsätzlich auch die methodische Ableitbarkeit richterlicher Entscheidungen aus gesetzlichen Vorgaben voraussetzt. Die Rechtsbindung ist Postulat. Das Grundgesetz setzt dem Einwand des Versagens der klassischen Methodenlehre mehr noch die „Verpflichtung auf die Sache des Rechts“ entgegen.1163 Das heißt die Frage nach der Methodengerechtigkeit der Erkenntnis kann im Recht nicht unabhängig von der Existenz rechtlicher Bindungen gedacht werden.1164 Der Geltungsanspruch der Rechtsordnung liefe ansonsten ins Leere und ihre – die Geltungskraft legitimierende – Funktion, die „Stabilisierung normativer Erwartungen“, entbehrte von vornherein jeder Grundlage.1165 1161 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 320, zur rechtstheoretischen Zurückweisung der Alternativität von Rechtsanwendung und Rechtssetzung im Detail S. 307 ff. 1162 Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (131, 134). 1163 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 5 (Zitat ebd.). Siehe auch Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 18 Rn. 610 f. 1164 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 49. 1165 Vgl. Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (171). Zur „Stabilisierung normativer Erwartungen“ als Funktion des Rechts Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 61, 129 ff. (Zitat S. 131).

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Die Rechtsbindung ist Voraussetzung der Ausdifferenzierung des Rechtssystems überhaupt, dessen Kommunikationen sich den Werten Recht und Unrecht zuordnen und anders als im politischen System nicht unter den Vorzeichen der Macht stehen.1166 Normen sind die „Programme“, die ausformulieren, was als Recht bzw. Unrecht gilt.1167 Die Existenz normativer Bindungen entspricht der Sicht des Bundesverfassungsgerichts. Dies wird in den vorliegend analysierten Entscheidungen im vierten Urteil zum Finanzausgleich (BVerfGE 101, 158) deutlich, als es durch den Dreischritt „Grundgesetz – Maßstäbegesetz – Finanzausgleichsgesetz“ einen politischen Kompromiss über die Anerkennung finanzieller Ausgleichsbedürfnisse der Bundesländer, der unabhängig von den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben verwirklicht und hernach lediglich in Gesetzesform gegossen wird, verhindern und die Rückbindung der Finanzausgleichsbestimmungen des Parlaments an die Verfassung sicherstellen will.1168 Die Bindung der Richter an das Recht entspricht einem materiell verstandenen Rechtsprechungsbegriff der Verfassung (Art. 92 GG), wonach die Rechtsbindung für die Rechtsprechung wesensbestimmend ist. Hartmut Maurer charakterisiert die Rechtsprechung als „rechtsgebundene[n] Erkenntnisprozeß“ und grenzt ihn vom „politische[n] Willensbildungsprozeß“ ab.1169 Die Anerkennung der Rechtsbindung des Richters geht implizit auch aus Art.  97 Abs.  1 GG hervor. Dessen sachliche Unabhängigkeit soll die ausnahmslose Bindung seiner Entscheidungen an das Recht sichern.1170 Die Verfassung expliziert die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG.1171 Die Rechtsbindungen gelten auch für die (quantifizierenden) Verfassungsrichter, denn sie üben eine – wenngleich politisch relevante – Rechtsprechungstätigkeit im Sinne des Grundgesetzes aus.1172 Ihnen obliegt es, die staatliche Gewalt allein am Maßstab der Verfassung 1166 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, zur Ausdifferenzierung von Systemen S. 43, zur Binärcodierung des Rechtssystems S. 60 ff., 67, 168 ff. Siehe auch Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (135): „Ein Gerichtswesen, das sich nicht vorrangig auf kodifizierten Logos stützt, wird über kurz oder lang von anderen Sozialsystemen aufgesogen.“ Aus systemtheoretischer Sicht erfordert die Ausdifferenzierung des Rechts als Autopoeisis spezifischer Kommunikationen freilich keine schriftliche Fixierung. Siehe nur Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 46 f., 211 f. 1167 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 189 ff. 1168 Siehe hierzu auch die Ausführungen unter A. I. 3. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1169 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 19 Rn. 3 ff. (insb. Rn. 5 u. 9 [Zitate ebd.]). Siehe auch Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (290). 1170 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 19 Rn. 17. 1171 Zum „Prinzip der Gesetzmäßigkeit“ Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 47 (Zitat ebd.), 53 ff. 1172 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn.  6. Zur Charakteristik (verfassungs-)gerichtlicher gegenüber parlamentarischen Entscheidungen siehe auch A. I. im 5. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

zu kontrollieren.1173 Sie sind außerdem an die (einfachen) Gesetze des Parlaments gebunden.1174 Art. 20 Abs. 3 GG ist Ausdruck des Demokratieprinzips, denn er errichtet für die Rechtsprechung eine sachliche „Legitimationskette“.1175 Die demokratische Legitimation des Bundesverfassungsgerichts gründet neben seiner Einrichtung durch die Verfassung in Art.  92 ff. GG1176 vor allem auf seiner Gesetzesbindung.1177 Nur wenn die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den Verfassungsinhalt wiedergeben, lässt sich ihre nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) verbindliche Wirkung für die übrigen Staatsorgane mit deren Verfassungsbindung auch verfassungsrechtlich rechtfertigen.1178 Die Rechtsbindung des (Verfassungs-)Richters bezieht sich auf den Inhalt des (Verfassungs-)Rechts, wie er sich im Wege der Auslegung ergibt. Berücksichtigt man die tatsächlich bestehenden Spielräume innerhalb jeder Auslegung,1179 entfalten jedenfalls die eindeutigen normativen Vorgaben Rechtsbindung. Betroffen sind nach der Heck’schen Terminologie die Begriffskerne.1180 Der Einwand auch die eindeutige Bedeutung sei Ergebnis einer Auslegung1181 und damit wegen der Unsicherheiten bei der Auslegung nicht mehr eindeutig, verfängt nicht. Das Rechtsbindungspostulat beruht auf „Idealisierungen“.1182 Sie ermöglichen die Annahme einer einzigen, vorgegebenen Bedeutung trotz konstruktivistischer Einwände zur Bedeutungsgenerierung im Recht. Aus konstruktivistischer Sicht bedeutet das verfassungsrechtliche Rechtsbindungspostulat, dass ein den Richter tatsächlich lei 1173

Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 3. Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (288 ff., zur [relativierten] Gesetzesbindung S. 289 ff.). 1175 Der Begriff der „Legitimationskette“ geht auf BVerfGE 83, 60 (73) zurück. So Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 28. Siehe auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 73 ff. (Zitat etwa S. 73). 1176 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 27 f. 1177 Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 (137). Vgl. auch Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (288 f.). 1178 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 50. 1179 Hierzu sogleich unter B. II. 1180 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (176: „im Kernbereich besteht eine vollkommene Abhängigkeit“). 1181 Siehe die Ausführungen zur Auslegungsfähigkeit bzw. -bedürftigkeit der Zahlen im Verfassungstext unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1182 Ulfrid Neumann, Thesenpapier zum Vortrag „Sprache und juristische Argumentation“ im Rahmen der Konferenz „Sprache – Recht – Gesellschaft“ der Akademie der Wissenschaften in Hamburg (14.–16. Juli 2011), S.  3. Klaus F. Röhl u. Hans Christian Röhl sprechen davon, „die juristische Methode [sei] berechtigt, mit der Vermutung zu arbeiten, dass die Texte selbst Bedeutung haben.“ Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 609 (Kursivsetzung durch Verf.). 1174

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tender Bedeutungsgebrauch zur vorgegebenen Bedeutung ideell überhöht wird.1183 Verfassungsrechtlich wird jedenfalls die Fiktion gefordert, dass in der Rechtsordnung etwas Vorgegebenes erkannt werden kann. Tatsächlich maßgeblich ist die Bedeutungszuweisung innerhalb des Rechtssystems durch den Fachdiskurs und die dort herausgebildeten, anerkannten Regeln. Was als Bedeutung anerkannt ist, gilt als deduzierbar und (unter Heranziehung der klassischen Auslegungs­canones) rational begründbar. Insoweit verwirklicht sich die verfassungsrechtlich geforderte Normbindung und Normen leiten die Entscheidungsfindung. Deren eindeutige Bedeutung ist, was durch den Diskurs als eindeutig ausgewiesen wird und eine ­„Idealisierung“1184 des Rechts gegenüber der Sprachtheorie erfolgt ggf. auch insoweit, als Gerichte bzw. das Verfassungsgericht verschiedenen tatsächlich anerkannten Bedeutungen eine maßgebliche Bedeutung entgegensetzen.1185 Die sprachtheoretische Realität bleibt für die verfassungsrechtliche Idealität insofern wirksam, als sich die aus verfassungsrechtlicher Sicht vorgegebene Bedeutung nicht Bedeutungsänderungen verschließt. Wenn sich Verschiebungen zwischen einem gesicherten und unsicheren Gebrauch ergeben, ändert sich auch der Grenzverlauf der aus verfassungsrechtlicher Sicht vorgegebenen Bedeutungskerne. Folgt man der Logik der vorgenannten „Idealisierungen“1186 und rekurriert auf eine vorgegebene Bedeutung bzw. einen vorgegebenen Bedeutungskern, verwirklicht sich Rechtsbindung, ohne in einem infiniten Regress auf übergeordnete, bedeutungssteuernde Normen zu münden. Die Verfassung kann dann zur Letztbegründung von Bedeutung herangezogen werden. Wenn Hans Kelsen Rechtsanwendung im Rahmen der möglichen Bedeutungen einer Norm stets als Willensakt ansieht,1187 geht er darüber hinweg, dass der faktische Bedeutungsgebrauch jedenfalls in der deutschen Verfassungsordnung durch das Rechtsbindungspostulat des Grundgesetzes im Kern verfassungsrechtlich verfestigt ist.

1183 Hierzu bereits unter A. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. Sabine Müller-Mall anerkennt eine mögliche Verfestigung des Sprachgebrauchs, auf die verfassungsrechtliche Überhöhung der gefestigten zur vorgegebenen Bedeutung geht sie nicht ein und findet daher auch keine­ Lösung für das Dilemma, dass judikative Entscheidungen anhand vorgegebener Normen legitimiert werden müssen, die Herstellung von Ableitungszusammenhängen aber der tatsächlichen Rechtsfindung nicht gerecht wird. Dies., Interpretation als Rechtserzeugung, in: Thomas Groh/Jörn Lorenz (Hrsg.), Interpretatio mundi, 2010, S. 235 (236 ff., 242, 247). Siehe in diesem Zusammenhang auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 120, 607 f. 1184 Ulfrid Neumann, siehe Fn. 1182 im dritten Teil. 1185 Ulfrid Neumann, siehe Fn. 1182 im dritten Teil. 1186 Ulfrid Neumann, siehe Fn. 1182 im dritten Teil. 1187 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 351: „In der Anwendung des Rechts durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“ Siehe hierzu­ Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, § 3 Rn. 99.

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II. Rechtsschöpfung Tatsächlich ist der (Verfassungs-)Richter mit Unsicherheiten konfrontiert, die er nur schöpferisch überwinden kann.1188 Ihm eröffnen sich „Spielr[ä]um[e], in de[nen] er […] zwischen mehreren Lösungen zu wählen hat.“1189 Die Gründe hierfür liegen auf verschiedenen Ebenen der Entscheidungsfindung. Zunächst bietet das geschriebene Recht keinen vollkommenen Entscheidungsmaßstab. Es normiert nicht für jeden Einzelfall eine (eindeutige) Lösung, sondern stellt nur eine „Skizze für das volle Bild des lebendigen Rechts“ zur Lösung einer unabgeschlossenen Anzahl noch unbekannter Konflikte bereit.1190 Der Skizzencharakter manifestiert sich in der Rechtspraxis vor allem in der sprachlichen Unbestimmtheit von Rechtsnormen.1191 Ihre Unbestimmtheit bedeutet Auslegungsbedürftigkeit, wenn Rechtsnormen auf konkrete Sachverhalte anwendbar sein sollen, und die Bedeutungs- bzw. Sinnermittlung von (Rechts-)Sprache lässt sich nicht verobjektivieren. Es dominiert tatsächlich zwar ein fester Kreis von Auslegungskriterien, jedoch ist nicht nur ihre Zahl, sondern auch Rangfolge umstritten. Nicht einmal die Anwendung der einzelnen Kriterien führt zu eindeutigen Ergebnissen.1192 Die Unsicherheiten und damit die „volitiven und dezisionären Elemente“1193 im Rahmen der Auslegung, die nach der Heck’schen Vorstellung ihre strukturelle Entsprechung in den Begriffshöfen finden,1194 verstärken sich mit zunehmender Unbestimmtheit der Entscheidungsgrundlagen und betreffen vor allem unbestimmte normative, im Sinne wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe.1195 Sie sind daher insbesondere in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die unmittelbar 1188 Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1982 f.); Martin Drath zur Bundesverfassungsgerichtsbarkeit: „Es handelt sich in allen Fällen, die ernstlich zweifelhaft sind […], […] nicht nur um eine Konkretisierung des Rechts durch Auslegung, sondern um eine weitaus selbständigere, geradezu um eine schöpferische Tätigkeit.“ Ders., Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 17 (94); Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 120 f. 1189 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 22. 1190 Zitat Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1985). 1191 Zur Unbestimmtheit der Rechtssprache im Allgemeinen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils, der Verfassung im Besonderen unter B. II. 1. und 2. a) im 3. Kapitel des zweiten Teils und ihrer Durchbrechung durch Zahlen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1192 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 19 f.; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 144 f. 1193 Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 10: „Die volitiven und dezisionären Elemente nehmen in dem Maß zu, in dem sich die gesetzlichen Formulierungen in den abstrakten Höhen des Begriffshimmels bewegen“. 1194 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (171, „So steht also der verfassungsrechtlich geforderten notwendigen Bindung an das Gesetz […] die praktizierte und nach dem Aufbau unserer Staats- und Rechtsordnung unvermeidliche Freiheit des Richters bei der Gesetzesinterpretation gegenüber.“). 1195 Vgl. Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249 (250).

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am Maßstab des Grundgesetzes getroffen werden, beobachtbar. Das Charakteristikum des Rechts als bloßer „Skizze“1196 tritt im Grundgesetz deutlicher zu Tage als in einfachen Gesetzen. Als Rahmenordnung des politischen Prozesses bleibt es seiner normativ-inhaltlichen Struktur nach fragmentarisch. Das Bild prägen ausfüllungsbedürftige Prinzipien, Zielbestimmungen und Formelkompromisse. Es handelt sich um eine „offene“, keine logisch geschlossene Verfassungsordnung.1197 Der Skizzencharakter des Rechts ist dann eminent, wenn in Frage steht, welcher Entscheidungsmaßstab überhaupt maßgebend sein soll. Dies gilt insbesondere für Normkollisionen und das Fehlen einschlägiger Rechtsnormen.1198 Unsicherheiten bei der Entscheidungsfindung ergeben sich schließlich daraus, dass sich die Anwendung1199 der Entscheidungsmaßstäbe auf einen Sachverhalt, d. h. dessen Qualifikation als normgemäß bzw. -widrig, nicht in einem einfachen Abgleichen erschöpft. Juristische Entscheidungen lassen sich nicht streng logisch ableiten.1200 Die Methodenanforderungen des Grundgesetzes berücksichtigen diese tatsächlichen Unsicherheiten bei der Entscheidungsfindung. Auch in den Spielräumen trifft die von strikten Ableitungszusammenhängen befreite Realität der Entscheidungsfindung auf eine anschlussfähige Idealität. Art. 20 Abs. 3 GG normiert keine totale Verfassungsbindung. Die (Verfassungs-)Rechtsprechung ist nach der Logik des Grundgesetzes kein bloßer Verfassungs- bzw. Gesetzesvollzug. Das Grundgesetz integriert schöpferische Elemente in seine Vorstellungen von einer Methodengerechtigkeit der Rechtserkenntnis, denn es überantwortet die Rechtsprechung nach Art. 92, 97 Abs. 1 GG der unabhängigen richterlichen Urteilsfindung. Urteile sind normative Entscheidungen und ebensolche können am Maßstab der Verfassung überhaupt nur getroffen werden, wenn schöpferische Elemente zugelassen sind. Ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit ist für sie wesensbestimmend. Pure „Automatism[en]“, die bei der Begriffsjurisprudenz die logische Ableitbarkeit der rechtlichen Lösung bedeuten (Rechtsfindung als Normvollzug) und bei der digitalisierten Rechtsfindung maschinell vollzogen werden, sind keine Entscheidungen.1201 1196

Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1985). Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089 (2091); Konrad Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 1 Rn. 15 (Zitat ebd.); Christian Waldhoff, Manipulation von Wahlterminen durch die Zusammenlegung von Wahlen?, JZ 2009, S. 144 (146 f.). Siehe auch die Ausführungen zur semantischen Integration von Zahlen in die Verfassung unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1198 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 17 f. 1199 Eine strikte Trennung der Auslegung des Entscheidungsmaßstabs von seiner Anwendung auf einen Sachverhalt ist freilich nicht möglich (siehe hierzu A. I. 3. im 3. Kapitel des dritten Teils). Sie dient vorliegend dazu, verschiedene Ansatzpunkte für Unsicherheiten bei der Entscheidungsfindung klarzustellen. 1200 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 120. 1201 Vgl. Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 10: „Nicht gewusst wird der Ausgang einer Entscheidung. Er ist aus keinen Prämissen ableitbar, und wäre er es, er wäre nicht das Ergebnis einer Entscheidung, sondern bloßer Automatismus. Der pure Vollzug ist das Gegenteil einer Entscheidung.“ 1197

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Der Wertungsbestandteil ermöglicht es dem Richter, seiner sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Verpflichtung nachzukommen, neben Rechtssicherheit auch Einzelfallgerechtigkeit durch seine Entscheidungen sicherzustellen. Das lateinische Rechtssprichwort „Iudex non calculat.“ – „Der Richter rechnet nicht.“1202 – illustriert die verfassungsnormativen Methodenanforderungen und erschöpft sich nicht in einer Beschreibung der tatsächlichen Entscheidungsgenerierung. Das Bild der Justitia mit ihren beiden Waagschalen darf nicht zu der irrtümlichen Vorstellung verleiten, das Grundgesetz verlange von der (Verfassungs-)Rechtsprechung die Verwendung eines naturwissenschaftlichen Rationalitätsmaßstabs und bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung eine exakte Ableitbarkeit der Zahlen im Sinne einer „Vermessung der Verfassung“. Eine verfassungsgerechte Methodik bedeutet, dass der Richter Argumente nicht im technischen Sinne zählt bzw. wiegt, sondern sie nach ihrer Bedeutsamkeit wägt, um zu einer Entscheidung zu gelangen.1203

III. Zusammentreffen von Rechtsbindung und Rechtsschöpfung in einer methodengeleiteten Entscheidungsfindung Sieht man von den „Idealisierungen“1204 ab, mit denen die grundgesetzliche Vorstellung einer Rechtsbindung notwendigerweise verbunden ist, kann zwischen einer Normbindung und -ausfüllung nicht mehr scharf unterschieden werden. Einerseits ist jede Verwirklichung der Normbindung bereits wegen des Ausbrechens der Auslegung aus einer strikt logischen Deduktion immer Normausfüllung. Jede Normausfüllung bleibt andererseits normativ gebunden. Auch wenn das Grundgesetz Methodenfragen nicht explizit regelt,1205 verlangt es vom Richter doch unterschiedslos eine methodengeleitete Entscheidungsfindung. Dies ergibt sich aus dem Rechtsstaatsgebot, das den Richter auch in seinen Entscheidungsspielräumen bindet. Es handelt sich außerdem um eine dem parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsmodell inhärente Forderung. Die Sozialordnung wird im Wege

1202

Ursprünglich verweist die Redewendung „Iudex non calculat.“ auf eine Regelung in den Digesten, wonach offensichtliche Rechenfehler in einem Urteil korrigiert werden durften. Eine entsprechende, aktuelle Regelung findet sich auf einfachgesetzlicher Ebene in § 319 ZPO. Nikolaus Benke/Franz-Stefan Meissel, Juristenlatein, 3. Aufl. 2009, S. 175; Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 3. Aufl. 1983, S. 102 Nr. 150. Einfachgesetzliche Normen, die die richterliche Urteilsfindung im Sinne einer Abwägung von Argumenten regeln, sind § 286 Abs. 1 ZPO und § 261 StPO (freie richterliche Beweiswürdigung). 1203 Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1249, 1265 f.: „Wo abgewogen werden muß, kann nicht berechnet werden.“). Siehe auch Otto Depenheuer, Zählen statt Urteilen, SächsVBl. 2010, S. 177 (180). 1204 Ulfrid Neumann, Fn. 1182 im dritten Teil. 1205 Hierzu und zu den Folgeproblemen ausdrücklicher methodischer (verfassungs-)gesetzlicher Anordnungen Christian Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Holger Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 77 (86 f.).

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des Rechts, insbesondere durch Parlamentsgesetze, gesteuert. Zur Gewährleistung eines Legitimationszusammenhangs müssen dann die einzelnen Rechtsakte an generell-abstrakte Normen rückgekoppelt werden. Die demokratische Legitimation richterlicher Entscheidungen wird zwar indirekt auch über den (Verfassungs-)Richter, aber vor allem direkt über das (Verfassungs-)Gesetz gewährleistet.1206 Das schöpferische und zugleich methodisch gebundene Element offenbart die Rechtsprechung als geisteswissenschaftliche Erkenntnis. Es gilt eine von den Naturwissenschaften abweichende Entscheidungsrationalität.1207 Die Methodenwahl wird dem Verfassungsrichter nicht im Einzelnen vom Grundgesetz vorgegeben. Es findet sich hier nur ein von den genannten verfassungsrechtlichen Prämissen gezeichneter äußerster Rahmen – die Verfassung ist auch in Methodenfragen Rahmenordnung.1208 Verlangt wird jedenfalls eine so weit als möglich rationale Entscheidungsfindung:1209 „Der Richter muß sich […] von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen.“1210

IV. Jenseits der Methodik: Rechtsschöpfung durch Dezision oder „Toute Pensée émet un Coup de Dés.“1211 Dennoch kann – so weit das Zugeständnis an die postmoderne Methodenskepsis und deren Entlarvung normativer Entscheidungen als „voluntaristisch[…]“1212  – ein Rest an Irrationalität verbleiben. Das weder normativ gesteuerte noch ratio 1206 Christian Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Holger Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 77 (84–88). 1207 Zu den Charakteristika der geisteswissenschaftlichen im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis unter A. I. im 3. Kapitel des ersten Teils. 1208 Christian Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Holger Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 77 (88). Zur Verfassung als Rahmenordnung soeben im Haupttext unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils u. bei der Kompetenzabgrenzung von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber unter A. II. im 5.  Kapitel des dritten Teils. 1209 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 124 f. Siehe zu den Methodenanforderungen, die wiederum idealtypisch danach differenzieren, ob der Richter gebunden oder schöpferisch handelt, die Ausführungen im Zusammenhang der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung unter C. II. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. Es erfolgt dort eine nähere Bestimmung der vom Richter geforderten Rationalität. 1210 BVerfGE 34, 269 (287). 1211 Stéphane Mallarmé, Sämtliche Gedichte. Französisch mit deutscher Übertragung von Carl Fischer, 1957, S. 157/177 (175/195). Zitat auch bei Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1267, Fn. 58). Hogrebe übersetzt Mallarmé mit „Jeder Gedanke emittiert einen Würfelwurf.“ Anders C. Fischer: „Jeder Gedanke ist ein Würfelwurf.“ Hierzu sogleich im Text und Fn. 1221 im dritten Teil. 1212 Katharina v. Schlieffen (geb. Sobota) spricht von einem „voluntaristische[n] [Entscheidungs-]Modell.“ Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (134).

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nalisierbare1213 und daher „willkürliche[…], nur von Durchsetzungsmacht abhängige[…]“1214 Entscheidungsmoment außerhalb der richterlichen Erkenntnis1215 bezeichnet der Fachterminus der Dezision. Er verdeckt eine notwendig tauto­ logische Definition: Die Entscheidung ist (bloße)  Entscheidung („Die Aufgabe des Richters ist nicht zu erkennen, sondern zu entscheiden.“1216).1217 Es geht darum, überhaupt eine Regelung zu treffen1218 und insoweit setzt sich dann der „verfassungsgestaltende“, „politische[…]“ Wille1219 des (Verfassungs-)Gerichts durch. Der Charakter der Rechtsprechung als Machtausübung ist hier unmittelbar einsehbar. 1213

Heinrich Honsell spricht von der „Überschreitung [einer] […] kognitiven Grenze.“ Ders., Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (1694). Anderer Ansicht ist Robert Alexy. Er geht zwar nicht davon aus, dass die Rechtsordnung auch bei Berücksichtigung durch Prä­judizien und Dogmatik bewirkter inhaltlicher Bindungen auf jede Rechtsfrage eine Antwort bereit hält; von Ronald Dworkin grenzt sich Alexy explizit ab (ders., Theorie der Grundrechte, 1994, S. 519; zu Dworkin sogleich in Fn. 1217 des dritten Teils). In den meisten Fällen seien Wertungen des Rechtsanwenders erforderlich und alternative Entscheidungen möglich. Die Entscheidungsfindung sei gleichwohl nach den Regeln eines an den allgemeinen praktischen angepassten juristischen Diskurses rationalisierbar und damit objektivierbar. Ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 31 ff., 351 f.; bezogen auf die Grundrechte und damit für die Verfassungsebene ders., Theorie der Grundrechte, 1994, S. 498, 501, 521 („Die durch die Grundrechte bewirkte Offenheit des Rechtssystems ist also unausweichlich. Sie ist aber eine Offenheit qualifizierter Art. Es handelt sich bei ihr nicht um eine Offenheit im Sinne von Beliebigkeit oder bloßer Dezision. Die dargelegte Basis [„Gesetz, Präjudiz und Dogmatik“, ebd., S. 498] gibt der grundrechtlichen Argumentation ein Stück Festigkeit, und durch die Regeln und Formen der allgemeinen praktischen und der juristischen Argumentation wird die auf dieser Grundlage stattfindende grundrechtliche Argumentation rational strukturiert.“). Gegen Alexy und für das verbleibende voluntative Element jeder Rechtsprechungstätigkeit lässt sich vorbringen, dass Alexy einen idealen juristischen Diskurs beschreibt. Die diskursive Rationalisierung der juristischen Entscheidung ist theoretisch möglich, findet aber jedenfalls vor Gericht tatsächlich nicht statt. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 185 f., 188. 1214 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 38 f. 1215 Zur Irrationalität als Grenze der Erkenntnis bereits unter A. III. im 3. Kapitel des ersten Teils. 1216 Christoph Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (49). 1217 Anders Ronald Dworkin, der die These aufstellt, in der (sich aus Regeln und Prinzipien zusammensetzenden) Rechtsordnung könne auf jede Rechtsfrage eine Antwort gefunden werden (siehe hierzu auch Fn. 1330 im dritten Teil). Dworkin geht nicht von der strikten Deduzierbarkeit normativer Entscheidungen aus, die Methodik der Entscheidungsfindung bleibt darüber hinaus aber – vom Verweis auf den Superrichter Herkules abgesehen – offen. Das Fehlen nicht normativ angeleiteter Entscheidungsmomente bleibt damit letztlich Behauptung. Ders., Bürger­rechte ernstgenommen, 1984, S. 144 ff.; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 285 ff. 1218 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 48 ff., 68. Das erstmals 1912 veröffentlichte Werk „Gesetz und Urteil“ bedeutet eine deutliche antipositivistische Positionierung Schmitts (Reinhard Mehring, Carl Schmitt, 2009, S. 39 f.) und muss daher bei der Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, deren Maßstab und Fundament das Grundgesetz als rechtsstaatliche Verfassung ist, kritisch gelesen werden. 1219 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 164 f. (Zitate S. 165).

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Von außen betrachtet (die subjektive Binnensicht des Richters, der hinter seinen „faktisch vorhandenen normativen Überzeugung“1220 keine Dezision erkennt, mag hiervon abweichen) ist der inhaltliche Ausgang der (verfassungs-)richterlichen Entscheidung (nicht die Entscheidung selbst!) insoweit allein dem Zufall unterworfen, ein „Würfelwurf“.1221 Die „Probabilisierung“ kann die „Randomisierung“ der Entscheidung nicht ausschließen.1222 Es kommt an dieser Stelle die von ­Wolfram Hogrebe herausgearbeitete Parallelität zwischen richterlichen Entscheidungen und den Weissagungen antiker Orakel wie den kryptischen Verlautbarungen der Pythia in Delphi1223 zum Tragen.1224 Der als „Machtspruch“1225 des Richters daherkommende Zufall verhilft durch das Dilemma des (rational) Unentscheidbaren zur Entscheidung. Damit ist zugleich auf das Wesen von Entscheidungen verwiesen, die tatsächlich noch radikaler ausfallen als nur in Folge eines schöpferischen Elements

1220

Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 24. Vgl. hierzu Wolfram Hogrebes Verweis auf Albert Einsteins Diktum „Gott würfelt nicht!“ und dessen Ausführungen zur Existenz des Zufalls im Recht: „Aber nicht nur Gott würfelt, sondern auch die Natur und das geltende Recht.“ Ders., Seher, Richter und Zufall, in: G ­ ünter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1263 ff., Zitate S. 1263). Hogrebe begreift die Anerkennung des Zufalls als „rationalitätsgeschichtliche Zäsur“ (ebd., S. 1266) und stellt auf der Grundlage dieser Einsicht die Existenz sicheren Wissens mit einem Zitat aus einem Gedicht von Stéphane Mallarmé überhaupt in Frage: „Toute Pensée émet un Coup de Dés. / „Jeder Gedanke emittiert einen Würfelwurf.“ Stéphane Mallarmé, Sämtliche Gedichte, 1957, S. 157/177 (175/195); Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (S. 1267, Fn. 58). 1222 Vgl. Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 7 (11 ff., Zitate S. 14). 1223 Pythia war in der antiken Kultstätte von Delphi das Medium des Apolls. Sie saß über einem Erdspalt und weissagte unter dem Einfluss hieraus aufsteigender Dämpfe. Ihre im Rausch gestammelten Antworten wurden von Priestern reformuliert. „Delphi“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 6, 21. Aufl. 2006, S. 406. 1224 Vgl. Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1257): „Orakel sind aus heutiger Sicht ja durchaus als Zufallsgeneratoren anzusehen, als Praxen künstlicher Zufallsinszenierungen […].“ Ders. untersucht Parallelen und Verbindungslinien zwischen Sehern und Richtern bzw. Weissagungen und Urteilen. Er erkennt in den blinden Sehern der Mythologie und den verbundenen Augen der Justitia eine erste äußere Parallele und untersucht außerdem die Funktion der Orakel als Gerichte im antiken Griechenland und alten Ägypten. Ebd., S. 1250, 1253 ff. Hogrebe sieht jedoch unter der Ägide des Grundgesetzes bei der Herstellung und wohl auch in Bezug auf den Inhalt rechtlicher Entscheidungen keine Übereinstimmungen mit mantischen Praktiken. Er stellt auf die richterliche Urteilskraft, die sich an der Überzeugungskraft der Argumente orientiere, und den Abschluss der Argumentation durch Abstimmung ab. Ebd., S. 1264 f. Über die unumgehbare Endlosigkeit jeder Argumentation, d. h. die Unauflösbarkeit der Argumentation durch Argumentation, geht er hinweg. Und auch die formale Abstimmung des judikativen Kollegialorgans kann nicht über das Willkürelement, das den Inhalt der Entscheidung betrifft, hinweghelfen. Heinrich ­Honsell kritisiert die Dezisionen des Bundesverfassungsgerichts und spricht davon, seine Entscheidungen seien nicht vorhersehbare Weissagungen. Ders., Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (1695): „Wer nicht errät, was das Gericht weissagen wird […].“ 1225 Zitat aus Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: Cornelia Vismann/ Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 51 (52). 1221

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unvorhersehbar zu sein.1226 Entscheidungen sind unentscheidbar: „Man kann nur entscheiden, wenn und weil man nicht entscheiden kann.“1227 Die Einsicht in dieses Paradox ergibt sich aus der „Kontingenz allen Geschehens“,1228 die Entscheidungen erst erforderlich macht, aber eben auch für diese selbst (in sämtlichen „Fälle[n]“, „nicht nur [in den] […] hard cases“1229) gilt. Entscheidungen sind Entscheidungen, weil sie mehr verlangen als Erkenntnis, und Urteile des Richters sind dann auch geisteswissenschaftliche Erkenntnis, aber mit ihr nicht gleichzusetzen.1230 Über dessen Dezision hilft auch nicht die der Entscheidung vorhergehende Argumentation der Prozessparteien im (bundesverfassungs-)gerichtlichen Verfahren und die ihr nachgelagerte (verfassungs-)gerichtliche Begründung hinweg. Eine vor- und nachgelagerte Rationalisierung ist wie die Rationalisierung zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht denkbar, denn sie brächte die Entscheidung überhaupt zum Verschwinden: „Wo eine Alternative schon aus sich heraus näherliegend, höherwertig, überlegen ist, bedarf es keiner Entscheidung, sondern allenfalls einer – mehr oder weniger langwierigen – Errechnung.“1231 Oder in den Worten Jaques Derridas: „Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierbare Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen.“1232 1226

Siehe soeben unter B. II. In Anknüpfung an Niklas Luhmann Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (ebd.). 1228 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (ebd.). 1229 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (44). 1230 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 307 f. („Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares [nicht nur: Unentschiedenes!] vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müßte nur noch ‚erkannt‘ werden.“, ebd., S. 308). Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (37 f., 44). Auch Fögen stellt die Entscheidung als Gegensatz der Erkenntnis dar, spricht aber auch davon, dass sie „immer […] anders, wenngleich nicht beliebig anders“ ausfallen könne (ebd., S. 37). So auch Benjamin Lahusen/Moritz ­Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (74, 79). Zum dargestellten Paradox der Entscheidung des Unentscheidbaren Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: ­Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 51 (52 f.). Niklas ­Luhmann begründet die Einordnung der Entscheidung als Paradox mit einem weiteren Aspekt. Unentscheidbar sei auch die Entscheidung für die zur Entscheidung stehenden ­Alternativen, denn diese „(Vor) Entscheidung[…]“ bedeute eine Entscheidung für die Unterscheidung. Benjamin Lahusen/­ Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter ­Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (72). 1231 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (72, Kursivsetzung durch Verf.). 1232 Jaques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, 1996, S. 49 f. „Jeder Entscheidung […] wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne […].“ Ebd., S. 50 f. Die Einsicht, dass jeder Entscheidung das Unentscheidbare inne wohnt, veranschaulicht Derrida mit ihrer Charakterisierung als „Aporie“ (ebd., S. 49) und als „Mysterium“ (Fn. 1273 im dritten Teil). 1227

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Jeder Versuch ihrer kommunikativen Rationalisierung ist endlos, ihr Abbruch immer Dezision. Am Ende jedes Versuchs, die Entscheidung zur Entscheidbarkeit zu führen, steht also die Unentscheidbarkeit. Bei der zufälligen „Entscheidung“ des Richters handelt es sich dann, wie der Verweis auf den „verfassungsgestaltende[n]“1233 Charakter der Dezision bereits andeutet, um ein kreatives inhaltliches Gestalten. Der dezisionistische Entscheidungsbestandteil übernimmt eine schöpferische Funktion im Recht:1234 „Die politische Entscheidung ist das ‚genaue Gegenteil der mathematischen oder logischen Schlußfolgerung‘ (Flechtheim). Ideal­ typisch gehört sie nicht dem Bereich des Standardisierten und Stereotypen an, sondern dem des Schöpferischen.“1235 In ihrer Subjektbezogenheit im Sinne einer Untrennbarkeit vom schöpferisch tätig werdenden Subjekt unterscheidet sich die Dezision als integraler Bestandteil (verfassungs-)richterlicher Entscheidungen von der eingangs in Bezug genommenen Tätigkeit des Auswürfelns.1236 Gleiches gilt für die angeordneten Zufallsentscheidungen des Rechts (Bsp. Zusammensetzung der Schöffenliste per Los gem. § 45 Abs. 2 und 3 GVG) und dem in die digitalisierte Rechtsfindung integrierten Zufallselement,1237 im Wege derer eine „völlig subjektfreie faktizistische Objektivität“ verwirklicht wird.1238 Die Zufälligkeit der richterlichen Entscheidung steht nicht ihrer kausalen Rückführbarkeit auf bestimmte Faktoren entgegen, allein liegen diese immer nur in der Person des Richters, d. h. seinen subjektiven Entscheidungspräferenzen, begründet.1239 Seine Entscheidung ist „persönliches 1233

Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 165. Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 281: „Daß dem Richter ein Beurteilungsspielraum verbleibt, innerhalb dessen dann nur noch seine persönliche Richtigkeitsüberzeugung den Ausschlag gibt, erscheint indessen nur dem als ein ‚peinlicher Rest‘, der an die restlose Rationalisierung aller Lebensvorgänge und damit an die endliche Ausschaltung der kreativen Persönlichkeit zu glauben vermag.“ (Kursivsetzung durch Verf.). Vgl. auch Wolfram Hogrebe, der den Zufall als Ursprung des „Neue[n]“ ausmacht. Ders., Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (ebd.). 1235 Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972, S. 22. 1236 Bei der weiteren bildhaften Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung des Zufalls­ elements (verfassungs-)gerichtlicher Entscheidungen muss dies in Rechnung gestellt werden. Die Verf. folgt in der Charakterisierung verfassungsgerichtliche Entscheidungen als „Würfelwurf“ Mallarmé, bei dem das Bild des Würfelns und die Abhängigkeit des Entscheidungsinhalts vom Subjekt zusammenfinden: „Toute Pensée émet un Coup de Dés.“ (siehe die Überschrift dieses Kapitels und Fn. 1211 im dritten Teil). 1237 Siehe die Ausführungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1238 Vgl. Hubertus Buchstein, Lostrommel und Wahlurne – Losverfahren in der parlamentarischen Demokratie, ZParl 2013, S. 384 (390); Roland Lhotta, Gehen Sie nicht über Los! Eine Erwiderung auf Hubertus Buchstein, ZParl 2013, S. 404 (417); Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1265, Zitat ebd.). 1239 Die subjektiven Entscheidungspräferenzen können (neben anderen Faktoren) dem Vorverständnis der Entscheidung zugeordnet werden. Hierzu Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, insb. S. 133 ff. Zu einer empirischen Untersuchung der maßgeblichen Faktoren der Urteilsfindung aus der Sicht der Richter Rudolf Gerhardt/Hans Mathias Kepplinger/Stefan Geiß, Mit Macht und Mitgefühl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Juni 2012, S. 9. 1234

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Bekenntnis“.1240 Im Zusammenhang mit Quantifizierungsfragen wird die subjektive politische Präferenz der Verfassungsrichter insbesondere in den Entscheidungen zu den Hartz IV-Regelsätzen und zur W-Besoldung unterstellt. Das Bundesverfassungsgericht prüft in beiden Fällen die Höhe staatlicher Leistungen und kommt trotz weitgehender Parallelen in der Prüfungsstruktur und -intensität bei höchst unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben zu dem Schluss, dass die Sozialleistungen, nicht aber die Professorenbesoldung hinreichend ist. Die Entscheidung bleibt – soweit sie auf subjektiven Präferenzen beruht – irrational, denn sie wird nicht von einer übergeordneten und (soweit die Rechtsbindung reicht normativen) Rationalität geleitet. Sie ist nicht „sachlich gerechtfertigt“.1241 Die Dezision, so lässt sich argumentieren, ist überhaupt nur über das Rechtsgefühl1242 (das Judiz) des Richters zugänglich. Sie ist „das Numinose“ des gerichtlichen Urteils.1243 Die Dezision wird zur offenen Flanke des Verfassungsstaats, der die Justiz über das Rechtsstaatsprinzip von politischen Machtsprüchen gerade befreien will, und bedarf daher über die unmittelbare Rechtsbindung und rationalen Entscheidungsbestandteile hinaus der Einbindung. Die erforderliche Begrenzung ist in der Entgrenzung bereits angelegt. Die Definition der Dezision als Abhängigkeit der Entscheidung vom Richter verweist – positiv gewendet – darauf, dass sie nicht von jedem anderen ebenso gut ausgeübt werden könnte.1244 Er unterliegt den (rechtlichen) Bindungen der Gerichtsorganisation, seiner Profession1245 und Erfahrung,1246 die bis in die dezisionistischen Entscheidungsbestandteile hineinwirken und auf eine Orientierung der politischen Entscheidungen am (Verfassungs-)Recht1247 hinwirken. Die Anerkennung der Dezision bedeutet nicht zwangsläufig einen ent 1240 Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „­ nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249 (251). 1241 Fritz Haueisen setzt die fehlende sachliche Rechtfertigung mit Willkür gleich. Ders., Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644, Zitat ebd.). 1242 Grundlegend Julia Franziska Hänni, Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung, 2011. 1243 Der Begriff des „Numinose[n]“ geht auf den Theologen Rudolf Otto zurück, der es als „Objekt“ „religiöser Gefühle“ ausmacht. Alexander Grau, Religiöse Gefühle sind nicht rational, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2012, S. N 4 (Zitate ebd.). 1244 Hinsichtlich der Grenzwerte im Umweltrecht nimmt Georg Buchholz hingegen, soweit sie auf einer reinen Willensentscheidung beruhen, mangels notwendiger Expertise die Austauschbarkeit des Entscheidenden an. Ders., Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 36 f. 1245 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 329 ff. Karl Engisch verweist im Zusammenhang der Rechtsbindung des Richters darauf, dass er das Urteil „vor seinem Amt und seinem Gewissen […] verantworten“ müsse. Ders., Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 53. 1246 David v. Mayenburg, Die Bemessung des Inkommensurablen, 2012, S.  130 f., 132. Zur Rolle der Erfahrung im Erkenntnisprozess Harro Albrecht, Lob der Erfahrung, Die Zeit, 3. Mai 2012, S. 33 f.; Thomas Assheuer, Worauf ist noch Verlass?, ebd., S. 34; Markus Kiefer, „Denken ist die Simulation gemachter Erfahrungen“, Interviewer: Harro Albrecht, ebd., S. 35. 1247 Zur Aufdeckung der politischen Wesenszüge der Rechtsprechung und für die Zähmung einer politischen Justiz durch ihre Orientierung an der Verfassung Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972, siehe insb. S. 17, 44 ff.

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fesselten, politischen Richter, weil sie besonders ausgebildeten und für die Gefahr des Machtmissbrauchs sensibilisierten Instanzen im Rechtssystem überantwortet ist. Der Richter übernimmt für sie wie für seine Entscheidung insgesamt Verantwortung. Eine Gleichsetzung der Dezision mit zufälligen im Sinne sich jedem Verantwortungszusammenhang entziehenden ausgelosten oder computergenerierten Entscheidungen muss auch aus diesem Grund scheitern.1248 Das Grundgesetz, das einer digitalisierten Rechtsfindung entgegensteht1249 und zugleich nur rudimentäre Methodenvorgaben aufweist,1250 baut auf dem „Ideal [einer] der Richterpersönlichkeit verpflichtete[n] Justiz“1251 und gewährleistet durch den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens sowie eine freie mediale Beobachtung (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) zugleich Kontrollmechanismen. Die Begründungspflicht stellt nicht nur die Anschlussfähigkeit des Diskurses sicher, sondern entfaltet ebenso Vorwirkungen auf die Entscheidungsfindung.1252 Dezision bedeutet insoweit einen Einbruch von Faktizität, als sie nicht der verfassungsnormativen Idealität einer rationalen Entscheidungsgenerierung entspricht. Wirklichkeit und methodischer Anspruch an die richterliche Entscheidung, die im modernen Rechtsstaat Produkt menschlicher Vernunft und Verwirklichung von Gerechtigkeit sein soll,1253 treten auseinander. Neben die „normative[…] Rechtswissenschaft, die prüft, wie [der Richter] […] entscheiden soll, tritt […] eine Tatsachenwissenschaft, treten Richterpsychologie und Richtersoziologie.“1254 Als unvermeidbarer Bestandteil der (verfassungs-)richterlichen Entscheidungsfindung ist die Dezision im (Verfassungs-)Rechtssystem gleichwohl normativ anerkannt und – wie soeben dargestellt – verfassungsrechtlich eingebunden. Ihre Anerkennung beruht auf einem, der Autopoeisis des Systems immanenten1255 Rechtsverweigerungsverbot. Wenn die Dezision bei der gerichtlichen Entscheidung unumgehbar und eben diese Konsequenz des gerichtlichen Entscheidungszwangs ist („Wenn Entscheidungszwang besteht, dann gilt, dass die prätendierten Ratio 1248 Vgl. Roland Lhotta, Gehen Sie nicht über Los! Eine Erwiderung auf Hubertus Buchstein, ZParl 2013, S. 404 (417). 1249 Siehe die Ausführungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1250 Siehe die Ausführungen unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1251 Vgl. Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 7 (11, Zitat ebd.). Anders Ernst Forsthoff, dem zu Folge durch Anwendung der Canones der allgemeinen Gesetzesinterpretation der Entscheidungsgehalt der Verfassung im Wege einer „logischen Prozedur[…]“ ermittelt werden muss. „Das Entscheidungsmoment [dürfe nicht] aus der Verfassung eliminiert [und] […] dem Verfassungsinterpreten in die Hände“ gespielt werden. Ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung (1961), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1973, S. 153 (insb. S. 165, 168 f., 173 [Zitat ebd.]). 1252 Zu den Vorgaben für die Entscheidungsdarstellung durch das Bundesverfassungsgericht ausführlich unter E. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1253 Andreas v. Arnauld, Zufall in Recht und Spiel, in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 171 (180). 1254 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 121. Siehe bereits Fn. 1239 im dritten Teil. 1255 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. im 6. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

nalitätsstandards einer Institution im Zweifel immer dann, wenn komplexe Fälle auftreten oder ein standardisiertes Entscheiden aus anderen Gründen nicht möglich scheint, unterlaufen werden müssen – und zwar mehr oder weniger sehenden Auges.“1256), stellt sie keinen rechtserheblichen Einwand dar. Sie ist dann nicht nur tatsächlich unumgehbar. Die Freiheit des Richters bei der Interpretation ist im Zusammenhang seiner Verpflichtung zur Entscheidung doppelt relevant. Sie geht der Einrichtung des Entscheidungszwangs voraus, wenn „die Gerichte […] entscheiden, wie weit sie Fälle [überhaupt] über Interpretation lösen können und wie weit sie Rechtsänderungen durch den Gesetzgeber fordern müssen, wenn die Problemlösungen nicht befriedigen.“1257 Sie ist außerdem Folge des Entscheidungszwangs, denn sie ermöglicht dem Richter, die von ihm in allen Fällen verlangten Entscheidungen anknüpfend an die gesetzlichen Vorgaben zu treffen.1258 Diese nachgeordnete Freiheit im Zusammenhang mit der Interpretation meint vorliegend die Dezision. In ihr hat die rechtliche Anerkennung des Urteils als Machtspruch eines Souveräns historisch überdauert und der (methodisch eingebundene)  „Richter­ könig“1259 bricht sich im Grundgesetz Bahn. Dezision macht die methodisch angeleitete Auslegung von Gesetzen nicht hinfällig und Wertungen zur Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen bleiben „innerhalb bestimmter Grenzen“ „überprüfbar und einer rationalen Kritik zugänglich“. Dezision fügt sich in einen Spielraum bei der rationalen Rechtsfindung ein.1260 Dieser Spielraum ist beweglich, denn der Richter kann auf rationale Kriterien verzichten oder durch ihre Anwendung die freie Wertung zurückdrängen. Welchen Raum Dezision in der Entscheidungsrealität einnimmt, kann nur für den Einzelfall entschieden werden. Dies darf jedoch nicht zum Trugschluss eines beliebigen Rückzugs auf richterliche Dezision verleiten. Nach der Entscheidungsidealität des Grundgesetzes ist sie so weit als möglich zu begrenzen. Es gilt alle zu Gebote stehenden Mittel der Rechtserkenntnis auszuschöpfen.1261 Im 1256

Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57

(69).

1257

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 303. Siehe ebd.: „Die Interpretation von Gesetzen und die damit zu konzedierenden Eigenwilligkeiten können den Gerichten nicht entzogen werden. Die ‚Bindung an das Gesetz‘ wird selbst zum Gegenstand richterlicher Interpretation. […] Und erst diese Auffassung der richterlichen Aufgabe macht es möglich, das Verbot der Justizverweigerung zu normieren und zu verlangen, daß die Gerichte alle ihnen vorgelegten Fälle selbst zu entscheiden haben.“ 1258 „Der Entscheidungszwang und die mit ihm einhergehende, durch ihn produzierte Freiheit, nach Gründen für eine (wie immer fragwürdige) Entscheidung zu suchen […].“ Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 304. 1259 Siehe Regina Ogorek, Aufklärung über Justiz, 2. Halbband, 2. Aufl. 2008. 1260 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 6 (Zitate ebd.). 1261 Vgl. Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (404); Fritz Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644); Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S.  1981 (1982 f.). Erklärungsversuche für die gehäufte Wiederkehr bestimmter Zahlen im Recht auch bei Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 79 ff.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Rechtsstaat muss die Entscheidungsfindung trotz allem Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit nachvollziehbar bleiben. Dass der (Verfassungs-)Richter überhaupt entscheidet, genügt nicht. Die Existenz von Dezision stellt die methodengeleitete Entscheidungsfindung auch nicht überhaupt in Frage. Das Grundgesetz formuliert sie als Forderung. Es kommt auf die Verwirklichung der „mögliche[n] Ratio­ nalität“ an.1262

C. Iudex non calculat. – Quantifizierungen jenseits der Darstellung durch das Bundesverfassungsgericht I. Aufdeckung möglicher Rationalität und unvermeidbarer Irrationalität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung Auf der Grundlage der allgemeinen methodischen Ausführungen zum (verfassungs-)gerichtlichen Entscheidungsmodus soll untersucht werden, inwieweit sich die Quantifizierung von Verfassungsrecht jenseits der tatsächlichen, in den „Mustern bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen“ nachgezeichneten Quantifizierungstypik,1263 der Entscheidungsfindungsprozesse und deren Darstellung durch das Bundesverfassungsgericht rationalisieren lässt. Es sollen die rationalen Erwägungen, auf denen die Quantifizierungen beruhen können, und die unvermeidbaren irrationalen Erwägungen nachgezeichnet und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Einordnung der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung als richterliche Entscheidung, innerhalb derer sich grundsätzlich Rechtsbindung, (rationale) Rechtsschöpfung und Dezision bzw. in Anlehnung an die Grenzwertfestsetzung im Umweltrecht ein „Erkenntnis-“, „Vermutungs-“ und Festsetzungselement unterscheiden lassen.1264 Die Einsicht, dass (verfassungs-)­gerichtliche Entscheidungen nicht berechenbar sind, bedeutet allerdings auch, dass keine (fallübergreifende) exakte Zerlegung der Quantifizierungsmethodik in ihre einzelnen rationalen und irrationalen Bestandteile möglich ist. Erhöhte Aufmerksamkeit gilt den methodischen Besonderheiten der Quantifizierungen gegenüber dem regulären Entscheidungsmodus des Bundesverfassungsgerichts: Ein erster Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem möglichen 1262 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 51, 76 (Zitat ebd.). 1263 Siehe die Ausführungen unter A. II. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1264 Georg Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 36 f. (Zitate S. 36). Siehe auch Anne Röthel dazu, dass es sich bei den Grenzwerten nicht um „rein naturwissenschaftliche[…] Ableitungen“, sondern „wertende Entscheidungen“ handelt. Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 272.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Erklärungswert außerrechtlicher Konzepte der Zahlengenerierung für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung [unter II. 2.  a)]. Wie die Begründungsdefizite der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen vermuten lassen, stehen bei der Quantifizierung Wertungen des Gerichts jenseits einer Verfassungsauslegung im Wege der klassischen Canones im Vordergrund. Ein besonderes Augenmerk gilt deren möglichen Rationalisierung im Sinne einer Plausibilisierung [unter II. 3.]. Nichtsdestotrotz verbleibt bei der Quantifizierung ein erhöhtes Maß an Irrationalität, so dass eine Diskrepanz zwischen den an Zahlen herangetragenen, naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen und der tatsächlichen Zahlen­ generierung feststellbar ist [unter III.].

II. Quantifizierungsmethodik Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung unbestimmter Verfassungsnormen zu Zahlen bedeutet die Überwindung eines Höchstmaßes an Diskrepanz in der Bestimmtheit der Verfassungsrechtsbegriffe. Die semantischen Unterschiede von Ausgangspunkt und Ergebnis der Quantifizierung können mit der von Philipp Heck und Georg Jellinek angenommenen Struktur der Rechtsbegriffe illustriert werden. Demnach verfügen unbestimmte Rechtsbegriffe über einen vergleichsweise großen Begriffshof bzw. kleinen Begriffskern, (exakte) Zahlen allein über eine Kernbedeutung und keine Begriffshöfe.1265 Hans J. Wolff bezeichnet die unbestimmten Rechtsbegriffe auch als „Typenbegriffe mit nicht genau angebbaren, sondern ‚fließenden‘ Merkmalen“.1266 Das Bundesverfassungsgericht verfügt nicht nur über einen weiten Entscheidungsspielraum, die „‚fließenden‘ Merkmale[…]“ sperren sich der konkreten Erfassung und lassen sich erst recht nicht in (semantisch exakten) Zahlen angeben. Der Anreiz zur methodischen Analyse ergibt sich daraus, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Quantifizierung (eine Reihe von) Zahlen als verfassungsgemäß festlegt, obwohl im Nachvollzug der Entscheidungen auch andere Zahlenwerte als denkbares Ergebnis der Konkretisierungsbemühungen erscheinen.1267

1265 Siehe bereits die Ausführungen unter A. III. und B. II. 2. im 2. Kapitel des zweiten Teils u. unter B. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1266 Ders., Verwaltungsrecht I, 2. Aufl. 1958, S.  128. Nach Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (167, Fn. 14 und 1), der die 1. Auflage von 1956 zitiert (dort S. 115). 1267 Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249 (256). Bei deskriptiven Begriffen träten „un­sichere Randzonen“ umso deutlicher hervor, als sie ein quantitatives Moment enthielten. Bsp.: Wie viele Bäume enthält eine Waldung? (§ 306f Abs. 1 Nr. 3 StGB n. F.). Implizit auch Fritz Ossenbühl am Beispiel der Festlegung von Leitlinien „angemessenen“ Unterhalts gegenüber Kindern und Ehegatten durch die Oberlandesgerichte. Ders., Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 11. Vgl. auch Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 198.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Dietrich Jesch verhält sich zur Art der Ausfüllung des Entscheidungsspielraums bei der Überwindung begrifflicher Unschärfen: Die Konkretisierung eines inhaltlich uneindeutigen Rechtsbegriffs sei „interpretative[…] Dezision“.1268 Die Quantifizierung würde demnach auf einem Höchstmaß „interpretative[r] Dezision“ beruhen und das von der Verfassung idealiter angenommene Verhältnis zwischen rationaler Methodik und irrationalem Dezisionismus sich umkehren. Die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen nähmen innerhalb der Konkretisierungen von (Verfassungs-)Recht, für die ohnehin ein schöpferisches Element charakteristisch ist,1269 eine Sonderstellung ein. Bei den Zahlen handelte es sich entgegen den naturwissenschaftlichen Rationalitätsvermutungen um irrationale, „gegriffene Größen“.1270 Es wäre gar zweifelhaft, ob die Verfassungsrichter die Festlegung eines konkreten Zahlenwerts subjektiv als eindeutig verfassungsgemäß zu er­ kennen meinen.1271 Näher liegt eine intuitive Rechtsprechung, die sich nach einem Billigkeitsempfinden richtet und sich der Unsicherheiten bei der Konkretisierung unbestimmten Verfassungsrechts zu Zahlen bewusst ist. Die Herausforderung bei der methodischen Analyse der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung besteht zunächst darin, diese erste pauschale Rückführung der Zahlenwerte auf richterliche Dezision zu relativieren und nachzuweisen, inwiefern die Konkretisierung unbestimmter Verfassungsrechtsbegriffe zu Zahlen auf rationaler Rechtserkenntnis bzw. -schöpfung beruht. Es geht darum, inwieweit die Grenzen des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsspielraums nachgezeichnet werden können und inwieweit eine rationale Ausfüllung des Entscheidungsspielraums möglich ist. Die Frage nach der Rationalität der Zahlenfestlegungen stellt sich bei der unmittelbaren Quantifizierung im Rahmen der Auslegung der Verfassung auf der Maßstabsebene, bei der mittelbaren Quantifizierung erst bei der Subsumtion des numerischen Prüfungsgegenstands unter die (konkretisierten) Verfassungsmaßstäbe. Es kann nicht die tatsächliche, nur die mögliche Rationalität der dargebrachten Quantifizierungsbeispiele in einem fiktiven Entscheidungsfindungsprozess nachvollzogen werden. Dies liegt daran, dass die Entscheidungsgenerierung durch das Bundesverfassungsgericht hinter den dargelegten Entscheidungsgründen nicht eingesehen werden kann. Insbesondere den tatsächlichen Begründungsdefiziten bzw. dem Entscheidungsmodus der unmittelbaren Anschauung können keine methodischen Hinweise entnommen werden.1272 Letztlich ist die Entscheidung in concreto selbst für die beteiligten Verfassungsrichter nicht fassbar und eine methodische Rationalisierung durch sie immer nur 1268

Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (185). 1269 Für die Konkretisierung von Verfassungsrecht ist ein schöpferisches Element charakteristisch. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. 1270 Siehe Fn. 24 im dritten Teil. 1271 So Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (405); vgl. auch Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1984 f.). 1272 Vgl. Paul Gewirtz, On „I Know it When I See It“, The Yale Law Journal, Vol. 105 (1996), S. 1023 (1029 ff.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

nachträglich denkbar. Insoweit ist die Entscheidung im Sinne Jaques Derridas als Ganzes „Mysterium“1273 und nicht nur die bei der methodischen Aufschlüsselung verbleibenden dezisionistischen Entscheidungsbestandteile.1274 1. Methodenanforderungen an die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung Wenn von der Rationalität der Quantifizierung die Rede ist, bedeutet das ihre Methodengeleitetheit.1275 Die methodischen Bindungen der Judikative schließen das Bundesverfassungsgericht ein und sie betreffen auch die verfassungsgerichtliche Quantifizierung.1276 Um Möglichkeiten und Grenzen einer rationalen Zahlenfestlegung nachvollziehen zu können, muss bei den Methodenanforderungen differenziert werden. Wie eine methodisch nachvollziehbare Quantifizierung im Einzelnen aussieht, hängt von den normativen Vorgaben ab. Ausgangspunkt der Nachzeichnung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsstruktur ist die Einordnung der Quantifizierung als Konkretisierung. Sie ist (über die unvermeidbaren Überschneidungsbereiche hinaus1277) zugleich Rechtserkenntnis und Rechtsschöpfung. Anne Röthel spricht von der Konkretisierung als „gebundener Rechtsbildung“.1278 Die Rede von einer Konkretisierung bedeutet nicht die Übernahme des Konkretisierungskonzepts Konrad Hesses, dessen norm- und problemorientierter topischer Methode. Sie knüpft an Philipp Hecks Vorstellung von der schöpferischen Ausfüllung eines normativen Rahmens an. Zur Erläuterung der Methodenanforderungen muss idealtypisch zwischen der Umsetzung der inhaltlichen Verfassungsvorgaben und einem schöpferischen Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts unterschieden werden. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt zwar unterschiedslos eine methodengerechte Entscheidungsfindung, dem Dualismus von Normbindung und -ausfüllung muss gleichwohl mit unterschiedlichen Methodenanforderungen Rechnung getragen werden.

1273 Ders., Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit, 1994, S. 331; Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Ein­ leitung, S. 7 (9). Siehe hierzu auch unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1274 Vgl. Cornelia Vismann/Thomas Weitin, in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 7 (9 f.). 1275 Zur methodengeleiteten als rationalen Entscheidungsfindung unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1276 Vgl. Jürgen W. Hidien zur Quantifizierung der Verfassungsvorschriften zum Finanzausgleich in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand: 97.  Lieferung November 2001, Art.  106 Rn. 355. 1277 Siehe hierzu unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1278 Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 124 (Zitat ebd.). Zur Bindung der Verfassungskonkretisierung an die inhaltlichen Vorgaben eben dieser auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 77.

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Seiner Bindung an die zu quantifizierenden Verfassungsvorgaben wird das Bundesverfassungsgericht nicht gerecht, indem es überhaupt regelgeleitet Zahlen festlegt. Quantifizierung ist, soweit die Vorgaben der Verfassung reichen, Auslegung. Ungeachtet etwaiger Spezifika der Verfassungsauslegung behauptet die klassische juristische Hermeneutik1279 im Verfassungsrecht ihre Gültigkeit. Indem sie unmittelbar an Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik sowie Sinn und Zweck der zu interpretierenden Normen anknüpft, realisiert sie die Normbindung bei der Interpretation.1280 Methodengerechtigkeit bedeutet dann die Deduktion und Herstellung eines „Ableitungszusammenh[a]ng[s]“1281 zwischen Verfassung und Zahl.1282 Nur insoweit folgt sie der Idealvorstellung des 19. Jahrhunderts von der „Entscheidung des Rechtsanwenders als begrifflich eindeutige[r], logische[r] Ableitung“.1283 Neben der Anbindung an die Verfassung betreffen die Methodenanforderungen die Ausfüllung der Verfassungsspielräume. Sie bleibt insoweit normativ gebunden. Gerade in den Spielräumen muss über die Methodik so weit als möglich „Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit“ gesichert werden.1284 Das Bundesverfassungsgericht füllt die Spielräume mit Wertungen. Dieses schöpferisch-wertende im Gegensatz zum strikt deduktiven Vorgehen bedeutet bei der Quantifizierung nicht zwangsläufig eine regellose, irrationale Auswahl der Zahlen, d. h. verfassungsgerichtliche Dezision.1285 Eine Rationalisierung ist grundsätzlich möglich, auch wenn sie weder durch „Beobachtung und Experiment“ noch logisch-mathematisch (nach-)vollzogen werden kann.1286 In den Spielräumen der Verfassungsvorgaben meint die Methodengerechtigkeit der Quantifizierung ihre „Begründbarkeit“. Es geht um die 1279

Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 612, 117 f. Christian Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, 1. Aufl. 1992, § 164 Rn.  18, 23 f. Starck nimmt die Normbindung des Verfassungsrichters zum Ausgangspunkt, um Methoden der Verfassungsauslegung jenseits der klassischen Hermeneutik zu kritisieren (ebd., Rn. 24 ff.). Die Auslegungskriterien der klassischen Hermeneutik markieren den äußeren Rahmen verfassungsgerechter Entscheidungen und müssen daher auch in den Fällen berücksichtigt werden, in denen mit ihrer Hilfe keine eindeutige Entscheidung aus einer (offenen) Verfassungsordnung deduziert werden kann. 1281 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 140. 1282 Die argumentative Anbindung an das einschlägige Normprogramm der Verfassung steht nach Hartmut Maurer (Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 10) und Klaus Joachim Grigoleit (Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 101 f.) im Vordergrund der methodengerechten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung. Auf die Methodengerechtigkeit jenseits der Entfaltung der Rechtsbindung gehen sie nicht ein. 1283 Katharina v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 405 (406, Zitat ebd.). 1284 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  49, 124 f., 139 f.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 51 (Zitat ebd.); Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 24. 1285 Siehe in diesem Zusammenhang die Argumentation der Antragsteller in BVerfGE 101, 158 zur zulässigen Finanzkraftabschöpfung im horizontalen Finanzkraftausgleich. Die Begründung eines finanzausgleichsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes mit Plausibilitätserwägungen „sei kein deduktives, aber ein rationales Verfahren“. BVerfGE 101, 158 (200, Zitat ebd.). 1286 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 5 f. (Zitat S. 5). 1280

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Herstellung eines argumentativen „Begründungszusammenh[a]ng[s]“ zwischen Verfassung und Zahl.1287 Die Erkenntnis (als Gegensatz zur Setzung) der Verfassungsrichter verläuft dann nicht in strikt deduktiven Bahnen1288 und Wertungen, die den vorgenannten Rationalitätsanforderungen genügen, weisen nicht „denselben Grad von Sicherheit und Genauigkeit [auf] […] wie ein mathematischer Beweis oder eine exakt ausgeführte Messung.“1289 Die Quantifizierung hängt (wie jedes Urteil) von der „Wertewelt des anwendenden Richters“ und der „Wertewelt der Rechtsgemeinschaft [ab] […], in der die Urteile gesprochen werden.“ Das Bundesverfassungsgericht ist (wie jedes Gericht) auf die im Grundgesetz positivierten Werte verpflichtet.1290 Die verfassungsgerichtliche Erkenntnis und der im (Verfassungs-)Recht verfolgte Rationalitätsbegriff sind nicht genuin naturwissenschaftlich, sondern geisteswissenschaftlich und die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung ist geisteswissenschaftliche Zahlengenerierung.1291 2. Zahlen als Ergebnis logisch nachvollziehbarer Deduktion aus den Verfassungsvorgaben a) Exkurs: Ergibt sich aus außerrechtlichen Konzepten der Zahlengenerierung ein formal-logisches Modell für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung? Die Quantifizierung gibt Anlass, die Einwirkung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die methodisch geleitete Rechtserkenntnis zu reflektieren.1292 Die zur Quantifizierung in Bezug genommenen Verfassungsrechtsbegriffe merken an 1287

Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  125, 139 f. (Zitate S. 140). Der Fokus auf die Ableitungs- und Begründungsrationalität der Quantifizierung negiert nicht einen ersten Prozess der Entscheidungsfindung, der auf Wissen, Erfahrung und Überzeugung des Entscheidenden gründet und eher vom Rechtsgefühl als der strengen Subsumtion unter die verfassungsrechtlichen Vorgaben gesteuert ist. Josef Esser hat insoweit den Begriff des Vorverständnisses geprägt (Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970). Die Verfassungsbindung des Richters verlangt dann die nachträgliche Überprüfung der ersten Ergebnissondierung am Maßstab der Gesetze. Das Vorverständnis überspielt somit nicht die geforderte Ableitungs- und Begründungsrationalität, sondern leitet hierzu über. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn.  61 ff.; Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 (171). 1288 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 121. 1289 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 6. 1290 Regina Ogorek, Science Fiction, Myops 7/2009, S. 59 (63 f., Zitat S. 63). 1291 Vgl. Georg Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 36. 1292 Hiervon sind „äußere Schaltstellen“ der Interdisziplinarität zu unterscheiden. Sie liegen vor, wenn die Rechtsordnung explizit im Wege positivrechtlicher Anordnungen über sich hinausweist und fachfremde (im Sinne außerrechtswissenschaftlicher) Erkenntnisse für rechtsverbindlich erklärt. Bei den vorliegend in Bezug genommenen Ausschnitten der Verfassung ist dies nicht der Fall.

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gesichts ihrer Unbestimmtheit und Ambiguität hinsichtlich der Berücksichtigung nachbarwissenschaftlicher Fragestellungen nicht mahnend auf. Jedoch weisen die Zahlen über die Grenzen der Rechtswissenschaften hinaus und regen im Rahmen methodisch geleiteter Rechtserkenntnis zur interdisziplinären Auseinandersetzung an. Bei der Einbeziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse sind methodologische Hindernisse zu berücksichtigen. Sie liegen darin begründet, dass die interdisziplinäre Auffächerung dem jeweiligen „Formalobjekt“1293 im Sinne einer abgrenzbaren, spezifischen Methodik folgt. Disziplinfremde Erkenntnisse können zur Quantifizierung nur herangezogen werden, wenn sie einer methodischen Kontextualisierung zugeführt und sich an einer die Rechtsdogmatik auszeichnenden Rationalität ausrichten. Damit steht die Rezeptionsfähigkeit der juristischen Methodik sowie spiegelbildlich die Integrationsfähigkeit der in Bezug genommenen Nachbardisziplin in Frage. Der Integration disziplinfremder Erkenntnisse ist die methodische Selbstbeschau im Sinne einer Vergewisserung von Erkenntnisgegenstand und -verfahren zur Aufdeckung etwaiger „Strukturkongruenzen“1294 vorgeschaltet.1295 Aus außerrechtlichen Formen der Zahlengenerierung in der Linguistik, Theologie, Informatik und allgemein in den Naturwissenschaften könnte sich eine adäquate Beschreibung der deduktiven Elemente bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung ergeben. Es werden neben der Übersetzung Prozesse zum Vergleich herangezogen, innerhalb derer nichtnumerische Sprache in Zahlen umgewandelt wird [sogleich unter bb) und cc)] oder einer qualitativen Beschreibung zugängliche Sachverhalte numerisch erfasst werden [unter dd)]. aa) Linguistik: Übersetzung Es öffnet sich nicht nur die Verwendung von Zahlen im Verfassungstext einer sprachwissenschaftlichen Analyse, sondern auch die Umwandlung unbestimmter Verfassungsvorgaben in Zahlen. Demnach handelt es sich bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung, genauer deren deduktiven Elementen, jedenfalls nicht um eine Codierung.1296 Die Codierung bewegt sich zwar wie die Quantifi-

1293 Matthias Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 185 (193). 1294 Matthias Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 185 (187). 1295 Matthias Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Oliver ­Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 185 (193, 195 f., 201 ff.). Nach Jestaedt ist das „disziplinäre Reflexionsniveau“ Gradmesser „interdisziplinärer Sensibilität“ (ebd., S.  204). Zur Verwendung fachfremder Aussagensysteme zur Erklärung des geltenden Rechts auch­ Oliver Lepsius, Die Ökonomik als neue Referenzwissenschaft für die Staatsrechtslehre?, Die Verwaltung, 32.  Bd.  (1999), S.  429 (430 f.). Vgl. außerdem Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 251 f. 1296 Zur Codierung in den Ausführungen über die Methodik der Zahlengenerierung bei der Erfassung tatsächlicher Zusammenhänge unter B. IV. im 2. Kapitel des ersten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

zierung von Verfassungsrecht auf der sprachlichen Ebene, es geht dort aber nicht um die Bedeutungsermittlung nichtnumerischer Zeichen, sondern ihre Ersetzung durch Zahlen nach rein formalen Zuordnungsvorschriften. Etwas anderes gilt für die Übersetzung. Auch wenn es sich bei der Quantifizierung ebenso wenig um eine Übersetzung wie um eine Codierung handelt – unbestimmte, nichtnumerische Verfassungsvorgaben und Zahlen sind nicht verschiedene Sprachen, sondern, wie ihre Integration in den Verfassungstext veranschaulicht, beide Bestandteil der Verfassungssprache –, könnten sich aus der sprachwissenschaftlichen Nahsicht auf den Übersetzungsvorgang daher Impulse für die Nachzeichnung der deduktiven Elemente bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung ergeben. Dem steht nicht entgegen, dass bei der Übersetzung eine Bedeutungsübertragung zwischen verschiedenen Sprachen erfolgt, sie sich also was die Präzision des Ursprungsbegriffs und Übersetzungsergebnisses betrifft auf einer Horizontalen bewegt, während es sich bei der Quantifizierung um eine Konkretisierung und damit vertikale Bedeutungsverschärfung handelt. Die vorliegend angestrebte methodische Parallelisierung betrifft die deduktiven Elemente der Quantifizierung und knüpft damit an den feststehenden inhaltlichen Rahmen und nicht die für die Konkretisierung charakteristische schöpferische Gestaltungsleistung des Bundesverfassungsgerichts an. Dass die Übersetzung zwar methodische Einsichten, aber nicht in die Quantifizierung als Deduktion gewährt, liegt vielmehr an Folgendem: Eine Übersetzung bedeutet gerade keinen formal-logischen Vorgang. Die Übersetzungswissenschaft verweist auf das schöpferische Mitwirken des Übersetzers.1297 Der sprachwissenschaftlich nachvollzogene Übersetzungsvorgang erhellt somit nicht die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung als logisch-deduktiven Erkenntnisprozess, sondern verweist auf die Defizite eines rein deduktiven Erklärungsmodells. Es lässt sich eine „Übersetzerentscheidung“ ausmachen,1298 die im Kern nicht rational fassbar ist und damit als Pendant der verfassungsgerichtlichen Dezision bei der Quantifizierung ausgemacht werden kann. bb) Theologie: Jüdische Zahlenschreibung und -mystik Die Konkretisierung der Verfassung zur Zahl weckt die Assoziation der hebrä­ ischen Buchstaben- bzw. Zahlenschreibung und der Zahlenmystik in der jüdischen Theologie. In der hebräischen Schrift besteht ein fester Konnex zwischen Buch­ 1297

Es lassen sich mehrere Faktoren unterscheiden, die einem Verständnis der Übersetzung als „mechanische[m]“ Prozess entgegenstehen. Übersetzt wird immer der gesamte Text, nicht der Reihe nach „einzelne Wörter“. Hierzu bedarf es einer „Interpretation“ als „intellektuelle[r] Eigenleistung“ des Übersetzers, der den „Sinn“ des zu übersetzenden Texts ermitteln muss. Er zielt mit seiner Übersetzung auf das Verständnis des Adressaten und vermittelt hierzu zwischen den Kulturen. Jekatherina Lebedewa, Mit anderen Worten, http://www.uni-heidelberg. de/presse/ruca/ruca07–3/wort.html (abgerufen am 29.1.2013), Zitate ebd. 1298 Jekatherina Lebedewa, Mit anderen Worten, http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ ruca07–3/wort.html (abgerufen am 29.1.2013), Zitat ebd.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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staben und Zahlen. Jeder der 22 Buchstaben übernimmt zwei Funktionen, denn ihnen wird sowohl ein „Laut“- als auch ein „Zahlenwert“ zugeschrieben („Prinzip der Doppelwertigkeit“).1299 Wenn Buchstaben, Begriffe und Texte sich in Zahlenreihen umformen lassen, ist die Schrift insoweit berechenbar als Quersummen gebildet und Begriffe addiert bzw. subtrahiert werden können. Die jüdische Zahlenmystik, die vor allem von der griechischen Philosophie1300 beeinflusst ist, knüpft an diese doppelte Bedeutung hebräischer Buchstaben an.1301 Nach ihr findet die Botschaft Gottes in Worten nur unvollkommenen Ausdruck. Sie bezeichneten nur das, was der Mensch wahrnehmen oder begreifen könne. Zur Ermittlung der in den jüdischen heiligen Schriften enthaltenen göttlichen Wahrheit wird auf die den hebrä­ischen Buchstaben entsprechenden Zahlenwerte abgestellt und eine „sakrale[…] Numerologie“ entwickelt, in deren Zentrum der Name Gottes, Jahwe, steht.1302 Zwischen der jüdischen Zahlenschreibung und der Quantifizierung von Ver­ fassungsrecht bestehen gewichtige Unterschiede, die einem Vergleich auf der methodischen Ebene entgegenstehen. Die Umformung der hebräischen Schrift zu Zahlen setzt am einzelnen Buchstaben an, während Ausgangspunkt der Quantifizierung der (unbestimmte) verfassungsrechtliche Begriff als Ganzes ist. Die Schriftzeichen werden außerdem in Zahlen umgeschrieben. Es handelt sich um eine spezifische Darstellungsform (den einzelnen Buchstaben entspricht von vornherein ein bestimmter Zahlenwert) und anders als bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung nicht um die Interpretation von nichtnumerischen, sprachlichen Sinneinheiten. Einen weiteren Ansatzpunkt für einen methodischen Vergleich bietet die Zahlenmystik, die jedoch ebenso wenig Begriffe zu Zahlen konkretisiert, sondern aufbauend auf der vorgenannten Zahlenschreibung Zahlen bestimmte Bedeutungen zuweist. Es handelt sich folglich um einen zur Quantifizierung spiegelbildlichen Vorgang, der von der Auslegungsfähigkeit von Zahlen ausgeht und daher, wenn überhaupt, für die linguistische Analyse von Zahlen im Verfassungstext relevant sein könnte. Er gibt auch deshalb über die Methodik der Quantifizierung keinen Aufschluss, weil der Vorgang der Verknüpfung von Zahl und Bedeutung methodisch nur begrenzt rationalisierbar ist. Es be 1299

Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S. 89 (Zitate ebd.). Von den griechischen Philosophen haben sich u. a. Pythagoras („Alle Dinge sind Zahlen.“; „Die Elemente der Zahlen sind die Elemente aller Dinge.“) und Platon („Die erste und wichtigste Wissenschaft ist die der Zahl als solcher, wobei das gewöhnliche Rechnen ausgeschlossen ist.“) mit Zahlen beschäftigt. Bei den Gnostikern und Neuplatonikern wird die Zahl mehr als zuvor mystisch überhöht. Die Zahlen sind nicht nur die Bausteine der irdischen Objekte. Die Zahlen vermitteln zwischen der diesseitigen Welt und einer göttlichen, schöpferischen Macht, die durch Zahlen auf die Dinge einwirken kann. Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S.  91 f. (Zitate ebd.). Zur Rolle von Zahlen in der griechischen Philosophie siehe auch die Ausführungen unter B. III. im 1.  Kapitel des ersten Teils. 1301 Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S. 88. 1302 Harald Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, 2008, S. 92 ff. (Zitat S. 93). 1300

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

steht allenfalls insoweit eine Parallele zur Quantifizierungsmethodik, als bei der Verknüpfung von Zahlen und theologischer Deutung eine systematische Interpretation der Tora erfolgt. Darüber hinausgehende Anhaltspunkte für die Logik der Quantifizierung im Verfassungsrecht lassen sich der jüdischen Zahlenmystik nicht entnehmen. cc) Informatik: Digitalisierung Die Digitalisierung von Kommunikation meint ihre Einspeisung in ein binäres System.1303 Auch ihr lassen sich keine Anhaltspunkte für die logisch-deduktiven Elemente der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung entnehmen. Die Digitalisierung unbestimmter Verfassungsrechtsbegriffe, d. h. ihre elektronische Speicherung bzw. Inhaltserfassung, bedeutet keine Interpretation, sondern wiederum eine abweichende Darstellungsform. Es handelt sich um einen mit der hebräischen Zahlenschreibung vergleichbaren Vorgang. Die Zahlen 0 und 1 im binären System informationstechnischer Systeme sind außerdem Grundlage eines mathematischen Prozesses zur digitalen Verarbeitung von Informationen. Sie treffen im Gegensatz zu Quantifizierungsergebnissen selbst keine inhaltlichen Aussagen. dd) Naturwissenschaften: Messen Die Ergebnisse der Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts sind Mengen oder Größen. Die verfassungsgerichtliche Quantifizierung könnte auf die Bemessung physikalischer Größen1304 heruntergebrochen oder die Methodik des Messens zur Erhellung deren deduktiver Elemente herangezogen werden. In die geisteswissenschaftliche Rationalität der Verfassungsauslegung bzw. -konkretisierung würden naturwissenschaftliche Komponenten integriert. Der bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungs- lässt sich jedenfalls nicht unmittelbar als Messvorgang begreifen. Dies liegt an ihren unterschiedlichen Ausgangspunkten. Während beim Messen die Eigenschaft (Höhe, Länge, Masse usw.) eines Objekts der „(Rechts-)Wirklichkeit“ in Zahlen bestimmt wird, erfolgt die verfassungsgerichtliche Quantifizierung als Konkretisierung normativer Vorgaben zu Zahlen „wirklichkeitsentrückt“ auf der sprachlichen Ebene. Zwar sind die beiden Ebenen nicht strikt voneinander getrennt und die bei der Quantifizierung in Bezug genommenen unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffe bezeichnen tatsächliche Phänomene in der „Rechtswirklichkeit“. Es handelt sich jedoch

1303

Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter A. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. Zur Methodik des Messens als Form der Zahlengenerierung in der „(Rechts-)Wirklichkeit“ die Ausführungen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des ersten Teils. 1304

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um menschliche Ideen bzw. Konzepte, die sich aus verschiedenen Vorgängen oder Ereignissen der „Rechtswirklichkeit“ zusammensetzen. Die unbestimmten Begriffe wie die Angemessenheit als verfassungsrechtliche Vorgabe für die Intensität des horizontalen Finanzausgleichs (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) oder die Menschenwürdegarantie und das Sozialstaatsprinzip als Maßgaben für den Umfang staatlicher Sozialleistungen (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 1 GG) bezeichnen nicht eindeutig einzelne Naturerscheinungen, die dem Experiment zugänglich und zählbzw. messbar sind. Ein tatsächlicher Zähl- oder Messvorgang kann als Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung somit nicht ausgemacht werden. Es verbietet sich jedoch nicht nur die direkte Anwendung, die Methodik des Messens verfügt für die verfassungsgerichtliche Quantifizierung, insbesondere ihre deduktiven Elemente, auch über keinen Erklärungswert. Selbst wenn man in idealtypischer Unterscheidung von der untrennbaren Verwobenheit von Deduktion und Rechtsschöpfung absieht, geht der Deduktion die Bedeutungsermittlung von Sprache voraus. Sie lässt sich zwar (in Grenzen) als logischer Vorgang rekonstruieren, ist aber unverändert normative Entscheidung und bedeutet keine Feststellung bzw. Behauptung von Tatsachen. Als solche ist sie nicht beweisbar und sperrt sich damit letztlich einer naturwissenschaftlichen Rationalität. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung und der Grenzwertfestsetzung im Umweltrecht, deren „Erkenntnis[…]element“ tatsächliche naturwissenschaftliche Ermittlungen zu Grunde liegen.1305 Begriffs­ jurisprudenz und Digitalisierungsbemühungen müssen daher auch unabhängig von der Missachtung bzw. den Problemen bei der Integration rechtsschöpferischer Elemente scheitern. Die Ausführungen zum mangelnden Erklärungswert des naturwissenschaftlichen Messens für die Methodik der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung lassen sich trotz der terminologischen Parallele auf die Quantifizierung tatsächlicher Phänomene übertragen. b) Steuerung der Zahlenfindung durch übergeordnete Verfassungsprinzipien, insbesondere zur Bedeutung von Gleichheitsgrundsatz und Rechtsstaatsprinzip für die Quantifizierung Inhaltliche Maßgaben für die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen finden sich nicht nur in deren direkten normativen Anknüpfungspunkten, d. h. den unmittelbar sachentscheidenden Normen, sondern auch in übergeordneten, verfassungsrechtlich positivierten Maßstäben. Für die Zahlenfestlegungen durch das Bundesverfassungsgericht sind der Gleichheitsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip zentral. Dies liegt zunächst daran, dass die verfassungsgericht-

1305

Georg Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 34 ff. (Zitat S. 36).

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lichen Quanti­fizierungen je nach der eingenommenen Perspektive eine Differenzierung bzw. Pauschalierung bedeuten und in ihrem Differenzierungs- bzw. Pauschalisierungsgrad an Art. 3 GG zu messen sind.1306 Auf der Grundlage des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes werden außerdem Systemgerechtigkeitsanforderungen formuliert.1307 Das Gebot der Abstimmung mit einfachgesetzlichen und anderen verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen trifft sich mit der rechtsstaatlichen Forderung einer Vorhersehbarkeit der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung. Das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Spannungsfeld zwischen der Sicherstellung von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit1308 durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung ist für die Festlegung auf eine bestimmte Zahl, aber mehr noch für die Präzision der Quantifizierung relevant. Das Bun­desverfassungsgericht kann die drohende numerische Schematisierung abmildern, indem es Ausweichmöglichkeiten schafft. In den untersuchten Entscheidungen ist ausnahmslos eine Quantifizierung in unbestimmten Bandbreiten beobachtbar. Die gegensätzlichen rechtsstaatlichen Koordinaten beeinflussen die Quantifizierungstypologie des Bundesverfassungsgerichts auch insoweit, als es die Verfassung unmittelbar für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen oder mittelbar nach einer Einzelfallprüfung quantifizieren kann. Dem Rechtsstaatsprinzip lassen sich (neben den methodischen1309) weitere formelle und materielle Vorgaben entnehmen. Quantifizierungen müssen demnach vor allem verhältnismäßig sein. Es wird offenbar, dass zwischen der Bindung an die inhaltlichen Vorgaben der übergeordneten Verfassungsmaßstäbe und der Ausfüllung verfassungsnormativer Spielräume keine eindeutige Grenze besteht: Es überschneiden sich nicht nur die Forderungen aus den unterschiedlichen Verfassungspostulaten, sondern auch die Kriterien einer gleichheitsgerechten, rechtsstaatlichen Quantifizierung auf der einen sowie Art und Maßstäbe der Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen auf 1306 Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  102 ff. Anforderungen aus dem Gleichheitssatz ergeben sich für die Judikative insbesondere bei der Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen der unmittelbar sachentscheidenden Normen (ebd., S. 102). Siehe auch Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (81). 1307 Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 102 f., 106. Die verfassungsnormative Grundlage für Systemgerechtigkeitsanforderungen ist umstritten. Das Bundes­ verfassungsgericht positioniert sich insoweit nicht, sondern integriert seine Systemgerechtigkeitserwägungen in die materiellrechtliche Prüfung. Siehe die Ausführungen unter A. III. 1. b) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1308 Zur Bedeutung der gegensätzlichen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips bei der fachgerichtlichen Quantifizierung insbesondere Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (80, 88). Siehe auch Georg Wannagat, Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, SZS 1972, S. 153 (163). 1309 Siehe die Ausführungen unter B. III. und sogleich unter C. II. 3. im 4. Kapitel des dritten Teils.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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der anderen Seite. Die Anforderung einer systemgerechten und vorhersehbaren Quantifizierung soll über die Orientierung an der Rechtspraxis deren „innere[…] Stimmigkeit und Plausibilität“ bewerkstelligen.1310 Mehr noch steht die Rechtspraxis bei der diskursiven Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen im Mittelpunkt, die sich am Maßstab der Plausibilität ausrichtet. Die gleichheitsgerechte Quantifizierung entspricht nicht nur einem verfassungsunabhängigen Gerechtigkeitsverständnis,1311 auch Systemgerechtigkeitserwägungen bei der Bemessung staatlicher Leistungen bedeuten die Umsetzung von Gleichbehandlung und Proportionalität und damit eine verteilungsgerechte Quantifizierung.1312 Die Vereinbarkeit der Quantifizierungen mit Gerechtigkeitserwägungen ist außerdem materielles rechtsstaatliches Gebot und auch Plausibilitätskriterium der juristischen Argumentation innerhalb der Entscheidungsspielräume. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, inwieweit das Grundgesetz bereits spezifische Gerechtigkeitsvorstellungen integriert, d. h. inwiefern Anforderungen an die Entscheidungsgerechtigkeit positiviert sind. Letztlich wird die inhaltliche Weite der übergeordneten Verfassungsprinzipien offenbar. Auch ihre Berücksichtigung führt nicht dazu, dass einzelne Zahlen (zur Entscheidung des konkreten Streitfalls) eindeutig aus der Verfassung deduziert werden können (was nicht bedeutet, dass die [offene] Verfassung generell keine eindeutigen Entscheidungen vorgibt1313). Die Quantifizierung kann nicht mit einem Normverstehen nach der klassisch-hermeneutischen Methode gleichgesetzt werden. Sie erscheint als Deduktion von Zahlen aus den unbestimmten Verfassungsvorgaben kaum greifbar.1314 3. Zahlen als rationale Wertungsentscheidungen Die Auseinandersetzung mit der Deduzierbarkeit von Zahlen aus der Verfassung zeigt weite Entscheidungsspielräume bei der Quantifizierung auf. Sie bestehen insoweit das Bundesverfassungsgericht weder durch unmittelbar sachentscheidende noch durch übergeordnete Verfassungsvorgaben inhaltlich geleitet wird. 1310

Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 105 f. (Zitat S. 106). Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 103. 1312 Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 341. 1313 Vgl. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 24 f. 1314 Siehe in diesem Zusammenhang die Ausführungen der Antragsteller im Normenkontrollverfahren BVerfGE 101, 158 zur Quantifizierung der maximal zulässigen Finanzkraftabschöpfung in einem Halbteilungsgrundsatz: „Dies sei kein deduktives, aber ein rationales Verfahren.“ (S.  200). A. A. Holger Fleischer anhand einiger Urteile der Zivilgerichte zu gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen. Er spricht etwa davon, es „besteh[e] eine aussagekräftige Korrelation zwischen dem teleologischen Merkmal und seiner zahlenmäßigen Konkretisierung“. Ders., „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (83 [Zitat ebd.], siehe auch S. 85 u. 89). 1311

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Das Bundesverfassungsgericht füllt die Entscheidungsspielräume mit Wertungen aus. Die Verfassung zieht sich auf methodische Vorgaben zurück, denn das Rechtsstaatsprinzip verlangt (so weit als möglich) rationale Wertungsentscheidungen. Die rationale im Sinne einer begründeten Rechtsschöpfung vermittelt zwischen der gerichtlichen Entscheidung als Erkenntnis und Willensakt. Es geht dann nicht mehr um die logisch deduzierbare und noch nicht um die willkürliche Entscheidung.1315 Fraglich ist, inwieweit die Wertungen des Bundesverfassungsgerichts in den dargestellten Beispielsfällen rationalisierbar sind. Dazu müssen zunächst die Art und der Maßstab einer rationalen Ausfüllung der Entscheidungsspielräume zur Herstellung eines argumentativen „Begründungszusammenh[a]ng[s]“ zwischen Verfassung und Zahl1316 nachgezeichnet werden. a) Ausfüllung der Entscheidungsspielräume durch eine plausible Argumentation aa) Plausibilitätsmaßstab Nach den juristischen Argumentationstheorien wird die Wertung bei der Entscheidungsfindung diskursiv rationalisiert.1317 Dass überhaupt und irgendwie argumentiert wird, kann nicht genügen. Die Rechtsfindung kann nur zugleich schöpferisch und rational sein, wenn der Diskurs regelgeleitet verläuft. Eine rein prozedurale Einbindung der Rechtsfindung vernachlässigt, dass das Bundesverfassungsgericht letztlich gezwungen ist zu entscheiden bzw. in bestimmten Fällen zu quantifizieren.1318 Es ist auf materielle Direktiven angewiesen,1319 die die Rationalität der Entscheidungsfindung näher ausformen.1320 Soweit die Diskurstheorie nach dem klassischen Verständnis von Jürgen Habermas und Robert Alexy hier fruchtbar gemacht wird, bedarf sie jenseits der anerkannten „einschränkenden Bedingungen“ von „Gesetz, Präjudizien und Dogmatik“1321 der inhaltlichen Ergänzung. Denn wenngleich eine Anbindung an das einschlägige Normprogramm

1315 Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (89 f.). 1316 Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 140. 1317 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3.  Aufl. 2008, S.  179, 186 f. 1318 Zum Entscheidungszwang des Bundesverfassungsgerichts unter B. im 6. Kapitel des dritten Teils. 1319 Vgl. Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 (583 f.); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 185. 1320 Vgl. Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (82). 1321 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 187.

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hergestellt werden muss,1322 findet sich dort keine übergeordnete inhaltliche Direktive für den Diskurs. Sie ist bei der Ausfüllung der Entscheidungsspielräume zwangsläufig nicht positiviert. In den Entscheidungsspielräumen richtet sich die verfassungsgerichtliche Quantifizierung nur eingeschränkt an der geschriebenen Verfassung aus. Wenn bereits im Einzelfall bei normativen im Sinne von wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen die zur Konkretisierung heranzuziehenden überpositiven Wertmaßstäbe oftmals ungewiss sind,1323 fällt es umso schwerer einen übergreifenden Maßstab für die Ausfüllung der beschriebenen Spielräume (bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung) auszumachen. Aus der Literatur ergibt sich ein Konglomerat rationaler Kriterien, die für die Festlegung konkreter Zahlenwerte jenseits der inhaltlichen Vorgaben zu quantifizierender Normen und übergeordneter Verfassungsprinzipien relevant sein und die freie richterliche Wertung zurückdrängen können: Erfahrungswerte und Anschauungsmaterial1324 bilden demnach einen „in der Sache gelegenen Maßstab“1325 zur Quantifizierung. Der Richter wird sich nicht selten am Kriterium der Praktikabilität1326 sowie vergleichbaren gesetzlichen Regelungen orientieren. Er schafft sich selbst Leitlinien nach dem „System und Geist des Gesetzes und, soweit es sich um Wertungsfragen handelt, [im Sinne des] herrschenden Rechtsethos“.1327 Womöglich stellt er überindividuelle Gerechtigkeitserwägungen an und strebt nach einer Entscheidung, die der Gesetzgeber ohne Ansehung des konkreten Falls getroffen hätte.1328 Die genannten Kriterien zielen auf eine plausible juristische Entscheidung. In den Entscheidungsspielräumen bietet sich dem Verfassungsgericht die Plausibilität als sachgerechter (nicht normativ verbindlicher) Maßstab für eine rationale1329 Zahlenfestlegung jenseits einer stringenten Ableitung aus der Verfassung bzw. als Argument für oder wider die Festlegung bestimmter Zahlen 1322

Siehe die Ausführungen zum rechtssysteminternen Plausibilitätskriterium unter C. II. 3. a) bb) im 4. Kapitel des dritten Teils. 1323 Vgl. Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249 (250). 1324 Klaus Jürgen Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971. 1325 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (404). 1326 Vgl. Paul Kirchhof zum steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz in: Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (20). 1327 Reinhold Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 (1982). 1328 Vgl. Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, S. 39 f. 1329 Katharina v. Schlieffen (geb. Sobota)  stellt die plausible zunächst als Gegensatz einer rationalen Argumentation dar. Dies erklärt sich aus einem Rationalitätsverständnis, das auf rationalistische, allein normative Begründungen akzeptierende Rechtstheorien abstellt. K ­ atharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd.  15, 1996, S. 115 (117). Später ordnet sie die Plausibilität als übergeordnetes Kriterium ein, an dem sich Rechtstexte und deren unterschiedliche Überzeugungsmittel „Logos, Ethos und Pathos“ ausrichteten. Siehe hierzu auch sogleich die Ausführungen im Text zum Stellenwert des Plausibilitätsarguments innerhalb der Argumentationstheorien. Dies., Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 405 (407 f.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

an.1330 Der Maßstab der Plausibilität einschließlich der ihm untergeordneten Plausibilitätskriterien ist auch „richtig“ (im Sinne des noch aufzustellenden, übergeordneten Kriteriums zur Beurteilung der Quantifizierungsergebnisse1331), denn es ist davon auszugehen, dass der Richter bei Ungewissheiten der materiellen Entscheidungsmaßstäbe hierauf abstellt. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen verlangen in ihren Normenkontrollanträgen, die zum vierten Finanzausgleichsurteil (BVerfGE 101, 158) geführt haben, in den Quantifizierungsspielräumen die Anwendung eines Plausibilitätsmaß 1330 Klaus Vogel setzt bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung der in seinen Augen unumgänglichen Dezision ein Plausibilitätskriterium entgegen: „Verlangt werden kann deshalb nur, daß die Quantifizierung plausibel ist; wer eine andere Quantifizierung für besser hält, muß darlegen, daß eine größere Plausibilität für sie spricht.“ Ders., Vom Eigentumszum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1258). Ebenso ders./Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art.  104a bis 115 GG), 1999, Rn.  546: „Der zu ‚findende‘ Zahlenwert muß allerdings eine hohe Plausibilität besitzen.“ Siehe auch G ­ regor­ Buchholz, der die Grenzwertfestsetzungen im Umweltrecht – soweit sie auf „Vermutungen“ im Gegensatz zu „beweisbaren“ Kausalzusammenhängen oder willkürlichen Festsetzungen beruhen – an ihrer Plausibilität misst. Ders., Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 36 (Zitate ebd.). Vgl. außerdem Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 1. Bayer wendet das Plausibilitätskriterium zwar auch auf einen rein logisch verstandenen Rechtsfindungsprozess an, er hält die logische Deduktion im Anschluss an ­Wittgenstein aber nicht für zwingend. Ebd., S. 30 ff., 86. Nach Klaus F. und Hans ­Christian Röhl ersetzt die juristische Rhetorik „logische[…] Deduktionen und empirische[…] Beweise“ durch „Meinungen, Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten und letztlich durch Konsens“. Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 181 (Kursivsetzung durch Verf.). Anderer Ansicht ist ­Heinrich Honsell, nach dem sich die Behauptung konkreter Schlussfolgerungen aus allgemeinen Entscheidungsmaßstäben der „intersubjektiv nachprüfbaren Argumentation oder Plausibilisierung weitgehend entzieht.“ Ebenso hält er die Gerechtigkeit, die vorliegend als rechtssystemübergreifendes Plausibilitätskriterium herangezogen wird (hierzu sogleich), für nicht rational konkretisierbar. Ders., Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S.  1689 (1691 f., Zitat ebd.). Unabhängig von den auch vorliegend eingestandenen Grenzen einer rationalen bzw. rationalisierbaren gerichtlichen Entscheidungsfindung verkennt Honsell das Rationalisierungspotential, das einer Bedeutungsgenerierung mit Blick auf den konkreten Fall und in Bezug auf ein (tatsächliches bzw. idealisiertes) Auditorium erwächst. Die Ausrichtung des regelgeleiteten juristischen Diskurses am Plausibilitätsmaßstab und dessen Anerkennung als inhaltliche Direktive zur rationalen Ausfüllung der Entscheidungsspielräume bedeutet zwar die Überwindung einer ausschließlich an Normen orientierten Entscheidungsfindung, aber nicht die Integration von Prinzipien im Sinne der Theorie Ronald Dworkins. Jene sind im Gegensatz zum Plausibilitätsmaßstab für die juristische Entscheidung normativ verbindlich und in ihrer Gewinnung nur aus dem case law-System heraus verständlich. Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S.  285 ff. Wären der Plausibilitätsmaßstab und dessen Orientierung an einem systemübergreifenden Gerechtigkeitsideal verbindlich für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung, bedeutete das in der deutschen Verfassungsordnung die Anerkennung überpositiver, verbindlicher Werte im Sinne der Naturrechtslehre. 1331 Zur „Richtigkeit“ als übergeordnetem normativem Maßstab für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung eingehend die Ausführungen unter D. im 4.  Kapitel des dritten Teils.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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stabs durch das Bundesverfassungsgericht. Die Plausibilitätskontrolle sei „kein deduktives, aber ein rationales Verfahren“.1332 Die Sachgerechtigkeit des Plausibilitätsmaßstabs für die (auch) als Wertungsentscheidungen verstandenen bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen liegt damit in seiner spezifischen Kontrolldichte begründet, die mit den Möglichkeiten der Rationalisierung von Wertungen harmoniert. Der Plausibilitätsmaßstab berücksichtigt die fehlende streng logische Ableitbarkeit der Wertungen aus der Verfassung und durch den Ausschluss willkürlicher Festsetzungen zugleich ihre Rationalisierbarkeit.1333 Letztlich ist er auf die Eigenart normativer Aussagen zugeschnitten, die im Gegensatz zu logischen und deskriptiven Aussagen nicht im Sinne eines naturwissenschaftlichen Rationalitätsbegriffs als „richtig“ oder „falsch“ bzw. „verifiziert“ oder „falsifiziert“ klassifiziert werden können. Er knüpft daran an, dass sie einen Anspruch formulieren und berücksichtigt die Relevanz der Haltung ihrer Adressaten. Als „rationale Akzeptabilität“ ist die Plausibilität auch in dieser Hinsicht ein sachgerechtes Beurteilungskriterium.1334 Im Vergleich zur Starrheit logischer Deduktionen könnte der flexiblere Plausibilitätsmaßstab damit über höheren Erklärungswert hinsichtlich der Quantifizierungsmethodik verfügen und die Kennzeichnung bestimmter Zahlen als verfassungsgemäß durch das Bundesverfassungsgericht als rational ausmachen. Wenngleich es sich um keinen normativen Maßstab handelt, bleibt in den Entscheidungsspielräumen die an der Plausibilität ausgerichtete Argumentation rechtliche Argumentation.1335 Während das Plausibilitätskriterium bei der diskursiven Begründung normativer Entscheidungen im Sinne der juristischen Argumentations­ theorie Robert Alexys keine explizite Berücksichtigung findet, spielt es in den rhetorisch-topischen Argumentationstheorien, nach denen die juristische Argumentation die rhetorische Überzeugung eines tatsächlichen oder ­fiktiven ­Auditoriums

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BVerfGE 101, 158 (200, Zitat ebd.). Nach Florian Reuther müssen die Gerichte, wenn sie die (pauschalierte) „Vergütung der medizinischen Leistungen der [kassenärztlichen] Vertragsärzte“ überprüfen, einen Plausibilitätsmaßstab anwenden. Dadurch werde Wertungen Raum gegeben und zugleich einer willkürlichen Festsetzung entgegengetreten. Ders., Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes, 2006, S. 259, Zitat S. 28. 1334 Vgl. Georg-Matthias Mojse, Wissenschaftstheorie und Ethik-Diskussion bei Hans Albert, 1979, S.  99 ff. (Zitate S.  104 f.). Den Adressatenbezug verwirklicht insbesondere das rechtssysteminterne Plausibilitätskriterium, hierzu sogleich unter C. II. 3. a) bb)  im 4.  Kapitel des dritten Teils. 1335 Dies gilt insbesondere auch für die Orientierung an überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen als rechtssystemübergreifendem Plausibilitätskriterium (siehe die Ausführungen sogleich unter C. II. 3. a) bb)  im 4.  Kapitel des dritten Teils). Vgl. die Überlegungen von­ Robert Alexy zum „Verhältnis von Recht und Moral“ in Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 117 ff. Hierzu Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd.  15, 1996, S.  115 (134 [„Demnach können moralische Bewertungen als rechtliche anerkannt werden, wenn sie den ‚Offenheitsbereich‘ des positiven Rechts ausfüllen, also insbesondere da mit Richtigkeitsanspruch eingreifen, wo das Gesetz schweigt.“], Fn. 62). 1333

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

darstellt,1336 als leitendes Kriterium der Entscheidungsgenerierung eine ausdrückliche und zentrale Rolle. Letztlich zielt die Argumentation dort auf Plausibilität: Das Begründete muss plausibel erscheinen.1337 bb) Plausibilitätskriterien Die Ausrichtung an einem Plausibilitätsmaßstab wird der Forderung eines geleiteten Diskurses zur rationalen Entscheidungsbegründung gerecht, denn sie führt nicht zur ungeordneten Akzeptanz beliebiger Argumente für oder wider die verfassungsgerichtliche Quantifizierung. Eine erste Bedeutungszuschreibung ergibt sich aus dem etymologischen Ursprung. Plausibilität stammt vom lateinischen „plausibilis“ bzw. „plaudere“ ab. Plausibel „ist demnach eine beifallswerte Argumentation“.1338 Die Plausibilitäts- ist von der Vertretbarkeitsprüfung zu unterscheiden. Während sich letztere im Zusammenhang bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen auf die Überprüfung einfachgesetzlicher Entscheidungen innerhalb von Gestaltungsspielräumen bezieht,1339 handelt es sich bei der Plausibilität um einen übergeordneten Maßstab für die Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen durch das Bundesverfassungsgericht gemäß den verfassungsrechtlichen Methodenanforderungen. Es bleibt die Frage nach den Kriterien einer plausiblen juristi-

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Katharina v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 405 (405 f.). Wolfgang Bayer stellt verschiedene Argumentationsmodelle vor. Ders., Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 30 ff. Die als Rhetorik verstandene (juristische) Argumentation bilde ein sog. praxologisches Modell am wirklichkeitsnächsten ab. Es baut auf der Semiotik auf und vollzieht Argumentation ausgehend vom Zeichenbenutzer bzw. Redner und im Verhältnis zu einem­ Auditorium nach. Es werden Regeln für „den Rahmen der Argumentation“, die verwendbaren Argumente, ihre Bedeutungsermittlung und die Rechtfertigung zu Grunde liegender Wertentscheidungen aufgestellt. Ebd., S.  37 ff. (insb. S.  46 ff., Zitat S.  46). Die logische Ableitung juristischer Entscheidungen aus normativen Vorgaben wird nach den rhetorisch-topischen­ Argumentationstheorien nicht als Gegensatz, sondern integrativer Bestandteil der rhetorischen Überzeugungsarbeit verstanden. Robert Alexy unterscheidet zwischen der sachlichen Rechtfertigung durch juristische Argumentation und Rhetorik. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 69. Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 181. 1337 Katharina v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 405 (407 f.). Ota Weinberger, Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation, Juristische Analysen 3 (1971), S.  553 (564 f.). Die Plausibilität der juristischen Argumentation spielt auch innerhalb der­ gemäßigt logizistischen Theorie Weinbergers eine Rolle. Er geht davon aus, dass topische und damit auf Plausibilität gerichtete Entscheidungen in die logische Struktur der Rechtsfindung integriert sind. Ebd., S. 567 ff. 1338 Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 3 (Zitate ebd.). 1339 Siehe die Ausführungen zur mittelbaren Quantifizierung in Bandbreiten bei der Nachzeichnung von Mustern der analysierten Verfassungsgerichtsentscheidungen unter A. II. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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schen Argumentation zu beantworten. Die Plausibilität ist kein genuin juristischer Fachbegriff. Es bedarf ihrer rechtsspezifischen Konkretisierung mit Blick auf die zu beurteilenden rechtssysteminternen Entscheidungen.1340 Die Kriterien, die an den Plausibilitätsmaßstab anschließen, lassen sich als rechtssystemintern und rechtssystemübergreifend charakterisieren. (1) Rechtssysteminterne Plausibilität Die rechtssysteminterne Plausibilität meint die Akzeptanz der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation, in diesem Fall der Quantifizierungen, als normativ begründbar und „inhaltlich einleuchtend“.1341 Der Annahme von Plausibilität liegt ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu Grunde: Die Quantifizierung ist nach den bisherigen Erfahrungen „zutreffend[…]“, jedenfalls „wahrscheinlich“„zutreffend[…]“, auch wenn dies nicht bewiesen bzw. beweisbar ist.1342 Die rechtssystemintern anerkannten Auslegungskriterien und dogmatischen Begründungsmuster markieren dabei die äußeren Grenzen1343 einer plausiblen Argumentation. Das interne Plausibilitätskriterium wahrt in den Entscheidungsspielräumen die Anbindung an den Verfassungstext. In der normativen Gebundenheit der Argumentation, die sich „in den Bahnen der“ anerkannten juristischen Dogmatik und Methodenlehre bewegen muss, liegt eine Parallele zwischen dem Verständnis normativer Entscheidungen als logischer Deduktion, praktischem Diskurs bzw. den Regeln der Topik folgender Rhetorik.1344 Plausibilität impliziert damit nicht nur 1340 Eine Konkretisierung aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive im Zusammenhang der Implementierung einer Kosten- und Leistungsrechnung für die Kommunalverwaltungen findet sich bei Klaus Buchholtz, Verwaltungssteuerung mit Kosten- und Leistungsrechnung, 2001, S. 207 ff. Er entfaltet das Plausibilitätskriterium nicht allein im Wege objektiver Kriterien, sondern es wird (wie im juristischen Kontext, hierzu sogleich) auch auf die Akzeptanz in der Verwaltung abgestellt (zu den weiteren Kriterien siehe die Tabelle ebd. auf S. 209). 1341 Vgl. Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 1 (Zitat ebd.), 6.  1342 Vgl. Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 6 ff. (Zitate S. 6, 7 u. 9). Siehe auch Ota Weinberger, Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation, Juristische Analysen 3 (1971), S. 553 (565). 1343 Die Einhaltung der anerkannten Interpretationsregeln kann strenggenommen nur aus Sicht der rhetorisch-topischen Argumentationstheorie als Aspekt einer plausiblen Argumentation begriffen werden. Deutet man die Plausibilität diskurstheoretisch als „allgemeine[s] praktische[s] Argument[…]“ (Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 346), ist sie ein von der Argumentation mit den klassischen Auslegungscanones und der Heranziehung dogmatischer Begründungsmuster unabhängiges Kriterium, das unterstützend bei Unsicherheiten herangezogen wird. 1344 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 187, 611 (Zitat ebd.). Siehe auch Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S.  80 f. („Vertretbar [und damit plausibel] ist […] [jede Interpretation, die] nicht gegen die Regeln der Dogmatik verstößt und […] nicht vollkommen außerhalb derselben liegt.“). Die juristische Argumentation, die ggf. auch auf rhetorische Überzeugung setzt, verläuft nicht zwangsläufig nach den Regeln der Topik, wie dies Katharina v. Schlieffen (Zur topisch-

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

eine ­Wertung,1345 sondern bezieht sich auch notwendigerweise auf Wertungsentscheidungen, denn bei der logischen Deduktion ist kein Raum für Plausibilitätserwägungen und die reine Dezision kann nicht plausibel sein. Geht man davon aus, dass juristische Entscheidungen diskursiv bzw. rhetorisch-argumentativ hergestellt werden, handelt es sich bei der Plausibilität nicht um eine vom Argumentationszusammenhang abstrahierende und objektiv zu bestimmende Eigenschaft. Bereits der etymologische Ursprung weist darauf hin, dass sich Plausibilität vielmehr ­situativ im Diskurs bzw. subjektiv aus Sicht des Auditoriums der juristischen Akzeptanz­ Argumentation bestimmt.1346 Das Bundesverfassungsgericht ist auf ­

pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch [Hrsg.], Die Sprache des Rechts, Bd.  2, 2005, S.  405 [405 f.]) und Wolfgang Bayer (Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 53 ff.) suggerieren. Kritisch zur Topik Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S.  39 ff.; Christian Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 164 Rn. 24. 1345 Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 7. 1346 Einen adressatenbezogenen bzw. situativen Plausibilitätsbegriff in der (juristischen) Argumentation vertritt Wolfgang Bayer in Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, einführend S. 3 ff. Zum Wandel des situativen zu einem non-situativen Plausibilitätsverständnis ebd., S. 10 ff. (Zitat S. 10). Innerhalb seines als Praxologie bezeichneten Modells unterscheidet Bayer verschiedene Argumentationsebenen. Der Plausibilität der juristischen Argumentation weist er abhängig von der jeweiligen Argumentationsebene eine spezifische Bedeutung zu (ebd., S. 72 ff.). Sie beurteile sich anhand folgender Aspekte: Bayer stellt zunächst auf das sog. partikuläre (siehe hierzu auch ebd., S. 18) als das tatsächlich angesprochene Auditorium der Argumentation ab. Plausibilität bedeute, dass die Argumentation aus dessen Sicht „akzeptabel“ (ebd., S. 72) sei. Es komme darauf an, ob es „in einem ähnlichen Fall dem Argument bereits zugestimmt hat.“ (ebd., S. 73). Die Plausibilität des Entscheidungsmaßstabs und ­dessen Interpretation wird als eine spezifisch juristische beschrieben. Entscheidend seien die „Relevanz und […] Vollständigkeit der Ausgangspunkte“ (ebd., S.  77). Die Interpretation müsse „vertretbar[…]“, d. h. „‚intersubjektiv verstehbar‘“ (ebd., S. 79) und nach „juristisch-dogmatisch[en]“ Kriterien „akzeptabel“ (ebd., S. 80) sein. Zuletzt erfolgt nach Bayer eine „rationale Richtigkeitskontrolle“ (ebd., S. 82) der Interpretation. Bei gerichtlichen Entscheidungen liege es am Richter abzuschätzen, ob das Auslegungsergebnis aus Sicht eines „universellen Auditoriums“ (s. Fn. 1356 im dritten Teil) „vernünftig“ (ebd., S. 82) sei. Es komme auf die „Möglichkeit allgemeiner Anerkennung“ (ebd., S.  83) an. Das Bundesverfassungsgericht stelle in seiner Rechtsprechung auf die Kriterien der „Praktikabilität“ und „Realisierbarkeit“ ab (ebd., S. 66). Auf dieses Plausibilitätskonzept Bayers wird in den folgenden Ausführungen Bezug genommen. Mit dem vorliegend verwendeten Plausibilitätsbegriff harmoniert außerdem folgender: „Sie [plausible Aussagen] sind dadurch gekennzeichnet, daß sie etwas aussagen über nicht oder nicht völlig objektivierbare Gegenstandsbereiche, die deshalb durch angebbare Erkenntnisverfahren nicht entscheidbar sind, daß sie daher von bestimmten, nicht beliebig verallgemeinerungsfähigen, aber auch nicht beliebig änderbaren Voraussetzungen ausgehen und damit nur für diejenigen Menschen ‚plausibel‘, d. h. problemrelevant und annehmbar sind, die für sich die Voraussetzungen übernehmen. ‚Plausibel‘ drückt also eine dreistellige Relation aus zwischen erstens, den Voraussetzungen, zweitens, der an ihnen orientierten, expliziten Deutung und, drittens, dem Adressaten, dem die Annahme der Voraussetzungen zugemutet wird. Plausible Aussagen sind dementsprechend in zweifacher Hinsicht auf das kritizistische Verfahren der rationalen Motivierung bezogen; zum einen muß ihre Akzeptierung selbst rational

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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angewiesen und daher bei der Auswahl einer Zahl als verfassungsgemäß bzw. -widrig inhaltlich eingeschränkt.1347 Dies kann hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen nicht bedeuten, dass es auf die individuelle Meinung jedes von der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Betroffenen ankommt, der die Quantifizierungen tatsächlich für plausibel halten muss. Maßgeblich ist die „intersubjektiv[e] Verstehbar[keit]“,1348 d. h. die „[…]mutmaßliche[…] Zustimmung“ des juristischen Fachpublikums.1349 Katharina v. Schlieffen legt den Akzent auf die entgegengesetzte Perspektive. In der Rechtspraxis komme es nicht auf aktiven Zuspruch, sondern ausbleibenden Protest an.1350 Soll bei den untersuchten Quantifizierungen ein rechtssysteminternes Plausibilitätsurteil gewonnen werden, stellt sich allerdings folgende Schwierigkeit: Bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts fehlt die dirigierende Vorwirkung höherer, zur Überprüfung befugter Instanzen auf die Ausfüllung des bei der Verfassungsinterpretation verbleibenden Spielraums.1351 (2) Rechtssystemübergreifende Plausibilität Jenseits der rechtssysteminternen Interaktion bedeutet die Plausibilität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen, dass sie mit überpositiven, systemmotiviert werden, zum anderen dienen sie einem solchen Verfahren in bezug auf normative Aussagen.“ Georg-Matthias Mojse, Wissenschaftstheorie und Ethik-Diskussion bei Hans-­ Albert, 1979, S. 105 f. 1347 Zu den methodischen Konsequenzen der Adressatenbezogenheit von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen bereits unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1348 Gerhard Otte, Komparative Sätze im Recht, in: Hans Albert u. a. (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, 1972, S. 301 (319). 1349 Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S.  46 ff., 62 (Zitat ebd.). Auch Klaus Vogel versucht zur Begründung der Plausibilität des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes kein objektives Urteil und es klingt an, dass er die Akzeptanz der Quantifizierung für erheblich hält. Der Kreis derer, auf die es zur Annahme von Plausibilität ankomme, wird indes nicht problematisiert. Vogel stellt darauf ab, dass den Halbteilungsgrundsatz sieben von acht Verfassungsrichtern des entscheidenden Senats für „richtig“ hielten. Er geht außerdem davon aus, dass ihn die „große[…] Mehrheit der Steuerpflichtigen“ als „einleuchten[d]“ annähme. Ders., Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1258, Zitate ebd.). 1350 Katharina v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 405 (407). 1351 Vgl. Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S.  61 f., 80 f. Bayer beschreibt den möglichen Einfluss eines partikulären Auditoriums (siehe Fn. 1346 im dritten Teil) auf die Interpretation wie folgt: „Da er [der Jurist] unter Entscheidungszwang steht, muß er unter mehreren möglichen Bedeutungen eine Auswahl treffen. Hier könnte leicht der Eindruck dezionistischer Willkür entstehen. Es ist aber zu bedenken, daß der Jurist auf die Zustimmung seines Auditoriums angewiesen ist. Durch die Berücksichtigung der Reaktion des jeweiligen ‚auditoire particulier‘ wird das dezisionistische Moment der Entscheidung erheblich eingeengt.“ (ebd., S. 61).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

übergreifenden Gerechtigkeitserwägungen übereinstimmen.1352 Zur Bestimmung gerechter Quantifizierungen hilft der Verweis auf das positive Recht1353 nicht weiter, denn aus dem positiven Recht ergeben sich angesichts der Entscheidungsspielräume gerade keine eindeutigen numerischen Vorgaben. Andreas v. Arnauld formuliert die Ausrichtung juristischer Entscheidungen an der Gerechtigkeit als Forderung: „Er [der moderne säkulare Rechtsstaat] ist auf Vernunftrecht gegründet, und selbst wenn man darüber streiten mag, wie verfügbar und beliebig die Vorstellungen von Gerechtigkeit sind, so muß das Recht doch in rational nachvollziehbarer Weise seine Entscheidungen auf Basis der Vorstellung von dem, was einer Gesellschaft als gerecht gilt, treffen.“1354 Mehr noch als bei der rechtssysteminternen Plausibilität gilt jedoch, dass die Verfassung in ihren Spiel­räumen das Bundesverfassungsgericht nicht an inhaltliche Vorgaben bindet. Es ist nicht verpflichtet, spezifische Vorstellungen einer gerechten Entscheidung umzusetzen. Die Orientierung hieran ist nur insoweit verfassungsrechtlich relevant, als sie eine rationale und damit rechtsstaatliche Entscheidungsfindung bedeuten kann. Anknüpfend an die Vorstellungen der juristischen Rhetorik kommt es bei den bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen darauf an, ob die jeweilige, auf Verfassungsbasis festgelegte Zahl vernünftigerweise als plausibel gilt. Ihre Plausibilität wird aus Sicht eines idealisierten Adressatenkreises bestimmt.1355 Chaïm ­Perelman und Lucie Olbrechts-­Tyteca sprechen vom „universalen Auditorium[…]“.1356 In der Inbezugnahme eines ­(fikti­ven, sublimierten) Auditoriums liegt eine Parallele zwischen dem rechtssysteminternen und -übergreifenden Plausibilitätsverständnis, die nicht in striktem Gegensatz als situativ und non-situativ gedacht werden können.

1352 Vgl. Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (84). 1353 Vgl. Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 (ebd.); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 343. 1354 Andreas v. Arnauld, Zufall in Recht und Spiel, in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 171 (180); Wolfram Hogrebe, Seher, Richter und Zufall, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, 2006, S. 1249 (1264). 1355 Anknüpfend an Chaïm Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 18 f., 63 ff. Zum „universellen Auditorium“ auch Ota Weinberger, Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation, Juristische Analysen 3 (1971), S. 553 (565). Weinberger bestreitet, dass der Bezug auf ein universelles Auditorium die Argumentation als rational ausweist. Es bedürfe eines „rational-analytische[n] und kritische[n] Prozeß[es]“, innerhalb dessen die durch Rhetorik bewirkte Plausibilität näher zu „begründen“ sei. Ebd., S. 565 f., 573 (Zitate ebd.). Inwieweit er über die Rationalitätsanforderungen Perelmans und Olbrechts-Tytecas hinausgeht, bleibt unklar. 1356 Zitiert nach der deutschen Übersetzung bei Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 18 („auditoire universel“).

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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b) Plausibilität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen Die Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts könnten in diesem Sinne plausibel und damit jenseits der Anbindung an die inhaltlichen Verfassungsvorgaben rationalisierbar sein. Das Gericht begründet die Quantifizierungen nicht ausdrücklich mit ihrer Plausibilität. Allein in den Normenkontrollanträgen Baden-Württembergs, Bayerns und Hessens, die zum vierten Finanzausgleichsurteil (BVerfGE 101, 158) führen, wird eine Quantifizierung explizit als plausibel bezeichnet. Die Länder suchen dort die Angemessenheit des Finanzausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG zu quantifizieren und einen Halbteilungsgrundsatz für die maximale Abschöpfung der überdurchschnittlichen Finanzkraft der Geberländer im horizontalen Finanzausgleich zu begründen.1357 Nichtsdestotrotz könnte das Bundesverfassungsgericht in der Sache plausibel quantifizieren. Zur Beurteilung der rechtssystemübergreifenden Plausibilität der untersuchten Quantifizierungsbeispiele muss deren Gerechtigkeitsmaßstab konkretisiert werden. Bei der Quantifizierung der Verfassungsvorgaben für die Steuerbelastungsgrenzen, die Höhe von Sozialleistungen und Beamtenbesoldung, das Aufteilungsverhältnis des Ehegatteneinkommens zur Ermittlung des maßgeblichen Steuersatzes, die Grenzen für die staatliche Parteienfinanzierung, die Höhe der Sperrklauseln im Wahlrecht und die Anzahl an Überhangmandaten ist unmittelbar oder mittelbar die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit aufgeworfen. Sie betrifft – hierauf weist bereits ihr Name hin – Verteilungsfragen, nach ihrem klassischen Verständnis in Über- bzw. Unterordnungsverhältnissen.1358 In den vorgenannten Beispiels­fällen stehen ebensolche im Staat-Bürger-Verhältnis in Rede. Es geht um die Bemessung der monetären Belastungen und Vergünstigungen durch den Staat bzw. (bei der verfassungsgemäßen Höhe der Sperrklauselregelung und ausgleichsloser Überhangmandate)  von Begrenzungen für den Zugang der Parteien zur Staatsmacht. Die Vorstellung von einer verteilenden Gerechtigkeit ist auch für die Beispielsfälle bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen im Zusammenhang des horizontalen Finanzausgleichs und der Zuteilung von Bundesergänzungszuweisungen maßgeblich.1359 Zwischen den Gliedern im Bundesstaat fehlt es indes an einer normativ

1357 BVerfGE 101, 158 (199 f.). Der finanzausgleichsrechtliche Halbteilungsgrundsatz wird nicht nur explizit als plausible Quantifizierung bezeichnet, seiner Festlegung geht außerdem die Abwägung „zwei[er] gegenläufige[r] Verfassungsprinzipien“ (die „Autonomie der Länder auch auf finanziellem Gebiet und ihre Verpflichtung, bundesstaatlich füreinander einzustehen“) voraus (ebd.). Bei den nicht explizit so bezeichneten Quantifizierungen zur hälftigen Teilung wird dies ein wesentlicher Anhaltspunkt für ihre Plausibilität sein (hierzu sogleich). 1358 Hierzu Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 (582). Zur Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit einführend auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 339–341, 349. 1359 Bei der Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit im horizontalen Finanzausgleich und der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bloß um einzelne Komponenten der staatlichen Einnahmenverteilung handelt.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

begründeten Hierarchie; allein aus dem Verteilungsverhältnis resultiert zwangs­ läufig eine rein tatsächliche Über- und Unterordnung. Beim horizontalen Finanzausgleich ist auf der Geberseite zudem nicht nur eine verteilende Instanz, sondern eine Gruppe von Ländern angesiedelt und für die Verteilungsgerechtigkeit auch­ deren Finanzlage relevant. aa) Fokus: Zur Plausibilität der hälftigen Teilung Unter den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen fällt ein Zahlenverhältnis in den Blick, das gesteigerter Plausibilität unterliegen bzw. mit Plausibilitätserwägungen des Bundesverfassungsgerichts erklärt werden könnte. Bereits Walter Jellinek stellt in Bezug auf die Verwaltungsrechtsprechung fest: „Wenn es irgend geht, wird […] die Zahl ‚zwei‘ als Grenzzahl genommen.“1360 Das Bundesverfassungsgericht bestimmt wiederholt, auf der Grundlage unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Vorgaben und in divergenten Sachbereichen, dass das jeweils verfassungsgerechte numerische Verhältnis die „hälftige[…] Teilung“1361 sei. Die jeweils maßgebliche Grenze liegt mithin bei „50 v. H.“.1362 Dies ist – bis auf die drei zusätzlichen Plätze für ausländische Medienvertreter im „NSU-Prozess“ – immer dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht autonom und unmittelbar quantifiziert. Das prominenteste Beispiel stellt der Halbteilungsgrundsatz im Steuerrecht dar. Verfassungsgemäß ist die hälftige Teilung außerdem in der Form des Splittings bei der Ehegattenbesteuerung. Einen weiteren Halbteilungsgrundsatz stellt das Bundesverfassungsgericht als relative Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung auf. Auch bei den unmittelbaren, heteronomen Quantifizierungen taucht die Hälftigkeit auf. Laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen die Überhangmandate im Bundestag „die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten“1363 nicht übersteigen. In der Finanzausgleichsrechtsprechung wird das genannte Zahlenverhältnis bei der mittelbaren Quantifizierung relevant. Die pauschale Kürzung der kommunalen Steuereinnahmen um 50 % durch das Finanzausgleichsgesetz bei der Bemessung der Länderfinanzkraft ist verfassungsgemäß.1364 Ein weiterer ­Beispielsfall für eine hälf-

1360 Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 231. Siehe bereits ders., Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1964, S. 56 f. 1361 Die Formulierung „hälftige[…] Teilung“ verwendet das Bundesverfassungsgericht nur bei der Begrenzung der steuerlichen Höchstbelastung in BVerfGE 93, 121 (138). 1362 Das in Ziffern ausgedrückte Pendant der „hälftigen Teilung“ findet sich in der Finanz­ ausgleichsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn es die pauschale Kürzung der gemeindlichen Steuereinnahmen im FAG überprüft. BVerfGE 86, 148 (232 f.). 1363 BVerfGE 131, 316 (357). 1364 Die Vorliebe für die hälftige Teilung findet in der Verfassungsrechtswissenschaft Widerhall, die entsprechende Quantifizierungsvorschläge unterbreitet. Jürgen Krafczyk nennt die 50 % als maßgebliche Grenze, ab der die finanziellen Auswirkungen auf das Haushaltsvolumen durch ein direktdemokratisches Gesetz als unzulässige Beeinträchtigung der parlamen-

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tige Teilung findet sich schließlich im Hochschulurteil (BVerfGE 35, 79). Ob die für Professoren einfachgesetzlich vorgesehenen 50 % der Stimmen bei Abstimmungen von Hochschulorganen verfassungsgemäß sind, hängt dort vom jeweiligen Sachbereich ab, in dem entschieden wird. Es lassen sich in all diesen Fällen verschiedene Anhaltspunkte für eine plausible Ausfüllung der Bewertungsspielräume ausmachen.1365 Die hälftige Teilung wird im Sinne des rechtssysteminternen Plausibilitätskriteriums innerhalb des durch die klassischen Auslegungscanones geschaffenen Rahmens allgemein als begründbar akzeptiert. Beim Quantifizierungsergebnis, der Zahl, handelt es sich mehr noch um eine „perzeptiv und normativ prominente […] Lösung  […]“.1366 Kritiker setzen an der Kompetenz zur Ausfüllung der Bewertungsspielräume und nicht an deren Überschreitung an. Für die Plausibilität streitet die Quantifizierungsmethodik, denn der Quantifizierung zur hälftigen Teilung geht in den meisten Fällen eine Abwägung gegenläufiger Verfassungsinhalte voraus.1367 Angesichts eines abwägungsoffenen Grundgesetzes, das keine expliziten Kriterien für die Gewichtung nennt, verwirklicht die hälftige Teilung die intuitive Vorstellung von einer angemessenen Gewichtung. Dies kann bei der Aufstellung des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes nachvollzogen werden. Nach Art. 14 Abs. 2 GG soll der „Gebrauch [des Eigentums] […] zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“1368 Zwischen „private[m] Nutzen“ und „Wohl der Allgemeinheit“1369 – die Bipolarität wird durch die Darstellung des Gerichts noch einmal hervorgehoben („Deshalb ist der Vermögensertrag einerseits für die

tarischen Budgethoheit anzusehen seien. Ders., Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, 2005, S. 216. Der Halbteilungsgrundsatz findet außerdem außerhalb des Verfassungsrechts bei der Quantifizierung einfachen Rechts durch die Fachgerichtsbarkeit Anwendung. Nach der Düsseldorfer Tabelle und den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Oberlandesgerichte, die als „externe judikative Quantifizierungen“ von der Rechtsprechung bei der Unterhaltsbemessung herangezogenen werden, bemisst sich der Trennungs- und Scheidungsunterhalt nach Unterhaltsquoten. Demnach hat der Unterhaltsberechtigte grundsätzlich Anspruch auf die Hälfte des für die Unterhaltsbemessung maßgeblichen Einkommens. Auch in diesem Zusammenhang ist von einem „Halbteilungsgrundsatz“ die Rede. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 282 ff. (Zitate S. 282 u. 284). 1365 In der Literatur wird vor allem die Plausibilität des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes betont, ohne dass der Plausibilitätsmaßstab inhaltlich problematisiert oder nach verschiedenen Plausibilitätskriterien differenziert wird. Die Begründung Klaus Vogels, dass der Halbteilungsgrundsatz „sieben von acht Verfassungsrichtern in einem ausgewogen besetzten Senat als richtig erschienen“ sei und „der großen Mehrheit der Steuerpflichtigen einleuchte[…]“ verweist eher auf die Annahme eines rechtssysteminternen Plausibilitätskriteriums. Ders., Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1258, Zitat ebd.). Siehe hierzu auch Fn. 1330 u. 1349 im dritten Teil. 1366 Zitat Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 344. 1367 Allein der Beurteilung des Ehegattensplittings und der Kürzung der kommunalen Steuereinnahmen als verfassungsgemäß liegt keine Abwägung zu Grunde. 1368 Kursivsetzung durch Verf. 1369 BVerfGE 93, 121 (138).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

steuerliche Gemeinlast zugänglich, andererseits muß dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben.“1370) – besteht ein Spannungsverhältnis. Die „hälftige Teilung“, die Freiheit und Sozialbindung des Eigentums ins Gleichgewicht bringt, erscheint als eine plausible Quantifizierung.1371 Dies gilt umso mehr, als der Halbteilungsgrundsatz die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fortführt. Wenngleich noch auf der Ebene nichtnumerischer Umschreibung war doch schon von einem „dialektischen Verhältnis[…]“ der Sozialpflichtigkeit und Privatnützigkeit des Eigentums die Rede. Der Gesetzgeber müsse den Bezugspolen „in gleicher Weise Rechnung tragen“ und sie „in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis bringen“.1372 Die hälftige Teilung verfügt indes nicht nur im normativen Zusammenhang, sondern auch im Hinblick auf überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen über erhöhte Plausibilität. Die Bewertung des Halbteilungsgrundsatzes als verteilungsgerechte Quantifizierung erhellt, wenn man die grundsätzliche Problematik einer gerechten Verteilung nachvollzieht. Sie muss sich an bestimmten Kriterien orientieren,1373 deren (vergleichende)  Bewertung jedoch auf Schwierigkeiten stößt. Dies ist jedenfalls bei einer Ausrichtung an den Leistungen oder Bedürfnissen der Empfänger (Beitrags- bzw. Bedürfnisprinzip) und im Falle der Bedeutung „subjektive[r] Präferenzen“1374 umso mehr der Fall, wenn die Verteilung durch einen Dritten erfolgt. In den Quantifizierungsfällen des Verfassungsrechts ist der verteilende Dritte der Staat, dessen Bewertung das Fehlen eines Marktpreises, jedenfalls als unmittelbarer und objektiver Wertmesser, erschwert. Primär richtet sich die Verteilung nach der „Berechtigung“,1375 d. h. den normativen Vorgaben des Grundgesetzes. Das Quantifizierungsproblem stellt sich aus dieser Perspektive jedoch nicht weniger, denn aus den unbestimmten Verfassungsvorschriften ergeben sich rational-­deduktiv keine numerischen Vorgaben für die Verteilung. Über

1370

BVerfGE 93, 121 (138, Kursivsetzung durch Verf.). Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S.  15. Wider eine plausible Quantifizierung kann hingegen die Kritik Tina Beyers gedeutet werden, der Halbteilungsgrundsatz enge die Steuergewalt des Staates zu stark ein. Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 152 mit rechtsvergleichenden Hinweisen. Ausführlich zur Kritik am Halbteilungsgrundsatz in Fn. 985 im dritten Teil u. die Ausführungen unter C. III. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1372 BVerfGE 37, 132 (140). Hierzu Gunther Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 13. Aufl. 2008, § 36 Rn. 552 mit weiteren Verweisen auf BVerfGE 25, 112 (118); 52, 1 (29); 100, 226 (241); 102, 1 (17); 115, 97 (114). 1373 Welches Kriterium relevant ist, hängt nicht nur vom historischen und sachlichen Verwendungszusammenhang, sondern auch den maßgeblichen „Gerechtigkeitsvorstellungen“ ab und kann daher umstritten sein. Vgl. Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 (582,­ Zitat ebd.). 1374 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 344. 1375 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 343. 1371

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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die Orientierung an anderen (vergleichbaren) Fällen kann eine relative Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer „proportionalen Gleichheit“1376 angestrebt werden. Sie tritt bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung in Systemgerechtigkeitserwägungen1377 zu Tage. Einen Ausweg zu einer plausiblen im Sinne einer gerechten Verteilung unter den unmittelbar Betroffenen unter Umgehung der vorgenannten Bewertungsschwierigkeiten stellt dann das formale Prinzip einer gleichen im Sinne einer „egalitäre[n]“1378 Aufteilung dar.1379 Die Ausrichtung an der formalen Gleichheit bedeutet, dass jeder gleich viel (d. h. bei zwei Empfängern die Hälfte) bekommt bzw. gleich hoch (d. h. bei zwei Belasteten mit der Hälfte) belastet wird. Im demokratischen Staat entspricht ein solches Vorgehen der formalen Gleichheit der Staatsbürger und in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes außerdem Art. 1 Abs. 1 GG, der unterschiedslos die Würde des Menschen anerkennt.1380 Indes ist über die absolute Höhe der Begünstigung bzw. Belastung damit nichts gesagt. Der Halbteilungsgrundsatz setzt in den genannten bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungsfällen nicht horizontal im Verhältnis der Leistungsempfänger bzw. Belasteten an. Im Steuerverfassungsrecht und bei der relativen Obergrenze für die Parteienfinanzierung bezieht er sich auf das vertikale Verhältnis zwischen Leistendem und Leistungsempfänger, d. h. Staat und Bürger bzw. Partei.1381 Die Verteilungsgerechtigkeit verwirklicht sich dort durch die hälftige Aufteilung einer bestimmten Geldsumme.1382

1376

Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S.  580 (582). Klaus F. Röhl u. Hans­ Christian Röhl unterscheiden zwischen Äquivalenz und Proportionalität bei der Bewertung, je nachdem, ob die in Betracht gezogenen Fälle direkt vergleichbar sind. Dies., Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 343. 1377 Zur Verwirklichung von Verteilungsgerechtigkeit im Rahmen der Verfassungsbindung des Gerichts über Systemgerechtigkeitserwägungen bei der Quantifizierung unter C. II. 2. b) im 4. Kapitel des dritten Teils. 1378 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 341. 1379 Vgl. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 341– 345. Ein Mindestmaß an (rechtssystemübergreifender) Plausibilität kann bei der Quantifizierung außerdem gewahrt werden, wenn „andere[…] aus der Situation naheliegende[…] Maßstäbe[…]“ zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit herangezogen werden (ebd., S. 344). Diesen Weg geht das Bundesverfassungsgericht bei der unmittelbaren heteronomen und bei der mittelbaren Quantifizierung. Siehe die Ausführungen sogleich unter C. II. 3. b) bb) im 4.  Kapitel des dritten Teils. Die Dezision stellt demgegenüber keine plausible im Sinne einer gerechten Lösung dar, denn im Unterschied zum Losen oder Werfen einer Münze (ebd., S. 344) bleibt die Entscheidung von den subjektiven Beweggründen des Richters motiviert. 1380 Ralf Dreier, Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 (582). 1381 Eine Parallele zu den vorgenannten Fällen stellt somit der vorgeschlagene Halbteilungsgrundsatz für den horizontalen Finanzausgleich dar. Er bezieht sich auf die überdurchschnittliche Finanzkraft der „reichen“ Bundesländer und auch in diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungsempfänger bzw. Gebendem und Nehmendem angesprochen. 1382 Folgeproblem kann dann wie beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz die Berechnung der jeweiligen Bezugsgröße sein. Hierzu A. II. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Stellt man darauf ab, dass es sich bei der Hälftigkeit um ein in verschiedenen Sachverhalten wiederkehrendes numerisches Verhältnis handelt, kann außerdem das Proportionalitätsprinzip als formales Argument für die Verteilungsgerechtigkeit hinzugezogen werden. Es ist dann weniger die materielle Vernünftigkeit der Regelung, sondern die tatsächliche Akzeptanz des Zahlenverhältnisses in einem anderen (ggf. vergleichbaren) Fall relevant.1383 Wenn die relative Obergrenze der Parteienfinanzierung als „goldene Regel“1384 bezeichnet wird, kann dies als Verweis auf die rechtssysteminterne und -übergreifende Plausibilität der Quantifizierung verstanden werden. bb) Weitere wiederkehrende, plausible Zahlenwerte Neben dem Zahlenverhältnis der Hälftigkeit kann eine Affinität des Bundesverfassungsgerichts für die Zahl Fünf bzw. Fünfzehn bei der unmittelbaren Quantifizierung festgestellt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichts ist im Wahlrecht des Bundes und der Länder in der Regel eine Sperrklausel in Höhe von 5 % verfassungsgemäß.1385 Das Bundesverfassungsgericht stellt außerdem eine 15 %-Grenze in der Rechtsprechung zum steuerrechtlichen Existenzminimum und zu den Besoldungszuschlägen für kinderreiche Beamte auf: Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert das steuerverfassungsrechtliche Existenzminimum und bestimmt, dass eine Unterschreitung der durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen (nach der im konkreten Fall zu Grunde gelegten Berechnung) um „weniger als“ 15 % „jedenfalls“ nicht verfassungswidrig sei.1386 Bei der Überprüfung der Besoldungszuschläge kinderreicher Beamter stellt das B ­ undesverfassungsgericht 1383

Wolfgang Bayer, Plausibilität und juristische Argumentation, 1975, S. 72 f. Hans Herbert v. Arnim, Verfassungsfragen der Parteienfinanzierung, ZRP 1982, S. 294 (301, Zitat ebd.); Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (327, Fn. 34). Die sog. goldene Regel bezeichnet ursprünglich ein religions- und kulturübergreifendes sittliches Gebot: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch.“ (Matthäus 7, 12). „Goldene Regel“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 11, 21. Aufl. 2006, S. 140. Die goldene Regel erweckt die Assoziation der goldenen Zahl (numerus aureus). Es handelt sich um einen Terminus aus der christlichen Osterberechnung, wonach das jeweilige Kalenderjahr innerhalb eines sog. Mondzirkels verortet und hiervon ausgehend das Osterdatum berechnet wird. Vgl. „Goldene Zahl“, Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 8, 6. Aufl. 1907, S. 97. Hiervon zu unterscheiden ist der goldene Schnitt (sectio aurea): Eine Strecke ist so unterteilt, dass sich der kleine zum größeren Teil so verhält wie der größere Teil zur ganzen Strecke. Ergänzt man die Strecke um den größeren Teil, ergibt sich unter den einzelnen Streckenabschnitten erneut eben dieses Verhältnis. „Goldener Schnitt“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 11, 21. Aufl. 2006, S. 140; Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 63 ff. Das Attribut „golden“ bedeutet – im Zusammenhang mit Zahlen verwendet – mithin einen Verweis auf etwas Vollkommenes, Harmonisches bzw. Heiliges. Bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung wird es als Verweis auf die rechtssysteminterne und -übergreifende Plausibilität verstanden. 1385 Siehe die Ausführungen unter B. I. im 2. Kapitel des dritten Teils. 1386 Siehe die Ausführungen unter A. II. 2. a) cc) im 2.  1384

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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fest, dass die Sozialhilfeleistungen um mindestens 15 % überschritten werden müssen.1387 Im geltenden Wahlsystem geht es außerdem von 15 zulässigen Überhangmandaten aus.1388 Es handelt sich in allen Fällen um unmittelbare, heteronome Quantifizierungen. Indes ist dem Bundesverfassungsgericht die 5 bzw. 15 nur im Falle der Sperrklauselregelung und der Höchstgrenze für die Überhangmandate direkt bzw. indirekt normativ vorgegeben: Während diverse Wahlgesetze eine Sperrklausel in Höhe von 5 % festschreiben, entsprechen die 15 Überhangmandate der vom Bundesverfassungsgericht für maßgeblich erachteten halben Fraktionsstärke im Bundestag wie sie in der geltenden Geschäftsordnung geregelt ist. Bei den 15 % in der Rechtsprechung zum steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimum und zu den Besoldungszuschlägen handelt es sich hingegen um eine eigenständige numerische Festlegung des Gerichts. Sie ergibt sich nicht aus der einfachgesetzlichen Bezugsgröße, denn sie markiert die Grenze des verfassungsgemäßen Abweichungsspielraums vom sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf. Die Quantifizierung zur Fünf bzw. Fünfzehn ist jeweils besonders plausibel. Indes handelt es sich um eine Plausibilität, die den Zahlen eher intuitiv zugesprochen wird. Im Gegensatz zur hälftigen Teilung kann sie jedenfalls nicht unmittelbar auf die jeweilige verfassungsrechtliche Fragestellung bezogen rational begründet und auch nur schwerlich den unterschiedenen Plausibilitätskriterien zugeordnet werden. Die Fünf verfügt über eine haptische Plausibilität, denn sie gründet darauf, dass die Hand zum Zählen verwendet wird.1389 Die Neigung des quantifizierenden Bundesverfassungsgerichts zur Fünf bzw. Fünfzehn und eine korrelierende Akzeptanz der genannten Zahlen lässt sich damit erklären, dass das Zählen bzw. Rechnen in Fünferschritten als besonderes leicht zugänglich empfunden wird.1390 Die Fünf ist „über die Zehn“ außerdem Basis des üblicherweise verwendeten Dezimalsystems.1391 Die nach der Verfassungsrechtsprechung maximal zulässigen Überhangmandate werden auch als „goldene Fünfzehn“ bezeichnet.1392

1387

Siehe die Ausführungen unter A. V. 3. im 2. Kapitel des dritten Teils. Siehe die Ausführungen unter D. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. 1389 Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 116 f. Das Zählen mit der Hand zeugt davon, dass sich gegenüber den anthropologischen Ursprüngen (siehe hierzu die Ausführungen unter B. I. im 1. Kapitel des ersten Teils) kein völlig formalisiertes System des Zählens und Messens durchgesetzt hat. 1390 Bernhard Großfeld verweist darauf, dass ursprünglich „in Fünfer- und Zehnereinheiten“ gezählt wurde. Ders., Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 117 f. 1391 Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993, S. 118 (Zitat ebd.). Es ist hingegen nicht davon auszugehen, dass die Fünf als Rechtssymbol (Großfeld verweist auf die Verwendung der Fünf als Zeichen für die Hand Gottes und Gerechtigkeitssymbol, deren Ursprünge er in Indien und Babylon ausmacht. Ebd., S.  120) zur Erklärung ihres wiederholten Auftretens bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung herangezogen werden kann. 1392 Günter Bannas, Die goldene Fünfzehn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2012, S. 3. 1388

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Ein Mindestmaß an Plausibilität wahrt das Bundesverfassungsgericht entscheidungsübergreifend dadurch, dass es durchgehend runde Zahlen zur Quantifizierung verwendet. Runde und damit „einfachere“ Zahlenwerte sind plausibler als „krumme“,1393 denn sie sind leichter umsetzbar1394 und geben weniger Anstoß, die Zahlengenerierung zu hinterfragen. Für die Plausibilität ist dies relevant, denn sie bemisst sich aus der Sicht der (tatsächlichen, idealisieren) Adressaten der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Es kann außerdem einigen Quantifizierungstypen unabhängig von den konkreten Zahlenwerten erhöhte Plausibilität attestiert werden. Mehr als die unmittelbaren autonomen sind die unmittelbaren heteronomen und mittelbaren Quantifizierungen plausibel, denn das Bundesverfassungsgericht verwendet bereits existente Zahlen zur Quantifizierung.1395 Gegenüber den mittelbaren verfügen die unmittelbaren, heteronomen Quantifizierungen über einen Plausibilitätsvorsprung. Dies liegt zum einen daran, dass die Quantifizierung auf der Maßstabsebene weniger dem Anschein des Zufälligen unterliegt als die Quantifizierung im Wege der Subsumtion eines numerisch bestimmten Prüfungsgegenstands. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die mittelbare Quantifizierung – wie bei der Bestimmung des Vorliegens einer (extremen) Haushaltsnotlage  – in finanzwirtschaftliche Berechnungen eingebettet ist. Zum anderen bedeutet die unmittelbare, heteronome Quantifizierung, dass das Bundesverfassungsgericht Systemgerechtigkeitserwägungen anstellt. Das jeweilige Quantifizierungsergebnis wirkt in diesem Fall insbesondere dann einleuchtend, wenn andere Quantifizierungen eben der in Rede stehenden Verfassungsvorgaben in Bezug genommen werden. Die erhöhte, an Systemgerechtigkeitserwägungen des Gerichts anschließende Plausibilität lässt sich auf das rechtssysteminterne Plausibilitätskriterium zurückführen, das an die Begründungsanstrengungen bzw. -möglichkeiten nach der herkömmlichen Methodik anknüpft. Die Annahme rechtssysteminterner Plausibilität ist immer dann wahrscheinlicher, wenn auch die Anstrengungen des Bundesverfassungsgerichts zur Begründung der Deduzierbarkeit einer Zahl aus der Verfassung elaborierter ausfallen.

1393 Klaus Vogel, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz  – eine Erwiderung, NJW 1996, S.  1257 (1258, Fn.  22): „Deswegen werden z. B. immer runde Zahlen gewählt; ‚krumme‘ Zahlen erscheinen als weniger plausibel  – aus welchen Gründen auch immer.“ Siehe auch die Begründung der BVerfGE 101, 158 zu Grunde liegenden Normenkontrollanträge BadenWürttembergs, Bayerns und Hessens, wonach „in der Regel der einfachere Zahlenwert der plausiblere“ sei. BVerfGE 101, 158 (199 f.). Klaus Vogel war in diesem Verfahren Bevollmächtigter der Bayerischen Staatsregierung. 1394 Zur Ausrichtung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen an den Kriterien der „Praktikabilität“ und „Realisierbarkeit“ Fn. 1346 im dritten Teil. 1395 Zur rechtssystemübergreifenden Plausibilität der unmittelbaren heteronomen und der mittelbaren Quantifizierung siehe Fn. 1379 im dritten Teil.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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c) Unschärfe des Plausibilitätskriteriums und verbleibende Irrationalität bei der Quantifizierung Die Rückführung der Quantifizierungen auf Wertungen des Bundesverfassungsgerichts und die Anwendung eines Plausibilitätsmaßstabs auf eben diese führt nicht dazu, dass die Festlegung der Zahlenwerte vollends rationalisierbar bzw. rational nachvollziehbar wäre. Es lässt sich nur sehr eingeschränkt ein inhaltlicher Zugang zum Plausibilitätsargument gewinnen. Die Plausibilität ist daher Einfallstor für politische Interessen. Hiermit hängt zusammen, dass das Plausibilitäts-­ weder ein (bzw. bei Wahrung des rechtssysteminternen Plausibilitätskriteriums allenfalls eingeschränktes) normatives noch ein zwingendes Argument ist.1396 Zwar sind die Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts in einigen Fällen plausibel, indes handelt es sich nicht um die einzig denkbaren plausiblen Zahlenwerte. Das Plausibilitätsargument ist nicht präzise und kann daher den einen, exakten Zahlenwert (bzw. eine bestimmte numerische Bandbreite) nicht rechtfertigen.1397 Seine Unbestimmtheit wird vor allem bei der Ausrichtung der Zahl(en) an über­ positiven Gerechtigkeitsvorstellungen offenbar. Es verbleibt ein breiter Spielraum für die Zahlenfestlegung. Die Anwendung des Plausibilitätskriteriums auf die Auswahl zwischen mehreren, plausiblen Alternativen bedeutete einen Zirkelschluss und mündet in einer Tautologie bzw. Paradoxie: das Plausible wäre plausibel und dessen plausible Alternative unplausibel. Die Auswahl unter mehreren plausiblen Zahlenwerten ist im Wege eines an der Plausibilität orientierten Diskurses nicht rationalisierbar.

III. Das „würfelnde“1398 Verfassungsgericht: Quantifizierung von Verfassungsrecht als Höchstmaß an Dezision Die mögliche Rationalisierung der Quantifizierung von Verfassungsrecht, d. h. die Konkretisierung unbestimmter Verfassungsvorgaben zu Zahlen im Wege eines rational nachvollziehbaren Entscheidungsfindungsprozesses, stößt auf Grenzen. Dezision ist unvermeidbar, wenn aus unbestimmten Vorgaben der Verfassung konkrete Entscheidungen deduziert werden sollen. „General propositions do not decide

1396 Vgl. Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 15: „That a fifty-fifty rule evokes a general idea of equilibrium and might appeal to a ‚feeling‘ for justice (cf. Vogel 1996: 1258) is also not enough to turn into a compelling legal argument.“ 1397 Einfachgesetzliche Bestätigung findet ein solches Verständnis des Plausibilitätskrite­ riums in § 128 Abs.  1 Satz 3 Solvabilitätsverordnung (SolvV), der zur Konkretisierung der­ Anforderungen aus § 10 ff. Kreditwesengesetz (KWG) eine plausible Schätzung bestimmter­ Risikoparameter zur Bemessung der Eigenmittelausstattung von Finanzinstituten verlangt. 1398 Siehe hierzu Fn. 1211 u. 1236 im dritten Teil.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

concrete cases.“1399 „When ‚a [legal] line is drawn there is often not a great deal of difference between the situations closest to it on either side‘.“1400 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet dann nach „Gutdünken“,1401 nicht nach rationalen Maßstäben. Dezision ist somit nicht erst Phänomen der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung, sie tritt aber in diesem Zusammenhang in den Vordergrund.1402 Sie betrifft innerhalb der gestuften Konkretisierung des Bundesverfassungs­gerichts vor allem die Zahlenfestlegungen und tritt zu den naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen, die auch außerhalb naturwissenschaftlicher Kommunikationssysteme an die Zahlengenerierung angelegt werden,1403 in Widerspruch. Bei der Quantifizierung wird das Scheitern der Rationalisierung des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsprozesses inhaltlich greifbar, denn an die konkrete Zahl können keine rationalen Argumente anschließen.1404 Die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen sind Pendant der „aleatorischen“ Zahlen im Verfassungstext.1405 „Die Inhalte der Entscheidungsgründe […]treten [zurück] vor dem Bedürfnis, überhaupt eine Entscheidung zu haben,“1406 und den in den Entscheidungsbegründungen aufgedeckten Defiziten1407 entspricht grundsätzlich ein „blinder Fleck“ in der rationalen Begründbarkeit.1408 Zahlen sind wegen ihrer Bestimmtheit der Inbegriff der Entscheidung und im Zusammenhang bundesverfassungsgerichtlicher 1399 Oliver Wendell Holmes jr., abweichende Meinung in: Lochner v. New York, 198 U. S. 45, 76 (1905). Hierzu Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 311. 1400 Coolidge v. New Hampshire, 403 U. S. 443, 474 (1971). Hierzu Paul Gewirtz, On „I Know it When I See It“, The Yale Law Journal, Vol. 105 (1996), S. 1023 (1043). 1401 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 231. 1402 Vgl. Walther Ecker zu den Quantifizierungen der Fachgerichte: „Determinierungen der erörterten Art sind nicht aus dem Tatbestand des Gesetzes herauszuholen. Sie fallen aus dem Rahmen richterlichen Rechtsfindens heraus, weil ihnen  – dem Ermessen gleich  – ein hoher Grad subjektiven Fürrichtighaltens eigen ist.“ Ders., Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (405). 1403 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. 1. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1404 A. A. Benjamin Lahusen u. Moritz Renner, nach denen die Gerichtsentscheidung paradox, nicht aber dezisionistisch ist. Sie differenzieren freilich nicht danach, auf welcher normativen Grundlage eine Entscheidung getroffen wird, wie konkret sie ausfällt und welches Gericht sie, in welchem Verfahren trifft. Dies., Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (74, 79). 1405 Siehe die Ausführungen unter A. V. im 1. Kapitel des zweiten Teils. Zitat Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 48. 1406 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 107. 1407 Siehe die Ausführungen unter A. III. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1408 Heinrich Honsell mit Bezug auf BVerfGE 121, 317 (Rauchverbot in Gaststätten); 35, 79 (Hochschul-Urteil); 93, 121 (Halbteilungsgrundsatz) u. BVerfG, Beschluss v. 13. Februar 2008 – 2 BvL 1/06 – (Sonderausgabenabzug Kranken- und Pflegeversicherung). Ders., Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (1691, 1693 f.). Die methodische Analyse Fritz Haueisens betreffend die Quantifizierung einfachen Gesetzesrechts durch die Sozialgerichte lässt sich insoweit auf die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung übertragen. Ders., Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung“) unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973, S. 641 (644). Siehe auch Holger ­Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (ebd.). Die

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Quantifizierungen zugleich der Unentscheidbarkeit. Im Gegensatz zur sonstigen Rechtsprechung1409 wird die Unentscheidbarkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den Sondervoten teilweise sichtbar. Dies gilt auch für die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung.1410 1. Dezision innerhalb von Extremen In der Nahsicht der Quantifizierungsmethodik ergibt sich einerseits, dass das Bundesverfassungsgericht die unbestimmten normativen Vorgaben des Grundgesetzes rational nachvollziehbar nur sehr ungenau zu positiven und negativen numerischen Aussagen konkretisieren kann. Dies bestätigt andererseits: Die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen sind nicht beliebig. Im Wege der Auslegung des Grundgesetzes und rationaler Erwägungen kann sich das Gericht der Kennzeichnung bestimmter Zahlen als verfassungsgemäß bzw. -widrig zumindest annähern.1411 Dies erkennt auch Ernst-Wolfgang Böckenförde im Sondervotum zum Parteienfinanzierungsurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1986 (BVerfGE 73, 40) an, wenn er feststellt, dass die „steuerliche Abzugsfähigkeit bis zu einem Betrag von 100 000 DM für Zuwendungen an politische Parteien außerhalb jeder Rechtfertigungsmöglichkeit“ „liegt“.1412 Ein Prüfungsmaßstab kann ggf. rational so weit konkretisiert werden, dass gesagt werden kann: Eine Zahl x ist eindeutig verfassungsgemäß bzw. -widrig. Eine in diesem Sinne eindeutig(e) (fehlende) Verfassungskonformität liegt vor, wenn sie für jeden einsehbar ist. Der Bereich, in dem deduzier- bzw. rationalisierbare Aussagen getroffen werden können, betrifft die Extreme und ist damit für praktische Dezi­sion bei der ­bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung bedeutet eine weitere methodische Parallele zur Festlegung von Grenzwerten: „In den meisten Fällen [ist] eine Grenzwertsetzung durch einen reinen Erkenntnisakt von vornherein unmöglich, stattdessen [ist] […] eine wertende Entscheidung vonnöten […], die […] auf einem politischen Willen beruht.“ Gregor Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 35. 1409 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (75). 1410 Siehe etwa die Sondervoten zu den Bundesverfassungsgerichtsurteilen zur W-Besoldung (BVerfGE 130, 263 [313 ff.] – Sondervotum Gerhardt) und zur 5 %-Klausel im Europawahlrecht (BVerfGE 129, 300 [346 ff.] – Sondervotum Di Fabio/Mellinghoff). 1411 Die Beliebigkeit der Quantifizierungen suggeriert Uwe Volkmann zunächst, wenn er hinsichtlich der absoluten Grenze der Parteienfinanzierung konstatiert: „Ebenso wie das nunmehr gefundene Limit ließe sich auch ein beliebiges anderes rechtfertigen.“ Ders., Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (329). Dass auch die Festlegung von Zahlen an der Verfassung gemessen werden kann, gesteht er dann jedoch indirekt in Bezug auf die 100.000 DM-Grenze in BVerfGE 73, 40 ein: „Weil Spenden in dieser Größenordnung nur von einem kleinen Kreis von Spitzenverdienern aufgebracht werden können, lag die Festsetzung eines solchen Betrags für den Verfassungsrichter Böckenförde schlicht ‚außerhalb jeder Rechtfertigungsmöglichkeit‘; und namentlich sie hat dem Gericht seinerzeit – zu Recht – den Vorwurf des Dezisionismus eingetragen.“ (ebd., S. 332). 1412 BVerfGE 73, 40 (113, Kursivsetzung durch Verf.).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Streitfragen nicht relevant.1413 Es kann außerdem nicht eindeutig bestimmt werden, wo die Grenze zum rationalisierbaren Extrem verläuft. „Mit wissenschaftlicher Exaktheit“„lässt sich […] nicht […] beantworten“, welche Zahlen bzw. Bandbreiten an Zahlenbestimmungen verfassungsgemäß sind.1414 Wenn das Bundesverfassungsgericht gleichwohl numerische Aussagen trifft, die in ihrer Präzision die rationalisierbaren Extrembereiche hinter sich lassen, „würfelt“ es Zahlen innerhalb rational nachvollziehbarer, aber unbestimmt bleibender Grenzen „aus“.1415 Die Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung liegen dann „innerhalb einer Schwankungsbreite, in der sich andere Werte ebenso gut vertreten ließen“, d. h. das Gericht greift sie „aus einem Spektrum von Denkbarem heraus[…]“.1416 Das Sorites-Paradox verdeutlicht die Problematik, vage1417 Begriffe rational nachvollziehbar zu quantifizieren: Man stelle sich einen Sandhaufen vor. Entfernt man ein Sandkorn, bleibt es ein Haufen. Entfernt man ein weiteres, ebenfalls. Erst bei einem zurückbleibenden Korn liegt jedenfalls kein Sandhaufen mehr vor. Eine präzise, rational nachvollziehbare Grenzbestimmung, ab wie vielen Körnern ein Haufen (nicht mehr) vorliegt, ist nicht möglich.1418 Die Quantifizierungsproblematik tritt in allen Beispielsfällen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf: Wann ist der Finanzkraftausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG angemessen? In welcher Höhe fordern die in Art.  1 Abs.  1 GG garantierte Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  1 GG) eine Steuerverschonung bzw. staatliche Sozialleistungen?1419 Ab welcher Höhe ist die­ 1413

Siehe zur Verdeutlichung auch sogleich die Ausführungen zum Sorites-Paradox. Karl­ Larenz führt hinsichtlich der „Richtigkeit“ rechtlicher Regelungen (hierzu sogleich unter D. im 4. Kapitel des dritten Teils u. dort Fn. 1458), die er als Übereinstimmung mit bestimmten überpositiven Prinzipien definiert, aus: „Es gibt also […] häufig mehrere Lösungen, die alle ‚richtig‘ sind – welche von ihnen vorzuziehen ist, darüber kann man dann durchaus verschiedener Meinung sein –, und andere, die eindeutig unrichtig sind. Man darf sich hier nicht dadurch täuschen lassen, daß im Bereich des Erkennens eine bestimmte Aussage nur entweder richtig oder falsch sein kann. Hier geht es nicht um Aussagen, sondern um Regelungen, um Handlungsanweisungen, und da bestehen meistens nicht nur zwei, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten, von denen einige ‚richtig‘ sind – d. h. innerhalb der Grenze des Vertretbaren, noch zu Rechtfertigenden liegen –, andere nicht.“ Ders., Richtiges Recht, 1979, S. 21 f. 1414 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 164 f. (Zitat S. 164). Karl-Jürgen Bieback und Günther Stahlmann nehmen wegen der Vagheit der Art.  1, 2 GG eine „normative“ „Unüberprüfbarkeit“ der Sozialhilfeleistungen an. Es ließe sich hieraus „mit wissenschaftlichen Mitteln“ keine „genaue [Leistungs-]höhe“, auch keine „Untergrenze der Existenz“ ableiten. Dies., Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (3, Zitate ebd.). 1415 Zum Charakter der dezisionistischen als zufälliger, „gewürfelter“ Entscheidung die Ausführungen unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1416 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S. 401 (404). 1417 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1418 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34. 1419 Christoph Möllers wendet das Sorites-Paradox auf die Frage der verfassungsgemäßen Höhe der Hartz IV-Regelsätze (BVerfGE 125, 175) an: „Wenn 345 Euro monatlich nicht gegen die Menschenwürde verstoßen, dann auch nicht 344 Euro usw., warum aber dann 1 Euro?“ Ders., Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias­ Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (384, Fn. 44).

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Besoldung von Beamten mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) vereinbar? Inwieweit begrenzt die Staatsfreiheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG die staatliche Parteienfinanzierung? Wie hoch muss eine Sperrklausel sein, damit sie gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verstößt? 2. Veranschaulichung anhand von Beispielsfällen Dass die Quantifizierungen größtenteils und mehr als andere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf Dezision beruhen, kann anhand der analy­ sierten Beispielsfälle nachvollzogen werden. Die folgende Betrachtung stellt exemplarisch auf den steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz, das Ehegattensplitting und die zulässige Anzahl ausgleichsloser Überhangmandate ab, wobei etwaige Auswirkungen der Quantifizierungstypik auf die dezisionistischen Entscheidungsbestandteile erst im Zusammenhang der Diskussion um die Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen durch das quantifizierende Verfassungsgericht zu erörtern sein werden.1420 Die Dezision bei der Quantifizierung wird zuvörderst durch die Kritik am steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz, der numerischen Begrenzung der steuerlichen Höchstbelastung, einsehbar, auch wenn diese nach den vorangegangen methodischen Erwägungen von vornherein als unvollständig erscheinen muss. Sie setzt sich mit der scheiternden Begründbarkeit des Halbteilungsgrundsatzes im Wege der klassischen Auslegungscanones auseinander und stellt die Möglichkeit der Deduktion der hälftigen Teilung aus Art. 14 Abs. 2 GG in den Vordergrund. Im Gegensatz zu ihren Befürwortern gehen die Kritiker des Halbteilungsgrundsatzes nicht auf die Möglichkeit einer rationalen Argumentation außerhalb logischdeduktiver Auslegungswege ein.1421 Die massive Kritik wird bereits innerhalb des Zweiten Senats durch das Sondervotum Ernst-Wolfgang Böckenfördes eröffnet. Der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung im Beschluss vom 22.  Juni 1995 (BVerfGE 93, 121) liege eine Auslegung zu Grunde, die allein an den Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 GG anknüpfe, dessen mögliche Bedeutung aber überspanne. Auch der Begriff „zugleich“, auf den sich das Bundesverfassungsgericht unter anderem bezieht,1422 könne nicht im Sinne einer „hälftigen Teilung“ gedeutet werden.1423 1420

Siehe die Ausführungen unter A. I. im 6. Kapitel des dritten Teils. Zur Plausibilität des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes etwa Klaus Vogel, siehe die Fn. 1330, 1349, 1365 im dritten Teil. 1422 Der Anknüpfungspunkt für die Quantifizierung ist nach dem Vermögensteuerbeschluss weniger explizit als dies unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Vorarbeiten Paul Kirchhofs, gemeinhin angenommen wird. Siehe dazu die Ausführungen unter Fn. 985 im dritten Teil. 1423 Joachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (459): „Insofern scheint der positivistische Ansatz, an dem Wort ‚zugleich‘ eine Halbteilung aufhängen zu wollen, nicht sonderlich glücklich und tragfähig. Hier wird […] der deutsche Verfassungstext mit der Bedeutungsschwere der Abgabenbegrenzung überstrapaziert […].“ 1421

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Es werden Wörterbücher bemüht1424 und für „zugleich“ eine temporale („zur selben Zeit“) sowie eine vergleichende („ebenfalls“) Bedeutung angeführt. Die Verbindung der etymologischen Wurzel des Begriffs „gleich“ mit dem Präfix „zu“ weise eher auf eine temporale Bedeutung hin. „Zugleich“ in Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG zeige allein an, dass das Eigentum sowohl dem Individuum als auch der Allgemeinheit diene, ohne eine numerische Aufteilung zu treffen.1425 Zum Beleg, dass die verfassungsgerichtliche Quantifizierung sich nicht methodisch nachvollziehbar aus Art. 14 Abs. 2 GG herleiten lasse, werden dann weitere Auslegungscanones, nämlich die Entstehungsgeschichte, die Systematik sowie der Sinn und Zweck der Vorschrift, herangezogen.1426 Das Scheitern der methodischen Rekonstruktion decke auf, dass der Zweite Senat mit dem Halbteilungsgrundsatz „eigene durch die Verfassung nicht vorgegebene Angemessenheitserwägungen“ anstelle.1427 ­Böckenförde sieht ihn als Teil eines „steuerrechtstheoretische[n] und steuerpolitische[n] Konzepts, das [seine Grundlage in] […] einer in sich differenziert interpretierten Eigentumsidee“ finde, in der „Eigentumsgarantie des Art. 14 GG [aber] keine Grundlage“ 1424

So auch schon Paul Kirchhof bei dem Versuch, den Halbteilungsgrundsatz zu begründen. Siehe Fn. 985 im dritten Teil. 1425 Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 8 f. („So there is not much more to it than ‚at the one hand / at the other hand‘ without hinting at which hand is to get which share.“, S. 8), 15; Siehe auch Tina Beyer, die die Etymologie indes als Argument für den Halbteilungsgrundsatz akzeptiert: „Etymologisch lässt sich allerdings […] auch eine Verwendung des Worts ‚zugleich‘ im Sinne von ‚zu gleichen Teilen‘ nachweisen.“ Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 147 f. u. Fn. 918. 1426 Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S.  147 f., 152. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Kritik an der methodischen Begründung des Halbteilungsgrundsatzes durch Paul Kirchhof, hierzu Fn. 985 im dritten Teil. Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann diskutieren außerdem, ob nach Art. 14 Abs. 2 GG nicht eine Minimal- statt einer Maximalgrenze für die Besteuerung näher läge. Schließlich behandle die Norm die dem Eigentum obliegenden Verpflichtungen. Dies., Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 9. Der Umstand, dass der Halbteilungsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts in Art. 14 Abs. 2 GG keine (unmittelbare) Stütze findet, führt zu alternativen Begründungsversuchen. Es lässt sich jedoch weder der Wesensgehalt von Art. 14 GG noch ein etwaiger, für den staatlichen Steuer­ zugriff geltender verfassungsrechtlicher Subsidiaritätsgrundsatz (so Hermann Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, 1999, S. 77 ff.) und auch kein allgemeiner Vorrang individueller Freiheits- vor staatlichen Zugriffsrechten im Grundgesetz durch eine numerische Grenze abbilden. Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 15; Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 148 ff. 1427 BVerfGE 93, 121 (157) – Sondervotum Böckenförde. Joachim Wieland spricht von „hinter dem Beschluß stehenden Wertungen“. Ders., Der Vermögensteuerbeschluß – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (185).

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habe.1428 Beim Halbteilungsgrundsatz handele es sich nicht um eine (konkretisierte) verfassungsrechtliche Vorgabe. Das Bundesverfassungsgericht treffe eine dem Gesetzgeber obliegende „politische“ Entscheidung.1429 An anderer Stelle ist die Rede davon, die Festlegung der Grenze des Steuerzugriffs sei „willkürlich“.1430 Die Kritik zieht der hälftigen Teilung nicht die Deduktion eines anderen Zahlenverhältnisses vor, sondern wendet sich grundsätzlich gegen die unmittelbare Begründbarkeit einer von der konkreten Belastungssituation abstrahierenden Belastungsobergrenze auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 2 GG. Sofern man auf den exakten Zahlenwert abstellt, lässt sich entgegen dem ersten Anschein auch die hälftige Teilung als Bestandteil eines verfassungskonformen Konzepts der Ehegattenbesteuerung nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG ableiten bzw. innerhalb der verfassungsrechtlichen Spielräume rational begründen. Wenn man die Ehepartner und ihre Tätigkeiten als gleichwertig erachtet und Pauschalisierungen im Steuerrecht aus Vereinfachungsgründen zulässt, handelt es sich nicht um die einzige sachgerechte Quantifizierung. In den Reformmodellen wird über einen kleineren Divisor als Zwei bzw. die Kappung des der Ehefrau zurechenbaren Betrags (Tarif- bzw. Realsplitting) diskutiert.1431 Genauso bleibt die verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten letztlich nicht nachvollziehbar. Günter Bannas spricht die Quantifizierung zwar vom Vorwurf der Willkür frei, schließlich bildeten die 15 zulässigen Überhangmandate laut der verfassungsgerichtlichen stufenweisen Quantifizierung die Hälfte der für eine Fraktion erforderlichen Mandate.1432 Es bleibt indes nicht nachvollziehbar – dies gesteht selbst das Bundesverfassungsgericht ein – warum die verfassungsgemäße Anzahl an Überhangmandaten gerade bei der Hälfte der für eine Fraktion erforderlichen Mandate liegen muss.

1428

BVerfGE 93, 121 (154 f., Kursivsetzung durch Verf.). Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann sprechen von einem „political move“ des Bundesverfassungsgerichts. Dies., Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 1, 9 (Zitat ebd.). Neben der zumindest zweifelhaften verfassungsrechtlichen Grundlage wird vor allem die fehlende Veranlassung der Ausführungen zu Art. 14 GG (Anforderungen an die Vermögensbesteuerung) durch die Vorlagefrage (obiter dictum) als Grund für den politischen Charakter des Halbteilungsgrundsatzes genannt (ebd., insb. S.  9). Als „steuerpolitische  […] Aussage  […]“ kennzeichnet auch Joachim Wieland den Halbteilungsgrundsatz. Ders., Der Vermögensteuerbeschluß  – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (184 f., Zitat S. 179). 1430 Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fiftypercent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 16, 21. 1431 Ute Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 (1903). 1432 Günter Bannas, Die goldene Fünfzehn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2012, S. 3. 1429

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

3. Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung als tatsächliches Berechnungsproblem? In allen Fällen ist die Quantifizierung kein rein tatsächliches Berechnungsproblem. Dies gilt auch für die Ermittlung der verfassungsgemäßen (Mindest-) Höhe der Hartz IV-Regelsätze und der verfassungsrechtlich geforderten Mindestverschonung des Steuerpflichtigen. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG fordern nach der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts die staatliche Gewährleistung bzw. Verschonung des Existenzminimums. Zur Verfügung stehende Berechnungsmodelle wie das „Statistikmodell“1433 suggerieren, dass das verfassungsrechtliche Existenzminimum exakt ermittelt werden kann, solange nur auf Tatsachenebene keine Unklarheiten bestehen. Dessen Höhe hängt jedoch nicht nur von tatsächlichen Ermittlungen ab, sondern beruht auf Wertungen.1434 Sie betreffen die Wahl des Berechnungsmodells und bei der Ermittlung des Existenzminimums nach dem „Statistikmodell“1435 die Auswahl und Höhe der einzelnen Ausgabenposten.1436

D. „Wahre“ und/oder „richtige“ Zahlen? Das verfassungsgerichtliche Verfahren dient nicht der Aufdeckung der Wahrheit1437 und verfassungsgerichtliche Quantifizierungen können nicht „wahr“ sein. Die Wahrheit ist überhaupt kein geeignetes Prüfungskriterium für rechtliche Erkenntnisse, die wie jede Erkenntnis Konstruktion sind.1438 Dies gilt erst Recht für rechtliche als geisteswissenschaftliche Erkenntnisse, für die Wertungen zentral sind.1439 Das Fehlgehen des Wahrheitskriteriums wird angesichts des dezisionis 1433

BVerfGE 125, 175 (234). Karl-Jürgen Bieback u. Günther Stahlmann nehmen (vor der Hartz IV-Reform) Wertungen im „empirischen Maßstab“ für die Sozialhilfeleistungen an. Dies., Existenzminimum und Grundgesetz, Sozialer Fortschritt 1987, S. 1 (3, Zitat ebd.). 1435 BVerfGE 125, 175 (234). 1436 Dies verkennt Gregor Stricker, der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie hoch die (seiner Ansicht nach verfassungsrechtlich geforderte)  existenzsichernde, staatliche Finanzierung von Parteien ausfallen muss. Er gesteht ein, dass die Ermittlung „ein[es] konkrete[n] Betrag[s]“ „schwer“ falle. Es handele sich jedoch „mehr um ein betriebswirtschaftliches als ein juristisches Problem“. „Dem Gesetzgeber sei […] keine unmögliche Aufgabe gestellt, da er sich des notwendigen Sachverstandes bedienen [könne] […].“ Ders., Der Parteienfinanzierungsstaat, 1998, S. 139 f. (Zitate ebd.). 1437 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (76). 1438 Dies gilt unabhängig davon, ob auch die „Wirklichkeit“ als Erkenntnisgegenstand konstruiert, d. h. nicht vorgegeben ist (zur erkenntnistheoretischen Prämisse der Arbeit siehe Fn. 21 im ersten Teil). Es ist jedenfalls keine objektive, lückenlos verifizierbare Einsicht in die „Wirklichkeit“ möglich. Aussagen über die „Wirklichkeit“ können dann nur wahrscheinlich sein. Die strukturelle Korrespondenztheorie der Wahrheit verkennt, dass es kein Mehr oder Weniger an Wahrheit geben kann. A. A. Gerhard Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, 2006, S. 26 f. 1439 Siehe die Ausführungen unter A. I. und II. im 3. Kapitel des ersten Teils. 1434

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tischen Gehalts verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen, wenn die Erkenntnis durch die offene Festsetzung abgelöst wird, zur unhintergehbaren Einsicht.1440 Es stellt sich jedoch die Frage, ob die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen, die jenseits der rationalen Argumentation größtenteils auf Dezision beruhen, „richtig“ sein können. Die „Richtigkeit“ juristischer Entscheidungen darf dann nicht mit ihrer methodischen Rationalität gleichgesetzt werden.1441 Ein solches Begriffsverständnis verfolgt Konrad Hesse, der nicht von einer „absolute[n] Richtigkeit“, sondern angesichts deren begrenzter Rationalität von der „relativen Richtigkeit“ juristischer Entscheidungen im Verfassungsrecht spricht. Er grenzt die juristischen Entscheidungen explizit von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ab und versteht ihre Richtigkeit infolgedessen nicht als „solche einer exakten Beweisbarkeit“. Nach Hesse bedeutet Richtigkeit die Ableitbarkeit und Begründbarkeit der Entscheidungen im Verfassungsrecht.1442 Wenn sich das Kriterium der Richtigkeit jedoch nicht nur auf Teilaspekte beziehen und juristische Entscheidungen als Ganzes erfassen soll, muss sie neben der logischen Deduktion und rationalen Rechtsschöpfung auch deren Dezision be­rücksichtigen. Nach Carl Schmitt ist eine „richterliche Entscheidung […] richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.“1443 Die Einordnung einer Entscheidung als richtig stellt ein normatives Urteil dar („wenn anzunehmen ist“), ihr liegt kein empirischer Vergleich der richterlichen Tätigkeit zu Grunde.1444 Schmitt definiert die Richtigkeit im Hinblick auf die Gewährleistung von Rechtsbestimmtheit als „Voraussehbarkeit“1445 der richterlichen Entscheidung. Dies bedeutet mehr als eine „rechtsintern[e]“ Bestimmung des Richtigkeitskriteriums, nämlich die Bezogenheit der richterlichen Entscheidung auf sich selbst. Das Kriterium der richtigen Entscheidung dient der Beurteilung vorgefundener Urteile und steuert außerdem die Entscheidungsfindung. In der selbstbezogenen richterlichen Rechtsproduktion treffen sich die methodischen Anforderungen Schmitts mit der Luhmann’schen Vorstellung von der ­Autopoeisis 1440 Vgl. Christoph Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (24, 28 f.). Anders Ulfrid Neumann, der die Wahrheit mit der Richtigkeit juristischer Begründungen gleichsetzt. Ders., Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (79). 1441 So aber Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 121, 281. 1442 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 76 (Zitate ebd.). Wie Hesse spricht auch Anne Röthel von der „Richtigkeit“ von Konkretisierungen und unterscheidet in diesem Zusammenhang allein zwischen der Einhaltung der inhaltlichen Vorgaben der konkretisierten Norm und einer zusätzlichen argumentativen Begründung. Sie geht nicht explizit davon aus, dass auch Konkretisierungen, die auf Dezision beruhen, richtig sein können. Dies., Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 139 f. 1443 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 71. 1444 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 63, 78, 89. 1445 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 78.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

des Rechtssystems.1446  Benjamin Lahusen und Moritz Renner sprechen von der „operative[n] Geschlossenheit der Urteilspraxis“.1447 Der Entscheidungszwang nebst der Verpflichtung des Richters zur Begründung1448 stellt die Fortsetzung der Kommunikationen im Rechtssystem sicher.1449 Zugleich durchbricht das Richtigkeitskriterium die Systemtheorie und deren Ausdifferenzierung der Kommunikationssysteme. Die Richtigkeit bestimmt sich zwar rechtssystemintern, der Richter ist aber nicht auf die Anwendung der Programme des Rechtssystems, das positive Recht, beschränkt.1450 Er ist weder auf die Umsetzung des Gesetzes noch die Verwirklichung von Gerechtigkeit1451 verwiesen.1452 Die methodische Selbstbezogenheit ist im Gegenteil mit der Relevanz nicht explizit normativ verankerter und – dies ist entscheidend – rechtssystemexterner Kriterien für die richterliche Entscheidung vereinbar. Bei den bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen ist dann nicht jedwede rationale Ausfüllung der Wertungsspielräume methodengerecht, der Plausibilitätsmaßstab einschließlich seiner systemübergreifenden Gerechtigkeitsvorstellungen kann aber grundsätzlich methodengerecht sein. Schmitt verweist neben dem positiven Recht u. a. auf „‚transpositive[…]‘ […] Normen“ und die „moralischen Wertanschauungen der Zeit und des Volkes“. „Wenn ihre Macht hinreicht, um die Gewissheit zu schaffen, sie würden allgemein in diesem Falle wirksam sein, so vermögen sie die Richtigkeit der Entscheidung zu begründen.“1453 Für die richterliche Praxis ist nach Schmitt das gesetzgebe­ rische Entscheidungsprogramm nur mehr als eines unter mehreren möglichen inhaltsleitenden Kriterien relevant. Urteil und Gesetz sind also grundsätzlich voneinander unabhängig und dem „explizite[n] Recht“1454 kann seine Relevanz für die richterliche Urteilsfindung auch abgesprochen werden. Schmitt „stellt die Entscheidungspraxis der Justiz ausdrücklich als zweite, eigenständige und unverzichtbare Entstehungsstätte von Recht der Rechtsetzungspraxis des Gesetzgebers zur

1446 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (62 [Zitat ebd.], 66 ff.) mit Verweis auf Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 86: „Die Praxis rechtfertigt sich […] durch sich selber.“ Ebd., S. 62, Fn. 10. 1447 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (80). 1448 Benjamin Lahusen/Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (80 f.). 1449 Siehe die Ausführungen zum Rechtsverweigerungsverbot als archimedischem Punkt für die Verfassungskonformität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung unter B. im 6.  Kapitel des dritten Teils. Die Möglichkeit systeminterner Änderungen ist hierdurch nicht ausgeschlossen. Zur „Evolution des Rechts“ Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 239 ff. 1450 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 192. 1451 Zur theoretischen Verortung der Gerechtigkeit im Rechtssystem Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 214 ff. 1452 Reinhard Mehring, Carl Schmitt, 2009, S. 39 f. 1453 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 97. 1454 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (68).

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Seite“.1455 Petra Gehring begreift hieran anknüpfend das „Rechtssystem“ als „semantisches“ und „pragmatisches Ganzes“.1456 Mit dem Richtigkeitskriterium ist ein Maßstab für die Feinsteuerung der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungsmethodik gefunden. Das Verständnis Schmitts muss jedoch, um mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes vereinbar zu sein, relativiert werden. Wenn das Grundgesetz die Rechtsbindung der (Verfassungs-)Rechtsprechung festschreibt,1457 kann diese nicht eigenständig neben dem Gesetz stehen. Die richterliche Pragmatik muss sich der verfassungsrechtlich geforderten Rationalität als Herstellung von Ableitungs- und Begründungszusammenhängen unterordnen und ist daher nur innerhalb bestehender semantischer Schranken denkbar. Die formale, intersubjektive Vorstellung Schmitts von einem richtigen Recht wird durch die Einbeziehung des Legalitätsprinzips materialisiert.1458 Das modifizierte Richtigkeitskriterium entspricht bei der Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips, das eine rational und vorhersehbar agierende Judikative fordert.

E. Methodengerechtigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen? Es stellt sich die Frage, ob die Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts mit den Methodenanforderungen des Grundgesetzes vereinbar sind. Dies erscheint wegen ihres hohen Maßes verfassungsgerichtlicher Dezision zweifelhaft. Eine Antwort muss zwischen den beiden Schichten der Verfassungsgerichtsentscheidungen, d. h. zwischen den Entscheidungsbegründungen und der tatsächlichen Entscheidungsgenerierung, differenzieren. 1455 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (61 f., 66 ff., Zitat S. 61). 1456 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (68). 1457 Siehe die Ausführungen unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1458 Ohne diesen materiellen Bezugspunkt der richterlichen Entscheidung entbehrte die Vorstellung einer Quantifizierung in Bandbreiten (Anerkennung einer Bandbreite verfassungsgemäßer Quantifizierungen, Ausschluss von Extremlösungen als verfassungswidrig), die als Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen herausgearbeitet worden ist (unter A. II. 1. c) u. 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils) und auf die die Erörterung von Kompetenzkonflikten des quantifizierenden Verfassungsgerichts aufbaut (unter A. I. 1. im 6. Kapitel des dritten Teils), der Grundlage. Karl Larenz verfolgt demgegenüber ein materielles Richtigkeitsverständnis rechtlicher Entscheidungen, das über die soeben genannten Legalitätsanforderungen hinausgeht. Er anerkennt zwar eine gewisse (im Gegensatz zu Schmitt [hierzu sogleich im Text] nicht radikale) Arbitrarität rechtlicher Regelungen („Geht es um die Regelung eines ­bestimmten Lebensbereichs, so gibt es meistens nicht nur eine Regelungsmöglichkeit, die hier allein (relativ) richtig wäre […].“, S. 21), bezieht sie aber auf bzw. misst sie an formellen und materiellen, überpositiven „Prinzipien ‚richtigen‘ Rechts“ (S. 24). Ders., Richtiges Recht, 1979, S. 21 ff., siehe auch S. 29 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

I. Entscheidungsdarstellung: Pflicht zur Offenlegung von Dezision? Heinrich Honsell kritisiert die Darstellung der Quantifizierungen durch das Bundesverfassungsgericht: „Das intellektuell Problematische und politisch Fragwürdige […] ist die Behauptung eines kognitiven Aktes als der Erkenntnis aus einer objektiven, im Grundgesetz angelegten oder verankerten Wertordnung.“1459 Es sei „intellektuell nicht wirklich redlich […], Urteile als Erkenntnis aus der Verfassung auszugeben, die in Wahrheit bloß politische Dezision sind […]“.1460 Die Urteilsbegründung ist damit ein erster Ansatzpunkt für die Prüfung der Methodengerechtigkeit der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen. Hinsichtlich der Entscheidungsdarstellung1461 durch das Bundesverfassungsgericht muss zwischen tatsächlichen Zwängen und normativen Anforderungen unterschieden werden. 1. Tatsächliche Zwänge Wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ist die Urteilsbegründung Ansatzpunkt für den juristischen Diskurs. Hieraus ergeben sich tatsächliche Zwänge für die Entscheidungsdarstellung, die der (nachträglichen) Entscheidungskontrolle dient und Einfallstor einer mittelbaren Einflussnahme auf die Entscheidungsgenerierung ist.1462 Die Eingebundenheit der verfassungsrichterlichen Entscheidung in den juristischen Diskurs entfaltet Vorwirkungen und steuert die Methodenwahl des Bundesverfassungsgerichts.1463 Hiervon sind unmittelbare tatsächliche Zwänge hinsichtlich der Darstellung der Entscheidungsfindung zu unterscheiden. Das Bundesverfassungsgericht ringt um „Anschlussfähigkeit“ und Akzeptanz,1464 um überhaupt erst die Umsetzung seiner Entscheidungen zu ermöglichen. Die mangelnde, eigene Vollstreckungsgewalt (vgl. § 35 BVerfGG) begründet die Notwendigkeit der Orientierung der Entscheidungsdarstellung an den Rezipienten zur Sicherung einer funktionsfähigen staatlichen Kontrolle durch das­ 1459

Heinrich Honsell, Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (1697). Heinrich Honsell, Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (ebd., Kursivsetzung durch Verf.). 1461 Wenn im Folgenden von Begründung die Rede ist, ist eben diese Entscheidungsdarstellung gemeint. 1462 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 611. 1463 So Klaus Joachim Grigoleit, der allerdings bei der Methodenwahl nicht zwischen der Entscheidungsgenerierung und -darstellung, damit auch nicht zwischen einer mittelbaren und unmittelbaren Einflussnahme durch den juristischen Diskurs unterscheidet. Ders., Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S.  101 f. Für eine Autonomie des Bundesverfassungsgerichts bei der Methodenwahl dagegen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 157 (168 f.). Hierzu Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 101. 1464 Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 101 f. (Zitat S. 102). 1460

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Verfassungsgericht: „Verfassungsrecht [muß] sich selbst gewährleisten.“1465 Die tatsächlichen können somit nicht eindeutig von den normativen Anforderungen an die Entscheidungsbegründung unterschieden werden, denn die vorgenannte Einbindung der Gerichtsentscheidungen ist nicht nur tatsächlich erforderlich, sondern ergibt sich auch aus dem Demokratieprinzip und dient der Umsetzung der grundgesetzlich ausgeformten Gewaltenteilung. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob hieraus ein Zwang zur Offenlegung der Dezision bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung erwächst. Der „blinde Fleck“ bei der Darstellung der Quantifizierungen bedeutet zwar, dass eine Erörterung der Quantifizierungsmethodik nicht unmittelbar an die verfassungsgerichtliche Begründung anschließen kann, verhindert aber nicht überhaupt jeden juristischen Diskurs. Auch die Frage nach der Begründungsintensität der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen zur Sicherstellung von deren Akzeptanz durch die Entscheidungsunterworfenen kann nicht eindeutig beantwortet werden. Franz Reimer stellt umso höhere Anforderungen an die Begründungen des Bundesverfassungsgerichts, je weniger dessen Entscheidungen im Grundgesetz vorgezeichnet sind. Insbesondere bei Wertungen ergäben sich erhebliche verfassungsgerichtliche Rechtfertigungslasten.1466 Ihnen wird das Bundesverfassungsgericht in den vorliegend analysierten Quantifizierungsfällen jedenfalls nicht umfänglich gerecht. Es erscheint einerseits nicht ausgeschlossen, dass die Verschleierung der Dezision Argwohn hinsichtlich der tatsächlichen Entscheidungsstruktur weckt und das Vertrauen der Rechtsunterworfenen mehr noch als im Falle ihrer Offenlegung erschüttert. Andererseits wird durch die ausführliche Herleitung der ersten Konkretisierungsschritte zu qualitativen bzw. quantitativen Aussagen und die nachfolgende Apodiktik bei der Zahlenfestlegung die Aufmerksamkeit weg von den kritischen Stellen bei der Entscheidungsbegründung gelenkt. Indem das Bundesverfassungsgericht bei der Begründung seiner Quantifizierungen nicht mit den naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen an die Zahlengenerierung bricht, könnte die Akzeptanz der Entscheidungsunterworfenen gerade sichergestellt werden. 2. Normative Vorgaben Letztlich kann offen bleiben, ob sich das Bundesverfassungsgericht den tatsächlichen Zwängen bei der Entscheidungsdarstellung unterordnet. Ob Rechtfertigungsdefizite in der Entscheidungsdarstellung verfassungsrechtlich relevant sind, kann nur vor dem Hintergrund (verfassungs-)normativer Begründungsanforderungen an das Gericht beantwortet werden. Die Pflicht zur Begründung bundes 1465 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 14 Rn.  567 (Zitat ebd.); Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (303 ff.); Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 10. 1466 Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 145.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ergibt sich aus dem Rechtsstaats-1467 und Demokratieprinzip.1468 Sie ist außerdem einfachgesetzlich in § 30 Abs.  1 Satz 2 BVerfGG verankert.1469 Vom Bundesverfassungsgericht wird keine lückenlose Rationalisierung, aber, soweit die Begründung reicht, die Darlegung rationaler Argumente für die Entscheidung verlangt.1470 Insoweit überschneiden sich die Methodenanforderungen an die Herstellung und Darstellung (verfassungs-)gerichtlicher Urteile.1471 In der Begründung soll das Bundesverfassungsgericht in erster Linie zum Ausdruck bringen, inwieweit es seiner aus Art.  20 Abs.  3 GG resultierenden Verfassungsbindung1472 nachgekommen ist.1473 „Die Richter [müssen] andeuten können, daß ihre Entscheidung aus einer kodifizierten Rechtsnorm hergeleitet wurde.“1474 Allgemein ist die Rede davon, dass „das Ergebnis […] von den Entscheidungsgründen getragen werden [müsse], beide müss[t]en einander kongruent sein.“ Auch bei der Entscheidungsdarstellung bricht sich der Adressatenbezug Bahn,1475 wenn die Verstehbarkeit und Akzeptanz des Urteils gefordert wird.1476 Das Bundesverfassungsgericht muss „gute[…] Gründe für die Anerkennung“1477 1467

Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 611. Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (77). 1469 Zum Begründungserfordernis Gerd Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 22 (ebd.). 1470 Vgl. Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (77, Fn. 7 mit Verweis auf BVerfGE 34, 269 [287]). 1471 Siehe in diesem Zusammenhang Konrad Hesse (Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 51: „Aufgabe der Interpretation ist es, das verfassungsmäßig ‚richtige‘ Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu schaffen […].“) und Anne Röthel (Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 140), die die Anforderungen an die Entscheidungsfindung auch auf deren -begründung beziehen. Zur Rationalität der Entscheidungsherstellung siehe die Ausführungen unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1472 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1473 Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (337 f.). „Durch die Bezugnahme auf ein allgemeines Gesetz im Wege der Subsumtion, des juristischen Syllogismus, soll die Entscheidungsbegründung […] die Universalisierbarkeit der juristischen Entscheidung eines Einzelfalls sicherstellen. Zugleich verdeutlicht dies die Rolle des Richters […] im ‚arbeitsteiligen Sprechvorgang‘ der Rechtsbindung – ihm obliegt die Rechtskonkretisierung und -verdeutlichung gegenüber dem Bürger.“ Ebd., S. 338. 1474 Katharina Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik, Bd. 15, 1996, S. 115 (116 f., 131 f., Zitat S. 131). 1475 Siehe im Zusammenhang der Entscheidungsgenerierung die Ausführungen unter C. II. 3. a) im 4. Kapitel des dritten Teils. 1476 Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, S. 130 Rn. 311 (Zitat ebd.). 1477 Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (85). 1468

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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der Entscheidung darlegen. Die Begründung ist Ansatzpunkt für die Richtigkeit richterlicher Entscheidungen,1478 auch wenn sie sich nicht ausdrücklich am Vergleichsmaßstab des „anderen Richters“ orientiert.1479 Zugleich wird von ihr keine Stringenz im Sinne eines mathematischen Beweises erwartet.1480 In der Nicht­ berechenbarkeit eröffnet sich eine weitere Parallele zwischen Entscheidungsherstellung und -darstellung. Wenn Carl Schmitt verlangt, dass die Gründe von der Berechenbarkeit der richterlichen Entscheidungen zu überzeugen suchen, ist dies im Sinne ihrer Vorhersehbarkeit gemeint.1481 Das Bundesverfassungsgericht wird bei der Quantifizierung den Begründungsanforderungen gerecht, auch wenn es seine Wertungsentscheidungen nur in einigen Fällen ansatzweise problematisiert und die Dezision bei der Quantifizierung gar nicht offen legt. Nach dem Richtigkeitskriterium lässt sich mit Urteilen umgehen, die – wie die Festlegung von Zahlen – inhaltlich letztlich nicht begründbar sind. Sie sind an Präjudizien und allgemeiner der Herausbildung einer bestimmten Praxis in der Rechtsprechung zu messen.1482 Bei der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung greifen auch diese Direktiven nicht, denn die gefestigte Rechtsprechungspraxis betrifft im Maßstabsteil allein nichtnumerische Ausführungen. „Ist aber noch keine ‚Praxis‘ herausgebildet, so gibt es – bei dem Typus eines unter Indifferenz des Inhalts nur entscheidenden Urteils – überhaupt keine unrichtige Entscheidung.“1483 Die Quantifizierungen sind daher, sofern sie nicht gegen den verfassungsrechtlich aufgezeigten Rahmen verstoßen oder unplausibel sind, 1478

Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 82 ff.; Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (79, 85 ff.). 1479 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (71). 1480 Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (85 ff.). 1481 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 82 ff. 1482 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S.  107 ff. Schmitt veranschaulicht die­ Relevanz der Rechtsprechungspraxis bei der Strafzumessung als fachgerichtlicher Quantifizierung: „Bei jeder Strafzumessung sprechen viele heterogene Erwägungen mit, und auch einzeln, für sich allein, wären sie nicht fähig, den Tag der Gefängnisstrafe auf den Tag genau zu bestimmen.“ Ebd., S. 109. Präjudizien sind grundsätzlich auch für die „Richtigkeit“ bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen relevant. Obschon keine Bindungswirkung des Gerichts an frühere Entscheidungen nach § 31 Abs.  1 BVerfGG besteht (Andreas Heusch, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger [Hrsg.], Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 31 Rn. 66, siehe auch Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 572), zeigt es in den analysierten Entscheidungen – wie anhand der Verweise und Verfestigungen im Maßstabsteil der Entscheidungen deutlich wird – weitgehende Konstanz. Die faktische Orientierung an vorangegangenen Entscheidungen reicht aus, um als Kriterium für die „Richtigkeit“ eines Urteils im Sinne Schmitts herangezogen zu werden. Zur Relevanz von Präjudizien im juristischen Diskurs siehe die Ausführungen unter C. II. 3. a) aa) im 4. Kapitel des dritten Teils und Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 498, 504 ff. 1483 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 110. Schmitt räumt ebd. ein, „daß in der Praxis diese Fälle in typischer Reinheit nicht vorkommen, weil es sich um Abstraktionen­ handelt […].“

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

aus methodischer Sicht immer richtig. Aus den Anforderungen an die Darstellung folgt nicht die Notwendigkeit eines umfassenden Einblicks in die tatsächliche Zahlenfindung durch das Bundesverfassungsgericht.1484 Im Gegenteil: Wenn in der Begründung in erster Linie die Realisierung der Verfassungsbindung dargelegt werden und die Entscheidung des Gerichts „nicht als Zufallsergebnis“ erscheinen soll,1485 darf es die Dezision bei der Quantifizierung nicht explizit machen.1486 Die sprachtheoretische Einsicht, dass sich Bedeutung über den Gebrauch konstituiert und über die numerische Bedeutung eines unbestimmten Rechtsbegriffs allein deren faktische Anerkennung entscheidet, muss von der Rechtsordnung negiert werden. Sie ist normative Ordnung, innerhalb derer eine bestimmte numerische Lösung auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Vorgaben mit Geltungsanspruch durchgesetzt werden soll.1487 Die Dezision kann außerdem – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt explizit gemacht werden. Sie ist sprachlich kaum fassbar, d. h. sie kann weder präzise eingegrenzt noch überhaupt nachvollzogen werden: „Am Nerv der Entscheidung ist die Sprache stumm. Das rechtlich Wesentliche der Dezision erscheint unsagbar.“1488 Die verfassungsgemäß begründete ist immer und notwendigerweise eine idealisierte Entscheidung. Die Begründung ist dann Teil ihrer Inszenierung,1489 die die tatsächliche Generierung verdeckt bzw. an die Stelle der unentscheidbaren Entscheidung tritt.1490 „Eine Entscheidung ist nach all dem ein Paradox, das sich selbst nicht thematisieren, sondern allenfalls mystifizieren kann. Autorität, Dekoration, Begrenzung des Zugangs zum Geheimnis, Texte, auf die man sich beziehen kann, Auftritt und Abtritt des Gerichts – all das tritt an den Platz, an dem verhindert werden muß, daß das Paradox der Entscheidung als 1484 Vgl. Ulfrid Neumann, Wahrheit statt Autorität, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 75 (87); Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (338). 1485 Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, S. 130 Rn. 311 (Zitat ebd.). 1486 Die Ausführungen Paul Gewirtzs können hingegen als Argument für die Offenlegung der Dezision bei der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung gelesen werden. Demnach dient die richterliche Begründung auch der Überzeugung der Verfahrensbeteiligten („court’s audience“). Gewähre das Gericht einen aufrichtigen Einblick in die tatsächliche Entscheidungsfindung, könne dies zur Überzeugungskraft des Urteils beitragen. Ders., On „I Know it When I See It“, The Yale Law Journal, Vol. 105 (1996), S. 1023 (1038 ff., Zitat S. 1039). 1487 Vgl. Ulfrid Neumann, Thesenpapier zum Vortrag „Sprache und juristische Argumentation“ im Rahmen der Konferenz „Sprache – Recht – Gesellschaft“ der Akademie der Wissenschaften in Hamburg (14.–16. Juli 2011), S. 3. Siehe auch die Ausführungen unter B. I. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1488 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (67). 1489 Siehe hierzu auch Cornelia Vismann, Bloß kein Theater! … Im Gericht, Paragrana 2006, Bd. 15/Heft 1, S. 189 ff. 1490 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (67, siehe auch Fn. 34 und den Verweis auf Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 69, 82). Cornelia Vismann u. Thomas Weitin unterscheiden die Unsichtbarkeit der Entscheidung von der Sichtbarkeit des Entscheidungsdatums. Dies., in: dies. (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, Einleitung, S. 9.

4. Kap.: Quantifizierungsmethodik

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Paradox erscheint […].“1491 Die subjektiv „gegriffene“,1492 allenfalls begrenzt rational begründbare Zahl erscheint als objektives Resultat des Quantifizierungsprozesses. Es liegt hierin eine Parallele zwischen der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung und dem Messen tatsächlicher Phänomene der „Rechtswirklichkeit“. Obschon Messungen naturwissenschaftlicher Rationalität unterliegen, spielen immer auch Wertungen des Messenden eine Rolle.1493 Wenn das Messergebnis gleichwohl „am Ende als Faktum eingestuft wird, ist [dies] […] Ergebnis eines Reifikationsprozesses, bei dem es primär darum geht, Vertrauen in die Messverfahren zu gewinnen, und in dessen Verlauf ‚subjektiver Sinn zu objektiver Faktizität‘ wird […].“1494 Die von Honsell geforderte intellektuelle Redlichkeit1495 ist keine verfassungsrechtlich relevante Kategorie.

II. Entscheidungsherstellung: Verfassungsgerechtes Maß an Dezision? Wenngleich das Bundesverfassungsgericht die den Quantifizierungen zu Grunde liegende Dezision nicht offenlegen muss, akzeptiert das Grundgesetz nicht jegliche Entscheidungsgenerierung. Die Quantifizierungen können ihrer Begründung nach richtig sein und dennoch verfassungsrechtliche Grenzen missachten. Es kann insoweit zwischen einem absolut und relational zulässigen Maß verfassungsgerichtlicher Dezision unterschieden werden. Die pauschale methodische Kritik Honsells, der dem Bundesverfassungsgericht den aus der Abstraktheit des Grundgesetzes resultierenden, dezisionistischen Gehalt seiner zu Detailreichtum neigenden Rechtsprechung und damit auch seiner Quantifizierungen vorwirft, geht damit in jedem Falle fehl.1496 Relativ, im Verhältnis von Rationalität und Irrationalität, verlangt das Rechtsstaatsprinzip vom Bundesverfassungsgericht eine so weit als mögliche Rationalisierung der Entscheidungsfindung.1497 Die Dezisionen des Gerichts sind nur insoweit verfassungsgemäß als sie unumgänglich sind. Ob das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis so weit als möglicher Rationalisierung und unumgänglicher Dezision einhält, kann jedoch nicht überprüft werden. Die tatsächliche Entscheidungs 1491

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 309 f. Siehe Fn. 24 im dritten Teil. 1493 Zur Methodik des Messens bzw. der Quantifizierung im engeren Sinne siehe die Ausführungen unter B. II. 2. im 2. Kapitel des ersten Teils. 1494 Bettina Heintz, Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk, 2007, S. 65 (77). Dort Verweis auf Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 23. Aufl. 2010, S. 20. 1495 Heinrich Honsell, Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (ebd.). 1496 Heinrich Honsell, Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 ff. („Primär geht es um die Kritik einer fehlerhaften Methode der Rechtsgewinnung.“, S. 1697). 1497 Siehe bereits die Ausführungen unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1492

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

generierung ist nicht einsehbar und die Nichteinsehbarkeit rechtlich durch das Beratungsgeheimnis in § 30 Abs. 1 BVerfGG und § 43 Deutsches Richtergesetz (DRiG) abgesichert. Eine Prüfung der Quantifizierungsmethodik auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz ist nur möglich, wenn hierzu die rationalen und irrationalen Entscheidungsbestandteile nicht ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Bei der Überprüfung der tatsächlichen Entscheidungsgenerierung auf ein absolut zulässiges Maß verfassungsgerichtlicher Dezision muss berücksichtigt werden, dass in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes über die verfassungsgemäße Methodik verfassungsgerichtlicher Judikate im Allgemeinen und der Quantifizierungen im Besonderen nicht isoliert und allein anhand ihrer Vorhersehbarkeit entschieden werden kann. Sie ist immer auch eine Frage der Gewaltenteilung, die dem Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungskompetenzen in Abgrenzung zu den anderen Gewalten zugesteht. Bei der Überprüfung von Quantifizierungen auf die Verfassungsgerechtigkeit ihrer Methodik und die Wahrung des verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges wird die Quantifizierungstypik1498 relevant. Sie hat Auswirkungen darauf, in welchen Fällen ein hohes Maß verfassungsgerichtlicher Dezision besonders wahrscheinlich ist. Ob die Quantifizierungen die methodischen und kompetenziellen verfassungsrechtlichen Vorgaben einhalten, hängt letztlich von der Reichweite des Entscheidungszwangs des Bundesverfassungsgerichts ab und wird abschließend unter dem Stichwort der „Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen“ zu erörtern sein.1499 Der Dezisionismusvorwurf Honsells entfaltet dort unter Umständen als Kompetenzkritik verfassungsrechtliche Relevanz. 5. Kapitel

Verfassungsgerichtliche Quantifizierung im Widerstreit bundesverfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Kompetenzen Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung wirft als weitestmögliche Konkretisierung die Frage nach der Abgrenzung zwischen verfassungsgerichtlicher Kontrolle und einfachgesetzlicher Gestaltungskompetenz auf.1500 Es steht 1498

Siehe die herausgearbeitete Typik der Quantifizierungen bei der Nachzeichnung von Mustern in der Verfassungsrechtsprechung unter A. II. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1499 Hierzu unter C. im 6. Kapitel des dritten Teils. 1500 Dass Quantifizierungen Zündstoff für den Kompetenzkonflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber bieten, zeigt sich „in den 1990er Jahren“, als „der Gesetzgeber vom BVerfG [„beispielsweise im Steuerrecht“] teils detaillierten Regelungsvorgaben und -restriktionen unterworfen“ wird und sich daraufhin „die Frage der Grenzziehung zwischen Gesetzgebung und BVerfG neu belebt“. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 503.

5. Kap.: Verfassungsgerichtliche Quantifizierung

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neben der Erfüllung der Methodenanforderungen des Grundgesetzes1501 die Kompetenz des Gerichts zur Quantifizierung in Frage. Der Kompetenzkonflikt ist methodisch begründet, denn Quantifizierungen fallen in einen verfassungsrechtlichen Entscheidungsspielraum und lassen sich verfassungsrechtlich nicht bzw. nur annäherungsweise rationalisieren. Wenn die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen letztlich auf Dezisionen des Gerichts beruhen,1502 bedeutet dies einen „politischen Charakter“ der Zahlen.1503 „Es kommt [dann] […] darauf an, wer entscheidet. […] In dem Gegensatz von Subjekt und Inhalt der Entscheidung und in der Eigenbedeutung des Subjekts liegt das Problem der juristischen Form.“1504 Die verfassungsgerichtlichen sind für den Gesetzgeber im Rahmen des § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) „letztverbindlich[e]“1505 Quantifizierungen der Verfassung, könnten aber nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes dem politischen Willensbildungsprozess des Parlaments überantwortet sein.1506

A. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im grundgesetzlichen System der Gewaltenteilung Das Grundgesetz statuiert in Art.  20 Abs.  2 Satz 2 Halbsatz  2 GG eine Aufteilung der Staatsgewalt auf „Gesetzgebung“, „vollziehende[…] Gewalt“ und „Rechtsprechung“. Jenseits der Aufzählung von Kompetenztiteln zur Abgrenzung der Regelungskompetenzen des Bundes- und Landesgesetzgebers (siehe Art. 70 GG ff.) und der Zuweisung bestimmter Verfahren zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht (v. a. Art. 93 GG) sind im Verhältnis von Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Legislative abstrakte Kriterien für die Kompetenzabgrenzung nicht unmittelbar einsehbar. Das Bundesverfassungsgericht verfügt für die Verfahren, die den Beispielsfällen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierung zu Grunde liegen, zwar über Entscheidungskompetenzen, deren Reichweite bleibt jedoch problematisch.1507

1501

Siehe die Ausführungen unter E. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. Siehe die Ausführungen unter C. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1503 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 164 f. (Zitat S. 165). Dies wird besonders in der Diskussion um den steuerrechtlichen Halbteilungsgrundsatz deutlich, dessen dezisionistischer Gehalt in der Kritik zum Kompetenzargument umgemünzt wird. Wiederholt findet sich die Aussage, die numerische Grenze der Belastung sei eine „steuerpolitische[…]“ Entscheidung und daher Aufgabe des Gesetzgebers. Siehe Heinrich Honsell, Wächter oder Herrscher, ZIP 2009, S. 1689 (1694, Zitat ebd.). Siehe auch die Ausführungen unter C. III. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1504 Carl Schmitt, Politische Theologie, 5. Aufl. 1990, S. 46 (Zitat ebd.); Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (64 f.). 1505 Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (12). 1506 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 164 f. 1507 Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 496. 1502

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

I. Kompetenzzuweisung nach der Entscheidungsrationalität Eine erste Abgrenzung der Kompetenzen von Bundesverfassungsgericht und Parlament kann vorgenommen werden, indem auf die Typik ihrer Entscheidungsfindungsmechanismen, d. h. die unterschiedlichen Rationalitäten rechtlicher Entscheidungen, abgestellt wird.1508 Aufgaben könnten dann in einem zweiten Schritt jeweils dem Organ zugewiesen werden, welches funktional am besten in der Lage ist, sie zu erfüllen.1509 Entgegen der strikt scheinenden Scheidung der Gewalten in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 GG können die Entscheidungsrationalitäten von Judikative und Legislative, erst Recht im Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, jedoch von vornherein nicht scharf getrennt werden und demnach die Kompetenzen nicht eindeutig als rein rechtliche und politische Entscheidungen verteilt werden.1510 Eine pauschale Zuordnung dergestalt, dass Gerichte Recht anwenden und die Politik Recht setzt, ist nicht möglich. Rechtsprechung ist – wie in den Ausführungen zur (verfassungs-)gerichtlichen Methodik bereits gezeigt wurde1511 – immer auch Gestaltung und Politik rechtlich gebunden.1512 Die spezifische Entscheidungsrationalität der Rechtsprechung gründet auf ihrer Verfassungs- und Gesetzesbindung (Art.  20 Abs.  3 GG).1513 Das von Robert Alexy formulierte „Primat“ einer „methodologischen“ Argumentation für die Kompetenzabgrenzung knüpft hieran an: „Immer dann, wenn [eine Entscheidung] 1508

Philipp Dann argumentiert bei der Abgrenzung parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Kompetenzen explizit mit divergierenden Entscheidungsrationalitäten: „Das Regierungssystem des Grundgesetzes setzt auf eine andere Art der Rationalitätsgewähr bei der Begründung von Recht als bei der Kontrolle von Recht.“ und „[Die] parlamentarische Gesetzgebung [hat] eigene Formen der Rationalisierung […].“ Ders., Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (644 f.). Die sog. funktionell-rechtliche Lösung, im Rahmen derer das Bundesverfassungsgericht auf seine Rechtsprechungsaufgabe verwiesen wird und für dessen Kontrollintensität zugleich die jeweils maßstäbliche Verfassungsnorm entscheidend ist, verbindet andere, einseitigere Ansätze bei der Kompetenzabgrenzung. Sie stellen entweder staatsorganisationsrechtlich auf den Gewaltenteilungsgrundsatz oder allein auf die maßstäblichen Verfassungsvorschriften ab. Im Wege der Auslegung sollen dann Gestaltungsspielräume des parlamentarischen Gesetzge­ bers und korrespondierende Überprüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts ausge­ macht werden. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 506 ff. Zu den verschiedenen Ansätzen auch Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 18, 35. 1509 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 91 ff. 1510 Walther Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb. 1970, S.  401 (ebd.): „Die klare Auftrennung der Gewalten ist eine Illusion“. 1511 Siehe die Ausführungen unter B. II. und IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1512 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 317 ff. 1513 Der Darstellung dieser Bindung dient die Begründungspflicht des Verfassungsgerichts (siehe hierzu die Ausführungen unter E. I. 2. im 4. Kapitel des dritten Teils). Christian ­Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (337 f.).

5. Kap.: Verfassungsgerichtliche Quantifizierung

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mit hinreichender Sicherheit [normativ] begründet werden kann, [müssen] […] die gegen eine Kontrollkompetenz des Gerichts sprechenden Gründe zurücktreten […].“1514 Gerichte, hierzu gehört auch das Bundesverfassungsgericht, entscheiden anhand der ihnen vorgegebenen rechtlichen Maßstäbe nur auf Antrag und über einen konkreten Rechtsstreit in einem durch das Prozessrecht geformten Verfahren.1515 Die Vorstellung einer trennscharfen Abgrenzung der judikativen Entscheidungsrationalität geht jedoch fehl. Der politische Charakter der Rechtsprechung zeigt sich darin, dass Richter keine „reine[n] Subsumtionsautomat[en]“, sondern „schöpferische[…] Mitgestalter am Recht“ sind.1516 Neben rationalisierbaren Wertungen ist die Dezision Strukturmerkmal richterlicher Entscheidung. Dies gilt angesichts der Unbestimmtheit des Grundgesetzes als Maßstab insbesondere für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht vollzieht mehr noch eine Kopplungsleistung zwischen Recht und Politik, wenn es über Auseinandersetzungen zwischen politischen Akteuren und Fragen mit politischem Bezug anhand des Grundgesetzes entscheidet.1517 Sie führt zu einer weitergehenden, Legitimationsprobleme verursachenden Politisierung und damit „Hybri­disierung“ des Gerichts. Betroffen sind seine Stellung, sein Verfahren, die Begründung und Folgen seiner Entscheidungen.1518 Der parlamentarische Gesetzgeber ist ebenfalls an die Verfassung gebunden. In den Grenzen der Verfassungsvorgaben ist für ihn jedoch die politische Gestaltung charakteristisch. Im Gegensatz zur Entscheidungsrationalität der (Verfassungs-)

1514 „Die Kontrollkompetenz des Gerichts hängt […] wesentlich von der Sicherheit ab, mit der die Existenz einer [verfassungs]rechtlichen Position begründet werden kann.“ Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S.  497 f. (Zitate ebd.). In diesem Sinne auch Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (644). Im Vergleich zur vorliegend vertretenen Methodenposition kommen dem Bundesverfassungsgericht nach dem methodologischen Kriterium mehr Kompetenzen und eine weitergehende Kontrollintensität zu, wenn im Sinne der Theorie der juristischen Argumentation Robert Alexys ungeachtet unterschiedlicher denkbarer Ergebnisse die Möglichkeit einer vollständigen Rationalisierung des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses angenommen wird (siehe die Ausführungen in Fn. 1213 unter B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils). Allerdings erkennt auch Robert Alexy wegen der „Ergebnisunsicherheit des [verfassungs]rechtlichen Diskurses“ die „Notwendigkeit autoritativen grundrechtlichen Entscheidens“ an. Die Relevanz materieller und funktionaler Abgrenzungskriterien bleibt bei ihm letztlich unklar. Ders., Theorie der Grundrechte, 1994, S. 500 f., 521 (Zitate ebd.). 1515 Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 248 f.; Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (313). 1516 Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, AöR 82 (1957), S. 163 (169). 1517 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 14 Rn. 563 ff. 1518 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (309 ff., Zitat S. 320). Zur Diskussion einer Politisierung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch die Bestimmung der Verfassungsrichter im Wege politischer Rationalität ebd., S. 314 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Judikative ist Gesetzgebung genuin „kein Erkenntnisakt“,1519 sondern „Konstruktionsprozess“,1520 d. h. „keine Subsumtion, sondern geradezu die Umkehrung der Subsumtion, eine gedankliche Antizipation von Lebenssachverhalten, ein präskriptiver Erzeugungsprozess […]“.1521 Während die Rechtsprechung vergangenheitsorientiert Konfliktfälle beurteilt, trifft der Gesetzgeber zukunftsgerichtet Entscheidungen.1522 Dabei gehört insbesondere auch die Irrationalität (Dezision) zur politischen Entscheidungsrationalität.

II. Verfassung als Rahmenordnung Die funktionale Abgrenzung bundesverfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Kompetenzen nach deren idealtypischen Entscheidungsrationalitäten entspricht der Verfassung als einer Rahmenordnung.1523 Stefan Korioth ist zwar zuzustimmen, dass „aus dem Verständnis der unbestimmten Verfassungsbegriffe […] als Rahmenbegriffe“ noch nicht automatisch eine „abschließende Auskunft darüber [folgt], welches Staatsorgan in zweifelhaften Fällen entscheidet.“1524 Die Ausgestaltung des Grundgesetzes als Rahmenordnung bedeutet jedoch mehr als ihre Konkretisierungsbedürftigkeit, sei es durch den Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht, zur Lösung verfassungsrechtlicher Streitfragen.1525 Es ist hiermit eine kompetenzielle Aussage verknüpft. Die Verfassung gibt – entgegen

1519 Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto ­Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (333). 1520 Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (160, Zitat ebd.); Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (333). 1521 Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S.  325 (330 ff., Zitat S. 330 f.). 1522 Paul Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 99 Rn. 45; Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 90 ff.; ders., Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (310). 1523 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation  – Bestandsaufnahme und Kritik, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 53 (86); ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S.  157 (168). Zur Verfassung als Rahmenordnung auch Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (17). 1524 Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 77 f. 1525 Das Verständnis der Verfassung als konkretisierungsbedürftiger Ordnung hat maßgeblich Konrad Hesse geprägt, siehe hierzu bereits die Ausführungen unter A. im 1. Kapitel des dritten Teils. Er nimmt jedoch allein die Konkretisierung der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht näher in den Blick. Ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 2 Rn. 60 ff., § 14 Rn. 502 ff., 562, 564 ff. Dadurch droht die Sicht

5. Kap.: Verfassungsgerichtliche Quantifizierung

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einem Optimierungskonzept1526  –, auch in ihrer Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht der politischen Gestaltung durch das Parlament Spielraum. Wenn das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtliche Streitfragen entscheidet, muss es zugleich den verfassungsrechtlichen Rahmen offen halten. Es kann die von ihm geforderte Nachzeichnung der Verfassung als Rahmen bewerkstelligen, indem es dem politischen Prozess „nur äußere Grenzen setzt“ und die Regelung von Detailfragen dem Gesetzgeber überlässt.1527 Die vorrangige Kompetenz des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Leitlinien kann im Grundgesetz auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, den­ allgemeinen Gesetzesvorbehalt sowie das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip gestützt werden.1528 Diese Vorstellung einer Rahmenordnung findet in der Rechtsprechung Widerhall, wenn das Bundesverfassungsgericht die Reichweite von verfassungsgerichtlicher Kontrolle und einfachgesetzlicher Entscheidungsfreiheit reflektiert. Dies gilt auch für die zur Analyse der verfassungsgerichtlichen Quantifizierung herangezogenen Entscheidungen und insbesondere die Rechtsprechung zum­ Finanzausgleich.1529 Im zweiten Urteil zum Finanzausgleich vom 24. Juni 1986 (BVerfGE 72, 330) nimmt das Bundesverfassungsgericht angesichts des unbestimmten verfassungsrechtlichen Maßstabs seine Prüfungsintensität explizit zurück: „Die normativen Festlegungen der Finanzverfassung […] verwenden […] unbestimmte Begriffe und schaffen damit Beurteilungs- oder auch Entscheidungsspielräume, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen […]. Diese Eigenart und besondere Struktur der Finanzverfassung ist bei ihrer Auslegung und Anwendung zu berücksichtigen. Innerhalb dieses Rahmens vermag der politische Prozess sich nach seinen eigenen Regeln und Bedingungen zu entfalten, der Rahmen selbst stellt indessen eine Grenze dar, die der Gesetzgeber nicht überschreiten darf […].“1530

auf den Gesetzgeber, der neben dem Bundesverfassungsgericht an der Konkretisierung der Verfassung teilhat, und die Problematik der Kompetenzabgrenzung verstellt zu werden. Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (506 f.). 1526 In Bezug auf die Grundrechte Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S.  75 ff. Hierzu Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 673 f. Zu den gegensätzlichen Konzepten auch Heinrich A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, 2000, S. 162 ff. 1527 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (506 f.); Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (332, Zitat ebd.). 1528 Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 (129). 1529 Siehe hierzu auch Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 76 ff. 1530 BVerfGE 72, 330 (390, Kursivsetzung durch Verf.). Siehe hierzu Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 177.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Das Gericht knüpft an die erste Finanzausgleichsentscheidung von 1952 (BVerfGE 1, 117) an, nach der „die Frage, bis zu welchem Intensitätsgrad […] der horizontale Finanzausgleich vorgetrieben werden kann, […] eine finanzpolitische und keine verfassungsrechtliche [ist und] […] sich der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht“ entzieht. Ein Gestaltungsspielraum besteht auch demnach nur in den durch die Verfassung „abgesteckten Grenzen“,1531 d. h. die unbestimmten Finanzausgleichsnormen stellen einen „verbindlich[en]“ „Rahmen[…]“1532 für den Gesetzgeber auf. Sie sind Ansatzpunkt für die Interpretation und entgegen derer, die der Finanzverfassung Justiziabilität absprechen, keine „Leerformeln“, die sich der Definition entziehen.1533 Die verfassungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich auf die Einhaltung dieses Rahmens.1534 Dieses bundesverfassungsgerichtliche Verständnis eines weiten Verfassungsmaßstabs und der eigenen, zurückgenommenen Prüfungsintensität findet im Zusammenhang von Quantifizierungsfragen darüber hinaus 2006 bei der Verwerfung des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes (BVerfGE 115, 97) Niederschlag. Das Gericht begreift die bipolare Struktur des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG als „Rahmen der Abwägung“1535 für eine verfassungsgemäße Steuerbelastung und nimmt von seinem Beschluss am 22. Juni 1995 (BVerfGE 93, 121) Abstand, in der die verfassungsnormativen Vorgaben zur numerischen Grenze konkretisiert werden.1536 Wenn das Bundesverfassungsgericht seine Vorstellung vom Verfassungsrahmen an die Unbestimmtheit der jeweils streitentscheidenden Normen knüpft, klingt zugleich die von Philipp Heck und Georg Jellinek nachgezeichneten Struktur der (Verfassungs-)Rechtsbegriffe an.1537 Die Einordnung der Verfassungsmaßstäbe als Rahmen bedeutet, dass das Gericht sich an der Nachzeichnung der Begriffskerne ori 1531 BVerfGE 1, 117 (134, Zitate ebd.). Dies wird in der Folgezeit häufig übersehen. Siehe etwa Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a Rn. 33. Gegen die Kontinuität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 620: „Art. 106 IV GG (1949) ermächtigte den Bundesgesetzgeber, verpflichtete ihn aber nicht, einen horizontalen Ausgleich zwischen den Ländern durchzuführen. Auf dieser Grundlage konnte die Frage nach der Intensität des Ausgleichs noch als eine ‚finanzpolitische und keine verfassungsrechtliche Frage‘ bezeichnet werden.“; Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 177. 1532 Das Bild der unbestimmten Rechtsbegriffe der Finanzverfassung als „Rahmen“ taucht bereits in BVerfGE 39, 96 (115) in Bezug auf Art. 104a Abs. 4 Satz 1 GG auf. Siehe Helmut Siekmann, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a Rn. 33. 1533 Fritz Ossenbühl, Zur Justiziabilität der Finanzverfassung, in: Bodo Börner/Hermann Jahrreiß/Klaus Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Karl Carstens, Bd. 2, 1984, S. 743 (253 f., Zitat S. 254). 1534 Herbert Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Wilhelmine Dreißig (Hrsg.), Probleme des Finanzausgleichs I, 1978, S. 135 (135–138). 1535 BVerfGE 115, 97 (114). 1536 Siehe die Ausführungen unter A. II. 1. c) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1537 Hierzu bereits unter A. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils.

5. Kap.: Verfassungsgerichtliche Quantifizierung

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entiert und sich bei der Ausfüllung der jeweiligen Begriffshöfe zurückhält. Dies deutet sich im Zusammenhang der Kennzeichnung des Splittingverfahrens als verfassungskonforme Form der Ehegattenbesteuerung durch den Ersten Senat am 17. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55) an: „Wie jede Verfassungsnorm ist Art. 6 GG nur insoweit den Gesetzgeber aktuell bindendes Recht, als seine Fassung bestimmt genug ist, eine Norm niederen Ranges daran zu messen.“1538

B. Zum Kompetenzkonflikt der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung Bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierungen durchbrechen die idealtypische Entscheidungsrationalität der Judikative. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man unabhängig von den konkreten Quantifizierungsbeispielen und deren Typik auf die unmittelbare Konkretisierung unbestimmter Verfassungsvorgaben zu präzisen Zahlen abstellt. Sie sind von den der Politisierung des Bundesverfassungsgerichts erwachsenden Legitimationsproblemen1539 mehr als andere Entscheidungen betroffen. Dies liegt zunächst daran, dass sie nur rudimentär im Wege rationaler Methodik begründet werden können. Angesichts ihres Höchstmaßes an Dezision1540 ist die verfassungsgerichtliche Quantifizierung methodisch brisant. Der im Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber ohnehin angelegte Kompetenzkonflikt spitzt sich zu. Das Bundesverfassungsgericht betont zwar, etwa bei der Überprüfung der Geldleistungen nach dem Asylbewer­ber­leis­ tungs­gesetz (AsylbLG), es wolle „Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss“1541 erhalten, an den Quantifizierungen könnte dennoch die unvermeidbare Überschneidung der Entscheidungsrationalitäten und die Mittlerstellung des Bundesverfassungsgerichts zwischen Recht und Politik besonders plakativ aufgezeigt werden. An ihnen könnte mehr noch eine Erstarkung des Bundesverfassungsgerichts zur „3.  Kammer“1542 manifest werden und das Gericht in den Spielräumen der Verfassung genuine Gestaltungsaufgaben der Politik vorwegnehmen. Wenn das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage von unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffen numerische Vorgaben für den Gesetzgeber formuliert, geht es über die Nachzeichnung der Verfassung als Rahmenordnung für den politischen Prozess weit hinaus. Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung sieht sich dem Vorwurf der Ersatzgesetzgebung ausgesetzt, 1538

BVerfGE 6, 55 (76). Siehe hierzu Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 231: „Sie [die Verfassungsgerichtsbarkeit] versteht sich als Kontrolle der Werteabwägung, ersetzt aber nur ein Gutdünken durch ein (eventuell) anderes. Die Grenze zwischen politischem System und Rechtssystem, an der die Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst hängt […], verschwimmt.“ 1540 Siehe die Ausführungen unter C. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1541 BVerfGE 132, 134 (162 Rn. 70). 1542 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 574. 1539

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

denn die verfassungsgerichtlich festgelegten Zahlenwerte beanspruchen Verbindlichkeit gegenüber dem Gesetzgeber1543 und das Ergebnis der Quantifizierung (die Zahl) ist nur sehr begrenzt der Auslegung zugänglich.1544 Die Entscheidungsfolgen bilden neben dem Entscheidungsinhalt einen selbstständigen Anknüpfungspunkt für den Vorwurf des Übergriffs in legislative Kompetenzen, wenn das Bundesverfassungsgericht numerische Übergangsregelungen festsetzt.1545 Die Frage nach einer verfassungsgerechten Methodik der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen kann schon deshalb nicht von der eines etwaigen Kompetenzübergriffs getrennt werden, weil die Methodik des Gerichts nur bei einer so weit als möglichen rationalen Entscheidungsfindung verfassungsgerecht ist. Es sind schließlich nicht nur die numerischen Vorgaben des Gerichts, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bedrohen. Die Frage der einfachgesetzlichen und bundesverfassungsgerichtlichen Kompetenzabgrenzung stellt sich auch, wenn das Gericht Verfahrensvorgaben für den quantifizierenden Gesetzgeber formuliert. Der Politisierung der bundesverfassungsgerichtlichen entspricht eine Verrechtlichung der parlamentarischen Entscheidungsrationalität durch und im Zusammenhang der Quantifizierungen. Eine solche Verwischung der Entscheidungsrationalitäten ist problematisch, denn die Legitimation der Politik durch seine rechtliche und des Rechts durch seine politische Grundlage droht zu erodieren, wenn nicht ein Mindestmaß an „Differenz[…] zwischen Recht und Politik“ gewahrt ist.1546 Es bedarf der Klärung, wie trotz der Überschneidungsbereiche der Entscheidungsrationalitäten die verfassungsgerichtlichen und parlamentarischen Kompetenzen überhaupt voneinander abgegrenzt werden können. Aus der Verfassungsbindung und Gestaltungsmacht sowohl von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber ergibt sich eine Konkurrenzsituation bei der Konkretisierung der Verfassung.1547 Zwar beschränkt sich die normative Bindung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf die Verfassung, es ist ebenso an die einfachen Gesetze gebun 1543 Es kommt eine Bindungswirkung nach § 31 Abs.  1 BVerfGG und bei den mittelbaren Quantifizierungen auch nach § 31 Abs.  2 BVerfGG in Betracht. Zur jeweiligen Reichweite Andreas Heusch, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2.  Aufl. 2005, § 31 Rn.  58 f., 77. Zur Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen auch Hans Lechner/Rüdiger Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 6. Aufl. 2011, § 31. Darüber hinaus ist die faktische Bindungskraft von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts in Rechnung zu stellen. Siehe hierzu bereits Fn. 570 im dritten Teil. Zur tatsächlichen Wirkkraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 548 ff. 1544 Siehe die Ausführungen unter B. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. 1545 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (324). 1546 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (309 ff., insb. S. 311 [Zitat ebd.]). 1547 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 89.

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den,1548 es kann aber nicht jede Überwindung verfassungsnormativer Spielräume exklusiv dem Gesetzgeber überantwortet sein. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt nach der Verfassung die Kontrolle des parlamentarischen Gesetzgebers und es schöpft demokratische Legitimation nicht nur aus seiner normativen Bindung, sondern auch (wenn auch nicht gleichbedeutend1549) aus der Wahl seiner Richter durch Bundestag und -rat (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Kritik am steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz, der mehr als jede andere (unmittelbare) Quantifizierung den Vorwurf der Kompetenzanmaßung durch das Bundesverfassungsgericht provoziert hat, gibt in den Streit um die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Quantifizierung einen Einblick. Das Bundesverfassungsgericht treffe  – so wird vorgebracht  – mit dem Halbteilungsgrundsatz eine „politische“ Entscheidung, die im System der Gewaltenteilung nach dem Grundgesetz dem Gesetzgeber zukomme.1550 Das Bundesverfassungsgericht greife in den parlamentarischen Gestaltungsspielraum ein.1551 Für die Kritiker stellt sich freilich das Folgeproblem der alternativen Kompetenzzuweisung zum einfachen oder verfassungsändernden Gesetzgeber. Sofern der (einfache)  Steuergesetzgeber mit einer abstrakten Belastungsobergrenze gebunden werden soll, ist für die Aufstellung einer numerischen Grenze wie dem Halbteilungsgrundsatz der Verfassungsgesetzgeber zuständig. Es bleibt ansonsten beim allgemeinen Grundsatz „lex posterior derograt legi priori“.1552 Für die Kompetenzabgrenzung zwischen den Gesetzgebungsgewalten kommt es jedoch erneut auch darauf an, welcher Akteur im System der Gewaltenteilung funktional am besten in der Lage ist, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen. Bei Entscheidungen über die Höhe der Steuersätze und damit über den Finanzbedarf des Staates, ist dies eher als der verfassungsändernde der einfache Gesetzgeber. Dies liegt daran, dass der Finanzbedarf des Staates langfristig nicht vorausgesehen werden kann. Er ist von der 1548 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (389 f.). 1549 Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 (137). 1550 Andreas v. Arnauld u. Klaus W. Zimmermann werfen die Frage der Kompetenzzuweisung im gewaltengeteilten System implizit direkt zu Beginn ihrer Ausführungen auf, wenn sie den Halbteilungsgrundsatz mit der Armutsgefährdungsschwelle der Statistiken von Eurostat (Statistisches Amt der Europäischen Union), den Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht sowie der Haushaltsdefizitgrenze und Schuldenstandsquote des Stabilitäts- und Wachstumspakt als „arbitrary“ „numbers in politics“ vergleichen. Dies., Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working­ Paper ­Series No. 100, März 2010, S. 2 f. (Zitate ebd.). Zur Diskussion der Kompetenzanmaßung durch das Bundesverfassungsgericht dann ebd., S. 15. 1551 Ernst-Wolfgang Böckenförde nimmt im Sondervotum einen Übergriff in den einfach­ gesetzlichen Kompetenzbereich durch das Konzept des gestuften Vermögensschutzes an. Er beruhe sowohl auf der fehlenden Veranlassung durch die Vorlagefrage als auch der fehlenden verfassungsrechtlichen Vorgabe. BVerfGE 93, 121 (151 f., 157 ff.). 1552 Vgl. Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151.

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„je­weilige[n] wirtschaftliche[n], politische[n] und soziale[n] Lage“ abhängig.1553 Die Begrenzung der Flexibilität des einfachen Gesetzgebers bei der Aufstellung des Staatshaushalts durch eine numerische Fixierung der steuerlichen Höchstbelastung, die über den Einzelfall hinaus Geltung beansprucht, ist dann problematisch. 6. Kapitel

Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen durch das quantifizierende Verfassungsgericht? Ausgehend vom spezifischen Maßstab der Verfassungsrechtsprechung, dem Grundgesetz als Rahmenordnung, soll nun zunächst näher herausgearbeitet werden, inwieweit die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen der analysierten Gerichtsentscheidungen tatsächlich atypische Entscheidungsrationalitäten aufweisen. Es wird aufgedeckt, bei welchen Quantifizierungstypen ein im Vergleich zur sonstigen Verfassungsrechtsprechung hohes Maß verfassungsgerichtlicher Dezision mehr noch als in anderen Quantifizierungsentscheidungen besonders wahrscheinlich ist und es nahe liegt, dass die Defizite in den Entscheidungsbegründungen Leerstellen im rationalen richterlichen Entscheidungsprozess anzeigen. Die Quantifizierungen könnten in diesen Fällen eine Anmaßung legislativer Kompetenzen bedeuten. Das Bundesverfassungsgericht hält die ihm bei der Quantifizierung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn es methoden- und kompetenzgerechte numerische Festlegungen trifft. Die Analyse wird in einem weiteren Schritt aufzeigen, dass über die Verfassungskonformität der Quantifizierungen allein die Reichweite des verfassungsgerichtlichen Entscheidungszwangs entscheidet. Es ist daher zu klären, inwieweit das Bundesverfassungsgericht Rechtsschutz gewähren und seine Entscheidungen dennoch „numerisch offen halten“ kann. Im vierten Urteil zum Finanzausgleich (BVerfGE 101, 158) wird deutlich, dass bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einfachgesetzlich festgelegter Zahlen ein etwaiger Kompetenzkonflikt mit dem Gesetzgeber nicht zwingend in der Formulierung numerischer Vorgaben begründet liegt. Das Bundesverfassungsgericht trifft dort nur knappe quantitative Aussagen und erklärt die einfachgesetzlichen Regelungen, die über die Intensität der Finanzkraftangleichung und die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen bestimmen, für verfassungskonform.1554 Es kon 1553

Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151 (Zitat ebd.). Ernst-Wolfgang Böckenförde wirft dem Zweiten Senat im Sondervotum vor, mit der Aufstellung einer numerischen Obergrenze für die Besteuerung „verkenn[e er], daß die Festsetzung der Steuersätze fundamental von wirtschaftlichen wie politischen Daten abhängt, die unter geschichtlichen Bedingungen stehen und sich ändern können.“ BVerfGE 93, 121 (157). Siehe auch Andreas v. Arnauld u. Klaus W.­ Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 14, 21.  1554 BVerfGE 101, 158 (231 ff.).

6. Kap.: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen

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statiert: „Eine abschließende Würdigung einzelner Regelungen oder des Gesamtsystems des Finanzausgleichsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht kommt derzeit nicht in Betracht. Die verfassungsgerechte Ausformung finanzausgleichsrechtlicher Maßstäbe ist dem Gesetzgeber zugewiesen.“1555 Die Statuierung einfachgesetzlicher Prüfungspflichten hinsichtlich weiterer, gegenüber den aktuellen Finanzausgleichsregelungen im vorgenannten Normenkontrollverfahren in Stellung gebrachter verfassungsrechtlicher Angriffspunkte zeigt, dass der Übergriff in die parlamentarischen Kompetenzen auch in der Einbindung des Gesetzgebers in eine für ihn atypische, exekutive Entscheidungsrationalität liegen kann.

A. Atypische Entscheidungsrationalitäten im Zusammenhang der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung I. Verfassungsgerichtliche Quantifizierungen als Ersatzgesetzgebung? – Abmilderung der methodischen und/oder kompetenziellen Problematik durch die Quantifizierungstypik In den untersuchten Entscheidungen sind verschiedene Strategien des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit Quantifizierungsfragen beobachtbar. Die methodisch-kompetenzielle Brisanz betrifft die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungstypen damit nicht pauschal. Die Quantifizierung in (unbestimmten) Bandbreiten, die mittelbare und negative Quantifizierung ordnet sich eher in die idealtypische Unterscheidung der Entscheidungsrationalitäten ein als die präzise, die unmittelbare und positive Quantifizierung. 1. Quantifizierungen in unbestimmten Bandbreiten statt präzise Quantifizierungen In den untersuchten Entscheidungen sind weder die unmittelbaren noch die mittelbaren Quantifizierung präzise. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert in Bandbreiten.1556 Es befindet zwar über die Verfassungsmäßigkeit einzelner Zahlen, räumt aber zugleich Ausweichmöglichkeiten ein. Die Quantifizierung in Band­breiten bedeutet „eine verbindliche Festlegung über den Inhalt der Verfassungsnorm […], […] der Blick [ist aber] immer auch auf die Alternativen gerichtet, die diese Festlegung für den Gesetzgeber eröffnet und eröffnen soll.“1557 Die Konkretisierungsintensität bleibt dadurch hinter einer präzisen Quantifizierung zu 1555

BVerfGE 101, 158 (238). Siehe die Ausführungen unter A. II. 1. c) und 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1557 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (507). 1556

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rück. Die bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung in Bandbreiten harmoniert grundsätzlich mit dem Charakter der Verfassung als Rahmenordnung, denn „ein Rahmenverständnis verlangt immer ein Doppeltes, nämlich Aussagen über das Festgelegte und über das Offene. Ein Rahmenverständnis heißt, bewußt Gestaltungsspielräume aufzudecken und zu formulieren; was innerhalb des Rahmens liegt, ist als eine Alternative von mehreren zu verstehen. Eine als Rahmen verstandene Verfassungsnorm als Maßstab für ein Gesetz einzusetzen, richtet das Urteil nicht darauf, ob der Mittel-, der Höhe- oder Optimalpunkt getroffen ist, sondern ob das konkrete Gesetz ebenso ‚innerhalb des Rahmens‘ liegt, wie es andere Ausgestaltungen auch könnten.“1558

Solange die ursprünglich innerhalb von Toleranzbereichen liegenden Richtwerte nicht in ständiger Gewohnheit angewendet werden und zu absoluten Richtpunkten auswachsen, bedeutet die Aufstellung der Bandbreiten durch das Bundesverfassungsgericht methodisch einen Rationalitätsgewinn und in kompetenzieller Hinsicht die Achtung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums. Die unbestimmten Verfassungsvorgaben lassen sich allenfalls in „zahlenmäßigen Annäherungswerten“1559 rational nachvollziehen.1560 Hinsichtlich der Faktoren im Finanzausgleichsgesetz (FAG) erkennt das Bundesverfassungsgericht nicht nur Bandbreiten verfassungsgemäßer Wertungen des Gesetzgebers an. Es weist außerdem dem Gesetzgeber ausdrücklich Überprüfungspflichten eben dieser Faktoren zu.1561 Sieht man von der darin liegenden Modifikation der typischen, parlamentarischen Entscheidungsrationalität ab, ist auch dies Ausdruck der Anerkennung des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums. Die Konkretisierung der Verfassungsvorgaben zur Zahl wird explizit in die Hände des Gesetzgebers gelegt. Bei der Aufstellung von Bandbreiten ist außerdem relevant, dass deren Grenzen (bis auf die Quantifizierung in der einstweiligen Anordnung betreffend den „NSU-Prozess“) unbestimmt bleiben, d. h. das Bundesverfassungsgericht weicht konkreten Grenzwerten aus. Im Falle der expliziten Festlegung solcher Grenzwerte eröffneten die Bandbreiten dem Gesetzgeber zwar einen (wenn auch von vornherein begrenzten) Gestaltungsspielraum, die Quantifizierungen beruhten aber unverändert auf einem hohen Maß verfassungsrichterlicher Dezision. Eine rational nachvollziehbare Bestimmung präzise 1558 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (507, siehe auch S. 504 f.). 1559 Siehe Paul Kirchhof zur Obergrenze eines im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG angemessenen horizontalen Finanzkraftausgleichs und der Quantifizierbarkeit des (bundesverfassungsgerichtlichen) Verbots einer entscheidenden Schwächung der Leistungsfähigkeit der Geberländer sowie einer Nivellierung der Länderfinanzen: „Auch hier lassen sich der Verfassung jedoch nicht zahlenmäßig präzise Grenzen, sondern allenfalls ein in zahlenmäßigen Annäherungswerten veranschaulichter Rahmen entnehmen.“ und „Auch die Obergrenze des Finanzausgleichs ist demnach in der Verfassung nicht zahlenmäßig fixiert, sondern lediglich in einem für zahlenmäßige Annäherungswerte zugänglichen Rahmen umschrieben.“ Ders., Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich als Ergänzung fehlender und als Garant vorhandener Finanzautonomie, 1982, S. 61. 1560 Siehe bereits die Ausführungen zur Quantifizierungsmethodik unter C. III. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1561 Siehe die Ausführungen unter A. I. 5. b) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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umgrenzter Bereiche verfassungsgemäßer Zahlenfestlegungen ist ebenso wenig möglich wie die Quantifizierung unbestimmter verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe zur einzelnen, konkreten Zahl. Die Quantifizierung in unbestimmten Bandbreiten entspricht der Vorstellung der Verfassung als Rahmenordnung und auch der von Philipp Heck angenommenen Struktur unbestimmter Verfassungsrechtsbegriffe.1562 Die Einräumung von Bandbreiten und die im Ungefähren belassene Abgrenzung verfassungsgemäßer und -widriger Quantifizierungen wird der Existenz eines weiten Begriffshofs bei den unbestimmten Verfassungsvorgaben gerecht, innerhalb dessen eine eindeutige Bedeutungsbestimmung (Zuordnung von Begriff und Objekt) nicht möglich ist. Es besteht bei deren Anwendung notwendigerweise ein Spielraum, dessen Ausfüllung das Bundesverfassungsgericht gemäß der idealtypischen Abgrenzung der Entscheidungsrationalitäten (weitgehend) dem Gesetzgeber überlässt. Spiegelt man die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen weiter am Heck’schen Modell, fällt auf: Das Bundesverfassungsgericht verweist in keinem der untersuchten Entscheidungen auch nur implizit auf den jeweiligen Begriffskern der Verfassungsvorgaben, indem es etwa von deren eindeutigen Bedeutung spricht. Dies liegt daran, dass ein numerisch bestimmbarer (positiver) Begriffskern jedenfalls über keine praktische Bedeutung verfügt.1563 Dieser Umstand deutet bereits darauf hin, dass auch die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in unbestimmten Bandbreiten methodisch und kompetenziell problematisch bleiben. Die Bandbreiten bilden nicht den Bereich zwischen den rational bestimmbaren extremen Zahlenbestimmungen ab, auf die in der Analyse der Quantifizierungsmethodik verwiesen wurde, und das Bundesverfassungsgericht bewegt sich auch dann nicht im Bereich rationalisierbarer Zahlenfestlegungen, wenn es sich wie bei den Hartz IV-Regelsätzen und der WBesoldung auf eine Evidenzprüfung zurückzieht.1564 Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht zwar in Bandbreiten und damit nicht präzise quantifiziert, aber dennoch über die Präzision anderer Entscheidungen hinausgeht. Es steckt bei der unmittelbaren Quantifizierung Bandbreiten ab, indem es von bestimmten Fixpunkten bzw. Orientierungswerten ausgeht. Bei der Subsumtion kennzeichnet das Gericht in allen Fällen eine konkrete Zahl als (nicht) verfassungsgemäß. Es muss dann dessen Verankerung innerhalb oder außerhalb des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums methodisch begründet werden. Mit Blick auf eine zu befürchtende Abweichung der verfassungsgerichtlichen Methodik von den grundgesetzlichen Vorgaben und einen möglichen Übergriff in Kompetenzen der Legislative lassen sich je nach ihrer Bestimmtheit mehr oder weniger problematische Fälle bundesverfassungsgerichtlicher Bandbreiten unterscheiden.1565 Soweit das­ 1562 Hierzu die Ausführungen unter A. III. im 2. Kapitel des zweiten Teils. Vgl. für die Verfassungsrechtsprechung zum Finanzausgleich Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 72 f., 75. 1563 Siehe die Ausführungen unter C. III. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1564 Siehe die Ausführungen unter C. III. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1565 Siehe die Ausführungen unter A. II. 1. c) und 2. c) im 3. Kapitel des dritten Teils.

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Bundesverfassungsgericht die Unbestimmtheit der Verfassung nicht abbildet, gestaltet es. Je detaillierter die Bandbreite ausgestaltet und je schärfer sie umgrenzt wird, desto höher ist tendenziell der Anteil verfassungsgerichtlicher Dezision und desto intensiver greift sie in die idealtypische legislative Entscheidungsrationalität über. Während die Festlegung von „etwa“1566 15 verfassungsgemäßen Überhangmandaten1567 allenfalls eine schmale Bandbreite verfassungsgemäßer Quantifizierungen eröffnet, erweisen sich die scheinbar präzisen unmittelbaren Quantifizierungen unproblematischer als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Es handelt sich tatsächlich um Quantifizierungen in Bandbreiten, deren Verlauf offen bleibt.1568 Bei der mittelbaren Quantifizierung nähert sich das Bundesverfassungsgericht teils dem Grenzverlauf zwischen den jeweils verfassungsgemäßen und -widrigen Zahlenfestlegungen an, wenn von noch1569 bzw. nicht mehr1570 vertretbaren bzw. verfassungsgemäßen Zahlen die Rede ist. 2. Mittelbare statt unmittelbare Quantifizierungen Im Zusammenspiel der nachgezeichneten idealtypischen gerichtlichen und parlamentarischen Entscheidungsrationalitäten wirft vor allem die unmittelbare Quantifizierung einen Methoden- und Kompetenzkonflikt auf. Wenn das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage höchst unbestimmter verfassungsrechtlicher Maßgaben, für den Gesetzgeber verbindliche numerische Fix- bzw. Orientierungspunkte festlegt, füllt es die verfassungsrechtlichen Entscheidungsspielräume weitgehend frei gestaltend aus. Die Zahlen sind, dies wird etwa beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz deutlich, aus der Verfassung nicht ­deduzierbar

1566 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11. 1567 Siehe die Ausführungen unter D. I. 2. im 2. Kapitel des dritten Teils. 1568 Zu den bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen mit erhöhter Präzision siehe die Ausführungen unter A. II. 1. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1569 Siehe etwa BVerfGE 86, 148 (225, Kursivsetzung durch Verf.): „Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen. Das höchste Aufkommen einer dieser ihrer Art nach herkömmlichen Steuern […] beträgt bei der Vergnügungssteuer […] etwas über 300 Mio. DM. Damit erreicht es noch nicht das Volumen, welches […] als ausgleichsrelevant anzusehen ist […].“ Siehe hierzu die Ausführungen zur Einbeziehung kommunaler Einnahmen in den Finanzausgleich unter A. I. 5. a) aa) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1570 Siehe etwa BVerfGE 86, 148 (262 f., Kursivsetzung durch Verf.): „Dies zeigt eindeutig, daß es sich beim Saarland und bei Bremen um Sanierung, nicht mehr um Hilfe zur Selbsthilfe handelt. Die über einen Zeitraum von fünf Jahren notwendigen Unterstützungsleistungen würden ihrem Umfang nach für das Saarland (ohne Kommunen) und Bremen jeweils 20 v. H. und mehr des Haushalts ausmachen. Sie würden einen durchschnittlichen jährlichen Aufwand von geschätzt 2,5 Mrd. DM erfordern.“ Siehe hierzu die Ausführungen zur Feststellung des Vorliegens/Fehlens einer Haushaltsnotlage durch das Bundesverfassungsgericht unter A. I. 5. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils.

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und nur sehr eingeschränkt rational begründbar.1571 Die Entscheidungsherstellung steht dann in Diskrepanz zur Darstellung methodischer Rationalität, die auf Maßstabsebene durch die Kontinuität der Entscheidungen noch verstärkt wird.1572 Jörn Ipsen spricht mit Blick auf die Kennzeichnung eines Quorums in Höhe von 0,5 % der Zweitstimmen als verfassungskonforme Bedingung der Wahlkampfkostenerstattung durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 3. Dezember 1968 (BVerfGE 24, 300) von „verfassungsgerichtliche[r] Dezision, die sich von der gesetzgeberischen strukturell nicht unterscheidet.“1573 Es erwächst hieraus ein Kompetenzkonflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber.1574 Die unmittelbare Quantifizierung ist Ausdruck einer breiter angelegten Kompetenzverschiebung, im Rahmen derer das Bundesverfassungsgericht zu Lasten des parlamentarischen Gesetzgebers eine Ausgestaltung der Verfassung vornimmt.1575 Die absolute und relative Grenze der Parteienfinanzierung im Urteil vom 9. April 1992 (BVerfGE 85, 264) verdeutlichen die methodische und kompetenzielle Problematik der unmittelbaren Quantifizierung.1576 Es lässt sich weder empirisch belegen noch rational begründen, mit welchen konkreten Beträgen die Parteien seitens des Staates unterstützt werden können, ohne dass deren Funktionswahrnehmung gestört bzw. zumindest ernsthaft gefährdet wird. Hinter den Begründungsdefiziten der Entscheidung verbirgt sich daher zwangsläufig eine nicht rationalisierbare Wertung und Dezision des Bundesverfassungsgerichts. Der bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess wird zu Lasten der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers bis zur Zahlengrenze fortgeführt.1577 Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert die Verfassung in den meisten Fällen indes mittelbar im Wege der Subsumtion einfachgesetzlich festgelegter bzw. vorausgesetzter Zahlen. Deren Kennzeichnung als verfassungsgemäß bzw. -widrig 1571

Zur methodischen und kompetenziellen Brisanz des steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes unter C. III. 2.  im 4.  Kapitel, unter B. im 5.  Kapitel und unter C. II. im 6. Kapitel des dritten Teils. 1572 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. 1. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1573 Ders., Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S.  249 („Selten ist der gesetzgeberische Spielraum von Verfassungs wegen so eingeengt, daß nur eine von mehreren Gestaltungsmöglichkeiten als verfassungsmäßig angesehen werden könnte: meist bleibt die Wahl zwischen einer Vielzahl auch in Nuancen unterschiedlicher Regelungen. Soweit das BVerfG den Gesetzgeber auf eine – möglicherweise sogar numerisch festgelegte – Normierung beschränkt, handelt es sich dabei schlicht um verfassungsgerichtliche Dezision, die sich von der gesetzgeberischen strukturell nicht unterscheidet.“), 252. So auch Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259 („Ob […] die Wahlkampfkostenerstattung bei einem Anteil von 0,1 %, 0,5 % oder 1 % der Stimmen einsetzen soll, ist durch das Grundgesetz begründungsmäßig kaum herleitbar.“). 1574 In Bezug auf BVerfGE 24, 300 (Wahlkampfkostenerstattung ab 0,5 % der Zweitstimmen) Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S.  249; Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259. 1575 Hierzu Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 (131 ff.). 1576 Siehe die Ausführungen unter A. VII. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1577 Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (328 f.).

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ist in der Regel wie die unmittelbare Quantifizierung kaum rational nachvollziehbar. Die methodische Problematik besteht gleichwohl nicht unverändert fort. Dies liegt daran, dass die mittelbaren (auch wenn sie eine breitere unmittelbare numerische Vorstellung des Verfassungsinhalts seitens des Bundesverfassungsgerichts voraussetzen) immer punktuelle Quantifizierungen der Verfassung sind. Für sie lässt sich, auch wegen ihres unmittelbaren Sachverhaltsbezugs, eher rational argumentieren als für die unmittelbaren Quantifizierungen, die für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gelten und insoweit die jeweiligen Verfassungsvorgaben umfassender in Zahlen konkretisieren. Der Kompetenzkonflikt ist ebenfalls abgemildert. Das Bundesverfassungsgericht weist dem Parlament teils ausdrücklich die Erstkompetenz zur Quantifizierung zu. Dies ist etwa hinsichtlich der Festlegung der Hartz IV-Regelleistungen der Fall: „Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind […].“1578 Es greift jedenfalls dann nicht in die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Verfassung ein, wenn es dessen Zahlen für verfassungskonform erklärt. Auch im Falle des Verdikts der Verfassungswidrigkeit ist die mittelbare nicht im selben Maße kompetenziell problematisch wie die unmittelbare Quantifizierung. Das Bundesverfassungsgericht trägt dem „erheblichen Beurteilungsspielraum“ bei der Anwendung der unbestimmten Verfassungsvorgaben Rechnung, indem es deren Inhalt auf der Maßstabsebene der Entscheidungen nicht numerisch exakt, sondern nur näherungsweise umschreibt.1579 Dem Gesetzgeber fällt dann die Erstkompetenz zur Quantifizierung zu und dessen politische Gestaltungsmacht wird anerkannt. „Die Offenheit des politischen Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozesses“ wird nicht dadurch einschränkt, dass ihn das Bundesverfassungsgericht durch numerische Vorgaben lenkt.1580 Das Bun 1578 BVerfGE 125, 175 (222). Siehe bereits die Ausführungen unter A. III. 1. a) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1579 Vgl. Theodor Maunz für die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum horizontalen Finanzausgleich in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. VII, Loseblattsammlung, Stand: 21. Ergänzungslieferung April 1983, Art. 107 Rn. 10, 47 (Zitat ebd.), 63 f. 1580 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259 (Zitat ebd.). So auch bereits Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 249. Dass die mittelbare eher als die unmittelbare Quantifizierung mit einer funktionalen Kompetenzabgrenzung von Judikative und Legislative vereinbar ist, drückt Ipsen wie folgt aus: „Es sei nicht verkannt, daß sich der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum im Gefolge einer Normenkontrollentscheidung verringert; doch besteht ein merklicher Unterschied zwischen einer negativen Abgrenzung gesetzgeberischer Befugnisse und der Hinlenkung des Gesetzgebers auf bestimmte Inhalte in Gestalt von obiter dicta.“ (ebd., S. 250) und in Bezug auf BVerfGE 24, 300: „Vieles spricht allerdings dafür, daß der zunächst vorgesehene Prozentsatz von 2,5, der schon seinerzeit einem Anteil von rund 835 000 Wählerstimmen entsprach, mit dem Grundsatz der Chancengleichheit in der Tat unvereinbar war. Warum aber der Grenzwert bei 0,5 % und nicht bei 0,4, 0,6, 0,8 oder gar bei einem Prozent der Stimmen anzusetzen war, bleibt unerfindlich.“ (ebd., S. 252). Siehe auch Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259.

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desverfassungsgericht wird nur kontrollierend tätig und überprüft, „ob [die] […] konkrete[n] [Zahlen] […] ebenso ‚innerhalb des Rahmens‘ lieg[en], wie es andere Ausgestaltungen auch könnten“.1581 Das Bundesverfassungsgericht nimmt im Vergleich zur unmittelbaren Quantifizierung mehr noch seine „materielle Kontrolldichte“ zurück,1582 denn es legt keine Fix- bzw. Orientierungspunkte für den Gestaltungsspielraum des quantifizierenden Gesetzgebers fest. Die mittelbare entspricht damit eher als die unmittelbare Quantifizierung einer als Rahmenordnung verstandenen Verfassung. 3. Heteronome statt autonome Quantifizierungen? Die heteronome bedeutet zum Teil  eine systemgerechte Quantifizierung, es werden also verschiedene sachbereichspezifische Größen aufeinander abgestimmt.1583 Die Festlegung einer Bandbreite verfassungsgemäßer Zahlen bzw. die Verankerung der einfachgesetzlichen Zahl innerhalb oder außerhalb des einfachgesetzlichen Gestaltungsspielraums bleibt zwar methodisch letztlich nicht nachvollziehbar, es ist hiermit jedoch eine Steigerung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsrationalität und daher Abschwächung des Methodenkonflikts verbunden. Holger Fleischer spricht davon, es könne bei einer sachgerechten Abstimmung des (fach-)gerichtlich festgelegten Zahlenwerts auf vorgefundene gesetzliche Wertungen nicht mehr von einer „willkürlichen“ Festsetzung gesprochen werden.1584 Gleiches gilt für den Kompetenzkonflikt bei der unmittelbaren Quantifizierung, wenn das Bundesverfassungsgericht auf einfachgesetzliche Zahlen zurückgreift und deren Übertragung auf die in Rede stehende Quantifizierungsfrage im (mutmaßlichen) Sinne des Gesetzgebers ist. Bei der mittelbaren Quantifizierung können Systemgerechtigkeitserwägungen in kompetenzieller Hinsicht ebenfalls nicht eindeutig bewertet werden. Einerseits bedeutet die methodische Rationalisierung und eine Verringerung des dezisionistischen Elements in der Verfassungsrechtsprechung eine Abschwächung des Kompetenzkonflikts. Andererseits läuft die Einbindung des Gesetzgebers in Systemgerechtigkeitserwägungen der Eigenrationalität des parlamentarischen Prozesses zuwider. Der Kompetenzkonflikt verstärkt sich.

1581

Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (507). Vgl. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9.  Aufl. 2012, Rn. 531 (Zitat ebd.). 1583 Zur Systemgerechtigkeit als Muster bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen unter A. III. 1. b) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1584 Vgl. Holger Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Andreas Heldrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 (77, 84 [Zitat ebd.], 89). 1582

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

4. Negative statt positive Quantifizierungen Während es sich bei den unmittelbaren immer um positive Quantifizierungen handelt, bewertet das Bundesverfassungsgericht einfachgesetzliche Zahlen sowohl als verfassungsgemäß als auch als verfassungswidrig. Es ist davon auszugehen, dass sich letztere, die (mittelbaren) negativen Quantifizierungen, eher methodisch an die jeweils einschlägigen unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben rückbinden bzw. rational rechtfertigen lassen und dann auch der Kompetenzkonflikt mit dem einfachen Gesetzgeber abgemildert ist. Dies veranschaulicht das Sorites-Paradox, wonach – um beim Beispiel des Sandhaufens aus dem 4. Kapitel1585 zu bleiben – jedenfalls gesagt werden kann, dass eben dieser jedenfalls bei einem Sandkorn nicht mehr vorliegt. Wie viele Sandkörner hingegen für die Annahme eines Sandhaufens erforderlich sind, lässt sich kaum rationalisieren. Es lässt sich für den Befund der problematischeren positiven Quantifizierungen darüber hinaus auf die Ausführungen von Karl ­Larenz verweisen, der rechtliche Regelungen am Maßstab bestimmter Prinzipien auf ihre Richtigkeit überprüft sehen will.1586 Zwar handelt es sich nicht bei allen für die Quantifizierung maßstäblichen unbestimmten Verfassungsvorgaben um ebensolche (positivierten) Prinzipien. Ausschlaggebend ist jedoch, dass beide konkretisierungsbedürftig und damit auf die Ausfüllung durch Werturteile angewiesen sind.1587 Larenz geht davon aus, dass die Prinzipien „hinsichtlich ihrer positiven Funktion [über] eine Komponente relativer Unbestimmtheit [verfügen]. Diese fehl[e] ihnen hinsichtlich der negativen Funktion, soweit es sich nicht gerade um ‚Grenzfälle‘ handel[e]. Es [sei] […] daher meist sehr viel leichter zu sagen, dies oder jenes sei absolut ungerecht, der Sache unangemessen, unverhältnismäßig, als was denn nun hier das Gerechte, Sachgemäße, Verhältnismäßige genau sei.“1588 Hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen bedeutet dies, dass sich eher methodisch argumentieren lässt, eine Zahl liege außerhalb als i­ nnerhalb der Bandbreiten jeweils verfassungs-

1585

Hierzu unter C. III. 1. im 4. Kapitel des dritten Teils. Hierzu bereits Fn. 1458 im dritten Teil. 1587 Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 23 f. 1588 Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S.  24. Larenz wiederholt seine vorgenannte Beobachtung in Bezug auf einzelnen Prinzipien richtigen Rechts und die Gerechtigkeit, die ihm zu Folge neben dem Rechtsfrieden die Rechtsidee und damit den Bezugspunkt eben dieser Prinzipien ausmacht (ebd., S.  29 ff.): „Zwar gibt es fast immer verschiedene Möglichkeiten einer sachgerechten Regelung; es läßt sich aber mit Sicherheit sagen, daß eine bestimmte Regelung oder das Fehlen jeder Regelung hier nicht sachgerecht wäre.“ (ebd., S. 40); „Es muss jedoch bezweifelt werden, ob dieses Prinzip [Verhältnismäßigkeitsprinzip] in seiner positiven Funktion, also Gebot der Vornahme sachlich gebotener Differenzierungen, überhaupt voll justiziabel ist. Wir haben immer betont, daß ein Prinzip in seiner negativen Funktion sehr viel leichter ‚anzuwenden‘ ist als in seiner positiven. So ist es auch offenbar leichter, zu erkennen, ob eine vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung eines sachlichen Grundes entbehrt, daher gegen das Differenzierungsverbot verstößt, als zu erkennen, ob eine von ihm unterlassene Differenzierung hätte vorgenommen werden müssen.“ (ebd., S. 129). 1586

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gemäßer ­Quantifizierungen.1589 ­Larenz zieht hieraus kompetenzielle Konsequenzen, weist dem Gesetzgeber die Konkretisierung der Prinzipien zu und billigt ihm dabei „innerhalb der Grenzen offenkundiger Ungerechtigkeit“ einen Gestaltungsspielraum zu. „Dem Gericht komm[e] dabei die Einhaltung dieser Grenzen, daher vornehmlich die Wahrung des Prinzips in seiner negativen Funktion zu.“1590

II. Methodische Vorgaben als Einbindung des einfachen Gesetzgebers in eine exekutive Entscheidungsrationalität Die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen stützen sich nicht nur (in unterschiedlicher Intensität) auf eine dem Parlament eigene Entscheidungsrationalität, das Bundesverfassungsgericht formuliert außerdem Anforderungen an die gesetzgeberische Rationalität. Tatsächlich wird dadurch auch dem Gesetzgeber eine atypische Entscheidungsrationalität auferlegt. Dies ist bei den Systemgerechtigkeitsanforderungen1591 und bei der Formulierung von Verfahrenspflichten für die einfachgesetzliche Zahlengenerierung, die insbesondere seit der Hartz  IV-Entscheidung erfolgt,1592 beobachtbar. Der Gesetzgeber, der demnach zahlreiche methodische Vorgaben einhalten muss, wird wie eine Verwaltungsbehörde behandelt.1593 Das Bundesverfassungsgericht setzt sich zu dem Grundsatz in Widerspruch, dass der Gesetzgeber nur das Gesetz und nicht – über die Art. 76 ff. GG hinaus1594 – eine bestimmte Generierung des Gesetzes schuldet.1595 Die Vereinbarkeit mit dem ­demokratischen Prinzip des Grundgesetzes erscheint problematisch, „denn […] der Respekt vor der 1589 Es lassen sich insoweit Ausführungen von Larenz zur Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Zahlen übertragen: „Dabei [Prüfung eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz] kommt vor allem wieder die negative Funktion des Prinzips zum Tragen, die auch in der Formulierung als ‚Übermaßverbot‘ im Vordergrund steht. Welches das hier richtige Ausmaß z. B. der Höhe einer Geldbuße, der Dauer einer Untersuchungshaft, des Umfangs einer Bebauungsbeschränkung ist, läßt sich oft nicht genau sagen; hier gibt es fast überall Ermessensspielräume. Aber was ‚unverhältnismäßig‘ oder ‚übermäßig‘ ist, läßt sich aufgrund einer Güterabwägung und eines Vergleichs mit anderen Fällen im allgemeinen mit ziemlicher Sicherheit sagen.“ Ders., Richtiges Recht, 1979, S. 132. 1590 Karl Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 130 (Zitate ebd.). 1591 Hierzu bereits soeben unter A. I. 3. im 6. Kapitel des dritten Teils. 1592 Siehe die Ausführungen unter B. II. 2. b) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1593 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (385, 396 ff.); Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, ebd., S. 159 (208, 212). Siehe auch Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (335). 1594 Inwieweit die Art.  76 ff. GG tatsächlich modifiziert werden, ist nach dem Urteil zum AsylbLG unklar. Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. 3. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1595 In Bezug auf Begründungspflichten des Gesetzgebers Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 (335 ff.). Siehe auch Ekkehart Hofmann, Abwägung im Recht, 2007, S. 435 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

demokratischen Parlamentswahl [äußert sich] auch in der Anerkennung“ der Eigengesetzlichkeiten der parlamentarischen Entscheidungsfindung, die über ein „voluntaristische[s] Element[…]“ verfügt und „Widersprüchlichkeiten geradezu erfordert“.1596 Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle der Zahlengenerierung seitens des Gesetzgebers ist nur gerechtfertigt, wenn und soweit er das entsprechende Verfahren wie im Finanzausgleichsgesetz einfachgesetzlich normiert hat. Es ist dann wie jeder andere Gesetzesinhalt am Maßstab der Verfassung zu überprüfen. Überprüft wird nicht das Gesetzgebungsverfahren, sondern das im Gesetz normierte Verfahren.1597

B. Das Rechtsverweigerungsverbot: Archimedischer Punkt für die Verfassungskonformität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung Die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen können nicht genauso eindeutig als Störfaktor innerhalb der verfassungsrechtlich zugewiesenen Entscheidungsrationalitäten ausgemacht werden wie die verfahrensrechtliche Einbindung des quantifizierenden Gesetzgebers. Es lassen sich je nach Quantifizierungstypik nur mehr oder weniger problematische Fälle ausmachen. Fraglich ist, wie bei sich von vornherein überschneidenden Entscheidungsrationalitäten überhaupt über die Verfassungskonformität der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungsmethodik entschieden und eine eindeutige Grenzziehung zwischen den verfassungsgerichtlichen und parlamentarischen Kompetenzen zur Quantifizierung der Verfassung vorgenommen werden kann.1598 Der Kompetenzkonflikt kann auch durch die Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf die Nachzeichnung des verfassungsrechtlichen Rahmens nicht aufgelöst werden, denn sie erschöpft sich nicht in der Nennung der Begriffskerne und jeweils eindeutigen Bedeutung der Verfassungsvorgaben. Die Quantifizierung gehört als Konkretisierung grundsätzlich zu den verfassungsgemäßen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.1599 1596

Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (Zitate S. 398, siehe hierzu auch S. 396 f. u. 399). Siehe auch Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, ebd., S. 159 (209): „Das Parlament sollte auch aus dem Bauch heraus Gesetze erlassen dürfen.“ A. A. Sozialgericht Berlin, Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vom 25. April 2012 – S 55 AS 9238/12  –, http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/s_55_as_9238.12.html (abgerufen am 2.5.2012), S. 17 (die Seitenangabe bezieht sich auf einen DIN A4-Ausdruck). 1597 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 637. 1598 Hiergegen Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 14 Rn. 570: „Bei ihrer Bestimmung läßt die Rechtsprechung eine eindeutige und feste Linie freilich nicht erkennen. Der Grund hierfür – und die Schwierigkeit – liegen darin, daß die Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle sich nicht immer in einer starren, ein für allemal gültigen Formel ziehen lassen.“ 1599 Vgl. Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 240.

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Es füllt bei der Anwendung der Verfassung immer auch normative Wertungsspielräume aus und sein Wertungsspielraum muss vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers abgegrenzt werden. In den analysierten Entscheidungen bleibt die Reichweite der Gestaltungsspielräume, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einräumt, unbestimmt. Es werden in diesem Zusammenhang die gegensätzlichen Begriffspaare vom „Letztinterpreten“ und Erstadressaten“ der Verfassung1600 sowie einer „explika­ti­ ve[n]“ und „ausfüllende[n]“ Anwendung der Verfassungsvorschriften relevant.1601 Ersteres beschreibt das Spannungsfeld, in dem auf der einen Seite das Bundesverfassungsgericht „Letztinterpret“ einer Verfassung ist, die (in ihrem hochpolitischen Regelungsgehalt1602) Vorrang und Verbindlichkeit gegenüber dem einfachen Gesetzgeber beansprucht und sich die Verfassung auf der anderen Seite in ihrer Unbestimmtheit dem Parlament als „Erstadressaten“ zur einfachgesetzlichen, ggf. quantifizierenden Ausgestaltung und rechtspolitischen Entscheidung öffnet. Der Vorrang der Verfassung darf nicht „überstrapaziert“ werden, indem dem Verfassungsgesetzgeber sowie dem Bundesverfassungsgericht ein Vorrang im Verhältnis zum Gesetzgeber zugesprochen wird.1603 Die Unterscheidung zwischen einer „explikativen“ und „ausfüllenden“ Verfassungsanwendung bemüht sich um eine Auflösung dieses Spannungsfelds. Ihr liegt die Überlegung zu Grunde, dass die Rolle des Parlaments als politischer Entscheidungsträger nur gewahrt werden kann, wenn eine rechtspolitische Betätigung des Bundesverfassungsgerichts und Spielräume für die verfassungsgerichtliche Dezision möglichst unterbunden werden. Dem Bundesverfassungsgericht kommt demnach nur eine „explikative“ Interpretation der Verfassungsvorgaben zu. Die „ausfüllende“ Konkretisierung unbestimmten Verfassungsrechts sei in erster Linie Sache des Gesetzgebers.1604 Problematisch bleibt, dass es sich bei beiden Begriffspaaren nicht um eindeutige Kriterien handelt, die ein klares Verdikt über die Methoden- oder Kompetenzgerechtigkeit der Quantifizierungstypen ermöglichen. Das Abgrenzungsproblem wird von den Entscheidungsrationalitäten nur auf alternative Perspektiven verlagert. Auch das Konzept des „judicial self restraint“ hilft zur Beurteilung der Verfassungskonformität der Quantifizierungen nicht weiter. Es verweist auf eine Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts in Verfahren mit politischem Einschlag und bei der verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung, birgt aber ebenfalls keine subsumtionsfähigen Kriterien. Sein Inhalt bleibt angesichts einer ex definitione politischen Verfassung ebenso unklar wie die soeben erörterten a­ lternativen­ 1600

Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S.  2, vgl. auch S.  3, 17, 30; Paul­ Kirchhof spricht vom „Erst-“ und „Zweitadressaten“ eines Rechtssatzes der Verfassung. Ders., Gleichheit in der Funktionenordnung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 125 Rn. 24 ff. 1601 Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 37. 1602 Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, S. 12: „Das Staatsrecht hat ja im Grunde gar keinen anderen Gegenstand als das Politische.“ 1603 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 18 (Zitat ebd.). 1604 Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 37.

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Abgrenzungskriterien. Seine pauschale Aktivierung zu Gunsten eines Kompetenzvorbehalts des einfachen Gesetzgebers verkennt, dass sich der Verfassungsrichter einer Pflicht zur Entscheidungsfindung ausgesetzt sieht.1605 Letztlich hängen der methodische Anspruch und die kompetenziellen Grenzen, die das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht auferlegt, von Existenz und Umfang eben dieses Zwangs zur Entscheidung ab.1606 Er ist der archimedische Punkt1607 innerhalb1608 des Verfassungsrechtssystems, der im beweglichen „Gefüge von“ „Verfassungsinterpretation  – Verfassungsverständnis  – Umfang des inhaltlichen Gehalts der Verfassung – Kompetenzumfang des Bundesverfassungsgerichts“ „einen Halt“ gibt.1609 Die Notwendigkeit einer Entscheidung beantwortet die Frage nach der Entscheidungsmethodik und -instanz eindeutig. Dies gilt auch für die Quantifizierung. Für deren Methoden- und Kompetenzgerechtigkeit kommt es darauf an, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht zur numerischen Entscheidung gezwungen ist. Es ist dann nicht nur das unvermeidbar hohe Maß bundesverfassungsgerichtlicher Dezision aus Verfassungssicht methodengerecht, auch Befürchtungen eines Übergriffs in legislative Kompetenzen wird der Boden entzogen. Die Pflicht zur Entscheidung und ein hieraus resultierendes konsequentes Denken vom Streitgegenstand her setzen sich gegenüber dem aus der gesetzlichen Bindung resultierenden methodischen Anspruch einer rationalen richterlichen Entscheidungsfindung und der für eine erste Kompetenzabgrenzung herangezogenen typischen Entscheidungsrationalität der Judikative durch. Es gilt in diesem Fall für die Judikative ein „Verbot des Grenzenlosigkeitsschlusses: aus der Schwierigkeit, eine [numerische] Grenze zu erkennen, zu folgern, dass es keine [numerische] Grenze gebe.“1610 Wenn das Bundesverfassungsgericht zu Quantifizierungen gezwungen ist, die methodisch nicht begründbar sind und daher im Wege einer atypischen Entscheidungsrationalität ergehen, bedeutet dies ein Quantifizierungsdilemma, das durch den Entscheidungszwang sogleich einseitig zu Gunsten der Entscheidungskompetenz des Gerichts aufgelöst wird. Er enthüllt die Justiz als Zentrum des Verfassungsrechtssystems und verortet die Parlamente in der Peripherie.1611 Die Binnendifferenzierung des Rechtssystems in Zentrum und Peripherie bedeutet gleichwohl keine die überkommene Vorstel 1605

Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 505; Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 34. 1606 Zur verfassungsnormativen Anerkennung der Dezision als methodischer Konsequenz des Rechtsverweigerungsverbots B. IV. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1607 „Daß Gerichte entscheiden müssen, ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion des juristischen Universums, für das Rechtsdenken, für die juristische Argumentation.“ Niklas­ Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 317. 1608 Vgl. Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (43). 1609 Anders Rainer Wahl, nach dem der „archimedische Punkt“ noch nicht gefunden ist. Ders., Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (505, Zitate ebd.). 1610 Josef Isensee, Zeitlicher Anfang des Rechts auf Leben: Der grundrechtliche Schutz des Embryos (2002), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 33 (47). 1611 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 321 ff.

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lung einer legislativen Weisungsautorität1612 umkehrende Hierarchie im Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgeber.1613 Tatsächlich kann die Vorstellung einer hierar­chischen Struktur auch aufrechterhalten werden, wenn die Gerichte uneingeschränkt zur Entscheidung gezwungen sind. Sie ordnen sich mangels positiver Verankerung ihrer Pflicht zur Entscheidung allein nicht dem Gesetzgeber, sondern der Eigenlogik des Rechtssystems unter. Den Gerichten, die gezwungen sind unablässig an sich Unentscheidbares zu entscheiden, obliegt zugleich die Verdeckung und Auflösung der Paradoxie des Rechtssystems.1614 Es ist das Rechtsverweigerungsverbot, das – auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht – einen solchen Zwang zur Entscheidung statuiert. Es verpflichtet das Gericht zu entscheiden und ist vom Justizgewährungsanspruch zu unterscheiden, der ihm vorgeordnet und darauf gerichtet ist, dass es sich überhaupt mit einem Rechtsstreit befasst.1615 Während ein Justizgewährungsanspruch partiell ausdrücklich durch das Grundgesetz normiert ist (Art. 19 Abs. 4 GG), allgemein als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips angesehen wird1616 und jedenfalls auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht besteht,1617 findet das Rechtsverweigerungsverbot 1612

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 302 ff. Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 323. 1614 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 320 („Wenn es zutrifft, daß den Gerichten die Aufgabe zufällt, das Rechtssystem zu entparadoxieren, wie es mit dem Verbot der Justizverweigerung verlangt und zugleich getarnt wird, sprengt dies die Möglichkeit, die Differenzierung des Rechtssystems als Weisungshierarchie zu beschreiben.“); Benjamin ­Lahusen/ Moritz Renner, Gespenster zweiter Ordnung, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hrsg.), Soziolo­ gische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 69 (73). 1615 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (44); Hans-Jürgen Papier, Justizgewähranspruch, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 12 ff.; Ekkehard Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 1968, S. 79 (79 f.). Jan Schröder verortet die Anerkennung der Rechtsschöpfung durch den Richter, der bei lückenhaften normativen Vorgaben zur Entscheidung verpflichtet ist, rechtshistorisch in der Zeit von Interessensjurisprudenz und Freirechtslehre in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ders., Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 305 f. Siehe auch die Ausführungen unter A. II. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1616 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (40); Hans-Jürgen Papier, Justizgewähranspruch, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 1 ff.; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 570 f.; Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art.  20 Rn.  164. Zum Teil  wird ein gewohnheitsrechtlich geltendes Rechtsverweigerungsverbot angenommen. So Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 4. Aufl. 2008, S. 505. 1617 Nach Art.  19 Abs.  4 GG ist das Bundesverfassungsgericht Bürgern gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt zu Rechtsschutz verpflichtet. Direkt auf Betreiben eines Individuums entscheidet das Bundesverfassungsgericht nur im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Staatliche Organe oder Teile derselben können sich nach überwiegender Auffassung zwar nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG, aber auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch berufen. Durchweg entscheidet das Bundesverfassungsgericht nur in den ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Fällen. Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 48; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 19 Rn. 2, § 20 Rn. 20, 23 ff. 1613

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anders als sein historischer Vorläufer, Art. 4 des Code Civil („Le juge, qui ­réfusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de dénui de justice.“),1618 keine ausdrückliche Erwähnung. Es versteht sich gleichfalls nicht von selbst,1619 sondern ist „Eigenleistung des Rechtssystems“.1620 Es ergibt sich daraus, dass die Methodenlehre (neben den rudimentären gesetzlichen methodischen Vorgaben1621) die Rechtsfindung durch den Richter, hierzu gehören insbesondere die unklaren Fälle, anleitet. Die Reflexion über das „wie“ setzt aber das „ob“ immer schon voraus.1622 Das Rechtssystem hat sich das Rechtsverweigerungsverbot selbst ein­ geschrieben, es „befiehlt [„sich selbst“], was es tun muss“.1623 Das Rechtsverweigerungsverbot ist Zeichen der „Autonomie“ des Rechtssystems, umso mehr als es die eigene Autopoeisis gewährleistet und eine autologische Ausdifferenzierung bewerkstelligt.1624 Sofern der Entscheidungszwang eine Kompetenzverschiebung zu Gunsten des Bundesverfassungsgerichts bewirkt, ist dies also Folge der Sachlogik des Verfassungsrechts­systems, das – sich selbst beobachtend – die eigene Rechtsgewinnung methodisch reflektiert, nicht einer grundgesetzinternen Normenhierarchie.

C. Problematische Fälle verfassungsgerichtlicher Quantifizierungen: Atypische Entscheidungsrationalität bei fehlendem Entscheidungszwang Auf der Grundlage der Beispiele aus der Rechtsprechung und anhand der verschiedenen Quantifizierungstypen soll nachgezeichnet werden, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht zur Quantifizierung gezwungen ist bzw. in welchen Fällen die Quantifizierungen jedenfalls verfassungsrechtlich problematisch 1618 Petra Gehring, Kraft durch Form, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil, 2003, S. 57 (69). Zum historischen Hintergrund des Rechtsverweigerungsverbots eingehend Ekkehard Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 1968, S. 79 (80 ff.). 1619 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (44 ff.). 1620 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S.  37 (49, Zitate ebd.). Ekkehard Schumann geht auch hinsichtlich des Rechtsverweigerungsverbots von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung aus. Ders., Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 1968, S. 79 (92). 1621 Hierzu unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1622 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (50): „Einer Methodenlehre bedarf es nur unter der Bedingung des Entscheidungszwangs.“ 1623 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (49, Zitate ebd.). 1624 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 307; Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 37 (49 f., Zitat S. 49).

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sind. Es müssen insbesondere die vergleichsweise präzisen, die unmittelbaren, die autonomen und positiven bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen in den Blick genommen werden, denn sie laufen einer idealen (verfassungs-)gerichtlichen Entscheidungsrationalität zuwider. Ob ihr Dezisionismus einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich geforderte Methodik und die Kompetenzordnung des Grundgesetzes bedeutet, darüber entscheidet allein die Reichweite des Entscheidungszwangs des Bundesverfassungsgerichts. Er grenzt die zulässige Konkretisierung von der unzulässigen Rechtsetzung ab. Es kann aber nicht pauschal die Vereinbarkeit jeder Quantifizierung mit der Verfassung angenommen werden, soweit nur der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet ist. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet konkrete Fälle.1625 Grundsätzlich gilt: Im Falle nicht numerisch bestimmter Verfassungsvorgaben auf der einen Seite und der Notwendigkeit konkreter Rechtsfolgen zur ­Lösung eines zahlengeprägten Konfliktfalls auf der anderen Seite, ist das Bundesverfassungsgericht gezwungen, zu quantifizieren.1626 Es kommt aber auch darauf an, inwiefern das Bundesverfassungsgericht seiner Pflicht zur Entscheidung nachkommen und einer Quantifizierung dennoch entgehen kann. (Ausweich-)­Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts könnten darin bestehen, einen untätigen Gesetzgeber zur Quantifizierung zu zwingen und/oder zu einer verfassungskonformen Entscheidung anzuleiten. Auch sofern es sich bei den Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts um obiter dicta handelt, müssen diese nicht unbedingt den Methoden- und Kompetenzanforderungen des Grundgesetzes zuwiderlaufen. Es sind immer auch mögliche Rechtfertigungsgründe in den Blick zu nehmen, nach denen ein Abweichen des Gerichts von seiner strikten Orientierung an der konkreten Streitentscheidung zulässig sein könnte. Soweit die Quantifizierungen dem Entscheidungszwang des Bundesverfassungsgerichts geschuldet oder gerechtfertigt sind, sind die – vergleichsweise präzise, unmittelbar, positiv und autonom – festgelegten Zahlen auch „richtig“, denn andere (Verfassungs-)Richter hätten ebenso entschieden.1627

1625 In Bezug auf den steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz Andreas v. Arnauld/ Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 16. Siehe außerdem Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (164, 167). 1626 Vgl. Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 10 f. Im Zusammenhang einer Höchstgrenze für die Steuerbelastung Klaus Vogel/Christian ­Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999, Rn. 546; Klaus Vogel, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1258). 1627 Zur „Richtigkeit“ als Kriterium der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierung siehe die Ausführungen unter D. im 4. Kapitel des dritten Teils.

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I. Kriterien für die Abgrenzung von Entscheidungszwang und obiter dictum Es muss also untersucht werden, ob die Quantifizierungen dem Entscheidungszwang des Bundesverfassungsgerichts unterliegen oder es sich um sogenannte obiter dicta handelt. Das Bundesverfassungsgericht sucht dann mit Ausführungen außerhalb der Gründe für die Entscheidung Einfluss zu nehmen, in den meisten Fällen auf eine (verfassungskonforme)  Neuregelung des Gesetzgebers.1628 Die Gründung der Verfassungskonformität der Quantifizierung auf den Gegensatz von Entscheidungszwang und obiter dictum harmoniert insoweit mit der Abgrenzung der Kompetenzen von (Verfassungs-)Gericht und Parlament nach deren idealen Entscheidungsrationalitäten als im Regelfall nur den (Verfassungs-) Gerichten ein Entscheidungszwang obliegt. Obiter dicta, die weder der Entscheidung des konkreten Streitgegenstands dienen noch sich im Rahmen des Antrags des Klägers bewegen, fügen sich in deren Entscheidungsidealität nicht ein.1629 Sie sind unabhängig davon, welche Rechtsfrage anhand welcher Maßstäbe und mit welcher Präzision entschieden wird, tendenziell methodisch problematisch, denn die Methodengeleitetheit gerichtlicher Entscheidungen bedeutet ihre so weit als mögliche Rationalisierung.1630 Jedenfalls die Plausibilisierung1631 der obiter dicta ist jedoch mangels eines unmittelbaren Sachverhaltsbezugs von vornherein erschwert.1632 Die kompetenzielle Problematik der obiter dicta liegt nicht allein in der Anmaßung einer einfachgesetzlichen Entscheidungsidealität durch das Verfassungsgericht begründet. Entscheidend ist, dass sie im Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber, der im Einklang mit den Verfassungsvorgaben handeln muss und beim Normerlass die Kontrolle des die Verfassung verbindlich auslegenden Verfassungsgerichts immer schon antizipiert, (tatsächliche) Bindungswirkung entfalten.1633 In einem Sondervotum Gertrude Lübbe-Wolffs verdichtet sich die kompetenzielle und methodische Kritik am Bundesverfassungsgericht, das obiter dictum entscheidet: „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.“1634

1628

Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 253 ff.; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 244 f. 1629 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 256 f.; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 248 f. 1630 Siehe die Ausführungen unter B. III. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1631 Vgl. hierzu unter C. II. 3. im 4. Kapitel des dritten Teils. 1632 Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 248, 251. 1633 Eine rechtliche Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt ihnen hingegen nicht zu. Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 244 ff. 1634 BVerfGE 112, 1 (44)  – Sondervotum Lübbe-Wolff. Im konkreten Fall stand in Frage, ob es verfassungsgemäß war, nach der Wiedervereinigung Rückübertragungen des durch die­

6. Kap.: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen

459

Die Abgrenzung der Entscheidungsgründe von den obiter dicta ist jedoch in der Regel problematisch.1635 Dies liegt an der Errichtung einer Maßstabsebene in den Entscheidungsbegründungen und der gestuften Konkretisierung der Verfassungsvorgaben durch das Bundesverfassungsgericht,1636 deren Abstraktion vom zur Entscheidung gestellten Streit auch zu einem Plausibilitätsgewinn führen kann und nicht notwendigerweise eine Verortung außerhalb des Entscheidungszwangs bedeutet.1637 Christoph Gusy konstatiert: „Unzulässige obiter dicta sind zumindest alle Ausführungen, die auf die Gewinnung von Obersätzen abzielen, an denen die überprüfte Norm nicht gemessen wird oder gemessen zu werden braucht.“1638 Das Bundesverfassungsgericht kann dann „auch das Gegenteil des Behaupteten vertreten […], ohne dass dies für das Entscheidungsergebnis von Belang […] wäre.“1639 Jenseits der unterschiedlichen Entscheidungsrationalitäten erfasst der Entscheidungszwang außerdem nur verfassungsgemäße Ausführungen des Gerichts.1640 Bei einer Verfassung, die als Rahmenordnung zu verstehen ist, und angesichts einer verfassungsgerichtlichen Entscheidungsidealität, deren Rechtsbindung der parlamentarischen Gestaltungsfreiheit entgegengesetzt ist, liegt die Einordnung der Quantifizierung als obiter dictum näher als deren Unterordnung unter den Entscheidungszwang.1641 Entgegen der allgemeinen Schwierigkeit, obiter dicta in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auszumachen, könnten jedenfalls einige Quantifizierungen eindeutig nicht dem verfassungsgerichtlichen Entscheidungszwang unterfallen. Uwe Volkmann beklagt eine intensivierte Verletzung parlamentarischer Entscheidungskompetenzen durch die relative und absolute­ ehemalige sowjetische Besatzungsherrschaft enteigneten Grundbesitzes auszuschließen und eine Restitution einzuschränken. Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine völkerrechtliche Be­urteilung der Enteignungen in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone vor und setzt sich mit den Folgen für die Bundesrepublik Deutschland auseinander. 1635 Exemplarisch sei auf die Auseinandersetzungen um die Erforderlichkeit der Aufstellung eines steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes im Rahmen der konkreten Normenkontrolle von § 10 Nr. 1 des Vermögensteuergesetzes (BVerfGE 93, 121) verwiesen. Bejahend Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (21); Klaus Vogel, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 (1257 f.). Ablehnend und damit ein obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts annehmend BVerfGE 93, 121 (150) – Sondervotum Böckenförde; Joachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (457 f.); Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (180, 185). 1636 Siehe hierzu die Ausführungen unter A. I. 2. im 3. Kapitel des dritten Teils. 1637 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 257 ff. 1638 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 258. Siehe hierzu im Einzelnen ebd., S. 258 ff. 1639 BVerfGE 112, 1 (47) – Sondervotum Lübbe-Wolff. 1640 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259 f. 1641 Vgl. Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 256.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

numerische Begrenzung der direkten Parteienfinanzierung, denn es werde nicht nur vom konkreten Streitgegenstand abgesehen, sondern „das Grundgesetz in immer kleinere Münze um[ge]wechsel[t] und aus seinen bloßen Rahmenbestimmungen immer subtilere Schlüsse“ gezogen.1642

II. Fokus: Das Quantifizierungsdilemma beim steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatz Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz soll im Mittelpunkt der Ausführungen zu den problematischen Fällen bundesverfassungsgerichtlicher Quantifizierungen stehen, denn es sind in diesem Zusammenhang die wesentlichen Fragen betreffend Existenz und Reichweite einer Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts zur Quantifizierung im Sinne des soeben dargestellten Entscheidungszwangs aufgeworfen. Beim Halbteilungsgrundsatz als unmittelbarer Quantifizierung gilt es zu erörtern, ob das Bundesverfassungsgericht auf mittelbare Quantifizierungen ausweichen und dann jenseits einer expliziten und abstrakten Belastungsobergrenze über die zulässige Steuerbelastungsintensität entscheiden kann. Dass das unmittelbar quantifizierende Bundesverfassungsgericht in einigen Fällen seiner Entscheidungsverpflichtung bereits im Wege mittelbarer Quantifizierungen gerecht würde, erschließt sich anhand des Urteils zur 7,5 %-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Wahlgesetz vom 5. April 1952 (BVerfGE 1, 208). Das Gericht zeichnet dort allgemein den verfassungsgemäßen Verlauf von Sperrklauseln nach („in der Regel […] nicht über 5 %“1643), obschon es zur Entscheidung des konkreten Falls ausreichen würde, die zur Überprüfung stehende 7,5 %-Sperrklausel jedenfalls als nicht mehr verfassungsgemäß zu kennzeichnen.1644 Mittelbare Quantifizierungen der Steuerbelastung könnten dem Gericht indes wegen der Spezifika des in Rede stehenden Sachbereichs verschlossen und für einen Zwang zur unmittelbaren Quantifizierung auch die Untätigkeit des zur Quantifizierung vorrangig berufenen parlamentarischen Gesetzgebers sprechen. Der Zwang zur Entscheidung könnte das Bundesverfassungsgericht dann zu einer gewissen Präzision bei der unmittelbaren Quantifizierung zwingen und dessen Ausweichmöglichkeit auf die Nachzeichnung unbestimmter Bandbreiten einschränken. Vor der Erörterung etwaiger Rückzugsmöglichkeiten auf eine mittelbare Quantifizierung gilt es festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht den maximalen Steuerzugriff des Staates jedenfalls – sei es unmittelbar oder mittelbar – quantifizieren muss. Die Steuerbelastung ist wegen des steuerverfassungsrechtlichen Übermaßverbots begrenzt und die Last öffentlicher Abgaben an Art.  14 Abs.  1

1642

Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S. 325 (333, Zitat ebd). 1643 BVerfGE 1, 208 (256). 1644 Siehe die Ausführungen unter B. I. 1. im 2. Kapitel des dritten Teils.

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Satz 2 GG, jedenfalls am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen:1645 „Irgendwo, spätestens beim vollständigen Entzug des Einkommens, muß eine Belastungsgrenze verlaufen, deren Überschreitung aus grundrechtlicher Sicht nicht mehr hingenommen werden kann.“1646 Weil die Steuerlast in Geld und damit in Zahlen bestimmt wird, muss es sich bei dieser Belastungs- um eine numerische Grenze für den Steuerzugriff handeln. In der Verfassung wird sie nicht explizit normiert. Wenn das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der Steuerbelastungshöhe im konkreten Fall entscheidet, muss es die ihm an Stelle von Zahlen vorgegebenen unbestimmten Verfassungsbestimmungen daher quantifizieren.1647 1645

Die Auseinandersetzung um das einschlägige Grundrecht lässt sich darauf zurückführen, dass im Grundgesetz der Maßstab der Besteuerung nicht ausdrücklich bestimmt wird. Eine steuerspezifische Modifikation der Eigentumsgarantie wird im Parlamentarischen Rat zwar diskutiert, bleibt aber ohne Mehrheit. Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 81 f. Nach dem objektbezogenen Eigentumsbegriff, den auch nach BVerfGE 93, 121 weiterhin der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts vertritt, ist der Schutzbereich des Art.  14 Abs.  1 Satz 2 GG durch die Auferlegung öffentlicher Abgaben nicht berührt. Art. 14 GG schütze nicht das Vermögen als solches. Allein übermäßige, erdrosselnde Abgaben verletzten die Eigentumsgarantie. Der Pflichtige dürfe nicht „übermäßig belaste[t] und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtig[t]“ werden. BVerfGE 14, 221 (241, Zitat ebd.); 63, 312 (327); 68, 287 (310 f.); 95, 300; 96, 397. Dieser Rechtsprechungslinie wird vor allem ihr Ausscheren aus der Grundrechtsdogmatik des deutschen Verfassungsrechts vorgeworfen, denn die Missachtung des Grundrechts soll über die Einschlägigkeit des Schutzbereichs entscheiden. Siehe nur Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn.  117 m. w. N. A. A. Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97  – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (779 f.). In BVerfGE 93, 121 u. 115, 97 misst das Bundesverfassungsgericht den Steuerzugriff auch jenseits der Erdrosselung am Maßstab des Art. 14 GG. Siehe dazu die Ausführungen zu den jeweiligen Entscheidungen unter A. II. 1. im 2. Kapitel des dritten Teils. Es ist nicht nur die Prüfungsnorm für die steuerliche Höchstbelastung, sondern auch der konkrete Ansatzpunkt für eine (unmittelbare/mittelbare) Quantifizierung umstritten. Das Bundesverfassungsgericht quantifiziert in BVerfGE 93, 121 Art. 14 Abs. 2 GG und bezieht sich auf das Spannungsverhältnis von Privatnützigkeit und Sozialpflichtigkeit. Die Literatur interpretiert dies zum Teil als unmittelbare Quantifizierung des Begriffs „zugleich“ und der angemessenen, d. h. verhältnismäßigen Steuerbelastung. So Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef­ Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 124 ff. 1646 Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151. 1647 In Bezug auf den Halbteilungsgrundsatz Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art.  104a bis 115 GG), 1999, Rn.  546 („Daß die dem Bundesverfassungsgericht aufgegebene Konkretisierung in bestimmten Fällen bis zu deren Quantifizierung geht, ist nicht zu vermeiden […]; die Quantifizierung gehört dann zu den verfassungsmäßigen Aufgaben des Gerichts.“); Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151; Joachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (458): „Wer nämlich beanstandet, dass sich dem Grundgesetz eine quantitative Größe wie die Halbteilung nicht entnehmen lasse, der wird

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Bei der mittelbaren wird im Gegensatz zur unmittelbaren Quantifizierung eine allgemeingültige Belastungsobergrenze nur implizit relevant und bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Steuerbelastung im Einzelfall indirekt und punktuell konkretisiert. Entgegen der Entscheidung vom 18. Januar 2006 (BVerfGE 115, 97) kann das Bundesverfassungsgericht von der Festlegung einer allgemeinen numerischen Grenze wie dem Halbteilungsgrundsatz, der die Steuerbelastung für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen limitiert, jedoch nicht absehen und auf die kompetenziell unproblematischere mittelbare Quantifizierung der maximal zulässigen Belastung ausweichen. Dem stehen Spezifika des betroffenen Sachbereichs der Verfassung entgegen. Im Steuerrecht läuft der Mechanismus, Grundrechtseingriffe des Staates über die Schranken-Schranke einer traditionellen Verhältnismäßigkeitsprüfung einzuhegen, leer. Es fehlt ein „abwägungstaugliche[s] Ziel“, denn der Zweck von Steuergesetzen, die Erzielung von staatlichen Einnahmen, ist „maßlos“.1648 Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung kann zwischen dann einräumen müssen, dass sich auch die Grenze konfiskatorischer Besteuerung nicht quantifizieren lässt.“ Lang plädiert für eine Konkretisierung des Erforderlichkeitsprinzips zum Halbteilungsgrundsatz. Methodische Begründungsschwierigkeiten begegnet er mit dem Verweis auf die „Kompetenz des BVerfG zu[r] Verfassungsinterpretation“ („Lässt sich so ein Halbteilungsgrundsatz begründen? […] Vielmehr greift hier im Abwägungsrahmen des freiheitsrechtlichen Übermaßverbots die Kompetenz des BVerfG zu Verfassungsinterpretation Platz, da sich eine Obergrenze der Steuerbelastung nicht abstrakt, sondern nur numerisch festlegen lässt.“, S. 460). Alle Autoren differenzieren bei der Annahme eines Entscheidungszwangs zur Quantifizierung nicht hinreichend zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Quantifizierung (Aufstellung einer abstrakten Steuerbelastungsgrenze und Überprüfung der steuerlichen Belastungshöhe im konkreten Fall). 1648 Hans-Jürgen Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 76 ff.; ders., Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, S. 787 (792 f.); Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef I­ sensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn.  119 (Zitate ebd.). Über das Fehlen eines der Abwägung zugänglichen Ziels geht neben dem Verfassungsgericht in BVerfGE 115, 97 auch Joachim Lang hinweg, wenn er für eine bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung des Erforderlichkeitsprinzips zum Halbteilungsgrundsatz plädiert. Ders., Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, S. 457 (459 f.). Im Gegensatz zum allgemeinen Ziel der Finanzierung des Staates durch Steuern sind die im Staatshaushalt konkret verfolgten Finanzierungszwecke zwar abwägungstauglich, der Durchgriff auf sie kommt aber nicht in Betracht. Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes verlangen, Einnahmen und Ausgaben im Haushalt getrennt zu betrachten. Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 119. A. A. Hans Herbert v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 286 (insb. S. 311 ff.); Michael Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Besteuerung, DVBl. 2006, S.  480 ff. Eine Mäßigung der staatlichen Steuergewalt kann auch nicht institutionell erreicht werden. Die institutionelle Einhegung ist typisch für die konstitutionelle Monarchie. Im Konstitutionalismus führt der Antagonismus zwischen kostenverursachender monarchischer Exekutive und der das Bürgertum repräsentierenden Volksvertretung zu einer Begrenzung staatlichen Steuerzugriffs – Steuer­gesetze bedürfen kraft Gesetzesvorbehalts der parlamentarischen Zustimmung. In der parlamentarischen Demokratie kann dieser Mechanismus angesichts einer monistischen Legitimationsgrundlage nicht mehr funktionieren. Christian Waldhoff/Hanka v. Aswege, Direkte Demokratie und

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den gegensätzlichen Funktionen des Steuerverfassungsrechts, der Legitimation der staatlichen Einnahmenerzielung durch Steuern und der Mäßigung des Steuerzugriffs zum Schutz des Steuerpflichtigen, nicht vermitteln.1649 Bei der Überprüfung der einfachgesetzlich vorgesehenen Verschonung von der Steuerpflicht umgeht das Bundesverfassungsgericht die Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Aufstellung einer absoluten Untergrenze, nämlich die Kopplung des steuerverfassungsrechtlichen Existenzminimums an den sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf. Sie bedeutet nicht in jedem Falle eine unmittelbare Quantifizierung. Dieser Weg steht dem Bundesverfassungsgericht bei der Bestimmung der zulässigen steuerlichen Höchstbelastung nicht offen. Das Scheitern der (modifizierten) Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Ablehnung eines allgemeinen steuerverfassungsrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes in der Entscheidung vom 18.  Januar 2006 (BVerfGE 115, 97) ist an den methodischen Begründungsdefiziten bei der Kennzeichnung der konkreten Steuerbelastung als verfassungsgemäß erkennbar. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Wege der Aufstellung einer allgemeingültigen Belastungsobergrenze über die Verfassungsmäßigkeit der individuellen Steuer­ belastung befindet, handelt es sich mangels Ausweichmöglichkeiten auf eine mittelbare Quantifizierung daher grundsätzlich nicht um ein obiter dictum1650 und der Entscheidungszwang überwindet ihre methodische Unbegründbarkeit sowie Staatsfinanzkrise – Abschaffung der Finanztabus als Ausweg?, in: Lars P. Feld u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2011, S. 9 (10 f. m. w. N.). Alternativ zum Maßstab eines verhältnismäßigen Steuerzugriffs im Rahmen der Grundrechtsprüfung wird die Eignung innerstaatlichen Steuerwettbewerbs zur Begrenzung der Steuerbelastung diskutiert. Hierzu ­Johanna Hey, Steuerwettbewerb in Deutschland, in: Paul Kirchhof/Otto Graf Lambsdorff/Andreas­ Pinkwart (Hrsg.), Perspektiven eines modernen Steuerrechts, Festschrift für Hermann Otto Solms, 2005, S. 35 ff.; Paul Kirchhof, Das Wettbewerbsrecht als Teil einer folgerichtigen und widerspruchsfreien Gesamtrechtsordnung, in: ders. (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 1 (insb. 4 ff.); Stefan Oeter, Erprobung der Konstitutionellen Politischen Ökonomie an Einzelfragen – Föderalismus, in: Christoph Engel und Martin Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 119 ff.; Christian Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), S. 216 ff.; Joachim Wieland, Steuerwettbewerb in Europa, EuR 2001, S. 119 ff. 1649 Zur Mäßigung der Steuergewalt Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 6 ff.; zur Schutzfunktion des Finanzverfassungsrechts Rainer Wernsmann, BVerfGE 115, 97  – Halbteilungsgrundsatz, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 776 (777). 1650 Der Entscheidungszwang zur unmittelbaren Quantifizierung setzt sich über die Kompetenzabgrenzung nach den Entscheidungsrationalitäten hinweg. Dies übersehen Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 21: „Those who decide on tax policy should engage in a dialogue with economic science. For this dialogue, government (via the ministerial bureaucracy) and parliament are better equipped than a court that is meant to decide according to the law, and on a case-by-case basis. Therefore, the Second Senate’s new line of jurisdiction points into the right direction: Not only does it refrain from arbitrarily creating numbers; by connecting the level of taxation with the burden of argument, it also puts pressure on the tax legislator to comprise scientific expertise into the legislation process.“

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atypische Entscheidungsrationalität. Die weitere Analyse von problematischen Quantifizierungsbeispielen wird zeigen, dass es sich insoweit um eine Ausnahme unter den unmittelbaren Quantifizierungen des Bundesverfassungsgerichts handelt. Allein im Beschluss vom 22. Juni 1995 (BVerfGE 93, 121) ist der Halbteilungsgrundsatz obiter dictum. Dies liegt daran, dass es auf eine Grenze für die Steuerbelastung bei der Entscheidung über den konkreten Streitgegenstand gar nicht erst ankommt.1651 Andernfalls hätte ein Entscheidungszwang zur unmittelbaren Quantifizierung zur Zeit des Vermögensteuerbeschlusses auch Unterstützung im sozial-politischen Kontext gefunden. Dem Halbteilungsgrundsatz geht eine defizitäre Aufgabenwahrnehmung durch den einfachen Gesetzgeber voraus, der eine wirksame Begrenzung der Steuerbelastung und Reform des komplex verästelten Steuersystems versäumt. Die Übernahme einer genuin legislativen Entscheidungsrationalität bei der Formulierung des Halbteilungsgrundsatzes hätte daher auch Ausgleichsleistung des Bundesverfassungsgerichts sein können,1652 ohne dass damit etwas über die allgemeine Zulässigkeit der Wahrnehmung von Komplementärfunktionen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Legislative gesagt ist. Die Festlegung des Bundesverfassungsgerichts auf eine unmittelbare Quantifizierung der maximal verfassungsgemäßen Steuerbelastung wirft die Folgefrage auf, mit welcher Präzision es quantifizieren muss. Dem Bundesverfassungsgericht steht eine unmittelbare Quantifizierung in Bandbreiten zur Abmilderung deren methodischer und kompetenzieller Brisanz nur begrenzt offen. Die Belastungsobergrenze für die Besteuerung kann zwar durch die Einräumung von Spielräumen für den Steuergesetzgeber flexibilisiert werden. Die Effektivität der Höchstbelastungsgrenze wird dadurch jedoch zwangsläufig geschwächt. Öffnet sich die Zahlengrenze auch für den Normalfall der Abweichung, ist der Unterschied zu einer nichtnumerischen Begrenzung kaum noch erkennbar und Rechtssicherheit kann mit einer in dieser Weise ausgestalteten Belastungsobergrenze nicht gewonnen werden.1653 Das Bundesverfassungsgericht kann auf eine Flexibilisierung 1651

Joachim Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW  2000, S.  457 (457 f.); Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß  – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 173 (180, 185). Zur Gegenansicht siehe Fn. 1635 im dritten Teil. 1652 Siehe Andreas v. Arnauld/Klaus W. Zimmermann, Regulating government (’s share): the fifty-percent rule of the Federal Constitutional Court in Germany, HSU Working Paper Series No. 100, März 2010, S. 4 ff.: „[…] von Arnim et al […] called for an ‚especially intensive control‘ by constitutional courts in times where competition between political parties is largely absent from a parliamentary system. The Federal Constitutional Court’s decision on the fiftypercent rule can be interpreted as following that line of thought: When the ‚cartel parties‘ were incapable of reform, levying over more burdens on the citizens and taxpayers, the Court had to step in as an auxiliary institution to defend the principals against their agents.“ (S. 5 f., Kursivsetzung durch Verf.). 1653 A. A. Tina Beyer, die auch bei einer flexibilisierten Belastungsobergrenze von einem Rechtssicherheitsgewinn ausgeht. Dies., Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151 f.

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j­edoch auch nicht völlig verzichten, denn der Steuergesetzgeber muss auf Änderungen im Finanzbedarf des Staates reagieren können. Es liegt hier das eigentliche Quantifizierungsdilemma des Bundesverfassungsgerichts bei der Begrenzung der steuerlichen Höchstbelastung begründet. Der Entscheidungszwang hilft über methodische Begründungsdefizite und die Abgrenzung der Gewalten nach deren Entscheidungsrationalitäten hinweg, der notwendige, aber unter Umständen unmögliche Ausgleich zwischen einem zu viel und zu wenig an Flexibilität der numerischen Grenze für die Steuerbelastung bleibt dem Bundesverfassungsgericht überlassen. Nach Ansicht Ernst-Wolfgang Böckenfördes sind „in Zahlen nachrechenbare Maßgaben, die“ der Abhängigkeit der „Steuersätze […] von wirtschaftlichen wie politischen Daten, die unter geschichtlichen Bedingungen stehen und sich ändern können“, „Rechnung tragen [überhaupt nicht] […] möglich […].“1654 Der Halbteilungsgrundsatz sieht eine Abweichungsmöglichkeit nur für den Extremfall der „staatlichen Ausnahmelagen“ vor.1655

III. Weitere problematische Quantifizierungen und deren mögliche Rechtfertigung Zu den eingangs genannten besonders problematischen bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen gehören außerdem die Übergangsregelungen zum steuerlichen Ausgleich der Erziehungsleistungen im Rahmen eines Familienleistungsausgleichs,1656 die Festsetzung einer Mindestmehrbesoldung von Beamten ab dem dritten Kind,1657 die Kennzeichnung eines Quorums in Höhe von 0,5 % der Zweitstimmen als verfassungskonforme Bedingung der Wahlkampfkosten­ erstattung,1658 die relative und die absolute Grenze sowie die Übergangsregelung für die direkte staatliche Parteienfinanzierung,1659 die Bezifferung der zulässigen Anzahl ausgleichsloser Überhangmandate1660 und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Vergabe von Plätzen an ausländische Medienvertreter im „NSU-Prozess“.1661 Es handelt sich um unmittelbare, autonome und positive Quantifizierungen, deren methodische und kompetenzielle Problematik nicht durch den Entscheidungszwang des Gerichts aufgelöst wird. Die Quantifizierungen sind zur Entscheidung

1654

BVerfGE 93, 121 (157) – Sondervotum Böckenförde. BVerfGE 93, 121 (138). Hierüber geht Tina Beyer (Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 151 f.) hinweg. 1656 BVerfGE 99, 216 (244 f.). 1657 BVerfGE 99, 300 (321 f.). 1658 BVerfGE 24, 300 (342). 1659 BVerfGE 85, 264 (289 f., 291, 327 f.). 1660 BVerfGE 131, 316 (370). 1661 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. 1655

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des jeweiligen Streitgegenstands nicht erforderlich. Es liegen obiter dicta vor. Das Bundesverfassungsgericht verfügt (außerhalb der Übergangsregelungen) jedenfalls über Ausweichmöglichkeiten von den unmittelbaren (positiven) auf mittelbare (ggf. negative)  Quantifizierungen. Das Scheitern der Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf das zur Begründung der Verfassungskonformität einer unmittelbaren Quantifizierung der steuerlichen Höchstbelastung abgestellt worden ist, lässt sich nur bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der steuerlichen Belastungsintensität beobachten. Eine Abschwächung der methodischen und kompetenziellen Problematik tritt in den vorgenannten Fällen allein dadurch ein, dass die Quantifizierungen immer auch in Bandbreiten verlaufen. Etwas anderes gilt hinsichtlich der Vergabe zusätzlicher Plätze an Medienvertreter im „NSU-Prozess“ und für die in diesem Zusammenhang statuierte präzise Untergrenze sowie die übergangsweise getroffenen Quantifizierungen. Allein bei letzteren ist zu diskutieren, ob es sich um zwingende Folgeregelungen des Entscheidungsausspruchs handelt und das Bundesverfassungsgericht über eine Annex- bzw. Notkompetenz zur Regelung verfügt. Der Zwang des Gerichts zur Entscheidung wird im Gegensatz zu den sonstigen Quantifizierungsfällen bei der Begründung einer Entscheidungskompetenz des Gerichts, das womöglich an die Stelle des Gesetzgebers tritt, relevant und nicht bei der nachträglichen Auflösung ihrer kompetenziellen Problematik. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der (neben dem Halbteilungsgrundsatz) als besonders problematisch ausgemachten Quantifizierungen können verschiedene Fallgruppen unterschieden werden. Es werden mögliche Rechtferti­ gungsgründe der obiter dicta (unter 1. und 3.) bzw. eine ausnahmsweise Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur gesetzesvertretenden Entscheidung (unter 2.) erörtert. 1. Machtmissbrauch der etablierten Parteien Es existieren unmittelbare Quantifizierungen, die angesichts der Spezifika des betroffenen Sachbereichs gerechtfertigt sein könnten. Hierzu gehören die verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen der Verfassungsvorgaben für die Parteienfinanzierung. Es handelt sich in allen Fällen um obiter dicta: In der Entscheidung vom 3. Dezember 1968 (BVerfGE 24, 300) kennzeichnet das Bundesverfassungsgericht ein Mindestquorum von 0,5 % als Voraussetzung für die Wahlkampf­ kostenerstattung als verfassungskonform, obschon im konkreten Fall ein Quorum von 2,5 % in Streit steht.1662 Die relative und absolute Obergrenze der Parteienfinanzierung sind im Urteil vom 9. April 1992 (BVerfGE 85, 264) für die Prüfung

1662 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 259. So auch bereits Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 249, 252.

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der Verfassungsmäßigkeit des sog. Sockelbetrags bereits deshalb nicht relevant, weil deren Verletzung ebenso auf andere direkte Finanzierungsquellen der Parteien zurückzuführen sein könnte. Ein Einreißen der absoluten Obergrenze durch die der Entscheidung zu Grunde liegenden Finanzierungsregeln kommt auch gar nicht in Betracht, denn das Bundesverfassungsgericht stellt bei ihrer Errichtung auf den aktuellen Leistungsumfang ab.1663 Jedoch wird zum Teil eine erweiterte Kontrollintensität des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, wenn das Parlament in eigener Sache entscheidet. Peter Häberle spricht von „Insichgeschäft[en]“ des Parlaments bei der Gesetzgebung.1664 Aus diesem Grund könnte nicht nur die judikative Festlegung einer verfassungsgerechten Höhe von Sperrklauseln bzw. Anzahl an Überhangmandaten gerechtfertigt sein. Der Rechtsgedanke des Herrschaftsmissbrauchs greift mittelbar auch bei den vorgenannten unmittelbaren Quantifizierungen im Zusammenhang der Parteienfinanzierung. Es besteht die Gefahr, dass die Abgeordneten bzw. im Parlament etablierten Parteien die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Parteien- und Wahlrechts zur Herrschaftssicherung missbrauchen. Die gegenüber den mittelbaren Quantifizierungen weiterreichenden, bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsbefugnisse begegneten dem drohenden Machtmissbrauch. Es würde eine intensivierte Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts als Kompensation1665 anerkannt, um die Weite der materiellrechtlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben institutionell auszugleichen und eine effektive Einhegung der parlamentarischen Befugnisse zu gewährleisten. Die Überschreitung der verfassungsrechtlich vorgesehenen Kompetenzabgrenzung zwischen Verfassungsgericht und Parlament wäre gerechtfertigt. Dieser Gedanke ist bereits bei der verfassungsgerichtlichen Begrenzung der maximalen Steuerbelastung von Relevanz, denn für den Steuergesetzgeber stellt die Regierung in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes bei der Steuererhebung kein institutionelles Gegengewicht dar und eine materiellrechtliche Begrenzung kann über die (unkonkretisierten) Verfassungsvorgaben wegen deren Unbestimmtheit nicht erreicht werden.1666 Im Grundgesetz findet sich für eine solche Wächterfunktion des Bundesverfassungsgerichts indes kein Anhaltspunkt. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht wird als Gericht der Judikative zugeordnet und damit auch dessen ideale Entscheidungsrationalität im Grundsatz festgelegt.1667 Es ist daher Vorsicht geboten, seine Stellung über die in seiner Funktion als Verfassungsgericht angelegte 1663

Uwe Volkmann, Verfassungsrecht und Parteienfinanzierung, ZRP 1992, S.  325 (329, 333). 1664 Peter Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 (542 f., Zitat S. 542). 1665 Peter Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 (543). 1666 Siehe bereits soeben Fn. 1648 im dritten Teil. 1667 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (290).

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Mittlerposition hinaus vom Recht weiter zur Politik zu verschieben.1668 Dass es sich in den genannten Fällen um „delikate Konstellationen“ handelt, reicht nicht aus, um dem Bundesverfassungsgericht „über seine Kontrollkompetenzen hinaus positive Gestaltungsbefugnisse ein[zu]räum[en]“.1669 2. Untätigkeit des Gesetzgebers Einige der als besonders problematisch ausgemachten Quantifizierungen finden sich in Übergangsregelungen. Das Bundesverfassungsgericht könnte trotz der atypischen Entscheidungsrationalität ausnahmsweise zuständig für die Quantifizierungen sein. Zur Beurteilung der Methoden- und Kompetenzgerechtigkeit der Quantifizierungen ist nach der Art der Übergangsregelung zu differenzieren. Teils folgt die Quantifizierung auf die Nichtigerklärung einer Norm. Sie gilt dann übergangsweise bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber. Dies ist der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht den sog. Sockelbetrag bei der Parteienfinanzierung für nichtig erklärt, daher die abschlagsweise Erstattung der Wahlkampfkosten als endgültige Leistung gewährt und eine mögliche Erhöhung des Erstattungsbetrags numerisch regelt.1670 Teils gelten die Übergangsregelungen nur für den Fall, dass das Parlament nach einer Unvereinbarkeitserklärung des Gerichts keine fristgerechte Neuregelung trifft. Zu den nach Fristablauf übergangsweise zu gewährenden Leistungen gehören unter den als verfassungsrechtlich problematisch ausgemachten Quantifizierungen der Steuerfreibetrag zum Ausgleich von Erziehungsleistungen im Beschluss vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 216) und die Mindestmehrbesoldung von Beamten ab dem dritten Kind im Beschluss vom 24.  November 1998 (BVerfGE 99, 300). Das Bundesverfassungsgericht stützt nur die interimistisch zu gewährenden Besoldungsleistungen explizit auf § 35 BVerfGG und auch nur sie finden sich im Tenor der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung wieder.1671

1668 Vgl. Dieter Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 (21): „Dagegen liegt das Risiko einer effektiven Verfassungsgerichtsbarkeit darin, daß die Gerichte bei dem geringen Präzisionsgrad vor allem der materiellen Verfassungsnormen im Gewande von Verfassungsanwendung zu politischer Gestaltung übergehen und dadurch die demokratischen Verantwortungszusammenhänge und Funktionsbegrenzungen stören.“ 1669 Zurückhaltender insoweit Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 252: „In beiden Fällen [Regelung der Diäten im Abgeordnetengesetz und der Parteienfinanzierung im Parteiengesetz] handelt es sich allerdings insofern um delikate Konstellationen, als der parlamentarische Gesetzgeber in eigener Sache zu entscheiden hatte. Ob dieser Umstand aber dem BVerfG über seine Kontrollkompetenzen hinaus positive Gestaltungsbefugnisse einräumt, muß freilich bezweifelt werden.“ 1670 BVerfGE 85, 264 (326 ff.). 1671 Der Umstand, dass die Vollstreckungsmaßnahme Bestandteil des Tenors ist, bedeutet nicht deren Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 BVerfGG. Hierzu Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 242.

6. Kap.: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen

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Die im Wesentlichen „gegriffenen“1672 Quantifizierungen der vorgenannten Fälle durchbrechen für sich genommen die Entscheidungsrationalität der Verfassungsrechtsprechung und sind außerdem in gesetzesvertretende Regelungen1673 ein­ gebunden. Die Frage nach der Vereinbarkeit der übergangsweise geltenden Quantifizierungen mit der grundgesetzlichen Kompetenzordnung ist dann auch davon abhängig, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt zum Erlass von Übergangsregelungen befugt ist bzw. es sich mehr noch um zwingend erforderliche Annexregelungen der Entscheidung über den Streitgegenstand handelt. Das Gericht sucht mit beiden Arten von Übergangsregelungen die Nachteile einer fehlenden gesetzlichen Regelung auszugleichen. Der Erlass von Übergangsregelungen und deren für einen begrenzten Zeitraum geltenden Quantifizierungen sind anders als die Formulierung numerischer Vorgaben auf der Maßstabsebene der Entscheidungen grundsätzlich Ausdruck der Achtung der parlamentarischen Regelungskompetenz. Das Bundesverfassungsgericht entzieht sich einer (positiven bzw. endgültigen) Entscheidung und erfüllt zugleich seine Verpflichtung zur Streitentscheidung. Es muss nicht entschieden werden, ob bereits der Verweis auf die zuständige Instanz ein Genug an Entscheidung und dem Gericht nicht als Nicht-Entscheidung zum Vorwurf gereicht. Das Bundesverfassungsgericht kommt seiner Entscheidungspflicht jedenfalls durch die Verwerfung der einfachgesetzlichen Regelung und die Formulierung von Übergangsregelungen nach.1674 Während der Gesetzgeber bei der Nichtigkeitserklärung ggf. nicht zeitnah eine Neuregelung erlassen kann, bedeutet die Übergangsregelung nach Fristablauf eine Sanktion bzw. ein Druckmittel für den handlungsunwilligen Gesetzgeber. Eine Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zum Erlass der gesetzesvertretenden Regelungen kommt in jedem Falle nur dann in Betracht, wenn die Weitergeltung der überprüften Norm oder deren Nichtigkeit ohne Übergangsregelung aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar ist.1675 Ist dies der Fall und erklärt das Bundesverfassungsgericht eine Norm nichtig, verfügt es über eine verfassungsgerichtliche „Annexkompetenz“1676 Überbrückung der Regelungslücke. Sie ist mit der vorrangigen Kompetenz Parlaments zur Gesetzgebung vereinbar, denn es steht der Ausgleich der 1672

für zur des nur

Siehe Fn. 24 im dritten Teil. Im Urteil zum AsylbLG spricht das Bundesverfassungsgericht von der Übergangs- als einer „einheitlichen, abstrakt-generellen Regelung“. BVerfGE 132, 134 (174 Rn. 99). 1674 Vgl. Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht  – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 (137 f., 142 f.). Zum Unterschied zwischen dem Verschieben der Entscheidung (auf eine andere Instanz und einen anderen Zeitpunkt) und der Verweigerung einer Entscheidung Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S.  51 (53). 1675 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 73 ff. 1676 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75. 1673

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

zeitverzögerten parlamentarischen Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Dennoch bleiben Quantifizierungen in diesem Zusammenhang problematisch, denn das Bundesverfassungsgericht muss gegenüber dem Gesetzgeber Zurückhaltung wahren, d. h. es darf ihn nur soweit als notwendig rechtlich und politisch binden.1677 Die Quantifizierung zur unmittelbaren Parteienfinanzierung führt über die Geltung der Übergangsregelung hinaus zu einer empfindlichen Einschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Der verfassungsgerichtlich vorgegebene Zahlenwert gilt zwar nur fakultativ (Der Gesetzgeber kann statt der geltenden einfachgesetzlichen Pauschale von 5 DM eine Pauschale von maximal 6,50 DM je Wahlberechtigten gewähren.1678), es wird gleichwohl ein numerischer und damit höchst präziser Anhaltspunkt für eine verfassungskonforme Neuregelung aufgestellt. Das Bundesverfassungsgericht lehnt sich hierbei auch nicht an bereits bestehende einfachgesetzliche Regelungen an (autonome Quantifizierung). Diese Art von Einflussnahme auf eine Nachfolgeregelung rückt das Gericht der Position eines Ersatzgesetzgebers zumindest bedrohlich nahe. Derart ins Detail gehende verfassungsgerichtliche Übergangsregelungen kann auch § 35 BVerfGG nicht legitimieren.1679 Die Vereinbarkeit der gesetzesvertretenden Quantifizierungen mit den parlamentarischen Kompetenzen ist nochmals problematischer, wenn das Bundesverfassungsgericht die Übergangsvorschriften für den Fall der fehlenden Neuregelung bei Fristablauf erlässt. Das Gericht verfügt dann über keine „Annexkompetenz“,1680 sondern es tritt in „Konfrontation“1681 zum Gesetzgeber. Dies ist insbesondere problematisch, wenn sich das Bundesverfassungsgericht nicht wie in der Entscheidung zur Besoldung kinderreicher Beamter vom 24.  November 1998 (BVerfGE 99, 300) ausdrücklich auf § 35 BVerfGG stützt. Der Gesetzgeber kann das Inkrafttreten der Übergangsregelung zwar verhindern,1682 ist dann aber durch die Quantifizierung wiederum in seiner Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. In engen Grenzen kann allenfalls eine Not- bzw. Ersatzkompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Übergangsregelung und unmittelbaren Quantifizierung anerkannt werden. Jörn Ipsen führt die Notwendigkeit von (numerisch bestimmten) Übergangsregelungen und die damit verbundenen Irritationen im Funktionsgefüge zwischen G ­ ericht und­ 1677

Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75, 79. Siehe in diesem Zusammenhang auch Christoph Möllers, nach dem das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts keine Arbeitsteilung, sondern eine Usurpation der Rolle des Gesetzgebers darstellt. Ders., Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (380 f.). 1678 Siehe die Ausführungen unter A. VII. 1. a) bb) im 2. Kapitel des dritten Teils. 1679 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 474. 1680 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75. 1681 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75. 1682 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75.

6. Kap.: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen

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Parlament auf ein erweitertes Verfassungsverständnis zurück, das neben einem Übermaß- ein Untermaßverbot anerkennt und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle anvertraut. Der verfassungsrechtlich zu (Geld-)Leistungen verpflichtete habe anders als der zu Freiheitsbeschränkungen ermächtigte Gesetzgeber kein Interesse daran, nach einem Bundesverfassungsgerichtsurteil möglichst zeitnah eine verfassungskonforme (Neu-)Regelung zu erlassen:1683 „Im Ergebnis bleibt dem Verfassungsgericht nichts anderes übrig, als das entstandene Rechts- und Kompetenzvakuum selbst zu füllen und die Gestaltungsaufgabe – interimistisch – an sich zu ziehen.“1684 Es wird damit wie schon bei der „Annexkompetenz“1685 des Bundesverfassungsgerichts dem Umstand Rechnung getragen, dass „die Frage nach der Stellung […] der rechtsprechenden Gewalt immer zugleich auch eine Frage nach dem Zustand der anderen Gewaltenträger“1686 ist.1687 Eine verfassungsgerichtliche Not- bzw. Ersatzkompetenz besteht gleichwohl nur, soweit das Verhalten des Gesetzgebers in der Vergangenheit konkrete Anhaltspunkte dafür bietet, er werde auch in Zukunft seiner Regelungsverpflichtung nicht nachkommen.1688 Solche Anhaltspunkte fehlen jedoch bei den einfachgesetzlich umzusetzenden Steuererleichterungen zum Ausgleich der Erziehungsleistungen des Steuerpflichtigen. Deren verfassungsrechtliche Problematik tritt im Vergleich zu Übergangsregelungen in anderen Sachbereichen und dem dort vorangegangenen Verhalten des Gesetzgebers hervor. Hinsichtlich der Mehrbesoldung kinderreicher Beamter ergeht eine Kaskade an Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE 44, 249; 81, 363; 99, 300) bis der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße Regelung trifft.1689 Ein eindeutig auszumachendes vorwerfbares Vorverhalten zeigt der Gesetzgeber insbesondere vor dem Urteil zum AsylbLG. Das Bundesverfassungsgericht stellt bei Erlass der Übergangsregelung dort explizit darauf ab, dass der Gesetzgeber die Leistungen für Asylbewerber anhaltend und auch nach deutlichen Hinweisen auf deren Verfassungswidrigkeit im Hartz  IV-Urteil nicht reformiert hat.1690 1683

Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 243. Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 243 f. 1685 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 75. 1686 Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 9. 1687 Vgl. Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S.  8 f., 18 f. Klaus Schlaich u. Stefan Korioth sehen die Annahme arbeitsteiliger Modalitäten im Rechtserzeugungsprozess dagegen umfassend kritisch. Dies., Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 525 ff., 544 ff. 1688 Malte Graßhof, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens/Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 76. 1689 Siehe in diesem Zusammenhang die Argumentation des vorlegenden Verwaltungsgerichts Frankfurt a. M. für eine auf der Grundlage des § 35 BVerfGG anzuordnende Mehrbesoldung. BVerfGE 99, 300 (308). 1690 BVerfGE 132, 134 (174 Rn. 99). Hierzu auch Lothar Schneider, Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), in: Rupert Hassel/Detlef Gurgel/Sven-Joachim Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 3. Aufl. 2012, Kapitel 16 Rn. 1; Maximilian Steinbeis, Sozialstaat ist nicht nur für die Unsrigen, http://verfassungsblog.de/sozialstaat-ist-nicht-nur-fr-die-unsrigen/ (abgerufen am 20.7.2012). 1684

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

Es begründet die Notwendigkeit einer Übergangsregelung anders als in seinem Beschluss zum steuerfreien Existenzminimum vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 216) auch unabhängig vom Versäumnis des Gesetzgebers, indem es auf die Notwendigkeit einer ununterbrochenen Existenzsicherung der Betroffenen verweist.1691 Die Übergangsregelung tritt zwar (trotz bloßer Unvereinbarkeitserklärung) rückwirkend und unbefristet in Kraft, erweist sich aber insofern als weniger einschneidend für die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit als das Gericht nicht autonom quantifiziert, sondern die sich aus den Regelungen im Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II und XII) ergebenden Leistungen (in Teilen) vorübergehend auch Asylbewerbern gewährt. Die Achtung des Gestaltungsvorrangs des Gesetzgebers kommt in dem Urteil unmittelbar zum Ausdruck: „Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“1692 Im Ergebnis bleibt die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Quantifizierung in allen vorgenannten Fällen fragwürdig. 3. Einstweiliger Rechtsschutz Es bleibt eine letzte problematische bundesverfassungsgerichtliche Quantifizierung. Das mögliche Zusatzkontingent für Medienvertreter „mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten“1693 im „NSU-Prozess“ ist präziser gefasst als andere unmittelbare Quantifizierungen,1694 obschon auch in diesem Zusammenhang erhebliche Begründungsdefizite des Gerichts bestehen. Es liegt nahe, dass sowohl die erhöhte Präzision der numerischen Vorgabe als auch die mangelnde methodische Begründung dem Charakter der Quantifizierung als einstweiliger Anordnung geschuldet sind. Dem Bedürfnis schnellen, effektiven Rechtsschutzes wird einerseits nur mit klaren Vorgaben entsprochen. Eine Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes muss aus Sicht des Adressaten inhaltlich eindeutig abgefasst sein, um unmittelbar umgesetzt werden zu können. Entsprechend 1691

BVerfGE 132, 134 (174 Rn. 99). BVerfGE 132, 134 (174 f. Rn. 100). Die Argumentation für eine Not- bzw. Ersatzkompetenz des Bundesverfassungsgerichts kann nur für Übergangsregelungen und eine vorüber­ gehende Gestaltungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts greifen, die das Parlament jederzeit an sich ziehen kann. Der Umstand, dass der Gesetzgeber nicht ausreichende Leistungen vorsieht bzw. wie im Wahlrecht ausgleichslosen Überhangmandaten anhaltend nicht ausreichend begegnet, kann demgegenüber keine unmittelbaren Quantifizierungen auf Maßstabsebene rechtfertigen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Bundesverfassungsgericht alternativ eine mittelbare Quantifizierung durch die Verfassungsmäßigkeitsprüfung der einfachgesetzlichen Regelungen offen steht. 1693 BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. 1694 Siehe die Ausführungen zur Quantifizierungstypologie der untersuchten Entscheidungen unter A. II. 1. c) im 3. Kapitel des dritten Teils. 1692

6. Kap.: Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen

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der gesetzlichen Voraussetzungen ist sie andererseits „dringend geboten“1695 (§ 32 Abs. 1 a. E. BVerfGG) und das Verfassungsgericht daher auf eine allgemeine Folgenabwägung beschränkt.1696 Das Bundesverfassungsgericht kann bei der Wahrnehmung seiner Rechtsprechungsbefugnisse nicht mit der gleichen Strenge auf die gerichtliche Entscheidungsrationalität verpflichtet werden wie im Hauptsache­ verfahren. Bei dem vom Bundesverfassungsgericht genannten Zusatzkontingent für ausländische Medienvertreter handelt es sich um die einzige als besonders problematisch ausgemachte Quantifizierung, bei der tatsächlich kein Kompetenzproblem besteht. Im konkreten Fall ergeht die einstweilige Anordnung gegenüber der Judikative, so dass die besondere Problematik der Kompetenzabgrenzung zwischen Bundes­verfassungsgericht als „Letztinterpret“ und Gesetzgeber als „Erstadressat“1697 der Verfassung nicht berührt ist.

D. „Ausnahmen bestätigen die Regel“: Einordnung der Quantifizierungen in die verfassungsrechtlich geforderte Methodik und das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes In den meisten Fällen entsprechen die bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen somit den methoden- und kompetenzrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes. Zweifel an der Verfassungskonformität können allein in den vorgenannten als problematisch ausgemachten Beispielen nicht ausgeräumt werden, wobei die unmittelbare Quantifizierung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zum „NSU-Prozess“ einen, dem Vergleich nur sehr beschränkt zugänglichen Sonderfall darstellt. Das Ergebnis überrascht, denn sämtlichen Quantifizierungen kommt angesichts der semantischen Diskrepanz zwischen unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben und den als verfassungsgemäß bzw. -widrig ausgewiesenen Zahlen sowie des ohnehin schwelenden Konflikts zwischen Bundesverfassungsgericht und politisch gestaltendem Gesetzgeber verfassungsrechtlich höchste Brisanz zu. Die methodische Analyse hat ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht mehr noch als in anderen Entscheidungen bei der Quantifizierung Recht setzt. Seine Entscheidungen für die Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit bestimmter Zahlen sind 1695

Im Beschluss erfolgt keine explizite Prüfung der dringenden Gebotenheit einstweiligen Rechtsschutzes, zur besonderen Eilbedürftigkeit aber BVerfG, Beschluss v. 12. April 2013 – 1 BvR 990/13 –, Absatz-Nr. 27. Allgemein Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 467. 1696 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 465. 1697 Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S.  2, vgl. auch S.  3, 17, 30; Paul­ Kirchhof spricht vom „Erst-“ und „Zweitadressaten“ eines Rechtssatzes der Verfassung, ders., Gleichheit in der Funktionenordnung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 125 Rn. 24 ff.

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3. Teil: Zahlen in der Verfassungsrechtsprechung

durch eine an Plausibilitätskriterien orientierte und an Gerechtigkeitserwägungen ausgerichtete Argumentation außerdem nur sehr eingeschränkt rationalisierbar. Den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen liegt ein hohes Maß an Dezision zu Grunde. Es handelt sich um „gegriffene Größen“.1698 Dennoch sind die Quantifizierungen in der Regel mit der Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) vereinbar. Die Bindung des Gerichts an die Verfassungsvorgaben ist von vornherein nicht absolut, sondern so weit als möglich zu realisieren und auch eine Verletzung parlamentarischer Kompetenzen kommt dann nicht in Betracht, wenn das Bundesverfassungsgericht zur Quantifizierung gezwungen ist. Das Bundesverfassungsgericht ist darüber hinaus zwar primär über seine Gesetzesbindung, aber auch über die Wahl der Richter demokratisch legitimiert.1699 Im Grundgesetz findet es ausdrücklich und mit einer historisch einmaligen Kompetenzfülle Verankerung.1700 Die Quantifizierungen des Gerichts finden eine weitere Stütze in legitimationstheoretischen Erwägungen, die über die Legalität des Gerichts hinausreichen. Christoph Möllers verweist auf die Sicherung demokratischer Verfahren, der föderalen Struktur und des Grundrechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht.1701 Nicht zuletzt setzt sich das Bundesverfassungsgericht bei den Quantifizierungen zu seiner eigenen Rechtsprechung nicht in Widerspruch. Die Typik der bundesverfassungsgerichtlichen Quantifizierungen, insbesondere das Ausweichen von konkreten Zahlenwerten auf unbestimmte Bandbreiten, wird einem Verfassungsverständnis gerecht, wonach es sich beim Grundgesetz um einen Rahmen für die Gesetzgebung und keine optimierungsbedürftige Ordnung handelt.

1698

Siehe Fn. 24 im dritten Teil. Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (359 f.). 1700 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (288 f., 329 ff.). 1701 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (333 ff.). 1699

Rückblick: Zahlen im Verfassungsrecht: Anlehnung an naturwissenschaftliche Rationalität – Unterwerfung unter geisteswissenschaftliche Rationalität – Einblick in Irrationalität und Aporie Der vorangegangenen Untersuchung der Zahlenverwendung und -generierung im Verfassungsrecht liegt ein Spannungsfeld tatsächlicher und assoziierter sowie natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität zu Grunde. Grundsätzlich gilt: Zahlen werden in den Verfassungskontext eingebunden und das Verfassungsrecht setzt den naturwissenschaftlichen Rationalitätserwartungen, die gegenüber der Verwendung und Generierung von Zahlen gemeinhin formuliert werden, eine geisteswissenschaftliche und spezifisch verfassungsrechtliche Rationalität entgegen. Im Zusammenhang der linguistischen Spezifika der im Verfassungstext verwendeten Zahlen lässt sich eine gleichwohl bestehende, größte Nähe zur Rationalität im naturwissenschaftlichen Verwendungskontext nachweisen: Zahlen verfügen über ein Höchstmaß an semantischer Exaktheit. Die ihnen zugeschriebenen Attribute naturwissenschaftlicher Rationalität (Neutralität und „Wahrheit“1) erleichtern den verfassungsrechtlichen und interdisziplinären Kommunikationsprozess. Über Zahlen kann natur- und wirtschaftswissenschaftliches Wissen in den Verfassungskontext eingebracht werden. Im Umfang der Zahlenverwendung bleibt der Verfassungstext und allgemeiner das Verfassungsrecht wiederum deutlich hinter den Naturwissenschaften zurück. Die Wertebezogenheit des Rechts bedeutet zwangsläufig beschränkte (geisteswissenschaftliche) Erkenntnismöglichkeiten in Zahlen. Bei der Generierung von Zahlen entfernt sich das Verfassungsrecht dann weit von naturwissenschaftlichen Rationalitätsvorstellungen. Dass Zahlen im Verfassungstext und Quantifizierungen in der Verfassungsrechtsprechung auf einer spezifisch verfassungsrechtlichen und damit geisteswissenschaftlichen Rationalität beruhen, bedeutet methodisch gewendet: Die Zahlen sind nicht berechenbar. Ihre Generierung ist allenfalls an einem Plausibilitätsmaßstab nachvollziehbar. Es wird an ihnen mehr noch die Ambivalenz des Verfassungsrechts manifest, das (naturwissenschaftliche)  Rationalitätserwartungen hervorruft und (geisteswissenschaftliche)  Rationalitätsanforderungen formuliert, die postulierte Rationalität (sei sie natur- oder geisteswissenschaftlich) aber tatsächlich nur sehr begrenzt einlöst bzw. einlösen kann. Die 1

Siehe Fn. 268 im zweiten Teil.

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Rückblick

weitgehende Irrationalität der Quantifizierungen, ihre als Zufälligkeit entlarvte Dezision, wird durch die Apodiktik des Bundesverfassungsgerichts nur notdürftig verdeckt. An den verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen lässt sich die Aporie und damit Paradoxie des Verfassungsrechts, das auf  – begriffsnotwendig unentscheidbaren  – Entscheidungen beruht, nachvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, obwohl nicht entschieden werden kann, und setzt sich bei den Quantifizierungen über die Nichtquantifizierbarkeit der unbestimmten Verfassungs­ vorgaben hinweg. Die Ursache des Höchstmaßes an Dezision der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen kann somit identifiziert, ihr aber nicht abgeholfen werden. Das Bundesverfassungsgericht sucht der Aporie der von ihm verlangten Entscheidungen gerecht zu werden und ihre Paradoxie zumindest abzumildern, wenn es entscheidet und sich zugleich der Entscheidung entzieht. Dies lässt sich im Ausweichen auf Übergangsregelungen und anhand der Quantifizierungstypologie nachvollziehen. Das Gericht erkennt die Unentscheidbarkeit der Entscheidung an und überwindet sie nicht durch Dezision, soweit es die Verfassung in Bandbreiten quantifiziert und deren Anfangs- sowie Endpunkte offen lässt. Es kennzeichnet bestimmte Zahlen als verfassungsgemäß bzw. -widrig und verankert sie zugleich in „eine[r] Zone der Unbestimmbarkeit […] zwischen dem Ja und dem Nein“.2 Zahlen werden, gerade weil sie für sich genommen auch im Verfassungsrecht exakt sind, im Verfassungstext und in der Verfassungsrechtsprechung immer in die Unbestimmtheit des Verfassungsrechts eingebunden. Anhand der verfassungsgerichtlichen Quantifizierungen und der Quantifi­ zierungstypik der analysierten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen wird deutlich, dass sich Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht, deren Zahlenverwendung und -generierung, nicht nur im Spannungsfeld natur- und geisteswissenschaftlicher Rationalität bewegen. Es existieren weitere, wesentliche und gegensätzliche Koordinaten für die Festlegung von Zahlen bzw. die Vermeidung exakter numerischer Vorgaben im Verfassungsrecht: Entscheidung und Nicht­ entscheidung  – Dezision und Rationalität  – Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit.

2

Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, in: ders., Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, 1998, S. 7 (37). Hierzu Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006, S. 51 (54).

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