Psalmen: Kirchenmusik zwischen Tradition, Dramatik und Experiment 9783412216207, 9783412221713

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Psalmen: Kirchenmusik zwischen Tradition, Dramatik und Experiment
 9783412216207, 9783412221713

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Helen Geyer, Birgit Johanna Wertenson (Hg.) Psalmen

Schriften der Hochschule für Musik Franz Liszt herausgegeben von Christiane Wiesenfeldt BAND 9

Helen Geyer Birgit Johanna Wertenson (Hg.)

Psalmen Kirchenmusik zwischen Tradition, Dramatik und Experiment Unter Mitarbeit von Michael Pauser

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln

die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie Professor Jeffrey Kurtzman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Foto: ChriFF, Quelle: http://www.photocase.de/foto/133275-stock-photo-schoen-himmel-sonneblau-ruhig-wolken. © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat und Texteinrichtung: Elisabeth Bock Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22171-3

Visionen − Imaginationen − Illusionen: Erfahrungen im Grenzbereich V

Inhalt Helen Geyer Vorwort: Visionen − Imaginationen − Illusionen. Erfahrungen im Grenzbereich ............. 1 Harald Buchinger Armut oder Reichtum des Thesaurus Musicae Sacrae? Zur Bedeutung der Psalmen in der Liturgie ..................................................................... 7 Franz Körndle Musik in Psalmenkommentaren des 17. Jahrhunderts ................................................... 27 Guido Reuter Gianlorenzo Berninis S. Andrea al Quirinale. Ein Meilenstein des barocken Sakralraumensembles ...................................................... 47 Saskia Maria Woyke Die Metapher der Engelsstimmen: Beschreibungen von Frauen- und Kastratenstimmen in Venedig und Rom vor dem kulturellen Hintergrund des späten Seicento .................. 61 Andrea Gottdang Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis ............................................. 75 Marta Marullo The Structure of the Polyphonic Psalm in some Italian Treatises of the Sixteenth and Seventeenth Century .............................................................................................. 95 Jeffrey Kurtzman Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music .................. 119 Junko Sonoda Johann Rosenmüllers Nisi Dominus für Solostimme: Beobachtungen zur dramatischen Musiksprache ......................................................... 189 Eleanor Selfridge-Field Marcello’s Orientalism ................................................................................................. 205 David Bryant, Elena Quaranta Compositional Style, Performance and Function in Sixteenth-Century Italian Church Polyphony .......................................................... 223

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Inhalt

Birgit Johanna Wertenson Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi, maestro am Ospedale degl’Incurabili (1751 – 1757), am Beispiel seiner Psalmvertonungen ...... 231 Alan Dergal Rautenberg „…colmando il cuore d’una mestizia dolcissima“. Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld ........................................................................................... 263 Michael Pauser Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis ................................. 295 Rainer Heyink „ma la chiesa non è teatro“. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert ........................... 325 Gerhard Poppe Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik – liturgische Voraussetzungen, Bearbeitungspraxis und Stellung im Repertoire ............... 343 Thierry Favier Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France (1661 – 1789) ............................................................... 355 Claudio Bacciagaluppi Zur Dramaturgie des liturgischen Klenders: Repertoire und Einsatz von Figuralmusik im Beromünster Inventar von 1696 ................................................. 381 Die Autoren ................................................................................................................ 407

Visionen − Imaginationen − Illusionen: Erfahrungen im Grenzbereich 1

Vorwort: Visionen − Imaginationen − Illusionen. Erfahrungen im Grenzbereich Helen Geyer Das hier dokumentierte internationale und interdisziplinäre Symposion spürte Themen und Fragestellungen nach, die eng mit dem Projekt der Erforschung der venezianischen Psalmvertonungen in Zusammenhang stehen (www.psalmmusic-database.de). Dieses Projekt, gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung, konnte an unserem Institut angesiedelt werden. In den von uns näher untersuchten Jahrhunderten des Sei- und Settecento zeigt sich auf eine erstaunliche Weise, dass die damaligen Psalmkompositionen in einem gewissen Sinne einen ganzheitlichen Anspruch zu verfolgen scheinen, indem auch visuelle Phänomene (beispielsweise Altarbilder) die Imagination und Illusion bereicherten, unterstützt durch eine offensichtlich immer intensivere klangliche Dramatisierung des vertrauten und vielleicht auch als relativ steril empfundenen sakrosankten Textes. An einer derartigen Entwicklung scheinen nicht zuletzt auch Venedigs vier Frauenkonservatorien einen erheblichen Anteil genommen zu haben, aber nicht nur sie alleine: Es war ganz offensichtlich ein breites Anliegen der katholischen Kirche im Rahmen ihrer „Gegenreformation“, den Gläubigen auf vielen Ebenen in den Bann zu ziehen, wobei zugleich auch interne Interpretationen − wenn man so will katechetische Aussagen und dogmatische Ideen − verbreitet wurden, allein durch die Art der Klanglichkeit, der klingenden Disposition. Solches betraf nicht nur die Psalmen, obgleich hier eine möglicherweise exemplarische Konzentration derartiger Kräfte im Zentrum steht, sondern sicher auch andere kirchenmusikalische Gattungen. So sollen im Concertare der hier vorliegenden Beiträge generell die Kirchenmusik mit einem Fokus auf die Psalmvertonungen Venedigs und Fragen zu einem weitläufig gefassten Begriff der „Inszenierung“ einem vertiefenden und methodisch möglichst differenzierenden Blick unterworfen werden, verbunden mit dem Anspruch, eine interdisziplinäre Diskussion zu entfachen. Schon seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert lässt sich eine „Emanzipation“ des Psalmendeklamierens und Musizierens beobachten, welches zunehmend neue Qualitäten ausformte. Solche Tendenzen verstärkten sich im weiteren Verlauf zu eigenständiger Größe, wobei zugleich vielfältige stilistische Spektren aufscheinen: Immer noch gab es den Psalmenvortrag im Cantus planus, sicher angereichert durch mannigfache Verzierungen und Improvisationen, je nach sängerischem Vermögen, aber stets die Tradition des reinen a capella-Gesanges bewahrend, eventuell mit Bassstützung. Cantus planus-/canto fermo-Singen wurde viele Jahrhunderte hindurch in einem allgemeinen Usus-Sinne gepflegt, so jedenfalls kann man aus Beschreibungen

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des späten 18. Jahrhunderts erahnen1, und auf diese Weise konnten Kriterien und ästhetische Maßstäbe des Tridentiner Konzils und der späteren Bulle Annus Qui von 1749 vorbildhaft und zugleich sparsam (auch zeitsparsam) umgesetzt werden. Andererseits lässt sich beobachten, dass neue Kriterien spätestens mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert einzogen: Sie gehorchten immer mehr modernen Prämissen, wie den Anforderungen nach Rührung, der „sentimentality“, und sie kamen auch einem Bedürfnis nach Dramatik verstärkt nach. Grundsätzlich lässt sich eine zumindest subtil wahrnehmbare Ausdifferenzierung nach Institutionen, Anlässen, Gepflogenheiten und auch lokalen Traditionen beobachten – sicher im Zusammenhang mit kirchenpolitischen, aber auch mit politisch gewichteten Vorgaben, wobei freilich nicht zuletzt Aspekte der Repräsentation eine wesentliche Rolle spielten. Ziel war der Gläubige, der Zuhörer, der Teilnehmende an der Liturgie, der zu Andacht, Katharsis und Erstaunen, eventuell zu einer Art Mystik und innerer Erschütterung herangeführt werden sollte. Das Eingebettet-Sein und Sich-Eingebettet-Fühlen in den göttlichen Weltenlauf gehörte zu den Selbstverständlichkeiten des damaligen Lebensgefühls: Noch war die Welt nicht säkularisiert, auch wenn gerade an manchen Kompositionen des relativ frühen 18. Jahrhunderts schon neuartige Interpretationsansätze im Umgang mit den starr fixierten Texten aufscheinen, die die Morgenröte eines anderen und kritischen wie auch selbstbestimmten Zeitgeistes erahnen lassen. Die Psalmvertonungen des 17. und 18. Jahrhunderts stellen eine relative Terra incognita dar; dies verbindet die sehr anspruchsvolle Gattung mit anderen liturgisch nicht minder wichtigen Gattungen, wie den Antiphonen2 oder den Motetten3. In der Regel haben wir es in diesen beiden Jahrhunderten vor allem mit einer handschriftlichen Überlieferung zu tun, und nur bedingt mit einer Druck-Überlieferung; daraus resultiert eine schier unüberschaubare Menge an Manuskripten. Dienten Psalmen, aber auch Antiphone, Hymnen, Motetten und Ähnliches im Rahmen der Liturgie als Mittel zur Erbauung, Rührung und damit moralisch-religiöser und kate1 S. hierzu die interessante Erörterung zum canto fermo-Singen von Bonaventura Furlanetto, in: Helen Geyer, „Stets ein Unbekannter – das Beispiel der Teoria del Canto fermo, von Bonaventura Furlanetto“ in: colloquium collegarum: Festschrift für David Hiley zum 65. Geburtstag (= Regensburger Studien zur Musikgeschichte 10), hrsg. von Wolfgang Horn u. Fabian Weber, Tutzing 2013, S. 133 – 140. 2 S. hierzu den Beitrag von Alan Dergal Rautenberg, „‚…colmando il cuore d’una mestizia dolcissima‘. Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld“, aber auch seine Magisterarbeit: Alan Dergal Rautenberg, Wettstreit um den Lobgesang Marias. Ein Vergleich der Marianischen Antiphone in den venezianischen Frauenkonservatorien des 18. Jahrhunderts, Weimar 2008. 3 Einen summarischen Überblick über die Vielfalt dieser Gattung bietet bzgl. Venedig Berthold Over, der sich in erster Linie auf die textliche Ausgestaltung dieser Gattung konzentriert: Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert, Bonn 1998; s. aber auch hierzu: Helen Geyer, „Rührung, Experiment und Sentimentalität im Dienste der Frömmigkeit: Beobachtungen an einigen Solomotetten Pasquale Anfossis für das venezianische Frauenkonservatorium des Ospedaletto“, in: Muzykolog wobec świadectw źródłowych i dokumentów. Księga pamiątkowa dedykowana Profesorowi Piotrowi Poźniakowi w 70. rocznicę urodzin / The musicologist and source documentary evidence. A book of essays in honour of Professor Piotr Poźniak on his 70th birthday (= Festschrift Piotr Poźniak zum 70. Geburtstag), hrsg. von Zofia Fabiańska, Jakub Kubieniec, Andrzej Sitarz u. Piotr Wilk, Krakau 2009, S. 443 – 472.

Visionen − Imaginationen − Illusionen: Erfahrungen im Grenzbereich 3

chetischer Katharsis, lässt sich mit Blick auf das Kunstprodukt jenes Zeitraums am ehesten von einer virtuellen Geschehenssuggestion sprechen, d.h. die Texte werden mit musikalischen Mitteln der Illusion dramatisiert, nicht jedoch wie auf den Opernbühnen räumlichfigurativ inszeniert. Kennzeichnet den jeweiligen Psalm selbst ein statischer, wohl vertrauter und unvariabler, obgleich kürzbarer Text, so verdienen einige Tendenzen geschärfte Aufmerksamkeit: Der Terminus „Inszenierung“ selbst scheint vordergründig zunächst mit Theater und Bühne zusammenzuhängen, betrifft aber generell das Zeremonielle und den Ritus. Der Zeremonialcharakter einer liturgischen Handlung, eines liturgischen Ereignisses oder des Ritus ist nicht zuletzt in einer dramatisch gewichteten Abfolge nachzuvollziehen. Die Durchdringung von scheinbar Festgelegtem mit Qualitäten des Theatralischen vermag aufgrund möglicher Variationen im Detail auch auf politisch oder theologisch zu Wertendes hinzuweisen. Mit der Inszenierung hängt also eine innere und vielleicht groß angelegte Dramatisierung zusammen, aber welche sind die Parameter der inneren Dramatisierung von nicht dargestellter Kirchenmusik? Muss hierfür ausschließlich ein Einfluss der mächtigen Opern­ gattung herangezogen werden, und was bedeutet ein eventuell bewusster Verzicht darauf? Wie sieht es mit der konfessionellen Position in diesem Zusammenhang aus, und welche außermusikalischen Faktoren sind zu berücksichtigen bzgl. der Inszenierung der Zeremonie, der Devotion, des Erstaunens, der Zerknirschung, Reue und Rührung und damit indirekt auch der Umsetzung moderner ästhetischer Größen wie des Erhabenen, Sublimen und einer letztlich neuartigen Gefühlsdarstellung und -provokation, oder auch angesichts einer klanglichen Realisation des Unaussprechlichen? Und was verbirgt sich hinter diesen Aspekten in einem weiteren Sinne, gibt es Schnittpunkte zu den anderen, visuellen Künsten und liefert die Textgrundlage hinreichend Argumente? Lässt sich mit Blick auf das Kunstprodukt jenes Zeitraums und im Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren der ars musicae, wie auch anderer artes vielleicht von einer virtuellen Geschehenssuggestion sprechen? Als stiller Konkurrent setzte gerade die auf der Opernbühne gepflegte Illusion gewichtige Maßstäbe, denen sicher gleichermaßen Erhabenes, Unübertreffliches – auch im musikalisch-sinnlichen Sinne – vergleichbar Faszinierendes entgegengesetzt werden sollte. Anlässlich herausragender Festlichkeiten war die Erprobung neuer Klanglichkeiten unabdingbar, und dies bedeutete, dass der Kirchenmusik, angeregt durch die jeweils andersartigen Erfordernisse, stets neue Qualitäten zuwuchsen, denen man kaum gerecht wird, wenn man sie als bloßes Zugeständnis an den ‚theatralischen Geschmack‘ zu definieren sucht und damit einen pejorativen Akzent setzt, der ganz im Gegensatz zum ursprünglich damit Assoziierten steht, denn der „Stylus theatralis“ war in erster Linie als der verweisende und damit darstellende Stil zu verstehen. Immerhin spricht man nicht ganz ohne Grund von einem Lebensgefühl der Darstellung, Selbstdarstellung, des Theatrum Mundi als Charakteristikum des Zeitalters des Barock, welches einem sukzessiven Wandel ausgesetzt war. Erfüllt wurde es während des Settecento mit immer bedeutenderen Momenten der Rührung und des Affektes, bis hin zu einer zunehmenden Psychologisierung, gepaart mit einer aufmerksamen Beobachtung der Stimmung und der Gefühle, kurz des „Inneren“. Zeichenhaft symbolschwere musikalische Gestik wurde kurzlebiger und nervöser: in der Musik, in der darstellenden Kunst, in der Lite­ratur. Als stabile Größe erwies sich der Text – doch das Umgehen mit ihm unterlag

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neuen ästhetischen Kriterien, die feinsinnig und minutiös angewandt wurden und in vielen Fällen überraschende Ausdeutungen erfuhren. Als neue Qualitäten wurden eine immer differenziertere Concerto-Technik, erfüllt mit Virtuosität und Varietas, aber auch ein zunehmend dramatischer Zugriff auf den Text gewählt. Daraus ergibt sich ein eindrucksvoller Brückenschlag in die damalige Moderne bei oft gleichzeitiger Wahrung und Bewahrung der Traditionen, beispielsweise mittels kontrapunktischer und fugierter Kompositionstechniken oder in der Anwendung des „Psalmtones“ in falso bordone, cantus planus, canto fermo-Manier. Nicht nur an den Psalmvertonungen lässt sich also erkennen, dass kompositorisch jenes Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation durchwandert wurde, welches die katholische Kirchenmusik in der Periode der Aufklärung, Vor-Säkularisation und möglicherweise auch in Abgrenzung zur evangelischen Kirche erschütterte, deren Musik nicht minder auf diese beliebten und beeindruckenden Neuerungen reagierte. Innovationen und Entwicklungen dieser Art bedeuteten eine komplexe und zugleich auch umstrittene Herausforderung gerade innerhalb der Zentren der religiösen wie politischen Machtrepräsentation: in Rom, in den Rom nahen Capellae, in den Kirchen und Institutionen der Jesuiten, die die sog. Gegenreformation maßgeblich vorantrieben, oder auch in jenen Zentren, die Wert auf gewisse Autonomien legten, wie es in Venedig geschah. Hier lassen die jüngeren Forschungen als besonderes Phänomen eine relativ singulär anmutende Musikpflege an den vier venezianischen karitativen Einrichtungen, den „vier großen Ospedali“ oder Frauenkonservatorien evident werden, die in vieler Hinsicht eine Sonderstellung, eventuell eine Vorreiterrolle einnahmen4. So ist hinsichtlich der Psalmvertonungen zu beobachten, dass in ihnen eine bemerkenswerte Kunstfertigkeit zum Tragen kommt, zählten die Festtags-Vespergottesdienste zu den herausragenden Musikereignissen des Lebens in der Serenissima. Deren Besuch gehörte zum unabdingbaren „Muss“ des kunstinteressierten Reisenden, der Musiker, wie auch der Kaufleute, Diplomaten und der reisenden Staatsgäste. Immerhin wirkte an den vier venezianischen Ospedali jeweils ein im höchsten Grade sy­­ste­matisch ausgebildetes und virtuoses, allem Aufregend-Neuen zugeneigtes Ensemble, das kurioserweise nur aus Frauenstimmen und Instrumentalistinnen bestand, geleitet von den Großen des einstigen Musiklebens: Eine Rarität der damaligen Zeit, als den Frauen häufig noch öffentliches Musizieren in kirchlichen Räumen untersagt war. Zudem scheint die hier gebotene Klanglichkeit dem Bedürfnis nach der hohen Stimme entsprochen zu haben. Das ausgehende 18. Jahrhundert ist gekennzeichnet von rigiden Brüchen: Es lassen sich markante, in der Kunstästhetik heiß diskutierte Gegenströmungen auch puristischer Art beobachten. Gewisse Entwicklungen verkehren sich in ihr Gegenteil. Jetzt erst, spätestens mit dem frühen 19. Jahrhundert, ergibt sich die unabdingbare Notwendigkeit einer musikalisch-ästhetischen Antwort auf Aufklärung und Säkularisation, gepaart mit Ideen des 4 Grundlegend aufgezeigt in Helen Geyer, Das venezianische Oratorium 1750 – 1820 (= Analecta Musicologica 35), Laaber 2005; und als unermesslicher Quellenfundus: Pier Giuseppe Gillio, La vita musicale negli Ospedali di Venezia nel Settecento, Florenz 2006; zu verweisen ist aber auch auf das Phänomen des Solokonzertes, welches gerade durch diese Konservatorien einen ungemeinen Anschub erlebte, wie nicht zuletzt die Tradition der sog. Kurzmesse, die dergestalt auch mit diesen vier Institutionen in Verbindung gebracht wird.

Visionen − Imaginationen − Illusionen: Erfahrungen im Grenzbereich 5

Genies und der individuellen Selbstbestimmung, denn die Kirchenmusik und damit die Kirche befanden sich nicht mehr in der führenden Position einer allgemein zweifelsfrei akzeptierten Werteordnung: So setzten Erneuerungstendenzen ganz anderer Art ein. Allein in der Verwendung und der Handhabung der neuen Techniken, der Art des Ein­ satzes der Virtuosität und der Art der Varietas lässt sich der stilistische Wandel ablesen, den die Kirchenmusik im 18. Jahrhundert durchlief, zumal wenn man den Aufführungsort und das Ereignis miteinbezieht, bzw. die Frage nach der Art einer gesamtheitlichen Konzeption stellt. Stets stand die Kirchenmusik im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, wobei sich zweifelsohne ein differenziertes Bild gemäß einzelner Zentren ergibt. Gerade angesichts einer derartigen Ausgangssituation wurden die für die Ospedali-Ensembles komponierten Psalmvertonungen und auch Antiphone, ausgezeichnet durch höchste Kunstfertigkeit, Virtuosität und eine deutlich wahrnehmbare Tendenz zum Experiment, nicht nur zu einem herausragenden Kunstereignis, sondern es scheint, als sei ihnen hinsichtlich ihrer Stilistik und experimentellen Kühnheit, wie auch der deklamatorischen und oft als neuartig empfundenen Qualitäten eine gewisse „Leitfunktion“ zugekommen. So nimmt es nicht Wunder, dass die hier vorgelegten Fragestellungen immer wieder um Venedig kreisen, wobei zugleich das „Gesamtkunstwerk“ in den Blick gerät: Fragen zur Archi­ tektur, zur Liturgie, zur Malerei werden fokussiert, den Gepflogenheiten und Traditionen in anderen Zentren wird nachgespürt, so in der Schweiz, in Frankreich, im süddeutschen Raum, in Augsburg – das wegen seiner Handelsbeziehungen in engem Kontakt mit Venedig stand –, oder in Dresden, nicht minder venezianisch beeinflusst. Überlegungen generell systematischer Art und zu den Traditionen sind wesentlich, wie allgemeine Untersuchungen zur Stilistik. Einen wesentlichen Schwerpunkt des Bandes bildet die musikwissenschaftliche Grundlagenforschung sowohl zum 17. wie auch zum 18. Jahrhundert. Aspekte zur Rezeption und Tradierung werden aufgezeigt, unter anderem am Beispiel der Schweizer Klöster (Claudio Bacciagaluppi: „Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders: Repertoire und Einsatz von Figuralmusik im Beromünster Inventar von 1696“), bzw. angesichts der Bedeutung des venezianischen Psalmenrepertoires in Frankreich (Thierry Favier: „Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France [1661 – 1789]“) wie auch in Dresden (Gerhard Poppe: „Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik – liturgische Voraussetzungen, Bearbeitungspraxis und Stellung im Repertoire“). Zudem erhellen die Diskussionen theoretischer Traktate (Marta Marullo: „The Structure of Polyphonic Psalm in some Italian Treatises of the Sixteenth and Seventeenth Century“), Überlegungen zu strukturellen Eigentümlichkeiten und Dispositionen (Jeffrey Kurtzman: „Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music“) und Fragen nach dem liturgischen und aufführungspraktischen Usus (David Bryant und Elena Quaranta: „Compositional Style, Performance and Function in Sixteenth-Century Italian Church Polyphony“) zum ersten Mal umfassend bedeutende Teile des Psalmenrepertoires des 15. bis 17. Jahrhunderts. Auch nachhaltige Quellenarbeit wurde von Venedig ausgehend geleistet. In Stildiskussionen unter Einbezug ästhetischer und interdisziplinärer Parameter geschieht eine umfängliche Analyse und Kontextualisierung des faszinierenden Repertoires, sei es anhand der

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Überlegungen zur dramatischen Musiksprache eines Johann Rosenmüller (Junko Sonoda: „Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme: Beobachtungen zur dramatischen Musiksprache“), der aus Venedig heraus die Brücke über die protestantische und katholische Tradition spannte, oder angesichts der neuen Erkenntnisse zu Miserere-Vertonungen venezianischer Provenienz (Alan Dergal Rautenberg: „‚…colmando il cuore d’una mestizia dolcissima‘. Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld“) bzw. zu jenen des einflussreichen Europäers Niccolò Jommelli (Michael Pauser: „Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis“) oder der Erfassung seines in Vergessenheit geratenen aber nicht minder bemerkenswerten Kollegen Gioacchino Cocchi (Birgit Johanna Wertenson: „Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi, maestro am Ospedale degl’Incurabili (1751 – 1757), am Beispiel seiner Psalmvertonungen“). Die Diskussion eröffnet der grundlegende Beitrag Harald Buchingers zur Stellung der Psalmen in der Liturgie („Armut oder Reichtum des Thesaurus Musicae Sacrae? Zur Bedeutung der Psalmen in der Liturgie“), dessen theologische Fragestellungen im Beitrag von Franz Körndle musikwissenschaftlich aufgegriffen und vertieft werden („Musik in Psalmkommentaren des 17. Jahrhunderts“). Besondere Aspekte zeigen sich überdies, wenn man das Psalmenrepertoire auf seine orientalischen Wurzeln hin befragt (Eleonore Selfridge-Field: „Marcello’s Orientalism“). Eine sinnvolle und korrelierende Ergänzung zu allen musikwissenschaftlichen und auch theologischen Fragestellungen ergibt sich aus dem beispielhaften und punktuellen Blick auf kunsthistorisch-architektonische Phänomene, in Konfiguration mit Gestischem oder Aku­ sti­schem, wie solches in den Beiträgen von Guido Reuter („Gianlorenzo Berninis S. Andrea al Quirinale. Ein Meilenstein des barocken Sakralraumensembles“) und Andrea Gottdang („Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis“) erörtert wird. Sinnfällig erweitert sich beinahe konzentrisch der Blick auf Stimmpotentiale (Saskia Woyke: „Die Metapher der Engelsstimmen: Beschreibungen von Frauen und Kastratenstimmen in Venedig und Rom vor dem kulturellen Hintergrund des späten Seicento“) und auf Mehrchörigkeit als dramatisch-akustisches Phänomen (Rainer Heyink: „‚ma la chiesa non è teatro‘. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert“). Das Symposion ist nur zustande gekommen durch die großzügige Unterstützung der Fritz-Thyssen Stiftung, und auch die Drucklegung erfolgt dankenswerter Weise durch ihre abermalige großzügige Unterstützung. Zu danken ist meiner Mitarbeiterin Frau Birgit Wertenson, aber auch Frau Elisabeth Bock für die Einrichtung des Manuskriptes und dem Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich Schiller Universität Jena für institutionelle und technische Unterstützung, Herrn Michael Pauser für manches Lektorieren wie für die Aufnahme in die Schriftenreihe der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Nicht zuletzt gilt mein Dank dem Böhlau-Verlag, insbesondere Herrn Harald Liehr für die großzügige Hilfestellung und Zusammenarbeit. Weimar, 2012/2013 Helen Geyer

Armut oder Reichtum des Thesaurus Musicae Sacrae? 7

Armut oder Reichtum des Thesaurus Musicae Sacrae? Zur Bedeutung der Psalmen in der Liturgie Harald Buchinger

Einleitung: Der Kern der römischen Liturgie und das Repertoire ihrer Gesänge Das 17. und 18. Jahrhundert, denen dieser Band gewidmet ist, haben in der Zunft der Liturgiewissenschaft häufig keinen guten Ruf; wird die Zeit nach der vom Tridentinischen Konzil beauftragten Liturgiereform doch im Gefolge der klassischen Liturgiegeschichte von Theodor Klauser gerne als „die Periode der ehernen Einheitsliturgie und der Rubrizistik“ betrachtet.1 Tatsächlich hat sich der mit höchster Autorität fixierte Kern der liturgischen Bücher zwischen dem Missale Romanum von 1570 bis zur grundlegend reformierten Neuausgabe im Jahr 1970 kaum geändert (auch wenn ständig neue Feste mit ihren Formularen hinzukamen),2 und auch in die Struktur des Breviarium Romanum von 1568 wurde erst im 20. Jahrhundert substantiell eingegriffen.3 Hat sich aber die Liturgie nicht gewandelt, nur weil ihre Texte über Jahrhunderte gleich blieben? Nicht nur Geistes- und Kulturwissenschaftler/innen – Musikhistoriker/innen zumal! – würden die Auffassung, „die Messe“ habe sich zwischen 1570 und 1970 nicht verändert, geradezu absurd finden; auch innerhalb der Liturgiewissenschaft wäre es eine sträfliche Engführung, die Geschichte der Liturgie auf die Überlieferung ihrer Bücher zu reduzieren. Die Liturgie besteht in der Vielfalt ihrer konkreten kulturellen Ausdrucksformen, ihrer symbolischen Ebenen und Zeichenrepertoires, ihrer verbalen und non-verbalen Kommunikationsakte sowie ihrer Handlungs- und Rollenträgerinnen und -träger. 1 Theodor Klauser, Kleine Abendländische Liturgiegeschichte. Bericht und Besinnung, Bonn 1965, S. 117. Anders als die viel erforschte Aufklärungszeit, ist das Barockzeitalter ein Stiefkind der Liturgiewissenschaft; klassisch, aber nicht unproblematisch vgl. z. B. Anton L. Mayer, Die Liturgie in der europäischen Geistesgeschichte. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Emmanuel von Severus, Darmstadt 1971, S. 97 – 184 [= JLW 15 (1941), S. 67 – 154]. Zur nachtridentinischen Reform der römischen Liturgie und ihrer Rezeption vgl. z. B. Winfried Haunerland, „Einheitlichkeit als Weg der Erneuerung. Das Konzil von Trient und die nachtridentinische Reform der Liturgie“, in: Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Teil I: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung (= LQF 88), hrsg. von Martin Klöckener und Benedikt Kranemann, Münster 2002, S. 436 – 465. 2 Hansjörg Auf der Maur, „Feste und Gedenktage der Heiligen“, in: ders. und Philipp Harnoncourt, Feiern im Rhythmus der Zeit II/1. Der Kalender / Feste und Gedenktage der Heiligen (= GDK 6,1), Regensburg 1994, S. 65 – 357; hier: S. 158 – 163. 3 Bekanntlich erfuhren schon vor der nachvatikanischen Liturgiereform die Tagzeitenliturgie (1911 unter Pius X.) und die Osterfeier (1951 – 1956 unter Pius XII.) tiefgreifende Strukturreformen.

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Dennoch ist es ein beachtliches Phänomen, dass das Rückgrat dieser vielfältigen Entwicklung aus einem Repertoire von Texten besteht, die weit mehr als ein Jahrtausend lang erstaunlich stabil tradiert wurden. Indem die (nach-) tridentinische Liturgiereform zahlreiche poetische Elemente und musikalische Formen mittelalterlicher Liturgie eliminierte,4 reduzierte sie vor allem die Gesangstexte auf jenes Kernrepertoire, das sich tatsächlich bis zu den ältesten Quellen der römischen Liturgie zurückverfolgen lässt und das damit zu den bedeutendsten Phänomenen abendländischer Kulturgeschichte gehört. Das Gesangsrepertoire der römischen Liturgie ist in der ausgehenden Spätantike entstanden und wurde wohl spätestens im 7. Jahrhundert redigiert;5 die ältesten erhaltenen Zeugnisse stammen aus dem 8. Jahrhundert, kodifizieren freilich nur die Texte.6 Zu dieser Zeit erfuhr der römische Kirchengesang allerdings auch schon eine tiefgreifende Veränderung, wenngleich seine Texte dabei nicht angetastet wurden: Was fürderhin als „Gregorianischer Gesang“ tradiert und ab dem 10. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, ist das Ergebnis einer stilistischen Transformation des römischen Erbes, als dieses unter Pippin III. (†  768) im Karolingerreich rezipiert wurde.7 Der solcherart transformierte Gesang wurde unter Karl dem Großen mit kaiserlicher Autorität verbreitet, im Laufe der folgenden Jahrhunderte in fast der ganzen abendländischen Christenheit übernommen und dabei jahrhundertelang erstaunlich stabil überliefert. Ein wesentliches Charakteristikum römischer Liturgie im ökumenischen Konzert der Spiritualitäten besteht nun in der starken biblischen Prägung ihrer Gesangstexte. Dieser relativ konsequente Biblizismus – der in der Praxis freilich immer wieder dadurch aufgeweicht 4 Abgesehen von der Erweiterung des Halleluja-Repertoires und der Instabilität der Offertorialverse, entstanden in der Karolingerzeit neue Gattungen wie Sequenzen, Tropen und Prosulae; vgl. z. B. David Hiley, Western Plainchant. A Handbook, Oxford 21995 [=11993], S. 518 – 520, sowie 172 – 238. Alle diese nachantik-nichtrömi­schen Zutaten stellen eine qualitative, nicht bloß quantitative Erweiterung des Gesangsrepertoires dar; dass sie freilich das aus Rom übernommene Repertoire ausschließlich ergänzten, aber nie einfach ersetzten, macht deutlich, dass man dieses zwar einerseits als unantastbar kanonisch betrachtete, darin aber trotzdem keinen hinreichenden Ausdruck der eigenen Spiritualität mehr erkennen konnte. 5 James McKinnon, The Advent Project. The Later-Seventh-Century Creation of the Roman Mass Proper, Berkeley 2000, hat ein plausibles Szenario entwickelt, das freilich auch auf Kritik gestoßen ist: vgl. z. B. Andreas Pfisterer, „James McKinnon und die Datierung des gregorianischen Chorals“, in: KMJ 85 (2001), S. 31 – 53. 6 Antiphonale Missarum Sextuplex, hrsg. von René-Jean Hesbert, Brüssel 1935, Nachruck Rom 1985. Das älteste Antiphonar, das auch die Gesänge des Offiziums enthält, stammt allerdings erst aus dem späteren 9. Jh.: Corpus Antiphonalium Officii (= RED.F 7 – 12), hrsg. von Renatus-Joannes Hesbert, Rom 1963 – 1979; hier: Bd. 2, Ms. C (Antiphonale von Compiègne, zwischen 860 und 880). 7 Die einschlägigen Quellen finden sich bei Helmut Hucke, „Die Einführung des Gregorianischen Gesanges im Frankenreich“, in: RQ 49 (1954), S. 172 – 187; zur Zuschreibung des römischen Kirchengesangs an Papst Gregor vgl. Harald Buchinger, „Gregor der Große und die abendländische Liturgiegeschichte: Schlüssel- oder Identifikationsfigur?“, in: Psallite sapienter. A 80 éves Béres György köszöntése / Festschrift zum 80. Geburtstag von Georg Béres, hrsg. von István Verbényi, Budapest 2008, S. 113 – 154, hier: S. 146 – 151. Das bis heute umstrittene Verhältnis zwischen dem (vor-) „Gregorianischen“ Gesang und jenem „Altrömischen“ Gesang, dessen älteste erhaltene Zeugen erst aus dem 11. Jahrhundert stammen, kann hier nicht weiter diskutiert werden.

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wurde, dass die überlieferten Gesänge durch freie Dichtungen ergänzt oder interpoliert wurden8 – unterscheidet die römische Liturgie nicht nur von den Ostkirchen, sondern auch von den übrigen Riten des lateinischen Westens.9 Innerhalb der biblischen Texte entstammt der bei weitem überwiegende Teil dem Psalter.10 Was in den kirchlichen Dokumenten bis in die jüngste Zeit als „Schatz der Kirchenmusik“ (Thesaurus musicae sacrae) bezeichnet wird,11 speist seine Texte also mehrheitlich aus den Psalmen. Im Folgenden soll erörtert werden, worin der spezifische Reichtum eines Schatzes besteht, der sich weitestgehend auf ein einziges biblisches Buch beschränkt. Dazu soll zuerst der Blick auf ausgewählte Propriumsstücke des Kirchenjahres, näherhin des Osterfestkreises, gelenkt werden, bevor in einem kürzeren zweiten Hauptteil nach der Bedeutung der Psalmen für den Alltag der kompetenten Feiersubjekte dieser Liturgie gefragt wird.12 Auf diese Weise soll der charakteristischen Theologie und Spiritualität jener Texte nachgegangen werden, welche die Grundlage auch und gerade der barocken Kompositionen waren; es soll gefragt werden, worin die intendierte liturgische Erfahrung besteht, und es sollen die zugrundeliegende Hermeneutik reflektiert und nicht zuletzt Voraussetzungen und Konsequenzen ihres sachgerechten Verständnisses benannt werden.13

8 S. o. Anm. 4. 9 Die Gesänge der römischen Liturgie enthalten nur ganz wenige nicht-biblische Texte, von denen ein Großteil nicht-römischen Ursprungs ist. 10 Vgl. Petrus Pietschmann, „Die nicht dem Psalter entnommenen Meßgesangstücke auf ihre Textgestalt untersucht“, in: JLW 12 (1932), S. 87 – 144. Einen heuristischen Überblick über die Bibelverwendung der römischen Liturgie in ihrer am Anfang des 20. Jhs. gefeierten Form bietet Carolus Marbach (Hrsg.); Carmina scripturarum, scilicet antiphonae et responsoria ex Sacro Scripturae fonte in libros liturgicos sanctae ecclesiæ Romanæ derivata, Straßburg 1907, Nachdruck Hildesheim 1994, der einerseits eine Menge neuzeitlicher Ergänzungen enthält, im Gegenzug dafür jene mittelalterlichen Stücke nicht verzeichnet, welche von der nachtridentinischen Reform nicht rezipiert wurden. 11 Vgl. die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Sacrosanctum Concilium § 114: „Der Schatz der Kirchenmusik möge mit größter Sorge bewahrt und gepflegt werden.“ (LThK.E 1, 96f ). 12 Der Kern dieser Ausführungen wurde schon in verschiedenen Kontexten vorgetragen, u.  a. in meiner Regensburger Antrittsvorlesung: „Lebensraum des Wortes: Zur Bibelverwendung der römischen Litur­gie am Beispiel ihrer Gesänge“, in: LJ 62 (2012), S. 181 – 206. Eine Vorstufe erschien als Teil des Aufsatzes: „Gottes-Lob und Seelen-Trost in der liturgischen Tradition. Am Beispiel des Gregorianischen Chorals“, in: Musica sacra: Gottes-Lob & Seelen-Trost (= Brixner Initiative Musik und Kirche. Zwanzigstes Symposion 2007), Brixen 2009, S. 41 – 67; Material aus dem ersten Hauptteil ist auch in den Beitrag „Die Osterfeier als ars moriendi et resurgendi“, in: Studia Theologica Transsylvaniensia 14 (2011), S. 41 – 60 eingegangen. 13 Grundlegend zum Thema vgl. Albert Gerhards, „Die Psalmen in der römischen Liturgie. Eine Bestandsaufnahme des Psalmengebrauchs in Stundengebet und Meßfeier“, in: Der Psalter in Judentum und Christentum (= Herders Biblische Studien 18), hrsg. von Erich Zenger, Freiburg 1998, S. 355 – 379, sowie weiterführend Harald Buchinger, „Zur Hermeneutik liturgischer Psalmenverwendung. Methodologische Überlegungen im Schnittpunkt von Bibelwissenschaft, Patristik und Liturgiewissenschaft“, in: HlD 54 (2000), S. 193 – 222.

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1. „Wer im Schutz des Höchsten wohnt …“: Psalmen im Proprium des Kirchenjahres 1.1. Das Tor zur Quadragesima: Der Introitus Invocavit am 1. Sonntag der Quadragesima Invocavit (einige Mss.: Invocabit) me, et ego exaudiam eum: eripiam eum, et glorificabo eum: longitudine dierum adimplebo eum. + Ps Qui habitat in adiutorio altissimi (Ps 90 [91] + Antiphon V. 15f )14

Am Beginn der beiden großen Festkreise des Kirchenjahres steht jeweils ein markanter Introitus: Wie Ad te levavi als erstes Stück den Advent eröffnet, so markiert der Introitus Invocavit am ersten Sonntag der Quadragesima den Anfang des Osterfestkreises.15 Der Psalm 90 (91), dem die Antiphon entnommen ist, hat dabei programmatische Bedeutung von denkbar großer Reichweite:16 Nach dem Introitus kehrt er nicht nur im Gradual-Responsorium mit exakt jenen Versen wieder, welche im Tagesevangelium von der Versuchung Christi zitiert werden: Angelis suis mandavit de te (V. 11f zit. Mt 4,6: „Seinen Engeln hat er befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“); der Psalm prägt vielmehr sämtliche Gesänge des Messformulars – ein einmaliger Fall im gesamten Repertoire, der umso markanter ist, als der ungewöhnlich lange Tractus Qui habitat („Wer im Schutz des Höchsten wohnt“) zu jenen äußerst seltenen Fällen gehört, in welchen substantielle Teile eines längeren Psalms zu Gehör gebracht werden.17 Darüber hinaus ist V. 4 in der überkommenen Tagzeitenliturgie als Kurzresponsorium Scapulis suis („Mit seinen Flügeln beschirmt dich der Herr“) ein ostinates Leitmotiv der ganzen Vierzig Tage vor Ostern;18 spätestens damit wird klar, dass der Psalm nicht nur seiner neutestamentlichen Beziehung zu Christus wegen in seine prominente Rolle gekommen ist (zumal ja nicht vergessen werden darf, dass er im Evangelium des ersten Quadragesima-Sonntags dem Teufel in den Mund gelegt ist, um Christus zu versuchen!). Die christologische Dimension des Textes tritt allerdings eindeutig in den Vordergrund, wenn nach einigen Zeugen der altrömischen Tradition im Wortgottesdienst des Karfreitags

14 „Er rief mich an, und ich werde ihn erhören; ich werde ihn erretten und ihn verherrlichen; mit langem Leben werde ich ihn sättigen. Wer im Schutz des Höchsten wohnt […]“. 15 Wie in der Ambrosianischen Liturgie Mailands bis heute, begann vermutlich auch in Rom die Quadragesima ursprünglich mit deren erstem Sonntag; vgl. z. B. Winfried Böhne, „Beginn und Dauer der römischen Fastenzeit im sechsten Jahrhundert“, in: ZKG 77 (1966) S. 224 – 237. 16 Vgl. Balthasar Fischer, „Conculcabis leonem et draconem. Eine deutungsgeschichtliche Studie zur Verwendung von Ps 91 (90) in der Quadragesima“, in: ders., Die Psalmen als Stimmen der Kirche. Gesammelte Studien zur christlichen Psalmenfrömmigkeit, hrsg. von Andreas Heinz, Trier 1982, S. 73 – 83 [= ZKTh 80 (1958), S. 421 – 429]. 17 Vergleichbare Länge erreicht sonst nur der Tractus Deus, deus meus vom Palmsonntag; vgl. Antiphonale Missarum Sextuplex (wie Anm. 6), S. 88f, N° 73b. 18 In der ältesten Tradition spielt das Kurzresponsorium freilich noch nicht die zentrale Rolle, die ihm später zuwachsen sollte; vgl. Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 4, S. 400, N° 7624.

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wiederum der Tractus Qui habitat vorgetragen wird.19 In der Gregorianischen Klanggestalt reichen die Bezüge des Introitus aber noch darüber hinaus: Vielleicht darf man in der Floskel über der Akzentsilbe des Wortes glorificabo einen österlichen Anklang hören: Die Neumengruppe findet sich sonst nur in den Tracten und Cantica des VIII. Modus, die vor allem für die Osternacht charakteristisch sind;20 dort erklang sie in der überkommenen Liturgie erstmals in Fortsetzung der Exodus-Lesung im ersten Vers des Schilfmeerliedes Ex 15,1f Cantemus Domino: gloriose enim honorificatus est („Lasst uns dem Herrn singen: Als überaus herrlich hat er sich erwiesen“) im unmittelbarem Zusammenhang eines Wortes derselben Wurzel.21 Ist es zu weit hergeholt, die Zusage des Introitus aus Ps 90 (91),15f. Invocavit me, et ego exaudiam eum: eripiam eum, et glorificabo eum: longitudine dierum adimplebo eum („Er rief mich an, und ich werde ihn erhören; ich werde ihn erretten und verherrlichen; mit langem Leben werde ich ihn sättigen.“) durch dieselbe Melodie und dieselbe Wortwurzel mit dem Ostergeschehen verknüpft zu sehen? 1.2. „Jesu Weg – unser Weg“: Der Introitus Judica am 5. Sonntag der Quadragesima Judica me deus, et discerne causam meam de gente non sancta: ab homine iniquo et doloso eripe me: quia tu es deus meus et fortitudo mea. + Ps Quare me reppulisti … (Ps 42 [43] + Fortsetzung V. 2f )22

Über weite Strecken ist die Quadragesima nicht vom Leidensweg Christi geprägt. Gerade die Gesänge kreisen immer wieder um andere Inhalte, nicht zuletzt um die Taufvorbereitung. Erst am 5. Sonntag der Quadragesima – vereinzelt schon in ältesten Quellen als „Passionssonntag“ bezeichnet23 – kippt die Perspektive: Mit der Woche vor dem Palmsonntag tritt der prototypische Verfolgte in den Vordergrund der liturgischen Gesangstexte. Mit den Worten von individuellen Klageliedern und Feindpsalmen wird in immer neuen Variationen die Situation der Bedrängnis und der Schrei nach Rettung artikuliert; dementsprechend aufgewühlt, zugleich aber mit fast fordernder Zuversicht – „Denn du bist mein Gott und 19 Vgl. z. B. die Ordines Romani 23, 18 (SSL 24, S. 271 Andrieu); 24, 24 (ebd. S. 292); 27, 37 (ebd. S. 355); 30B, 31 (ebd. S. 471) und die weiteren von Hesbert, Antiphonale Missarum Sextuplex (wie Anm. 6), S. LIX, Anm. 4 zitierten Zeugnisse („altrömische“ und benevantanische Meß-Antiphonalien; Amalar). 20 In den Tracten des VIII. Modus markiert die Floskel die Akzentsilbe der Mediatio; vgl. Xaver Kainz­ bauer, Der Tractus tetrardus. Eine centologische Untersuchung (= Beiträge zur Gregorianik 11), Regensburg 1991, S. 29 – 31; 110. 21 Vermutlich weil die Melodiefloskel nicht direkt auf demselben Wort, sondern eine Silbe später auf der Präposition steht, wurde dieser Anklang von Eugène Cardine nicht verzeichnet; zu dessen Liste vgl. Emmanuela Kohlhaas, „Eugène Cardines ,Liste‘: mêmes textes – mêmes mélodies“, in: Beiträge zur Gregorianik 33 (2002), S. 45 – 62. Die Beobachtung verdankt sich wie vieles vom Folgenden verschiedenen unpublizierten Hinweisen von Godehard Joppich. 22 „Verschaff mir Recht, o Gott, und entscheide meine Sache gegen ein unheiliges Volk; vor dem bösen und listigen Menschen rette mich! Denn du bist mein Gott und meine Stärke. Warum hast du mich verstoßen […]“. 23 So z. B. im Antiphonale von Compiègne: Antiphonale Missarum Sextuplex (wie Anm. 6), S. 81, N° 67a: Dominica de passione Domini.

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meine Stärke“ – ist der Introitus Judica vertont, und es ist von der Liturgie durchaus intendiert, den in erster Person sprechenden Beter dieser Psalmworte mit Christus zu identifizieren; terminologisch gesprochen: der Psalm wird „christologisiert“. Diese „Christologisierung“ der Psalmen ist ein hermeneutischer Mechanismus, der in der altkirchlichen Exegese grundgelegt ist und einen Großteil der Propriumstexte der Festzeiten bestimmt.24 Im Gottesdienst geht es freilich nicht einfach um Exegese; der liturgische Vollzug ermöglicht vielmehr eine Identifikation zwischen dem aktuellen Beter und dem Subjekt des biblischen Textes,25 das bedeutet im Falle der Christologisierung eben auch: mit Christus. „Jesu Weg“ und „unser Weg“ laufen zusammen.26 Dieser Weg ließe sich durch die ganze Passionszeit und die Liturgie der Karwoche verfolgen; hier soll der Blick nur kurz auf ausgewählte Stücke des Karsamstags und des Ostersonntags gelenkt werden. 1.3. Höhepunkt der Dramatik am „aliturgischen Tag“: Zu den Antiphonen der Karsamstagsvigil Besondere Verdichtung erfährt die liturgische Hermeneutik just an jenem Tag, der als „aliturgischer Tag“ bezeichnet wird, weil an ihm keine Eucharistiefeier stattfindet;27 umso dramatischer wird freilich der Tag zwischen Karfreitag und Ostern in der Tagzeitenliturgie vor allem der Nacht- und Morgenhore (Vigil und Laudes) entfaltet.28 Bemerkenswert ist dabei die Ökonomie der Mittel, mit denen dieser Höhepunkt der Dramatik erreicht wird: Mit ausschließlich alttestamentlichen Texten wird der Kern des Ostergeschehens – nach der Liturgiekonstitution des II. Vatikanums: des Paschamysteriums Christi – zum Ausdruck gebracht. Einige markante Beispiele aus der mittelalterlichen Tradition dieses Offiziums müssen im gegebenen Kontext genügen.29 24 Vgl. u. a. Fischer, Psalmen (wie Anm. 16), und André Rose, Les psaumes. Voix du Christ et de l’Église, Paris 1981, sowie weiterführend Gerhards, Psalmen, und Buchinger, „Hermeneutik“ (wie Anm. 13); ergänzend vgl. auch die in Anm. 38 zitierte Studie von Marie-Josèphe Rondeau. 25 Albert Gerhards, „Liturgiewissenschaftliche Perspektiven auf den gregorianischen Choral“, in: KMJ 85 (2001), S. 17 – 30; hier: S. 20, spricht auch von einer „Rollenidentifikation“ im Anschluss an Angelus A. Häußling, „Liturgie: Gedächtnis eines Vergangenen und doch Befreiung in der Gegenwart“, in: ders., Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche (= LQF 79), hrsg. von Martin Klöckener, Benedikt Kranemann und Michael B. Merz, Münster 1997, S. 2 – 10; hier: S. 7 [Erstveröffentlichung in: Vom Sinn der Liturgie. Gedächtnis unserer Erlösung und Lobpreis Gottes (= SKAB 140), hrsg. von Angelus A. Häußling, Düsseldorf 1991, S. 118 – 130]. 26 Vgl. den programmatischen Titel von Josef Wohlmuth, Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg 1992. 27 Vgl. Hansjörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I: Herrenfeste in Woche und Jahr (= GDK 5), Regensburg 1983, S. 113. 28 Die Tageshoren des Karsamstags waren im Mittelalter wegen der zunehmenden Vorverlegung der Osternachtfeier von untergeordneter Bedeutung. 29 Gemäß dem „Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit“ (vgl. den gleichnamigen Artikel von Anton Baumstark in JLW 7 [1927], S. 1 – 23) gehört das Offizium des Karsamstags zum stabilsten Material der gesamten westlichen Tagzeitenliturgie; Bestand und Reihenfolge der Antiphonen haben von den ältesten erhaltenen Manuskripten bis zur letzten vorkonziliaren Auflage des nach-

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Vorweg ist festzuhalten, dass die Vigilpsalmen des Karsamstags sämtlich individuell ausgewählt sind, um den Inhalt des Tages zu entfalten; es gibt keinerlei Entsprechung zur Psalmenverteilung des Samstags im Wochenschema, und wenn mit Ps 14 (15) und 15 (16) ein einziges Mal zwei benachbarte Psalmen direkt nacheinander vorkommen, ist das wohl als Ausnahme zu verstehen. Dagegen ist es kein Zufall, dass die liturgische Anordnung der verschiedenen Psalmen deren biblische Reihenfolge niemals umkehrt. Die Antiphonen sind allesamt psalmogen, das heißt dem entsprechenden Psalm entnommen; ihre Auswahl ist allerdings ebenfalls sehr spezifisch: Die meisten Texte finden sich nur am Karsamstag; wo einzelne Texte in anderen Zusammenhängen wiederkehren wird darum ein theologisch bedeutsamer Bezug hergestellt, der das Verständnis im jeweiligen Kontext inhaltlich prägt. Aus der 1. Nokturn 1. Antiphon: In pace in idipsum dormiam et requiescam. (Ps 4,9)30

Die Eröffnung einer Gebetszeit setzt die Vorzeichen für alles, was folgt. Das Offizium des Karsamstags beginnt mit einem gleichermaßen vertrauten wie ungewöhnlichen Element: Ps 4 ist jener Psalm, der spätestens seit Benedikt in täglicher Wiederkehr die Psalmodie der Komplet eröffnet; als Antiphon dient dabei der markante Schlussvers, der mit seinem Bezug auf „Einschlafen und Ruhen“ wohl den Ausschlag für diese Auswahl gegeben hat.31 Diese Verknüpfung hat Auswirkungen für die Wahrnehmung beider Situationen: Einerseits erfährt der Morgen nach dem dramatischen Geschehen des Karfreitags seine Deutung von der allabendlichen Erfahrung des Zu Bett-Gehens und Einschlafens; die Anwendung dieser anthropologischen Grunderfahrung auf den Tod Jesu impliziert dabei eine positive Perspektive: Dass dem Einschlafen normalerweise das Erwachen folgt, weckt die Hoffnung, dass es auch von diesem Schlaf eine Auferstehung gebe. Andererseits wirkt die exponierte Verwendung des Kompletpsalmes am Karsamstag auf das Verständnis im alltäglichen Gebetsvollzug zurück: Im Licht des Todesschlafes Christi wird das gewohnte Nachtgebet zur täglichen ars moriendi (weshalb Ps 4 gelegentlich auch in der mittelalterlichen Totenliturgie Verwendung fand).32 Die wechselseitige Interpretation tridentinischen Breviers keine Veränderung erfahren. Dieses einstimmige Zeugnis erübrigt die Differenzierung regionaler Besonderheiten oder historischer Entwicklungen. Für eine differenzierte Analyse vgl. Ingrid Fischer, Die Tageszeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern: Liturgie – Theologie – Spiritu­ alität (= Pietas Liturgica. Studia 22), Tübingen 2013. 30 „In Frieden zumal will/werde ich schlafen und ruhen.“ 31 Nach der Benedikt zugeschriebenen Mönchsregel 17, 9 (Die Benediktusregel lateinisch-deutsch, hg. von Basilius Steidle, Beuron 41980, S. 102) hat die Psalmodie der Komplet keine Antiphon; vgl. aber schon die Deutung bei Amalar († um 850?): „ipse cantatur in completorio propter orationem quam in se continet: ‚In pace in idipsum dormiam et requiescam‘“ (= De ordine antiphonarii 7, 3 [StT 140, S. 35, 17 – 19 Hanssens]). 32 Vgl. wiederum Amalar: „Somnus enim est imago mortis. Idcirco aliquos psalmos in isto officio cantamus, quos solemus cantare in nocte sabbati, quando Dominus requievit in sepulchro, et quos ipse cantavit in cruce, et nostra ecclesia canit in officio mortuorum” (= De ordine antiphonarii 7, 2 [StT 140, S. 35, 2 – 15

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von Abendritual und Christusereignis durch Ps 4 führt in denselben Zirkel wie die Verwendung von Ps 30 (31),6 In manus tuas commendo spiritum meum als Responsorialvers der Komplet;33 stirbt doch Jesus in Lk 23,46 nicht wie bei Mk 15,34 und Mt 27,46 mit dem Ps 21 (22) entnommenen Schrei der Gottverlassenheit, sondern indem er seinen Geist mit den Worten von Ps 30 (31),6 in die Hände des Vaters übergibt. Die tägliche commendatio animae erfährt ihre Deutung vom Tod Jesu her und umgekehrt. Es versteht sich von selbst, dass am Karsamstag zunächst Christus der intendierte Sprecher des Psalms ist; er ist es, der „schlafen und ruhen“ wird. Die Bedeutung des Textes für den liturgischen Vollzug erschöpft sich aber nicht in der Interpretation des Todes Jesu; die Worte aus dem täglichen Nachtgebet sind in einem Höchstmaß offen für die Identifikation des Beters: Seine alltägliche Erfahrung führt ihn nicht nur in die Mitte des Christusereignisses, sondern lehrt ihn zugleich, den eigenen Tod als Schlaf anzunehmen, aus dem es ein Erwachen geben wird. Hinter der hermeneutisch gekonnten Auswahl der Antiphon scheint keine besonders alte christologische Auslegungstradition zu stehen; in der ältesten Patristik findet sich jedenfalls kein Beleg für die Verwendung von Ps 4,9 als Interpretament des Todesschlafes Christi. Dieser Kunstgriff ist also vermutlich jenen zuzuschreiben, welche das Karsamstagsoffizium zusammengestellt haben. 3. Antip­hon: Caro mea requiescat in spe. (Ps 15 [16],9)34

Anders als die erste, kann sich die dritte Antiphon der ersten Nokturn auf eine urchristliche Auslegungstradition berufen; nach Apg 2,25 – 32 dient Ps 15 (16),8 – 11 schon der Pfingstpredigt des Petrus als Schriftbeweis dafür, dass „Gott ihn [sc. Jesus, den Nazaräer] von den Wehen des Todes befreit und auferweckt hat“ (Apg 2,24); mit demselben Psalm argumentiert auch Paulus nach Apg 13,34 – 37 im pisidischen Antiochia. Während dort freilich nur Vers 10 („Du lässt nicht zu, dass dein Heiliger Verwesung schaue“) in den Dienst des Auferweckungs­kerygmas genommen wird, ist nach Apg 2,30f Vers 9, dem unsere Antiphon entnommen ist, Gegenstand der „vorausschauenden Rede“ des Propheten David „über die Auferstehung Christi“. Dieser von der Apostelgeschichte ausgehende Auslegungsstrang zieht Hanssens]). Zu dieser Verwendung von Ps 4,9 im Totenoffizium vgl. Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 417, N° 146c (Codex Monza quando ponitur in sepulchrum) sowie Damien Sicard, La liturgie de la mort dans l’église latine des origines à la réforme carolingienne (= LQF 63), Münster 1978, S. 125; 134; 137. 33 Diese Neuerung der karolingischen Liturgiereform liegt auf derselben Linie wie die gleichzeitige Einführung des Canticum Simeonis Nunc dimittis aus Lk 2,29 – 32. Zum Unterschied von der monastischen Tradition kennt die säkulare Tagzeitenliturgie außerdem Ps 30 (31) als Teil der Komplet­psalmodie; auch dieser Brauch ist schon bei Amalar belegt, wobei er hervorhebt: „Psalmus ‚In te, Domine, speravi‘ cantatus est a Christo in cruce, et in eo loco ubi se commendavit Patri dicens: ‚In manus tuas commendo spiritum meum‘, finitur in isto officio“ (= De ordine antiphonarii 7, 3 [StT 140, S. 35, 19 – 21 Hanssens]). Insgesamt vgl. auch Theodor Maas-Ewerd, „,Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben‘. Pastoralliturgische Erwägungen zur Komplet und zur Commendatio als deren ,Schlüsselwort‘“, in: BiLi 75 (2002), S. 126 – 133, mit weiteren Literaturhinweisen. 34 „Mein Fleisch ruhe in Hoffnung“.

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sich durch die gesamte patristische Literatur.35 Im Zusammenhang der Verse 8 – 11 berufen sich schon am Anfang des 3. Jahrhunderts Klemens von Alexandrien und Hippolyt auf das Zeugnis.36 Nach Hippolyt „bezeichnet“ der Text „den Heilszusammenhang (μυστικῶς σημαίνει) zu Tod und Auferstehung Christi“;37 bei Klemens soll Ps 15 (16),8 – 11 die Ausdehnung der Verkündigung auf die Verstorbenen im Hades belegen. Darüber hinaus betont Klemens, dass „David, aber mehr noch der Herr […] in der Person des Frommen (ἐκ προσώπου τοῦ ὁσίου)“ spreche, da „seit Gründung der Welt jeder zu verschiedenen Zeiten durch den Glauben Gerettete oder auch zu Rettende ein (und derselbe) ist.“38 Hansjörg Auf der Maur schloss aus Form und Inhalt einer Homilie des Asterios (4. Jh.) zu diesem Psalm, „dass Ps 15 in der Osternachtliturgie verwendet wurde.“39 Alle zitierten Texte betonen die dynamische Einheit des Paschamysteriums Christi, das Tod und Auferstehung umfasst.40 Der christlichen Tradition zufolge beinhaltet das Psalmwort also mehr als eine bloße Auferstehungsprophetie. Seine Verwendung im Karsamstagsoffizium steht demnach nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in der Mitte der Osterliturgie; gewisse Stränge der Deutungstradition führen zudem zum Theologoumenon der Hadesfahrt Christi und damit ins Zentrum der altkirchlichen Christologie und Soteriologie.41 Während sich die Christologisierung der ersten beiden Antiphonen nur aus ihrer liturgischen Stellung im Karsamstagsoffizium ergibt, greift die dritte erstmals auf einen neute­ stamentlichen Bezug zum Christusereignis zurück; auch dieser bleibt freilich implizit und 35 Vgl. Hansjörg Auf der Maur, „Zur Deutung von Ps 15 (16) in der Alten Kirche. Eine Übersicht über die frühchristliche Interpretationsgeschichte bis zum Anfang des 4. Jhs.“, in: Bijdr. 41 (1980), S. 401 – 418. Ps 15 (16),10 erfährt die weitaus breitere Rezeption als V. 9. Die älteste erhaltene unabhängige Auslegung dieses Verses stammt von Origenes, der den Vers auf Auferstehung und leibliche Aufnahme Christi in den Himmel bezieht; Ps 15 (16),9 zeige, dass Christus „nicht nur von den Toten aufersteht – das wäre nämlich zu wenig –, sondern in jener ,Hoffnung ruht‘ weil (sein Fleisch) in den Himmel aufgenommen wurde.“ (Apologie des Pamphilus 145 [FC 80, 362f Röwekamp]). 36 Vgl. Harald Buchinger, „Die älteste erhaltene christliche Psalmenhomilie. Zu Verwendung und Verständnis des Psalters bei Hippolyt“, in: TThZ 104 (1995) S. 125 – 144; S. 272 – 298; hier: S. 282 – 284. Irenäus zitiert den Psalm nur im Zusammenhang eines längeren Zitates aus Apg 2: haer. 3, 12, 2 (FC 8/3, S. 122,10 – 15 Brox). 37 Hom. Ps 15 (Pierre Nautin, Le dossier d’Hippolyte et de Méliton dans les florilèges dogmatiques et chez les historiens modernes [= Patr. 1], Paris 1953, S. 179); Übersetzung nach Buchinger, „Psalmenhomilie“ (wie Anm. 36), S. 142. 38 Strom. 6, 6 § 48f; Zitat § 49, 2 (GCS 24, S. 456f Stählin/Früchtel/Treu; Zitat 456, 28 – 457, 1). Es ist eine Grundfrage spätantiker Psalmenexegese, wer die in einem gegebenen Psalm redende Person sei; vgl. Marie-Josèphe Rondeau, Les commentaires patristiques du Psautier (IIIe – Ve siècles). Vol. II: Exégèse prosopologique et théologie (= OCA 220), Rom 1985. Selbstverständlich darf auch die historisierende Spielart der prosopologischen Exegese nicht einfach mit einem verengten Konzept faktischer Historizität verwechselt werden. 39 Auf der Maur, „Deutung“ (wie Anm. 35), S. 418. Die neuere Infragestellung der Zuschreibung der von Auf der Maur untersuchten Psalmenhomilien an Asterios den Sophisten erschwert die historische Einordnung noch weiter. 40 Einzelne Traditionen erweitern diese beiden Pole zum Leiden auf der einen oder zur Erhöhung auf der anderen Seite hin; vgl. die differenzierte Analyse bei Auf der Maur, „Deutung“ (wie Anm. 35). 41 Das Stichwort ᾅδης (= infernum = ‫ )שאול‬findet sich in V. 10 des Psalms.

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evoziert nicht in erster Linie die Dramatik des Geschehens. Eine theologisch differenziertere inhaltliche Anreicherung erfährt die schlichte Hoffnungsaussage nur im Licht ihrer christlichen Wirkungsgeschichte. Die in der Apostelgeschichte angelegte christologische Determination des Textes wird in der Liturgie dadurch verstärkt, dass er als Offiziumsantiphon ausschließlich am Karsamstag zu Wort kommt. Wie bei der ersten Antiphon besteht freilich auch hier keinerlei Hindernis dafür, dass sich der Beter mit dem in erster Person vorgetragenen Text zu identifizieren und damit seiner eigenen Hoffnung Ausdruck zu verleihen vermag; wie schon Klemens von Alexandrien ausdrücklich betont, steht die Christologisierung des Psalms im Dienst der Soteriologie. Es lässt sich zusammenfassen: Nach den aufwühlenden Ereignissen des Karfreitags entwirft die erste Nokturn des Karsamstags ein Bild des Friedens; „Friede“ ist das erste, „Hoffnung“ das letzte Wort über dieser Gebetseinheit; das Leitwort, das alle drei Antiphonen verbindet, ist requiescere. Der Tod Christi wird als „Schlafen und Ruhen“, als „Wohnen im Zelt Gottes“ und „Ruhen auf seinem heiligen Berg“, und als „Ruhen des Fleisches in der Hoffnung“ beschrieben. Hermeneutisch wird auf alle Texte die „Christologisierung von unten“ angewandt: die erste und die dritte Antiphon sprechen in persona Christi; die zweite trifft eine Aussage über ihn. Alle drei bedienen sich ausschließlich modaler oder futurischer Verbalformen, weisen also auf eine noch ausständige Zukunft hin. Die Christologisierung ist dabei kein exklusiver Vorgang; sämtliche Antiphonen bleiben offen für die volle Aneignung durch den Beter. Aus der 2. Nokturn Sprachlich und theologisch ändert sich die Betrachtungsweise in der zweiten Nokturn; diese setzt mit einem markanten Imperativ ein: 1. Antiphon: Elevamini portae aeternales et introibit Rex gloriae. (Ps 23 [24] 7=9)42

Die archaische Aufforderung von Ps 23 (24),7=9 an die „ewigen Pforten“, sich zu öffnen, damit „der König der Herrlichkeit einziehe“, kann an eine reiche christliche Wirkungsgeschichte anknüpfen: Der Text wurde gleichermaßen zur Illustration der Menschwerdung Christi („descendit de caelis“) wie auch seines österlichen Transitus herangezogen, wobei er sowohl auf seinen Abstieg in die Unterwelt („descendit ad inferna/inferos“) als auch auf den entsprechenden Aufstieg („ascendit in caelos“) angewandt wurde.43 Dieser Gebrauch von Ps 23 (24) reicht zwar nicht ins Neue Testament zurück, wie überhaupt umstritten ist, ob die 42 „Hebt euch, ihr ewigen Pforten, und der König der Herrlichkeit wird einziehen.“ 43 Nach Franz-Rudolf Weinert, Christi Himmelfahrt. Neutestamentliches Fest im Spiegel alttestamentlicher Psalmen. Zur Entstehung des römischen Himmelfahrtsoffiziums (= Diss.T 25), St. Ottilien 1987, S. 143 – 147, vgl. zur patristischen Rezeptionsgeschichte von Ps 23 (24) umfassend die leider unpublizierte Diplomarbeit von Michael Margoni-Kögler, Psalm 24 und Christi Himmelfahrt. Ein Beitrag zur patristischen Psalmenauslegung, Universität Wien 1994.

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Vorstellung einer Hadesfahrt Christi biblisch zu rechtfertigen ist. Spätestens seit Origenes das Pascha des Herrn von Ex 12,11 als „Hinübergang des Herrn“ (ὑπέρβασις τοῦ κυρίου) interpretiert und den Aufstieg nach der Hadesfahrt im Licht des Einzugsszenarios von Ps 23 (24) kommentiert hat,44 ist der Psalmvers jedenfalls ein wichtiges Interpretament des christologisch verstandenen Pascha. Die Hippolyt zugeschriebene Paschahomilie beweist, dass es sich zu dieser Zeit auch unabhängig von der genialen philologisch‑theologischen Synthese des Origenes, welche der christologischen Vorstellung eine semantische Basis im alttestamentlichen Text gibt, bereits um einen differenziert akzentuierten Topos der christlichen Paschafeier gehandelt haben muss.45 Der Einzug Christi in den Himmel wird dabei nie isoliert betrachtet; das christologische Mysterium des Aufstieges in den Himmel dient vielmehr immer der soteriologischen Aussage, dass dadurch generell der Aufstieg eröffnet sei.46 Vor dem komplexen patristischen Deutungshintergrund ist die Antiphon eine klare Anspielung auf das urchristliche Motiv der Hadesfahrt Christi; der Kontext des Karsamstagsoffiziums lässt dabei offen, ob der Aspekt des Abstieges („descensus“) oder des Aufstieges („ascensus“) im Vordergrund steht, ob also mit den „ewigen Pforten“ primär die der Unterwelt oder eher die des Himmels gemeint seien.47 Damit enthält sich die römische Liturgie mit der ihr eigenen Diskretion einer problematischen Festlegung auf Details überkommener theologischer Vorstellungen. Ähnlich differenziert wie die patristische Wirkungsgeschichte ist die liturgische Verwendung des Psalmverses. Der in der Alten Kirche breit belegte Gebrauch von Ps 23 (24) am Fest Christi Himmelfahrt ist liturgietheologisch als Ausgliederung des Aufstiegs-Motivs aus dem eigentlichen Pascha-Kern zu verstehen. 48 Es ist seltsam, dass gerade dieser Aspekt, der auch die patristische Wirkungsgeschichte dominiert, in der römischen Liturgie keinen Niederschlag gefunden hat: Selbst in der monastischen Ergänzungspsalmodie der Himmelfahrtsvigil ist Ps 23 (24) nur ein sekundäres Element.49 Schon in den ältesten Zeugen der römischen Liturgie wird das Verständnis der Antiphon aber durch die Verwendung im Weihnachtsfestkreis bereichert: Neben der einhelligen Bezeugung in der Vigil des Oktavtages von Weihnachten,50 vereinzelt auch am Festtag selbst,51 hat Ps 23 (24),7 einen bedeutenden Platz

44 Pasc. 2, 29 – 31 (Papyrus S. 47, 34 – 48, 28). 45 Pasch. 46; 61f (SPMed 15, S. 292; 314 Visonà). 46 Vgl. Harald Buchinger, Pascha bei Origenes (= IThS 64), Innsbruck 2005, 2, S. 774f, mit zahlreichen Belegen. 47 Vor allem in der östlichen Anastasis‑Ikonographie spielen die Tore des Hades eine wichtige Rolle; vgl. Weinert, Himmelfahrt (wie Anm. 43), S. 147 mit Anm. 23 (Literatur). 48 Nach Weinert, Himmelfahrt (wie Anm. 38), S. 147f, hat Margoni-Kögler, Psalm 24 (wie Anm. 43), S. 116 – 119 die wichtigsten Zeugnisse analysiert. Es ist bezeichnend, dass Ps 23 (24),7 – 10 in der koptischen Liturgie der Paschavigil gesungen wird. 49 Von den ältesten Zeugen des Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 2, S. 427, N° 93a, kennt ihn nur das Ms. Silos als 5. Psalm der 1. Nokturn; vgl. aber die Übersicht bei Weinert, Himmelfahrt (wie Anm. 43), S. 42 – 48. 50 Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 1, S. 60f, N° 23b, und 2, S. 92f, N° 23a. 51 Ebd., 2, S. 64f, N° 19b (Codices Hartker, Silos, Benevent).

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in den Messgesängen des Advents.52 Der Einzug des Königs der Herrlichkeit erhält dadurch einen inkarnatorischen, im Bild der „ewigen Pforten“ vielleicht sogar jenen marianischen Akzent, der in orientalischer Theologie und Liturgie entfaltet wird.53 Der Zusammenklang dieser liturgischen Resonanzen hat zur Folge, dass auch am Karsamstag nicht nur das Paschamysterium im engeren Sinne des österlichen Transitus von Hades- und/oder Himmelfahrt, sondern das gesamte Christusereignis von der Menschwerdung bis zur Erhöhung als Einheit Gegenstand der feiernden Vergegenwärtigung wird. Im zweiten Teil der Antiphon erreicht auch die Steigerung der christologischen Aussagen einen Höhepunkt: Die erste Nokturn hatte auf explizite Christus-Prädikationen gänzlich verzichtet, und auch indirekt kommt Christus nur als prototypischer Gerechter (Ps 14 [15]) und als „Messias“ (Ps 15 [16] in der Deutung von Apg 2,31) zur Sprache; dagegen ist nun von ihm – immer noch mit Worten des Alten Testaments – als „König der Herrlichkeit“ die Rede,54 und das nicht erst im Triumph des Ostermorgens, sondern schon in der Hadesfahrt des Karsamstags: gewissermaßen ein Höhepunkt am Tiefpunkt. Hermeneutisch ist festzuhalten, dass die zweite Nokturn den Blick erstmals exklusiv auf das Christusereignis lenkt, wobei das christologische Verständnis des Psalmverses eindeutig die biblischen Vorgaben verlässt. Der jeweilige Beter kommt nicht direkt zur Sprache. Damit geht die soteriologische Dimension freilich nicht verloren: Gerade die Anknüpfung an das Theologoumenon der Hadesfahrt Christi führt in die Mitte der altkirchlichen Auffas-

52 Neben dem breit, aber nicht einhellig bezeugten Vers Tollite portas zum ersten Offiziumsresponsorium des Advents, Aspiciens a longe (Corpus Antiphonalium Officii [wie Anm. 6], 4, S. 32, N° 6129), das auch mit dem in der römischen Liturgie an diesem Tag verkündeten Evangelium vom Einzug Jesu nach Jerusalem zusammenhängen kann (vgl. aber Anm. 53 zum eindeutig marianisch konnotierten Responsorium Ecce virgo concipiet), vgl. v.  a. das Graduale Tollite portas am Mittwoch der AdventsQuatemberwoche (Antiphonale Missarum Sextuplex [wie Anm. 6], S. 6f, N° 5a), sowie das demselben Vers 7 entnommene Offertorium der Vigil-Messe von Weihnachten (Antiphonale Missarum Sextuplex S. 12f, N° 8); zur bestürzenden Schlusswendung auf der Aussage über den rex gloriae vgl. Godehard Joppich, „Christologie im Gregorianischen Choral“, in: Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche – Christusbekenntnis und Sinaibund, hrsg. von Klemens Richter und Benedikt Kranemann (= QD 159), Freiburg 1995, S. 270 – 291; hier: S. 289f. Ohne die Antiphon findet sich der Psalm außerdem als Prozessionsgesang am Palmsonntag (vgl. Graduale triplex seu Graduale Romanum Pauli PP. VI cura recognitum & rhythmicis signis a solesmensibus monachis ornatum neumis laudunensibus (cod. 239) et sangallensibus (codicum san gallensis 359 et einsidlensis 121) nunc auctum. Solesmes 1979, S. 139); der Einzug ins irdische Jerusalem wird dadurch auch zu einem Abbild des Einzugs Christi in den Himmel. 53 Vgl. Weinert, Himmelfahrt (wie Anm. 43), S. 148 mit Anm. 29. Evident ist der marianische Aspekt in der vereinzelten Verwendung des Graduale Tollite portas am Fest der Verkündigung an Maria (Antiphonale Missarum Sextuplex [wie Anm. 6], S. 43, N° 33a [nur Codex Senlis]), sowie in den Antiphonalien, die den Text als Vers zum ersten Responsorium der dritten Nokturn Ecce virgo concipiet am 1. Adventsonntag vorsehen (Corpus Antiphonalium Officii [wie Anm. 6], 4, S. 159, N° 6620). Offener ist hingegen die Verwendung des Offertoriums Tollite portas an Purificatio (2. Februar) nach dem Antiphonale von Rheinau (Antiphonale Missarum Sextuplex S. 38, N° 29b). 54 Die Königs-Christologie ist ein wichtiger Grundzug des traditionellen Offiziums sogar und gerade des Karfreitags, kann hier aber nicht weiterverfolgt werden.

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sung vom österlichen Heilsgeschehen; der paschale transitus Domini hat ja mit den Worten des Origenes „durch seinen Aufstieg einen Aufstiegsweg in den Himmel bereitet“.55 Aus der 3. Nokturn 3. Antiphon: Factus sum sicut homo sine adiutorio, inter mortuos liber. (Ps 87,5 [88,5f ])56

Die letzte Antiphon der Karsamstagvigil scheint die zuvor entwickelte Zuversicht zunächst zu negieren; der düstere Ps 87 (88),5f führt zurück in die Gottverlassenheit des Karfreitags57 und lässt den Beter in persona Christi sprechen, er sei „wie ein Mensch ohne Hilfe geworden“. Zwar war schon der erste Psalm der dritten Nokturn ein bewusster Rückgriff auf den Karfreitag; seine Antiphon brachte aber das Vertrauen auf die Hilfe Gottes zum Ausdruck: Deus adiuvat me („Gott hilft mir“).58 Gerade diese Aussage scheint jetzt wieder negiert zu werden: „Factus sum sicut homo sine adiutorio“. Der zweite Teil der Antiphon eröffnet dann eine positive Perspektive: die seltsame Aussage „frei unter den Toten“ ist seit der Patristik ein Interpretament der Hadesfahrt;59 der Text stellt also einen weiteren eindeutigen Bezug zum „descensus Christi ad inferos“ her. Möglich wird diese Deutung der sperrigen Aussage des Psalms durch eine wörtliche Übersetzung des überlieferten hebräischen Textes. Es ist zwar nicht unbedingt notwendig, mit den meisten modernen Kommentatoren anzunehmen, dass die Wendung „frei unter den Toten“ (‫ )במתיםחפשי‬durch einen Lese- oder Überlieferungsfehler zustandegekommen sei;60 sie bleibt jedenfalls dermaßen kryptisch, dass sie offen für verschiedene Deutungen durch spätere theologische Interpretationen ist.61 Ob schon Paulus in den Überlegungen von Röm 6 – 7 über das Verhältnis von Taufe, Tod und Auferstehung mit Christus zur Freiheit von Sünde und Gesetz direkt oder indirekt auf Ps 87 55 Pasc. 2,29 (Papyrus S. 48, 5 – 8). 56 „Ich bin geworden wie ein Mensch ohne Hilfe, entlassen unter die Toten / frei unter den Toten.“ 57 Vgl. die 2. Antiphon der 3. Nokturn des Karfreitags aus Ps 87 (88),9 Longe fecisti notos meos a me: traditus sum et non egrediebar: Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 1, S. 172f. und 2, S. 312f., N° 73a. 58 Ps 53 (54) 6; V. 5 desselben Psalms ist die 3. Antiphon der 2. Nokturn des Karfreitags: Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 1, S. 172f und 2, S. 312f, N° 73a. 59 Die Wirkungsgeschichte kann hier nicht untersucht werden; für einen Überblick über spätantike Auslegungen, deren Zuschreibung allerdings nicht in allen Fällen gesichert ist, vgl. Jean-Claude Nesmy (Hrsg.), La Tradition médite le Psautier Chrétien. 2: Psaumes 72 à 150, Saint-Céneré 1973, S. 475 – 481; zu Origenes vgl. Henri Crouzel, „L’Hadès et la Géhenne selon Origène“, in: Gr. 59 (1978), S. 291 – 331; hier: S. 298. Diskutiert wird u. a. die Frage, wovon Christus als einziger unter den Toten frei gewesen sei; für Origenes ist klar, dass es um die Sündenlosigkeit geht. Für Parallelen in jüdischen Deutungstraditionen, die möglicherweise schon bei Paulus vorausgesetzt werden, vgl. Walter Diezinger, „Unter Toten freigeworden. Eine Untersuchung zu Röm. III – VIII“, in: NT 5 (1962), S. 268 – 298. 60 Zur Forschungsgeschichte vgl. Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger, Psalmen 51 – 100 (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg 32007, S. 565. 61 Für ausgewählte jüdische Deutungen vgl. Diezinger, „Toten“ (wie Anm. 59), S. 272f; die rabbinische Tradition setzt jedenfalls den Text voraus, der schon von den LXX übersetzt wurde.

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(88),5f zurückgreift, bleibe dahingestellt;62 in der christlichen Tradition wird das Motiv jedenfalls zu einer Kurzformel für den Erlösungstod Christi. Kyrill von Jerusalem erklärt den Taufkandidaten in seiner Katechese über den Glaubensartikel von Auferstehung, Himmelfahrt und Erhöhung: „Auferstanden ist nun der Tote, der ‚frei unter den Toten‘ (war) und der Befreier der Toten (ὁ ἐν νεκροῖς ἐλεύθερος καὶ νεκρῶν ἐλευθερωτής).“63 Die Vigilpsalmodie des Karsamstags endet also in jenem Zentrum altkirchlicher Paschatheologie, in dem Christologie und Soteriologie konvergieren. Das Verhältnis von Christologie und Soteriologie ist bei dieser Antiphon komplex: Einerseits ist im letzten Satz der Vigil erstmals ausdrücklich von den anderen „Toten“ die Rede, unter denen Christus frei sei;64 die spezifisch christologische Note impliziert also wieder eine soteriologische Aussage. Andererseits wird zugleich die Möglichkeit eingeengt, sich im Gebetsvollzug allzu problemlos in jenem Text wiederzufinden, der von der Liturgie eindeutig Christus in den Mund gelegt wird. In demselben Maß, wie in den Antiphonen das Spezifikum des Tages in den Vordergrund tritt, wird die Identifikationsmöglichkeit des Beters beschränkt. Insgesamt greift die dritte Nokturn wesentliche Themen der ersten beiden auf und führt sie weiter: Aus der ersten Nokturn kehrt das Thema des Friedens und des Wohnens auf dem Zion wieder; die dritte Antiphon führt den am Anfang der zweiten Nokturn hergestellten Bezug zur Hadesfahrt weiter. Zugleich schlägt die Psalmodie der dritten Nokturn eine Brücke zum Karfreitag; die Akzentverschiebung zu den positiven Aussagen der Texte illu­ striert aber zugleich die dynamische Einheit der verschiedenen Pole des einen Paschamysteriums. 1.4. „Immer noch bin ich bei dir“: Der Introitus Resurrexi am Ostersonntag Resurrexi, et adhuc tecum sum, alleluia: posuisti super me manum tuam, alleluia: mirabilis facta est scientia tua, alleluia, alleluia. + Ps Domine probasti me, et cognovisti me: tu cognovisti sessionem meam et resurrectionem meam. Intellexisti cogitationes meas de longe: semitam meam et funiculum meum investigasti. (Ps 138 [139] + Ant. V. 18. 5f )65

Der Introitus am Ostersonntag ist ein in jeder Hinsicht herausragendes Beispiel jener Diskretion, mit der die römische Liturgie in ihrer Gregorianischen Klanggestalt zentrale Inhalte zum Ausdruck bringt: Obwohl die Osterliturgie sehr wohl Stücke kennt, die von überbordendem Jubel geprägt sind – man denke nur an das Halleluja Pascha nostrum mit seinem 62 Der Vorschlag von Diezinger, „Toten“ (wie Anm. 59), muss hypothetisch bleiben. 63 Cat. 14, 1 (Cyrilli Hierosolymitorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia Vol. II, hg. von Josephus Rupp, Monacum 1860 2, S. 107 – 109). 64 Vom „Land der Lebenden“ spricht freilich schon Ps 25 (26),13, die 2. Antiphon der 2. Nokturn: Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 1, S. 174f, N° 74a, und 2, S. 318f, N° 74b. 65 „Auferstanden bin ich, und immer noch bin ich bei dir, Halleluja. Du hast deine Hand auf mich gelegt, Halleluja. Als wunderbar erwiesen hat sich dein Wissen, Halleluja, Halleluja. Herr, du hast mich erprobt und du kennst mich; du kennst mein Niedersetzen und mein Auf(er)stehen. Du hast meine Gedanken seit langem erkannt; du hast meinen Weg und mein Maß erforscht.“

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ungeheuer dynamischen Anfang66 und dem exorbitanten Ambitus seiner beiden Verse – beginnt die Tagesmesse mit überraschender Zurückhaltung: Die Antiphon verlässt nur langsam den Tonraum der kleinen Terz re – fa (d – f ). Anders als die meisten dem Vierten Modus zugeordneten Stücke ist die Rezitationsebene nicht la (a), sondern über weite Strecken fa (f ) und sol (g); das la (a) wird nur in zwei Worten beinahe beiläufig erreicht.67 Restituiert man die Melodie nach dem Zeugnis der besten Handschriften,68 wird noch deutlicher, wie sehr das ganze Stück von der Instabilität der Halbtonspannung fa – mi (f – e) geprägt ist. Auch die „Halleluja“ tönen nicht triumphierend; das erste der beiden Schluss-Halleluja trägt in der Notation des Codex Einsiedeln 121 sogar die seltene Anweisung len(iter): „sanft“. Geradezu staunend werden somit dem auferstandenen Christus die Worte aus Ps 138 (139) in den Mund gelegt; die liturgische relecture setzt dabei nicht nur die Ambiguität des Wortes „resurgere“ voraus, das für die terminologische Bedeutung „Auferstehen“ offen ist, sondern knüpft auch – ähnlich wie die erste Antiphon des Karsamstags – an die ganz alltägliche Erfahrung des „Aufstehens“ an: „Auferstanden bin ich, und immer noch bin ich bei dir.“69 Gewissermaßen als Dialog mit dem Vater wird das Wunder der Auferweckung ins Wort gebracht: „Du hast deine Hand auf mich gelegt … Du hast mein Niedersetzen und mein Auf(er)stehen erkannt.“ Dass sich die Sänger/innen und damit die liturgische Gemeinde diese intimen Worte in erster Person zu eigen machen dürfen, gehört wohl zu den tiefsten und hermeneutisch noch kaum reflektierten Erfahrungen liturgischer Feier: Wer diesen Text vorträgt, verleiht nicht nur der vox Christi ad Patrem Stimme, sondern darf umgekehrt – wie im ganzen Osterfestkreis mit seinen Tiefen und Höhen – den Weg Christi mitgehen.70 Auch dieser Text lädt letztlich zur Identifikation ein; so deutet er nicht nur das Ostergeschehen, sondern ermöglicht zugleich österliche Glaubenserfahrung.71 Die Diskretion der römischen Liturgie zeigt sich auch an dieser extrem exponierten Stelle des Kirchenjahres mit ihrer eindeutig intendierten Christologisierung des alttestamentlichen Wortes: Wer sich der tagesspezifischen Hermeneutik der biblischen Aussage nicht anschließen mag, kann auch 66 Zu den Graphien des Salicus auf Alleluja vgl. Eugène Cardine, Gregorianische Semiologie, Solesmes 2003, S. 129f. 67 Im übrigen vergleiche man nur die emotional und tonal ausgreifende Melodie des oben zitierten Introitus Iudica me Deus, die genauso wie Resurrexi dem Vierten Modus zugeordnet ist, aber den Tonraum einer ganzen Oktav durchmisst. 68 Vgl. Luigi Agustoni u. a., „Vorschläge zur Restitution von Melodien des Graduale Romanum Teil 9“, in: Beiträge zur Gregorianik 29 (2000), S. 7f. 69 Die Anspielung sowohl der Antiphon als auch des Verses auf die Auferstehung funktioniert in dieser Form nur in der vom Introitus verwendeten Textfassung des Psalterium Romanum, das in V. 18 und 2 „resurrexi“ und nicht wie das Psalterium Gallicanum „exsurrexi“ und „resurrectionem“ statt „surrectionem“ lautet; vgl. Le Psautier Romain et les autres anciens psautiers latins (= CBLa 10), hrsg. von Robert Weber, Rom und Vatikanstadt 1953, S. 334, 337. 70 Der in den meisten Handschriften als zweiter Vers zur Introitus-Antiphon vorgesehene V. 3 spricht ausdrücklich vom „Weg“: „Intellexisti cogitationes meas de longe: semitam meam et funiculum meum investigasti“. Nach Albert Blaise, Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Turnhout 1954, S. 369, bedeutet „funiculus“ an dieser Stelle „étendue déterminée d’un chemin, d’un parcours, cours de la vie“. 71 Der Gedanke ließe sich tauftheologisch konkretisieren: Wenn Taufe nach Röm 6 als Mitsterben und -auf­erstehen mit Christus zu interpretieren ist, könnte der Vollzug der Gregorianischen Texte als Einübung in Taufbewusstsein und entsprechende Praxis verstanden werden.

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am Ostermorgen einfach Psalm 139 beten. Das aus neutestamentlichen und patristischen Quellen gespeiste Bibelverständnis der römischen Liturgie bietet Deutungen an, ohne jemals totalitär zu deren Aneignung zu zwingen; darin unterscheidet sie sich zum Beispiel von den Festtroparien der Byzantinischen Liturgie, die ihre Aussage nicht weniger poetisch und theologisch, aber in der Regel ziemlich unäquivok formulieren.

Hermeneutische Zwischenbilanz Die Psalmenverwendung im Proprium von Messe und Tagzeitenliturgie setzt verschiedene hermeneutische Mechanismen voraus:72 Technisch ist sie durch die Isolation und Neukontextualisierung einzelner Verse oder Versteile charakterisiert; dadurch kommt es inhaltlich zu einer Sinnerweiterung des biblischen Textes: In Rückgriff auf die in der altkirchlichen Psalmenverwendung grundgelegte Identifikation des Psalmenbeters mit Christus werden Psalmtexte vor allem in der Liturgie der Festkreise christologisiert; dabei werden nicht selten neutestamentliche oder patristische Deutungen aufgegriffen.73 Durch die Aktualisierung in der liturgischen Rollenidentifikation werden die Erfahrungen der kanonischen Geschichte vergegenwärtigt und mit der eigenen lebensweltlichen Erfahrung verknüpft. Eine weitere Anreicherung erfährt das Netz von Anspielungen durch liturgische Anklänge an die Verwendung derselben Texte in verschiedenen Situationen; es entsteht ein liturgischer Kosmos biblischer Bezüge. Die Liturgie eröffnet einen Raum, in dem die Horizonte zwischen biblischer und eigener Erfahrung verschmolzen werden;74 die feiernde Gemeinde und ihre Glieder treten in einen Zirkel von Deutung und Ermöglichung von Erfahrung ein; man könnte geradezu von einem expandierenden Raum religiöser Erfahrung sprechen. In diesem Wechselspiel von Liturgie und Leben wird christliche Identität biblisch geprägt.

72 Im gegebenen Rahmen kann nur kurz angedeutet werden, was bei Gerhards, „Psalmen“ (wie Anm. 13), grundgelegt ist und bei Buchinger, „Hermeneutik“ (wie Anm. 13) entfaltet wird; vgl. auch die in Anm. 24 und 25 zitierte Literatur. 73 In Anknüpfung an Beiträge etwa von Georg Braulik, „Christologisches Verständnis der Psalmen – schon im Alten Testament?“, in: Christologie der Liturgie (wie Anm. 52), S. 57 – 86, versucht Buchinger, „Hermeneutik“ (wie Anm. 13), zu zeigen, dass das patristische und liturgische Psalmenverständnis in einer Perspektive mit hermeneutischen Mechanismen zu sehen ist, die sich schon innerhalb der Bibel beobachten lassen und dass angesichts dieser perspektivischen Hermeneutik die traditionelle Opposi­ tion von „Wortsinn“ und „Erfüllungssinn“ zu kurz greift. 74 Der von Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Methode, Tübingen 41975 [vgl. 11960], S. 286 – 290, geprägte Begriff der „Horizontverschmelzung“ wurde von Notker Füglister, „Vom Mut zur ganzen Schrift. Zur vorgesehenen Eliminierung der sogenannten Fluchpsalmen aus dem neuen Römischen Brevier“, in: StZ 184 (1969), S. 186 – 200 [Ndr. in: ders., Die eine Bibel – Gottes Wort an uns (= Salzburger Theologische Studien 10), Innsbruck 1999, S. 11 – 29; hier: S. 25] auf die Psalmenhermeneutik angewandt (freundlicher Hinweis von Georg Braulik, dem ich herzlich dafür danke).

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2. „… der über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht“: Psalmen im Alltag Die Spiritualität der römischen Liturgie lebt also von der Fähigkeit, Anklänge an Texte und an ihre Klanggestalt wahrzunehmen und den präzisen liturgischen Anspielungen zu folgen; fundamentale Voraussetzung für diese Repertoirekenntnis ist die konsequente Aneignung der Bibel, die nicht nur von den Kantoren, sondern von allen auswendig – oder besser: inwendig, ex corde – gesungen werden konnte.75 Diese Verinnerlichung geschah im liturgischen Alltag, vor allem in der Tagzeitenliturgie:76 Im Stundengebet wurden bis zu den jüngsten Reformen jede Woche sämtliche Psalmen rezitiert und im Laufe eines Jahres zumindest prinzipiell die ganze Bibel gelesen. Dabei wurden nicht nur die biblischen Bücher in fortlaufender Lesung vorgetragen; auch die Psalmen kamen zum größten Teil in ihrer kanonischen Reihenfolge zu Wort: In der Vigil wurden jeden Tag 12 Psalmen in fortlaufender Reihe (currente Psalterio) gesungen; die Psalmodie der Vesper setzte mit Ps 109 (110) in der Vesper des Sonntags dort fort, wo die mit Ps 108 (109) endende Vigil des Samstags aufgehört hat.77 Der Neueinsatz der Sonntags- (und davon abgeleitet Festtags-) Vesperpsalmodie an exakt dieser Nahtstelle ist vermutlich im Blick auf die schon für die Christologie des Neuen Testaments konstitutive Verwendung von Ps 109 (110) als Interpretament der Erhöhung Christi konzipiert,78 die am Sonntag auch in der Tagzeitenliturgie gefeiert 75 Nach Tom Elich, „Using Liturgical Texts in the Middle Ages“, in: Fountain of Life. In Memory of Niels K. Rasmussen, O.P., hrsg. von Gerard Austin (= NPM Studies in Church Music and Liturgy), Washington, D. C. 1991, S. 69 – 83, stammen die frühesten Belege für Psalmodie aus Büchern aus dem 13. Jh.: Nach ebd. S. 78 werden im 13. Jh. in Brevieren sukzessive immer öfter nicht nur Psalm-Incipits angegeben, sondern ganze Psalmen ausgeschrieben; ebd. S. 83 bietet erste ikonographische Zeugnisse des 13. Jhs. für (Psalmen-) Gesang aus Büchern. 76 Eine gute Einführung in die traditionelle Tagzeitenliturgie der römischen Kirche bietet Joseph Pascher, Das Stundengebet der römischen Kirche, München 1954; das maßgebliche jüngere Standardwerk ist Robert Taft, The Liturgy of the Hours in East and West. The Origins of the Divine Office and Its Meaning for Today, Collegeville, MN 1986, für den Westen ergänzt durch Arturo Elberti, La Liturgia delle Ore in Occidente. Storia e Teologia (=Teologia Liturgica), Rom 1998. 77 Die Psalmenverteilung der Benediktsregel sieht bekanntlich die fortlaufende Rezitation von Ps 20 (21) – 108 (109) in der Vigil und von Ps 109 (110) – 147 in der Vesper vor, die römische Liturgie begann in der Vigil am Sonntag sogar mit Ps 1, der von Benedikt auf die Prim des Montags verschoben wurde. In der benediktinischen Ordnung hat die Vesper vier, in der römischen fünf Psalmen in fortlaufender Reihenfolge; tabellarische Übersichten finden sich in allen in Anm. 76 zitierten Standardwerken. 78 Entsprechend umfangreich ist die Literatur zur neutestamentlichen und patristischen Rezeption von Ps 109 (110); nach den von Hermann Josef Sieben, Exegesis patrum. Saggio bibliografico sull´esegesi biblica dei Padri della Chiesa (= SuPa 2), Rom 1983, S. 35f verzeichneten Beiträgen vgl. z. B. Gerhard Dautzenberg, „Psalm 110 im Neuen Testament“, in: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium I: Historische Präsentation, hrsg. von Hansjacob Becker und Reiner Kaczynski (= PiLi 1), St. Ottilien 1983, S. 141 – 171, und v. a. Martin Hengel, „Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes“, in: Anfänge der Christologie. FS Ferdinand Hahn, hrsg. von Cilliers Breytenbach und Henning Paulsen, Göttingen 1991, S. 43 – 73, weiter z.  B. James Kurianal, Jesus Our High Priest. Ps 110,4 as the Substructure of Heb 5,1 – 7,28 (= EHS. T 693), Frankfurt a.M. 2000; David R. Anderson, The King-Priest of Psalm 110 in Hebrews (= Studies in Biblical Literature 21), New York 2001; Heiligkeit

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wird.79 Die weiteren Sonn- und Festtagspsalmen, die in der Neuzeit so häufig vertont wurden, setzen die Reihe numerisch fort; nur manche Feste wählen für die Vesper einzelne andere Psalmen aus.80 Die Feier der Tagzeitenliturgie war demnach in erster Linie eine Einübung in den Bibeltext; in der römischen Tradition begann jeder Sonntagmorgen von neuem mit dem programmatischen Anfang des Psalters: Beatus vir qui … meditabitur „Selig der Mensch, … der über das Gesetz des Herrn nachsinnt bei Tag und bei Nacht“ (Ps 1). „Nachsinnen“, meditari, meint dabei nicht ein diskursives Nachdenken, sondern ein Einverleiben des biblischen Textes durch ständige Rezitation; die monastische Tradition spricht auch vom „Wiederkäuen“ (ruminatio).81 Psalmenrezitation ist in der Tagzeitenliturgie nicht primär Gebet, sondern „Meditation“ im genannten Sinne.82 Die Verinnerlichung der Bibel durch wiederholte Rezitation im kanonischen Zusammenhang ist dabei nicht bloß eine technische Bedingung dafür, das komplexe Netz biblisch-liturgischer Bezüge wahrnehmen zu können; sie ist zugleich auch dessen hermeneutische Voraussetzung: Sie schafft die anthropologische Konstante vor allen christologischen Bezügen und übertragenen Deutungen. Dementsprechend kommen die Psalmen im Wochenpsalter auch ausschließlich in ihrem literarischen Sinn zu Wort; auch die Antiphonen sind ausschließlich „psalmogen“, also dem jeweiligen Psalm selbst entnommen, und in der Regel ganz kurz; nicht selten umfassen sie nur ein paar Worte: Laudate dominum de caelis („Lobt den Herrn vom Himmel her“: Ps 148,1, der Anfang der täglich die Laudes abschließenden Psalmengruppe 148 – 150, als Antiphon im Wochenpsalter sowie an den Sonntagen Septuagesimae und Sexagesimae verwendet);83 Caeli caelorum, laudate Deum („Ihr Himmel der Himmel, lobt Gott“; V. 4 aus demselben Psalm, als Antiphon jeden Mittwoch gesungen);84 Laudabo Deum meum in vita mea („Meinen Gott will ich loben in meinem Leben“; Ps 145 [146],1, als Antiphon im Wochenpsalter am Samstag und vereinzelt und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, hrsg. von Dieter Sänger, (= BThSt 55), Neukirchen-Vluyn 2003; Bernd Kollmann, „Der Priesterkönig zur Rechten Gottes (Ps 110)“, in: Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, hrsg. von Bernd Kollmann, (= BTSP 35), Göttingen 2010, S. 157 – 170; Ulli Roth, Die Grundparadigmen christlicher Schriftauslegung – im Spiegel der Auslegungsgeschichte von Psalm 110 (= Dogma und Geschichte 8), Berlin 2010. 79 Angesichts der verschiedenen Auslassungen oder Teilungen von Psalmen in der numerischen Anordnung der Vigilpsalmodie sowohl römischer als auch benediktinischer Ordnung griffe es zu kurz, einfach von einem Zwang der numerischen Abfolge zu sprechen. 80 Joseph Pascher, Die Methode der Psalmenauswahl im römischen Stundengebet (= SBAW.PH 1967/3), München 1967. 81 Auch Martin Luther steht ganz in dieser Tradition, zumal er Ps 1,2 wiederholt zum Ausgangspunkt seiner Lehre vom „Meditieren“ macht, in der wiederum der ruminatio zentrale Bedeutung zukommt; vgl. Martin Nicol, Meditation bei Luther (= FKDG 34), Göttingen 1984, S. 44f; 51f; 57 – 60. 82 Dieser Gebrauch entspricht vermutlich dem Selbstverständnis des kanonischen Psalters; vgl. Norbert Lohfink, „Psalmengebet und Psalterredaktion“, in: ALW 34 (1992), S. 1 – 22, sowie populärer ders., „Der Psalter und die christliche Meditation. Die Bedeutung der Endredaktion für das Verständnis des Psalters“, in: BiKi 47 (1992), S. 195 – 200. 83 Corpus Antiphonalium Officii (wie Anm. 6), 3, S. 314, N° 3585. 84 Ebd., S. 191, N° 1836.

Armut oder Reichtum des Thesaurus Musicae Sacrae? 25

am Sonntag).85 In manchen Fällen handelt es sich nicht einmal um einen ganzen Satz: Adiutor in tribulationibus („Helfer in Nöten“; Ps 45 [46],2; im Wochenpsalter am Dienstag).86 Der kanonische Psalter ist nicht nur das tägliche Brot der Tagzeitenliturgie; auch die Gesänge der Eucharistiefeier setzen jenseits der geprägten Zeiten nur selten komplexere hermeneutische Prozesse voraus. Die Texte sind meist ebenfalls dem Psalter entnommen, und nur ausnahmsweise wird gegen die Regel einer aufsteigend fortschreitenden Ordnung verstoßen, auch wenn offenbar keine unmittelbare Abfolge benachbarter Psalmen intendiert ist.87 Die Gesangsstücke der nicht-geprägten Zeiten jenseits der Festkreise wurden von der Liturgiewissenschaft vermutlich gerade deswegen lange wenig beachtet, weil ihre Hermeneutik wenig spektakulär ist; erst in jüngerer Zeit sieht man wieder deutlich, dass es sich bei den im Wortsinn verstandenen und mehr oder weniger im kanonischen Zusammenhang gebrauchten Stücken nicht nur um den quantitativ größten Teil des Gregorianischen Repertoires, sondern auch qualitativ um die unabdingbare hermeneutische Voraussetzung für alle Neudeutungen in der Liturgie der Festzeiten handelt;88 sie sind der hermeneutische Resonanzboden, auf dem die einzelnen Saiten überhaupt erst schwingen können und ohne den die verschiedenen oben dargestellten Anklänge gar nicht erklingen könnten.

Schlussbemerkungen Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die konsequente biblische Prägung ist ein Charakteristikum der römischen Liturgie; das Gregorianische Proprium des Kirchenjahres bildet dabei ein komplexes Netz von textlichen und musikalischen Anspielungen. Typisch römisch ist dabei die Verbindung von Präzision und Diskretion der liturgischen Hermeneutik: Die Bezüge sind klar, aber nicht zwingend: Wer will, kann auch am Ostermorgen einfach Ps 138 (139) im Wortsinn rezitieren etsi Christus non daretur; außerdem sind sie eindeutig, aber nicht exklusiv: Oft sind mehrere Assoziationen möglich oder intendiert, und die Anreicherung der intertextuellen Bezüge ist prinzipiell offen für weitere Anklänge; je reicher die Obertöne, desto voller wird der konkrete Klang: Ist der Text im Wortsinn gewissermaßen der reine Sinuston, wird dieser durch die Resonanzen, die er in den verschiedenen Feiern auslöst, wie durch mitschwingende Saiten angereichert; der hermeneutische Resonanzboden 85 Ebd., S. 314, N° 3583. 86 Ebd., S. 32, N° 1278. 87 Die in den liturgischen Zeiten außerhalb der Festkreise in den einzelnen Gattungen (Introitus, Graduale …) unabhängig voneinander aufsteigende Ordnung lässt in der Regel keine Tendenz zur Formularbildung erkennen; nur in Ausnahmefällen sind überhaupt zwei Stücke an einem Tag demselben Psalm entnommen; vgl. z.  B. Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Wien 51962 [vgl. 11948], 1, S. 425 – 427, sowie die tabellarische Übersicht über das Graduale St. Gallen, Stiftsbibliothek 339, bei Joachim Beckmann, „Das Proprium Missae“, in: Gestalt und Formen des evangelischen Gottesdienstes. I. Der Hauptgottesdienst, hrsg. von Karl Ferdinand Müller und Walter Blankenburg (= Leit. 2), Kassel 1955, S. 47 – 85; hier: S. 79 – 84. 88 Diese fundamentale Einsicht wurde vor allem von Gerhards, „Psalmen“ (wie Anm. 13), wieder ins Bewusstsein gerufen.

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wäre in diesem Bild die Bibel in ihrem kanonischen Zusammenhang. Voraussetzung zur Wahrnehmung der Resonanzen ist jedenfalls die Aneignung nicht nur des biblischen Textes, sondern im Kernrepertoire mittelalterlicher Liturgie auch seiner Gregorianischen Klanggestalten im konkreten liturgischen Kontext. Ziel ist die Fähigkeit, Anspielungen zwischen verschiedenen Situationen und Formularen wiederzuerkennen, sodass man sich letztlich im biblisch-liturgischen Kosmos des liturgischen Jahres wie in einer Landschaft bewegen kann. Die verschiedenen Antiphonen im Gregorianischen Repertoire von Tagzeitenliturgie und Eucharistiefeier wären dann gewissermaßen die hermeneutischen Wegweiser in dieser Landschaft. Dieses anspruchsvolle Programm liturgischen Psalmenverständnisses verschärft die eingangs gestellte Frage nach der Erfahrung der intendierten Feiersubjekte einer derartigen Liturgie: Vermutlich waren nur in Ausnahmefällen die inneren und äußeren Vorausset­ zungen für ihren kompetenten Vollzug gegeben; außerdem konnten schon im Mittelalter aus sprachlichen, kulturellen oder sozialen Gründen Viele die liturgischen Texte gar nicht mehr verstehen. Trotzdem wurde das überkommene Repertoire nicht nur mit erstaunlicher Stabilität tradiert; es erwies sich auch als kulturell überaus produktiv, wie die zahlreichen Psalmenvertonungen aller Epochen beweisen, darunter auch jener, die in der Liturgiewissenschaft kein hohes Ansehen genießen. Die weitgehende Beschränkung des textlichen Repertoires auf ein biblisches Buch, im konkreten Musikbetrieb noch dazu auf einige wenige Texte – neben Propriumstexten der Messe, die in der Regel nur kurze Psalmverse umfassen, wurden als ganze Psalmen ja in erster Linie die Handvoll Sonn- und Festtagspsalmen vertont – erweist sich dadurch keineswegs als Armut des Thesaurus musicae sacrae. Auch wenn dessen Repertoire lange Zeit relativ starr fixiert war, ist seine Rezeption und Tradi­ tion mitnichten ein geschlossener Vorgang.89 Nicht zuletzt die Musikgeschichte lehrt, dass die liturgische Feier alles andere als einen historisierenden Rückzug auf ein hermetisches Repertoire darstellt, sondern einen expandierenden Raum lebendiger Erfahrung eröffnet; in diesem Sinne erweist sich gerade die Psalmenverwendung hervorragend als ein Vehikel der Leitidee des Symposiums Liturgie als Aufbruch.

89 Offenheit oder Geschlossenheit der liturgischen Erfahrungswelt unterscheiden wohl eine lebendige Tradition von ihrer Perversion im Traditionalismus.

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Musik in Psalmenkommentaren des 17. Jahrhunderts Franz Körndle

In den Jahren 1563 bis 1570 waren am Bayerischen Hof zu München der Gelehrte Samuel Quickelberg1, die Werkstatt des Buchmalers Hans Mielich und der Hofkapellmeister Orlando di Lasso mit der Erstellung eines gewaltigen Projektes befasst.2 Die Vertonungen der sieben Bußpsalmen und des abschließenden Doppelpsalms 148 und 150 wurden in zwei großformatige Codices (D-Mbs, Mus. ms. A) eingetragen und von Mielich sowie seinen Gesellen mit prächtigen Illustrationen versehen. Quickelberg hatte das Bildprogramm erstellt. Dieses wurde als Erläuterung zusammen mit einem Kommentar zu den Psalmen als Grundlage in ebenfalls zwei Textbänden niedergelegt. Damit erschließt sich uns heutigen Rezipienten rasch, wie das Zusammenwirken von Theologie, Musik und Kunst funktionierte. Noch vor der ersten Psalmenseite finden wir einen Zwischentitel (Mus. ms. A I, S. 5; Abbildung 1). Dort erkennen wir oben in der Mitte Gott als Schöpfer des Kosmos, wir sehen Adam und die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams. Unten dargestellt ist links ein von Pfeilen durchbohrter Mensch, in der Mitte König David und rechts eine Allegorie des Todes. Mit den Erläuterungen Quickelbergs wird diese Kombination aus zunächst nicht zusammengehörig scheinenden Bildern schnell verständlich, vor allem, wenn die beiden seitlich positionierten Szenen einbezogen werden. Dort finden wir links den Sündenfall, Eva nimmt den Apfel vom verbotenen Baum, hinter ihr steht bereits Adam, der ebenfalls davon essen wird, auf der rechten Seite folgt die Konsequenz aus dem Vergehen, die Vertreibung aus dem Paradies. Indem die ersten Menschen vom verbotenen Baum aßen, kamen die Sünde und der Tod (unten rechts) in die Welt. Haec autem principio adducuntur: quia à Dauide rege et propheta in hisce psalmis omnibus peccata mortalium adeoque humanae naturae fragilitas deplorantur. Quibus continua precatione praesentium psalmorum sit resistendum.3 1 Zur Schreibweise Quickelberg vs. Quiccheberg siehe: Dieter Gutknecht, „Musik als Sammlungsgegenstand. Die Kunstkammer Albrechts V. (1528 – 1579)“, in: Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analysen – Ausblicke: Festschrift für Hartmut Krones, hrsg. von Julia Bungardt, Maria Helfgott, Eike Rathgeber und Nikolaus Urbanek, Wien u.a. 2009, S. 43 – 65; hier: S. 43, Anm. 2. 2 Katharina Urch, „Das Bußpsalmenwerk für Herzog Albrecht V.“, in: Orlando di Lasso. Prachthandschriften und Quellenüberlieferung. Aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München – Zum 400. Todestag anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek München, vom 1. Juni bis 30. Juli 1994, hrsg. von Horst Leuchtmann und Hartmut Schaefer, Tutzing 1994, S. 19 – 25. 3 „Dies möge aber zu Beginn hinzugezogen werden: weil vom König und Propheten David in allen diesen Psalmen die Sünden der Sterblichen und somit auch die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur beklagt werden, denen mit anhaltendem Gebet der vorliegenden Psalmen standgehalten werden möge.“ (Übersetzung vom Autor), in: Samuel Quickelberg, Erläuterungsband zu Mus. ms. A I, Kommentar zu Pag. 5.

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Abb. 1: München, Bayerische Staats­bibliothek, Mus. ms. A I, S. 5.

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Unter den Sünden ragen heraus die sieben Todsünden, repräsentiert durch die sieben Pfeile im unten liegenden menschlichen Körper und das Gerippe im Hintergrund. Quickelberg führt uns nun vor Augen, dass König David von seinen Psalmen eine Gruppe von sieben auswählte als Bitte um Vergebung für diese sieben Todsünden; so entstanden die sieben Bußpsalmen. Dieses einfache Beispiel zeigt – noch ganz ohne musikalische Implikationen – das spezifische Verständnis der Gruppe von sieben Bußpsalmen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade seit dieser Zeit mehrere Kommentare zur Theologie der Psalmen verfasst und teilweise auch im Druck veröffentlicht wurden. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, welches Interesse die Musikforschung an die Psalmenkommentare heranführen könnte. Dabei kommen drei verschiedene Zugangsweisen in Betracht. Wir können erstens versuchen – wie es im Fall der Bußpsalmen Orlando di Lassos möglich ist –, Kompositionen bzw. Vertonungen von Psalmen mit Hilfe der Kommentare zu verstehen. Zweitens gibt es bekanntlich mehrere Psalmen, in denen von Musik und vor allem von Musikinstrumenten die Rede ist. Mit Erläuterungen erhalten wir potenziell Hinweise auf die zeitgenössischen Definitionen der genannten Instrumente. Und drittens wird in Psalmen gelegentlich die Musik selbst zum Thema. Die Deutung kann eine Brücke schlagen zur Musikauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts.

1. Verständnis der Psalmen-Texte Kommentare zu den Psalmen zu verfassen war keine Erscheinung der Neuzeit. Zwar blühte seit der Erfindung des Buchdrucks gerade dieses theologische Genre massiv auf, die Auslegungen der Psalmen von Thomas Cajetan a Vio4 oder des Marco Antonio Flaminio5 und nicht zu vergessen Martin Luthers6 liegen noch heute in einer gewaltigen Anzahl an Publikationen vor, doch berufen sie sich durchweg auf die traditionellen Kommentare der Patristik, also des Augustinus7 oder Hieronymus8, beide aus der Zeit um 400. So ist es daher kaum verwunderlich, dass gerade auch diese Texte im 16. und 17. Jahrhundert in zahlreichen gedruckten Ausgaben publiziert wurden. Es wird also hilfreich sein, die aktuellen Kommentare des 17. Jahrhunderts zuerst mit den Enarrationes in Psalmos des Aurelianus Augustinus zu vergleichen. Zum Zweck des Vergleichs ziehe ich hier zwei Kommentare heran, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden sind. Der erste stammt von dem im Jahr 1606 gestorbenen 4 Thomas a Vio Cajetan, Psalmi Davidici, Venedig 1530. 5 Marco Antonii Flaminii in librum Psalmorum brevis explanatio, Lyon 1548; weitere Auflagen Lyon 1553, 1557 und 1576 sowie Basel 1558 und Venedig 1564. 6 Martin Luther, Piae ac doctae in Psalmos operationes, Basel 1521; ders., In quindecim psalmos graduum commentarii, Straßburg 1540. 7 Aurelius Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Basel 1485 und 1497; weitere Auflagen etwa Venedig 1493, Lyon 1519, Paris 1529 und 1548 sowie Rouen 1653. 8 Hieronymus Sophronius Stridonensis, Psalterium Davidicum, Köln 1536 und 1539; ders., Liber Psalmorum, Straßburg 1545.

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Franziskaner Johannes Paul Palanterius aus Bologna. Sein zweibändiges Werk wurde 1600 in Brixen gedruckt. Daneben wurden etliche Textausgaben der Psalmen aus dem 17. Jahrhundert konsultiert, teilweise geben sie allein die Version der Vulgata wieder, teilweise Vulgata und Septuaginta nebeneinander, teilweise auch Vulgata neben einem Abdruck in Hebräisch. Auf der Tradition der Psalmerklärungen des 16. Jahrhunderts bauen auch die Kommentare auf, die der Jesuit Roberto Bellarmin9 (1542 – 1621) als Explanatio in Psalmos erstmals 1611 im Druck herausbrachte (Rom und Köln). Weitere Auflagen in Lyon, Antwerpen, Köln und auch Venedig folgten. Trotz der daraus ablesbaren Bekanntheit konnte dieses Werk die Verbreitung seiner kontroversen Disputationes oder die Popularität seiner Ars bene moriendi nicht einmal annähernd erreichen. Sein Katechismus brachte es auf über 400 Auflagen. Immerhin haben wir nicht nur Informationen zu den Auflagen, aufgrund der zahlreich erhaltenen Exemplare aus Klöstern und stiftskirchlichen Beständen darf man mit einer immensen Rezeption rechnen. Nach dem Studium in Leuven wirkte Bellarmin ab 1576 am Collegium Romanum. Wegen seiner Kritik am weltlichen Lebensstil der Kurie musste er zeitweise hinaus in die Provinz, 1588 wurden seine Bücher indiziert. 1599 erhielt er die Kardinalswürde, wurde Bischof und anschließend Erzbischof von Capua. 1605 wäre er beinahe sogar zum Papst gewählt worden. 1923 wurde Bellarmin in einem kontrovers geführten Prozess selig und 1930 heilig gesprochen. Bellarmins Psalmenkommentar besticht durch virtuose Handhabung des Hebräischen, womit er als Grundlage heutiger Psalmdeutung gelten könnte. Außerdem schreibt Bellarmin ein wunderschönes, gut verständliches Latein, gegen das Palanterius‘ Formulierungen hölzern akademisch wirken, womit sie sich vielfach nur mühsam übertragen lassen. Um die hier vorgestellten Überlegungen zu den Psalmenkommentaren an einem Beispiel zu erläutern, habe ich Psalm 8 ausgewählt. Zum lateinischen Text dieses Psalms liegen aus dem 16. Jahrhundert zahlreiche Vertonungen vor, aus dem 17. Jahrhundert sind es eher weniger. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass sich die spätere Zeit mehr und mehr auf die für die Sonn- und Festtags-Vespern vorgeschriebenen Standard-Psalmen, etwa Dixit Dominus oder Laudate pueri konzentrierte, womit andere, weniger häufig gebrauchte Texte, wie Domine, Dominus noster auch weniger oft vertont wurden. In den Symphoniae sacrae von Giovanni Gabrieli aus dem Jahr 1597 findet sich eine mehrchörige Komposition zu Psalm 8. Um methodisch korrekt zu bleiben, müssen wir freilich sagen, dass Gabrieli sich sicher nicht einen der zahlreichen Kommentare auf den Schreibtisch legen musste, um seine Vertonung schaffen zu können. Wenn ihm solche Erläuterungen überhaupt jemals begegnet sind, dann vermutlich in der Zeit seiner Ausbildung. Wir dürfen allerdings zu unserem eigenen Nutzen die Erklärungen von Palanterius und Bellarmin heranziehen, und damit versuchen, noch mehr von der Musik Gabrielis zu verstehen. Immerhin wird sich zeigen, dass es trotz der vielen Unterschiede im Detail eine gemeinsame Linie gibt. Diese Linie setzt sich auch deutlich vom Kommentar des Augustinus ab. Die Vertonung Gabrielis ist unüberhörbar vom Kontrast der zwei Chöre geprägt; dieser resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie in einen Hoch- und einen Tiefchor aufgeteilt 9 John Patrick Donnelly, Art. „Bellarmine, Robert“, in: Biographical Dictionary of Christian Theologians, hrsg. von Patrick W. Carey und Joseph T. Lienhard, Westport 2000, S. 64 – 66.

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sind. Es ist deutlich wahrzunehmen, wie der Hochchor den Textabschnitt „quoniam elevata est magnificentia tua super caelos“ (Notenbeispiel 1) oder die Passage „videbo caelos tuos“ (Notenbeispiel 2) übernimmt. In beiden Fällen geht es um die Vorstellung von hoch, einerseits direkt räumlich zu sehen, andererseits aber auch übertragen in die Präsentation der oberen Regionen im Tonsystem. Die Vorgehensweise leuchtet ein, auch wenn man von Theologie keine Ahnung hat. Einen Schritt weiter müssen wir gehen bei der Stelle „minuisti eum paulominus ab angelis“10, als „du hast ihn eine kleine Zeit der Engel mangeln lassen“ könnte man das wörtlich übersetzen. Das Fehlen der genannten Engel, die man sich ebenfalls hoch oben zu denken hat, wird in einem Verzicht auf die oberen Stimmlagen dargeboten (Notenbeispiel 3). An einer weiteren Stelle bringt Gabrieli ganz auffällig den Hochchor, nämlich bei „ex ore infantium et lactentium“ („aus dem Mund der Kinder und Säuglinge“) und stellt ihm den Tiefchor gegenüber bei „ut destruas inimicum et ultorem“ („dass du vertilgst den Feind und den Rächer“; Notenbeispiel 4). Hier beginnen die theologischen Erklärungen interessant zu werden. So werden sowohl bei Palanterius wie auch bei Bellarmin die Kinder und Säuglinge in einen Vergleich mit den Engeln gestellt, da sie entsprechend der ihnen noch eigenen Unschuld in der Lage sind, Gott zu erkennen. Dem gegenüber wird die Frage aufgeworfen, wer mit Feind und Rächer gemeint sein soll. Nach Bellarmin11 („vt perdas sapientiam primarij inimici tui, diaboli, & detensoris, siue vltoris eius, id est, agminis Angelorum reproborum, qui illum sequuti sunt.“) handelt es sich um die Feinde Gottes, die hochmütigen Engel, die Teufel. Palanterius12 („vt destruas inimicum, & vltorem, i[dest] Antichristum, qui Die dicitur inimicus, & vltor, quia propter peccata hominum, idest exigentibus peccatis veniet.“) spricht vom Antichrist, der wegen der Sünden der Menschen in die Welt gekommen sei. Damit ist sowohl bei Bellarmin als auch bei Palanterius nicht von einem äußerlichen Feind die Rede, den man in einem Kampf zu besiegen hätte. Dafür hätte sich möglicherweise die Methode der Schlachtenmusik angeboten. Heinrich Schütz setzt in seiner Vertonung aus den Psalmen Davids (1619) die gleiche Textpassage („dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen“) mit der Vorstellung eines Gefechtes um. Mit der bei Gabrieli gewählten tiefen Lage ohne die üblichen Tonrepetitionen einer Battaglia verbindet sich dagegen weniger die Vorstellung einer Schlacht, sondern die Imagination der in die Finsternis hinaus gestürzten Engel Luzifers. Wie gesagt: Gabrieli benötigte nicht die Psalmenkommentare eines Palanterius oder Bellarmin, er dürfte mit solchen Deutungen aus dem Religionsunterricht oder aus Predigten vertraut gewesen sein. Die von der Musik evozierten Bilder sollten sich eben auch bei einem theologisch nicht versierten Publikum einstellen können. Ähnlich verhält es sich in einem zweiten Beispiel. Die Sammlung Selva morale et spiritu­ale (1641) von Claudio Monteverdi enthält zwei Vertonungen des 111. Psalms (entsprechend Septuaginta-Zählung). Die erste Komposition von Beatus vir erfreut sich – den zahlreichen Einspielungen zufolge – einer ausgesprochenen Beliebtheit. Es mutet daher zunächst eigen10 D. Martin Luther, Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrift / Deudsch auffs new zugericht, Wittenberg 1545, hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, 3 Bde., München 1974, S. 2435. 11 Herangezogene Auflage: Robert Bellarmin, Explanatio in Psalmos, Köln 1633, S. 31f. 12 Johann Paul Palanterius, Illvstris Psalmorum Davidicorum [...] Explanatio, Brixen 1600, S. 97 f.

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Notenbeispiel 1a, b: Giovanni Gabrieli „Quoniam elevata est“ (aus Domine, dominus noster).

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Notenbeispiel 1c: Giovanni Gabrieli „Quoniam elevata est“ (aus Domine, dominus noster).

Notenbeispiel 2 a, b: Giovanni Gabrieli „quoniam videbo coelos tuos“ (aus Domine, dominus noster).

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Notenbeispiel 3: Giovanni Gabrieli „minuisti eum paulominus“ (aus Domine, dominus noster).

Notenbeispiel 4a: Giovanni Gabrieli „ex ore infantium“ (aus Domine, dominus noster).

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Notenbeispiel 4b, c: Giovanni Gabrieli „ex ore infantium“ (aus Domine, dominus noster).

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artig an, dass die Komposition in Linda Maria Koldaus Buch über die venezianische Kirchenmusik Monteverdis nicht behandelt wird.13 Es hat sicher damit zu tun, dass man sich mit gängigen Analysemethoden wie sie auch Koldau anwendet, bei diesem Werk Monteverdis trotz seiner gefälligen Art oder vielleicht auch gerade deswegen schwer tut. Die auffällig unerschütterliche und gelassen wirkende Heiterkeit dieser Komposition mit den immer wieder ins Ostinato fallenden gleichmäßigen Bässen ist zweifellos mit dem ritornellartig wiederkehrenden Text „Beatus vir qui timet Dominum“ in Verbindung zu bringen, der wie ein Motto die Gliederung prägt. Weiterhin bemerkt man, dass sich Monteverdi mit der Umsetzung von bestimmten Wörtern wie „inimicis“, „tenebris“, „irascetur“ oder „dentibus suis fremet“ bemerkenswert zurückhält (Notenbeispiele 5, 6 und 7). Über alle diese Stellen geht er geradezu lässig hinweg. Und obwohl bei „fremet et tabescet“ die raschen Bewegungen klar machen, dass der Komponist wohl verinnerlicht hat, wovon hier geredet wird, bleibt das Erscheinungsbild ganz gleichmäßig freundlich. Im Vergleich mit dem zweiten Dixit Dominus aus derselben Sammlung, das mit Wortausdeutungen geradezu verschwenderisch umgeht und keinen Anlass zur musikalischen Überraschung auslässt, steht Beatus vir doch recht einzigartig da. Wenn man nun den Kommentar von Roberto Bellarmin14 heranzieht, bemerkt man in der Einleitung zu diesem Psalm den Satz, der von der Seligkeit des gerechten und gottesfürchtigen Mannes redet: „Videtur Dauid [...] admonuisse, quanta sit felicitas viri iusti, & timenti Deum.“ („David hat [...] wohl ermahnt, wie groß die Seligkeit des gerechten und gottesfürchtigen Mannes sein müsse.“) Die angesprochene Seligkeit durchzieht nun den Kommentar zum gesamten Psalm. Sie kehrt als „prima“, „secunda“, „tertia felicitas“ (insgesamt sind es neun) wie ein Refrain wieder. Alle Verse des Psalms werden unter diesem Aspekt des „Seligwerdens“ behandelt. Es mag nun sein, dass Monteverdis Komposition genau solches umsetzt und in der kontinuierlichen Heiterkeit zum Ausdruck bringt. Dazu wählt Monteverdi eine musikalische Gliederung, die der bei Bellarmin gegebenen weitestgehend entspricht. Bellarmin fasst jeweils zwei bzw. drei Verse der hebräischen Gliederung entsprechend der gängigen Vulgata-Übersetzung zusammen und ordnet sie einer Seligkeit zu. Genauso verfährt Monteverdi und bringt nach jedem Verspaar jeweils das Ritornell mit dem Text „Beatus vir“. Innerhalb der nachfolgenden vier Gruppen, die Monteverdi in der parallelen Moll-Tonart behandelt, entspricht der Bau in Monteverdis Komposition ebenfalls immer noch dieser Gliederung, lediglich die Ritornelle sind hier weggelassen. Erst nach dieser Vierergruppe erklingt „Beatus vir“ erneut, bevor es zur neunten und letzten Seligkeit geht. Selbstverständlich dürfen wir auch in diesem Fall nicht annehmen, dass der Komponist Claudio Monteverdi Bellarmins Kommentar benutzt hat, um zu seiner Vertonung zu gelangen. Die beobachteten Übereinstimmungen bieten jedoch immerhin eine hinreichende hermeneutische Hilfe, spiegeln sie doch Interpretationen aus der Entstehungszeit der musikalischen Kompositionen.

13 Linda Maria Koldau, Die venezianische Kirchenmusik von Claudio Monteverdi, Kassel u.a. 2001, 22005. 14 Bellarmin, Explanatio (wie Anm. 11), S. 660.

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Notenbeispiel 5: Claudio Monteverdi „dentibus fremet“ (aus Beatus vir).

Notenbeispiel 6: Claudio Monteverdi „irascetur“ (aus Beatus vir).

Notenbeispiel 7: Claudio Monteverdi „exortum est in tenebris“ (aus Beatus vir).

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2. Musikinstrumente in Psalmenkommentaren Auch wenn diese Psalmenkommentare nicht als eindeutige Schlüssel zu Kompositionsweisen gelten sollten, bieten sie noch andere Möglichkeiten, die über die Musikauffassung ihrer Zeit Aufschluss geben. In diesem Sinne gilt es, diese Texte zu nutzen. Dazu gehört der Bereich des Instrumentariums, das mehrfach in Psalmen genannt wird. Während in etlichen Einleitungen zu Psalmen von Instrumenten die Rede ist, mit denen der Vortrag gestaltet werden soll, handelt der bekannte Psalm 150 Laudate Dominum vom Lob des Herrn, besonders vom Lob mit musikalischen Instrumenten. Bellarmin15 ist auch hier in seiner systematischen Herangehensweise signifikant und bezeichnet die drei Arten von Instrumenten: Vox, flatus & pulsus, also menschliche Stimme, Blas- und Schlaginstrumente, zunächst die beiden Bereiche Blas- und Schlaginstrumente mit Tuba (d. h. Trompete) sowie zehnsaitiger Psalter und Harfe. Die besaiteten Zupfinstrumente gelten hier demnach als Schlaginstrumente. Im folgenden Vers „Laudate eum in tympano & choro, laudate eum in chordis & organo“ zählt Bellarmin Pauke und Saitenspiel (chordis) zu den Schlag-Instrumenten, Organum wird zu Blasinstrumenten gerechnet, obwohl nicht klar ist, was damit genau bezeichnet ist; Bellarmin geht mit Augustinus davon aus, es müsse sich um das Instrument mit einer Vielzahl von Pfeifen handeln, eben das, was wir heute auch Orgel nennen. So heißt es bei Augustinus: Organum autem generale nomen est omnium vasorum musicorum: quamuis iam obtinuerit consuetudo: vt organa proprie dicant ea que inflantur follibus. Quod genus significatum hic esse non arbitror: Nam cum organum vocabulum grecum sit: vt dixi: generale omnibus musicis instrumentis: hoc cui folles adhibentur alio greci nomine appellant. Ut autem organum dicatur: magis latina et ea vsitata enim vulgaris consuetudo.16

Während Augustinus noch auf die Unschärfe in der Benennung hinweist, hält Bellarmin es durchaus für wahrscheinlich, dass es sich um die Orgel handeln muss: quamuis enim ignotum sit, quid organum hoc loco significet, tamen probabiliter dici potest, esse in­ strumentum plurium tibiarum simul coniunctarum; ad cuius postea imitationem facta sunt ea, quae nos organa vocamus.17 15 Ebd., S. 844 – 846. 16 „Organum ist der allgemeine Name aller Musik-Geräte; dennoch werden damit üblicherweise diejenigen benannt, die mit Bälgen aufgeblasen werden. Ich glaube nicht, dass diese Art hier bezeichnet ist. Denn da Organum ein griechisches Wort ist, wie ich gesagt habe, nimmt man es generell für alle Musikinstrumente. Das, bei dem Bälge eingesetzt werden, bezeichnet man mit einem anderen Wort. Dass man dazu Organum sagt, ist eine lateinische Gewohnheit und wird umgangssprachlich gebraucht.“ Benutzte Ausgabe: Aurelius Augustinus, Enarrationes in Psalmos (wie Anm. 7), Venedig 1493, fol. 359r – 360r. 17 „[...] obwohl es nicht bekannt ist, was Organum an dieser Stelle bezeichnen soll, kann man dennoch mit Wahrscheinlichkeit sagen, dass es sich um ein Instrument handelt, bei dem mehrere Pfeifen verbunden sind; als Nachahmung davon sind später die Instrumente entstanden, die wir Orgel nennen.“ Bellarmin, Explanatio (wie Anm. 11), S. 854.

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Anders als in der indifferenten Erläuterung des Augustinus kann Chorus nach Bellarmin ein uns unbekanntes Instrument meinen, entsprechend einer Deutung, die man auf einen unechten Brief des Hl. Hieronymus ad Dardanum zurückführte:18 Eine Röhre mit Kesselmundstück teilt sich, wird wieder zusammengeführt und endet in einer trompetenartigen Stürze. Noch Sebastian Virdung19 (1511) und Michael Praetorius20 (1619) ordnen das Gebilde unter diese Kategorie ein. Während Augustinus den vermutlich erst im 9. Jahrhundert entstandenen Text des Pseudo-Hieronymus nicht kennen konnte, war er dem Bildungshorizont Bellarmins sicher vertraut. Dennoch wollte sich Bellarmin diesen erfundenen patristischen Definitionen nicht anschließen. Er beschreibt Chorus daher alternativ dazu in frühneuzeitlicher Vorstellung als Gruppe menschlicher Sänger („vel concentum vocum humanarum“). Vers 5 erwähnt das Cymbalum, von Bellarmin als geschlagene Glocken gedeutet; die Formulierung „in cymbalis iubilationis“ beziehe sich auf einen großen und weit hörbaren Klang. Von dieser Art seien die Kirchenglocken der Christen. Zuletzt diskutiert Bellarmin noch die Zeile „omnis spiritus laudet Dominum“. Es gebe dazu vier unterschiedliche Meinungen: Nach Augustinus müsse die geistige Kraft als Gegensatz zur körperlichen gemeint sein, aber vom Hebräischen her könne das nicht stimmen, so dass die Übertragung lauten müsse „alles was Odem hat, lobe den Herrn“; Theodoretus und Euthymius schränkten dieses auf den Menschen ein. Dies wäre freilich überraschend, da David an anderer Stelle Engel, Menschen, Tiere, Sonne, Mond, Sterne, Feuer etc. in das Gotteslob einschloss. Die dritte Deutung könnte alle Lebewesen meinen, wobei „animal“ immer das beseelte Lebewesen anzeigt, wogegen die „bestiae“, die (wilden) Tiere nicht dabei wären. Demnach wäre die vierte Erklärung auf alle Lebewesen insgesamt gerichtet, auch die mit geistiger Kraft begabten, die Engel; kurzum: alle Geschöpfe. In diesem Sinn vermag der Kommentar Bellarmins eine Grundlage zu bieten für die zahlreichen bildlichen Darstellungen von musizierenden Engeln, wie sie sich in Kirchen finden.

3. Musikalische Praxis in Psalmenkommentaren Wenden wir uns zuletzt einem Psalm zu, in dem es um die Musik selbst geht. Bereits einige Jahrzehnte vor dem Psalmenkommentar Bellarmins hatte der Minoritenmönch und Bischof von Bitonto, Cornelius Musso (1511 – 1574) in einer Predigt über den 149. Psalm Cantate Dominum canticum novum den Anlass gefunden, über das Wesen der Kirchenmusik zu reflektieren.

18 Reinhold Hammerstein, „Instrumenta Hieronymi“, in: AfMw 16 (1959), S. 117 – 134. 19 Sebastian Virdung, Musica getutscht (= Documenta musicologica 31), hrsg. von Klaus Wolfgang Niemöller, Faksimile-Nachdruck der Ausgabe 1511, Kassel u.a. 1970, Bogen Dv und Tafel 32 – 34. 20 Michael Praetorius, Syntagma musicum, Bd. 2, De Organographia (=  Documenta Musicologica 14), Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Wolfenbüttel 1619, hrsg. von Wilibald Gurlitt, Kassel u. a. 1958, S. 76 und Tafel XXXII.

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Franz Körndle

Cantate, cantate canticum nouum. [...] Non cantatis terreno Principi, Duci, vel Regi; cantatis totius mundi Monarchae; cantatis, cantatis Deo, qui Reges terrae constituit & destituit, secundum suam vo­ lun­ta­tem. Cantate obsecro cum iudicio, cum modo, cum mensura: cantate suauiter, facite vt voci vita, lingua cordi, verbaque operibus consonent. Amens ac stolidus cantus est, Sacerdotes mihi charissimi, cum lingua Deo, & cum corde mundo cantare. Deus enim cor quàm linguam mauult. Psallite, psallite sapienter. Quid iuuat defatigare linguam, si mens sit otiosa? Quae insania est nouas componere Motettas, & in veteris vitijs perseuerare? Psallite, psallite sapienter.21

Musso bewegt seine Zuhörer zu bedenken, dass sie nicht einem weltlichen Fürsten huldigten, sondern dem Herrscher der ganzen Welt, Gott. Dabei müssten sich Herz und Stimme im Einklang befinden. Musso schließt sich hier an eine Diskussion an, die sich an Äuße­ rungen in Briefen des Hl. Paulus (Eph. 5,19 und Kol. 3,16) entzündete und in der Kirchenmusikgeschichte seither kontrovers geführt wurde.22 Hier spielt Musso aber auch auf die zeitgenössische Musikpraxis an, in der sich die Komponisten nicht mehr an die liturgischen Melodien hielten und mit Parodiemessen und der Liedkontrafaktur weltliche Klänge in die Gottesdienste hineinbrächten. Ein neues Lied singen, müsse, so Musso, demnach heißen, Musik und Wort, Leben und Handeln in Einklang zu bringen. Robert Bellarmin greift in seiner Erläuterung zu Psalm 149 diese Thematik zwar nicht auf, sondern interpretiert diesen Text in einem Zusammenhang des umfassenden Gotteslobs der drei letzten Psalmen, das – wie gesehen – im 150. Psalm gipfelt. Aber Bellarmin widmet sich an anderer Stelle der von Musso aufgeworfenen Problematik. Dies geschieht im Kommentar zu Psalm 136 Super flumina Babylonis.23 Bellarmin sieht in der Nennung der Flüsse Babylons eine Anspielung auf die Zeit des Babylonischen Exils 598 bis 539 vor Christus.24 Damit schließt er sich der gängigen Interpretation an, die gleichwohl ein viel zu düsteres Bild von der anzunehmenden Wirklichkeit dieses Exils zeichnet. Die entscheidenden Verse lauten:

21 „Singet, singet ein neues Lied. [...] Ihr singt nicht für einen irdischen Fürsten, einen Herzog oder König, ihr singt dem Herrscher der ganzen Welt; ihr singt, ihr singt für Gott, der die Könige der Erde einsetzt und absetzt nach seinem Willen. Singt, ich bitte euch, mit Urteil, mit Bescheidenheit, mit Maß: singt annehmlich, macht, dass mit der Stimme das Leben, die Zunge mit dem Herzen und die Worte mit den Taten übereinstimmen. Sinnlos und töricht ist der Gesang, geliebte Priester, wenn man mit der Zunge zu Gott und mit dem Herzen für die Welt singt. Gott liebt mehr das Herz als die Zunge. Psalliert, psalliert weise! Was hilft es, die Zunge zu ermüden, wenn der Geist untätig ist? Welch ein Wahnsinn ist es, neue Motetten zu komponieren und in alten Fehlern zu verharren? Psalliert, psalliert weise!“ Cornelio Musso, Conciones evangeliorum de dominicis, Köln 1594, S. 59f. 22 Franz Körndle, „Musikanschauung im Mittelalter“, in: Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden, hrsg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Reformationsjahrhundert (= Enzyklopädie der Kirchenmusik I/1), Laaber 2011, S. 92 – 96; hier: S. 93. Hierzu: Wolfgang Fuhrmann, Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel u.a. 2004. 23 Bellarmin, Explanatio (wie Anm. 11), S. 780 – 785. 24 Herbert Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2. ATD. Erg 4/2, Göttingen 1986, S. 370 – 381. Klaus Bringmann, Geschichte der Juden im Altertum. Vom babylonischen Exil bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart 2005, S. 19 – 27.

Musik in Psalmenkommentaren des 17. Jahrhunderts 41 1. […] Super flumina Babylonis illic sedimus, & flevimus, cum recordaremur Sion. 2. In salicibus in medio eius suspendimus organa nostra. 3. Qui illic interrogaverunt nos, qui captivos duxerunt nos, verba cantionum. 4. Et qui abduxerunt nos: hymnum cantate nobis de canticis Sion. 5. Quomodo cantabimus canticum Domini in terra aliena?25

Bellarmin hebt in seinem Argumentum hervor, dass David hier eine Ermahnung an das Volk vortrage, in Gefangenschaft sich nicht von den Angelegenheiten Babylons betreffen zu lassen, sondern sich fleißig der Heimat zu erinnern. Die Babylonische Gefangenschaft sei ein Gleichnis für die irdische Gefangenschaft des Menschengeschlechts und das heimatliche Jerusalem ein Sinnbild für das himmlische Heimatland. Damit würden alle Auserwählten ermahnt, wie sie sich in Exil und Gefangenschaft zu verhalten hätten. Im zweiten Vers „in salicibus in medio eius suspendimus organa nostra“ ist mit Bellarmin der Begriff organa im allgemeinen Sinn zu deuten, also als Instrumente, wobei die Harfen für freudige Musik einzusetzen sind. Die Harfen seien demnach wegen der Trauer in die Zweige der Weiden zu hängen. Außerdem wollten die Juden nicht von den Babyloniern beim Gesang der heiligen Lieder gehört werden, die sie früher üblicherweise im Gottesdienst gesungen hatten. Nun seien die Juden besser, religiöser und gottesfürchtiger geworden, während sie vorher die Propheten verspottet und sogar getötet hatten. Jetzt wagten sie es nicht mehr, die heiligen Lieder dem Gespött der Heiden auszusetzen. Auf die Forderung der Heiden, ein Lied von Sion zu singen, antwortet Vers 5: „Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?“ Eigentlich hätten sie sagen müssen, dass sie sich vor dem Spott fürchteten und aus Traurigkeit nicht singen wollten, aber sie wollten ihre Herren nicht kränken. An dieser Stelle vollzieht Bellarmin eine Wende und führt eine weitere Deutung dieses Abschnittes ein: Sed illi quoque cantant canticum Domini in terra aliena, qui sacros hymnos, & psalmos ita decantant, vt carnalem aurium voluptatem solum, aut praecipue quaerunt: quique audientium carnales aures delectare varijs vocum inflexionibus satagunt, cantica enim sacra instituta sunt ad mentem erigendam in Deum & spiritum potius, quam corpus recreandum. Contra autem nonnulli sunt, qui canticum Babyloniae in domum Dei, & sanctam Sion inducunt, illi videlicet, qui verba sacra modulis prophanis ita vestiunt, vt qui audiunt, non tam verba considerent, quam prophanam modulationem attendant.26 25 1. […] An den Flüssen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. 2 Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land. 3. Dort verlangten die, die uns gefangen genommen hatten, Lieder, 4. unsere Peiniger forderten Jubel: „Singt uns Lieder vom Zion! 5. Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde? 26 „Aber auch die singen das Lied des Herrn im fremden Land, die die heiligen Gesänge und Psalmen so singen, dass sie allein oder zumindest vorrangig die Geilheit des Gehörs bedienen. Und obwohl sie die geilen Ohren des Publikums mit verschiedenen Verkrümmungen der Stimmen zu erfreuen suchen, sind die heiligen Gesänge nämlich doch dazu da, vielmehr Sinn und Verstand zu Gott und dem Geist aufzurichten als den Körper zu erholen. Dagegen stehen etliche, die das Lied Babylons in das Haus des Herrn und das Heilige Sion einführen, jene, die das Heilige Wort in weltliche Melodien einkleiden, damit die Hörer nicht die Worte bedenken, sondern der weltlichen Melodie ihre Aufmerksamkeit schenken.”

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Die Intention Bellarmins erschließt sich leicht, er zielt nämlich erstens auf eine Kritik von Komposition und Vortragsweise, wenn also nicht der Text im Sinne des Hl. Augustinus im Vordergrund stünde, sondern der klangliche Reiz, wenn sich die Musik am Text vorbei wichtig mache; zweitens meint Bellarmin offensichtlich das Phänomen der Kontrafaktur. Auch das Verfahren der so genannten Parodie könnte hier angesprochen und verurteilt sein. Interessant ist dabei die Betrachtungsweise. Einerseits kann man von einer Komposition ausgehen, der man den ursprünglichen – oft weltlichen – Text entfernt hat, um neue, geistliche Inhalte zu unterlegen. Andererseits ist es auch möglich, sich an der Liturgie zu orientieren. Dann erhält ein Text, der für den Gottesdienst festgelegt ist, über das Verfahren von Parodie oder Kontrafaktur eine neue musikalische Gestalt. In diesem Sinn argumentiert Bellarmin; er nimmt das liturgische Wort als Grundlage. Dieses wird nun in weltliche Melodien eingekleidet. Das starke Bild macht klar, welche Bedeutung Bellarmin der Semantik der Musik selbst zubilligt. Die musikwissenschaftliche Forschung hat sich intensiv um die Beschreibung des Phänomens, um die Interaktion von Text und Musik sowie um Konzepte von Imitatio oder Emulatio bemüht.27 Fragen nach dem Übergang von der weltlichen Sphäre in die geistliche erscheinen dagegen eher am Rande oder werden ganz vernachlässigt. Das ist insofern ein wenig merkwürdig, weil gerade dieser Übergang durchaus aus religiöser, aus theologischer Sicht betrachtet werden kann und sogar muss. Hier halten sich aber die Autoren sehr zurück. Der Artikel „Parodie und Kontrafaktur“ in der neuen MGG28 formuliert hierzu, die Übernahme weltlicher Musik in den Gottesdienst mit neuem, geistlichem Text sei theologisch unangreifbar. Diese Bemerkung mag sich auf die Situation bei den Protestanten beziehen, nachdem sich Martin Luther deutlich zum Thema der Übernahme weltlicher Melodien geäußert hatte: „Der Teufel braucht nicht alle schönen Weisen für sich alleine besitzen.“29 In diesem Sinn wäre die Kontrafaktur nicht anders zu deuten als die christliche Inbesitznahme von Musik insgesamt. Wir kennen diese Position in der Formulierung von Johann Sebastian Bach: „Aller Musik Finis und Endursache soll anders nicht, als nur zu Gottes Ehre sein.“30 Bellarmin, Explanatio (wie Anm. 11), S. 782. 27 Lewis Lockwood, „On ‚Parody’ as Term and Concept in 16th-Century Music“, in: Aspects of Medieval and Renaissance Music: A Birthday Offering to Gustave Reese, hrsg. von Jan LaRue, New York 1966, S. 560 – 575; Howard Mayer Brown, „Emulation, Competion, and Homage: Imitation and Theories of Imitation in the Renaissance“, in: JAMS 35 (1982), S. 1 – 48; Honey Meconi, „Does Imitatio exist?“, in: Journal of Musicology 12 (1994), S. 152 – 178. 28 Georg von Dadelsen u.a., Art. „Parodie/Kontrafaktur“, in: MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel u.a. 1997, Sp. 1394 – 1416. 29 Burgis Heller, „‚Der Teufel braucht nicht alle schönen Melodien für sich alleine besitzen‘. Ein weltlich und ein geystlich Lied – kulturtheologische Betrachtungen“, in: Ton, Gesang, Musik. Natur- und kulturspezifische Aspekte. Matreier Gespräche, hrsg. von Max Liedtke, Graz 1999, S. 214 – 257. 30 Johann Sebastian Bach, Vorschriften und Grundsätze zum vierstimmigen spielen des General-Bass oder Accompagnement für seine Scholaren in der Musik (1738), in: Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe Sämtlicher Werke. Supplement: Bach-Dokumente, Bd. 2, Kassel und Leipzig 1963, S. 333. In einer ganz ähnlichen Formulierung bereits bei Friedrich Erhard Niedt, Musikalische Handleitung / oder Gründlicher Unterricht. Erster Theil, Handelt vom General-Baß, denselben schlecht weg zu spielen, Hamburg 1710, Reprint Buren 1976, Cap. II (A4v).

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Diese Aussagen können aber lediglich als protestantische Stellungnahmen gewertet werden. Die katholische Betrachtungsweise zu Parodie und Kontrafaktur ist in der Literatur bisher so gut wie gar nicht untersucht worden. Es sollen daher hier mehrere Texte aus dem 16. und 17. Jahrhundert vorgestellt und in ihrem Kontext diskutiert werden. In der von Papst Benedikt XIV. erlassenen und damals verbreiteten Enzyklika Annus qui aus dem Jahr 1749 wird offenbar als Erkenntnis aus einer über Jahrhunderte reichenden Beobachtung festgestellt: nullus certe est, qui inter cantum Ecclesiasticum, et scaenicas modulationes discrimen aliquod non desideret, et theatrales profanosque cantus in Ecclesiis tolerari non condemnet.31

Mit Berufung auf die Patristik (Hieronymus und Thomas von Aquin) sowie auf das Konzil von Toledo aus dem Jahr 1566 fordert die Enzyklika, jeden musikalischen Klang von der Kirche fernzuhalten, „der theatralische oder wegen der Liebesthematik schändliche sowie klassisch kriegerische Melodien enthalte“32. Wie so oft in der Literatur zur katholischen Kirchenmusik treffen wir auch hier auf eine Gleichsetzung von „sonus“ und Klang als Rede, ohne dass genauer ausgeführt wird, was nun ein solcher weltlicher Klang an sich sei. In den von David Crook unlängst und ausführlich erörterten Zensurstatuten, die der Jesuitengeneral Everardus Mercurian im Jahr 1575 erließ, setzt § 2 fest: „Die [Gesänge], die schändlichen Text und Klang oder auch Singweise haben, die man für obszön oder nichtig hält, sollen verbrannt werden.“33 Die Frage nach schändlichen oder obszönen Texten muss hier nicht diskutiert werden, da darüber allgemeine Klarheit bestehen sollte, doch im Hinblick auf den Klang bleibt das Verbot Mercurians sehr ungenau. Es ist daher ein glücklicher Umstand, dass Kardinal Cajetan in seinem Kommentar zur Summa des Thomas von Aquin eine ausführliche Erklärung bereitstellt, wenn er über die Musik im Gottesdienst schreibt. Dabei nimmt Cajetan besonders die Praxis der Organisten ins Visier, die weltliche Lieder auf dem Instrument im Gottesdienst spielten: Sed occurrit hic dubium, an pulsare in organis inter officia ecclesiastica sonos secularium uanitatum, sit peccatum mortale. Et est ratio dubii, quia quidam propter irreuerentiam diuini cultus, putant quòd sic. Alii autem uidentur hanc respuere sententiam; quia sonus abstrahit à materia hac uel illa, & sonus qui ab uno applicatus est, ad materiam uanam, potest ab altero applicati ad materiam spiritualem, ut patet.34 31 „Gewiss gibt es niemanden, der nicht eine Unterscheidung wünschen würde zwischen dem Kirchengesang und szenischen Liedern. Außerdem wird es jeder verdammen, theatralische und weltliche Gesänge in der Kirche zu tolerieren.“ Sanctissimi Domini Nostri Benedicti Papae XIV. Bullarium. Tomus tertius, Volumen 7, Mecheln 1827, S. 48. 32 Ebd., S. 58: „[…] ne ipsius musicae sonus quid theatrale, aut impudicos amorum, bellorumque classicos modulos referens […]“. 33 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 9237, S. 31. Auch in: Dillingen, Studienbibliothek, cod. XV, 227, fol. 3v. David Crook, „A Sixteenth-Century Catalog of Prohibited Music“, in: JAMS 62 (2009), S. 1 – 78. 34 „Es begegnet aber dieser Zweifel, ob nämlich das Spielen von nichtigen weltlichen Klängen auf der Orgel während des Gottesdienstes eine Todsünde sei. Und der Grund für den Zweifel ist der, weil es

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Zwar meint Cajetan in seiner Argumentation das Orgelspiel, doch geht er wenig später konsequent weiter zum Gesang selbst: „eadem est ratio de cantu & sono. Quoniam cantus abstrahit etiam à materia: & applicatus ad malam materiam, etiam applicari ad spiritualem [...]“.35 Cajetan meint aber hier nur die grundsätzliche Verwendung der gleichen Musik zu unterschiedlichem Zweck. In seinen Beispielen bezieht er sich ausschließlich auf die Orgelmusik, ganz offenbar, weil bei textlosem Klang besonders schwierig zu argumentieren war. An diesen grundlegenden Text Cajetans schlossen sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zahlreiche weitere Autoren an, die einerseits die Tradition der Summenkommentare fortführten, andererseits auch auf neue Entwicklungen der kirchenmusikalischen Praxis eingehen wollten. Daher erhalten wir später auch Einblicke in die stetige Aktualisierung. Zu diesen Werken zählt mit mehreren Auflagen von 1550 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts die weithin verbreitete Summa aurea armilla nuncupata des Dominikaners Bartolomeo Fumo.36 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts reihen sich jesuitische Autoren in die angesprochene Tradition der Summenkommentare ein. Darunter ragt wegen seiner Schärfe Gregor von Valentia hervor, der als einer der herausragendsten Theologen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelten kann. Im dritten Band seiner Commentarii Theologici behandelt die Quaestio nona: De Laudatione Dei zunächst wie schon Cajetan den Gebrauch der Orgel, dann aber auch den Einsatz des Gesanges selbst, besonders den Fall, dass weltliche Musik mit neuem, geistlichem Text versehen, in den Gottesdienst eingeführt würde: nullum peccatum esse putat Cajetanus. Nam sonus siue vocis, siue organi, ex sua natura indifferens est ad significanda sacra & profana. Itaque ad vtraque potest aequè referri. Per accidens autem contingit id esse peccatum.37

einige wegen der Ehrfurchtslosigkeit gegenüber dem Gottesdienst dafür halten. Andere scheinen dieses Urteil zurückweisen zu müssen, weil ja der Klang von diesem oder jenem Inhalt abstrahiert [wird], und der Klang, der von dem Einen zu nichtigem Inhalt verwendet wird, von einem Anderen zu geistlichem Inhalt verwendet werden kann, was offensichtlich ist.“ Thomas à Vio Cajetan, Secunda Secunde sanctissimi Doctoris Thome de Aquino, Rom 1517, fol. 186v. Franz Körndle, „Die Katholische Kirche und das Renaissance-Lied“, in: Niederländisches und deutsches weltliches Lied zwischen 1480 und 1640 (= Michaelsteiner Konferenzberichte 72), hrsg. von Boje E. Hans Schmuhl in Verbindung mit Ute Omonsky, Augsburg und Michaelstein 2007, S. 207 – 219; bes. S. 213. 35 „Das Gleiche gilt für den Gesang und den Klang. Denn der Gesang abstrahiert ebenfalls vom Inhalt und einmal zu üblem Inhalt verwendet kann er auch zu geistlichem Inhalt verwendet werden.“ Cajetan, Secunda secunde (wie Anm. 34), fol. 186v. 36 Franz Körndle, „Between Stage and Divine Service: Jesuits and Theatrical Music“, in: The Jesuits II: Cultures, Sciences, and the Arts 1540 – 1773, hrsg. von John W. O’Malley S. J. u.a., Toronto u.a. 2006, S. 479 – 497; bes. S. 489 – 491. 37 „Und das [...] hält Cajetan für keine Sünde. Denn der Klang entweder der Stimme oder der Orgel ist von seiner Natur her indifferent, um Geistliches oder Weltliches anzuzeigen. Daher kann er sich auf beides in gleicher Weise beziehen. Unter Umständen kann es aber doch zur Sünde kommen.“ Gregorius de Valentia, Commentarii Theologici. Tomus tertius, complectens materias Secundae Secundae Diui Thomae, Ingolstadt 1595, Sp. 1919.

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Doch auch Gregor von Valentia erörtert nicht den Einsatz von kontrafazierten Liedern in der Liturgie. Dieses erneute Aufgreifen mag damit zusammenhängen, dass es bei korrekter Beachtung der Richtlinien für liturgische Musik keine Verwendung solcher Stücke im Gottesdienst geben konnte. Lediglich die wenigen Stellen für freies Orgelspiel hielten demnach die Türen offen für den Einfall profaner Melodien. Die Besonderheit der Parodiemesse, bei der ja auch Weltliches – wenigstens in fragmentierter Form – in der Liturgie erklang, scheint übrigens bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in der theologischen Literatur überhaupt nicht debattiert worden zu sein. Generell war es den Jesuiten ein Anliegen, der Wirkung von Musik auf den Grund zu gehen. In dem genannten Beispiel orientiert sich Robert Bellarmin am Text. Die unterlegten Worte, soweit sie weltlicher und oft sogar erotischer Natur waren, kontaminierten die verwendete Musik grundsätzlich. Damit war es nicht mehr möglich, eine solche Melodie oder einen kompletten musikalischen Satz ohne diesen Text einzusetzen. Die Unterlegung geistlichen oder sogar liturgischen Textes vermochte diesen Umstand nicht zu heilen, sondern im Gegenteil, die übernommene Musik musste in jedem Fall den neuen Text beschädigen. Im dritten Buch seines Mystagogus von 1629 befasste sich Louis de Cressolles mit der korrekten Form der Kirchenmusik. Völlig ungeeignet findet er das weiche harmonische Geschlecht und die lüsterne ionische Tonart, woran die zur Süßigkeit geneigten Ohren Gefallen fänden und die Sinne gekitzelt würden, aber jede Frömmigkeit ausgelöscht würde. Dann stellt er fest, dass es ein Makel sei, wenn leichtsinnige und nichtige Gesänge untergemischt würden, die nur dem Vergnügen der Ohren dienten und nennt dafür Beispiele, etwa zur Jagd gehörige Unterhaltung: cùm duo ita canunt, vt vnus praeeat quasi lepusculus, tum vaenator paribus sequatur vestigijs: elabatur ille, & fugiat, hîc euolet à tergo, & captare contendat. Quae musicae ratio ingeniosa quidem est atque dulcis ad aurium voluptatem, sed vacua deuotionis. Similis illa est quae Echonem repraesentat, quam aliquoties Romae audiui, cum multorum admiratione. Nam & lectae erant voces, & tam acri iudicio moderatae, vt cùm vna plenè caneret, altera quasi longè posita, & missa ab Echone exaudiretur.38

Dies sei für fürstliche Paläste und königliche Säle zu empfehlen, wobei es der ehrenwertesten Erholung dienen könne, in Kirchenräumen aber, wo Gott verehrt werde, habe es für die Andacht keinen Nutzen. In allen genannten Texten, die überwiegend von jesuitischen Autoren stammen, wird der Übergang von der weltlichen in die geistliche Sphäre klar definiert, auch wenn konkrete Beispiele selbstverständlich selten sind. Dann aber ist sogar das Bemühen um eine fast wissenschaftliche Erfassung der musikalischen Wirkung erkennbar. 38 „wenn zwei so singen, dass der eine vorausgeht wie ein Häschen, dann der Jäger den Spuren folgt, jener entwischt und flieht; dieser stürzt von hinten heran und strengt sich an ihn zu fangen. Dieses musikalisch recht geistreiche Verfahren ist ein süßes Ohrenvergnügen, aber leer für die Andacht. Ähnlich ist jene [Art], die ein Echo darstellt, wie ich es etliche Male in Rom mit großer Bewunderung gehört habe. Denn die Stimmen waren vortrefflich und auch bei scharfem Urteil besonnen, dass wenn eine voll[klingend] sang, die andere wie von Ferne als Echo gehört wurde.“ Ludovicus Cresollius, Mystagogus, Paris 1629, S. 630.

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Gianlorenzo Berninis S. Andrea al Quirinale. Ein Meilenstein des barocken Sakralraumensembles Guido Reuter

Er [Bernini] sagte, Kunst bestehe darin, alles so vorzutäuschen, dass es real erscheine.1 Aber alle diese Feinheiten, bestimmt, die Dauer des Bau­werks zu sichern, waren eine Kleinigkeit im Verhältnis zu denen, die er gebrauchte, wenn es sich darum handelte, die Erregungen und Schwingungen vorzubereiten, die in der Seele des künftigen Betrachters seines Werks entstehen soll­ten.2

I. Als der sechzigjährige Gianlorenzo Bernini 1658 mit der Planung der von Kardinal Camillo Pamphili, Neffe Papst Innozenz X., gestifteten Kirche S. Andrea al Quirinale für das Jesuitennoviziat an der Via Pia gegenüber dem Quirinalspalast begann, konnte er auf eine große Anzahl herausragender Kunstwerke zurückblicken, mit denen er das Gesicht des barocken Rom maßgeblich geprägt hatte: Genannt seien hier stellvertretend der „Baldachin“ über dem Petrusgrab in St. Peter von 1624 – 33, die „Cornaro-Kapelle“ in S. Maria della Vittoria von 1645 – 52, der „Vierströmebrunnen“ auf der Piazza Navona von 1648 – 51 und die seit 1656 bzw. 1657 in Ausführung befindlichen Arbeiten für St. Peter: die „Kolonnaden“ des Petersplatzes sowie die „Kathedra Petri“ in der Apsis der Kirche. Bernini hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Kirche gebaut. Dieser Umstand sollte sich ab 1658 ändern, denn in diesem Jahr wurde ihm nicht nur die Planung und Ausführung von S. Andrea al Quirinale übertragen, sondern auch der Bau der Kirche S. Tommaso da Villanova in Castel Gandolfo (1661 vollendet).3 1662 wurde der Künstler ferner mit Entwurf und Ausführung der Kirche S. Maria dell’ Assunta in Aricca (1666 vollendet) betraut.4 Im Reigen dieser drei Kirchenbauten nimmt S. Andrea al Quirinale unbestreitbar den ersten Rang ein, obschon die beiden anderen gleichfalls von besonderer Qualität sind und im Œuvre des Künstlers zu wenig Beachtung finden. Dass der betagte Bernini seiner Kirche für das Jesuitennoviziat selbst eine große Bedeutung bemaß, vermittelt die nachfolgende, von seinem Sohn überlieferte Aussage: „Mein Sohn, dies Bauwerk […] ist das einzige, für

1 Filippo Baldinucci, Vita del Caval. Gio. Lorenzo Bernini, Florenz 1682, repr. Wien 1912, S. 36. 2 Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, Frankfurt am Main 31995, S. 49. 3 Zur Bau- und Ausstattungsgeschichte siehe: Franco Borsi, Gian Lorenzo Bernini. Architekt. Das Gesamtwerk, Stuttgart u. Zürich 1983, S. 115 – 124 und S. 341 – 344. 4 Zur Bau- und Ausstattungsgeschichte s. ebd., S. 126 – 132 und S. 346.

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welches ich im Grunde meines Herzens Genugtuung empfinde, und oft suche ich es auf, um mich bei seinem Anblick von meinen Mühen zu erholen und Kraft zu schöpfen.“5

II. S. Andrea al Quirinale, zwischen 1658 und 1670 von Bernini in mehreren Planungsschritten konzipiert und erbaut, setzt sich in Grund- und Aufriss aus einer außer­gewöhnlich heterogenen Zusammenstellung von Räumen und Architekturmotiven zusammen, die durch die harmonisierende Kraft einer querovalen, zentralisierenden Raumschale und eines partiell vereinheitlichenden Dekorations­systems zu einer neuen Ganzheit geeint sind.6 Die Disposition des Bauwerks verrät, dass der Architekt sowohl gattungsimmanente Re­gelbrüche als auch Regelverletzungen innerhalb der die Grenzen der einzelnen Gattungen Architektur, Skulptur und Malerei aufrecht­erhaltenden Bestimmungen, die in der Renaissance ent­ wickelt worden waren, vollzog. Vereinfacht ausgedrückt bot die Architektur in der Renaissance die Hülle oder den Rahmen für die Ausschmückungen mit Malerei und Bildhauerei. Diese hatten die Vorgaben jener zu befolgen und mussten sich darin einordnen.7 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts galten Architektur, Skulptur und Malerei ferner als Geschwister, die alle vom disegno – der Zeichnung beziehungsweise dem inneren geistigen Entwurf – abstammten und auf diesem fußten.8 Der erste Bio­graph Gianlorenzo Berninis, Filippo Baldinucci, be­merkte 1682 in der Vita des Künstlers: È concetto molto universale ch’egli sia stato il primo, che abbia tentato di unire l’architettura colla sculptura e pittura in tal modo, che di tutte si facesse un bel composto; il che fece egli con togliere alcu5 „Figlio, di questa sola Opera di Architettura io sento qualche particolar compiacenza nel fondo del mio cuore, e spesso per sollievo delle mie fatiche io qui mi porto a consolarmi col mio lavoro.“ Domenicho Bernini, Vita del Cavaliere Gio. Lorenzo Bernino […], Rom 1713, S. 108 – 109. 6 Zur Baugeschichte siehe u.a.: Joseph Conners, „Bernini’s S. Andrea al Quirinale: Payments and Planning“, in: Journal of the Society of the Architectural Historiens XL (1982), S. 15 – 37; Christoph Luitpold Frommel, „S. An­drea al Quirinale: genesi e struttura“, in: Gian Lorenzo Bernini Architetto e l’architettura europea del Sei-Set­tecento, hrsg. von Gianfranco Spagnesi u. Marcello Fagiolo, Florenz 1983, S. 211 – 251; Franco Borsi, Gian Lorenzo Bernini (wie Anm. 3), S. 106 – 115 und S. 340 – 341; Richard Bösel, Jesuitenar­chitektur in Italien (1540 – 1773), Teil 1, Wien 21986, S. 212 – 222. Frommel (1983, S. 246) kommt in seinem Aufsatz über Berninis Bau zu dem Schluss: „Il fenomeno sorpredente del S. Andrea non è questa continuità dell’insieme di architettura, scultura e pittura, ma l’armonizziazione del teatro sacro tipicamente barocco con un guscio architettonico di un equilibrio cinquecentesco.“ Meines Erachtens verkennt man das Spezifische an der Innenraumgestaltung von S. Andrea, wenn man die dort zwei­felsohne wichtige Harmonie zu sehr in den Vordergrund stellt und sie als unmittelbar aus der Renaissancearchitekur abgeleitet zu begreifen sucht. 7 Hierzu: Stefan Kummer, Anfänge und Ausbreitung der Stuckdekoration im römischen Kirchenraum, Tübingen 1987, S. 1 – 5. 8 Hierzu: Wolfgang Kemp, „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“, in: Marburger Jahrbuch, Heft 19, Marburg 1974, S. 219 – 240.

Gianlorenzo Berninis S. Andrea al Quirinale 49 ne uniformità odiose di attitudine, rompendole talora senza violare le buone regole, ma senza obbligarsi a regola: ed era suo detto ordinario in tal proposito, che chi non era insieme pittore e scultore, a ciò non si cimentasse, ma si stesse fermo ne’ buoni precetti dell’arte.9

Wie bereits in der Übersetzung des Zitats anklingt, wird der Begriff bel composto im Zusammenhang dieses Beitrags als „schöne Mischung“ verstanden. Hiermit findet eine bewusste Abweichung von Irving Lavins Übertragung des Terminus ins Englische statt. Dieser übersetzte in seiner grundlegenden Studie Bernini and the Unity of the Visual Arts von 1980 „bel composto“ mit „a beautiful whole“,10 was mit „ein schönes Ganzes“ ins Deutsche übertragen werden kann. Rudolf Preimesberger wies 1986 in einer ausführlichen Rezension von Lavins Studie zu Recht darauf hin, dass der Terminus bel composto sowohl Einheit als auch Komplexität eines aus verschiedenen Elementen Zusammengesetzten meine.11 Da es nachfolgend das Ziel ist, neben der gestalteten Einheit insbesondere die außergewöhnliche Verbindung der einzelnen, heterogenen Elemente in Berninis Konzeption von S. Andrea al Quirinale herauszustellen, wird von „schöner Mischung“ gesprochen, da in der Übersetzung von „composto“ mit „Mischung“ sowohl die (neue) Einheit der Komponenten als auch in deren Verbindung noch die Vielheit derselben anklingen.

III. Das Ziel, das Bernini mit dem bel composto in S. Andrea al Quirinale verfolgte, war nicht die Erzeugung einer neuen Totalität in Form einer Synthese, bei der es zu einer alleinigen Auflösung der ein­zelnen Elemente des Bauwerkes – respektive aller beteiligten künstlerischen Gattungen – kommt, sondern die Schaffung eines Ver­hältnisses, in dem sowohl ein ver­ein­ heitlichender Zusammenschluss der einzel­nen Bestandteile als auch ein Auf­rechterhalten, ja sogar eine Betonung von deren individuellen Cha­rakteristika er­folgt.12 Hierin vermittelt sich gegenüber den Vorstellungen der Renaissance ein völlig neues Verhältnis zu den Bestim­mungen der künstlerischen Gattungen. In Folge dessen haben nicht nur Malerei und Skulptur an der sich im Raum ab­spielenden Szenen­folge teil­, sondern die Archi­tektur selbst 9 „Er [Bernini, d.V.] gilt allge­mein als der erste, der versucht hat, Architektur, Skulp­tur und Malerei solcher­maßen zu vereinen, dass daraus eine schöne Mischung (un bel composto) wird; welches er unter­ nahm, indem er unerquickliche Gleichförmigkeiten der Haltung vermied und die guten Regeln manchmal brach, ohne ihnen Gewalt anzutun, aber auch ohne sich an sie gebunden zu fühlen: und dazu lautet sein üblicher Ausspruch, dass die Re­gel nie befolge, wer sie nie über­trete.“ Filippo Baldinucci, Vita del Cavaliere Gio. Lorenzo Bernini (wie Anm. 1), S. 140. 10 Irving Lavin, Bernini and the Unity of the Visual Arts, New York u. London 1980, S. 6. 11 Rudolf Preimesberger, „Berninis Capella Cornaro. Eine Wort-Bild-Synthese des siebzehnten Jahrhunderts: Zu Irving Lavins Bernini-Buch“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986), S. 191. Aktueller zum Begriff und Inhalt des bel composto: Damian Dombrowski, „Wandlungen des ‚bel composto‘“, in: Architektur und Figur. Das Zusammenspiel der Künste (= Festschrift für Stefan Kummer zum 60. Geburtstag), hrsg. von Nicole Riegel u. Damian Dombrowski, München u. Berlin 2007, S. 295 – 317. 12 Dies ist eine formale und inhaltliche Komponente des Terminus, die bei Lavin so nicht existiert. Vgl. dazu: Lavin, Bernini and the Unity of the Visual Arts (wie Anm. 10), 6 ff.

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wird in Teilen illusionistisch und partizipiert an der Szenographie des überirdischen Geschehens.13 Der Kirchenraum folgt einem querelliptischen Grundriss, durch dessen einigende Gestalt vier heterogene Raumtypen zusammengefasst werden (Abb. 1)14. Der kurze, querrechteckige Eingangsbereich und das zu einem Halbrund gewei­tete Altarhaus, das durch seine apsidale Ausbuchtung eine größere Tiefe erhält und demzufolge bereits im Grundriss eine Betonung erfährt, liegen sich auf der ver­kürzten Längsachse unmittelbar gegenüber. Eine ungefähre Entsprechung zu der ap­sidalen Ausbuchtung bildet der Portikus an der Stirnseite der Kirche, durch den die Symmetrie des Grundrisses annähernd aber nicht exakt gewahrt bleibt. Beide werden auf jeder Seite des Ovals von vier weiteren kleineren Anräumen begleitet. Die jeweils innen liegenden sind leicht längsrechteckige Kapellen, die sich in annähernd

Abb. 1: S. Andrea al Quirinale, Grundriss.

voller Breite zum Hauptraum hin öffnen und auf der linken Seite Ignatius von Loyola sowie Stanislaus Kostka und auf der rechten Seite Franz Xaver sowie dem Christus der Passion geweiht sind. Die äußeren rahmenden Anräume besitzen einen schmaleren Eingang und weiten sich innen zu einer nahezu querovalen Form, so dass deren gesamte Breite vom Laienraum aus nicht erfasst wer­den kann. Die dem Queroval angenäherte Gestalt der Räume korrespondiert mit der Grundform der Kirche. Die links und rechts des Eingangs liegenden Anräume die­nen zur Abnahme der Beichte. Der Raum links vom Presbyterium fungiert als 13 Rudolf Wittkower betonte in der Forschung bereits sehr früh, dass Berninis Vereinigung der Künste „revolutionäre Folgen“ mit sich brachte: Die traditionelle Trennung der Künste nach klar definierten Arten oder Gattungen wurde überwunden und war „hinfort eine absurde Angelegenheit“. Rudolf Wittkower, Arte et Architettura in Italia, Turin 1972, S. 130. 14 Alle Abbildungen stammen aus der Mediathek der Kunstakademie Düsseldorf.

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Grabstätte, während der rechte als Durchgang zum Noviziat zu sehen ist, dem die Kirche ehemals direkt angeschlossenen war. Über diesen Räumen befinden sich die Sängeremporen. Die genaue Betrachtung des Grundrisses der Kirche enthüllt, dass Bernini mit dem Eingangsbereich und dem Altarraum zwei in ihrer Form abweichende Räume konzipierte, deren jeweilige Gestalt sowohl auf die unter­schiedliche funktionale als auch inhaltliche Bestim­mung verweist. Innerhalb der acht weiteren Räume bildete er noch einmal zwei unterschiedliche Raumgruppen, die je nach Funk­tion eine identische Form aufweisen. Bestimmend für das einigende Gesamtbild dieser Raumverkettung (oder besser: Räumeverkettung) sind die einförmige Gestalt des Ovals und die auf den Diagonalachsen erzeugte Verbindung zwischen den Anräumen.

IV. Die im Grundriss angelegte Disposition des Kirchenraums wird in dem strukturell auffallend un­einheitlichen Aufriss fortgeführt (Abb. 2): Dieser besteht zum einen aus der viermali­gen Verwendung des aus der antiken römischen Architektur stammenden Tabula­riummotivs, das heißt der Verbindung einer rahmenden Kolonnade mit eingeschriebener Arkade. Zum anderen setzt sich der Aufriss aus vier niedrigeren und schmaleren scheidtrechten Öffnungen mit quadratischen Emporen zusammen.

Abb. 2: S. Andrea al Quirinale, Blick in Richtung Hochaltarhaus.

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Mit den über den scheidtrecht geöffneten Anräumen liegenden Emporen samt Balu­ straden nimmt Bernini direkten Bezug auf die römische Mutterkirche des Jesuitenordens Il Gesù, von Giacomo Vignola und Giacomo della Porta zwischen 1568 – 1584 erbaut. Des Weiteren besteht der Aufriss aus dem Eingangsraum, dessen Bogenmotiv hoch in die Kuppel ein­schneidet, sowie der von Doppelsäulen getragenen Ädikula mit Segmentgiebel als Rahmung des Altarhauses. Erst durch die auf der Höhe der Anräume vorgeblendete Dekoration entsteht eine Zusammenfassung der heterogenen – für sich gesehen jedoch durchaus traditionellen – Architekturelemente des Aufrisses. Ein entschei­dendes Instrument dieser Ver­einigung stellen die grauen, konkav eingezogenen, korinthisierenden Pilaster dar. Ein anderes Mittel ist das den Laienraum umzie­hende Gebälk. Des Weiteren kommt der Farbigkeit des Marmors eine zusam­menfassende und harmonisierende Wirkung zu. Die rötlichgraue Marmo­rierung der Wände ist in den Säulen des Presbyteriums fortgesetzt, wo­durch der Laienraum und das Altarhaus miteinander verbunden werden. Ebenso wird durch die Far­big­keit der Wand eine Brücke zur Kuppel geschlagen. Das Rotgrau wechselt im oberen Wandabschnitt über zu Rotgelb und setzt sich im Fries der Entablatur fort, wodurch eine sanf­tere Überleitung zum Gelbgold der Kuppel erzielt wird. Die Raumfarbigkeit besitzt jedoch nicht nur eine harmonisierende Funktion, sondern – entsprechend dem Ziel, in der „schönen Mischung“ (dem bel composto) neben der Verbindung aller Elemente zugleich die Vielheit derselben fassbar zu lassen – auch eine partiell trennende: Die Säu­len der das Altarhaus rahmenden Ädikula weisen eine durchgängig rotgraue Marmorierung auf, während die Farbigkeit an der Wand des Laienraums variiert. Ebenso ist der Fries der mächtigen Ädikula nicht rotgelb, sondern rotgrau marmoriert. Oberhalb des Gebälks setzt sich das Konzept von Einheitlichkeit und Mannigfaltigkeit weiter fort: So kongru­iert und variiert die Größe der Segmentfenster und die plastische Ausgestaltung dieser Zone mit der Aufteilung der Räume darunter. Demgemäß schneiden oberhalb der Kapellen größere Fenster in die Kuppel ein, auf deren gesprengter Bekrönung plastisch gestaltete Engel lagern, denen mit Muscheln, Fischen und Netzen Attribute zuge­ ordnet sind, die auf den Heiligen Andreas als Fischer verweisen. Über den auf den äußeren Diagonalen liegenden Räumen ist die Kuppel mit kleineren Fenstern versehen, um deren segmentbogige, nicht gesprengte Verda­chung herum jeweils drei quir­lige Putten zu sehen sind, von denen einige auf Festons schaukeln oder diese variantenreich anheben oder einen Palmenzweig, das Symbol des Märtyrers, vorzeigen. Die Kuppel selbst (Abb. 3) ist mit sechseckigen Kassetten ausgekleidet, vor denen die Gewölbegurte liegen, welche den durch die feinsinnigen Differenzierungen entstan­denen Rhythmus von Grund und Aufriss bis zum Fuß der Laterne weiterleiten. Selbst die Kuppelfelder oberhalb von Eingang und Presbyterium variieren leicht in ihrer Größe. Auch die Kassettendecke betont die Raumaufteilung, denn sie verläuft nicht durchgängig in einem Stück. Sie knickt jeweils zu den Rändern der Gurte hin ab und formiert eine Schirmkuppel, durch die die einzel­nen Interkolumnien nachhal­tiger betont werden. In unmittelbarer Korrespondenz spiegelt auch der Fußboden diesen Rhythmus wider.

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V. Berninis Vorgehen, S. Andrea al Quirinale auf einem querovalen Grundriss zu errichten – erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass auch die vorausgehende Gestaltung des Petersplatzes einem querovalen Grundriss folgt –, hat für den kleinen Kirchenraum zur Folge, dass der Besucher beim Eintreten direkt dem Hochaltar als liturgischem Zentrum des Gebäudes auf kürzestem Weg gegenübersteht: „Die ausgeprägte Dominanz der Hauptachse ist darauf angelegt, die Wirkung des Hochalters für den durch den Eingang eintretenden Betrachter zu verstärken.“15

Abb. 3: S. Andrea al Quirinale, Kuppel.

Zur Inszenierung des liturgischen Zentrums trägt fernerhin die Lichtregie in der unteren Raum­zone bei: Die Lichtfülle in den seitlichen Räumen nimmt zum Presbyterium hin ab. Besonders die Dunkelheit in den das Presbyterium rahmenden Räu­men tritt in Kontrast zu dessen Helligkeit und steigert die Lichthaltigkeit des Altarhauses. Ebenso hat die Entscheidung, keine Kapellen auf der Querachse des Raumes zu positionieren, eine wichtige Funktion für die Betonung des Altarhauses: Dasselbe auf der verkürzten Längsachse des Raumes bleibt der Zielpunkt des Blicks, von dem keine räumliche Ent­sprechung auf der Querachse ablenkt. Bernini unter­streicht auf diese Weise einerseits die nahtlose Bewe­gung des Ovals, denn Ka­pellen auf der Querachse wür­den den Bewegungsfluss an die­sen Stellen hem­men. Die dem Queroval besonders an den kurzen Querseiten implizite Dyna­mik wird andererseits durch die Raumdisposi­tion auf den einen Zielpunkt hin kanali­siert: auf das Altarhaus und auf die darüber zu sehende Figur des Heiligen Andreas. 15 Felix Ackermann, Die Altäre des Gian Lorenzo Bernini. Das barocke Altarensemble im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, Petersberg 2007, S. 144.

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Trotz aller Bewegung, die im Kirchenraum vorherrscht, muss betont werden, dass das Innere zugleich eine große Ruhe ausstrahlt: Diese ist zum einen Resultat der formalen Vereinheitlichung. Zum anderen ist sie maßgeblich durch die Form des Quero­vals bedingt, denn dessen breite Längsseiten – insbesondere die Hauptansichtsseite des Pres­byteriums – wölben sich ‚ge­mächlich‘ vor bzw. zu­rück. Im Gegensatz dazu impliziert die Form des Längso­vals durch dessen primäre Tiefenerstreckung eine stärkere Dynamik. Die niemals zuvor in einem größeren Kirchgebäude umgesetzte querovale Grundform trägt in S. Andrea al Quirinale überdies zu drei weiteren Eigenschaften des Inneren bei: Der in seiner Abmessung kleine Raum wirkt monu­mentaler, da die Längsseite des Ovals als zentrale Blickachse den Raum optisch aufspannt. Ferner bietet die zur zentralen Schauwand erkorene Längsseite wesentlich mehr Raum für die Szenerie des Presbyteriums, dessen größere Fläche zugleich das wuchtige Motiv der über Doppelsäulen emporragenden Ädikula ermöglicht, das als sol­ches seinerseits an der monumentalen Wirkung des Raums partizipiert. Die Form des Querovals bedingt darüber hinaus, dass der Besucher den Eindruck erlangt, der Raum wölbe sich von vorn auf ihn zu und hülle ihn ein. Abweichend ist die Raumwirkung in einer längsovalen Kirche: Hier ist die Tiefenerstreckung der primäre Eindruck und der sekundäre erst das Ein­schwingen des Raumendes beziehungsweise Raumbeginns hinter dem in die Kirche eintretenden Besucher. In S. Andrea al Quirinale entsteht durch den beschriebenen Charakter des Raums ein außergewöhnlich starkes körperliches Ein­gebunden­sein des Besuchers in denselben und in die Szenographie des sich in seiner Gegenwart vollziehenden überirdischen Geschehens: Die Unmittel­barkeit des Erle­bens wird in der kleinen Zentralbaukirche nicht nur geistig und visuell vollzogen, sondern mit dem gesamten Körper.

VI. Das blaue Glasmosaik an der Rückwand des Altarhauses, dessen Farbigkeit von unten nach oben lichter wird, steht in direktem Zusammenhang mit der Inszenierung des in diesen Raum einströmenden Himmels.16 In dem Altarbild, das der Rückwand des Presbyteriums vorgelagert ist, wird dem Besucher der Kirche mit der Person des Heiligen Andreas ein Exempel für die Festigkeit des Glaubens und dem daraus resultieren­den Lohn präsentiert (Abb.  4). In einer für die Kunst der Gegenreformation bezeichnenden Eindringlichkeit schildert das Altarbild den Prozess des Marty­riums. Im Zusammenspiel mit der Schilderung des Gemäldes schweben aus einer Öffnung in der Decke des Altarhauses stuckierte Putten und Engel in einer Fülle von Lichtstrahlen hinunter in den Raum in Richtung des Heiligen. Zugleich wird das Bild des Heiligen von zwei Engeln zu diesen emporgetragen. Im Scheitel der Laterne des Presbyteriums blickt Gottvater aus einem Fresko, umringt von Engeln und mit ausgebreiteten Armen Segen spendend, auf Andreas hinab. Berninis inventio bewirkt den Eindruck, das Wunder ereigne sich im Inneren des Presbyte­riums und demzufolge in einem Teil des realen Kirchenraums: In Folge dieser Inszenierung sitzt beispielsweise ein Putto auf einem Pilasterkapitell des Altarhauses. Der ent16 Ausführlich über die Hochaltargestaltung: ebd., S. 144ff.

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scheidende Unterschied zu skulptierten Putten und Engeln, die in der Zeit vor Bernini in Kirchenräumen zu sehen sind, ist, dass dieser kleine Himmelsbote die „gute Re­gel“ der Verbindung von Ar­chitektur und Skulptur bricht, denn er benutzt scheinbar die Architektur, indem er sich darauf niederlässt, was eine Erweiterung des ursprünglichen Verhältnisses der klar voneinander getrennten Gattungen darstellt. Ein weiteres Motiv ist das Überschneiden von Teilen der Architektur des Presbyteriums durch die Flügel und Gewän­der der beiden den Rahmen des Ge­mäldes fassenden Engel. An diesen kriti­schen Stellen wird der Realitätscharakter der realen Architektur auf­gehoben und mit dem himmlischen Geschehen verknüpft. Derart entsteht der Eindruck, das himmli­sche Geschehen er­eigne sich in der Rea­ lität des Kirchenraums.

Abb. 4: S. Andrea al Quirinale, das Innere des Altarhauses.

Das szenisch dargestellte Heilsgeschehen findet nicht nur in dem für den Laien zugänglichen Bereich des Presbyteriums statt. Es setzt sich ebenfalls über dessen Kopf in der Höhe fort. Die als menschliche Figur dargestellte Seele des Heiligen Andreas fährt auf einer Wolke lagernd in den Himmel auf und durchbricht dabei die Grenzen der Architektur (Abb. 5). Giovanni Careri bemerkt in seiner Studie über Berninis Kirche, dass die Figur des Andreas

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„das Ge­sims des Giebelfeldes sprengt und den Kontrast zwischen der tektonischen Struktur und den von der göttlichen Gnade ‚bewegten‘ Figuren, von dem das ganze architektonische Projekt der Kirche durch­drungen ist, deutlich werden lässt.“17 Der Gie­bel ist gesprengt und kontrastiert derart mit der auffah­renden Bewegung der Skulptur, soweit ist Careri zuzustimmen, aber der Giebel biegt sich auch zurück. Durch das Zu­rückbiegen des Seg­mentgiebels bildet die Architektur an dieser Stelle nicht nur einen Kon­trast zu dem überirdischen Geschehen, sondern wird gleichfalls zu einem Bestandteil des Ereignisses, in­dem sie dem Auffahrenden Platz macht. Der Giebel ist somit abermals ein Beispiel für die der gesamten Kirche zugrunde liegenden Idee des bel composto, der in der „schönen Mischung“ zugleich existenten Einheit und Vielheit der Komponenten.

Abb. 5: S. Andrea al Quirinale, Figur des Heiligen Andreas über dem Hochaltarhaus. 17 Giovanni Careri, „Der Künstler“, in: Der Mensch des Barock, hrsg. von Rosario Villari, Frankfurt u. New York 1997, S. 298. Siehe von demselben auch Voli d’amore, Architettura, pittura e scultura nel „bel composto“ di Bernini, Rom u. Bari 1991.

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Eine wesentliche Beteiligung an der Inszenierung des überirdischen Geschehens hat die Architektur des Innenraums überdies im Bereich der Kuppel: so im Zusammenschluss der Laterne, in deren Mitte die Taube des Heiligen Geistes schwebt, mit den Gewölbegurten. Diese Elemente der Kuppel werden durch eine graue Stuckeinfassung verbunden und von der restli­chen Kuppelschale geschieden. Weiterhin konterkariert Bernini die Festigkeit der Gurte sowohl durch die Festons als auch durch die Akanthuskelche, die die Fußpunkte der Postamente angreifen. All dies befördert den Anschein, das aus der Laterne fließende göttliche Licht ergieße sich über die Gurte, die sich zu Strahlen wandeln, hinunter in den Raum in Richtung der in den Himmel auffahrenden Seele des Heiligen An­dreas.18 In diesem Zusammenhang erzeugt das durch die Kuppelfenster einfallende gleißende Licht nicht nur die passende Lichtstimmung zum Vorgang des Übertritts der Seele des Heiligen, sondern verunklart darüber hinaus den Ansatz der Kuppel. Die in die Kuppel einschnei­ denden Fenster gehören strukturell sowohl zu dieser als auch zu der in den Zwi­schenräumen der Fenster ausgebildeten Attika. Bernini verunklart an dieser Stelle die Festigkeit der Kuppel, die durch den Ansatz der Attika gegeben scheint. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Kuppel sei partiell aus dem architektoni­schen Verbund gelöst. Auch dies ist ein erneutes Beispiel für den Umgang des Baumeisters mit den „guten Regeln“ der Architek­tur und deren Brechung. Das zu einer Schirmkuppel formierte Gewölbe unterstützt die Vorstellung, die Kuppel schwebe sacht über dem Hauptraum, denn die Form der Gewölbefelder erweckt zudem den An­schein, Wind hätte sich von unten unter diese gesetzt, wodurch die einzelnen Felder der Schirmkuppel wie leicht gebläht erscheinen. An dieser Stelle sei ein letztes Mal darauf verwiesen, dass es für die Konzeption Berninis signi­fikant ist, dass die Architektur der Kuppel nicht vollständig illusionistisch ist, sondern zugleich auch in ihrem architektonischen Sein betont wird: Dies leistet die kurze und fragmentierte Attika zwischen den Fen­stern, die zugleich bewirkt, dass der Ansatz der Kuppel an die darunter liegende Archi­tektur gebunden bleibt und folglich ein Gleichgewicht der Verhältnisse erzeugt.

VII. Aufgrund der bisher erfolgten Analyse kann fraglos geschlossen werden, dass in S. Andrea al Quirinale auf nachdrückliche Weise eine ästhetische und inhaltliche Totalität angestrebt und verwirklicht ist, die der Kirche durch ihre Form als Kunstwerk der göttlichen Gnade als Mittler dient und dem Gläubigen als Hilfe auf seinem Weg dorthin: Das Kunstwerk als Medium bewirkt, am Göttli­chen teilhaftig zu werden. Inbegriff einer jeden ästhetischen Totalität ist das Erfassenwollen des ganzen Menschen. Neben dem prozesshaften Illusionismus ist die Form des Raums selbst ein Mittel, jenes Ziel zu erreichen. Die den Besucher ungewöhnlich stark einbezie­hende Gestalt des Innenraums von S. Andrea al Quirinale ermöglicht es, dass dieser unmittelbarer als in anderen Kirchen mit dem sich im Raum vollziehenden sze­nischen Heilsgeschehen konfrontiert, nachgerade 18 Sowohl in Castel Gandolfo als auch in Arrica verfuhr Bernini auf andere Weise.

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in dieses eingehüllt wird. Die Folge davon ist, dass neben der Bedeutung, die dem visuel­ len Erleben zukommt, auch die Bewandtnis des gesamten Körpers als Träger der Er­fahrung betont und gesteigert wird: Das körperliche Erleb­nis, das der Raum ermöglicht, intensiviert die Anteilnahme des Gläubigen und bedingt eine nachdrückliche Gehobenheit seiner Seele. Der Körper als Träger von Stimmungen im Zusammenhang transzendenter Er­fahrungen spielt in den Schriften Igna­tius’ von Loyola eine wichtige Rolle. In dessen „Exerzitien“ heißt es in der „Meditation über die Hölle“: Ich schaue mit den Augen der Einbil­dungskraft die Feuergluten. Ich höre mit den Ohren das Weinen, Heulen und Schreien. Ich rieche mit dem Geruchsinn Rauch, Schwefel, Unrat und faule Dinge. Ich koste mit dem Geschmack bittere Dinge, wie Tränen, Traurigkeit und den Wurm des Gewissens. Ich fühle mit dem Tastsinn, wie Feuersgluten die Seele erfassen.19

Ein wesentliches Ziel, das Ignatius durch den Einsatz der fünf Sinne verfolgt, ist die Inten­ sität des inneren Erlebens bei der Verrichtung der Exerzitien zu stei­gern, um so die Seele und auch den Körper auf eine intensive Weise zu sti­mulieren und für die angestrebte Gottes­erfahrung zu öffnen. Ramón Gonzalez de Mendoza bemerkt in seiner Stimmung und Transzendenz betitelten Studie über die Bedeu­tung der Stimmungen in der Lehre des Ignatius: „Ignatius schrieb den höchsten mystischen Wert gewissen Stimmun­gen, Gefühlen und Affekten zu, mit deren Hilfe er den Wil­len Gottes in jedem Fall eindeutig zu erkennen glaubte.“20 Ignatius von Loyola beschreibt das Erfasst-Werden des gesamten Menschen – samt Körper – in eindrücklicher Form auch in seinem „Geistlichen Tagebuch“, wo er von einer Begegnung mit Gott berichtet: „Da fühlte ich in meinem Inneren, wie ich zum Vater hinzutrat oder zu ihm emporgehoben wurde und wie sich bei diesem Hinzutreten die Haare emporrichteten, und wie eine Erregung gleich einer überaus heftigen Glut den ganzen Körper durchdrang.“21 Neben den Schriften des Ignatius’ zeugen auch die mystischen Visionen der im Barock so überaus beliebten Heiligen Theresa von Ávila davon, dass nicht nur deren Geist, sondern ihr ganzer Körper durch die Präsenz Gottes ergriffen wird: „So heftig war der Schmerz, dass er mir Schreie ent­lockte. Und so süß ist mir dieses über­wältigende Weh, dass ich wünsche, es möge nie enden und Gott möge immer bei mir sein. Nicht der Person bewältigt sich das Leiden, sondern des Geistes, obschon der Leib nicht wenig daran teilhat.“22 Die zitierten Passagen aus den Schriften Theresas und Ignatius’ verdeutlichen, dass dem gesamten Körper in der Frömmigkeits­geschichte des Frühbarock und Barock eine nicht unwesentliche Be­deutung sowohl für das Einstimmen auf den Akt der Gotteserfah­rung als auch für diesen selbst zukommt. 19 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Freiburg u.a. 7 1985, S. 39. 20 Ramón González de Mendoza, Stimmung und Transzendenz. Die Antizipation der existenzanalytischen Stimmungsproblematik bei Ignatius von Loyola, Berlin 1970, S. 203. 21 Ignatius von Loyola, Das Geistliche Tagebuch, hrsg. von Adolf Haas und Peter Knauer, Freiburg u.a. 1961, S. 147. 22 Theresa von Ávila, Vida (1565), Kapitel 29. Deutsche Übersetzung nach Lavin, Bernini and the Unity of the Visual Arts (wie Anm. 10), S. 107.

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Versteht man eine Kirche als den Ort, der im höchsten Sinne für spirituelle Ereignisse empfänglich machen soll, dann ist es Gianlorenzo Bernini mit S. An­drea al Quirinale gelungen, ein Bauwerk zu schaffen, das durch seine Gestalt in starkem Maße auf den Körper seiner Besucher wirkt und derart dazu beiträgt, die Unmittelbarkeit des Erlebens zu steigern, indem der ergriffene Körper einen intensiveren Widerhall aller Erlebnisse im Inneren des gläubigen Besuchers bewirkt.

Die Metapher der Engelsstimmen: Beschreibungen von Frauen- und Kastratenstimmen 61

Die Metapher der Engelsstimmen: Beschreibungen von Frauenund Kastratenstimmen in Venedig und Rom vor dem kulturellen Hintergrund des späten Seicento Saskia Maria Woyke

Venezianische Ospedali: Zwei Beispiele Der Einsatz und die Wahrnehmung hoher Singstimmen im Italien des späten Seicento entbehren bis heute einer umfassenden Diskussion. Dabei sind gerade im Bereich glanzvoll zelebrierter Kirchenmusik, die Vertonungen von Psalmen einschließt, beeindruckende Zeugnisse, insbesondere erhaltene Stimmen, Partiturhandschriften und Beschreibungen der gesungenen Aufführungen, überliefert. Es handelt sich um Quellen, in denen die vergängliche Singstimme sowohl präformiert als auch nachträglich beschrieben wird und die mithin durchaus eine philologische Erfassung ermöglichen. Jedoch weichen die nicht-musikalischen Zeugnisse zu Singstimmen aus den 1720er Jahren und danach, überliefert teilweise in wissenschaftlich-enzyklopädischen Aufzeichnungen oder in bekannten Beschreibungen italienischer Singstimmen, bedeutend ab, Beispiele sind Reisende wie Johann Christoph Nemeitz, Musikhistoriker wie Charles Burney, Pädagogen wie Pier Francesco Tosi oder Londoner Opernbesucher.1 Anders als im Settecento ist im Seicento keine Analyse der angeborenen und erworbenen Stärken und Schwächen jeder Stimme, keine Beschreibung ihres Ambitus und ihrer Klangfarbe in unterschiedlichen Registern, ihrer Fähigkeiten zum Triller und der von ihr angebrachten willkürlichen Veränderungen zu erwarten. Dies bestätigen die diesbezüglich wohl ergiebigsten Quellen der zweiten Hälfte des Seicento, als die die meisten der 408 Artikel der von 1687 bis 1688 erschienenen Zeitschrift Pallade Veneta angesehen werden müssen. Sie beziehen sich in der Mehrheit auf Kirchen- und Opernmusik in Venedig.2 Zwei seien im Folgenden zitiert, da sie nicht zuletzt auch in ihrer Fokussierung auf die Wahrnehmung statt auf die Beschaffenheit der Singstimmen beispielhaft sind:3 Dicembre 1687, Vespro natalizio, Ospedaletto, Pastorale von Carlo Grossi: Fra l’altre cantanti faceva la parte di Maria Vergine la Signora Angela Vicentina, mostro fra i cantori di musica, la quale si adoperò così bene nel far conoscere alla gente concorsa i suoi alti talenti che s’era 1 Als Beispiele dafür, wie weit verklungene Stimmen anhand noch vorhandener Quellen in Teilen rekonstruiert werden können, siehe Eva Maria Korsmeier: Die Karriere eines Kastraten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 13), Eisenach 2000; und Saskia Maria Woyke, Faustina Bordoni. Biographie, Vokalprofil, Rezeption, Berlin 2010. 2 Sie wurden von Eleanor Selfridge-Field, Pallade Veneta: Writings on Music in Venetian Society: 1650 – 1750 (= Edizioni Fondazione Levi 3), Venedig 1985 publiziert. 3 Die Fokussierung auf die Wirkung der Singstimmen statt auf die Singstimmen selbst in (vorwiegend außervenezianischen) Zeugnissen des Seicento thematisierte bereits Gino Stefani, Angeli e Sirene (= Musica barocca 2), Mailand 1988.

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ciascheduno scordato di sé stesso, e perché potesse il senso dell’udito bearsi fra quelle voci di paradiso, teneva ognuno chiusa la bocca ai respiri. Cantava questa sirena celeste e seminava tanto giubilo in petto ai mortali che il cuore fra le delitie si scordava di ritirare i soliti tributi vitali dall’aria per suo nutrimento. Che maniere singolari! Che passaggi impassati di dolcezza, che repliche hor forte, hor piano, che echi di melodia di quella voce angelica fatti a sé stessa!4 Aprile 1688, riguardando i funerali del Doge M. A. Giustiniani, Ospedale dei Mendicanti: Si cantò da quelle dottissime signore fanciulle una messa così ben concertata di strumenti da arco e di voci che sembrava un coro d’innocenti angeletti scesi per pianger cantando dal paradiso. In fine di quella, con la celeste sua voce sempre grata, sempre cara, la Signora Tonina, e benché giovine d’anni maestra pero nell’arte, fece sentire con quelle sue galanti maniere et affettuose forme di proferir note un „De profundis“ portato dal più fondo di quel petto soave alle fauci, e da quelle consegnato all’aure volanti, ma con tenerezza tale, con franchezza così nobile, con languidezze così dolci che haveria spezzato i più gelati sassi del Caucaso, non che resoluto in ruggiandoso pianto i molli cuori de’circostanti.5

Diese beiden Zitate bilden den Ausgangspunkt für alle in diesem Text folgenden Überlegungen, die im Wesentlichen eine philologische Aufschlüsselung desselben intendieren.

Generelle Prämissen der Interpretation: Anmerkungen zum Weltbild des italienischen Barock Grundzüge, die nicht nur hier, sondern auch in anderen Artikeln der Pallade Veneta durchgehend präsent sind, sind die Gleichsetzung mit den Stimmen von Engeln und Anspie­ lungen auf die griechische Götterwelt, auf Apoll, die Musen des Parnass und Sirenen. Hinzu 4 „Dezember 1687, Vesper des Weihnachtstages, Ospedaletto, Requiemmesse von Partenio: […] Angela Vicentina, […] sang die Heilige Jungfrau […] auf eine Art, dass jeder sich selbst vergaß, und damit der Hörsinn in den Stimmen des Paradieses schwelgen konnte, verschloss ein jeder den Mund sogar vor allen Seufzern. Diese himmlische Sirene sang, und sie säte so viel Jubel in die Brust der Sterblichen, dass ihre Herzen in den Herrlichkeiten vergaßen, die vitalen Tribute der Luft zu ihrer Nahrung einzuholen. […] was für Widerklänge der Melodie in dieser Engelsstimme!“. Wiedergegeben nach: Selfridge-Field, Pallade Veneta (wie Anm. 2), Eintrag Nr. 64, S. 198. Hier und bei allen folgenden Zitaten wurden die deutschen Übersetzungen des italienischen Originaltextes von der Autorin dieses Aufsatzes vorgenommen. 5 „April 1688, anlässlich des Begräbnisses des Dogen M. A. Giustiniani, Ospedale dei Mendicanti: Jene instruiertesten jungen Mädchen sangen eine Messe, die so gut für Instrumente und Singstimmen komponiert war, dass es schien, dass ein Chor unschuldiger Engelchen herabgestiegen sei, um weinend vom Paradies zu singen. Unter diesen war […] Signora Tonina […] mit ihrer himmlischen Stimme […] und ihrer galanten und gefühlvollen Art, die Noten des De profundis hervorzubringen, indem diese von der tiefsten Tiefe ihrer Brust lieblich in den Schlund aufstiegen, um von diesem den fliegenden Lüften übergeben zu werden. Sie tat dies mit einer solchen Zärtlichkeit und noblen Unbeschwertheit, und mit so süßen Seufzern, dass sie die gefrorenen Steine des Kaukasus zerbrochen hätten, wodurch sich die weichen Herzen der Hörenden in tauiges Weinen auflösten.“ Wiedergegeben nach: Selfridge-Field, Pallade Veneta (wie Anm. 2), Eintrag Nr. 82; S. 217f. Eine Requiemmesse von Partenio befindet sich in I-Vnm Cod. It. IV-178 (10995) und in I-Vlevi. Selfridge-Field, Pallade Veneta (wie Anm. 2), Anmerkung zum Eintrag 4, S. 217.

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kommen die Erwähnung des Elements der Luft sowie eines eingeschränkten Kreises von Vogelarten, wobei die Nachtigall bevorzugt genannt wird. Doch verwundert die gleichzeitige Bezeichnung von Signora Vicentina als Monster und mit einer Paradiesstimme bedachte himmlische Sirene ebenso wie die Beschreibung, wonach Signora Tonina mit ihrer himmlischen Stimme vor einem Chor „wie von unschuldigen Englein“ mit „Zärtlichkeit und Schmachten“ singt. Doch das aus heutiger Sicht schwer verständliche Konglomerat erscheint nur so lange als widersprüchlich, als der Rezipient nicht mit dem allumfassenden barocken Weltbild vertraut ist. Denn das überlieferte Gedankengut der Antike und seine nachfolgenden Interpretationen, insbesondere der Schriften von Aristoteles und Platon, wurden als prophetische Grundlage zur Entschlüsselung des Welttheaters herangezogen, diskutiert, mit der Heiligen Schrift und deren Auslegungen etwa durch die Kirchenväter in Beziehung gesetzt und erweitert. So betonten Marsilio Ficino 1544 und Dardo Bembo 1601 in ihren Übersetzungen und Kommentaren des Platonischen „Convitto“ die prophetische Funktion des Textes für das Christentum. Überhaupt kam kaum ein Traktat des Cinque- und Seicento, sei er vorwiegend philosophisch, theologisch, rhetorisch oder medizinisch ausgerichtet, ohne zeilengenaue Angaben seiner stets in großer Zahl in die Diskussion einbezogenen literarischen Vorlagen aus. Gewöhnlich enthält eine Traktatseite des Seicento zwischen zwei und zehn solcher literarischer Verweise, die üblicherweise am Rand des Haupttextes platziert wurden. Ein Hinweis auf eine solche Verbundenheit speziell mit der Antike ist das bekannte Porträt des Kastraten und päpstlichen Sängers Marc’Antonio Pasqualini von Andrea Sacchi, wo Apoll dem Sänger einen Lorbeerkranz aufsetzt.6 Aufgrund der Häufigkeit solcher Ikongraphie und solcher Beschreibungen von in kirchlichen Diensten stehenden Kastraten spricht Gino Stefani vom „Apollo cristiano“, dem „christlichen Apoll“.7 Ebenso stimmig – und damit ist das unmittelbare Umfeld der beschriebenen Stimmaufführungen berührt – ist die Darstellung des Musikmeisters Pasquale Anfossi mit Apoll im Musiksaal des Ospedaletto von Jacopo Guarana und Agostino Mengozzi-Colonna (dies noch im späten Settecento). Für das Bild des Monsters sind, ebenso wie für das der Sirene, nicht nur negative, sondern im übertragenen Sinn auch positive Deutungen nachweisbar. So könnte es sich beim Monster um eine Referenz an Petrarca, bei der Sirene um eine Referenz an Tasso, in jedem Fall aber um ein Zeichen für die literarische Bildung des Autors und um den Einsatz des bereits erprobten rhetorischen Stilmittels der Ironie handeln. Denn der für das Cinquecento zentrale Gelehrte und Canonico regolare Tomaso Garzoni da Bagnacavallo, dessen Werke im Seicento neu aufgelegt wurden, bemerkte: „Anco la mostruosità si ritrova nelle bellezze, dicendo il Petrarca della sua Madonna Laura: O dalle donne altero, e raro mostro. Ma questa significazione non dice diffetto, nè imperfettione, ò horrore [...].“8 6 Terence Ford, „Andrea Sacchi’s ,Apollo crowning the Singer Marc Antonio Pasqualini‘“, in: Early Music 12, 1984, Issue 1, S. 79 – 84. Das Bild befindet sich seit 1984 im Metropolitan Museum of Art in New York. 7 Stefani, Angeli e Sirene (wie Anm. 3), S. 104. 8 „Auch die Monstrosität findet man in der Schönheit, denn Petrarca formuliert in Bezug auf seine angebetete Frau Laura: ‚Oh hohes und erhabenes Monster der Frauen.‘ Aber diese Bezeichnung bezieht sich auf keinen Fehler, auf keine mangelnde Vollkommenheit, auf kein Entsetzen.“

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Tasso widmet eines seiner moralischen Gedichte „alla bella, e divota cantatrice“, also der „schönen und gottesfürchtigen Sängerin“, die mit ihrer weisen und schönen himmlischen Seele („saggia, e bella alma celeste“), mit ihrer Sirenenstimme („voce di Sirena“) die Gedanken der Menschen aus Faulheit und Niedertracht erhebt.9 Die Häufigkeit der Bezeichnung von singenden Nonnen als „Sirenen“ in zeitgenössischen Beschreibungen führte im Übrigen Gino Stefani dazu, eines der Kapitel seiner Musica barocca mit „Sirene nel Chiostro“, also „Sirenen im Kreuzgang“, zu benennen.

Autor(en) und Adressat(en) Eine unverständliche Formulierung seitens der Autoren der Pallade veneta, mithin entweder des Zensors der venezianischen Inquisition, Francesco Coli, selbst,10 oder ihm nahestehender Personen, wäre zudem wenig wahrscheinlich gewesen. Dies gilt um so mehr, als es sich um Texte handelt, die nicht nur der Selbstwahrnehmung Venedigs, sondern, ähnlich den „avvisi“, auch seiner Fremdwahrnehmung dienen sollten und zur Diskussion in fremden Staaten gedacht waren. So wird etwa in einem in Venedig gedruckten Erziehungsratgeber für Prinzen 1688, ein Jahr nach den hier abgedruckten Zitaten der Pallade veneta, ausdrücklich angeregt, mit dem Schüler Nachrichten aus fremden Staaten zu besprechen (auch wenn hier Meldungen zur Politik einen quantitativ größeren Platz eingenommen haben dürften): Consigliarei, che si havessero regolatamente gli avvisi de’ successi, che passano nell’Europa, e che il giovane gli leggesse, e parlasse delle materie che corrono, formando liberamente il giudizio sopra d’esse, […] anzi aggiungerei un’altra pratica piacevole, ò almeno non molto difficile, cioè discorrere sopra i correnti successi […].11

Tomaso Garzoni da Bagnacavallo: Il serraglio de gli stupori del mondo […], Venedig 1617, Appartamento mostruoso, S. 29. 9 Delle Rime del Signor Torquato Tasso Parte Sesta. Morali, Venedig 1620, Parte VI, S. 9. 10 Selfridge-Field, Pallade Veneta (wie Anm. 2), S. 7. Selfridge-Field betont, es gebe keine Stelle der Pallade veneta, die den Interessen der Inquisition entgegengesetzt sei. 11 „Ich würde raten, dass man sich regelmäßig die Auskünfte (avvisi) der Begebenheiten, die in Europa geschehen, besorgt, und dass der Jüngling sie lese und von ihrem Inhalt spreche, indem er sich frei ein Urteil darüber bilde […] und ich füge eine andere praktische, angenehme Übung hinzu, die zumindest nicht sehr schwierig ist, und zwar sollte über die aktuellen Vorfälle diskutiert werden.“ Conte Alberto Caprara Gentilhuomo, Insegnamenti del vivere. […] Overo istruttione per un aio destinato ad assistere a viaggi de prencipi giovani, Venedig 1688, S. 113f.

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Die Problematik der Engelsstimmen aus theoretisch-theologischer Position Im Folgenden wird ausschließlich auf das Argument der in beiden Beschreibungen erwähnten Gleichsetzung mit Engelsstimmen als zentralem Topos der Wahrnehmung von Singstimmen in der Kirchenmusik des Seicento eingegangen. Denn Gino Stefani wies ähnliche Zeugnisse für von Kastraten gesungene römische Kirchenmusik nach.12 Doch wie ist die Anspielung auf die Engel ausgehend von den theologischen, philosophischen und rhetorischen Kontexten der Zeit zu verstehen? Die Frage stellt sich um so mehr, als traditionelle Vorstellungen von der Musik der Engel und der Musik der Sphären, die weit mehr symbolisch als praktisch intendiert gewesen waren, beginnend mit Johannes Tinctoris bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, insbesondere aber in der Reformation und Gegenreformation, als allein gültiges Konzept an Bedeutung verloren hatten.13 Deshalb wird im Folgenden dezidiert ein neuer Zugang zur „Musik der Engel“ versucht, der für das Seicento besonders geeignet erscheint und von der Frage ihrer Stimmen selbst ausgeht. Zuvor sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Singstimmen signifikanterweise selten, wie im ersten Beispiel, vergleichend direkt als Engelsstimmen bezeichnet werden. Stattdessen erfolgte, wie im zweiten Beispiel, meistens wegen der sprachlichen Struktur oder aber mittels bewusster Formulierung ein Hinweis darauf, daß es sich um eine Metapher handelt. Untersucht man zwischen 1600 und 1750 gedruckte und häufig wieder aufgelegte Traktate venezianischer und römischer Provenienz, die über den entsprechenden kultu­ rellen Hintergrund der Wahrnehmung von Engelsstimmen informieren könnten, so ist die Gleichsetzung von Sängerinnen und Sängern mit Engeln aus Sicht der theoretischtheologischen wie der philosophischen Überlieferung zunächst problematisch. Denn diese wurden, von einzelnen Gegenmeinungen wie etwa der Marsilio Ficinos abgesehen, als unsterbliche „divine menti“, also „göttlicher Verstand“, aufgefasst.14 So formuliert Tommaso Buoni, Luccheser und römischer Akademiker, der stellvertretend für viele andere angeführt werden soll, in seinen Grandezze del microcosmo, gedruckt in Venedig 1609, bezüglich der Engel: „[…] non dipendono da alcuno organo corporeo, […] non […] possiedono affetti, che le perturbino; queste sono rationali […]“, also „[Die Engel] […] hängen von keinem Körper ab […] (sie sind unsterblich) [….], sie haben keine Leidenschaften, die sie aufwühlen, sie sind rational.“15 Wichtig sind in diesem Zusammenhang 12 Gino Stefani, „Tra angeli e sirene/Evirati“, in: Angeli e Sirene (wie Anm. 3), S. 103 – 105. 13 Alberto Frigo, „Coeli ennarrant Gloriam Dei. Il destino dell’ ‚armonia delle sfere‘ e la teologia moderna“ in: De Musica XIV, Nuove pagine 3, 2008, S. 1 – 14, (01.09.2010); grundlegend für das Thema ist ferner: Reinhold Hammerstein, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, München 1962. 14 Ficino wurde seinerseits hierfür kritisiert: „Contiene il più errore Ficino in quello, che gli Angeli siano mortali & corrottibili, perche se l’anima nostra non è tale, perche è immateriale secondo Aristotile […]“, in: Garzoni da Bagnacavallo, Il serraglio de gli stupori del mondo […] (wie Anm. 9), S. 104. 15 Tommaso Buoni, Discorsi accademici delle grandezze del microcosmo. Parte seconda de’ mondi, Venedig 1605, S. 54f.

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der fehlende Körper, fehlende Sinne und fehlende Begierde, mithin fehlender „appetito sensitivo“, woraus sich die Unsterblichkeit und Sündenlosigkeit der Engel, ihre „incorruttibilità“, erklärt. Das in den Engeln verankerte Prinzip der Rationalität ergibt sich aus ihrer Vollkommenheit, der „perfezione“. Als Gott nahestehende Wesen musste nach damaliger Vorstellung ihr Grad der Perfektion sehr hoch sein. Perfektion aber war ausschließlich über die vom Körper losgelöste unsterbliche Seele, die Rationalität, erreichbar. Eine solche Rationalität war mit einem der Korruption und dem Laster zugeneigten Körper undenkbar. (Tatsächlich ist die Grundfrage der Betrachtung jedes Untersuchungsgegenstandes des späten Cinque- und des Seicento der Grad seiner Perfektion, da diese über seine Nähe zu Gott als Anhaltspunkt für seine Stellung in der Hierarchie der Welt informierte.) Dies wird vom Paduaner Doktor der Theologie, dem weltlichen Priester und Juristen Bartolommeo Giustina, in seiner Studie über Thomas von Acquins „mente angelica“, die die Gültigkeit des vom Körper abgelösten Prinzips der Rationalität unterstreicht, noch 1728 wiederholt. Für unseren Anlass ist es wichtig, dass diese Rationalität Lautäußerungen der Engel verbietet: Come gli Angeli parlano tra di loro. Il parlare degl’Angeli tra di loro consiste, in manifestare un’angelo all’altro il concetto della sua mente. […] Solo dunque metaforicamente si dice, che gl’Angeli abbiano lingue, quando, propriamente parlando, che non hà corpo, non può aver lingua.16

Das gleiche Prinzip liegt nach Giustina der Kommunikation der Engel mit den Menschen zugrunde. Die scheinbare Lautäußerung der Engel ist dieser Auffassung nach sinnlich in­ existent. Dies scheint in Bezug auf das Zitat der Wahrnehmung der Singstimmen der Sängerinnen der Ospedali laut Pallade veneta und der der Kastraten in römischen Kirchen als Engel wenig kongruent: Denn der Gesang der mit Engeln verglichenen Mädchen und Kastraten spricht nicht primär den Verstand an, sondern die Sinne, die „anima sensitiva“. Die Verbindung von Mensch und Engel und zuletzt auch von Mensch und Gott soll nach theologischer Auffassung nicht durch die Sinne, nicht durch die „anima sensitiva“, sondern durch die „anima ragionevole“, also durch die Fähigkeit des abstrakten und logischen Denkens geschehen. Diese Position ist philosophisch und theoretisch-theologisch und offensichtlich auf die Sängerinnen und Sänger von Kirchenmusik nicht anwendbar.

16 „Wie die Engel untereinander sprechen. Das Sprechen der Engel untereinander besteht darin, [sagt Thomas,] dass ein Engel dem anderen seine Idee in dessen Verstand übermittelt. […] Man sagt also nur metaphorisch, dass die Engel sprechen, denn wer keinen Körper hat, kann auch keine Zunge haben.“ Bartolommeo Giustina, Sacri trattenimenti sopra de’ principali trattati teologici secondo la mente angelica […], Padua 1728, S. 15, S. 38.

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Lösungsmodelle: Mittlerfunktion, zunehmende Akzeptanz der Affekte, des Vokalen, spezifische Natur der Ausführenden – praktische Notwendigkeit der Gegenreformation Das Problem ist jedoch lösbar, indem darauf verwiesen wird, dass für die Kirche der Gegenreformation17 ein allein intellektualistischer Zugang zur Religion angesichts einer breiten Masse an vergleichsweise ungebildeter Bevölkerung nicht durchsetzbar war. Denn sobald Momente des alltäglichen religiösen Lebens in den Blick genommen werden, stellt sich die Situation anders dar. Hier zeigte sich, um (etwas pathetisch) mit Massimo Petrocchi zu sprechen, „eine Aufrichtigkeit des Gefühls und unbedingte Adhäsion an die christliche Transzendenz“.18 In der Tat ermöglicht bereits ein nur partielles Studium einer größeren Anzahl von zwischen 1600 und 1750 im Veneto gedruckten Traktaten philosophischer, theologischer und rhetorischer Natur sowie der Kompendien zum alltäglichen Verhalten verschiedener Stände des Sei- und frühen Settecento die Isolierung von vier Gründen bzw. Tendenzen, die die Gleichsetzung der Stimmen der Sängerinnen und Kastraten in der Kirchenmusik mit jenen von Engeln rechtfertigen können und die die Aussage Petrocchis bestätigen. Das erste Argument ist die schon in ihrer Etymologie verankerte Mittlerfunktion, die Engeln nach damaliger Vorstellung als Schnittstellen zwischen Mensch und Princeps maximus zugeschrieben wurde. Der noch im Erscheinen begriffene Analytische Index der auch zwischen 1600 und 1750 intensiv rezipierten Schriften des Heiligen Augustinus zeigt schon in seinen ersten Bänden, dass von bislang rund dreihundert Textstellen zu Engeln min­ destens zweihundert diese Funktion betreffen. Nicht nur in der Bibel, sondern auch in den Heiligenviten sind es Engel, die die Seelen in das Paradies führen. So heißt es in den vom Venezianer Giovanni Mario Verdizotti, bezeichnenderweise Maler und Freund Tizians, also eines ebenfalls auf eine direkte Wirkung bedachten bildenden Künstlers, zusammengestellten Vite de’ Santi Padri, gedruckt in Venedig 1601, in der Schilderung des Sterbens des Heiligen Furfeo: […] parevali vedere […] Angeli in forma humana, e quei tre Angeli sì per lo grande splendore, e sì per la gran melodia, che essi facevano, gli davano mirabile dolcezza, e cantavano, cominciando l’uno quel verso del Salmo. Ibunt sancti de virtute in virtute, videbitur Deus deorum in Sion.19 17 Statt des Terminus der „Gegenreformation“ („controriforma“) hätte auch „katholische Reform“ („riforma cattolica“) gewählt werden können, wobei der erste auf das Reagieren auf den Norden, der zweite auf die Tätigkeit allein der katholischen Kirche rekurriert. Siehe Giovanni Perini, Arte in Europa, 1550 – 1650. L’età dei conflitti religiosi, Turin 2007, S. 178, Anm. 1. 18 „una adesione incondizionata alla transcendenza cristiana“, in: Massimo Petrocchi, La controriforma in Italia. Rom 1947, S. 115. Die Stellung der Kirche als entscheidende soziale, kulturelle und geistliche Institution im Italien des Seicento hob der Historiker Peter Hersche als Grundthese seiner Publikation hervor: ders., Italien im Barockzeitalter 1600 – 1750. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, Wien u.a. 1999. 19 „[…] ihm schien es, als sehe er […] drei Engel in menschlicher Form, und […] aufgrund des großen Glanzes, und der außerordentlichen Melodie, die sie erzeugten, gaben [diese] ihm eine wunderbare Süßigkeit, und sie sangen, indem der eine mit dem Vers des Psalmes begann: Ibunt sancti de virtute in virtute, videbitur Deus deorum in Sion.“ Giovanni Mario Verdizotti, Le vite de’ santi padri insieme col prato spirituale […], Venedig 1601, S. 189r. und v.

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Ein anderes Beispiel sind die Texte des Bartolomeo da Salutio, Frate minore, also Franziskaner und wenig kontemplativ, sondern mehr der Predigt und damit den Gläubigen zugeneigt, dessen La luce dell’anima 1622 in Padua gedruckt wurde. Das Werk erhielt, und dies ist bezeichnend für seine Akzeptanz seitens der Kirche, eine zustimmende Besprechung durch Papst Paulus V. in Form einer Einleitung. Es geht hier um einen Dialog der Seele, „Anima“, mit dem Engel, „Angelo“, und jener ist es, der sie in bildhaften Schritten das Himmlische Jerusalem sehen lässt, die Seele also zu Gott führt. Der zweite Grund, der die Gleichsetzung mit Engelsstimmen ermöglichte, ist die im Seicento zunehmende Akzeptanz des Einsatzes der Affekte, die freilich im Seicento stets noch mit einer konkreten Anbindung an bildhafte Vorstellungen verbunden sein mussten: Bei Salutio wird die Heilige Stadt durch die Versenkung der Seele in das Gebet über verschiedene Zustände geistiger und körperlicher Ekstase hinweg erreicht. Dabei partizipieren nicht nur der Engel und die Seele, sondern zeitweise auch die Körper (!) am Dialog. Der Höhepunkt und das Ziel ist die Vereinigung mit dem „geliebten Bräutigam“, dem „amato sposo“. Um zu verdeutlichen, welche Schlüsselrolle die Versenkung und Reaktion des Gläubigen spielt, die nach unseren Zitaten der Pallade veneta offensichtliche Parallelen zur Reaktion der Zuhörer auf den Gesang innerhalb der venezianischen Ospedali aufweist, sei eine Passage beispielhaft angeführt: L’Anima dice all’Angelo […]: Sappi, che io ragionavo con Dio Signor nostro, e ragionando con lui, laudandolo, & essaltandolo, e pregandolo, che mi desse la santa sapienza, m’ho sentito una gran commozione nel cuore […] che mi sento ardere, & bruciar il cuore tanto lo sento acceso, & infiammato, mi piena da capo, a piedi, e vi nuoto dentro infino alla gola. Circa le sensualità poi Custode mio, che stando in unità del corpo mio […].20

Es handelt sich dabei um einen Traktat, der dem zu dieser Zeit von der katholischen Kirche ausdrücklich gebilligten italienischen Mystizismus nahesteht, welcher, um mit Carlo Ossola zu sprechen, einen weiteren „Weg der Theologie“ darstellte und „Ekstase“ und „Ver­zückung“ („rapimenti“) förderte.21 Als prominentestes Beispiel für die Auswirkungen dieser Strömung gilt zweifellos Giovanni Lorenzo Berninis Statue der Heiligen Theresa von 1647 in Santa Maria della Vittoria in Rom. 20 „Die Seele (Anima) zum Engel (Angelo): Wisse, dass ich, während ich mit Gott, unserem Herrn, kommunizierte (ragionando), ihn lobte, ihn erhöhte, ihn anflehte, dass er mir die Heilige Weisheit gebe, ich eine große Bewegung (commuzione) im Herzen fühlte, [….] dass ich mich brennen, und mein Herz verbrennen fühlte, so sehr fühlte ich es entzündet, und entflammt, und dieser Brand erfüllte mich vom Kopf bis zu den Füßen, und ich schwamm darin bis zur Kehle. Was das Fühlen betrifft, mein Schutzengel, so war ich in Einheit mit meinem Körper [….].“ Bartolomeo da Salutio, Paradiso de’ contemplativi […], Venedig 1624, S. 7f. 21 „La mistica non è un territorio o un genere, ma un orizzonte creato da una molteplicità di punti di vista: è un’esperienza che ,inonda‘ il corpo che la patisce; è una memoria di testimoni, di confessori, di biografi, di quella ,manifestazione’ divina; è una via della teologia, breve, compendiaria, fatta di aspirazioni, afasie, orazioni giaculatorie, che ,annulla‘ sé ma anche ogni distanza dal divino, che non ha gradi o misura: la mistica si definisce come ,adhesio, copulatio, coniunctio‘“, in: Carlo Ossola, „Introduzione“, in: Mistici italiani dell’età moderna, hrsg. von Giacomo Jori, Turin 2007.

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Ähnliche Akzeptanz bestimmter Affekte zeigt das weltliche Streitgespräch Delle perturbationi dell’animo, Venedig 1609, des Historikers und Bettelmönches Alessandro Campiglia. Hier wird postuliert, dass sogar Engel, obwohl körper- und demnach sinnenlos, Affekten unterworfen sein könnten: Montanari.: E come ne gli Angeli può stare la perturbazione? Ponte.: San Tomaso ve lo dice nella Somma della sua Teologia, il quale […] volle […] che gli Angeli fossero tratti dall’impeto de gli appetiti loro […] Priuli: Si può dire con Platone, che le cose di questo mondo siano ombre, e sembianze imperfette delle cose celesti, e che siano imagini tratte dagl’esenplari delle loro idee, e che gli affetti, e le passioni si ritrovino in Dio, ma in altra guisa, & in guisa celeste appunto, la quale, perche non sappiamo in che altro modo descrivere, siamo soliti spiegarle in quella maniera che si ritrovano in noi.22

Entsprechend plädiert Priuli, im Gegensatz zu den Empfehlungen der Mehrheit der Rhetoriker des alten Rom, dafür, dass der Redner weniger seine Vernunft und mehr seinen Affekt übermitteln solle. Dabei ist als Ziel der Musik an den Ospedali die Überzeugung, die „persuasio“ der Zuhörer zu bedenken in Bezug auf den dargebrachten Text. Deshalb durfte sie entsprechend affektvoll sein. Die letzten beiden Gründe, die eine Gleichsetzung der Singstimmen mit Engelsstimmen ermöglichten, sind die immer größere Akzeptanz des Vokalen im Zusammenhang mit der spezifischen Natur der Ausführenden. Adriana Cavarero betonte die Furcht vor den rationalen Anteilen der Stimme seit Platon und dem daraus folgenden Logozen­trismus, nämlich das Primat der Schrift ohne vokale Anteile in der abendländischen Kultur.23 Diese Beobachtung bestätigt sich in der Situation des Sei- und frühen Settecento, wo, wie eingehend beschrieben, näher gehende Schilderungen oder gar Diskurse, die Sprech- oder gar Singstimmen betreffen, kaum vorkommen. Hiervon legen das Vorbild des Schweigens der Eremiten und die Forderungen der Rhetoriker an ihre Schüler, nur das Notwendige zu formulieren, ebenso Zeugnis ab wie Anweisungen zum devoten Leben: Mund und Ohren galten als Pforten zur Welt und Quelle der Sünde. Die Zunge, insbesondere die weibliche, galt es zu beherrschen und sie sollte ausschließlich dem Gebet dienen, und die Ohren sind vor den Lastern der Welt zu verschließen. Nonnen wird vom Kardinal und Veroneser Bischof Agostino Valiero sogar davon abgeraten, mit Verwandten zu reden oder diese anzuhören.24 Wenn aber bereits die Sprechstimme ein Misstrauensvotum erhielt, war der Abgrund, der sich zwischen 22 Alessandro Campiglia, La Rotonda […], Venedig 1609, S. 25f. 23 „Montanari: Und wie sieht die innere Bewegung (perturbatione) der Engel aus? Ponte: Der Heilige Thomas sagt in […] seiner Theologie, dass […] die Engel von der Gewalt ihrer Begierden fortgezogen werden […] Priuli: Man kann nach Platon sagen, dass die Dinge dieser Welt Schatten und unperfekte Ähnlichkeiten der himmlischen Dinge sind, und dass sie Bilder sind, die aus […] deren Ideen genommen werden, und die Leidenschaften [affetti e passioni] finden sich in Gott wieder, aber auf andere Art, eben auf die himmlische Art, die wir, weil wir sie nicht anders zu beschreiben wissen, als so, wie wir sie in uns selbst wiederfinden.“ Adriana Cavarero, A più voci. Filosofia dell’espressione vocale, Mailand 2003. Roberto Mancini, I guardiani della voce: Lo statuto della parola e del silenzio nell’occidente medioevale e moderno, Rom 2002. 24 Agostino Valiero, „Che la monaca deve fuggire i parlatorj”, in: Modo di vivere proposto alle vergini che si chiamano dimesse, ovvero che vivono nelle lor case con voto, o proposito, di perpetuo castità […], Padua 1744, S. 32ff.

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strengtheologischer, nicht mystischer Doktrin und menschlichem Gesang auftun konnte, mehr als tief. Hier zeigt das religiöse Leben eine langsam zunehmende, wenngleich noch fast verborgene Akzeptanz des Stimmlichen. Beispiel dafür ist die Beschreibung der Stimme Marias: Während in strenger Überlieferung betont wird, dass die Heilige Jungfrau nur in sieben Stellen der Heiligen Schrift redend auftritt, bezieht eine 1684, also drei bzw. vier Jahre vor unseren Zeugnissen über die Stimmen der Ospedali, von Giacinto Maria Anti, bezeichnenderweise einem Dominikaner, in Vicenza publizierte Marienbiographie in der Beschreibung des Kleinkindes Maria auch die vokalen Anteile der Stimme Marias mit ein: Favellando speditamente senza incespicare la Pargoletta, ed alla prontezza disinvoltissima della lingua accoppiando una dilicata sonorità di voce, un senso profondissimo di concetti […] non profferiva parola, che non l’articolassero molti stupori. Encomi della sua voce, e discorso. L’enfasi spiritosa, con cui dava anima à suoi ragionamenti l’anima toglieva a circostanti uditori. Non cedeva à vanti dell’usignuolo la dolcissima melodia di què labbri canori […]25

Die Wirkung der Lautäußerung auf die Zuhörer entspricht hier exakt der der Stimme Angela Vicentinas, die am Ospedale den Part der Heiligen Jungfrau sang und den verzückten Zuhörern angeblich den Atem nahm – und vermutlich auch der Wirkung, die anderswo Kastraten in eben dieser Rolle, so noch 1728 in Forlì, hervorrufen sollten.26 Und selbst Traktate von Doktoren der Theologie zu Beginn des Jahrhunderts, wie etwa Vittorellis Dei ministerii ed operazioni angeliche, Vicenza 1611, gehen dezidiert über die rein rationale Auffassung der Sprache der Engel hinaus: Favellano (gli angeli) con gli uomini in due maniere. In corpi formati di aria, con suono sensibile; e senza corpi e suono; mentre ne’ sensi interiori della immaginazione imprimono le imagini e simolacri delle cose; con mezo de’ quali, l’intelletto umano (che, con l’aiuto de’ sensi, intende, mentre dura la vita del corpo) apprende quanto essi palesano.27

Nicht nur der nicht-hörbare, sondern auch der hörbare Ton dienten also dazu, über die Sinne, mithin über den Mikrokosmos Mensch, „Bilder und Ähnlichkeiten“ der Sachen 25 „Das kleine Mädchen redete sofort ohne zu stocken, und gesellte der leichtesten Unmittelbarkeit der Zunge ein delikates Klingen der Stimme hinzu, bei einem allertiefsten Sinn der Worte, und der Konzepte. […] Die geistvolle Emphase, mit der sie ihren Überlegungen Seele gab, nahm den umstehenden Zuhörern den Atem. Die allersüßeste Melodie dieser singenden Lippen blieb keinesfalls hinter der der Nachtigall zurück […].“ Giacinto Maria Anti, Vita di Maria sempre vergine […], Vicenza 1684, S. 132. 26 So beispielsweise Antonio Pasi di Bologna, in La conversione a Dio, einem Oratorium zu vier Stimmen, mit Text von San Pellegrino Lazionsi und Musik von Luca Antonio Predieri, aufgeführt im „Publico Palazzo“ von Forlì. Claudio Sartori, I libretti italiani a stampa, Mailand 1992, Bd. II, S. 219, Nr. 6533. 27 „[Die Engel] reden mit den Menschen auf zwei Arten: In Körpern, die aus Luft bestehen, und mit hörbarem Ton („suono sensibile“); und ohne Körper und Laut; sie meißeln in die innern Sinne der Einbildung die Bilder und Ähnlichkeiten der Sachen ein, mit deren Hilfe der menschliche Intellekt (der mit Hilfe der Sinne versteht, während das Leben des Körpers andauert) aufnimmt, was sie sagen.“ A. Vittorelli: Dei ministerii ed operazioni angeliche libri sei, Vicenza 1611, zitiert nach: Carlo Ossola, Gli angeli custodi. Storia e figure del’amico vero, Turin 2004, S. 59 – 162, S. 68.

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des Himmels zu vermitteln. Die Himmel Gottes, die „obere unsichtbare Welt“, sind vom Himmelszelt der Erde, mit dem sie nichts gemeinsam haben, streng getrennt. Da die weltlichen Himmel für die Himmel Gottes stehen, können die vergleichsweise hohen Stimmen der Mädchen und Kastraten als Metapher (abstracto pro abstracto) für die Engelsstimmen stehen. Von der Bedeutung des metaphorischen Denkens des Seicento auf verschiedenen Ebenen zeugt etwa das epochale Werk des am Turiner Hof angestellten Emanuele Tesauro.28 Entsprechend ist auch die Übergabe der Töne durch Signora Tonina an die Luft, die „aria“, bedeutungsvoll, das nach damaliger Vorstellung abgesehen vom Feuer nobelste, weil dem Himmel nächste Element. Die Münder der Hörer werden „sogar vor Seufzern verschlossen“, um die „Stimmen des Paradieses“ durch keine körperliche, der Erde angehörende Laut­äußerung zu unterbrechen. Signora Tonina singt hier traurige Texte, was gut mit ihrer weiblichen Natur im Einklang steht, die über eine entsprechend den medizinischen Vorstellungen der Zeit kältere Körpertemperatur als ein Mann verfügt und sie demnach für Melancholie präde­ stiniert. Überdies lenkte die Beschreibung als Engelsstimmen nicht zuletzt von der Menschlichkeit der Ausführenden ab. Gleichzeitig war diese nach damaliger Vorstellung weniger ausgeprägt als bei anderen erwachsenen Menschen: Denn die Sängerinnen der Ospedali waren keine Frauen, keine „mulier“ oder „donne“, die nach Paulus in der Kirche zu schweigen hatten. Sie waren „vergini“ und Nonnen auf Zeit. Ausnahmslos alle diesbezüglichen venezianischen Traktate des Seicento betonen den immensen Abstand zwischen „donne“ oder „mulier“, also Frauen und Ehefrauen, und „vergini“, also Jungfrauen. Als ein Dokument darf das als Vorbild für Predigten gedachte Buch Le grandezze di Maria, Venedig 1672, also nur fünfzehn bzw. sechzehn Jahre vor den zitierten Stimmbeschreibungen der Ospedali, angeführt werden. Der Autor, Giovanni Francesco Priuli, gehörte dem Somaskerorden an, der von jeher Waisen, insbesondere die des Ospedale degli Incurabili, unterstützt hatte. San Pietro Chrisologo. In carne pater carnem vivere non terrena habitatio est, sed caelestis, e Sant’Ambrogio afferma che la Verginità sopravanza la conditione dell’humana natura, perche per mezzo di essa li huomini sono rassomigliati a gli Angeli. […] Ecco dunque come la virginità divide il mondo, e ne fa vedere una parte Celeste Angelica […].29

Ähnliches gilt auch für die „virginità“ der Kastraten in Römischen Kirchen, wobei hier zusätzlich die zahlreichen Beschreibungen der Engel als maskulin und jung, etwa bei Vittorelli 1611 eine wesentliche Rolle spielen – bei sehr viel schärferer Verurteilung der Frauen und

28 Emanuele Tesauro, Il canocchiale aristotelico. O sia idea dell’arguta et ingeniosa elocutione che serve a tutta l’arte oratoria, lapidaria, et simbolica esaminata co‘ principij del divino Aristotele. […], Turin 1670, Repr. Turin 2000. 29 „San Pietro Chrisologo sagt, In carne pater carnem vivere non terrena habitatio est, se caelestis, […] und Sant’Ambrogio bestätigt, dass die Jungfräulichkeit den Zustand (condizione) der menschlichen Natur überwindet (sopravanza), weil durch sie die Menschen den Engeln ähneln. […] Deshalb teilt die Jungfräulichkeit die Welt, und lässt uns einen Teil des Himmels der Engel [Celeste Angelica] sehen.“ Giovanni Francesco Priuli, Delle grandezze della B. Vergine […], Venedig 1672, S. 518. Vertiefend zum Thema siehe: Gino Stefani, „Sirene nel chiostro“, in: Angeli e sirene, S. 106 – 112.

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im Gegensatz zur Renaissance, die Darstellungen weiblicher Engel kannte.30 Gleichzeitig ist in den Oratorien des Seicento eine beeindruckend hohe Anzahl von Partien, die Engel darstellen, zu finden. Hierfür genügt ein Blick in die Überlieferung des Textes des Oratoriums Adamo, in dem gewöhnlich Engelschöre mit Michael, Cherubim, Gabriel und Raphael oder auch mit dem Engel der Gerechtigkeit und jenem des Gerichts besetzt wurden.31 Nähern sich die Ausführenden durch ihre Natur den Engeln, so nähert sich umgekehrt die Vorstellung der Engel in den fraglichen Jahren dem Irdischen, wie Ossola nicht nur angesichts des 1672 eingeführten „Schutzengelfestes“ innerhalb der „Invasion der Engel im Barock“ nachwies.32 Abschließend sei eine Anweisung des Bischofs von Verona von 1744 an jungfräuliche Nonnen zitiert. Sie zeigt, wie akzeptiert Lautäußerungen mitt­lerweile waren. Ferner belegt sie die symbolische Stellvertreterfunktion der Jungfrauen für den himmlischen Chor, mithin den Chor der Engel: Andando dalla cella al coro, andate sempre considerando dove andate. Andate certo in una sembianza del Paradiso, perché il vostro coro rappresenta quella santa corte celestiale, si degna assistere per grazia nel vostro coro, circondato da’ suoi ministri, che sono gli Angeli; servito particolarmente da’ Santi sotto la protezione de’ quali sono i vostri Monisteri: e sospirate nel coro in quel modo che si sospira quando si sente qualche gran dispiacere, ogni volta che ne’ santi Salmi di David sentite a far menzione di questa parola, pecccato; come sarebbe a dire, quando cantate: Peccatum meum contra me est semper; o quell’altro versetto, Si inquitates observaveris Domine, Domine, quis sustinebit? 33

Eine aus dem kulturellen Kontext heraus unternommene Interpretation der Beschrei­bungen von Singstimmen venezianischer Ospedali und römischer Kirchen des Seicento hilft demnach beim Verständnis der Stellung und Funktion, die festlich dargebotene Kirchen­musik hatte. Sie verweist gleichzeitig darauf, dass scheinbar leicht verständliche Topoi – wie in diesem Fall jener der Engel – nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden dürfen. Gemeinsam mit der noch ausstehenden, durch das Projekt Psalmkompositionen wesentlich 30 Engelbert Kirschbaum (Hrsg.), Art. „Engel-D. Bildtradition-II. Gestaltikonographie-Renaissance“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. In Zusammenarbeit mit Günter Bandmann, Wolfgang Braunfels, Johannes Kollwitz, Wilhelm Mrazek, Alfred A. Schmid, Hugo Schnell. Rom u.a. 1990, S. 632. Geistliche Ratgeber betonen aufgrund der „größeren Gefährlichkeit des weiblichen Geschlechts“ sowohl das Verbot der Frauen, ihre Klöster zu verlassen, als auch das Verbot von Außenstehenden, diese zu betreten, so beispielsweise: Il dottor volgare libro decimoquarto manuale, ò miscellaneo ecclesiastico, il quale contiene più parti, cioè parte prima delli regolari dell’uno, e l’altro sesso, cioe de’ religiosi, e delle monache, e de’ loro conventi, o manasterii, con la distinta relazione di ciascuna religione, Rom 1673. 31 Angaben nach Sartori, I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800 (wie Anm. 27), Mailand 1992, Bd. I, S. 22 – 24, Nr. 236 – 259; hier ist insbesondere die Textfassung von Gio. Battista Andreini zu nennen, die ab 1613 mehrfach als „sacra rappresentazione“ aufgeführt wurde. 32 Carlo Ossola (Hrsg.), Gli Angeli Custodi (wie Anm. 28), S. XXVII. 33 „Wenn ihr aus der Zelle in den Chor geht, beachtet immer, wohin ihr geht. Ihr begebt Euch zweifellos in eine Ähnlichkeit des Paradieses, und weil Euer Chor jenen heiligen himmlischen Hof repräsentiert, […] seid ihr umgeben von seinen Ministern, die die Engel sind […] und ihr sollt im Chor in jener Art seufzen, in der man seufzt, wenn man irgendeine große Pein empfindet, und zwar jedes Mal, wenn man in den heiligen Psalmen Davids das Wort ‚peccato‘ erwähnt; so etwa, wenn ihr singt: ‚Peccatum meum contra me est semper‘“. Agostino Valiero, Modo di vivere proposto alle vergini che si chiamano dimesse (wie Anm. 25), S. 26.

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erleichterten Aufarbeitung der aus den Stimmen und Partiturhandschriften erschließbaren Vokalprofile der Sängerinnen der Ospedali und Kirchen Roms ermöglichten die Interpretation der Singstimmen trotz des Mangels an wissenschaftlich-enzyklopädisch orientierten zeitgenössischen Beschreibungen Einsicht in wesentliche Charakteristika, insbesondere in das metaphorische Verständnis damals bevorzugter Stimmen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass eine Singstimme des Seicento eine feste, der Notwendigkeit der Anbindung und Einbeziehung der Gläubigen innerhalb der Politik der katholischen Reform geschuldete Stellung einnahm, die sich selbst im traditionell von der katholischen Kirche vergleichsweise unabhängigen Venedig zeigte und die sogar strenger theoretisch-theologischer Auffassung zuwiderlaufen konnte. Damit aber offenbart sich nicht zuletzt auch über die Stimmen die ganze Vielfalt des nicht einfach zu fassenden katholischen Seicento.

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Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis Andrea Gottdang

1747 gab Giandomenico Tiepolo, der gerade einmal 20jährige Sohn des berühmten Giambattista Tiepolo, mit der Dekoration des Oratoriums von San Polo in Venedig sein Debüt als Maler. Der Auftrag umfasste einen Kreuzweg (Abb. 1 – 7),1 den ersten in der Lagunenstadt überhaupt, sowie verschiedene Heiligendarstellungen und zwei Deckengemälde. Zunächst dürfte der junge Künstler den Kreuzweg ausgeführt haben, dessen neuntes Stationsbild er 1747 datierte. Eine fragmentierte Inschrift auf dem 13. Stationsbild, die als „Domenico Tiepolo Aetatis XX“ aufzuschlüsseln ist, bestätigt durch die Altersangabe des Künstlers die Datierung. Die weiteren Bilder folgten bis spätestens 1749. Zu Beginn dieses Jahres erschien bereits eine Alvise Cornaro dedizierte Mappe mit Radierungen nach der Via Crucis. Der Quadraturmaler Pietro Visconti berichtete, ebenfalls 1749, in einem Brief, Domenicos Erstlingswerk in San Polo habe keinen großen Beifall gefunden.2 Auch die Großen der venezianischen Kunstgeschichtsschreibung konnten dem Zyklus wenig abgewinnen. Antonio Morassi beanstandete Wiederholungen bis zur Langeweile.3 Rodolfo Pallucchini fand die „Gesamtwirkung […] etwas lahm und gezwungen“ und attestierte dem jungen Giandomenico „mangelnde Befähigung, ein dramatisch religiöses Thema zu behandeln“4. Aldo Rizzi übte geradezu vernichtende Kritik: Giandomenico habe sich im Figurenrepertoire seines Vaters bedient und selbst mithilfe dieser Anleihen nur eine trockene Übersetzung zustande gebracht.5 Adriano Mariuz6 urteilte wohlwollender, ebenso Filippo Pedrocco, der zu bedenken gab, dass hier schon ein Künstler einer neuen Generation am Werk sei, bei dem

1 Abb. 1 – 7: Filippo Pedrocco und Andrea Missori, Giandomenico Tiepolo in the Church of San Polo, Venedig 2004; Abb. 8: Massimo Gemin und Filippo Pedrocco, Giambattista Tiepolo. I Dipinti. Opera completa, Venedig 1993. 2 Edoardo Arslan, „Quattro lettere di Pietro Visconti a Gian Pietro Ligari“, in: Rivista Archeologica della Provincia-Diocesi di Como, fasc. 133, 1952, S. 63 – 72, hier: S. 69f. Neutral, aber mit einem Anflug von Wohlwollen lautet ein Eintrag bei Flaminio Corner, Ecclesiae Venetae, Bd. 2, Venedig 1749: „Mysteriae Passionis Dominicae (vulgo Via Crucis) ad Sacelli parietes colenda proponuntur. Haec exhibent tabulae, quas Joannes Dominicus Theupulus Joannis Baptistae Pictoris eximii filius, & discipulus mira arte confecit.” 3 Antonio Morassi, Art. „Domenico Tiepolo“, in: Emporium, XIX, Juni 1941, S. 268 – 269. 4 Rodolfo Pallucchini, Die venezianische Malerei des 18. Jahrhunderts, aus dem Ital. übertr. von Hanna Kiel, München 1961, S. 250. 5 Aldo Rizzi (Hrsg.), Mostra del Tiepolo. Celebrazioni tiepolesche, Ausst. Kat. Mailand [u.a.] 1971, S. 159: „Il ventenne Giandomenico si appoggia chiaramente ai prontuari figurativi del genitore, trasposti in forma arida e passiva.” 6 Adriano Mariuz, Giandomenico Tiepolo. Con prefazione di Antonio Morassi, Venedig 1971, S. 22 – 26.

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sich ein Wechsel ankündige: „dal campo della pura estetica si passa a quello dell’etica.“7 Eine differenziertere Interpretation des Kreuzwegs steht dennoch nach wie vor aus. Die folgenden Ausführungen verstehen sich nicht als rein ikonographische Analyse, sondern verfolgen vielmehr die These, dass die offenbar so irritierend spröde Gestaltung von der gestellten Aufgabe abhängt, dass Giandomenico mithin die Funktion der Gemälde sehr genau bedachte. Dieses Bewusstsein für die Besonderheit des Auftrags reicht allein aber kaum aus, die spezifische Gestaltung bzw. ihre Prinzipien zu erklären. In einem zweiten Schritt soll daher die bereits vorformulierte, aber nicht beantwortete Frage aufgegriffen werden, ob Gian­­domenico Ideen der katholischen Aufklärung,8 insbesondere der Predigtreform aufnahm.

Das Oratorium von San Polo in Venedig Das Quartiere di San Polo war im 18. Jahrhundert bevölkerungsreich und beliebt; der große Platz vor der Kirche wurde für Feste, auch Adelshochzeiten, und religiöse Zeremonien genutzt, Predigten hatten einen großen Zulauf.9 Seit 1731 lenkte Bartolomeo Carminati als Pfarrer die Geschicke von San Polo. Er dürfte auch die treibende Kraft hinter der Errichtung des Oratoriums gewesen sein, das zu einem Gutteil aus Spenden finanziert wurde.10 Das Oratorium ersetzte einen Gebäudeteil, der der Kirche zum Rio di San Polo hin als ein „atrio porticato“11 vorgelagert war, von den Anwohnern aber offenbar als Verbindungstrakt zu ihren Häusern genutzt wurde. Das Oratorium wurde quer zur Kirche ausgerichtet. Eine Tür zur Salisada San Polo erschließt es in seiner Längsachse, gegenüber dieser Tür befindet sich der überkuppelte Altarbereich. Ein weiterer Zugang ist durch die Kirche möglich; die Tür teilt diese Eingangswand in etwa gleich lange Abschnitte. Von der ursprünglichen Gestaltung des Oratoriums hat sich kaum etwas erhalten, da aufgrund akuter Wasserschäden und chronischer Probleme durch Feuchtigkeit wiederholt Sanierungen nötig waren, die zum Teil in die Bausubstanz eingriffen.12 Als Domenicos Via Crucis im 19. Jahrhundert ausgelagert werden musste, fand sie eine Zeitlang in der Sakristei der Frari-Kirche eine Bleibe, 1946 im Chor von San Polo. 1969 kehrte der Zyklus in das nach der Flut von 1966 sanierte und (nach dem Abriss von zwei im Jahr 1950 eingezogenen Wänden) zurückgebaute Oratorium zurück – allerdings nicht vollständig. Über Zahl und Themen der Gemälde herrschte zudem Verwirrung, weil Besucher des 19. und frühen 20.

7 Filippo Pedrocco, „L’oratorio del Crocifisso nella chiesa di San Polo“, in: Arte Veneta, 43, 1989/90 (1991), S. 108 – 115, hier: S. 112. 8 Pedrocco, „L’oratorio del Crocifisso“ (wie Anm. 7), S. 112. 9 Umberto Franzoi und Dina di Stefano, Le chiese di Venezia, Venedig 1976, S. 23. 10 Hier und im folgenden nach Pedrocco, „L’oratorio del Crocifisso“ (wie Anm. 7). 11 Ebd., S. 108. 12 Siehe hierzu auch Andrea Missori, „The Oratory of the Crucifix“, in: Pedrocco und Missori, Giandomenico Tiepolo (wie Anm. 1), S. 15.

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Jahrhunderts unterschiedliche Angaben hierüber machten. Weitgehende Klarheit verschafft ein Inventar aus dem späten 18. Jahrhundert.13 Neben den 14 Kreuzwegstationen beherbergte das Oratorium demnach in der cappella, also an den Seitenwänden des Altarraums, eine Darstellung der Geburt Christi und einen Tod des Hl. Joseph. Beide Gemälde sind verschollen, desgleichen die immerhin in einem Stich überlieferte Hl. Margarete von Cortona sowie der Hl. Vinzenz von Paul.14 Heute noch bzw. wieder an Ort und Stelle befinden sich die Predigt des Hl. Vinzenz Ferrer, die Auffindung des wahren Kreuzes durch die Heiligen Helena und Macarius, der Hl. Johann Nepomuk und der Hl. Filippo Neri. Eines der beiden Deckengemälde zeigt die Auferstehung Christi, das andere eine Engelsglorie. Über die ursprüngliche Hängung der Kreuzwegstationen besitzen wir keine Kenntnisse; dass an beiden Längswänden je sieben hingen, steht außer Frage. Unklar bleibt jedoch, wo der Zyklus begann. Heute kann das Oratorium nur von der Kirche aus betreten werden; der Zyklus setzt rechts von dieser Tür ein. Der Betrachter muss sich heute also erst umdrehen, um den Anfang des Kreuzwegs zu finden, und setzt seine Besichtigung dann nach rechts fort, in Richtung des straßenseitigen Eingangs. Das siebte Stationsbild befindet sich schon an der gegenüberliegenden Wand; der Rundgang führt den Besucher zum Altarbezirk zurück. Dass eine solche von der liturgischen Struktur her gedachte Hängung der originalen folgt, ist vorstellbar. Als weitere Möglichkeit böte sich ein Auftakt gleich links vom eigentlichen Haupteingang an. Der Kreuzweg verliefe dann bis zum siebten Stationsbild auf dieser Seite zum Altar hin und von dort auf der gegenüberliegenden Seite zurück, so dass das 14. Stations­bild gegenüber dem ersten nahe dem Haupteingang platziert wäre.15

Die Kreuzwegandacht Auch ohne Kenntnis des Vertrags, der entweder nicht überliefert wurde oder noch auf seine Wiederauffindung wartet, kann die dem Künstler gestellte Aufgabe klar und präzise definiert werden: Bilder für eine Kreuzwegandacht zu schaffen. Die Geschichte dieser Andachtsform ist ebenso lang wie komplex und weist bis ins 18. Jahrhundert regionale Unterschiede auf.16 13 Pedrocco, „L’oratorio del Crocifisso“ (wie Anm. 7), S. 110. 14 Diskutabel bleibt m. E., inwiefern dem sonst in der Identifikation der Themen offenbar versierten Schreiber des Inventars doch ein Fehler unterlief. Eduard Sack hat 1910 dieses Gemälde, das dem Inventar zufolge den Hl. Vinzenz von Paul zeigt, noch vorgefunden und gab das Thema als Heiliger Joseph von Calasanz an (Eduard Sack, Giambattista und Domenico Tiepolo. Ihr Leben und ihre Werke, Hamburg 1910, S. 305). Man könnte Sack den Irrtum unterstellen, wenn nicht ein Stich überliefert wäre, der S. Giuseppe di Calasanza darstellt, und dessen Maße nur unwesentlich von dem der Hl. Margarete von Cortona abweichen. Dario Succi (Hrsg.), I Tiepolo. Virtuosismo e ironia, Mirano 1988, S. 120 f. 15 Dass der Zyklus rechts vom Haupteingang einsetzte, von dort zur cappella und an der gegenüber liegenden Wand zurück geführt wurde, ist ausgeschlossen, da Domenicos Kompositionen die Leserichtung von links nach rechts vorgeben. 16 Amédée (Teetaert) de Zedelgem, Saggio storico sulla devozione alla Via Crucis, hrsg. von Amilcare Barbero und Pasquale Magro, nach der franz. Originalausgabe (1949) übersetzt, Ponzano 2004; Notker

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So gab es Kreuzwegandachten, die mit dem Abendmahl einsetzten, andere nahmen am Ölberg ihren Ausgang. In Deutschland konzentrierte sich die Andacht auf die Stürze Christi unter der Last des Kreuzes.17 Um Domenicos Via Crucis einordnen zu können, reicht ein Blick auf die jüngere Vorgeschichte als Voraussetzung für die Einrichtung eines Kreuzwegs in Venedig. Im 17. Jahrhundert bildete sich in Spanien der Kreuzweg mit 14 Stationen heraus und gelangte von dort aus nach Sardinien, das unter spanischer Herrschaft stand. Am 14. September 1628 wurde in Florenz zur Kirche San Miniato al Monte ein Kreuzweg mit 14 Stationen angelegt, die durch einfache Kreuze markiert wurden. Das Volk hielt allerdings weiter an älteren, kürzeren Formen fest, bevor es die Praxis des Kreuzwegs schließlich zu vernachlässigen begann.18 Innozenz XI. bestätigte 1686, dass für eine Kreuzwegandacht derselbe Ablass gelte, als sei sie in Jerusalem verrichtet worden.19 1692 legte Innozenz XII. den Ablass auf 100 Tage für jede verrichtete Andacht fest, wobei alle Ablässe seit jeher nur für Kreuzwege galten, die zu einer Franziskanerkirche gehörten. Einen enormen Aufschwung nahm die Kreuzwegandacht durch den unermüdlichen Einsatz des Leonhard von Porto Maurizio, der nicht weniger als 572 Kreuzwege in Italien einrichtete und sich für die Aufhebung von Erschwernissen einsetzte.20 So wurde 1736 die Bestimmung abgeschafft, nach der die Stationen in der von Adrichomius errechneten Distanz zwischen den Ereignissen in Jerusalem aufgestellt werden mussten. 1742 wies Benedikt XIV. Pfarrer an, Kreuzwege einzurichten, ohne sich um die Abstände zwischen den Stationen zu kümmern. Eine Voraussetzung für den Erhalt eines Ablasses blieb jedoch die Einhaltung der franziskanischen Andachtsregeln. Demnach musste ein Kleriker bei jeder Station eine Meditation über das jeweilige Mysterium verlesen. Darauf folgten ein Vaterunser, ein Ave Maria, Gesang und auf dem Weg zur nächsten Station eine oder mehrere Strophen des Stabat Mater.21 Es handelte sich mithin, sofern ein Ablass erzielt werden sollte, um eine geregelte Andacht mit bestimmten Vorgaben. Damit aber erhielten die Gemälde der Via Crucis eine grundsätzlich andere Funktion als Passionszyklen.

Giandomenico Tiepolos Kreuzwegstationen als Andachtsbilder Ungeachtet thematischer Überschneidungen sind Passion und Kreuzweg nicht identisch. Dennoch lohnt ein Blick auf die Gemälde, die als Referenzwerke für Giandomenico benannt wurden.22 Dazu gehören Tintorettos Zyklus in der Sala dell’ Albergo der Scuola Grande di

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Eckmann, Kleine Geschichte des Kreuzweges. Die Motive und ihre künstlerische Darstellung, Regensburg 1968; Carl Alois Kneller, Geschichte der Kreuzwegandacht von den Anfängen bis zur völligen Ausbildung, Freiburg im Breisgau 1908. De Zedelgem, Saggio storico sulla devozione alla Via Crucis (wie Anm. 16), S. 131. Ebd., S. 123f. Ebd., S. 125. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. George Knox (Hrsg.), Tiepolo, Tecnica e imaginazione, Ausst. Kat., Venedig 1979, S. 36.

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San Rocco, sowie die Passionsfolge von Leonardo Corona und Gehilfen in der Scuola di San Fantin. In beiden Fällen handelt es sich um monumentale Wandgemälde, um dramatische Historienbilder, die in fast jedem einzelnen Bild mit einer Vielzahl von Nebenhandlungen aufwarten. Tintorettos Kreuztragung nimmt nicht nur einen Richtungswechsel zwischen dem schon weiter oben auf dem Berg nach links sich vorwärtsschleppenden Christus und den weiter unten, noch vor der Wegbiegung nach rechts laufenden Schächern vor, die ebenfalls ihre Kreuze schultern. Sie entfaltet auch ein Höchstmaß an Aktivität und Bewegung mit Figuren, die sich bücken, vorwärts drängen, sich zurückwenden und sich aufrichten. In der Kreuzigung selbst richtete Tintoretto eine Vielzahl von Nebenschauplätzen ein, die er durch eine Fülle dynamischer Figuren belebte – allerdings hatte Tintoretto auch eine Leinwand von über 15 Metern Länge zu gestalten, wogegen Giandomenico in seinen Kreuzweg­ szenen Lösungen für eine Malfläche von ca. 100 auf 70 cm pro Bild finden musste. Trotz unterschiedlicher Formate führt auch ein Vergleich mit Giambattista Tiepolos Kreuztragung (um 1740, Abb. 8) im Chor von Sant’ Alvise zum gleichen Ergebnis einer grundsätzlich anderen Strategie in der Via Crucis seines Sohnes. Giambattistas Kreuztragung vereint unter anderem den Sturz Christi und die Veronika-Episode. Die Begegnung mit Maria liegt bereits hinter Christus, der Aufstieg zum Kalvarienberg steht ihm noch bevor. Ein Reiter, dessen Schimmel sich tief auf die Hinterhand setzt, bringt ein Moment kaum im Zaum gehaltener Kraft und Energie in die Szene – gleichsam ein Gegenpart zum gestürzten, geschwächten Christus. Tintoretto, Corona, Giambattista Tiepolo und mit ihnen viele andere zogen in diesen Bildern der Passion Christi alle Register der narratio. Giandomenico Tiepolo hielt inne. Er schuf Bilder für die Andacht. Definiert man den Bildtypus über die Funktion, so ist jedes Bild, gleichgültig welchen Inhalt und welche Gestaltungsmerkmale es aufweist, ein Andachtsbild, sobald vor ihm eine Andacht verrichtet wird. Auch ein Altarbild kann dann zeitweilig zum Andachtsbild werden: Ein Bild kann auch mehrere Funktionen im Wechsel übernehmen. Doch es wäre falsch, die Rezeption bzw. das Verhalten des Gläubigen als eine vom Kunstwerk gänzlich unabhängige Größe zu betrachten. Der Künstler kann durch Themenauffassung und -gestaltung aktiv auf den Betrachter einwirken und so ein Bild konzipieren, das, um die Definition modifiziert wieder aufzugreifen, der Andacht gezielt dient, sie fordert und fördert. Von ihrer Bestimmung her sind Domenicos Gemälde keine Altarbilder. Genauso wenig sind sie Historienbilder in der Tradition großer Wanddekorationen. Ein wichtiges Indiz für die These, dass der junge Künstler sich bewusst in eine andere Tradition stellte, liefert das Frontispiz23 der druckgraphischen Ausgabe des Zyklus. Giandomenico rekurrierte auf Vorbilder, die wiederum nicht aus der Historienmalerei, überhaupt nicht mehr aus der sogenannten Hochkunst stammen, in der Frömmigkeitspraxis als Andachtsbilder aber verbreitet waren: Er versammelte hier nichts anderes als die „Arma Christi“, die Leidenswerkzeuge Christi, deren Darstellung seit der frühen Neuzeit kaum noch als Bildaufgabe gestellt wurden – mangels künstlerischen Anspruchs. Dass bisher kein Versuch unternommen wurde, Giandomenico Tiepolos Kreuzwegstationen als Andachtsbilder zu betrachten, liegt nicht 23 Aldo Rizzi (Hrsg.), Le acqueforti dei Tiepolo. Ausst. Kat. Regione Friuli-Venezia Giulia, Città di Undine, Celebrazioni Tiepolesche, Mailand [u.a.] 1970, Abb. 38.

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zuletzt daran, dass die Gattung des Andachtsbildes mit der mittelalterlichen Mystik assoziiert und ihre Geschichte über die frühe Neuzeit hinaus kaum verfolgt wurde. Zudem unterscheiden sich Giandomenico Tiepolos Andachtsbilder von den naheliegenden Repräsentanten der Gattung, die als nahsichtige Halbfigurenbilder auch noch in Renaissance und Barock unmittelbar an die Emotionen des Betrachters appellieren wie zum Beispiel Gior­ gio­nes Kreuztragender Christus (Venedig, Scuola Grande di San Rocco).24 Das Anknüpfen an diese Tradition war Giandomenico schon aufgrund des Hochformats nicht möglich, sollten die Figuren nicht überlebensgroß erscheinen, was der Identifikation des Gläubigen mit dem Leidenden und der Gesamtwirkung des Zyklus im Oratorium nicht zuträglich gewesen wäre. Schließlich wurde der Gedanke an Andachtsbilder sicher auch durch die Kunsttheorie verstellt, die bevorzugt die Historienmalerei, und zwar die narrative, thematisierte. An den Anforderungen der Historienmalerei gemessen, musste Domenicos Erstlingswerk in der Tat als Fehlstart erscheinen. Doch sind sie der falsche Maßstab, da der Zyklus sich nicht an den Connaisseur wendet und auch nicht vorrangig zur privaten Meditation bestimmt, sondern in eine Liturgie eingebunden war, die letztlich auch die Verweildauer vor den einzelnen Stationen zeitlich begrenzte. Die vermeintlichen Schwächen des Werkes müssen gerade aufgrund dieser Prämisse sogar als Stärken gewertet werden. Die Reduktion der narrativen Vielfalt und die Übersichtlichkeit tragen dem „getakteten“ Abschreiten der Reihe Rechnung. Es wäre durchaus möglich gewesen, andere Episoden aufzunehmen, die Szenen auszuschmücken, z. B. durch die Einfügung des seine Hände waschenden Pilatus in der ersten Station der Urteilsverkündung. Die beiden Schächer hätten in verschiedenen Stationsbildern Platz finden können, die um das Gewand Christi würfelnden Soldaten bei der Kreuzigung usw.25 Damit hätte Giandomenico den Anforderungen an ein Historienbild entsprochen, dessen Qualität manche Theoretiker sogar nach der Vielfalt der Nebenhandlungen bemessen wollten. Giovanni Andrea Lazzarini bemerkte 1753 in einem Vortrag: 24 Giorgiones Kreuztragender Christus ist ein hervorragendes Beispiel für „Multifunktionalität“: Aufgrund der ihm bald zugeschriebenen Wundertätigkeit wurde es zum Kultbild. Inwiefern andere Halbfigurenbilder mit christlichen Sujets die Funktion von Andachtsbildern erfüllten oder lediglich den Modus des Andachtsbildes aufgreifen, jedoch als Sammlerstücke in den Galerien hingen, wäre freilich im Einzelfall zu prüfen. 25 Unter Giandomenico Tiepolos ab 1785 entstandenen, knapp über 300 Zeichnungen zum Neuen Testament und zu apokryphen Schriften befindet sich ein weiterer Kreuzweg. Obwohl gut 40 Jahre zwischen den beiden Zyklen liegen, also auch eine geänderte Einstellung des Künstlers zum Thema denkbar wäre, fällt auf, dass der spätere, nicht für eine Andacht im kirchlichen Raum gedachte Kreuzweg dramatischer gestaltet ist, mehr ausschmückende Motive enthält und auch die Komposition sich unterscheidet. Die bewegte Menge, in die Christus hier eingebettet ist, füllt jeweils die gesamte Bildbreite. Mehrere Blätter zeigen einen Trommler und einen Reiter auf einem temperamentvollen Pferd im Vordergrund. Die Schächer sind mehrfach integriert – z.B. in Station VI (Veronika-Episode) sogar im Vordergrund. In Station XIII (Kreuzabnahme) erheben sich ihre Kreuze über der Beweinung; die zur Kreuzabnahme nötigen Aktivitäten sind, in Gestalt von Figuren auf Leitern am leeren Kreuz, noch sichtbar. Siehe Adelheid M. Gealt und George Knox, Domenico Tiepolo. A New Testament, Indiana University Art Museum, Bloomington, Indiana 2006, Abb. 214 – 227.

Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis 81 La principale [azione], siccome vien suggerita dalla storia, non sempre porge per se sola molta materia alla fantasia di creare; ma la maggior forza della sua produttrice fecondità si manifesta, e si raggira per ordinario alle azioni accessorie, le quali in gran parte costituiscono il modo, con cui la principale si fa.26

Die Voraussetzung zur Einlösung dieser Forderung ist die Wahl des dargestellten Moments, die so getroffen sein sollte, dass sie größtmögliche Ausschmückungen und Dramatik zulässt. Francesco Algarotti, ein Bekannter Lazzarinis und der beiden Tiepolo definierte diesen Moment als jenen, „in cui può recare dinanzi all’occhio dello spettatore mille obbietti in una volta, momento, ricco delle più belle circostanze che accompagnano l’azione, momento equivalente al successivo lavoro del poeta.“27 Giambattista Tiepolo bediente diese Forderung in seinen Gemälden, so auch in den Passionsdarstellungen für Sant’Alvise (Abb. 8). Dort ist die Begegnung mit Maria und Veronika gerade erfolgt, den Aufstieg auf den Kreuzesberg muss Jesus jedoch erst noch bewältigen. Giandomenico thematisiert das Vorher und das Nachher in der Via Crucis nur selten; er verankert nach Möglichkeit jede Station im Hier und Jetzt. Der Gläubige soll weder die ganze Passion im einzelnen Bild vorwegdenken, noch sich in Details verlieren, sondern sich ganz auf das Mysterium der jeweiligen Station konzentrieren. Eine Ausnahme hiervon macht das elfte Stationsbild, in dem die Leiter auf die Kreuzabnahme vorausweist. Primär übernimmt sie jedoch kompositorische Funktionen, da das Kreuz flach auf dem Boden liegt, während die Schergen die Vorbereitung treffen, den bereits darauf liegenden Christus anzunageln. Ohne das vertikale Element der Leiter würde es dem Bild an Spannung fehlen. Prinzipiell lenkt kaum etwas von Christus und dem Kreuz ab, denen die Andacht gilt. Der Heiland ist bei einem Großteil der Bilder, letztlich bei allen, die es thematisch zulassen, durch das strahlende Rot im Kontrast mit tiefem Blau deutlich hervorgehoben. Sehr oft ergänzt ein gelber Farbton in unmittelbarer Nähe Jesu, in einem Banner oder Gewand, diese Grundfarben zum Dreiklang. Rot und Blau als Gewandfarben Jesu folgen zwar der ikonographischen Tradition, doch ist das Gesamtfarbkonzept so angelegt, dass sie Christus strahlend hervorheben, ihn damit isolieren und ihn zur Andacht herausstellen. Nach der zehnten Kreuzwegstation, der Entkleidung (Abb. 5), werden Blau und Rot zwar weiter verwendet, so dass die Farbgestaltung des Zyklus homogen bleibt, sie werden aber auf die Gewänder verschiedener Figuren verteilt. Allein die unter dem Kreuz zusammengesunkene Maria trägt Rot und Blau zugleich, was ikonographisch ebenfalls legitim ist und Giandomenicos Konzept insofern nicht durchbricht, als der Sättigungsgrad der Farben niedriger ist als zuvor im Gewand Christi. Doch Giandomenico setzte noch weitere Mittel ein, um die Aufmerksamkeit des Gläubigen auf Christus zu lenken – und dort zu halten. Soweit es nur möglich ist, befindet sich der Betrachter nahezu auf Augenhöhe mit dem leidenden Erlöser, sofern er nicht sogar zu ihm aufsieht. Besonders deutlich wird diese Strategie bei der siebten (Abb. 4) und neunten 26 Giovanni Andrea Lazzarini, Dissertazione sopra l’arte della Pittura letta nell’Accademia Pesarese l’anno 1753, Vicenza 1782, S. 22. Siehe hierzu Andrea Gottdang, Venedigs antike Helden. Die Darstellung der antiken Geschichte in der venezianischen Malerei. 1680 – 1760, München und Berlin 1999, S. 145f. 27 Francesco Algarotti, „Saggio sopra la Pittura (1762)“, in: Francesco Algarotti. Saggi, hrsg. v. Giovanni da Pozzo, Bari 1963, S. 57 – 144, hier: S. 99.

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Station, also dem zweiten und dem dritten Fall unter der Last des Kreuzes. Das Am-Boden-Liegen sehen wir nicht. Der Sturz ist letztlich aus dem Umstand abzuleiten, dass die Augenhöhe sehr niedrig, im unteren Viertel der Bildhöhe liegt, denn zwischen Christus und den Betrachter schiebt sich eine Bodenerhebung, auf der Zuschauer stehen oder sitzen. Der Weg, auf dem Christus stürzt, liegt also von vornherein tiefer, aber: Auf diesem Bodenniveau, auf der anderen, diesseitigen Seite der Bodenerhebung, wird dem Betrachter der Standort zugewiesen. Giandomenico erklärt die Situation geographisch plausibel, nutzt sie aber zugleich inhaltlich und psychologisch: Der Betrachter wird, wie Christus und zusammen mit ihm, erniedrigt. Und er begleitet ihn auf seinem Weg. Die Bewegungsrichtung Jesu von links nach rechts wird auf dem Kreuzweg ohne Abweichung durchgehalten. In dieser Konsequenz unterscheidet sich Domenicos Strategie auch von den folgenden venezianischen Kreuzwegen, wie dem 1755 von Francesco Zugno, Giambattista Crosato, Francesco Maggiotto, Francesco Fontebasso, Giuseppe Angeli, Gaspare Diziani und Jacopo Marieschi für Santa Maria del Giglio oder dem 1750 von Antonio Zucchi für San Giobbe gemalten.28 Hier gibt es Richtungswechsel, kommt Christus dem Betrachter in einigen Stationen entgegen. Dem künstlerischen Abwechslungsreichtum ist dies zweifellos förderlich, das wusste auch Domenico. In der aus 24 Blättern bestehenden Folge der Idee pittoresche sopra la fuga in Egitto, die er 1750 begann,29 wechseln alle nur erdenklichen Bewegungsrichtungen einander ab. Sie stellen nicht nur Domenicos Erfindungsreichtum unter Beweis, sondern visualisieren auf diese Weise auch die schier endlose Dauer der Flucht. Die graphische Folge trifft allerdings auf einen „ortsfesten“ Betrachter, der Blatt für Blatt aus der Mappe und in die Hand nimmt. Im Oratorium von San Polo war die Ausgangslage eine andere. Der Gläubige zog von Station zu Station, von links nach rechts, wie Christus. Was aus kunstkritischer Sicht sicher in das Urteil ermüdender Wiederholungen einfloss, ist ein andachtstechnisches Hilfsmittel, das die Identifikation des Betrachters mit Christus erleichtert. Beide gehen den gleichen Weg. Diese besondere Beziehung zwischen dem Andächtigen und Christus verstärkt Giandomenico sogar noch weiter, indem er die Schaulustigen, die den Weg säumen, als geschlossenen Block auftreten lässt, in dem wenig Bewegung herrscht (Abb. 2 und 3).30 28 Vittorio Moschini, Art. „Antonio Zucchi Veneziano“, in: Arte Veneta 11 (1957), S. 168 – 172. Der Kreuzweg von Santa Maria del Giglio wurde 1778/79 von Joseph (Giuseppe) Wagner in Kupfer gestochen. Giuseppe Maria Pilo, „La ‚Via Crucis‘ del Wagner“, in: Emporium 127 (1958), S. 13 – 16. Einen knappen Überblick über Kreuzwegzyklen in Venedig gibt auch: Antonio Niero, „Spiritualità dotta e popolare“, in: La chiesa di Venezia nel Settecento, hrsg. v. Bruno Bertoli, Venedig 1993, S. 127–157, hier: S. 143. 29 Christofer Conrad, Giovanni Domenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten, Ausst. Kat. Stuttgart, Ostfildern 1999, bes. S. 5 und 15: Die Folge rechnet mit einem Connaisseur als idealem Betrachter, dem die Kennerschaft ein „vergleichendes Sehen“ ermöglicht. 30 Mariuz, Giandomenico Tiepolo (wie Anm. 6), S. 22f. charakterisiert die Menge zwar als indifferent, zieht daraus aber andere Schlüsse: „Non ci sembra azzardato ritenere che Giandomenico, insistendo sul contrasto fra la smagrita figura del Cristo e il seguito multicolore in costume esotico o moderno, intendesse alludere, con punta di polemica, all’indifferenza e quasi all’insofferenza dei contemporanei nei confronti dei misteri divini.” Zu einer grundsätzlich anderen Einschätzung des Zyklus kommt Pedrocco, Giandomenico Tiepolo in the Church of San Polo (wie Anm. 12), S. 8: „In general he chose to give the stories an extremely rapid narrative rhythm, of intense drama, without pauses. Almost all contain a riotous

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Mehr als einmal stellt er dabei eine Figur heraus, die einen Kontrast zum voranschreitenden Chri­stus setzt. Der ebenfalls von Station zu Station ziehende Betrachter gehört nicht zu dieser Masse, die scheinbar unbewegt bzw. unbeweglich von Station zu Station transferiert wird. Allein der Betrachter nimmt den Bewegungsimpuls Christi auf und geht dadurch eine Beziehung mit dem Erlöser, nicht mit den Schaulustigen ein. Die Bewegungslosigkeit der Masse, die nicht vorwärts drängt, sondern geradezu diszipliniert wartet, steigert den Eindruck, dass Christus den Weg unter dem Gewicht des Kreuzes nur mühsam und sehr langsam hinter sich bringt; in der fünften Station verharrt er sogar, stehend, ohne Schreitmotiv. Der Zyklus wirkt so durchaus der Zeitwahrnehmung des Betrachters entgegen, gemessen an der zur Verrichtung der Andacht, zur Meditation des Kreuzwegs erforderlichen Zeit: Giandomenico vermittelt durch den Verzicht auf variationsreiche Bewegungen, auf eine durch Aktion gefüllte und damit subjektiv verkürzte Zeit, eine Vorstellung von der Länge des Weges, die allein schon Teil des Martyriums wird. Zum Abschluss dieser Überlegungen, die die Bildfolge von traditionellen Historien­ gemälden absetzen und die These stärken sollen, dass Giandomenico den Auftrag, Bilder für eine Kreuzwegandacht zu schaffen, offenbar sehr genau reflektierte, sei die Aufmerksamkeit kurz auf einige ikonographische Besonderheiten gelenkt. Die erste Station, Jesus wird zum Tode verurteilt (Abb. 1), konnte auf verschiedene Vorbilder zurückgreifen. Antonio Zucchi entschied sich in seinem 1750 für die Kirche San Giobbe in Venedig geschaffenen Zyklus dafür, Christus vor Pilatus zu zeigen. Anders Domenico. Im Gegensatz zu allen anderen Stationen seines Kreuzwegs steht Christus hier weit abgerückt vom Betrachter auf einer Balustrade, von der aus er dem Volk vorgeführt wird. Der Betrachter wird auch hier von der Menge abgesetzt, da ihn ein Erdhügel von ihr trennt. Giandomenico knüpfte ikonographisch an Ecce Homo-Darstellungen an, die er aber um ein entscheidendes Motiv ergänzte: Unübersehbar und dominant steht im Vordergrund bereits das Kreuz bereit. Das zentrale Objekt der besonderen Andacht wird also gleich im ersten Bild eingeführt, der Zyklus so von einer traditionellen Passionsfolge unterschieden. Auch bei der zehnten Station, der Entkleidung Jesu (Abb. 5), platziert Giandomenico das Kreuz hoch aufragend und dominant im Vordergrund, während Giuseppe Angeli in der gleichen Szene in S. Maria del Giglio gut fünf Jahre später auf die Einbeziehung des Kreuzes ganz verzichtete. Selbst bei der Grablegung (Abb. 7) fand der junge Künstler noch eine Möglichkeit, an das Kreuz zu erinnern: Es ist unübersehbar im Rand des Sargs eingeritzt. Dennoch scheint Giandomenico im letzten Stationsbild mit den bewährten Bild­ strategien zu brechen. Das Thema ist ein alt bekanntes, oft dargestelltes und hätte Gelegenheit gegeben, dem Betrachter noch einmal den Leib Christi zur Andacht darzubieten, wie, das Beispiel ist willkürlich herausgegriffen, Caravaggio es in seinem Altarbild (1603/04, Vatikanische Museen) dramatisch inszenierte. Giandomenicos Interpretation lässt gerade noch das Gesicht des schon in den Sarkophag hinabgelassenen Christus sehen. Es bedarf eines großen Gewandbausches des Leichentuchs als Akzent und Gegengewicht, um zu verhindern, dass der Erlöser in der in fallender Linie angeordneten Folge der Trauernden im wahrsten Sinne des Wortes untergeht. Das Grab nimmt dagegen einen auffallend großen crowd, at times indistinct and almost lacking in volume, but always deeply involved in Christ’s human tragedy.“

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Anteil der Bildfläche ein. Die ungewöhnliche Lösung findet eine Erklärung in einer Andacht des Heiligen Leonhard von Porto Maurizio zur vierzehnten Station, in der nicht die Grablegung, sondern das Grab im Zentrum steht: Bedenke, meine Seele! wie das Grab deines Heilandes beschaffen gewesen; es war ein neues Grab; er wurde in selbes gelegt, nachdem er mit kostbarem Balsam gesalbet war. Aber dein Herz ist für deinen Jesum, leider! kein neues Grab, nachdem du schon zuvor der Sünde in demselben Aufenthalt gegeben hast. […] O Jesu, du Liebe meiner Seele! es ist wahr, mein Herz ist ein durch so viele Sünden und Unvollkommenheiten verunreinigtes und häßliches Grab gewesen; nun aber bitte ich dich voll der Reue, du, o mein Jesu! wolltest mir ein ganz neues und reines Herz geben [...]31

„Voll der Reue“ – mit diesem Bekenntnis lässt sich ein genereller Unterschied zwischen der Kreuz­wegandacht und der allgemeineren Meditation der Passion Christi fassen. Der Nachvollzug der Passion fokussierte ganz auf die Vielzahl und Vielfalt der Jesu zugefügten Leiden, die minutiös in Erinnerung gerufen werden sollten. Eine pathetische Identifikation, die Verschmelzung von Subjekt und Objekt der Andacht, wird durch hochdramatische, emotionale Darstellungen unterstützt, die sich in äußerer Bewegung, also in der Gestik, nicht nur in der Mimik, ausspricht. Bei der Kreuzwegandacht reflektiert der Gläubige ebenfalls die Leiden Christi, aber als zentrale Momente kommen das Sündenbekenntnis und die Reue hinzu sowie der Wunsch und das Versprechen, das Kreuz künftig klaglos zu tragen. Die Anweisung des heiligen Leonhard für die Gesamtandacht lautet: „erwecke eine Reue über deine Sünden; und erwäge eine kurze Zeit das Geheimniß des Leidens, welches die Station vorstellt.“32 Nur zwei Beispiele für die konkrete Umsetzung seien genannt. Zur zweiten Station – Jesus nimmt das Kreuz auf sich – mahnte Leonhard von Porto Maurizio: Ach, schäme dich, daß du so geschwind in Ungeduld ausbrichst, und dich beunruhigen lassest, wenn ein kleines und leichtes Kreuz über dich kömmt, wenn dir was Beschwerliches auferlegt wird, oder eine Mühseligkeit aufstößt. Wie, mache dich auf, begleite deinen Jesum mit dem Kreuze.33

Zur fünften Station rief er auf: Erwäge, meine Seele! wie empfindlich es Jesu müsse gefallen seyn, daß sich Simon von Cyrene weigerte sein Kreuz zu tragen; aber du beleidigest ihn noch weit mehr, da du das Kreuz, welches dir Jesus zuschickt, nur gezwungen und nicht aus Liebe trägst, da du es nur wider deinen Willen fortschleppest, und dich davon suchest los zu machen. Verfluche deinen Irrthum, bitte den liebevollen Himmel, und sage zu ihm: O mein geliebtester Jesu! Ich bekenne es, ich habe mich eben so wie Simon von Cyrene verhalten.34

Eine emotionale Verschmelzung mit dem Leidenden wird nicht eingefordert. Christus bleibt das Vorbild, Objekt und Adressat der Andacht; allein von ihm darf Vergebung erhofft wer31 Leonardo da Porto Maurizio, Weg zum Himmel, oder kurze Betrachtungen über die wichtigsten Glaubenswahrheiten, Augsburg, 171828, S. 196 f. 32 Ebd., S. 181. 33 Ebd., S. 184. 34 Ebd., S. 187.

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den. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass Giandomenico dem Heiland die Qualen durchaus ins Gesicht schrieb, in der Ausformulierung von Emotionen aber verhaltener blieb und dramatisches Potential nicht in dem Maße ausspielte, wie es möglich gewesen wäre. So gehen z. B. die Schärgen nicht mit ausgesuchter Brutalität ihrem Handwerk nach. Assoziationen werden geweckt, aber Übergriffe nicht gezeigt: Im zweiten Stationsbild streckt eine Figur ein Rutenbündel deutlich sichtbar in die Höhe, befindet sich aber in einer Position, aus der ein Zuschlagen kaum möglich ist. Im vierten (Abb. 2) und sechsten Bild erinnern Rutenbündel ebenfalls an die Möglichkeit weiterer Gewalt, kommen aber nicht zum Einsatz. Auch die Begegnung Christi mit seiner Mutter (Abb. 2) kann nur Ergebnis einer anderen Auffassung sein, die bewusst auf Pathos verzichtet, zu ungewöhnlich ist die Darstellung der nahezu vollständig verhüllten Maria, die in ihrer Trauer gefasst, unbeweglich aber sicher nicht unbewegt am Kreuzweg steht. Man mag hier an das gängige, durch die antike Provenienz nobilitierte Motiv denken, das bei Darstellungen der Opferung Iphigenies in der Malerei geradezu erwartet wurde. Nachdem alle Varianten und Grade der Trauer und Verzweiflung in den Gesichtern der Beteiligten geschrieben stehen, ist eine Steigerung bei Agamemnon nicht mehr möglich. Das Maximum seines Schmerzes ist nur indirekt darstellbar, indem Agamemnon sein Gesicht verbirgt. Giambattista Tiepolo ließ 1757 in seiner Opferung der Iphigenie in der Villa Valmarana bei Vicenza Agamemnon sein Antlitz vollständig verhüllen. Dass mit der Assoziation dieser Trauerformel nur ein geringer Teil der Wirkung dieser Marienfigur erfasst ist, zeigt schon allein ein Blick auf die Beweinung unter dem Kreuz (Abb. 6), die Domenico zum Anlass nahm, seine Kenntnis der antiken Lösung der Ausdrucksdarstellung in der Gestalt des Johannes vorzuführen. Der Maria des vierten Stationsbildes kann der Betrachter nicht ins Gesicht sehen, doch es ist nur unter dem Umhang verschattet und schwer einsehbar, nicht jedoch quasi durch das Handeln der Figur selbst der Betrachtung entzogen. Maria rafft ihr Gewand, steht aufrecht, hebt sich ganz in dunklem Blau mit geschlossener Kontur fast als Silhouette vom Hintergrund ab. Kompositorisch verläuft zwischen ihr und Christus eine Zäsur – Domenico gibt hier den Blick bis in den Hintergrund frei. Aufgrund der statuarischen Unbewegtheit überbrückt allein der Blickkontakt die Distanz zwischen Maria und ihrem Sohn. Diese überaus gelungene Gestaltung „liest“ die Meditation zu dieser Station der Kreuzwegandacht gegen den Strich. Während dort ausgeführt wird, wie die Verzweiflung der Mutter die Qualen Christi erhöht,35 interpretiert Domenico Maria als starke Frau, die ihrem Sohn auf dem Leidensweg im doppelten Wortsinn beisteht. Das stille Einvernehmen widerspricht zwar dem Wortlaut der Meditation, sammelt aber geradezu als Quintessenz ein Leitmotiv der Andacht, die dem Kreuzweg gilt: die heilsgeschichtliche Notwendigkeit der Passion. Erst durch sie wird dem Menschen Erlösung zuteil. Erst unter dem Kreuz lässt Domenico Maria zusammenbrechen.

35 Ebd., S. 186: „Ach, wie bitter muß nicht der Schmerz gewesen seyn, welcher das Herz Mariae durchdrungen hat! Und wer wird erklären können, wie sehr die Qualen des leidenden Jesu dadurch sind vermehrt worden!“.

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Aufgeklärte Andacht? Giandomenicos zum Teil sehr ungewöhnliche Bildlösungen lassen sich in Abhängigkeit und als Folge vom besonderen Thema betrachten. Aber ist das Neue wirklich ausschließlich an den Auftrag gebunden? Wenn es nur die spezifische Aufgabe war, die eine besondere Strategie erforderte, hätten dann nicht die Künstler, die kurz nach Giandomenico in Venedig ebenfalls mit der Gestaltung eines Kreuzwegs betraut wurden, an seine Vorgabe anknüpfen müssen? Insbesondere in Santa Maria del Giglio waren mit Diziani, Fontebasso, Crosato und anderen hochkarätige Künstler verpflichtet worden, denen kaum unterstellt werden darf, sie hätten den Auftrag nicht hinreichend reflektiert. Doch sie verwarfen Giandomenicos Neuansatz. Tatsächlich weist die Bildstrategie des jungen Künstlers bemerkenswerte Parallelen mit der Predigtreform und den Ideen der katholischen Aufklärung auf, deren berühmtester Vertreter Lodovico Antonio Muratori war. Die Kenntnis seiner Schriften darf um 1750 in gebildeten, in kirchlichen Kreisen allemal, ohne weiteres vorausgesetzt werden. Auch den Tiepolo war Muratori kein Unbekannter. Giambattista Tiepolo hatte in den 1720er Jahren eine Abhandlung Muratoris illustriert.36 Giuseppe Maria, Domenicos jüngerer Bruder, empfing 1746 in Santa Maria della Salute in Venedig die niederen Weihen des Soma­skerOrdens37. Von der Bindung der Tiepolo an diesen Orden, der sich insbesondere um Waisen kümmerte, zeugt noch die Dekoration der Kapelle in der Villa Tiepolo in Zianigo. Die Fresken zeigen unter anderem das Wirken des Ordensgründers, San Girolamo Miani.38 Mit Mitgliedern wie Jacopo Stellini und Carlo Lodoli stellte der Orden führende Köpfe der venezianischen Aufklärung. Die Bibliothek des Konvents expandierte in den 1740er Jahren; ihr Bibliothekar Paolo Bernardo war, wie Pietro Ercole Gherardi 1747 notierte, „Amantissimo d’ogni cosa muratoriana“39. In seiner Abhandlung Dell’ eloquenza popolare unterschied Muratori 1750 zwei Arten der Rhetorik: die sublime, die das Thema mit jedem nur erdenklichen Ornat und subtilsten theologischen und moralischen Reflexionen ausschmückt und sich in Beschreibungen verliert, und die popolare, die schlicht und einfach sei, verschachtelte Sätze vermeide und jedermann, selbst dem einfachsten Volk, komplexe und tiefgründige Lehren verständlich vermittle.40 Für Predigten empfahl Muratori nachdrücklich die ernste, würdevolle zweite Spielart der Rhetorik und warf den Anhängern der eloquenza sublime vor, mit der Zurschaustellung virtuoser rhetorischer Bravour nur der eigenen Eitelkeit zu frönen. Giandomenico entsprach mit seiner Konzentration auf das Wesentliche, der leichten Lesbarkeit und der überschauba36 Antje Middeldorf Kosegarten, „‚E Guerra e Morte‘. Giambattista Tiepolos Entwürfe für Illustrationen der ‚Rerum Italicarum Scriptores‘“, ediert von Lodovico Antonio Muratori, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge, Bd. LVIII (2007), S. 93 – 139. 37 G. M. Urbani De Ghelthof, Tiepolo e la sua famiglia. Note e documenti inediti, Venedig 1879, S. 15. 38 Adriano Mariuz, Giandomenico Tiepolo (wie Anm. 6), Abb. 155 – 156. Die Fresken befinden sich heute im Museo del Settecento, Ca‘ Rezzonico, Venedig. 39 Zit. nach Antonella Barzazi, Gli affanni dell‘erudizione. Studi e organizzazione culturale degli ordini religiosi a Venezia tra Sei e Settecento, Venedig 2004, S. 186, Anm. 380. 40 Lodovico Antonio Muratori, Dei pregi dell‘Eloquenza Popolare, Venedig 1750, S. 18f.

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ren Anlage der Komposition Muratoris Hauptforderungen nach perspicuità und chiarezza41 ebenso wie der Ermahnung, sich kurz zu fassen und im Idealfall kein überflüssiges Wort zu verlieren, um die Gläubigen nicht zu ermüden.42 Selbst die kontrollierten Emotionen des Bildpersonals in Domenicos Kreuzwegstationen können als im Einklang mit den neuen Predigtidealen stehend betrachtet werden. Demut und Mäßigung stünden zu Gebote in Gestik und Mimik. Einige Redner würden mit den seltsamsten Verrenkungen des Körpers einen verzweifelten Sünder nachahmen oder einen Märtyrer oder eine verdammte Seele, verfehlen damit aber die Bedürfnisse der Gemeinde: Ganz sicher ginge der Gläubige zur Predigt, um das Wort Gottes zu hören und nicht eine Komödie.43 Ohnehin dürfe eine Predigt nicht zu viel Schrecken verbreiten, weil es nicht ihr Ziel sei, die Sünder in die Verzweiflung zu treiben: „Più muoverà l’Amore che il Terrore.“44 Noch in einem weiteren Punkt drängt sich ein Vergleich mit Muratoris Vorstellungen auf. Giandomenico unternahm auffällig wenige Anstalten, seine Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen. In der Spielart historischer Genauigkeit nahm die Bedeutung der erudizione in der Kunsttheorie gerade stetig zu.45 Giandomenico setzte Authentizitätssignale nur sehr sparsam ein, so die Büste des Kaisers Tiberius im zweiten Stationsbild. Römische Soldaten fehlen. Auf historisierende Requisiten, auf präzise Ortsangaben und korrekt rekonstruierte, identifizierbare Gebäude verzichtete der junge Künstler, und das in einem Maß, das schon als programmatisch zu interpretieren ist. Dabei konnte er ebenfalls auf Muratori verweisen, der schon 1708 in seinen Riflessioni sopra il Buon Gusto Gelehrsamkeit als Selbstzweck verurteilte. Wer dicke Bücher darüber schreibe, welche Stoffe, Schuhe und Ringe antike Völker trugen, wer mehrere Bände fülle, um zu lehren, welches Gewand dieser oder jener Heilige trug, verfüge über entschieden zu viel Zeit und habe eine zu hohe Meinung von der Geduld seiner Mitmenschen.46 Wenn Domenico sich dieser Auffassung bewusst anschloss, musste er mit Kritik rechnen, denn die Kunsttheorie setzte andere Maßstäbe. Laut Pietro Visconti bot Domenicos Nachlässigkeit in diesem Punkt eine Angriffsfläche: „linuenzione de Pittori è gritichata per esserli li chostumi à fatti tutte le figure straniere parte vistiti alla spagnola, schiavoni e altre caricature che dicono che in quel tempo non ritrovata tal sorte di gente ma che lui li à fatti perchè meglio comodono al suo caratro.“47 41 Ebd., S. 40 42 Ebd., S. 63 f. 43 Ebd., S. 72: „Certamente chi va ad ascoltar la parola di Dio, non pensa già di andare alla Commedia. Ha da essere il Pulpito un Teatro non del Fasto, ma dell’Umiltà e della Modestia; e questa ha da comparire tanto ne’gesti, che, nel volto, ne gli occhi, e nel portamento del Predicatore.“ 44 Ebd., S. 73. 45 Gottdang, Venedigs antike Helden (wie Anm. 26), S. 125 – 146. 46 Lodovico Antonio Muratori, „Riflessioni sopra il Buon Gusto“, in: Opere die Ludovico Antonio Muratori, hrsg. v. Giorgio Falco und Fiorenzo Forti, Bd. 1, Mailand und Neapel 1964, Bd. 1, S. 229. Jacopo Stellini, Dell’Educazione, Volgarizzamento di Everardo Micheli, Siena 1877, S. 37f. tadelte die Anhäufung von Wissen als Selbstzweck ebenfalls. Wer so verfahre, könne unmöglich Zeit gehabt haben „di pesare ogni cosa, di maniera che il suo sapere tutto quanto è grande sia stato da lui e abbastanza esaminato, e con accuratezza definito, e acconciamente disposto.“ 47 Zit. nach Arslan „Quattro lettere“ (wie Anm. 2), S. 69 f. Es wäre jedoch voreilig, Domenicos Position, die in diesem Punkt nicht weit von der seines Vaters entfernt ist, allein auf den Einfluss Muratoris zurückzuführen. Fantasia und Prachtentfaltung, die meraviglia auslösen sollten, besaßen in der venezi-

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„Aufgeklärte Heilige“ im Oratorium von San Polo Bezieht man die übrigen Gemälde, die das Oratorium von San Polo schmück(t)en, mit ein, sind Einflüsse der katholischen Aufklärung kaum noch von der Hand zu weisen. Es handelt sich um Heiligendarstellungen, die schon fast demonstrativ auf den Themenkreis der Wunder und Visionen verzichten. Muratori tadelte die exzessive Heiligenverehrung und den Wunderglauben.48 Seine wiederholte Kritik am Heiligenkult bündelte er in seinem erstmals 1747 in Venedig erschienenen Traktat Della regolata devozione dei Christiani. Wunder würden nicht durch die Heiligen, sondern allein durch Gott gewirkt.49 Die Exzesse eines Heiligenkultes, der sich hinreißen lasse, die von den Heiligen bewirkten Wunder mehr zu lobpreisen als die Jesu, tadelte Muratori auf das schärfste.50 Heilige seien Interzessoren der Menschen bei Gott, vor allem aber Tugendexempel, die die Verehrung Christi vorlebten.51 Ein erstes Indiz für eine gewandelte Heiligenauffassung enthält der Kreuzweg selbst. Während Giambattista Tiepolo (Abb. 8) und andere es sich nicht nehmen ließen, das Vera Icon vorzuzeigen, wählte Domenico den Moment, in dem Veronika sich Jesus erst nähert. Er setzt den Akzent also auf die Barmherzigkeit, die Veronika mit der Darreichung des Schweißtuches übt, nicht auf das Wunder, das einer Heiligen widerfährt, deren Existenz längst, nicht nur von Muratori, angezweifelt wurde. Das einzige Wunder, das im Oratorium von San Polo dargestellt wird, verdankt sich nicht einem Heiligen, sondern dem Kreuz, dessen Authentizität sich nach seiner Auffindung durch Helena durch eine Totenerweckung erweist. Domenico zeigt die Legende in der Variante, der zufolge der Heilige Macarius von Jerusalem vorschlug, die Kraft der aufgefundenen Kreuze an einem Kranken zu erproben. Eine gewisse Ausnahme stellt in der Reihe der Bilder in der cappella das Martyrium des Heiligen Johannes von Nepomuk dar. Dass August III. der Kirche von San Polo 1740 Reli­ quien des Heiligen zum Geschenk gemacht hatte, dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, ihn auch im Oratorium in Erinnerung zu halten und als Vorbild aufzurufen. Auch hier hätte es eine ikonographische Tradition gegeben, ihn im Gebet vor dem Kruzifix zu zeigen. Stattdessen entschied man sich für das Martyrium des Heiligen, der in der Moldau ertränkt wurde. In Domenicos Interpretation des Vorgangs ergibt sich der Heilige und wehrt sich anischen Malerei generell einen größeren Stellenwert als das Zurschaustellen von erudizione. Darüber hinaus erleichterte zeitgenössisches Kostüm – im Unterschied zu dem als teilweise befremdlich empfundenen, historisch korrekten, die Identifikation des Betrachters mit den Dargestellten. Siehe Gottdang Venedigs antike Helden (wie Anm. 26), S. 125 – 154. 48 Muratori, Dei pregi dell‘Eloquenza Popolare (wie Anm. 40), S. 81. 49 Lodovico Antonio Muratori, Della Regolata Devozione dei Cristiani, Introduzione di Pietro Stella, Mailand 1990, S. 178. 50 Ebd., S. 178, bes. auch S. 209: „Sopra tutto poi merita considerazione la sregolatezza di quelle rozze persone le quali sembrano stimar più del divino Salvator nostro la sua immacolata Madre e i santi.” 51 Ebd., S. 101: „La stessa beatissima Vergine, madre di questo Dio, e i santi, allorché pregano per noi, interpongono presso Dio Padre non già i lor propri meriti, bensì l’efficacia dei meriti del Salvatore, sapendo anch’essi che Gesù solo è il nostro proprio mediatore e il nostro proprio avvocato presso il Padre, che lo rende propizio a noi per il perdono dei nostri peccati”.

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nicht gegen die Fluten, sondern kreuzt die Arme vor der Brust und wendet sich mit dem Blick gen Himmel. Von besonderem Interesse sind die Gemälde, die den Heiligen Filippo Neri und den Heiligen Vinzenz Ferrer zeigen. Giambattista Piazzetta hatte Filippo Neri vor einer Marien­ erscheinung knien lassen (Santa Maria della Fava, Venedig), Giandomenico hingegen reduzierte das Transzendente auf einige Engelsköpfe und eine goldene Wolke, die der Heilige nicht einmal bemerkt. Er ist ganz auf die Vision konzentriert, die ihm als Lohn für seine Andacht zuteil wird. Dem Betrachter wird die Marienerscheinung vorenthalten, ebenso dem im Bild hinter der Schranke sichtbaren Gläubigen, der den Blick in ein Buch gesenkt hält. Deutlich weniger glückte Domenico die Darstellung des Vinzenz Ferrer, der – als Dominikaner – aufgrund der besonderen Verehrung, die er dem Kreuz entgegenbrachte, seinen Platz im Oratorium von San Polo gefunden haben dürfte. Die Darstellung des Hl. Vinzenz Ferrer als Prediger des letzten Gerichts mit Flügeln bzw. als Engel der Apokalypse war zwar geläufig, doch heftete Domenico dem Heiligen Flügel und Flamme etwas zu bemüht und attributiv an. Der Kruzifixus, den Vinzenz Ferrer hält und unter dessen Zeichen das Volk seine Predigt hört, setzt auch in diesem Gemälde Signale der Heiligenauffassung im Sinne Muratoris. Der Heilige fordert die Verehrung nicht für sich, er ist lediglich Sprachrohr. Inwiefern der mit dem im Inventar aufgeführten Gemälde themengleiche Stich Die Heilige Margarethe von Cortona das Bild aus dem Oratorium von San Polo getreu umsetzt, muss offen bleiben.52 Bei der Hl. Margareta von Cortona fiel Giandomenicos Wahl nicht auf das Thema ihrer Verzückung, sondern auf die Andacht, die sie vor dem Kruzifix verrichtet. Nicht aufgrund von Wundern oder Visionen verdient sie Verehrung, sondern sie leitet den Betrachter zur Andacht an, zeigt, wie bei Filippo Neri, wie er sich vor dem Kruzifix verhalten soll. Es ist ein in sich stimmiges Konzept, das Domenico der Ausstattung des Oratoriums, vor allem der Via Crucis selbst, zugrunde legte. Dennoch konnte es sich vorerst nicht durchsetzen – zu sehr waren die Erwartungen an ein gutes Historienbild, und in diese Kategorie fielen Giandomenicos Bilder, auf Erzählfreude, heftige Emotionen und Dramatik ausgerichtet. Der nächste große, selbständige Auftrag für den jungen Künstler ließ zwar auf sich warten. Eingebunden in die großen Projekte, die der Vater Giambattista als Werkstattleiter und in ganz Europa nachgefragter Künstler annahm, blieb dem Sohn des Meisters wenig Freiraum – zumindest in der Öl- und Freskomalerei. Dessen ungeachtet gab der junge Künstler seine Ideen nicht auf. Als er mit seinem Vater 1750 nach Würzburg ging, hatte er wohl bereits die ersten Blätter der Flucht nach Ägypten im Gepäck. Die Bildsprache der 24 Radierungen, die er bis 1753 zusammenstellte, erinnert mit ihrer Beschränkung auf wenige Motive, die in immer neuen Variationen kombiniert werden, an die Via Crucis. Die Wunder, die auf der langen Reise während der Flucht geschahen, interessierten Domenico auch hier nicht. Nur einmal fällt, beiläufig und fast unbemerkt, der Kopf einer heidnischen Skulptur zu Boden, 52 Abb. s. Succi, I Tiepolo (wie Anm. 14), S. 121. Die Stiche können immerhin Anhaltspunkte geben, während sich für die weiteren Gemälde in der Kapelle, die Geburt Christi und den Tod des Heiligen Joseph nicht einmal spekulieren lässt, ob auch sie das Konzept, Bilder für die Andacht zu bieten, umsetzten. Ob S. Giuseppe di Calasanza, dem ebenfalls ein Stich gewidmet ist, tatsächlich zum Zyklus gehörte, muss mit einem Fragezeichen versehen bleiben (siehe Anm. 14).

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als die heilige Familie vorbeizieht. Auch die Engel, allesamt Fußgänger, erfüllen ihre Mission ohne Wundertaten. Sie kommen bevorzugt zum Einsatz, wenn Gefahr oder Widrigkeiten drohen, treiben zur Eile an oder stützen am Ende der Reise die erschöpfte Muttergottes. Sie sind Garanten des göttlichen Beistands, aber: Den schweren langen Weg muss die Familie selbst unter Mühen zurücklegen. Die dominierende Gestalt in diesem Zyklus ist Maria, die als Vorbild der Demut Verehrung verdient. Gleichwohl schien es Giandomenico wichtig daran zu erinnern, dass Maria keinen göttlichen Status beanspruchen darf. Mit einfachen Mitteln deutete er dies an. In den meisten Blättern erinnern Linien, mit denen Licht zu asso­ ziieren ist und die auf die Familie, oft gezielt auf die Maria fallen, daran, in wessen Auftrag und Obhut die Reise erfolgt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Ideen der katholischen Frühaufklärung war für den jungen Künstler mit der Via Crucis also nicht abgeschlossen. Ihre Spuren auch in seinen späteren Werken zu suchen, wäre eine lohnende Aufgabe.

Abb. 1: Domenico Tiepolo, Jesus wird zum Tode verurteilt (Via Crucis, 1. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis 91

Abb. 2: Domenico Tiepolo, Jesus begegnet seiner Mutter (Via Crucis, 4. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

Abb. 3: Domenico Tiepolo, Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz (Via Crucis, 5. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

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Abb. 4: Domenico Tiepolo, Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz (Via Crucis, 7. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

Abb. 5: Domenico Tiepolo, Jesus wird entkleidet (Via Crucis, 10. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

Aufgeklärte Andacht? Giandomenico Tiepolos Via Crucis 93

Abb. 6: Domenico Tiepolo, Beweinung unter dem Kreuz (Via Crucis, 13. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

Abb. 7: Domenico Tiepolo, Grablegung (Via Crucis, 14. Station), 1747 – 49, Venedig, San Polo.

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Abb. 8: Giambattista Tiepolo, Kreuztragung, um 1740 Venedig, Sant’Alvise.

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The Structure of Polyphonic Psalm in some Italian Treatises 95

The Structure of the Polyphonic Psalm in some Italian Treatises of the Sixteenth and Seventeenth Century Marta Marullo

In the treatises of the 16th and 17th centuries we do not find any rules for setting polyphonic forms; music theory of the time does not seem concerned with musical genres. Only a short manual published in 1588, Ragionamento di musica, by the theorist and musician, Pietro Ponzio, makes some references to rules on musical forms. This treatise was designed as an introduction to the study of music. The title page reads: del modo di far Motetti, Messe, Salmi, et altre compositioni; et d’alcuni avertimenti per il contrapuntista, et compositore, et altre cose pertinenti alla Musica. Ponzio’s musical production is to be read within the context of the Counter Reformation, and consists exclusively of sacred compositions, including masses, motets, psalms, hymns and lamentations. As a theorist Ponzio holds a very interesting position. His theoretical wri­ tings enjoyed notable consideration among his contemporaries. He is mentioned, along with other well-known musicians and counterpointists, in the theoretical works of Valerio Bona, Costanzo Antegnati and Scipione Cerreto. Ponzio is also mentioned alongside Matteo da Asola among the distinguished composers of choral music in El Melopeo of Pedro Cerone. In the last section of this treatise, Quarto et ultimo Ragionamento, the author offers some rules of counterpoint for composers and considers the correct ‘way of singing’. The theorist continues to mention the structures and styles of some genres, including a polyphonic psalm “Resta hora mostrarvi il modo, o lo stile, che vogliamo dire, per far un Mottetto; over una Messa; et altre composizioni”: […] passerò a dirvi delli Salmi […]. Volendo dico far Salmi (lasciando fuora il cantico di Maria Vergine, cioè il Magnificat, et il Benedictus, et il Nunc dimittis) non farà caso, se ben lasciate la imitazione del Salmo di tutte le parti, per essere il versetto breve; perché imitando il canto fermo con tutte le parti sarebbe il verso longo; il che non conviene nelli Salmi; ma bene si potrà fare la imitatione con due parti, o almeno con una; acciò si veda essere stato osservato la imitatione del Tuono. E quando anco principiassero tutte le parti insieme; questo non sarebbe biasimato. Conviene ancora osservare di far la medietà del versetto con la cadenza propria della medietà del Tuono, acciò sia conosciuta detta medietà del verso. Etiando si deve osservare, che siano esplicate, et intese le parole di modo che vadano quasi insieme pronunciate, come se fosse un canto dalli pratici chiamato Falso Bordon, il che si vede esser stato fatto da Adriano, da Iachetto, et da altri; et ciò si fa perché siano dalli ascoltati le parole intese. L’ultimo versetto del Salmo, se vi piacerà, potresti fare con più dotto stile degli altri a cinque voci con un canone. Hora avete inteso il modo, o lo stile, che vogliamo dire, di far Salmi; et se pur farete qualche inventione per entro quelli versetti, vuole essere breve, et questa brevità si può intendere in due modi; prima, che sia breve in effetto fatta con poche figure, secondo che le parti cominciano l’una dopo l’altra per pausa di Semibreve, over di Breve, e non di più; et

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questo per far il versetto breve, et ancora per non cadere nel stile del Motetto, et anco, perché così ricerca il Salmo.1

From a poetic perspective, the verse-by-verse structure of the psalm can immediately be set into polyphonic form, since each verse is to be conceived as a section in itself, with precise rules of composition. Regarding psalm composition the first essential element which Ponzio prescribes is ‘brevity’: each polyphonic section, corresponding to a single verse, must be short and characterized by chordal or imitative writing. Imitation may be used both at the beginning of the polyphonic verse and at the end of the composition, idest, the doxology Gloria Patri. However, the imitative style should be limited and should not be extended to all the voices. This is for two reasons: on the one hand the verse would be too long and would not function in the liturgical sense; on the other hand, it could be confused with the generally more elaborate Motet. [...] quale sempre si fa solenne, et perciò conviene esser fatto con più dotto stile; et osservare, che tutte le parti facciano la imitatione del canto Plano, over altro soggetto, né importa, se bene una parte comincia doppo l’altra per uno, due, tre, et quattro tempi di Breve, pur che li principi siano fatti per imitazione.2

If imitation involves all the voices of the psalm, it must be restricted to very short passages. Furthermore, the entrances of different voices should be separated by a value of at least a brevis, if not semibrevis. The second rule for composing a polyphonic psalm is respecting the bipartition – medietà – of the verse and the tuono (or psalm-tone). The polyphonic verse should be divided into two sections. The cadence of their median psalm-tone has to be clearly perceived, that is to say, the typical note of the tone which corresponds to the median-cadence has to be used in the polyphonic verse. The three main elements of the psalm-tone (intonation or initium, reciting tone or tenor, final cadence or differentia) should form the melodic and harmonic foundation of psalms, the polyphonic Magnificat, and the psalm settings as a whole. Ponzio also declares that the liturgical text must be clear. He suggests focussing on the homophonic development, in the falsobordone style and avoiding the use of syncopated figures, which are not appropriate for the psalm composition or for the structure of the mass and the Magnificat. Avertendovi nondimeno, che non vi si pongano di quelle Minime sincopate, né di quelli mezi sospiri, che in vero tal sorti di figure non sono appropriate né a Messe, né a Salmi, né si poco a Magnificat.3 1 Pietro Ponzio, Ragionamento di musica, Erasmo Viotto, Parma 1588, edited by Susanne Clerex, (= Documenta Musicologica), Kassel-Basel 1959, pp. 156 – 157; James Armstrong, “How to compose a Psalm: Ponzio and Cerone compared” in: Studi Musicali VII, 1978, pp. 102 – 139; Anthony F. Carver, “The Psalms of Willaert and His North Italian Contemporaries”, in: Analecta Musicologica XII, 1973, pp. 271 – 283. 2 Ponzio, Ragionamento (as n. 1), p. 157. 3 Ibid., p. 158.

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Ponzio describes the structure of a verse-by-verse psalm (salmi a versi) – in which the polyphonic sections are identified with individual verses – suitable for a four or five-voice setting. Then he distinguishes three psalmic categories, according to the table of the edition of the Psalm-Vespers (Mantua) by Willaert and Jaquet, in which the psalms are organized as follows [Example 1]4: • • •

Salmi a versi con le sue risposte contain polyphonic settings for all the verses; two choirs sing in alternation, verse by verse; Salmi senza risposte quali sono nel primo choro e Salmi senza risposte quali sono nel secondo choro (in which only the odd-numbered verses are treated polyphonically and are called senza risposte), the intervening verses (and opening intonation) are sung in plainchant; Salmi spezzadi comprises works written for two four-part choirs in continuous polychoral dialogue, without caesura between verses.

‘Unanswered’ psalms (senza risposte) require alternation of plainchant and polyphony. Indeed, the execution of a psalm is not generally entirely polyphonic. A Vespers collection could include different intonations or psalms which had to serve throughout the year. Therefore it was possible to have double intonations for greater solemnities, i.e. double vespers (First and Second Vespers), as seen in rules for organists.

Example 1: Di Adriano et di Jachet. I Salmi appartenenti alli Vesperi, Parte a versi et parte spezzadi Accomodati da Cantare a uno et a duoi Chori…, Venezia, Antonio Gardano, 1550, table. 4 Adriano Willaert, “Psalmes Vesperales”, in: Opera Omnia VIII, ed. Hermann Zenk and Walter Gerstenberg, (= Corpus Mensurabilis Musicae 3), Rome 1972, p. XVI.

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In the Ottava Conclusione (Conclusione Dilucidata De li Vespri, tra l’organo, et Canto fermo in alternativa) of the Conclusioni nel suono dell’organo (1609), Banchieri refers to both the First and Second Vespers, outlining the execution of alternatim between organ and voice. In tutte le solennità principali, titolo della Chiesa, o festa particolare secondo le consuetudini degli luoghi, suonasi l’Organo a gli primi Vespri [...] quivi deve sapere l’Organista […] che all’uscire l’Hebdomodario di Sagristia suoni in ripieno, sin tanto ch’egli sia per imponere il Deus in adiutorium meum intende. Dopo gli Salmi suonasi secondo parerà all’Organista, allora che finito sarà il versetto sicut erat, etc. All’Hinno si suona alternativamente, avertendo che il primo verso deve essere cantato in Choro, et similmente l’ultimo cioè il Deo Patri, overo Gloria tibi Domine, insomma al Choro tocca il primo, et ultimo verso, et quando l’Hinno negli versi fosse di numero impari, in tal caso il Choro canterà due versetti seguenti penultimo, et ultimo. Del Magnificat tocca il primo e ultimo verso al choro ogni volta però, che nell’Organo non s’alternasse con voci in Musica, et dopo il detto cantico suonasi una francese overo mottetto come più piace. Al Benedicamus Domino una riempitura brevemente; ne li secondi vespri solenni suonasi come ne gli primi. Nelle Domeniche dell’Advento, et Quadragesima si suona a gli Vespri, così intesi [...] nel Duomo di Siena, Fiorenza, Pistoia, Pisa, Lucca, et altri luoghi, atteso che il cerimoniale intende solo nelle Messe, facendo di quelle mentione particolare, è però consuetudine non suonare Organo a gli Vespri nella Domenica di Pasqua et in Palme. In tutte le Domeniche dell’anno (eccetto le solenni; Trinità overo in quelle dove si faccia il vespro di qualche Santo) suonasi al Capitolo, nelle eccettuate suonasi dopo il Dixit con gl’altri salmi appresso. In tutte le altre festività dell’anno si suona dopo il Dixit come di sopra. Chi vuole in pratica le terminazioni degl’Inni, sapere le antifone, et tuoni degli Magnificat et quanto occorri ne gli vespri di tutto l’anno, legga l’Organo suonarino […].5 La notte del santissimo Natale al mattutino suonasi l’Organo, et ciò in tal maniera mentre l’Hebdomadario esce apparato di sacrestia sino al Deus in adiutorium.6

When the hebdomadary left the sacristy, the organist played ‘in ripieno’ until the early liturgical hour with the verse Deus in adiutorium and again played after the five psalms after the doxology. During the Hymn, the organ alternated with the choir, who sang both the first and the last verse. The same practice was used in the performance of the Magnificat, except when there was an alternation between organ and choir; the organist in this case could perform a ‘French’ or a ‘motet’ after the Cantico. In the other Sundays of the liturgical year the organ played the Chapter, while on the anniversary of the Trinity, in the Vespers of the Saints and in the other festivities of the year the organ intervened after the Dixit. Banchieri says that double intonation of Vespers was expected for major festivities in the liturgical year: the organ played in alternatim with the choir in the first and second Vespers, except on Palm Sunday and Easter. Willaert’s collection (1550) also contains examples of different polyphonic psalms in odd verses (unanswered in the first choir) and even verses (unanswered in the second choir). In order to correspond liturgically and musically, these verses required use of the Gregorian chant. This practice shows only one of the many possibilities of the alternatim, an ancient 5 Adriano Banchieri, L’Organo suonarino, publ. Ricciardo Amadino, Bologna 1605, anastatic edition (= Bibliotheca Musica Bononiensis 31), Bologna 1978, p. 44. 6 Adriano Banchieri, Conclusioni nel suono dell’organo, publ. Giovanni Rossi, Bologna 1609, anastatic edition (= Bibliotheca Musica Bononiensis 24), Bologna 1968, pp. 20 – 21.

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liturgical technique officially sanctioned in 1600 with the publication of Caerimoniale Episcoporum, promulgated with the Papal bull Cum Novissime by Pope Clement VIII. In the second half of the sixteenth century, the practice of publishing vespers at two different times, or divided into complementary collections, was also widespread. For example, in a given year, a collection of evening psalm with music for four voices in odd verses would be printed. The following year, a new psalm-collection with music in even verses under the same title was published. The two collections could be used either independently or in complementary fashion. In other words, they were used separately for a specific liturgical function or combined in polyphonic version. If the two collections are used separately, the psalms are treated as ‘unanswered’ psalms, therefore in alternatim with the Gregorian chant or the organ, whereas the second collection is used to complete the first, producing the ‘polyphonic’ performance of individual sections or whole Psalms with answers. The structure of a polyphonic psalm ‘with answers’ is therefore fully polyphonic, and by its nature allows different executions. Let‘s take for example Psalm 109, Dixit Dominus, from the collection of Willaert, which is mentioned by Jacquet of Mantua and Morales in Ponzio’s treatise (Example 2). This is a psalm with answers, in which each verse receives a four-voice polyphonic setting, where each verse is individually separated from the previous and subsequent verse. Each section (verse) is a small piece in itself and never includes eight-part writing as such. There is a contrast between the first chorus, featuring verses from odd places in polyphony by Jacquet of Mantua, and a second chorus with verses like the ones composed by Willaert. The composition proposes two different ways: first a ‘psalm verse with answers’ (entirely polyphonic), second a ‘psalm without answers’, using Jacquet’s polyphonic part (as odd-numbered verses to alternate with the Gregorian chant). In the second, polyphony still runs through Willaert’s verses which alternate with plainchant. As they are not truly polychoral, the psalm verses in the responses may also be sung by one choir. The psalm-tone is the basic element of the verse which gives continuity to the logic used in the composition and structure of the psalm as a whole. Sometimes the psalm-tone appears as Gregorian layer, sometimes it is constructed in polyphonic writing. The Psalm uses the VII (seventh) psalm-tone with the tenor to d, the mediatio (or median cadence) to e and differentia (or final cadence) that ends in a. In the first verse (Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis) written by Jacquet of Mantua, the composer has followed Ponzio’s teaching: the section is built on the basic elements of the plainchant, and respects verse brevity. The tenor voice is treated in long-values, according to the cantus firmus tradition, and contains almost literal quotes from the second part (tenor or reciting-tone and differentia) of the seventh psalm-tone (d, d, e, d, c, h, a, h, c). In the second verse the caesura of the first hemistich (Donec ponam inimicos tuos) coincides with the tone of the mediana; it is not used as the key note but as a supplement to the chord (or third of the chord). The tenor uses the intonation formula (c – h – c – d) of the seventh tone (bars 10 – 11), and the melodic structure of the median cadence (f – e – d – e) is cited and processed at the same time (d – e – f – e – d – e [bars 13 – 15]).

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Example 2: Dixit Dominus Ps. 109 of Jacquet da Mantova and Adriano Willaert, in: Willaert, Psalmes Vesperales, p. 3 (as n. 1)..

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Willaert uses a different treatment for the high voices (Cantus, Altus) and for the low voices (tenor, bassus), Jacquet uses an imitative writing and is more uniform among the various parts. In the third verse, the cantus firmus is rhythmically integrated with the other parts. This is a reworking and a quotation of the psalm tone. The bipartition does not necessarily correspond to the division suggested by the text, which varies according to the liturgical sources of the period. Also in the fourth verse (of Willaert) the tenor uses the cantus firmus. The cadence should coincide with the median caesura on Tuae, but the cantus avoids the cadence and the bipartition markes sanctorum; despite the protractio of the cantus, the cadential element is clearly emphasized. The two choirs of the Jacquet-Willaert Dixit do not stem from a contrasting polychoral style. Each verse is clearly defined and the final doxology does not require unification of the choirs. According to Ponzio, in the first hemistich of the Gloria Patri (Jacquet) a fifth voice is added in canon with the Tenor (l’ultimo versetto del Salmo, se vi piacerà, potresti fare con più dotto stile de gli altri a cinque voci con un canone). In the second hemistich we find four voices again, but the canonic treatment of the Cantus and the Tenor (Canon in diapente) remains (Example 3). Once again, the doxology may be treated differently. One of the most common technics is an increasing number of parts, or the unification of the choirs. Willaert’s collection contains eleven psalms which are not entirely polyphonic (whole psalms without responses). For example, psalm 129 De Profundis is clearly a psalm verse-byverse without answers, and only the odd verses of the second choir are composed by Jacquet. To execute the psalm it is necessary to alternate the odd verses with the Gregorian chant or organ for the even-numbered verses. The overriding logic is preserved by the fourth psalm tone, of which the final note of the differentia (e) is evident in the Cantus, and in the cadence of the second hemistich of the first verse. It is also used as part of the final Tenor in the third verse (Example 4). With ‘psalms with answers’, the polyphonic setting is never complete because there is a limited use of the Gregorian chant. Normal execution of a sixteenth-century psalm generally employs alternation between psalm verses and psalm tones. However, another kind of execution is possible, in which real polyphony is intertwined with a simple polyphonic technique that could also be improvised: the falsobordone. This is testified in the Secondo registro of Banchieri’s Organo Suonarino (1605), in which he introduces psalm tones – le intonazioni et finali che serviranno a salmi et Magnificat Vespertini – and refers to the use of intonation in falsobordone recitation: “i quali serviranno a diverse solennità per alternativa al Choro et in questo soggetto otto falsi bordoni, in occorrenza d’altri salmi che alternar si volessero”.7 Banchieri also adds eight formulas of falsobordone to psalmody (otto falsi bordoni sopra gli otto tuoni sotto la guida del Basso). In sixteenth-century Italy, the falsobordone appears to be a form of ‘pseudo-polyphony’, consisting of the choral recitation of the psalm on one chord,

7 Banchieri, L’Organo Suonarino (as n. 5), p. 44.

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Example 3: Jacquet-Willaert, Dixit Dominus Ps.109, Gloria Patri verse, in: Willaert, Psalmes Vesperales, p. 5 (as n. 4).

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Example 4: Jacquet, De Profundis Ps.129, in: Willaert, Psalmes Vesperales, p. 85 (as n. 4).

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with a cadence mid-verse and the end of the verse. This characteristic makes the falsobordone a suitable technique to sing psalm-tones.8 If we observe the structure of an eight-voice psalm (a double-choir) it no longer makes sense to talk about sections or different sections corresponding to polyphonic verses. The psalm-setting structure is maintained in verses: these are assigned to two semi-choirs (the first choir has the odd-numbered, the second choir the even-numbered verses), which follow each another to suggest a polychoral dialogue. The second choir normally enters at the cadence of the first choir, as shown in Vicentino’s fourth book L’antica musica ridotta alla moderna prattica:9 Ordine di comporre a due chori Psalmi e dialoghi, et altre fantasie. Cap. XXVIIII Nelle chiese, et in altri luoghi spatiosi et larghi, la musica composta a quattro voci fa poco sentire, ancora che siano molti Cantanti per parte, nondimeno et per varietà, et per necessità di far grande intonatione in tali luoghi, si potrà comporre Messe, Psalmi, et Dialoghi, et altre cose da sonare con vari stromenti, mescolati con voci;[…] Et il Compositore prima avvertirà, et eleggerà il tono che vorrà fare sopra le parole, et poi comporrà et osserverà il tono, ovvero il modo della compositione fatta sopra il canto fermo, o di sua fantasia, o con fuga, o senza; et quando il primo choro darà principio, si farà che l’intonatione delle prime voci siano buone da intonare, cioè o per unisono, o per quarta, o per quinta, o per ottava, o per decima, o per duodecima, o per quintadecima: et quando s’avrà cantato, et che si vorrà pausare, et dar fine alla prima clausula del primo choro, si farà ch’il secondo choro piglierà sopra la metà dell’ultima nota, del choro primo antedetto, o per unisono, o per ottava de tutte le parti.

In the twenty-ninth chapter, Ordine di Comporre a due Chori Psalmi, e Dialoghi et altre fantasie, Vicentino considers the construction of polychoral psalms. In particular, he focuses on the relationship between the intervals and the voices. The first rule is observing the cantus firmus. Furthermore, the parts must have good intonation, proceed in harmony and at distance of a unison, a fourth, a fifth, an octave or at compound intervals. The second choir enters on the cadence of the first in unison or an octave higher or lower, for example, the tenor voice of the second choir is in unison with the tenor of the first, and the alto of the first is in unison with the alto of the second choir. However, the soprano voice can be voce mutata and start a third or a fifth below the soprano of the first choir. Finally, the lower voices will be in unison or an octave lower. In sections with more choirs, the Basses should be tuned so that it does not appear to be related to the fourth: that the interval should not be a ‘fifth below’ because the Bass in the choir will inevitably be higher compared with that of the fourth below. The only relations allowed between the Bass voices is at an octave and then at a major third. Furthermore it cannot be longer than a minima value because it is too weak (‘debole’) to support many voices:

8 Ignazio Macchiarella, Il falsobordone fra tradizione orale e tradizione scritta (= Alia Musica 2), Lucca 1995; Murrary C. Bradshaw, The Falsobordone. A Study in Renaissance and Baroque Music, (= Musicological studies & Documents 34), Neuhausen and Stuttgart 1978; Wolfgang Krebs, Die lateinische Evangelien-Motette des 16. Jahrhunderts, Tutzing 1995. 9 Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna pratica, publ. Antonio Barrè, Rome 1555, anastatic edition by Edward E. Lowinsky, Kassel and Basel 1959, cap. XXVIII, c. 85.

The Structure of Polyphonic Psalm in some Italian Treatises 105 […] e quando il Primo choro darà principio, si farà che l’intonazione delle prime voci siano buone da intonare, cioè o per unisono, o per quarta o per quinta o per ottava o per decima o per duodecima o per quintade…si farà ch’il secondo choro piglierà sopra la metà dell’ultima nota del choro primo, o per unisono, o per ottava de tutte le parti in esempio come sarebbe ch’il Tenore, e il Contralto per unisono con l’altro Contralto; et il Soprano a voce mutata, che verrà come un Contralto, pigliasse o per unisono o per consonanza di terza o di quinta di sotto a detto Soprano; et il Basso pigliasi o per Unisono de l’altro Basso o per Ottava come meglio gli verrà più comodo e quando un choro non piglierà la voce da l’altro choro o per unisono o per ottava non sarà fallace; et questa presa di voce dev’ esser sempre sopra la metà dell’ultima nota che sarà appresso un sospiro o una pausa et a più pause acciò che la voce intonata sia per guida sicura a l’altra che avrà da intonare et mantenere il modo. Et il secondo choro per varietà si comporrà il Soprano, che sarà a voce mutata e l’altro a voce piena […]. Et s’avvertirà quando si vorrà far cantare due o tre chori in un tempo si farà che i Bassi di ambedue o di tutti tre i chori s’accordino, et non si farà mai quinta sotto in un basso con l’altro, quando tutti a un tratto canteranno, perché l’altro coro avrà la quarta di sopra e discorderà con tutte le sue parti perché quelli non sentiranno la quinta sotto, s’il choro sarà alquanto discosto da l’altro choro; e se si vorrà far accordare tutti i Bassi, s’accorderanno sempre in unisono, o in ottava, et qualche volta in terza Maggiore, ma non si riposerà più di un tempo di minima, perché detta terza Maggiore sarà debole a sostentare tante voci e a questo modo le parti non discorderanno et i chori potranno cantar ancor separati uno de l’altro che accorderanno nell’ordine sopra detto.

A psalm which employs the double choir is called a ‘choro spezzado’ or ‘psalm without verses’. This is not because there are no verses, but because a musical section does not correspond to a single verse.10 The expression salmi spezzadi or choro spezzato is interpreted correctly from the Italian ‘to break up a chant’ (spezzare una cantilena), meaning to add rest points to the vocal parts of a composition. In the case of a spezzado psalm, different hemistichs or verses are divided into two choirs by means of inserting breaks in the notation of the various part-books (Ex­ample 5). Ponzio does not write about the ‘spezzado’ psalm. Not even the two editions of Istitutioni harmoniche (1558, Venezia, Pietro da Fino; Venezia, 1573, Francesco de’ Franceschi Senese), written by Zarlino, mention psalm composition technique. This is something to think about, given that Istitutioni harmoniche represented a landmark in the history of music theory. The Istituzioni harmoniche still marked a major step towards the foundation of modern harmonic theory. Further, it is a valuable testimony of the late-Renaissance composition conception. In Chapter XV of the second edition (the fourth and final part), Altra divisione de i Modi; et di quello, che si hà da osservare in ciascuno, nel comporre le cantilene; et in qual maniera le Otto sorti di Salmodie con essi s’accompagnino, Zarlino explains the two ways of singing, Varii e Stabili as follows: “[…] ne sono alcuni, sotto i quali si cantano i Salmi di David Et li Cantici evangelici; che si chiamano Salmodie […] Et alcuni sotto i quali si cantano le Antifone, Responsorij, Introiti, Graduali, & simili altre cose. Questi si possono chiamare Modi varij […]”.11 10 Giovanni D’Alessi, “Precursors of Adrian Willaert in the Practice of Coro Spezzato”, in: Journal of the American Musicological Society V (3), 1952, pp. 187 – 296. 11 Gioseffo Zarlino, Istituzioni Harmoniche, publ. Francesco Senese, Venice 1561, anastatic edition (1561), critical introduction by Iain Fenlon and Paolo Da Col, ed. Paolo Da Col, (= Bibliotheca Musica Bononiensis 22), Bologna 1999, pp. 315 – 316.

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Introducing the first triplet from Canto XXXIII of the Purgatory’s Divine Comedy Deus venerunt gentes, alternando / Hor tre hor quattro dolce salmodia ..., he continues by saying that the intonation of the psalms is based on the eight psalm-tones: […] tutti i Salmi con i suoi Versi di qual si voglia Salmodia sotto un Tenore, o modulatione determinata, senz’alcuna mutatione, et non è lecito variar cotal Tenore; essendo che ne seguirebbe confusione […] […] Otto adunque sono le Salmodie, overo Intonationi, che usano comunemente gli Ecclesiastici (com’è manifesto) ne i loro Divini officij […].

He refers to the practice of performing psalms according to the different types of liturgical chants (feast days and weekdays): Salmodie Festive et Feriali. According to Zarlino, there is not much difference between the recitation of feast day and weekday liturgical functions. Only the Magnificat can be changed, as it receives more solemn intonation, respecting the psalm tone.

Example 5: Di Adriano et di Jachet. I Salmi appartenenti alli Vesperi, Parte a versi et parte spezzadi Accomodati da Cantare a uno et a duoi Chori…Venezia, Antonio Gardano, 1550, Laudate pueri Dominum, tenor-part, in: Willaert, Psalmes Vesperales, c. XVII.

Other references to the genre of psalms are found in Chapter LXVI [66] – Alcuni avertimenti intorno le Compositioni, che si fanno a più di Tre voci – where the author describes the practice of singing the psalm in ‘choro spezzato’ as used in Venice in the Vespers and in certain feast days. These psalms are divided into two or more choirs and the intonation varies between alternate verses. In some passages, the choirs sing together, especially at the end. This effect is

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highly appropriate to this type of composition. Since the choirs are physically distant during their performance, the composer will treat the combined choirs as though they comprise four parts only in total (the author describes these choirs as ‘consonant’). Finally he cites Willaert as an illustrious master of the technique of composition: Accaderà alle volte di comporre alcuni Salmi in una maniera, che si chiama a Choro spezzato, i quali spesse volte si sogliono cantare in Vinegia nelli vesperi, et altre hore delle feste solenni; et sono ordinati, et divisi in due Chori, over in tre, ne i quali cantano Quattro voci; et li Chori si cantano hora uno, hora l’altro a vicenda; et alcune volte (secondo il proposito) tutti insieme; massimamente nel fine: il che sta molto bene. Et perché cotali Chori si pongono alquanto lontani l’un dall’altro; però avvertirà il Compositore (acciò non si odi dissonanza in alcuno di loro tra le parti) di fare in tal maniera la composizione; che ogni Choro sia consonante; cioè che le parti di un Choro siano ordinate in tal modo, quanto fussero composte a Quattro voci semplici, senza considerare gli altri Chori; avendo però riguardo nel porre le parti, che tra loro insiememente accordino, et non vi sia alcuna dissonanza: perciocché composti li Chori in cotal maniera, ciascuno da per sé si potrà cantare separato, che non si udirà cosa alcuna, che offendi l’udito. Questo avvertimento non è da sprezzare: perciocché è di grande commodo; et fu ritrovato dall’Eccellentissimo Adriano. Et benché si rendi alquanto difficile, non si debba però schivare la fatica: perciocché è cosa molto lodevole et virtuosa, et tal difficoltà si farà alquanto più facile, quando si avrà esaminato le dotte composizioni di esso Adriano; come sono quelli Salmi, Confitebor tibi domine in toto corde meo in consilio iustorum, Laudate pueri Dominum, Lauda Ierusalem dominum, De profundis, Memento Domine David, et molti altri; tra i quali è il Cantico della Beata Vergine, Magnificat anima mea Dominum, il quale composi gia molti anni a tre Chori. Queste composizioni vedute, et esaminate, saranno il gran giovamento a tutti coloro, che si diletteranno di comporre in tal maniera: Conciosa che ritroverà. Che li Bassi de i chori si pongono tra loro sempre Unisoni, overo ottava; ancora che alcuna volte ponghino in Terza: ma non si pongono in Quinta: perciocché torna molto incommodo; et oltra la difficoltà che nasce, è impossibile di far cosa, che torni bene, secondo il proposito. Et questa osservanza viene ad essere molto commodo alli Compositori: perciocché lieva a loro la difficoltà di far cantare le parti delli Chori, che tra loro non si ritrova dissonanza.

The theorist also gives news of some of his music for three choirs, composed when he was choirmaster at S. Marco, and outlines some writing techniques: • • • •

The Basses of the choirs must be distant from each other at intervals of a unison or an octave or sometimes a third, but never of a fifth (to avoid dissonance between the choral ensembles). The fifth is permitted when the Bass is above the Tenor part. In the case of a two-choir composition, the Bass parts are identical so that they are more audible and the psalm has greater harmonic foundation. Zarlino’s final rule concerns the conclusion of compositions, which must respect the accidenti based on which the chant is composed, that is to say Tempo, Modo, et la Prolatione.

Other theorists put emphasis on the eight-psalm tones and differentiae without mentioning the psalm form. As we go through the Seventeeth century, we find references to psalmody within the more general context of polychoral music. In order to continue Ponzio’s detailed discussion, we have to look to El Melopeo Tractado de Musica Theorica Y Pratica by Pietro

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Cerone, twenty-two books of music theory printed in 1613 that bring together all known material up to that time.12 Cerone wished to produce a more comprehensive theoretical guide that would fill the knowledge gaps of music teachers of the day. With regard to psalmic composition, Cerone develops considerations stated previously by Ponzio and Zarlino. We have to consider that, at the time of Cerone’s treatise, in Spain psalms were sung exclusively in plainchant or in falsobordone, as stated in Chapter XIV of El Melopeo – La manera que se ha de tener para componer los Psalmos: “en estos Reynos de España, no es uso el cantar los Salmos en Musica, si no a Fabordones”. Cerone also mentions the structure of polyphonic psalms, recalling some of Ponzio’s rules, for example, his suggestion to avoid the imitative style for chanting verses because they would be too long and not functional liturgically. According to Cerone, imitation should be limited to one or two parts in order for the psalm tone to be easily recognizable: se puede hazer la Imitacion con dos ò alomenos con una parte, a fin que mas facilmente se conosca el Tono: y si començaren todas las partes juntamente, tampoco serà de biasmar semejante principio [...] hazer la mediacion del Verso del Canto de Organo, con la Clausula de la mediazione del C.[anto]llano.13

Like Ponzio, Cerone states that both the brevity and the bipartition (medietà) of the psalm tone have to be observed. The liturgical text should always be clearly audible: “[…] se deve observar que la Musica sea tal, que no offusque las palabras; las quales han de ser muy explicadas y claras [...]”. The main points regarding polyphonic psalmody, reported by Ponzio and Cerone treatises, can be summarized as follows: the art of composition must comply with the brevity, simplicity and clarity of the liturgical text; the psalm tone must appear in each verse of the psalm, either in a single part or in imitative counterpoint between two voices, because the imitation of tone in all the voices would make it too long; the first half of the verse must coincide with the median of every psalm-tone; the final verse may be characterized by a more elaborate style (for example by adding a voice in canon with the other parts). With regard to polychoral compositions, Cerone seems to take up Zarlino’s discussion when he describes the way of singing a dialogo or in cori spezzati, a typically Venetian practice. In Cerone’s view, the spezzate compositions are generally scored for two choirs, but also for three, four or more choirs. Each choir usually comprises four voices, but can also be characterized by three or five parts. The vocal parts are common voices; only in exceptional circumstances there will be a choir of equal and puerili voices. The first choir is characterized by artful, cheerful and contrapuntal writing, and the text is sung with much grace and force. The second choir is simpler in style, and the third choir is rather austere. The first choir sings ‘in organo’ with four voices; the second choir is characterized by a concertato style that employs several instruments, which can accompany either 12 Armstrong, “How to compose a Psalm” (as. n. 1), pp. 102 – 139. 13 Pietro Cerone, El MelopeoTractado de Musica Theorica Y Pratica, publ. Giovanni Battista Sottile, Naples 1613, anastatic edition, 2 vols., Bologna 1969, p. 689.

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each voice or only the tenor and the bass; and the third choir, the foundation of the entire composition, consists of many singers, four or more for each part, and can be accompanied by instruments. The more pieno (or ‘richer’) it is, the more perfect the choir will be. A similar reflection is found in the preface to Viadana’s collection of Psalms from 1612, the year prior to the publication of Cerone’s work.14 Cerone continues his description of the choirs singing in dialogue, sometimes alternating, sometimes joined together. Like Zarlino, Cerone says that polychoral compositions must be well structured and consonant (‘Regolate’) as if they were composed for four voices, so that the different choral ensembles, located at a distance from one another, do not produce a dissonant effect. The additional choirs are simply a ripieno to the main choir. The low voices are at a distance of a unison or of one octave, sometimes of a third or of a fifth interval. This is to avoid ‘dissonance’ or confusion. Cerone states that a melody in one of the main choir parts can also be sung by the voices of other choirs, a very popular practice among Neapolitan musicians. In order to understand the points of contact between two theorists, we show some expressions (words) on the music à cori spezzati contained in both treatises. Cerone’s theories partially appear in the Fourth Book (Chapter VII) of Della pratica vocale e strumentale (published in Naples in 1601) by Scipione Cerreto. However, Cerreto also suggests that in polychoral compositions imperfect consonances (major thirds and sixths) should be used in the high rather than in the low voices. He also recommends not setting the choral Basses a fifth apart because this would create a fourth distance with the other vocal parts. Unlike Zarlino, he suggests that the Bass voices should not proceed entirely in unison: Ben vero, che a questo deve bene avvertire il Compositore, che quando componerà una Cantilena a due, a tre, et a quattro Chori, o a quanti si voglia Chori, di osservare, e ponere le Consonanze imperfette maggiori nelle parti acute, e sopr’acute, perché quelle fanno più effetto, che non quando sono poste nelle parti gravi, anzi, fare che in detti componimenti le parti delli Bassi non vadano tutti all’Unisono, maggiormente quelli a due Chori. Ne anche usare le Quinte tra li Bassi, quando li Chori cantano distanti, perché fanno le Quarte con l’altre parti.15

Cerreto’s rules on how to distance the Bass voices are developed further by Silverio Picerli in his Specchio secondo di Musica (1631). Picerli suggests how to score the Bass voices in compositions for two or more choirs in order to avoid an interval of a fifth between the first and second low-octave range. For this reason Picerli suggests avoiding fifth relationships between the Bass voices by scoring them in unison or in octaves. He adds that the interval of a major 14 Federico Mompellio, Lodovico Viadana musicista fra due secoli, Florence 1967, pp. 78 – 79; Lodovico Viadana, Salmi a quattro Chori, publ. Giacomo Vincenti, Venice 1612, ed. Gerhard Wielakker, (= Recent Researches in the Music of the Baroque Era 86) Madison 1998; Michael Praetorius, Syntagma musicum, vol. III, Termini musici, Wolfenbüttel 1619, ed. Wilibald Gurlitt (= Documenta Musicologia. Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles XV), Kassel 1963, p. 5. 15 Scipione Cerreto, Della pratica vocale e strumentale, publ. Giovanni Giacomo Carlino, Naples 1601, p. 312; Scipione Cerreto, Dell’Albore Musicale, publ. Giovanni Battista Sottile, Naples 1608, facsimile of Padre Martini’s Unicum, ed. Francesco Luisi, LIM, Lucca 1989, pp. 14 – 15.

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third between the basses, created by using long values such as the minima and the semibreve, generates a greater harmonic effect in polychoral works. Meanwhile, using the fifth may only be effective in dialogue composition, that is, in alternating choirs (spezzati): Volendo far cantare doi, o più chori insieme, s’usarà diligenza in accomodar bene li Bassi, non facendo una quinta tra un Basso, e l’altro, et un’ottava co’l terzo, perché stando essi lontani l’uno dall’altro, si sentirebbe troppo quella quarta, ch’è tra i doi Bassi, con poca sodisfatione dell’uditori. E non facendovisi né anco la quinta, riuscirebbe meglio, fugendosi in tal modo la detta quarta, con un Basso; Ma si faranno, o accorderanno tutti in unisoni, over’ottave, facendovi alle volte una terza maggiore con una minima, o semibreve, al più, che in tal modo si potranno sentire da vicino, e da lontano; e facendosi con la quinta, e quarta sudette, si permette solo, stando da vicino, cantandos’in dialogo, o in altro modo, che le faccia sentire.16

Picerli also states that the second choir has to enter the second part of the first choir’s cadence and be in unison or a third apart. Similarly, the Bass of the second choir has to be in unison or in octave with the first-choir Bass, and the Tenor, Alto and Cantus (second choir) in unison with the corresponding voices of the first choir. Cantus and Alto parts may change, or they can exchange roles, Canto intonerà a ‘voce mutata’ e l’Alto a ‘voce piena’: Dandosi principio al primo choro, le voci devon esser buone, e dar principio alle parti del secondo choro per unisono, o per terza, etc. Facendo pausa, o fine il primo choro, il secondo deve cominciare nella seconda parte dell’ultima nota del primo per unisono, o per terza, etc. Si come il Basso del secondo choro in unisono over ottava col Basso del primo, il Tenore, Alto e Canto del secondo in unisono col Tenore, Alto e Canto del primo; overo mutando, o scambiando voce ad alcune parti, massime al Canto, et Alto, facendo il Canto a voce mutata, e l’Alto a voce piena, servendo per Canto in buona occasione.

Picerli reiterates the principle, already stated by Cerreto, of using imperfect consonances (major thirds and sixths) in acute parts: Servendosi nelle parti acute delle consonanze imperfette maggiori, farà miglior effetto, che servendosene nelle parti gravi, o servendosi delle consonanze imperfette minori. Dopo le dette consonanze imperfette maggiori nelle parti superiori sempre regolarmente s’ascende massime a due voci, e dopo le minori si discende, e nelle parti inferiori, dopo le maggiori si discende e dopo le minori s’ascende benché non sia universalmente o più voci osservabile, nascendone molti inconvenienti, come di mutar le specie del tono, e tutto il tono stesso nel quale si compone, di non poter osservar le fughe del Canto fermo, o d’altro soggetto, e d’altre cose simili, di non poca importanza.17

In seventeenth-century musical treatises, reflections on polychorality start to become less fragmented than those of the sixteenth century. However, they still do not mention specific aspects of the psalm genre. They contain only hints on psalm tones or descriptions of compositions with spezzadi choirs, with continued reference to Willaert’s spezzadi psalms. Broadly speaking seventeenth-century treatises give us information on psalm structure with 16 Silverio Picerli, Specchio Secondo di Musica, publ. Matteo Nucci, Naples 1631, anastatic edition by Ottavio Beretta (= Musurgiana 8/9), LIM, Lucca 2008, p. 188. 17 Ibid., p. 188.

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spezzati and polychoral choirs and contain only general descriptions on the poetics of music, how to compose polychoral songs, and the rules of counterpoint. Interesting information on polychoral practice is offered by Marco Scacchi in a letter to Christoph Werner, presumably written in 1648, and in the Breve discorso sopra la musica moderna of 1649, in which the theorist briefly mentions psalmic intonation. Scacchi begins his discussion with the verses of Psalm 98 Cantate Dominum Canticum Novum, stating the importance of always singing new songs during religious services. In his letter to Werner, Scacchi refers to polychoral music in his discussion of the classification of music, which falls into three basic categories: church, chamber and theatre. The church style is divided into four categories, in which the first three concern the polychoral repertoire. The first category includes masses, motets and chants for four, five, six and eight voices without organ. The second contains chants with more voices with the addition of the organ, and the third includes the Concertato genre: Ecclesiasticus in quatuor iterum stylus dividitur. Primusque comprehendit Missas, Motetta, et similes cantilenas 4.5.6.8. vocum, abusque Organo. Secundus easdem Cantilenas, adiuncto Organo, ita, ut plures etiam chori pleni possint constitui. Tertius similes Cantilenas in concerto. Quartus demum Motetta iuxta usum modernum.18

Scacchi presents the rules for polychoral compositions as derived from performing practice. He also admits that in polychoral compositions some exceptions are allowed to the rigid rules of counterpoint used for masses, psalms and motets for four and five voices. The higher the number of entrance openings, the greater the compositional freedom. According to Scacchi, the composer must pay particular attention to choir entrances. When one choir ends, the next has to enter on the key note (median or every final cadence) of the first choir. If there is not a break or clear difference between the choirs and when they join together, the choirs have to take up the most sonorous note of the previous section. The responses between the choirs must be well balanced and avoid excessive length, which would result in tedious composition. Also to be avoided are modulations that are too rapid, especially when the choirs are distant from one another. The correct way to modulate is by following the meaning of the liturgical text. Choirs must be balanced, and even for a concert, the parts must be arranged so that the ripieno choirs are not obscured by the voices that make up the ‘concert’ choir. This was something already stated by Cerone and by Viadana in the preface to his Psalms for four choirs (1612). Scacchi claims that all polychoral compositions are governed by the same principles of counterpoint used in the composition of Masses for four, five, six and eight-voice, and for four, five and six-voice Psalms and Motets. The only difference is that, although structured in accordance with the principles of the Prima Prattica, in polychoral music there is greater compositional freedom. 18 Eric Katz, Die musikalischen Stilbegriffe des XVII. Jahrhunderts, Diss., Freiburg im Breisgau 1926, pp.  83 – 85; Marco Scacchi, Breve discorso sopra la musica moderna, Pietro Elert, Warsaw 1648, in: Polemics on the ‘Musica Moderna’ Agostino Agazzari La Musica Ecclesiastica Marco Scacchi Breve Discorso sopra la Musica Moderna, Engl. transl. by Tim Carter, (= Pratica di musica 1), Cracow 1993, p. 44.

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Unlike Scacchi, Lorenzo Penna, in his work, Li primi albori musicali (1694), highlights the differences between writing compositions for five, six, and seven voices and polychoral compositions. With regard to the first type of composition (up to seven voices), Penna gives four main rules: the first concerns the fifth part of a choral composition, which may avoid imitation of the subject, but has to be harmonically consistent with the other voices. The second, again, concerns treatment of the fifth part if there is a new subject, Fuga proposta, it is appropriate to use double counterpoint. The third rule regulates the Cantus and Bass voices, which, being more exposed to the listener, must have a full melodic line to highlight the other parts. Finally, the fourth rule is closely related to the third, as it states that the fifth, sixth and seventh parts must not obscure the four main voices: Libro secondo, cap. 11 Del contrappunto a 5, a 6, et a 7 Questi contrappunti maggiormente hanno bisogno di studio, per poter applicar a suoi loghi tante Regole, e guardasi dalli due unisoni, due quinte, due ottave, et altre cose, che obligano il Contrapuntista a schivare; ma però sono molto armoniose, l’armonia dei quali nasce dalla varietà di tante voci, quali rendono la musica vagamente gustosa, e gustosamente vaga. Alle predette cinque parti, o sei, o sette, che siano, vi si danno li seguenti nomi, cioè Canto primo, Canto secondo, Alto, Tenore primo, Tenore, secondo, Basso primo, e Basso secondo; overo Canto, Alto, Tenore, Quinto,e Basso, Sesto, e Settimo. Le sue regole sono le seguenti. Prima regola – È tollerato, l’entrar il Quinto senza imitatione del soggetto, o Fuga proposta, bastando, che questa quinta parte empia d’armonia la Composizione, ma di raro si facci; e chiaro Esempio. Seconda regola – Farà però meglio il Quinto se entrarà con nuova fuga, o soggetto, quasi inventando le parti a nuovo modo di cantare; e poi intrecciandoli ambedue, andarà scherzando, che così renderà molto maestosa la Composizione, e questo modo di comporre è proprio contrapunto doppio. Terza regola – Se bene sempre, e tutte le parti dovrebbero ben cantare, tuttavia in questi Contrappunti a cinque, a sei, et a molte voci, non potendosi con tutte, almeno le parti più estreme, cioè il Canto, et il Basso hanno da osservarlo, come parti, che più si spiccano, e più l’udito feriscono, non occorre esempio. Quarta regola – In questi contrappunti s’adoprino la quinta, sesta, e settima parte meno delle altre, dovendo queste ceder la priminenza alle quattro prime, come parti principali; Non fa bisogno di Esempio. Facciamo ora passaggio al contrappunto a otto, e a tre, o più Chori.19

Penna claims that it is possible to compose with less compliance with the rules, and some infringements of counterpoint rules can be tolerated: “essendo Regola generale, che a quante meno voci si opera, più Regole vi vanno”. According to the other theorist, Penna, to make a polychoral composition more harmonious, le duplicate e triplicate, or compound ranges beyond the octave (tenth, eleventh, twelfth, thirteenth, fifteenth) should be used in addition to the consonanze principali (main consonances).20 Following these generic observations, Penna outlines counterpoint rules for two-choir compositions. First he suggests respect for psalm-tone, the cadences and the composition mode. The composer should begin composing from the first choir, followed by the second, 19 Lorenzo Penna, Li primi albori per li principianti della musica figurata, publ. Giacomo Monti, Bologna 1684, anastatic edition, Bologna 1996, p. 96. 20 Francesco Piovesana, Misure Harmoniche Regolate, publ. Gardano, Venice 1627, p. 14.

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which enters on the first choir’s cadence, with each part at a unison interval with the first choir. The best way to alternate the two choirs is to start from the second choir’s Bass part, which will be in an octave relationship with the first choir’s Bass; similarly, the other voices will maintain the same relationship with the first-choir voices (Example 6):

Example 6: Penna, “Li primi albori per li principianti...” (as n. 19), p. 96.

When writing for three choirs, the second and third choirs have to enter on the first choir’s cadence or Legatura: Del contrapunto a Due, Tre, e Quattro Chori. Capitolo duodecimo Mentre si voglia Comporre a più Chori, et a Chori Reali, (che così hanno da essere, e facendo altrimenti, è un ingannar il prossimo vi si ricerca grande applicazione, se bene poi quanto al rigore delle dette Regole, si calerà qualche inosservanza, massime nelle parti di mezzo, come più volte ho detto. Ecco le regole proprie del Contrappunto Prima regola – Che si stia sulle Corde, e Cadenze del suo Tuono, come si è detto delli altri Contrapunti, ben è vero, che qualche volta si può uscir fuori di quello, ma di poco, e dopo ritornar nel Tuono. Più avanti si vedranno li tuoni, sue corde, e Cadenze. Seconda regola – Per ordinario si deve principiare la Composizione dal primo Choro, e si deve farlo cantar assai più del secondo choro, operando, che le quattro parti principino in unissono delle altre quattro parti, cioè il Canto del secondo choro in unissono con canto del primo Choro, l’Alto del secondo in unissono con l’Alto del primo Choro; e così il Tenore, e Basso del secondo Choro in unissono con il Tenore, e Basso del primo Choro; ma molto meglio è operare nel modo seguente, cioè pigliando il Basso del secondo Choro in ottava del Basso del primo Choro, in Canto del secondo Choro in ottava del tenore del primo Choro, l’Alto del secondo Choro in terza coll’Alto del primo Choro, et il tenore del secondo Choro in ottava del Canto del primo Choro; in tal modo riuscirà armoniosa l’entrata d’un Choro con la finale dell’altro Choro, per la varietà di tante consonanze. Cavi da se il studioso l’Esempio, perché ad esso lo rimetto. Quarta regola – Che quando li due Chori Cantano insieme, sta bene, che li due Bassi si vadino scambievolmente aggiustando ora insieme in unissono, et ora in ottava. Quinta regola – che a tre Chori dovrebbe similmente, o il Secondo Choro, o il terzo incominciar nelle Note finali, o nella Legatura (che sarebbe miglior effetto) della Cadenza del primo Choro, e così a vicenda entrar un Choro nella finale, o Legatura dell’altro; Trovi da se lo scolaro l’Esempio. Sesta regola – Che Cantando tutti li tre Chori insieme, et due delli trè Bassi scambievolmente accordandosi hor in unissono, hor in ottava, come ho detto nella regola quarta antecedente, sarà bene, che il Basso, quale entra di mezo fra loro, faci hor terza, hor quinta con Basso inferiore, ma adoperi più la Quinta, che la Terza secondo l’Esempio. Fondato nell’antedato Esempio di due Bassi nella quarta Regola.

When the three choirs join together, they must proceed in unison or at an octave, and the second choir will be at a third or fifth-interval relationship with the first Bass.

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Example 7: Penna, “Li primi albori per li principianti...” (as n. 19), p. 96.

In composing for four choirs, the fourth choir’s Bass will always be in the relationship of a third or a fifth with the first Bass; if the third Bass is in unison with the first, the fourth Bass will be in unison with both: Settima regola – che operando a quattro Chori, il quarto Basso facci terza, o Quinta con il Basso inferiore differenziandosi però dal Terzo Basso: molti però fan caminare (esempio II) il Terzo Basso di unisono con il Primo Basso, et il Quarto basso di unisono con Basso inferiore: come li sotto qui esempij. E basta intorno alli Contrapunti à otto voci, o a più Chori, Perché in alcuni luoghi delli già finora dati Contrapunti, si è fatto memori di contrapunto doppio, stimo bene intraprendere ora il discorrere. Veramente il Comporre a contrapunto Doppio, non e mestiero da principianti, tutta via, già che mi son lasciato trasportare tanto avanti, avendo dato le Regole di comporre sino a 4. chori, non sarà se non bene inoltrarmi anche, a dar fuori le Regole di questi, e lasciarò dire, chi vuole.

Example 8a+b: Penna, “Li primi albori per li principianti...” (as n. 19), p. 97, 98.

The Structure of Polyphonic Psalm in some Italian Treatises 115

Angelo Berardi’s Arcani Musicali (1690) suggests how to compose music for several choirs. Once again, we read that the choirs have to be in relation to each other. Modulation has to be smooth, especially when the choirs are distant from one another. The entrance points must be clearly articulated, so that the listener can recognize them:21 1. Che sulla corda dove termina un Choro, l’altro cominci, levatene però qualche punto fermo dell’orazione dove poi tutti li Chori ripigliano con la modulazione sopra una corda inaspettata, la quale, usata con giudicio fa un ottimo effetto. 2. Che le risposte dei Chori abbiano relazione e corrispondenza l’uno con l’altro. 3. Non ci si attardi troppo nella proposizione dei chori, affinché non sia tediosa la risposta. 4. Che la modulazione non sia troppo veloce, particolarmente se i chori sono molto distanti l’uno dall’altro. 5. Che ogni choro abbia la sua parte fondamentale. 6. Intendere bene come devono camminare i Bassi. 7. Che se ogni cantilena è composta dall’artefice per la musica piena, deve sfuggir d’esser troppo vuoto. 8. Che se la cantilena è concertata, si deve tessere in tal maniera e maestria, che il pieno non superi il piano del concerto, ma cammini per la strada di mezzo. 9. Quando la cantilena è a 4, 5, 6, 7 e più chori, guardarsi da non far modulare una voce sola, eccetto nella proposizione del soggetto, perché lascia l’udito troppo vuoto dopo che si sia sentito un corpo musicale così pieno e potente. 10. Far sentire tutte le risposte dei chori realmente, il che si deve osservare principalmente la prima volta che cominciano a modulare, e questo si deve fare con ordine, dal primo all’ultimo, affinché gl’uditori ascoltino distintamente come l’artefice ha ordinato tutti i chori. Nel mezzo si può variare a beneplacito. 11. Nelle composizioni a più chori si deve osservare che il principio corrisponda al mezzo e al fine in quanto allo stile ed ogni altra cosa. Volendo alterare la battuta, per ragione di buona regola, si deve fare modulare una cadenza generale, con dar prima il segno generale a tutti i chori, i quali si devono mantenere spiritosi e reali nelle risposte. Nelle fughe basterà che le parti acute ed inferiori modulino realmente la medesima fuga e le parti di mezzo le accennino appena, ovvero l’una con l’altra si rispondano per contrappunto doppio. 12. Le parti devono stare nelle loro corde, i bassi non devono cantare come Tenori e viceversa. È vero però che a volte il basso debba scavalcare il Tenore per non incontrarsi con gli altri bassi. Bisogna comunque riflettere sulla possibile disposizione dei chori nelle chiese, al fine di usare figure e risposte più o meno rapide, avvertendo che i chori siano sempre vivi e che abbiano tutte le loro consonanze. Le cantilene a cappella devono essere, allusi del Palestrina, candide e osservate nei precetti della prima prattica ch’ Armonia sit domina orationis.

Ottavio Pitoni offers us a fascinating point of view on polychoral composition in his Guida Armonica. This treatise, although conceived as a didactic work, is indeed a vast compendium on stylistic theory based on examples taken from works spanning the 15th to 17th centuries.22

21 Angelo Berardi, Arcani Musicali, publ. Giacomo Monti, Bologna 1690, pp. 23 – 24; Angelo Berardi, Miscellanea Musicale, publ. Giacomo Monti, Bologna 1689, anastatic edition, Bologna 1970, pp. 41 – 42. 22 Ottavio Pitoni, Guida Armonica, facsimile of Padre Martini’s Unicum, Rome (1690?), ed. Francesco Luisi, (= Musurgiana 16), LIM, Lucca 1990.

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The most interesting passages are those dedicated to the ‘fourth style’, which allows a freer counterpoint depending on the number of the voices involved, the accompaniment, and the distance between the choirs: Della prattica di quarta classe da farsi necessariamente (in stile grosso ecclesiastico) s’intendeva di quelli passi o movimenti fatti con l’accompagnamento o d’organo o di altri strumenti, quali […] sono alcuni praticati, et alcuni non praticati da gl’antichi compositori massimamente quelli a moltissime voci quali devono caminare con alcune regole molto differenti dalle antiche. Della prattica di quarta classe da farsi volontariamente s’intenderà di quelli passi o movimenti moderni d’organo o modernissimi fatti con l’accompagnamento d’organo o d’altri instromenti, quali movimenti non sono sotto alcuna legge, ma ‘sine lege vagantur’ o con titolo di modo cantabile o di modo sonabile o di supposti o di apoggiamenti, di fioretti o di buongusto o di molti altri titoli che vogliano i compositori moderni.23

In the second chapter, concerning the organisation of the parts, Pitoni describes a practice frequently used in Rome for polychoral music, called ‘della mula’. In the latter, the Cantus and Bassus voices proceed in unison, preferably on long values, while the main composition thread emerges from the other voices: Giovan Vincenti a 17 Voci nel Amen della Gloria della Messa di S. Gaetano. Questo passo si chiama Canto Fermo, volgarmente Mula, come si è detto al Movimento 4. nell’esempio num. 2 quale è fatto nelle parti di mezzo, cioè nelli Contralti, ma il suo proprio è nelli soprani, o nelli bassi perché nelle estreme voci si sente meglio.24

This technique was already employed at the end of the16th century when several choirs were arranged at a distance and the organ was not available. In these conditions, the unison Basses provided a solid foundation for the other voices. When the organ was used to support the voices, la Mula technique underwent some changes, for example it could also involve the highest voice and sometimes alto and tenor voices:25 Si avverte che nelli tempi passati è stato pratticato molto tempo nelle composizioni a più cori che li bassi camminassero per lo più in unisono per potersi reggere ogni choro da se quando erano separati senza accompagnamento d’organo [per esempio Abbondio Antonelli, Ruggero Giovannelli, Virgilio Maz­zoc­ chi]. Ma perché poi in progresso di tempo fu principiato ad essere accompagnate le composizioni con l’organo si è diffusa la prattica in altro modo. Si avverte anco che li compositori si servono di questo movimento…quando vogliono fare che un soggetto sia bene inteso per lo più nelli finali dove all’unisono o soprani o contralti o tenori o bassi a 23 Siegfried Gmeinwieser, “Aspetti dello stile policorale nelle opere di Giuseppe O. Pitoni e di Girolamo Chiti”, in: “La Scuola Policorale Romana dei Sei-Settecento”, in: Atti del Convegno Internazionale di studi in memoria di Laurence Feininger (Trento, Castello del Buonconsiglio 4 – 5 ottobre 1996), ed. Francesco Luisi, Danilo Curti and Marco Gozzi, Trento 1997, pp. 119 – 128; Sergio Durante, “La Guida armonica di Giuseppe Ottavio Pitoni. Un documento sugli stili in uso a Roma al tempo di Corelli”, in: Nuovissimi studi corelliani, Atti del Terzo Congresso Internazionale (Fusignano 4 – 7 settembre 1980), ed. Sergio Durante and Pier Luigi Petrobelli, Florence 1982, pp. 285 – 328. 24 Pitoni, Guida Armonica (as. n. 23), Libro I, cap. II, p. 23. 25 Ottavio Pitoni, Dixit Dominus II, XVI vocibus concinendus, anno 1685 compositus, ed. Laurence Feininger (= Monumenta liturgiae polychoralis S.E.R., Psalmodia cum quatuor choris 6), Trento 1960, pp. 1, 26 – 32.

The Structure of Polyphonic Psalm in some Italian Treatises 117 loro arbitrio facendo da questi sostenere le note con valore, qual sorte di composizione di chiama volgarmente di tenere la Mula della quale inventione, benché se ne veda nelle composizioni antiche qualche barlume nella parte di tenore, nulla di meno questa inventione fu cominciata a pratticarlo dal Rinaldo del Mel fiammingo come più volte ho inteso dire da Francesco Foggia mio maestro e ampliata da altri da quali fu Oratio Benevoli.26

Concerning two-choir psalm settings, Pitoni discusses voice doubling. He cites an excerpt from Asola’s Magnificat for 12 voices, in which the second choir’s Bass doubles the first choir’s Bass. The two Basses proceed in parallel motion for most of the composition, with the exception of the cadence, in which they run in contrary motion. It seems that Pitoni is referring to a physical separation of the choirs, which would imply a stereophonic effect: Giovanni Matteo Asola a dodici voci nel Magnificat I. Tono nel fine, Questo passo si concede ancora dalla 8 voci nel Secondo, e nel Quarto stile tra i bassi, acciò il fondamento di un Choro, non sia diverso dall’altro, per regger più bene tutta l’armonia, che è proprio di tal passo, massime quando li Chori siano separati, e ciò non si pratica a meno di 8 voci in detti Stili, e questa pratica si comincia ad inventare da Adriano Willaert, e fu ampliata da Gioseppe Zarlino, conforme agli dice nella par. 3 al cap. 66 fol. 346. Instit. Arm.27

As we have seen in sixteenth-century treatises, the polychoral phenomenon is discussed in fragmentary manner. On the contrary, seventeenth-century treatises provide nu­ merous chapters on polychoral composition. In particular, technical compositional elements for more choirs are treated from Cerreto and Picerli onwards. Scacchi and his student, Berardi, are perhaps the most authentic sources on Roman theoretical tradition, represented thereafter by the likes of Liberati, Penna and Tevo, up to Pitoni’s Guida armonica.28 The latter is considered fundamentally important to the study of polychoral music to this day.

26 Gmeinwieser, Aspetti dello stile policorale (as n. 24), p. 123. 27 Pitoni, Guida Armonica (as n. 23), Libro I, cap. II, p. 23. 28 Rainer Heyink, Al decoro della Chiesa, & à lode del Signore Iddio. I Vespri Concertati nella Roma del Seicento (= Progetti di ricerca bibliografico-musicale, IBIMUS IV), Rome 1999, pp. 261 – 313; Wolf­gang Witzemann, “Otto tesi per la policoralità”, in: La Policoralità in Italia nei secoli XVI e XVII, Testi della Giornata internazionale di Studi (Messina, 27 dicembre, 1980), ed. Giuseppe Donato, Rome 1987, pp. 5 – 9; Noel O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome 1575 – 1621, Ph.D. Dissertation, St. Catherine’s College, 2 vols., Oxford 1988; Noel O’Regan, “Early Roman Music: Origins and Distinctiveness”, in: La Scuola Policorale Romana dei Sei-Settecento, Atti del Convegno Internazionale di studi in memoria di Laurence Feininger (Trento, Castello del Buonconsiglio 4 – 5 ottobre 1996), ed. Francesco Luisi, Danilo Curti and Marco Gozzi, Trento 1997, pp. 43 – 64.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music Jeffrey Kurtzman

I The 150 psalms of the Vulgate are cast in a limited set of typical poetic structures. Many are written in couplets-pairs of lines that function together syntactically. Many psalms, however, group some of their lines in units of three. Whatever the original organization of lines of texts, Gregorian chant, in the form of psalm tones, has always treated the texts as a series of individual verses, with each verse further subdivided into two hemistiches. From a musical point of view, therefore, psalm settings in plainchant have a musical structure of paired phrases related to the syntactical organization of the text. The plainchant settings of the Magnificat, Nunc dimittis and Benedictus Dominus Deus canticles all follow the same pattern. The imposition of the verse and hemistich structure on more flexible texts in their plainchant settings also dictated the structural foundation of polyphonic psalm and canticle compositions once polyphony began to be applied to these texts in the fifteenth century. Early polyphonic settings of psalms and Magnificats were sometimes based on the psalm and Magnificat tones as cantus firmi, but often not. Nevertheless, whether rooted in the cantus firmus or freely composed, from the beginning of polyphonic psalm and canticle settings (which were often subsumed under the genre of psalms), they exhibited an inherent structure based on the individual verses of the text. The text verse served as the primary organizational principle behind psalm settings throughout the seventeenth and early eighteenth centuries as well. However, many other modes of construction were superimposed on the underlying verse structure, beginning with the subdivision of verses already in the second half of the sixteenth century. Such subdivisions were normally associated with double-choir settings where the exchanges between choirs might take place not only from one verse to the next, but within a verse, whether according to the hemistich, or even smaller textual units. In large settings for eight or more voices, antiphonal exchanges or overlapping of partial verses of text increased in frequency as the century approached its end. With the advent of the basso continuo, of few-voiced textures, and of monody at the end of the sixteenth century, psalm settings were still organized principally by their verse structure. Despite the proliferation of new compositional methods in this period and into the early seventeenth century, structure and style remained the principal interests of composers in psalm composition, and there was relatively little effort to interpret the semantic meaning and rhetorical inflections of individual words or phrases of the text in the musical setting, as was the rage in secular music. By this time, the psalm and canticle tones themselves had largely disappeared as organizing devices.

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The proliferation of stylistic and technical approaches to psalm composition after the turn of the century exhibits remarkable variety. In this paper, it will be necessary to limit the discussion to a few examples of various methods composers employed in constructing largescale psalms other than simply articulating the verse structure of the text. The first published collection of Office music to exhibit several profoundly new ways of thinking about psalm structures is Monteverdi’s Vespro della Beata Vergine of 1610, about which I’ve written extensively elsewhere and therefore won’t pursue here.1 Both the 1610 Vespers and Monteverdi’s Venetian Vesper psalms form a treasure trove of diverse and very sophisticated approaches to the organization of a psalm as well as to the interpretation in music of its text. After 1610, Monteverdi’s example led to increasingly interesting and imaginative ways of composing psalms. From the 1620s and beyond, we can see three major structural directions in psalm settings, sometimes all found in the same psalm. One of these is an interest in abstract organizational schemes, often wholly unrelated to the semantics of the text. Another is an emphasis on vocal and instrumental sonority, especially in the form of contrasts from one verse to the next, often loosely termed the concertato style. The third is a focus on the meaning of the text itself, inspired in part by Monteverdi’s example of 1610. However, despite typical madrigalistic interpretations of individual words or phrases of various psalms after the appearance of Monteverdi’s print, emphasis on textual interpretation and musical metaphors of the text is still far less frequent in seventeenth-century psalms than in motets, which adhere in this regard more closely to secular models. When the text does come to the forefront, it may well be in the form of a structural refrain reiterating the initial exordium of the psalm at various points throughout its setting. Toward the end of the century there is a fourth structural direction that takes its point of departure from the possibilities of a fully established functional tonal system. The tonal system allows for larger organizational units held together by modulations to related keys. These larger units constitute a series of separate movements in which each movement, distinct in its musical character, can encompass several verses of text, following more closely the larger units of thought or meaning in a psalm rather than individual verses. The ways in which these structural emphases are pursued throughout the century is astonishing in its diversity. While psalm settings in conservative style follow fairly simple, traditional structural patterns based principally on the successive verses or hemistiches of the text, concertato settings open the door to the limitless imagination of composers. Indeed, the perusal of some hundred concertato psalm settings from throughout the century highlights the marvelous variety inherent in this as yet largely unexplored repertoire. Here I’ll present only a few examples, chosen because they each combine a number of features found either separately or in different combinations in many other psalm settings. Numerous fascinating approaches to sound, text and structure will, of necessity, have to be passed over.

1 My most extensive discussion of the topic is in Jeffrey Kurtzman, The Monteverdi Vespers of 1610: Vespers, Context, Performance, Oxford 1999. See also my critical/performing edition, Claudio Monteverdi: Vespro della Beata Vergine, Oxford 1999.

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II I’ll begin with sonority, focusing on the role of the ripieno; sonority as represented by in­ stru­ments will make its appearance from time to time in my discussion of all four structural directions. From early in the second decade right to the end of the seventeenth century, ripieno choirs became a prominent feature of many concertato settings. Through vocal and instrumental doubling, the ripieni could be multiplied several times over to generate massive sonorities for as many as eight choirs, as Viadana explains in the preface to his Salmi a quattro chori of 1612.2 Ripieni could also be used to organize a psalm along repetitive patterns of sound, thereby combining the interest in sonority with structural considerations, and could even be used to underscore certain portions of the text with their typical homophony. Some ripieni are for voices only, others for instruments only, and many for both voices and instruments. Such uses of the ripieno may be seen in Ignazio Donati’s Dixit Dominus from his Salmi boscarecci of 16233 (text in Appendix A). In this psalm the ripieno fulfills a number of different functions, more so than the ripieni in most psalm collections. The ripieno is in six parts for both voices and specified instruments and is often joined by the concertato choir itself. In the very first verse, in which the psalm tone appears as a long-note cantus firmus in the concertato Canto voice, the ripieno interrupts the psalm tone in the first hemistich (see Example 1) and then echoes the text of the first hemistich (see Example 2). The second hemistich shifts the cantus firmus to the bass voice accompanied by pairs of voices in imitation (see Example 3), to be echoed again by the ripieno (see Example 4). How­ever, in the second verse, the ripieno itself introduces the text (see Example 4; bar 22). For the second hemistich of this verse, the text is assigned to the concertato choir in imi­ tations, accompanied by an instrumental ripieno only, beginning with three trombones (see Example 5), then adding the three violins (see Example 6), and finally joining the voices to the instruments, generating a dramatic climax to this one verse (see Example 7). 2 SALMI | A QVATTRO | CHORI | Per cantare, e concertare nelle gran Solenni-|tà di tutto l’Anno, con il Basso continuo | per sonar nell’Organo | DI LODOVICO VIADANA | Maestro di Capella nel Domo di Fano. | OPERA XXVII. | Nouamente composta, & data in luce. | CON PRIVILEGIO. | [Printer’s mark] | In Venetia, Appresso Giacomo Vincenti. 1612. For a modern transcription of Viadana’s print see Lodovico Grossi da Viadana, Salmi a quattro chori (= Recent Researches in the Music of the Baroque Era 86), ed. Gerhard Wielakker, Madison 1998. Viadana’s preface may be found in both Wielakker and Federico Mompellio, Lodovico Viadana, Musicista fra due Secoli (XVI – XVII), Florence 1966, pp. 163 – 165. Apart from the English translation in Wielakker, another translation may be found in Jerome Roche, North Italian Church Music in the Age of Monteverdi, Oxford 1984, p. 119. 3 SALMI | BOSCARECCI | CONCERTATI | A Sei Voci, con aggiunta, se piace, di altre sei voci, che | seruono per concerto, & per Ripieno doppio, per can-|tare à più Chori; Con vna Messa similmente concer-|tata, & con il Ripieno, d’un’altra simile à sei, già stam-|pata; & con il Basso principale per sonar nell’Organo. | D’IGNATIO DONATI | Mastro di Capella nella Terra di Casalmaggiore; | L’Auriga nella Academia de Filomeni. | Dedicati Alli Molto Illustri Signori del Consiglio della | medesima Terra. | OPERA NONA. | [CON PRIVILEGIO. | [Printer’s mark] | IN VENETIA, Appresso Alessandro Vincenti. 1623. Example 1 and all other examples from Donati’s Dixit Dominus are taken from Jeffrey Kurtzman (ed.), Vesper and Compline Music for Six and Seven Principal Voices. Part One, in: Seventeenth-Century Italian Sacred Music, 20 vols., gen. ed. Anne Schnoebelen, vol. 17, New York et. al. 2001, pp. 101 – 159.

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The entire third verse is a duet for soprano soloists, but with various imitative solo voices from the ripieno choir (see Example 8). The first hemistich of the fourth verse, as in the second verse, is first presented by the ripieno (see Example 9), which echoes a duet of soloists at the end of the second hemistich (see Example 10). The fifth verse begins with the solo alto and then a solo alto-tenor duet, accompanied throughout the first hemistich by the lower three instruments from the ripieno (see Example 11). The ripieno, in the form of solo voices only, joins the concertato choir in parallel thirds for the second hemistich (see Example 12), and eventually, as the full tutti, echoing the entire second hemistich (see Example 13). The sixth verse follows the opposite procedure from the second hemistich of the second verse. Here the ripieno violins first support the solo and duet of the concertato choir, with trombones entering later (see Example 14). In the seventh verse, the full ripieno completes the first hemistich, followed by the entire second hemistich sounded by the ripieno for the first time in triple meter (see Example 15). The beating of heads at “conquassabit capita” prompts this metric shift and the repeated notes in many of the voices. Rapidly repeated notes, whether in triple or duple meter, are a typical way of setting these words throughout much of the seventeenth century. The eighth verse displays once again the pattern of a trombone ripieno followed by a violin ripieno for the second hemistich (see Example 16). Finally, the doxology opens with a triple-meter ripieno at “Gloria Patri” (see Example 17), but the naming of the “spiritui sancto” is in duple meter, first by a concertato duet, then the full ripieno. The “Sicut erat in principio”, however, rather than repeating music from the beginning of the psalm, as is often the case with the final verse, once again utilizes solo voices in the ripieno moving in parallel thirds or tenths with one or another of the concertato voices, as in the fifth verse (see Example 18). The full ripieno reappears for the final hemistich (see Example 19), followed by just the trombones, then the violins, accompanying the concertato voices (see Example 20), before the psalm ends with the full ensemble. This detailed account of the multiple forms and roles of the ripieno illustrates the sophisticated manner in which an inventive composer could use varieties of sound to structure a psalm. The bi-partite division of each verse still governs the structural subdivisions of the music, but the variety of approaches to the ripieno is deliberately unsystematic to counter the regularity of these subdivisions and avoid predictability. With the exception of the use of triple meter and the tutti at “conquassabit capita” and “Gloria Patri et Filio”, and the duple meter tutti at the words “implebit ruinas”, Donati’s choices as to the form and placement of the ripieno do not show any evidence of having been prompted by the text. Donati’s chief interest is purely the dramatic effect of contrasting sonorities, including the contrast between the ripieno in its varied textures and sonorities and the monodic, duet and trio passages of the concertato choir. This emphasis on contrasting sonorities means that Donati pays only occasional attention to the musical interpretation of individual words of the text. A few have just been mentioned; in addition, the word “confregit” is set to thirds leaping in opposite directions, while descending, tripping motion in a few-voiced texture at “De torrente” serves as an imitation of the babbling brook.

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III Turning now to other forms of repetition, many composers employ ritornelli and other forms of refrain as an organizing principle in their psalm settings. In some cases, repetitive text is both a musically and syntactically organizing force. Many composers actually engage in reorganization of the text of certain psalms, especially Beatus vir, Confitebor tibi, Laudate pueri, Laetatus sum and Lauda Jerusalem, in order to use the opening words or hemistich as a structural refrain. Such refrain forms began to appear in the 1620s. The setting of Laudate pueri from Giovanni Rovetta’s Salmi a tre et quattro voci of 16424 illustrates such a text refrain coupled with other structural repeats in the form of a ritornello (text in Appendix A). The psalm begins with a ritornello for two violins, followed by the first verse for solo tenor accompanied only by the basso continuo (see Example 21). Subsequent verses for one or two voices are either accompanied by the continuo alone or by the continuo and the two violins playing short passages both accompanying the voice or voices and providing brief interludes between the end of one vocal phrase and the beginning of the next (see Example 22). As can be seen in bar 29 of Example 22, the opening hemistich of the text returns as a refrain just before the beginning of the third verse “A solis ortu”. The second hemistich of the opening verse then appears in bar 32 as a continuation of the refrain before the resumption of the third verse (see Example 23). It is notable that the musical setting of the refrain is not quite the same as at the beginning of the psalm – it is related, but varied, especially in its own second hemistich, which is closer to the original setting of the first hemistich than the second. A partial refrain appears again, with yet another melodic shape, repeated with a slight variation, as counterpoint to the fourth verse in bars 45 – 48, a procedure that returns later in this verse, but each time with a varied melodic shape (see Example 24). Finally the ritornello returns between the fourth and fifth verses (see Example 25). Unlike the refrain, the ritornello is repeated exactly. From then on, the refrain is heard no more, not even in the doxology, but the ritornello reappears once more before the “Gloria Patri” and again in the “Sicut erat”, which is introduced by the ritornello’s first phrase, as at the very beginning of the psalm. Portions of the ritornello are then interspersed with the text, and the ritornello’s final four bars conclude the psalm after the final “Amen” of the “Sicut erat”. Rovetta’s use of the refrain is unusual here, not only in its confinement to the first four verses of the psalm, but also because it is never repeated in exactly the same melodic and rhythmic shape, sometimes in even quite different shapes from its initial presentation. It is more common for composers to repeat their text refrains with the same music and to disperse them across the entire psalm, even if only reiterated a few times. Rovetta’s ritornello, 4 SALMI | A TRE, ET QVATTRO VOCI | Aggiontoui vn Laudate pueri A 2. & Laudate Dominum omnes gentes | A voce sola, & nel fine vn Kyrie, Gloria, & Credo pur à tre voci; | Tutto Concertato con doi Violini, ò altri Istromenti Alti | DI GIO: ROVETTA | Vice Maestro di Capella della Serenissima Republica. | OPERA SETTIMA. | CON PRIVILEGIO. | [Printer’s mark] | IN VENETIA, | Apresso Alessandro Vincenti. M D CXXXXII. Example 23 and all other examples from Rovetta’s Laudate pueri are taken from Jeffrey Kurtzman (ed.), Vesper and Compline Music for Two Principal Voices, in: Seventeenth-Century Italian Sacred Music, vol. 12, gen. ed. Anne Schnoebelen, New York et. al. 1997, pp. 45 – 63.

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on the other hand, is symmetrically placed at the beginning and end of the setting, and divides the first four verses from the last four, as well as separating the psalm proper from the doxology. In Rovetta’s Laudate pueri we see a combination of abstract structural organization by means of the ritornello and emphasis on the praise function of the opening verse by means of text repetition as the psalm progresses. The reason for Rovetta dropping the refrain for the last four verses of the psalm proper is apparently syntactical. Whereas verses 1 – 4 are all exhortatory, verses 5 – 8 comprise a long set of interrogative clauses. The doxology, of course, returns to the function of praise. There is, however, no semantic reason that Rovetta should have avoided the refrain in the second half of the psalm and the doxology, where it would have been equally appropriate. The only reason I can postulate is the syntax. Throughout the psalm Rovetta employs quick declamatory notes and dotted rhythms supported by cadential harmony, giving a jaunty character to the entire setting in keeping with its joyous text. But aside from this general characterization of the text, as in many other psalms, Rovetta’s attention to individual words and phrases is occasional and opportunistic. Lengthy melismas appear on words such as “Excelsus” and “Gloria”, with shorter melismas marking numerous repetitions of “laetantem” and “Amen” (see Example 26). The verse “Su­ sci­tans a terra”, as in Monteverdi’s 1610 Vespers, is set in triple meter, though Rovetta doesn’t utilize the ascending sequences with which Monteverdi so forcefully underscored this text. There is another abstract structural factor that must be mentioned in connection with this psalm, and that is the use of motives from the ritornello by the voices in several verses, and the close rhythmic and melodic relationships among many of the vocal and instrumental phrases throughout the setting. Combined with the repetitions of the ritornello and the relationships among the various versions of the textual refrain, these similarities give the entire psalm a strong sense of motivic cohesion. Abstract structural forms come in many different guises; among the most common is the ostinato. Many composers use ostinati of one type or another in one or more verses of a psalm. The Romanesca, Passacaglia, Ciaccona and other ground basses are found frequently, sometimes in modified form. The descending tetrachord is very common, sometimes even in its chromatic configuration, though there is typically no connection between the affect of lamentation with which it is often associated in contemporary opera and the text it supports in a psalm setting.5 The Credidi from Tarquinio Merula’s Il Terzo Libro delli Salmi et Messa Concertati of 16526 is a bit rarer example of an entire psalm built over an ostinato bass (see Example 27). 5 The association of the descending tetrachord with laments was established in Ellen Rosand, “The Descending Tetrachord: An Emblem of Lament”, in: The Musical Quarterly 65 (1979), pp. 346 – 359. 6 IL TERZO LIBRO | DELLI SALMI ET MESSA | CONCERTATI | A TRE ET A QVATRO | Con Istromenti & Senza | DEL CAVALIER MERVLA | Organista, & Maestro di Cappella per la Fabrica | nel Duomo di Cremona. | OPERA XVIII. | DEDICATA | Al molto Illustre & Reuerendissimo Padre, | D. EVANGELISTA | COMMENDVLI | Generale de Monaci di S. Girolamo | CON PRIVILEGIO | [Printer’s mark] | IN VENETIA | Apresso Alessandro Vincenti. MDCLII. Example 29 is taken from Jeffrey Kurtzman (ed.), Vesper and Compline Music for One Principal Voice, in: Seventeenth-Century Italian Sacred Music, vol. 11, gen. ed. Anne Schnoebelen, New York et. al. 1995, pp. 144 – 159.

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The nine-bar ostinato pattern is reiterated six times, then the first six bars are presented twice for the short fourth verse before continuing with ten more repetitions of the full ostinato. All ten verses begin in conjunction with either the beginning of the ostinato or its fifth bar, with short instrumental interludes, ornamentation and text repetition accommodating the different lengths of individual verses of the text. Merula, who was exceptionally interested in abstract formal structures in his psalm compositions, also published ostinato psalms on the chaconne bass, the Romanesca, and a bass drawn from a secular source in his Pegaso Opra Musicale of 1640.7 In two of these, the bass is simply stated once in the Basso continuo part-book with an instruction to repeat it the number of times necessary to complete the composition. The most extreme version of the ostinato is also by Merula. In his Arpa Davidica of 16408, we find a setting of In convertendo with the rubric “Obligo di far questo Salmo sopra à D. la sol re”. Here we have a bass line ostinato consisting of nothing more than alternating tonic and dominant pitches, to be played with a sustained tonic D throughout the entire psalm.

IV Now I turn to a musical structure that is rooted fundamentally in the text. In Chiara Maria Cozzolani’s Salmi a otto voci concertati of 16509 there is a very unusual approach to the reorganization of a psalm text that goes well beyond the repetition of the psalm’s opening and other phrases as a refrain. The setting of Beatus vir in this collection is labeled “in forma di Dialogo.” In this psalm Cozzolani recasts the text as a series of questions and answers between interlocutors (see Appendix B). 7 PEGASO | OPRA MVSICALE | L’VNDECIMA | Oue S’odono Salmi Motetti, Suonate, e Letaniæ della B. V. | A DVE TRE QVATTRO E CINQVE VOCI | DEL CAVALIERE | TARQVINIO MERVLA | LIBRO TERZO | DEDICATO | All’Illustrissimo, e Reuerendiss. Monsig. Vescouo d’Imola | FERDINANDO MILLINI | [Printer’s mark] | IN VENETIA, | Apresso Alessandro Vincenti. MDCXXXX. See Christopher Wilkinson, The Sacred Music of Tarquinio Merula, Ph.D. diss., Rutgers University, 1973, pp. 147 – 148, 244 – 255; Roche, North Italian Church Music (as n. 2), pp. 76 – 77, 103. 8 ARPA DAVIDICA | Con artificiosa inuentione composta, la quale | Da tre, e quattro voci contraputinzata obligata à non più viste maniere | con insolita vaghezza risuona. | SALMI. ET MESSA CONCERTATI | Con alcuni Canoni nel fine | DEL CAVALIER MERVLA | Accademico Filomuso di Bologna, | Mastro di Capella, & Organista nel Duomo. | OPERA DECIMA SESTA | DEDICATA | All’Illustrissimo, e Reuerendissimo Signor | LVIGI GRIMANI | VESCOVO DI BERGAMO CONTE ETC. | CON LICENZA DE’ SVPERIORI, ET PRIVILEGIO. | [Printer’s mark] | IN VENETIA, | Appresso Alessandro Vincenti. MDCXXXX. See Wilkinson, The Sacred Music of Tarquinio Merula (as n. 2), pp. 151, 296 – 297. 9 SALMI | A OTTO VOCI | CONCERTATI | ET DVE MAGNIFICAT A OTTO | Con vn Laudate Pueri A 4. Voci, & doi Violini, & vn Laudate Dominum | omnes gentes A Voce Sola, & doi Violini, | MOTETTI, ET DIALOGHI | A Due, Tre, Quattro, e Cinque voci, | DI DONNA CHIARA MARGARITA | COZZOLANI. | Opera Terza. | DEDICATI | ALL’ILL.MO E REVER.MO | SIG.R PATRONE COL.MO | MONSIGNOR BADOARO | VESCOVO DI CREMA. | CON PRIVILEGIO. | [Printer’s mark] | IN VENETIA, | Appresso Alessandro Vincenti. M DC L.

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Except for omitting occasional words, the entire psalm text is traversed in its proper sequence, but the text also serves as a matrix from which various phrases are extracted and inserted repeatedly in the midst of other verses, as can be seen in the schematic outline of the text in Appendix B utilizing Roman type, italics, and bold type to distinguish among the original psalm verses, the dialogue comprising questions and answers interpolated into the text of the psalm, and refrains and other phrases from the psalm repeated out of their proper order. In the dialogues, the answers are frequently extracts from the verse itself. Cozzolani’s setting of Beatus vir is for two four-voice choirs in the standard registers. Her method of articulating the reorganization of the text is primarily to present the refrains and other text repetitions with all eight voices in homophonic style (see Examples 28 & 29)10. The declarative text from the psalm itself is typically set for three voices, the two sopranos supported by the first-choir alto as the fundament of the trio (see Example 30). As can be seen in Example 30, the questions in the first verse are posed by the tenors, and the answers given either by the high trio or later by the eight-voice refrain. In subsequent verses, and even in the two hemistiches of a single verse, the voice groupings differ. Each time one or more voices present the psalm text, another one or two pose the question, and the first group responds with the answer (see Appendix B). The refrain “Iocundus homo”, which begins in the fifth verse, is repeated in the sixth verse and at the end of the seventh verse in addition (see Appendix B). In the fifth verse, “Iocundus homo” is repeated not only as a triple-time ritornello for one voice (see Example 31) and then four voices (see example 32), but also as a full-sonority refrain in duple time concluding the verse (see Example 29). In the sixth verse, “Iocundus homo” appears in duple meter in just two voices connecting the two hemistiches (see Example 33a & 33b, bars 175 – 176), and then again in its full eight-voice, duple-time format at the end of this verse and the end of the seventh verse. The eighth verse takes the last word of the verse “gloria”, and uses that as the vehicle for reiterating the first hemistich of the third verse in truncated form, “Gloria in domo eius”, before concluding the verse with both the triple-meter “Iocundus homo” and the duple meter “Beatus vir” refrains (see Appendix B, Example 34a & 34b). The final verse of the psalm proper exhibits the most complicated text repetitions of the entire setting (see Appendix B). The “Beatus” refrain returns in only two voices in triple meter (see Example 35), and subsequently the “Iocundus homo” refrain returns, again in only two voices, in triple meter (see Example 36). But after the last word of the verse, “peribit”, Cozzolani reiterates the first hemistich of the sixth verse, “in memoria aeterna erit iustus”, simultaneously with the second hemistich of the fifth verse, in aeternum non commovobitur, thereby joining the two phrases sharing the concept of eternity (see example 37), and finally concludes with an eight-voice refrain on the last three words of the ninth verse, “desiderium peccatorum peribit” (see Appendix B). In comparison with these complications, 10 Examples 28, 29 and all other examples from Chiara Maria Cozzolani’s Beatus vir are taken from Jeffrey Kurtzman (ed.), Vesper and Compline Music for Eight Principal Voices, Part One, in: Seventeenth-Century Italian Sacred Music, vol. 18, gen. ed. Anne Schnoebelen, New York et. al. 2001, pp. 184 – 236. See also Robert L. Kendrick, Celestial Sirens: Nuns and their Music in Early Modern Milan, Oxford 1996, pp. 338, 341 – 346.

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the doxology is relatively simple. The three elements of the Trinity are reiterated after each of the three clauses of the “Sicut erat”, underscoring the eternity of the Trinity. Throughout the psalm, metaphors for individual words and phrases abound, some of them as clever as those invented by any madrigalist of the late sixteenth century. The function and form of a dialogue in ancient philosophy was to instruct by means of the pupil asking questions of the teacher, who responded. The same pedagogical technique was, of course, adopted by theologians in the early Christian era and beyond. In Beatus vir, Cozzolani has, through her interpolations of questions and answers, adapted the psalm text to this same pedagogical role, using the refrains “Beatus vir” and “Iocundus homo” to underline repeatedly how following the tenets of the psalm benefits the individual. Thus the psalm becomes a theological lesson rather than merely fulfilling the liturgical requirement for Vespers.11

V Finally, I want to turn to a psalm setting from the late seventeenth century to illustrate how a fully developed sense of tonality, as well as influences from contemporaneous opera, affect the structure of a psalm. Giovanni Battista Bassani’s Confitebor tibi from his Armonici Entusiasmi di Davide of 169012 is for two voices, two violins and continuo (see Example 38; text in Appendix A). There is nothing remarkable about the psalm beginning with a sinfonia. But the sinfonia, in G major, is an integral part of the first verse, and if we look to the first entrance of the soprano part, we see that it is the same motive as the first few bars of the violino primo. Moreover, this phrase serves as a motto, to be repeated before the text and music continue with the rest of the hemistich (see Example 39). In this example we also see the influence of the operatic motto aria, which we encounter again in this particular psalm setting. The second hemistich, “in consilio justorum”, begins immediately after the G major cadence concluding the first and is much more concise: the bass begins with a motive closely related to the opening of the psalm, joined by the soprano in a brief duet (see Example 40). The duet cadences in the dominant key of D for a repetition of the entire sinfonia and first verse now transposed to the dominant (see Example 41), but with the bass voice taking the solo in the first hemistich. A short extension leads to a cadence in A major and an abbreviated, modified sinfonia returning to D major (see Example 42). But the completion of the 11 Kendrick attributes the dialogue format to the influence of the pastoral genre, which is also evident elsewhere in Cozzolani’s collection, as well as “contemporary ideas of psalmody as a dialogue between the individual and God, associated specifically with nuns.” Ibid., pp. 344, 346. 12 ARMONICI | ENTVSIASMI DI DAVIDE | OVERO | SALMI CONCERTATI A QVATRO | VOCI CON VIOLINI, E SVOI RIPIENI. | Con altri Salmi | A due, e Trè Voci con Violini | CONSECRATI AL MERITO SINGOLARE | Del Molto Illustre Signor | FRANCESCO ZAGATTI | Da Gio: Battista Bassani Maestro di Capella della Cattedrale, | & dell’Illustrissima Accademia della Morte di Ferrara, | & Accademico Filarmonico di Bologna. | OPERA NONA. | [Printer’s mark] | IN VENETIA Da Gioseppe Sala. 1690. Example 38 and all other examples from Giovanni Battista Bassani’s Confitebor tibi are taken from Jeffrey Kutzman (ed.), Vesper and Compline Music for Two Principal Voices, in: Seventeenth-Century Italian Sacred Music, vol. 12, gen. ed. Anne Schnoebelen, New York et. al. 1997, pp. 158 – 211.

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first verse is not the end of this particular setting, for Bassani continues in the same fashion uninterruptedly through another two verses (see Example 43 for the beginning of the second verse). The second verse duet takes us to B minor, (the dominant chord of B is the last chord in the example), then back to G, where the third verse, a similar duet, modulates to a lengthy section in C major before returning to G for the final cadence. Bassani has constructed a large-scale movement based on similar or identical motives in a single meter and tempo by means of a clear-cut tonal plan. Having explored this set of keys, Bassani groups verses 4 – 6 in a tri-partite structure beginning with a virtuosic motto aria for soprano accompanied by the two violins and continuo in the key of E minor (see Example 44). The first hemistich of the fourth verse cadences in the dominant minor, B (see Example 45, bar 261), but the second hemistich concludes back in the original tonic of G major. G major is also the key of the entire fifth verse, which is another motto aria, this time for bass solo and the two violins (see Example 46). Finally, the sixth verse, which is syntactically continuous with the fifth, expands the texture to a duet for the soprano and bass soloists, with the two violins serving as an interlude between the first and second hemistiches (see Example 47). This verse begins in C major, the subdominant, and concludes back in G, but only after engaging in substantial repetition of text and music, with the violins added as both brief interludes and accompaniment, to emphasize the textually significant second hemistich, “operum manum eijus veritas et judicium” (see Example 48). Bassani then sets the seventh verse alone as a lengthy triple-meter motto aria in the key of A minor for soprano solo accompanied by violins over an extended bass pattern that begins as an ostinato, but continues in various modified forms (see Example 49). The first hemistich is repeated in the dominant minor key of E; the second hemistich then begins in B minor and concludes in the key of E major. The eighth and ninth verses comprise relatively brief, separate duets. The tenth verse, however, serves as an introduction to the doxology. All three concluding verses are fully integrated in a continuous, lengthy triple-meter movement marked Presto. The movement begins with an instrumental sinfonia clearly related to the introductory sinfonia of the psalm; Bassani often uses similar motives for his various solo and duet settings throughout the composition, and the “Sicut erat in principio”, especially, is palpably related to the psalm’s first verse. In Bassani’s Confitebor tibi setting, individual verses are no longer the structural basis of the composition. Instead, verses are primarily grouped in units of three, and tonality and modulations to related keys serve as the structural organizing principle in each of these lengthy movements as well as the psalm as a whole. Bassani does not engage in significant tonal or harmonic complications with the single exception of the affective ninth verse: “Sanctum et terribile nomen eius initium sapientiae timor Domini” (see Example 50). In this verse Bassani writes a sequential chord series moving from the initial G major to E minor, B major, F# major, and C# major, each by means of its dominant chord in first inversion, then back again through A to the final cadence on D. This sequence around the circle of fifths, requiring even E#s and B#s, not only powerfully highlights the fear and awe of

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the text, but also the wisdom resulting therefrom by concluding with a final uncomplicated dominant-tonic modulation to D major. Such an extended psalm setting, in which groups of verses are gathered together in large movements, and individual verses also constitute lengthy motto arias and duets, is only possible through the vehicle of a tonal system that permits large-scale repetitions in related keys and variety in shorter term harmonic and tonal progressions with a clear directional purpose. The examples in this article are merely small samples from a repertoire that is enormous, both in its quantity and its variety. It will take many years of study before we have a comprehensive understanding of polyphonic psalmody in the seventeenth century.

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Appendix A Dixit Dominus 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Dixit Dominus Domino meo: Sede a dextris meis. Donec ponam inimicos tuos, scabellum pedum tuorum. Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum. Tecum principium in die virtutis tuae in splendoribus sanctorum: ex utero ante luciferum genui te. Juravit Dominus, et non paenitebit eum: Tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech. Dominus a dextris tuis, confregit in die irae suae reges. Judicabit in nationibus, implebit ruinas: conquassabit capita in terra multorum. De torrente in via bibet: propterea exaltabit caput. Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto. Sicut erat in principio, et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen.

Laudate pueri 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Laudate pueri Dominum: laudate nomen Domini. Sit nomen Domini benedictum, ex hoc nunc, et usque in saeculum. A solis ortu usque ad occasum, laudabile nomen Domini. Excelsus super omnes gentes Dominus, et super caelos gloria ejus. Quis sicut Dominus Deus noster, qui in altis habitat, et humilia respicit in caelo et in terra? Suscitans a terra inopem, et de stercore erigens pauperem: Ut collocet eum cum principibus, cum principibus populi sui. Qui habitare fecit sterilem in domo, matrem filiorum laetantem. Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto. Sicut erat in principio, et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen.

Confitebor tibi 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Confitebor tibi Domine in toto corde meo: in consilio justorum et congregatione. Magna opera domini: exquisita in omnes voluntates ejus. Confessio et magnificentia opus ejus: et justitia ejus manet in saeculum saeculi. Memoriam fecit mirabilium suorum, misericors et miserator Dominus: escam dedit timentibus se. Memor erit in saeculum testamenti sui: virtutem operum suorum annuntiabit populo suo: Ut det illis haereditatem gentium: opera manuum ejus veritas et judicium. Fidelia omnia mandata ejus: confirmata in saeculum saeculi: facta in veritate et aequitate. Redemptionem misit populo suo: mandavit in aeternum testamentum suum. Sanctum et terribile nomen ejus: initium sapientiae timor Domini. Intellectus bonus omnibus facientibus eum: laudatio ejus manet in saeculum saeculi. Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto. Sicut erat in principio, et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen.

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Appendix B Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir in forma di Dialogo (1650) Roman type indicates psalm verses in their original sequence; italics identify the dialogue comprising questions and answers interpolated into the text of the psalm; and bold type identifies refrains and other phrases from the psalm repeated out of their proper order. 1. Beatus vir... Qui beatus vir? qui timet Dominum: Qui timet Dominum, beatus vir? Beatus vir qui timet Dominum: in mandatis eius volet... Volet, in mandatis eius? Volet, volet nimis. Beatus, beatus, beatus vir. 2. Potens in terra erit semen eius: Potens in terra? Erit semen eius? Semen eius in terra, potens erit: generatio rectorum benedicetur. Benedicetur? In terra semen eius benedicetur. Beatus, beatus, beatus vir. 3. Gloria et divitiae in domo eius: Gloria in domo eius? Gloria. Divitiae in domo eius? Divitiae. Gloria et divitiae in domo eius: Et iustitia eius manet... Manet iustitia eius? Manet in saeculum saeculi. In saeculum saeculi? In saeculum saeculi manet. Beatus, beatus, beatus vir. 4. Exortum est in tenebris lumen rectis: Lumen rectis? Exortum est. In tenebris lumen? Exortum est misericors, et miserator, et iustus. 5. Iocundus homo... Beatus, beatus, beatus vir. Qui miseratur? Iocundus homo Et commodat? Iocundus homo disponet sermones suos in iudicio, Iocundus homo quia in aeternum non commovebitur. Non commovebitur? In aeternum. Non commovebitur? In aeternum non commovebitur. Iocundus homo.

132 6.

In memoria aeterna erit iustus: Iustus erit in memoria? Erit in memoria aeterna, Iocundus homo, ab auditione mala non timebit. Non timebit? Non. Ab auditione mala? Non. Non timebit? Non, non timebit, Iocundus homo.

7.

Paratum cor eius sperare in Domino, Paratum cor eius? Paratum. Paratum sperare? Sperare in Domino. confirmatum est cor eius...[“non commovebitur” omitted] Donec? Donec dispiat inimicos suos, Iocundus homo.

8.

Dispersit Dedit pauperibus? Dedit pauperibus divitiae in domo eius. iustitia eius manet in saeculum saeculi: In memoria aeterna erit iustus, cornu eius exaltabitur in gloria. Gloria in domo eius, Iocundus homo. Beatus, beatus, beatus vir.

9.

Peccator videbit et irascetur, Beatus vir qui timet Dominum dentibus suis fremet et tabescet. Iocundus homo qui miseratur, desiderium peccatorum peribit. Peribit? Peribit, in memoria aeterna erit iustus, in aeterna non commovebitur, desiderium peccatorum peribit.

10. Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto. 11. Sicut erat in principio, Gloria Patri et nunc et semper Gloria Filio, et in saecula saeculorum, Gloria Spiritui Sancto. Amen.

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Appendix C: Music Examples Examples 1 – 20: Ignazio Donati, Dixit Dominus, pp. 134 – 153. Examples 21 – 26: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, pp. 154 – 159. Example 27: Tarquinio Merula, Credidi, p. 160. Examples 28 – 37: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, pp. 161 – 172. Examples 38 – 50: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, pp. 173 – 187.

134

Example 1: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 1 – 4.

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Example 2: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 8 – 10.

136 Example 1: Ignazio Donati, Dixit Dominus (as n. 3), m. 1 – 4.

Example 3: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 11 – 13.

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Example 4: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 20 – 22.

138

Example 5: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 26 – 28.

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Example 6: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 29 – 31.

140

Example 7: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 32 – 34.

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Example 8: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 45 – 47.

142

Example 9: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 54 – 57.

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Example 10: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 67 – 69.

144

Example 11: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 73 – 76.

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Example 12: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 86 – 88.

146

Example 13: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 95 – 97.

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Example 14: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 98 – 100.

148

Example 15: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 119 – 121.

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Example 16: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 141 – 143.

150

Example 17: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 150 – 153.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 151

Example 18: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 161 – 163.

152

Example 19: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 167 – 169.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 153

Example 20: Ignazio Donati, Dixit Dominus, m. 173 – 175.

154

Example 21: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 1 – 12.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 155

Example 22: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 23 – 31.

156

Example 23: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 32 – 40.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 157

Example 24: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 41 – 49.

158

Example 25: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 59 – 69.

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Example 26: Giovanni Rovetta, Laudate pueri, m. 148 – 156.

160

Example 27: Tarquinio Merula, Credidi, m. 1 – 13.

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Example 28: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 8 – 13.

162

Example 29: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 157 – 162.

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Example 30: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 1 – 7.

164

Example 31: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 117 – 123.

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Example 32: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 132 – 138.

166

Example 33a: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 169 – 175.

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Example 33b: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 176 – 183.

168

Example 34a: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 255 – 259.

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Example 34b: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 260 – 265.

170

Example 35: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 272 – 279.

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Example 36: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 285 – 291.

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Example 37: Chiara Maria Cozzolani, Beatus vir, m. 298 – 303.

Jeffrey Kurtzman

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Example 38: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 1 – 14.

174

Example 39: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 15 – 29.

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Example 40: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 30 – 44.

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Example 41: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 45 – 59.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 177

Example 42: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 90 – 104.

178

Example 43: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 105 – 134.

Jeffrey Kurtzman

Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 179

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Example 44: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 225 – 234.

Jeffrey Kurtzman

Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 181

Example 45: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 256 – 265.

182

Example 46: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 277 – 287.

Jeffrey Kurtzman

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Example 47: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 308 – 317.

184

Example 48: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 328 – 336.

Jeffrey Kurtzman

Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 185

Example 49: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 337 – 348.

186

Example 50: Giovanni Battista Bassani, Confitebor tibi, m. 502 – 525.

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Polyphonic Psalm Structures in Seventeenth-Century Italian Office Music 187

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 189

Johann Rosenmüllers Nisi Dominus für Solostimme: Beobachtungen zur dramatischen Musiksprache1 Junko Sonoda

Venedig galt als eines der bedeutendsten musikalischen Zentren des siebzehnten Jahrhunderts auch für zahlreiche deutsche protestantische Komponisten als Vorbild. Als einer der vielen, die sich vor Ort mit dem neuen venezianischen Musikstil auseinander setzten, hielt sich Johann Rosenmüller als Komponist mehr als 20 Jahre dort auf, nachdem er 1655 aus Leipzig fliehen musste. Trotz dieses langen Aufenthaltes in der Serenissima weiß man bislang nur relativ wenig über seine dortige musikalische Tätigkeit: Überliefert ist, dass er zuerst an San Marco als Posaunist tätig war und danach am Ospedale S. Maria della Visitazione, gen. la Pietà, als Komponist.2 Seine ca. 65 lateinischen Psalmvertonungen lassen jedoch erkennen, wie sehr er die neuen Erfahrungen adaptierte und vermischte. So versuchte er in seiner Kirchenmusik reiche Mannigfaltigkeit zu realisieren3 – vermutlich entsprechend der musikalischen Kontexte der jeweiligen venezianischen Orte.4 In der hier durchgeführten Untersuchung versuche ich, den möglichen kompositorischen Hintergrund, den Musikstil und die affektuöse Textausdeutung beispielhaft anhand der Psalmvertonung Nisi Dominus für Solostimme zu erörtern, da dieses Werk eine bemerkenswerte dramatische Auswirkung und ungewöhnliche Stilistik zeigt und mutmaßlich angeregt wurde durch besondere musikalische Erfahrungen, die Rosenmüller in Venedig kennenlernen konnte.

Der kompositorische Hintergrund Anders als in Rom kommt der Psalmvertonung Nisi Dominus in Venedig neben Dixit Dominus und Laudate pueri eine größere musikalische Bedeutung zu. Hier in Venedig ist sie vor allem für Marienfeste und Feste von weiblichen Heiligen geschrieben worden und erfreute 1 Frau Prof. Dr. Helen Geyer danke ich für die Unterstützung dieses Aufsatzes in wissenschaftlichen und stilistischen Fragen. Herrn Benedikt Schubert gebührt mein Dank für die sprachliche Korrektur. 2 Außerdem hat Snyder vorgeschlagen, dass Rosenmüller als freier Komponist für kleine Scuole komponiert haben könnte. Vgl. Kerala Johnson Snyder, „Life in Venice: Johann Rosenmüller’s Vesper Psalms“, in: Beiträge zum 6. Internationalen Symposium über die italienische Musik im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Alberto Colzani, Como 1997, S. 171 – 200, bes. S. 179. 3 Zu den verschiedenen Musikstilen in stark besetzten lateinischen Psalm-Vertonungen siehe Christina Köster, Johann Rosenmüllers lateinische Psalmvertonungen in starker Besetzung, (= Collectanea musicologica 9), Augsburg 2002. 4 Allerdings liegen die genaue Entstehungszeit und der konkrete kompositorische Anlass jeder Psalmvertonung weitgehend im Dunkeln.

190

Junko Sonoda

sich einer großen Beliebtheit.5 Von Rosenmüller gibt es vier Nisi Dominus-Vertonungen in verschiedenen Besetzungen und Musikstilen: ein Soloconcerto, ein dreistimmiges kleines Concerto, ein vierstimmiges großes Concerto6 und ein doppelchöriges Concerto, die in der Sammlung Bokemeyer (Staatsbibliothek Berlin), Sammlung Jacobi der Fürstenschule Grimma und im Fitzwilliam-Museum Cambridge aufbewahrt sind.7 Das Soloconcerto ist die stilistisch am meisten entwickelte und die affektvollste unter den Nisi Dominus-Vertonungen: Wohl an keinem anderen Werk kann man den kompositorischen Fortschritt Rosenmüllers besser festmachen als an diesem. Auf dem Titelblatt der Handschrift in der Bokemeyer-Sammlung steht lediglich der Vermerk: „Canto ô Tenore solo“, so dass nicht ersichtlich wird, welche Stimme wirklich gesungen wurde. In der Partitur ist ein Sopranschlüssel vorgezeichnet, und es liegt nahe, dass Rosenmüller diese Komposition in Venedig ursprünglich für einen Sopran komponiert hatte und erst nach der Rückkehr nach Deutschland eine Aufführung für eine Männerstimme eine Oktave tiefer einrichtete.8 Andererseits könnte die tiefe Stimmlage auch auf die an der Pietà übliche Aufführungspraxis zurückgeführt werden, wobei tiefe Stimmen beim Musizieren eine Oktave nach oben transponiert wurden.9 In San Marco wurden die Psalmvertonungen für die Hochfeste während der Öffnung der pala d’oro im Allgemeinen kurz und doppelchörig aufgeführt.10 Es ist daher nicht auszuschließen, dass dieses Soloconcerto erstmals für die Pietà komponiert wurde.

5 Vgl. Linda Maria Koldau: Die venezianische Kirchenmusik von Claudio Monteverdi, Kassel u.a. 2001, S. 226f. 6 In der Bokemeyer-Sammlung wird die Besetzung nur mit vier Vokalstimmen angegeben. Demgegenüber werden in der Handschrift aus Dresden noch weitere vier Stimmen verzeichnet, wobei diese zusätzlichen Vokalstimmen nur auf die Besetzungsmöglichkeit – vierstimmige Soli (SATB) und Chor (SATB) – hinweisen. Die beiden Handschriften stimmen musikalisch überein. 7 Ein Soloconcerto in der Slg. Bok. (Mus.ms.18889-8), ein kleines Concerto in Slg. Bok. (Mus.ms. 18889-9); Slg. Gri. (1739E/1512), ein großes Concerto in der Slg. Bok. (Mus.ms.18889-10); Slg. Gri. (1739E/1513); Slg. Cfm (Ms.32 G21-163 Nr.5) und ein doppelchöriges Werk in der Slg. Bok. (Mus. ms.18889-11). 8 Auf der Handschrift steht keine weitere Information. Der Hauptteil dieser Handschrift wurde von Georg Österreich, dem Gottorffer Hofkapellmeister, zwischen 1689 und 1702 gesammelt. Vor der Amtszeit in Gottorf war Österreich in Wolfenbüttel als Tenorsänger tätig, wo er schon früher die Musik Rosenmüllers kennengelernt haben könnte. Siehe Köster, Johann Rosenmüllers lateinische Psalmvertonungen (wie Anm. 3), S. 25f. 9 Vgl. Michael Talbot, „Sacred Music at the Ospedale della Pietà in Venice in the Time of Handel”, in: Händel-Jahrbuch 46 (2000), S. 125 – 156, hier: S. 139. Genau genommen bezieht Talbot diese Transponierung zwar auf den Bass. 10 Vgl. James H. Moore, Vespers at St. Mark’s: Music of Alessandro Grandi, Giovannni Rovetta and Francesco Cavalli, 2 Bde., Ann Arbor 1981, Bd. 1, S. 214f.; Koldau, Die venezianische Kirchenmusik (wie Anm. 5), S. 38; Ines Burde, Die venezianische Kirchenmusik von Baldassare Galuppi, Frankfurt 2008, S. 64.

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 191

2. Der Text:11 Psalm 126 + Doxologie 1.

Nisi Dominus aedificaverit domum, in vanum laboraverunt qui aedificant eam. Nisi Dominus custodierit civitatem, frustra vigilat qui custodit eam.

Wo der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wo der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. 

2.

Vanum est vobis ante lucem surgere: surgite postquam sederitis, qui manducatis panem doloris.

Es ist umsonst, dass ihr vor dem Licht aufsteht und steht nach dem Sitzen auf und esset euer Brot mit Sorgen;

(3.)

Cum dederit dilectis suis somnum:

denn seinen Freunden gibt er es schlafend.

3.

ecce hereditas Domini, filii : merces, fructus ventris.

Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk.

4.

Sicut sagittae in manu potentis, ita filii excussorum.

Wie die Pfeile in der Hand des Starken, also geraten die jungen Knaben. 

5.

Beatus vir qui implevit desiderium suum ex ipsis : non confundetur, cum loquetur inimicos suis in porta.

Wohl dem, der seinen Köcher derselben voll hat! Die werden nicht zu Schanden, wenn sie mit ihren Feinden handeln im Tor.

Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, Sicut erat in principio et nunc et semper Et in saecula saeculorum. Amen.

Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang und jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.

Im Psalm Nisi Dominus werden zwei Hauptthemen behandelt: Vergeblichkeit des Tuns ohne Gottes Beistand trotz Bemühung und der verdiente Lohn durch Gott. Die erste These beginnt mit zwei parallelen konditionalen Sätzen im ersten Vers, die quasi entsubjektiviert das Verhältnis Gottes zu den Menschen darstellen. Im zweiten Vers bezieht sich der Inhalt des Textes auf die alltäglichen menschlichen Tätigkeiten des Subjekts. Der letzte Satz des zweiten Verses ist die zentrale erste Aussage, wobei nochmals das Vergebliche selbst des Fleißes betont ist („vanum“). Danach folgt die Antithese: Die göttliche Gnade, geschenkt im Schlaf. Gottesgaben sind metaphorisch exemplifiziert durch den Kindersegen, angereichert 11 Lateinisch nach der Vulgata Clementina 1592 (Biblia Sacra juxta Vulgatam Clementinam: divisionibus, summariis et concordantiis ornata, Romae, Tornaci, Parisiis, Desclée. 1956), S. 660. Deutsche Übersetzung sinngemäß nach Luther: Stuttgarter Erklärungsbibel. Mit Apokryphen. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Einführungen und Erklärungen, hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 22007, S. 756. Jedoch war hier beim „desiderium“ des fünften Verses eine Veränderung vonnöten, denn die Interpretation Luthers ist zu eigenständig: Luther übersetzte mit „Köcher“, was im Hebräischen „Pfeile“ bedeutet (siehe nach der oberen Stuttgarter Version S. 756). Die Pfeile werden im vierten Vers als die Söhne bezeichnet. Somit meinte Luther, dass die gut erzogenen vernünftigen und von Gott gegebenen Söhne ohne Waffen Konflikte, wörtlich: „mit den Feinden aufzulösen“, vermögen (Martin Luther: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 15. Band, Weimar 1899, S. 376f.). Im Gegensatz dazu begreift Cassiodor, der Nachfolger von Augustinus, das Wort „desiderium“ worttreu als Bedürfnis. Siehe Magnus Aurelius Cassiodor, Magni Aurelii Cassiodori Expositio Psalmorum (= Corpus Christianorum Series Latina 98), hrsg. von M. Adriaen, Turnholti 1958, S. 1175. Ob der Satz „cum dederit dilectis suis somnum“ zum Vers 2 „vanum … doloris“ gehört, oder zum „ecce haereditas Domini“ ist von Version zu Version der benutzten Bibel abhängig. In der venezianischen Ausgabe des 17. Jahrhunderts wird er von „qui manducatis panem doloris“ klar abgegrenzt (vgl. Koldau, Die venezianische Kirchenmusik [wie Anm. 5], S. 229 Anm. 134). Luther beendet hingegen den Vers 2 mit „cum … “ und beginnt mit „ecce“ einen neuen Vers (3).

192

Junko Sonoda

mit martialischen Elementen (3, 4). Der letzte Vers zielt auf die Hoffnung eines gottgefälligen Menschen, in Konsequenz einer entsprechenden Lebensführung.

3. Die Struktur Musikalische Einteilung I

Text

Soggetto

Struktur ( Rit.=Ritornello) Sinfonia 1 A – Rit.1 – A’ – Rit.1

Nisi ... , aedificant eam. Nisi ... , custodit eam.

A A’

II

Vanum est Vanum est … lucem surgere surgite postquam sederitis, qui manducatis panem doloris. Cum dederit dilectis suis somnum

Ba Bb C D E

B(ab) – B’(a’b’) – C – D – E

III

Ecce ... ventris. Sicut ... excussorum.

F G

F – G – Rit.2 – G‘ – Rit.2

IV

Beatus vir ... ipsis: non confundetur ... in porta.

H I

H – I – I‘

(Doxologie) Gloria Sicut Amen

J A” K

Sinfonia 2 J – A’’ – K

Die musikalische Struktur entspricht exakt dem Inhalt des Textes: Es handelt sich um eine additiv reihende Anlage mit Binnenwiederholungen, gegliedert durch Ritornelle und mit der Wiederaufnahme von Elementen des ersten Verses in der Doxologie (A”), wobei die beiden Sinfonien repräsentativen Charakter besitzen. Der parallele Text im ersten Vers wird zweiteilig (AA’) und wenig verändert vertont. Teil A und Ritornell wechseln sich ab. Der zweite Vers besteht entsprechend der kleinteiligen Worthäufung aus fünf Soggetti. Am Anfang wiederholen sich „vanum est“ und „vanum est vobis ante lucem surgere“ zweimal, womit sich der Affekt der Vergeblichkeit intensiviert. Dritter und vierter Vers werden musikalisch als Block vertont, indem die Verse ohne Binnenzäsur aufeinander folgen und ein ähnliches Soggetto sie zusammen hält. Der vierte Vers folgt inhaltlich dem dritten und erklärt im Detail den Charakter der Gottesgabe: die Söhne. Allerdings wird der vierte Vers mit dem Ritornell wiederholt, so dass zumindest eine gewisse Geschlossenheit des Satzes entsteht. Der fünfte Vers besteht aus zwei Sätzen, wobei die Wiederholung des zweiten Satzes den Inhalt steigert. Der letzte Abschnitt ist die Doxologie, sie besteht aus drei Teilen. Seine Soggetti sind von jenen der Teile zuvor abgeleitet. Bei „Sicut...“ kehrt das Motiv A des Anfangs zurück, sodass man in gewissem Sinne von einer Rahmenstruktur sprechen kann. Des Weiteren zeigt sich, dass die Anordnung der Tonarten deutlich mit dem Inhalt des Textes verbunden ist, wobei erster und fünfter Teil (Doxologie) weitgehend ein Zirkelprinzip widerspiegeln (z.B. der Verlauf der Tonarten: c – Es – B – g – c – Es – c). Mit dem zweiten Teil setzt eine Entwicklung ein, die die These (Vers 2ab) bzw. Antithese (Vers 2c) unterstreicht, so dass sich das Ende des zweiten Teiles musikalisch zum dritten Teil hin öff-

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 193

net12 (Vers 2a: c/C – f – g/g/g – B – c, Vers 2b: c – g – B – g – c, Vers 2c: c – B). Der übrige Teil (Antithese) leitet auf tonartlicher Ebene in den nächsten über (Vers 3: B – c – g – c – Es; Vers 4: Es – B – c – g usw.).

4. Der Weg zur Solomotette Die Besonderheit dieser Psalmvertonung ist der Stil. Hier lässt sich ein klarer Unterschied zwischen Rezitativ, Aria sowie Arioso im zweiten, vierten und fünften Teil erkennen. Der zweite Teil besitzt die konzise Form R – A – R – A. Im vierten und fünften Abschnitt wird der Rezitativ-Teil mit dem Arioso gemischt. Der Anfang dieser Soloteile beginnt zuerst mit einem Rezitativ, danach folgt ein Arioso. Diese spezifische Anordnung könnte nach Kerala Snyder zur Ausbildung der Cavata geführt haben.13 Es ist offensichtlich, dass Rosenmüller die neuesten stilistischen Entwicklungen aus Oper, Cantata und Solomotette auch für die Gattung der Psalmvertonung adaptierte. Solches war in seiner vokalen Kirchenmusik der Leipziger Zeit nicht erkennbar.14 So besteht wohl kein Zweifel, dass Rosenmüller dieses Werk nach seiner Ankunft in Venedig und den dortigen musikalischen Erfahrungen komponiert haben dürfte. Aufgrund der stilistischen Untersuchung ließe sich die Pietà als Aufführungsort vermuten. Denn die Komponisten des siebzehnten Jahrhunderts verfassten derartige expressive Solomotetten in der Regel für die Ospedali.15 Spätestens in der Zeit von Vivaldi war die Solomotette an der Pietà ein wichtiger Bestandteil der Liturgie.16 Text I

II

Takt; Tempo

musikalischer Verlauf

harmonischer Bereich

T. 1 – 21; ¢ Adagio – Presto

Sinfonia

c – Es – c

Vers 1

T. 22 – 65; 3/2 T. 66 – 107; 3/2

Aria – Ritornello1 Aria – Ritornello1

c – Es – B – g – c – Es – c c – Es – B – g – c – Es – c

Vers 2

T. 108 – 114; ¢ T. 115 – 129; 3/2 T. 130 – 136; ¢ T. 137 – 151; 3/2 T. 152 – 181; ¢

Rezitativ Aria (Echo von Vn. 1,2) Rezitativ (Echo von V n. 1, 2) Aria (Echo von Vn. 1, 2) S, Vn. 1, 2, B.c.(Polyphon) – S, Vn. 1, 2 (Concertato) Tutti (Homophon)

c C–f–g g g–B–c c–g–B–g–c

T. 182 – 191; ¢

c–B

12 Diese Gliederung entspricht der in Venedig gebräuchlichen Bibel, die sich von der Lutherischen unterscheidet. Siehe Anm. 11. 13 Kerala Johnson Snyder, Johann Rosenmüllers Music for Solo Voice, Diss. Yale University 1970, S. 171. Johann Gottfried Walther, Musikalisches Lexikon; darüber vgl. Snyder ebd. 14 Junko Sonoda, Die Vokalwerke von J. Rosenmüller. Individualität und grenzüberschreitender Stil, Phil. Diss., Kyoto City University of Arts 2013. 15 Vgl. Eleanor Selfridge-Field, Song and Season: Science, Culture, and theatrical Time in early modern Venice, Stanford 2007, S. 195. 16 Talbot, Sacred Music at the Oespedale della Pietà (wie Anm. 9), S. 134f.

194 III

Junko Sonoda Vers 3 Vers 4

T. 192 – 222 3/2 Presto T. 222 – 271 3/2 Presto – Adagio – Presto T. 271 – 338 3/2

Aria

B – c – g – c – Es

Rit.2 – Aria (Echo von Vn. 1, 2)

Es – B – c – g

Rit.2 – Aria (Echo von Vn. 1, 2)

g – B – g – c – Es – c – g – c

IV

Vers 5

T. 339 – 356; ¢ T. 357 – 388; ¢ Presto

Rezitativ–Arioso Aria (Echo von Vn. 1, 2)

c – Es – g g – B – g – B – Es – g – B – c

V

Doxologie

T. 389 – 443; ¢ Adagio T. 444 – 520; 3/2 T. 521 – 533; ¢

Sinfonia Rezitativ–Arioso – Vn. 1, 2 (Concertato) Vn. 1, 2 – Aria–Echo von Vn. 1, 2 S, Vn. 1, 2 (Echo)

c c – Es – g – B – c c – B – Es – B – c c

5. Das dramatische Prinzip: Inszenierung Die Sinfonie ist zu Beginn charakterisiert durch die Spannung erzeugende Wirkung der klanglichen Wechsel zwischen Tonika und Dominante. Die Tonrepetition der Tonika auf c und der Tempowechsel „Adagio – Presto“ wirken energisch; erst im Takt 5 ist die Dominante erreicht. Nach der Viertelpause wird mit einer schrittweise aufsteigenden Linie nochmals die Dominante erzielt. Diese Eröffnungsgestik verwendete Rosenmüller oft auch in anderen groß besetzten Concertopsalmen. Darauf folgt ein in Sekundschritten absteigendes Soggetto mit einer Synkope im Fauxbourdon, das mit einer Septimvorhaltsdissonanz eingeführt wird. Dieses Soggetto wird dreimal wiederholt und durch die jeweilige Transponierung um einen Ton erhöht. Daran schließt sich ohne Zäsur das nächste Soggetto an, welches sich durch chromatische Führung auszeichnet. Diese am Anfang vorgestellten Soggetti begegnen in den nachfolgenden Textteilen, so dass Rosenmüller in der Sinfonie wesentliche Affekte dieses Textes verdichtet präsentiert (s. Notenbeispiel 1).17 Der erste Vers „Nisi Dominus“ beginnt mit einer absteigenden Sekunde, die im gesamten Stück häufig und in unterschiedlichen Ausprägungen verwendet wird. Während im ersten Vers das schrittweise Soggetto dominiert, lassen wiederholte Quintsprünge die Wörter „in vanum“ hervortreten. Danach folgt das Seufzer-Soggetto (fallende Sekunden) mit wiederholenden Septimvorhaltsdissonanzen – vielleicht das häufigste Motiv in seinen venezianischen Werken, um vergebliche Tätigkeiten wie hier „lavorarerunt“ als sinnlos herauszustellen (s. Notenbeispiel 2). Der zweite Teil zeigt eine Kompositionsweise, die konkreter und ausdrucksvoller ist als im ersten Teil, da der Affekt des Textes durch die menschlichen und individuellen Aktivitäten gesteigert wird. Das Wort „vanum“ ist mit Melismen, aufsteigender Gestik über einem Orgelpunkt (tasto solo) bildhaft gestaltet, das Motiv hat am Ende eine fallende Geste. Nach dem eindringlichen Aufstieg zum g2 fällt die Musik in dreimaligen Ansätzen während der 17 Die originale Quelle liegt in der Staatsbibliothek zu Berlin: Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Sig. Mus.ms.18889-8. In dieser Handschrift gibt es jedoch viele offensichtliche Fehler. Dafür wurde hier die Gesamtausgabe (Johann Rosenmüller, Kritische Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 15, hrsg. von Holger Eichhorn, Köln 2011) herangezogen.

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 195

Notenbeispiel 1: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), „Sinfonia“, T. 1 – 21.

Notenbeispiel 2: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 22 – 45.

196

Junko Sonoda

letzten zwei Takte herab. Auf der Dominante vermittelt ein Innehalten das Gefühl des „vanum“ . Als Gegensatz wechseln in der nächsten Arie Metrum und Tempo in einen ungeraden Takt. Der Bass springt in Quarten, Quinten und Oktaven, die Harmonik wechselt in Dur- und Mollklänge, womit die Leere und Bedeutung des Wortes „vanum“ (hier zu verstehen als Vergeblichkeit trotz aller Bemühung) suggeriert werden. „Ante lucem surgere“ bildet im konzertierenden Einsatz aller Beteiligten einen glanzvollen Kontrast (s. Notenbeispiel 3).

Notenbeispiel 3: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 108 – 129.

Den nächsten Teil prägen bewegtere Gesten. Ihn charakterisiert ein doppelter Kontrapunkt, der aus zwei Soggetti, „surgite“ und „post quam sederitis“, besteht. Das „surgite“ versinnbildlicht ein aufsteigendes Soggetto, entsprechend dem Usus der damaligen Zeit.18 Dieses Soggetto übernehmen Violine I, II und der Basso, allerdings melismiert. Die Verzierung wird rhythmisch vom Soggetto des „vanum“ abgeleitet, womit abermals die Vergeblichkeit 18 Z.B. Claudio Monteverdi, Nisi Dominus a 6 Voci, in: Messa e salmi, Venedig 1650; Francesco Cavalli, Nisi a 4 con Violini, e Violoncino, in: Musiche Sacre, Venedig 1656. S. a. Koldau, Die venezianische Kirchenmusik (wie Anm. 5), S. 435 – 437.

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 197

unterstrichen wird. Das zweite Soggetto, „post quam sederitis“, verdeutlicht den Wortinhalt mit einem Liegeton (s. Notenbeispiel 4).

Notenbeispiel 4: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 152 – 161.

Die nachfolgenden Worte „qui manducatis“ werden mit Septakkorden im schematisch klingenden Fauxbourdon vertont – dessen Anwendung im siebzehnten Jahrhundert auch in Zusammenhang mit einer „Vernichtung“ stehen konnte19 –, denn die patristische Lehre assoziiert mit „panem doloris“ das Leiden durch den Tod Jesu.20 Diesen als Kontrastschablo19 Wolfgang Krebs, Die lateinische Evangelien-Motette des 16. Jahrhunderts, Tutzing 1995, S. 353. 20 Aurelius Augustinus, Aurelii Augustini Opera, Ps. 10-3, Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in psalmos (= Corpus Christianorum. Series Latina 40), hrsg. von Eligius Deckers, Turnholti 1990, S. 1861; Cassiodor, Magni Aurelii Cassiodori (wie Anm. 11), S. 1173f.

198

Junko Sonoda

ne fungierenden Fauxbourdon steigert der Passus duriusculus beim Schlüsselwort „doloris“, was die Violinen in der Wiederholung nachhaltig intensivieren (s. Notenbeispiel 5).

Notenbeispiel 5: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 169 – 181.

Den letzten Teil des zweiten Verses „cum dederit dilectis suis somnum“ charakterisiert das klanglich bewegungslos anmutende Concitato im Tutti mit piano, und damit die gnadenreiche Schlafmetapher. Zum ersten Mal verwendet Rosenmüller hier die Homophonie, um die zentrale Aussage des Textes zu markieren (s. Notenbeispiel 6).

Notenbeispiel 6: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 182 – 191.

Ab dem dritten Teil, d.h. mit der zweiten These, werden die Motive beweglich; der Takt wechselt in ein tänzerisches ungerades Metrum im Presto, die Tonart korrespondiert mit dem Text: B-Dur. Die Soggetti zu „Ecce“ und „haereditas“ werden in Sequenzführung durch

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 199

Sprünge charakterisiert – als ob sich der menschliche Blick nach oben richten würde beim Ausruf: „Ecce“. Das nachfolgende Soggetto bei „haereditas“ springt hin und her. Ein absteigendes Soggetto tritt bei „Filii“ auf, womit die Richtung, von Gott zu den Menschen, angedeutet sein könnte (s. Notenbeispiel 7).

Notenbeispiel 7: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 192 – 212.

Das nachfolgende Ritornell, das zum vierten Vers hinführt, übernimmt Wesentliches des dritten Verses allein durch das springende Soggetto (s. Notenbeispiel 8a). Der Bass wird in Tonrepetitionen im Presto geführt, dessen Concitato-Stil die Tapferkeit und Wucht der Söhne im Kampf symbolisieren soll. So ist „in manu potentis“ von Sequenzen mit großen Sprüngen im Fauxbourdon und von einem schrittweisen Aufstieg um eine Oktave geprägt (s. Notenbeispiel 8b, T. 243f.). Jedoch scheint es, dass Rosenmüller einen solchen „gewaltig-jugendlichen“ Charakter verneinen wollte: Diese Klanglichkeit erfährt mit „ita“ eine überraschende Wendung, verstärkt vom Tempowechsel. Die rhetorische Figur der Septimvorhaltsdissonanzen und der zögernde Abstieg wiederholen sich eindringlich neun Mal. Danach kehrt zu den Worten „filii“ und „excussorum“ abermals das Soggettothema für die Söhne und damit das springende Motiv zurück, so dass die inhaltliche Parallele nicht nur eine Untermauerung erfährt, sondern sich zugleich die Form ABA ergibt (s. Notenbeispiel 9). Im vierten Teil fallen die melismatische Gestik und die wiederholte rhetorische Figur der Septime auf, womit die gegensätzlichen Affekte doppelt geschichtet erscheinen. Er beginnt mit einer plagalen Kadenz auf c, um offensichtlich die innere Ruhe des „beatus vir“ zu demonstrieren. Darauf folgt eine Koloratur mit Sprüngen nach oben, die dem glücklichen Gefühl eines „beatus vir“ geschuldet ist (s. Notenbeispiel 10). Sie basiert auf absteigenden Septimen im Bass, wobei das Soggetto von „vanum“ im zweiten Vers abgeleitet ist – eine Allegorie von „beatus vir“ und „vanum“, in der die übertrieben wirkende

200

Notenbeispiel 8a: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Notenbeispiel 17), T. 222 – 228.

Notenbeispiel 8b: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 236 – 247.

Notenbeispiel 9: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 248 – 266.

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Notenbeispiel 10: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 337 – 343.

Virtuosität als Sinnlosigkeit erscheint. Im Gegensatz dazu wird „desiderium“ als langsamer chromatischer Aufstieg umgesetzt – allerdings erstaunlicherweise als Passus duriusculus, so als werde auch eine gewisse Mühe („labor“) für eine Hingabe an Jesus abverlangt (s. Notenbeispiel 11).21

Notenbeispiel 11: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 350 – 352.

Im nächsten Satz „non confundetur [...] in porta“ wechselt der Stil zu einer Aria im Presto-Tempo (s. Notenbeispiel 12). Das anfängliche Soggetto beginnt mit einer akkordischen Brechung über Tonrepetitionen im Bass, in unruhiger Führung. Es fällt das melismatische Soggetto bei „confundetur“ auf, das sich entsprechend dem Sinngehalt des Wortes hier als ein rhythmisches Durcheinander darstellt. Die Doxologie präsentiert die Soggetti, die in den bisherigen fünf Teilen behandelt wurden, womit das Werk als Ganzes zusammengefasst wird. Sie beginnt mit einer Sinfonie, formal (nicht musikalisch) parallel zur Sinfonie des Anfangs. Das erste auf- und absteigende, sich im Rahmen einer kleinen Dezime langsam bewegende, spannungsvolle Soggetto spielt auf die erste These an: auf die Vergeblichkeit aller Bemühungen ohne Gottes Beistand (s. Notenbeispiel 13). Es ist untermauert von c-Phrygisch, das im letzten Teil der ersten Sinfonie kurz eingeführt wurde (eine Tonart, die bei Heinrich Schütz für den Affekt des Leidens stand)22. Auf diese Weise wird in der zweiten Sinfonie erneut auf den schmerzhaften Affekt des Anfangs hingewiesen. Der Widerspruch zum Sinn des Textes wird hierdurch bis zum Ende beibehalten. Im Gloriateil sind Vorhaltsdissonanzen eingeschoben (s. Notenbeispiel 14). Das Amen zeigt sich als ein ornamentreiches Gebilde, allerdings kommt das „vanum“-Soggetto gleichermaßen zum Erklingen (s. Notenbeispiel 15, T. 522 – 524). In diesem Werk beweist Rosenmüller seine Fähigkeit, Innovationen neuester Art – die aus der Oper und Solomotette herkommende Kompositionsweise einer ins Hochexpressive 21 Cassiodor, Magni Aurelii Cassiodori (wie Anm. 11), S. 1175. 22 Schütz verwendete diesen Modus im Kontext des Passionsgeschehens. Siehe Heide Volckmar-Waschk, Die Cantiones sacrae von Heinrich Schütz: Entstehung, Texte, Analyse, Kassel 2001, S. 83.

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Junko Sonoda

Notenbeispiel 12: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 355 – 370.

getriebenen dramatischen Affektdarstellung – in eine Psalmvertonung zu integrieren: Neben den Formen des Rezitativs, der Aria und des Arioso finden sich eine der Mimesis-Theorie verpflichtete nachahmende melodische Gestik, virtuose Koloraturen, ungewöhnliche, affektuöse Soggetti (u. a. große Sprünge), symbolbeladene passus duriusculi, scharfe Dissonanzen und plötzliche Unterbrechungen des musikalischen Geschehens. Deutlich wird dabei, dass nicht alle musikalischen Phänomene auf eine unmittelbare affektive Wortausdeutung zu beziehen sind. Vielmehr lässt sich parallel ein sich immer stärker behauptender musikautonomer und formaler Zugriff bei der kompositorischen Umsetzung des Textes beobachten.

Johann Rosenmüllers Nisi dominus für Solostimme 203

Notenbeispiel 13: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 387 – 395.

Notenbeispiel 14: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 403 – 407.

Notenbeispiel 15: Johann Rosenmüller, Nisi dominus (wie Anm. 17), T. 520 – 524.

Daraus entsteht ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Wort und Musik bzw. Affekt und einer in die Zukunft weisenden Rationalität. Rosenmüller gestaltet jeden Satz des Textes auf eine individuelle Art und Weise und unterstreicht dies durch eine gezielte Tonartenstrategie. Hervorgehobene Vertonungen bestimmter Einzelwörter lassen sich nicht nur bei Schlüsselwörtern wie „surgite“ betrachten, sondern kommen auch bei offenbar weniger prägnanten Wortbildern zum Einsatz. Negative bzw. aggressiv konnotierte Wörter werden mit Dissonanzen umgesetzt, wobei auch dies keine feste Regel zu sein scheint und es Ausnahmefälle gibt. Wörter wie „ita“ oder „beatus vir“, die nicht direkt mit rein Negativem zu assoziieren sind, vertont Rosenmüller ebenfalls mit rhetorischen Figuren – als eine sehr persönliche Exegese mit musikalischen Mitteln. Obwohl es sich in der zweiten Aussage inhaltlich um die Hoffnung auf Gott handelt, wird gleichzeitig – auf musikalischer Ebene ersichtlich – die gegensätzliche Bedeutung allegorisiert. Aber auch die zwei Sinfonien spiegeln den schmerzlichen Affekt der Vergeblichkeit wider. Daraus

204

Junko Sonoda

lässt sich interpretierend schlussfolgern, dass Rosenmüller das menschliche Wesen in seiner Vergänglichkeit und Vergeblichkeit durch das Wort „vanum“ identifizieren wollte. Eine Symbiose von ausgeprägter Subjektivität und Raffiniertheit der Komposition lässt die hier besprochene Nisi Dominus-Vertonung als ein herausragendes Beispiel ihrer Gattung im 17. Jahrhundert erscheinen. Mit ihr eröffnet Rosenmüller zweifelsohne der Entwicklung kunstvoller Psalmvertonungen neue Perspektiven.

Marcello’s Orientalism 205

Marcello’s Orientalism Eleanor Selfridge-Field

The 50 Psalms of David published by Benedetto Marcello between 1724 and 1726 constitute the bulwark of the composer’s fame, not only within his lifetime but also for a centuryand-a-half or more after he died (1739). Marcello was truly famous. His Psalms were cited as often as Handel’s Messiah, particularly in the nineteenth century. Some of the impetus came from the proliferation of choral societies and the ever larger performing resources that were considered appropriate. Yet Marcello’s Psalms are vastly different from other psalm repertories and may never have been known to Handel, whose Messiah was first performed in 1742, three years after Marcello’s death. Marcello’s Psalms served musical and academic purposes, but they were not intended for liturgical use. In particular they were intended to illustrate how music based on Old Testament texts might adopt the musical values of antiquity, while accommodating consonant aspects of current musical practice. How exactly he perceived and implemented these values form the first two parts of this study. How the psalms themselves were received over time and place constitutes the third.

1. The Salmi di Davide and their Texts Born to a noble Venetian family in 1686, Marcello inherited a rich intellectual legacy. His mother, Paolina Capello, was an occasional poet. He and his brothers Alessandro and Gerolamo each practiced several pursuits including the writing of poetry and prose. Alessandro (the eldest and most versatile) developed a wide array of skills including “disegno” (draw­ ing), invention, and music. He played the violin. He also composed Arcadian cantatas and a handful of violin sonatas and concertos. He contributed (though sparingly) to the Republic of Letters, where he was drawn more to applied science than to the arts. Gerolamo was, like Benedetto, less extroverted but is survived by essays and poems. For a few years (c. 1718 – 20) he was heavily involved with Venetian affairs in Lombardy. All three brothers were obligated to serve in minor posts within the Venetian government. Their assignments were rotated often, since most minor offices changed hands every 12 – 16 months. The family palazzo was a relatively plain one in the parish of Santa Maria Maddalena.1 Records in the state archives, on the other hand, show Alessandro to have held several offices that dealt with various matters in the Venetian Ghetto. Although Alessan1 It is separated by a small garden from the now better known Palazzo Vendramin-Calergi, where Richard Wagner died. Details of the lives of the Marcellos can be found in Eleanor Selfridge-Field, The Music of Benedetto and Alessandro Marcello. A Thematic Catalogue with Commentary on the Composers, Works, and Sources, Oxford 1990. Alessandro Marcello is said to have painted frescoes on the walls and ceiling of the church. All trace of the frescoes is gone, and the church has been inoperative for a number of years.

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dro and Benedetto were not always on the best of terms, Benedetto’s awareness of life in the Ghetto would no doubt have increased after Alessandro was appointed to the office of Auditor Vecchio (22 March 1722). This three-man board was roughly the equivalent of a US circuit court, for it made judgments on matters of dispute. Alessandro’s commute was a short one, for the parish of Santa Maria Maddalena was hardly more than a city block from the entrance to the Ghetto. On summer nights, music made in the Ghetto would easily have been faintly audible from the family palazzo. Venice was a notably quiet place where sounds carried easily across rooftops, around corners, and over the water. With respect to the Psalms and Marcello’s high degree of familiarity with music in the Ghetto, however, a more direct means of knowledge acquisition has to have been in play. We have no way of knowing what that was. The Ghetto was not a single place so much as it was string of microcultures, the earliest of which had been established on the Giudecca in the thirteenth century. At the peak of its power in the sixteenth century, Venice encouraged the establishment of these micro-communities, because the promotion of mercantile affairs benefitted from the established connections of Jewish traders with the Levant. Hence, as many as five flavors of the Ghetto experience exist. Marcello was conversant with the musical practices of the three largest – the Sephardic (Spanish), the Askenazic (German), and the Levantine (broadly speaking, Middle Eastern, but predominantly eastern Adriatic). Marcello’s knowledge of Jewish practice was anything but casual. As a young man, Marcello had immersed himself in the Arcadian movement. At least ninety percent of his nearly 400 cantatas for solo voice treat pastoral subjects.2 Arcadian imagery emphasized bucolic settings but did so with a high degree of sensitivity to classical mythology. It pursued the conveyance of a sense of innocence. In Marcello’s œuvre, these related values evolved along separate paths. Gentle natural phenomena (breezes, trickling brooks) were rife in his lyrical works, but by the 1720s he had moved on to dramatic cantatas based on epic poetry. Here he sought to convey as directly as possible the torments of conflict and anxiety, albeit as experience by figures (especially tragic heroines) from antiquity. Emotion supplanted innocence. A new sensitivity to themes of injustice seemed particularly to inform his carefully selected forays into this realm. When he first became involved in setting the first 50 psalms of David (by 1723, if not earlier), he synthesized the previous paths he had pursued into a sumptuous set of composition that collectively required a cast including God (epic narrative), All the People (lyrical choruses), and the psalmist, King David (laments). Thus it was Biblical poetry that wedded the musical settings to the elusive intellectual ideals of Marcello’s academic environment. (In Jewish services, poetry could be a substitute for exegesis and homily, which were prohibited.) The texts were in the vernacular paraphrases of Girolamo Ascanio Giustiniani (1675 – ?), like Marcello an academically-oriented, musically interested nobleman. The musical settings were presented in an eight-volume series printed by Domenico Lovisa in folio with broad

2 On Marcello’s cantatas, see Selfridge-Field, The Music (as n. 1). Many updates and findings on the cantata texts appear in Marco Bizzarini’s book: Benedetto Marcello, Le cantate profane – I festi poetici, Venice 2003. His madrigals were also Arcadian in their themes.

Marcello’s Orientalism 207

margins.3 The physical parameters and the typographical complexities of the content suggest remarkably generous funding, since the volumes had no dedicatees. Giustiniani’s family had a long-standing relationship with Venice’s Teatro San Moisè, Marcello’s with the Teatro Sant’Angelo. There is no indication, however, that common theatrical interests led to the collaboration that produced the Psalms of David.4 Psalms paraphrases in vernacular languages began to appear soon after the start of the Protestant Reformation.5 Those who were inspired by psalms set to vernacular verse had included Claude Goudimel (c. 1520 – 1572) and Jan Pieterszoon Sweelinck (1562? – 1621), who both were inspired what came to be known as the Geneva (or Huguenot) Psalter. What was distinctive about Giustiniani’s paraphrases was that they highlighted the “Arcadian” imagery embedded in many texts. The works were explicitly academic and clearly non-liturgical.6 Giustiniani’s paraphrases were recognized for their conscientious re-rendering of the original Hebrew texts. What were perceived as the clutter and artifice of recent versions were stripped away. Ancient Hebrew culture was recognized among academics for its asceticism, in contrast to the hedonism of ancient Greek culture. Giustiniani and Marcello seem to have been kindred spirits in their zeal for disapproval of pleasure and fancy. These values were typical of the Venetian aristocracy, contrary to the impression conveyed by a host of recent writings that confuse the liberties taken by visitors to Venice with the behavior of Venetians themselves. Marcello introduced into several of his works paradigmatic quotations of Hebrew chant, for which he gave both text and music. (These insertions were constructed to retain all the general features of the sources – square “chant” notation, running right to left; and Hebrew labels and text underlay.) He indicated whether quotations from Hebrew came from the Sephardic, Ashkenazic, or Levantine traditions. He also introduced two quotations from ancient Greek odes, and in one instance provided an ecclesiastical incipit from Roman Catho3 Although Venice had been one of the principal centers of music printing between 1500 and 1700, it had now been eclipsed by presses in the Low Countries (especially Amsterdam), Paris, London, and Vienna. Yet Lovisa’s imprimatur indicates that the art of music-typesetting remained strong. 4 There is a remote possibility that Giustiniani and Marcello were related: Giustiniani’s mother was the daughter of Giovanni Capello. It is also possible that their paths crossed often through their posts. Poet and composer both occupied series of offices responsible for stringent enforcement of policies governing public behavior and financial rectitude. 5 Notable examples in English include the works of Sir Philip Sidney (1554 – 1586) and his sister, Lady Pembroke; Thomas Sternhold (d. 1549) and John Hopkins (1603, 1604); Henry Ainsworth (1612); and John Milton (published 1673, following Comus; written from 1653 onward). Among them, the Ainsworth edition is notable for comparing Hebrew, Greek, and Chaldaic sources. Examples in French start with the 1537 rhymes of Clément Marot (d. 1544) that populate the core of the Huguenot Psalter. Dick Wursten (Clément Marot and Religion. A Re-assessment in the Light of his Psalm Paraphrases, Leiden 2010) notes that Marot’s aim was to produce a “consistent”, historically correct version. He explores the question of whether Marot reworked earlier material by Marguerite de Navarre. 6 Italian oratorios were sometimes based on vernacular texts, but in the Venetian Ospedali, oratorios were in Latin. Latin remained the language of the church. See E. Selfridge-Field, “Towards a Cultural History of the Venetian Oratorio, 1675 – 1725”, in: Florilegium musicae: studi in onore di Carolyn Gianturco, ed. Patrizia Radicchi and Michael Burden, 2 vols., Pisa 2004, vol. II, pp. 911 – 925.

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lic liturgy. The resulting requirements for interleaved typesetting won recognition in the Giornale dei letterati d’Italia. It reported on his achievement in several installments, covering two volumes in each review. The final report, which appeared in 1727, read as follows: The seventh volume came out in 1726, in 168 pages, with eight Psalms (36 – 43). The eighth contained another seven, in 181 pages, bringing the total to 50, and appeared in the current year, 1727.7 Both contain specific introductions for the reader, letters from individual maestri of music to Sig. Marcello commending his musical compositions, and the poetic paraphrases of the Psalms of that volume by Sig. Giustiniani. This [impressive] work, with such perfection of characters8 and such a majestic presentation, has been prepared in the workshop of [Domenico] Lovisa, whose music printing has certainly not been surpassed in beauty or presentation.9

In addition to the intermediation of Giustiniani’s poetic paraphrases and Lovisa’s printing, each volume of the Salmi contained as a frontispiece an engraving by either Giuseppe Camerata or Sebastiano Ricci (see Ill. 1 and 2). The engravings, which sought to convey the major Psalm typologies, were organized into a cycle of four themes, the whole conveyed twice. The themes were: • • • •

Songs of praise (Vols. 1 and 5) Songs of war (Vols. 2 and 6) Songs of divine punishment (Vols. 3 and 7) Sacrificial invocations (Vols. 4 and 8)

Camerata was responsible for the first two themes, Ricci for the latter two. The most powerful images are Camerata’s, of an elevated King David playing his harp, and Ricci’s, of David’s plea for mercy, his harp (greatly shrunken) at his feet. Ricci was well suited to creating scenes of awe, and this skill accorded well with Marcello’s objectives. Individual psalms follow their Biblical models, inflecting verse after verse in ways that convey each turn of the text. The conventional literary typologies of the psalm texts spanned eight categories with a ragged distribution. Among the first fifty psalms, fully half fall into a single category – the lament. Some of Marcello’s most notable psalm settings are associated with the categories of wisdom, kingship, and trust. The most sparsely populated categories are royal psalms, liturgical psalms, and psalms of sacrifice.10 Overarching architectural plans attempt to convey, concurrently with the verse-by-verse settings, the general thrust of the complete text.

7 The publication date given on the title page of Vol. 8 is 1726, but the bi-monthly Giornale be permitted the final word on this. Some of the testimonial letters were composers, the most prominent having been Giovanni Bononcini, Francesco Gasparini, Geminiano Giacomelli, Johann Mattheson, and Georg Philip Telemann. 8 “Perfezione”, in Italian, referred to the taking of a skill (here printing) to the highest level possible. 9 Giornale dei letterati d’Italia, 37, 1727, 537f. 10 On the typology, see annotations for individual psalms in the The New Oxford Annotated Bible (RSV), ed. Herbert G May and Bruce G. Metzger, Oxford 1962.

Marcello’s Orientalism 209 Illustration 1: Giuseppe Camerata’s depiction of songs of praise provided by King David (Books 1 and 5 of the Salmi di Davide).

Illustration 2: Sebastiano Ricci’s depiction of divine mercy and punishment, in which David sits on the throne, his harp at his feet (Books 3 and 7 of the Salmi da Davide).

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2. Musical Sources and Content Although Marcello’s appropriation of remnants of ancient civilizations does not exactly correspond to Peter Gay’s notion of “pagan Christianity” as a hallmark of the Enlightenment, 11 the general contours of his interests conforms quite well. Marcello’s usage fails only insofar as it was motivated by academicism. In his time, the Bible was a widely used source on Roman history, but Marcello looked in far more esoteric places. The two quotations from early Greek sources would have come to attention within the whirlwind of new editions and translations of ancient texts.12 The “musical” notation given in the Lovisa print looks like an optometrist’s chart, with Roman characters turned sidewise to represent some of the musical content; the Greek text underlay is reproduced in pointed Greek script. The Hellenistic pedigree of what is identified as “Homer’s Hymn to Ceres” does not bare close scrutiny, but we only appreciate this from the scholarship of later generations. Of Dionysius’s Hymn to the Sun, quoted in Psalm 16 (“Tu che sai quanto sia giusta” for two tenors and basso continuo) Marcello explained that he had “adapted” the work from an “ancient Greek cantilation on a hymn in the Lydian mode”, but that he had “transposed [it] to a better mode”.13 He marveled at the fact that the Greeks could transcribe all their music using the tetrachord system. He considered the tuning system for cembali of his own time to be insufficient to support the “natural melodies and […] perfection of the voice” that the Greek system had sustained. Allusions to Greek music in the Italian academies normally concentrated on the tetrachord system as well algorithms for tuning the lyre, and comments on modern modal interpretation – in the absence of actual music. Marcello’s provision of the original music and new compositions based on it was an extraordinary departure, for to the extent that there was any access to ancient music, its musical substance and poetic substrates had been entirely ignored. No one had seriously tried to compose new music according to either its principles or its models. Marcello went further than simply incorporating ancient fragments of Jewish music in new works. Guided by a deep knowledge of the poetic texts and by apparently vivid current knowledge of religious practices in the Venetian Ghetto, he set out to compose music that reflected behavioral characteristics practices associated with the respective Jewish liturgical 11 In Gay’s model, the Pagan Christian would have been a person whose intellectual undertakings are dominated by a world of letters, a person who was highly conversant with antiquity but who put his knowledge to diverse uses, and a person who took pride in human (and humanistic) achievement. However, in Gay’s model the Pagan Christian also ignored local history. (In this respect, Marcello could not have been more deviant.) See Peter Gay, The Rise of Modern Paganism (The Enlightenment, I), New York 1995, Book One, Ch. 1, “The Useful and Beloved Past”, pp. 31 – 71; Ch. 5, “The Era of Pagan Christianity”, pp. 257 – 322. 12 The first French translation of Homer had been published only in 1723, and the literary circles in which Marcello moved would undoubtedly have noted the event. 13 Eric Werner (“The Music of Post-Biblical Judaism”, in: The New Oxford History of Music, I, ed. Egon Wellesz [Oxford 1957], pp. 332f.) observed a link between expressive modes and musical modes, which, he said, were “hermeneutic devices to attune the human soul to the various emotions expressed in the Scriptural and post-Biblical poetry of Judaism.” (The doctrine of ethos prevailed across the Middle East.)

Marcello’s Orientalism 211

traditions. These included the separation of men and women (the women usually being sequestered in balconies), an emphasis on “purity” of many kinds, and an articulation of several musical styles observant of specific Psalm-function categories. The sources on which he drew were absorbed from traditions that reflected various dates of arrival. The Levantine synagogue had been established in 1541, the Sephardic in 1580, and the Ashkenazic in the middle of the seventeenth century.14 The adherents came respectively from The Balkans and Eastern Mediterranean; from the Iberian diaspora (then evident in Italy, Austria, Turkey, and parts of South America); and from Central and Eastern Europe. Marcello’s auditory capture of chant melodies continues to serve scholarship well. Edwin Seroussi has recently shown (as Israel Adler suggested decades ago) that by transcribing the melodies Marcello made a valuable contribution to ethnomusicological and diaspora studies.15 In particular he has detailed the continued circulation of certain melodies in diverse Sephardic congregations and communities throughout Europe, the Middle East, and South America.16 Not least of the values of Marcello’s transcriptions is his careful attention to rhythmic detail. Marcello is at pains to introduce triplets in duple contexts and dotted figures in long passages of uniform-duration notes. He seems to be attempting to transcribe faithfully what he heard. There was no other model available, and he asserts that he had no access to written exemplars of Hebrew chant. The circumstances under which he did transcribe the music are by no means clear. He could perhaps have gleaned musical residues from an academy convened during the Venetian tenure of Leon of Modena (1579 – 1648).17 Apart from his many other distinctions, Modena was known for his commanding knowledge of cantillation 14 The earliest Jewish populations in Venice can be traced to the thirteenth century, when there were two synagogues on the long island known as the Giudecca (but previously as Spinalunga). In 1541 the Senate permitted Jewish merchants to build storehouses in the Ghetto. Mercantilism was strongly encouraged in Venice because the government welcomed the additional custom duties it generated. On the other hand, Jews were not allowed to own property. Inquisition regulations prohibiting the presence of the Talmud and the printing of books in Hebrew in Venice would have privileged oral tradition. Most Jews resided in the Ghetto but they were not required to do so. Jews were subject to a curfew, but so too were most other sectors of the population. Debtors were only allowed outside their homes for a half-hour a day. 15 Edwin Seroussi, “In Search of Jewish Musical Antiquity in the 18th-Century Venetian Ghetto: Reconsidering the Hebrew Melodies in Benedetto Marcello’s Estro Poetico-Armonico”, in: The Jewish Quarterly Review, new ser. 93, No. 1/2 (Jul. – Oct. 2002), pp. 149 – 199. 16 Don Harrán has written numerous articles touching on Marcello, Jewish music in Venice, emblems of Jewishness in Italian music of the time, and the diffusion of Sephardic songs. Of particular relevance here are “In Search of the Italian Sephardic Tradition”, Musica judaica 17 (2003), pp. 165 – 195; and: “Hebrew Exemplum as a Force of Renewal in 18th-century Musical Thought: The Case of Benedetto Marcello and his Collection of Psalms”, in: Music in the Mirror: Reflections on the History of Music Theory and Literature for the 21st Century, ed. Andreas Geiger and Thomas J. Mathiesen, Lincoln, NE 2002, pp. 143 – 194. 17 Eric Werner (The Music of Post-Biblical Judaism [see n. 13], citing on p. 328 his own “Manuscripts of the Birnbaum Collection”, Hebrew Union College Annual, xvii [1944], 414 – 16), claims that Modena’s academy explored music from the near environs, such as polychoral motets by Giovanni Gabrieli and his contemporaries at San Marco, Venice.

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processes, for his efforts to edit the music of Salamone Rossi, and for his manual on Jewish rites for non-Jewish readers.18 Despite the faint possibility that older forms of Judaic liturgy filtered into Venice through its occupation (until 1687) of the Peloponnese, whose Jewish community was considered to be particularly thorough in its preservation of Hebrew script, Marcello’s insistence that he had no access to any written source for the music leaves only one other possibility. It was the most straightforward: Marcello could have attended services in the synagogues near his family’s palazzo on the Grand Canal. The ghetto lay immediately to the north of the parish of Santa Maria Maddalena. It stretched eastward towards the Cannaregio Canal and north towards the Fondamenta Nuove. The Ashkenazic synagogue was the biggest and the closest to Marcello’s home.19

3. Marcello’s Aims and Interpretations The reproduction of themes from then surviving chants and odes of antiquity is largely concentrated in the third and fourth of the eight volumes. Marcello’s psalm settings were substantial works, comparable with Bach cantatas in their segmentation into a series of substantial sections. Each Biblical verse received its own movement. (Individual movements were later carved off, particularly in the Protestant world, as “anthems”.) One verse might recur as a refrain. Alternatively, a musical realization might recur with a subsequent verse. Individual psalms could have an overarching musical stance taken from an initial meter or texture. In Marcello’s mind the music (its content as well as its manner of performance) was subservient to the text. Although Marcello gave the marriage of poetry to “harmony” as the main goal of his undertaking, he acknowledged that his aim was not so much a literal realization as an analogical one. The question then became how to situate the values of the remote past within the musical resources and practices of the present. According to his reading of Hebrew cultural practice (as reiterated in the carefully footnoted introduction to his first volume of Psalms), Moses sang canticles celebrating the flight from Egypt with “the sons of Israel”. His sister Miriam “intoned” with her cymbal the same canticle. It was David who introduced the use of multiple choirs in the tabernacle, for which he also composed songs and hymns. As many as 24 choirs had been used. They were supplemented by independent groups of instruments of diverse timbres. Prominent among them were the psaltery and the bell.

18 On all these subjects, see Don Harrán, “Dum Recordaremur Sion: Music in the Life and Thought of the Venetian Rabbi Leon Modena (1571 – 1648)”, in: AJS Review 23/1, 1998, 17 – 61, passim. Modena’s skills as an orator were also legendary. Some Venetian noblemen are reputed to have attended his exhortations whenever possible. 19 The Marcellos owned property near the mouth of the Ghetto. Alessandro Marcello, the most senior brother, served briefly (1722 – 23) in the office of Auditor Vecchio, a government judgeship which resolved disputes between Christians and Jews, see Selfridge-Field, The Music (as n. 1), pp. 436f.

Marcello’s Orientalism 213

In the current singing of Hebrew communities in Venice Marcello found that “evidences of ancient practice” were easily identified. He noted that no written examples were available, although for Greek music, he found it “necessary” to turn to manuscripts. Marcello took special interest in the severity of holy judgment and sought musical means of signifying it. For example, to signify the awe-inspiring impetus of Divine Justice, he said, one could employ unusual modes. “Diatonic-chromatic” modulations known from madrigals could be utilized by substituting enharmonically notated passages that would be rendered “imper­fectly” on “artificial” instruments, especially the [enharmonic] harpsichord. Barbieri notes that the physicist Giordano Riccati, in an unpublished study of recent uses of unequal tunings, cited Marcello’s psalms No 2. 2, 3, 9, and 11, as well as two of Marcello’s cantatas, cantatas by other composers of the time, and a Hasse Miserere.20 Above all, it was important to perform the Psalms without “arbitrary” ornaments, especially in passages addressing God21 or speaking of matters divine, because the petitioner had to be respectful and humble. It went without saying that the singers had to be consistent in timing, clear in pronunciation, and in tune with one another. The accompanying ripieno instruments, although variable in number, should be appropriately proportioned, such that the basses would be emphasized in order to simulate the style of antiquity. In a note to the readers in Book Two, Marcello dealt mainly with his reading of ancient Hebrew worship. He reported that among the Hebrews only hymns, canticles, and psalms were still sung, because they were the only music handed down by oral tradition. He noted that Moses ordained that there should be three uses of the trumpet: (1) [to announce] solemn sacrifices and religious feasts, (2) to announce the beginning of Jubilee and sabbatical years, and (3) to encourage soldiers on to battle. It fell to David to introduce these practices in the Tabernacle. It was he who wrote canticles and psalms and he who ordered the making of various instruments. After the Temple was built, music of a high and decorous order was made. This continued until the Hebrews were routed by the Romans. He turned to the Greeks in his introduction to Book III. He now concentrated on secular (and rational) issues – first, the rending of Greek texts; then, issues of tuning and temperament, modes, and material specific to individual works, for this was a volume in which a large number of quotations of “ancient” sources was present. He explained his choices of ancient models for individual works and verses. He allowed various accommodations to performers, according to the constitution of their ensembles. The subtleties of his intentions for interpretation are more difficult to ferret out here than in most of his earlier books. In its musical content, on the other hand, Book III contains some of the most ambitious settings of the entire collection. In Psalm 18 alternating passages of narrative and reflection are contrasted musically by eighth- or sixteenth-note figures highlight images suggested al20 Patrizio Barbieri, “L’espressione degli ‘affetti’ mediante l’ineguale accordatura degli strumenti da tasto nel settecento veneto”, in: Convegno di studi Organaria veneta (Patrimonio e salvaguardia – Con il contributo della regione veneto, 1987), pp. 42 – 67. The Marcello cantatas were “Lungi, lungi speranze”(A182) and “Il so begli occhi amati (A145)”. The other composers whose works were cited were Maria Teresa Agnesi and Agostino Steffani. 21 Whose name (or names) could not be spoken, according to Jewish doctrine. God’s presence is manifest through such phenomena as the power of the Sun (Psalm 16) and the power of a storm (Psalm 29).

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legorically in the text, while brutally long strings of whole notes convey the insistent voice of God in this and several other cases. Also in the verse “Allor tu gradirei, Signor”, derived musically from Homer’s [incompletely preserved] “Hymn to Ceres” in Psalm 18 (Example 1), the articulation marks in the bass part show a frequent method of articulation used by Marcello, who was a cellist. The composer noted that the Greek model was a “diatonic genus of the Hypolydian mode”. In the introduction to Book IV Marcello makes special note of Psalm 21. As a “prophecy”, it

Example 1: Greek model for the verse „Allor tu gradirei, Signor“ in Psalm 18.

calls for solo voice as well as musical acknowledgment of what he terms “the Redeemer of the World expiring on the Cross”. The “great mystery” of the Passion suggests to him accompaniment by violas. These instruments, in the hands of experts, can “actively inspire emotional engagement and sorrow”. His setting of Psalm 21, for alto and two violas, is one of the most evocative of sorrow among the fifty works. Some passages call for violoncello solo as the only bass support. An example in which the melody is, additionally, derived from a German Jewish “intonation on an oration” is provided by the verse “Signor, non tardi dunque il tuo soccorso”. The incipits of model and realization are shown in Example 2 (Marcello was never other than literal in his use of quotations.) The Jewish liturgical year separates (in the same manner as the Christian) the High Holidays, Sabbaths, and festivals from ordinary days. The components considered appropriate for musical setting within individual services were (1) psalms, (2) penitential prayers, (3) strophic liturgical hymns, (4) doxologies, (5) priestly blessings, and (6) Biblical verses. A curiosity of Marcello’s acquisitions from Hebrew sources is that their content does not usually correspond exactly to the new location or liturgical function. Although he initially confines his sources to psalms, he borrows from Psalm 113 (in the Ashkenazic rite) in his setting Psalm 10. Psalm 15 quotes a popular hymn (“Maos tsur”) from the Ashkenazic tradition. The source for a quotation in Psalm 19 comes from mystical poetry. After quoting from what he termed an Ashkenazic prayer in Psalm 22, Marcello abandoned further exploration of “ancient” and “oriental” material. Details of these relationship between borrowed and new materials are summarized in Table 1:

Marcello’s Orientalism 215 Example 2: Incipits for the verse „Signor, non tardi dunque il tuo soccorso“ in Marcello’s setting of Psalm 21. Note that with respect to the conventional notation underneath, the pitch contour of the model must be from right to left.

Psalm No. (RC numbering)

Vol. No.

Rite or Tradition

Source quoted

9

II

Sephardic

Psalm 143

10

II

Ashkenazic

Psalm 113

14

II

Sephardic

Psalm 117

15

III

Ashkenazic

Hymn “Maos tsur”

16

III

Greek

“Dyonisius’” Hymn to the Sun

17

III

Sephardic

17

III

Ashkenazic

18

III

Sephardic

Intonation of unknown origin

18

III

Greek

Homer’s Hymn to Ceres (incomplete)

19

IV

Ashkenazic

Mystical poetry

21

IV

Ashkenazic

“Oration”

22

IV

Ashkenazic

Notes

Now attributed to Mesomedes Lyricus.

Could be a Ladino text inaccurately transcribed. Quoted in Mayr’s Samuele and Rossini’s La Siège de Corinthe Aramaic

Table 1: Occurrence of musical quotations from “ancient” material in Marcello’s Salmi di Davide.

Among the values he continued to pursue were the proper use of cantillation (for scriptural recitation), voicing patterns that preferred lower voices, and accompaniment that was limited to strings (and usually harpsichord). In Jewish practice, the ritual chanting of Biblical readings (cantillation) employed two styles – a more poetic one for the Psalms, Proverbs, and book of Job as well as a simpler prose style for everything else. Cantillation practices varied from sect to sect of Judaism (for example, there were no special Psalm cantillations among the Ashkenazim). In other sects, the grammatical constructs understood to inhere in the tex-

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tual material were extensive and complex.22 The one place where these various prescriptions converge is in Psalm 42, “Dal tribunal augusto”, scored for bass and basso continuo. It is one of the most widely performed of the Salmi di Davide, not because of its adherence to prescriptions for monophonic music and male voices but because of its suitability to virtuoso display and its minimal requirement for performers. Despite all Marcello’s caveats concerning self-important performance, the melodic leaps required of the voice in this psalm are merciless. It was obviously impractical in Marcello’s time, and in the academic milieu, to exclude female voices altogether, but across the whole collection sopranos are largely excluded and the average tessitura of the vocal parts lies in the tenor range. Musical figures in individual works largely responded to the text at hand. Marcello heavily employed madrigalian word-painting. Homophonic writing anticipated the participation of “all the people”; their role was to simulate the throng petitioning or responding to God. Contrapuntal writing was supposed to exhibit (as much as express) the strictness of God. The more elaborate it was, the more was demanded of “the people”. Monophonic writing typically represented David. It is more difficult to determine Marcello’s thoughts on when, and to what extent, voices and instruments should be doubled. A fair summation of his introductions and the tidbits that can be gleaned from the testimonials appearing in them is that his priorities were to cater first for performers of professional merit and then for greater and lesser numbers of them per part according to the availability and physical circumstances. Solo and tutti markings are numerous, though moreso in the instrumental parts than in the vocal ones.23 With respect to the use of instruments, Marcello clearly departed entirely from strict sects of Judaism, among whom the exclusion of instruments recognized their abandonment after the Expulsion from the Temple.24 Marcello was articulate in his instructions for when, where, and how stringed instruments should participate. He consistently emphasized his own instrument, the violoncello, ostensibly because it suited the overall range of the voices for which he scored. He scored for violas in laments. Individual passages might be marked for bassetto. They could indicate marcato or pizzicato playing. Although textual and musical errors occasionally occur in the typography, cues that recognize the coming

22 An instructive aphorism was offered by Eliyahu Schleifer in 1992: “Simple tunes may be ancient, or they may be later simplifications of more complicated chants”. This is a crux of an issue that chant studies share with folksong studies. Formalization can lead to endless elaboration, but the need to share repertories among large populations can quickly undermine refinements. See Schleifer’s account in “Jewish Liturgical Music from the Bible to Hassidism” in: Sacred Sound and Social Change: Liturgical Music in Jewish and Christian Experience, ed. L. A. Hoffman and J. R. Walter (University of Notre Dame Press, 1992), pp. 13–59. For contextual placement, see also Don Harrán, “The Hebrew Exemplum” (as n. 16), pp. 143 – 194. 23 Johann Mattheson’s instructive testimonial letter in Vol. VI related that he had performed (selected) works in Hamburg with 30 professional singers. 24 Some Biblical sources stipulated that Psalms 4 and 6 were “for strings” (accompaniment on the psaltery), while Psalm 5 was “for flutes”. Nowhere did Marcello call for flutes, which were banned from church use by the Papacy during the Counter-Reformation.

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and going on individual instruments are generally more consistent than in other music of the time. When it came to expressing the theme of Old-Testament justice, God’s rule assumed the guise of strict counterpoint. Marcello claimed Palestrina as his model,25 but his contrapuntal practice is varied. He uses homophony and polyphony in alternation. He employs a wide range of points of imitation. He reserves the stile da cappella, which is used sparingly, for the cherished “redress of vice”. Pedal points underscore references to eternity, as for example in Psalm 28 (“O prole nobile di magni principi”), and hope, as in the conclusion of Psalm 32 (“Alme giuste, alme innocenti”; shown in Example 3). This example shows in a very limited space much of Marcello’s contrapuntal arsenal, es-

Example 3: Concluding phrase of Psalm 32, on the text “nostra speranza”.

pecially the staggered entries and endings within pairs of voices (alto/tenor and bass/basso continuo), but at the same time (and again through contrasted voice pairs) the variability of hope (alto/tenor) and its steadfastness (bass/basso continuo). In combination, the stile da cappella and such specific devices as these illuminate “the holy way to redress vice with rules and precepts”. Other psalms that vigorously exhibit the same qualities are Nos. 36 and 50.26 (The perpetual canon “In omnem terram”, printed after No. 50, actually forms the conclusion of Psalm 18.) One peculiarity of Marcello’s text underlay in contrapuntally set psalms is that words divided into two syllables (e.g. me-a) in one voice may be elided into one (e.g. mea) to facilitate reaching a common cadence. Marcello’s lyrics are more generally inclined to be inconsistent from page to page. Apart from contrapuntal contexts, Marcello adds striking rhythmic figurations to his arsenal of weapons against complacent listeners. In the lengthy Psalm 17 (alto, tenor, bass) rhythmic inventiveness sustains interest, especially in setting the verse “Il Signor solo sarà l’oggetto”, where a five-bar ostinato bass is heard against a conventional text in conventional 25 In youth, Marcello had laboriously copied treatises and models of composition by hand. His hand copy of the 1622 Regole of Camillo Angleria in the Biblioteca Nazionale Marciana was for a time thought to be his own work. 26 Full scores for five Psalms – Nos. 14, 18, 22, 36, and 50 – are posted online, provisionally at http:// www.ccarh.org.

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meter. “Implacable wrath” is reified by rumbling cellos and violins. In the final section, introduced by an ecclesiastical intonation of Mode 5, the note denominations of the lower voices become elongated as the “centuries” of the text gradually stretch out. A fundamental question that arises from Marcello’s careful musical glosses is how to synthesize all the resulting instantiations of one or another impression of “classical purity” in a single work. Over and over, Marcello contrasts highly active with ominously static voices. In Psalm 22, “Se il Signore mio Pastore” (“The Lord is my shepherd”), a lilting 3/8 meter conveys the pastoral nature of Divine care. Initially it is the voices that move briskly over a static accompaniment, but these relationships are eventually reserved and the final passage instills tranquility. These three qualities – dynamic vs static voicing, the use of 3/8 meter, and an unrush fluidity suggestive of a moderate tempo – are in fact characteristic of Marcello’s pastoral psalms in general, but especially those demonstrably inspired by antiquity. Such qualities, in fact, spread across much of the rest of Marcello’s music. Just as the Psalms gave scope for Marcello to recycle techniques he had employed in his earlier cantatas and madrigals, so they also served as an incubator for those few works that were to follow. The fundamental idea of his anomalous oratorio Il pianto e riso delle quattro stagioni (1731)27 may in fact come from a text within Psalm 29, “Se la sera si piange, il sol non sorge che il pianto amaro in dolce riso è volto”. Only in music can one express the simultaneities of opposing emotions and their rapid convergence, as here when the “bitter tears” of evening turn into a “sweet smile” under the morning sun. Marcello’s heavy use of madrigalisms is acknowledged in the preface to Volume IV. He expresses the view that teachers and singers can learn as much from his settings as their predecessors had from madrigals. To this end, his setting of Psalm 21 (“Voglio mio Dio” in Giustiniani’s paraphrase but usually cited by its Latin analog, “Deus, deus meus”) was intended to illustrate the musical evocation of sorrow and emotional response. To this end, it was accompanied by violette, for Marcello (like Brahms) seems to have considered the alto range to have been particularly well suited to expressions of sorrow. The “vanity” and “brevity” of life are set, in Psalm 38 (for soprano solo) with rising arpeggios followed by descent on flatted tones. No overall view of the Psalms would be complete without some mention of the architectural devices Marcello uses to unify certain works. Psalm 40, for example, is essentially a dialogue between two musical ideas associated with the texts “I miei nemici” and “Per darmi morte”. In this instance the concluding evocation of eternity is conveyed through a fugue. (Eternal damnation, in contrast, is portrayed in Psalm 48 by the introduction of a descending G Minor scale in a section otherwise in G Major.) The “wide river of mercy” is suggested in Psalm 50 by a single pitch – B flat. White snow in Psalm 50 hovers on E flat.

27 Recently edited by Michael Burden: Il pianto e il riso delle quattro stagioni (= Recent Researches in the Music of the Baroque Era 118), Middletown, WI 2002.

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4. Performance, Reception, Reputation Performance practices associated with Marcello’s psalms varied over time and space. Within Venice, the two venues with which they have been loosely linked are the Palazzo Giustinian near Ca’ Foscari and the Sala di Musica in the Ospedaletto. As the home of the nobleman-poet who wrote the psalm paraphrases, Ca’ Giustinian was a natural venue. Its salone would have accommodated the three of four voices to a part that Marcello’s prefaces suggest would have been appropriate, plus a small group of strings and a harpsichord. The Ospedaletto’s Sala di Musica is a slightly more enigmatic choice. Its superb acoustics would have suited a small ensemble performing for a small private audience, but Marcello’s own call for predominantly male singers would not have suited the human resources of this all-female institution, nor would his thoughts on the reinforcement of voices and instruments been easily accommodated in its confined space (Illustration 3). Once born beyond the confines of Venice, the Psalms took on a life of their own. On July 8, 1739, two weeks before Marcello’s death, the general director of the Arcadian Academy at Rome launched the first of twelve weekly concerts in which all of the Salmi di Davide were performed in order. The series was originally intended as a memorial to the newly deceased cardinal Carlo Colonna but it came to serve as a memorial to the composer of the psalms.

Illustration 3: The Sala di Musica, Ospedaletto (Eleanor Selfridge-Field, 2009).

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The print on which this Roman cycle was based (Rome: Antonio de’ Rossi, 1739) corresponds closely to the manuscript copy of the Psalms owned by Joseph Smith, the British resident in Venice, and now held by the Royal College of Music, London (MS 2123). Second-hand reports of the Roman performances mention large choirs and string ensembles. Similarly, a performance at the Palazzo della Cancelleria in Rome, under the auspices of Pietro Cardinal Ottoboni, is mentioned retrospectively in the London 1757 edition of the Psalms edited by Charles Avison and John Garth. Johann Mattheson first mentioned the performances organized by him at Hamburg Cathedal in his Critica Musica (1725). His attraction to the Psalms is documented in his testimonial “letter” reproduced in Volume 6 of the Lovisa print. It is by far the most ample and the most specific testimonial (6 October 1725) provided by any musician, for Mattheson found much to praise. He admired Marcello’s effort to reconcile ancient and modern music. He found substance in the melodies, and he praised the fact that they were based on penetrating readings of the lyrics. He recommended the works not for “private concerts” but for “a people rich in virtuosi and full of faith”. Mattheson was very proud of the fact that the works had been performed in Hamburg Cathedral, where he was then the music director, and at other nearby churches. Under his direction, the concerts had involved about 30 performers, each of them “highly able”. The singers “sang with the unanimity of the ancient Levites and with all the beauty of modern manieri”. The listeners, he tells us, were filled with joy.28 Marcello had replaced Palestrina, he said, as the paragon of contrapuntal practice. As if to prove the point, Marcello opened Volume 7 with his lengthy setting of Psalm 36 and discussed it at length in his preface. It is here that he tells us that he employed the stile ecclesiastico da cappella because it provided “the holy way to redress vice…” He used the second mode because it implied the “rigor derived from ancient Greek legislators”. Thus it was through the use of ecclesiastical modes that he wedded contrapuntal textures of the Renaissance to symbols of the “sound” of (what was then considered to be) antiquity. Particular attention is given to the setting of such words as “punite” and “giusti” (the punished and the righteous).29 Marcello indicates that although only the four vocal parts are supplied, harpsichords and double basses should be used “for reinforcement”, thus indicating that the written score does not fully describe the extent of the performing resources he intended. 30 Further, he adds, the basses can be divided (spezzati). The continuo shown is the most active “voice” of the work. His settings of Psalms 43 and 50 follow roughly similar lines. Psalm 48 (alto, tenor, bass) indicates “cembali e contrabassi colla parte [bassa]”.

28 Marco Bizarrini (“Le esecuzioni dei Salmi di Benedetto Marcello nell’Europa del Settecento”, in: Rassegna veneta di studi musicali, 7 – 8 [1991], pp. 167 – 186) notes that Antonio Conti referred to Psalm performances for Charles VI at the court in Vienna. 29 Psalm 37 makes its own riposte to this by setting the text “giustizia eterna” with two homophonic voices. 30 The written score merely contains the indication “Violoncelli e Contrabassi col Basso” at the start of the work.

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Legacies The Roman imprint may have been pivotal in projecting the Psalms into European public consciousness, for it was only the second printing. Nineteen other printed editions occurred subsequently. They came from Paris, London, Florence, Milan, Udine and Venice. In the Napoleonic-era edition of Sebastiano Valle (Venice, 1803 – 05), the Giustiniani text was “modernized”. A great popularizer of the Psalms was Franciszek Mirecki,31 a Pole who studied with Cherubini in Paris. Cherubini was the alleged editor of the Parisian edition (c. 1819) with Mirecki’s piano accompaniment. Mirecki is said to have produced an orchestrated version of the “Cherubini” edition (Paris, 1830), but no exemplars are known.32 The Merlo edition (1835), dedicated to Gioacchino Rossini, was almost as regal as the original Lovisa set of volumes. It too provided a piano accompaniment, by Pietro Tonassi, who offers numerous octave doublings in the left hand and completely recasts Marcello’s aims. The Ricordi edition of c. 1870 may have been based on the Roman print of 1739, as the works were arranged in the same number of physical volumes and similar physical layouts. Printed sources contain only a small portion of the circulated psalms. The theme quoted from Psalm 21 in Example 2 was used to further goals quite different from Marcello’s by Johann Simone Mayr, in his oratorio Samuele (1821). Soon after (1826), Rossini quoted it in La Siège de Corinthe. Re-assignments of social function and religious persuasion continued to follow Marcello’s Psalms wherever they went. The survival of lyrics translated into Swedish and English document the extensive use of the repertory in Protestant worship. The survival of Latinized texts in monastic holdings in Italy suggest their use in Catholic liturgy. Translations into the French vernacular may have retained the academic intentions of the originals. The intended uses of translations into German may have varied with the location of the adaptation. The vernacular suggests academic usage, through in specific cases they seem to have been linked with conservatory pedagogy and with the choral societies that flourished in the late eighteenth and early nineteenth centuries.33 The carving up of the Psalms into versets and anthems paved the way for conversions of what had been accompanied vocal works to instrumental (especially keyboard) ones. Later, some instrumental works were then provided with new texts (suited to diverse purposes including liturgical and pedagogical use) in practical editions of the twentieth century. Fragments of Marcello’s psalms (under many other names and genres) were ultimately diffused through the European and American musical landscape so stealthily that it would be impossible to eradicate all trace of the ill-conceived progeny. In hindsight, it is evident that a few psalms may be recalled today mainly because of incidental textual associations with well known works by other composers. Marcello’s Psalm 18 31 Franciszek Mirecki (1791 – 1862) was the first person to publish a treatise in Italian on orchestration (Milan, 1825). The treatise (Trattato instrumentazione) remains unpublished, although a modern edi­ tion is planned by Michał Bristiger. 32 Copies do exist of the 1841 reissue of Mirecki’s edition with piano accompaniment. An undated edition from Udine provided “correction” of the Mirecki-Cherubini effort by Francesco Anichini, a music theorist at the Florence Conservatory. 33 On specific sources, see Selfridge-Field, The Music (as n. 1).

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(“I Cieli immensi narrano”), for example, is a textual cousin of the chorus “The Heavens are Telling” in Haydn’s Creation (1798), a work inspired more by Handel’s oratorios than Marcello’s Psalms (though Handel’s oratorios were widely circulated in the London that Haydn visited in the 1790s). Others who were inspired by psalms set to verse in vernacular languages had included Claude Goudimel (c. 1520 – 1572) and Jan Pieterszoon Sweelinck (1562? – 1621). Both were inspired by the Geneva (or Huguenot) Psalter. Marcello’s espoused aim of recapturing the purity of ancient music led him to carefully curate residues of earlier times and then frame them in the operational practices of the present. Critics constantly shifted their ground on the question of what constituted the nucleus of the Psalms’ importance. The works were variously valued for their harmony (England), their melody (Germany), and their counterpoint (France).34 Ironically, this breadth of understandings eventually rendered the repertory invisible, impenetrable and inscrutable. Each view partly eclipsed another. Settings of texts widely associated with religious practice are difficult to understand as secular music in a world of constantly diminishing regard for sacred music. That the spread of the Psalms made them one of the most widely distributed repertories of the eighteenth century is something of a curiosity. The Psalms themselves, like Marcello’s satirical treatise on the culture of opera, Il teatro alla moda, were scarcely ever out-of-print from his time until about 1975 – 250 years after their creation. They can never be fully resituated in their original niche – as works to please academicians – because none of the cultural apparatus that made them such objects of respect survived. Yet they can still be appreciated as musical works that constitute a genre of its own kind, and they can still reveal new meanings, and cunning aesthetic models, to those with the patience to seek them.

34 See Eleanor Selfridge-Field, “Marcello‘s Music: Repertory vs. Reputation”, in: Benedetto Marcello: La sua opera e il suo tempo, ed. Claudio Madricardo e Franco Rossi, Florence 1988, pp. 205 – 222.

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Compositional Style, Performance and Function in Sixteenth-Century Italian Church Polyphony David Bryant, Elena Quaranta

In this paper, we address the rarely unequivocal relationship between the compositional style of a given piece of music, its function (or functions) in performance, and its sound, in the context of what is known about normal uses and practices of music both in the greatest churches and, above all, in parish and monastic churches on the Italian peninsula during the sixteenth and early seventeenth centuries. Our approach is essentially ‘problematic’. For the moment we prefer to discuss and offer tentative generalizations on the basis of some individual cases; data is rarely sufficient and rarely precise enough to provide clear answers or sometimes even parameters for more than local reference. Few written musical sources contain precise information on the function of their contents or, before the seventeenth century, how they can be performed.1 And few non-musical – in particular, archival – sources inform us on what precisely was performed on given occasions (except, naturally, with reference to some very special occasions and/or special churches, where detailed ‘memory’ can be an essential part of ceremonial and protocol). Most (though not all) of our case studies regard settings of the psalms. All sources are printed, since music printing in hundreds of copies potentially gives rise to the phenomenon of multiple performances of a given composition in different institutional, functional and economic contexts (not to mention the effect of differing local traditions). A first, basic question is as follows: how does musical composition respond to the economic dynamics created by printing for the multiple needs of different performing conditions? Printers invest money in producing hundreds of copies of a given collection (in the absence of a patron’s partial or total subsidy), and will naturally be unwilling to limit the number of potential buyers by requiring, for example, specific performing forces. We believe that the importance of maintaining acceptable sales’ levels can sometimes have been a major factor in determining compositional styles, both in their relative simplicity (music for majority use) and in the relatively generic nature of their notation and indications for interpretation. We recently attempted to document one such case in investigating the use of one or more solo voices with instrumental accompaniment in the performance tradition of sixteenth-century sacred polyphony.2 While solo compositional practices are attested in printed (and manuscript) musical sources only from the early years of the seventeenth century, the self-proclaimed 1 For discussion of the function of the sixteenth-century motet cf. Anthony M. Cummings, “Toward an Interpretation of the Sixteenth-Century Motet”, in: JAMS 34 (1981), pp. 43 – 59. 2 David Bryant and Elena Quaranta, “Traditions and Practices in Fifteenth- and Sixteenth-Century Sacred Polyphony: the Use of Solo Voices with Instrumental Accompaniment”, in: Music as Social and Cultural Practice. Essays in Honour of Reinhard Strohm, ed. M. Bucciarelli, B. Joncus, Woodbridge 2007, pp. 105 – 118.

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David Bryant, Elena Quaranta

“inventor” of this compositional style – Lodovico da Viadana – states in his preface to the Cento concerti of 1602 that solo performance of sacred polyphony was previously far from unknown. The use of one or more solo voices with instrumental accompaniment can, in reality, be traced right back through the sixteenth century with the help of archival documents. Potentially solo compositional practices are also testified in fifteenth-century musical manuscripts. They disappear entirely, however, during the first decade of music publishing, in favour of what we might term ‘equal-voice polyphony’. An explanation might read as follows: while the performance of compositions apparently written for specific solo voices is bound to the availability of suitable forces, equal-voice compositions are more adaptable to multiple contexts and uses insofar as they can be performed in a variety of ways: vocally, by a choir or by one voice per part, or by one or more solo voices in any combination with organ and/or other instrumental accompaniment, in accordance with what is available or required in any given time, place or functional context. The economic incentives of commercial music printing surely encouraged the development of a compositional style which responded generically to buyers’ needs: the elimination of a compositional style which assigns a specifically solo role to one or more voices can be seen as the printer’s and composer’s reply to the necessities posed by the economics of production. This example identifies performance as the focal point in the productive cycle, and suggests that it determines basic aspects of compositional style. Performance is the principal moment of direct contact between composers/performers and patrons/public, buyers and sellers, i.e. the hub of the economic system. In the specific context of the liturgy, musical performance is ‘functional’. And this brings us back to the basic question: what is the rela­tion­ ship between function, musical composition and the sound of the music in performance? At this point, it is necessary to summarize the majority contexts for polyphony and, in particular, polyphonic psalm settings in sixteenth- and seventeenth-century Italian liturgical and ritualistic use. Majority use of church polyphony in this period is essentially anchored to two types of activity:3 1) The routine work of small church cappelle musicali (presumably, on Sundays and the major festivities of the universal church calendar). The activities of more or less permanent church choirs are documented for the most important monastic communities, the richest parish churches and the largest lay confraternities of even small Italian cities. In Venice, around 1600, there were over twenty such groups; no archival documentation from many of the city’s some 200 parish and monastic churches and other places of worship is available 3 See, in particular, Elena Quaranta, Oltre San Marco. Organizzazione e prassi della musica nelle chiese di Venezia nel Rinascimento (= Studi di Musica Veneta 26), Florence 1998; David Bryant and Elena Quaranta, “Per una nuova storiografia della musica sacra da chiesa in epoca pre-napoleonica” and “Come si consuma (e perché si produce) la musica sacra da chiesa? Sondaggi sulle città della Repubblica Veneta e qualche appunto storiografico”, in: Produzione, circolazione e consumo: Consuetudine e quotidianità della polifonia sacra nelle chiese monastiche e parrocchiali dal tardo Medioevo alla fine degli Antichi Regimi, ed. D. Bryant, E. Quaranta, Bologna 2006 (= Quaderni di Musica e Storia V), respectively pp. 7 – 16, 17 – 65; David Bryant and Elena Quaranta, Francesco Trentini, “Cappelle musicali and the Economics of Sacred Music Production. Proposals from Treviso for a Broadened Historiographical Model”, in: Cappelle musicali fra corte, stato e chiesa nell’Italia del Rinascimento, ed. F. Piperno, G. Biagi Ravenni and A. Chegai, Florence 2007, pp. 107 – 119: 108.

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for study, so ‘twenty’ must be regarded as a minimum. In the same period, a much smaller city like Treviso – with some 55 churches and chapels – supports at least eight cappelle musicali. The much smaller Conegliano has at least four. This type of activity probably gives rise to the essentially vocal, a cappella sound of church polyphony (with or without organ accompaniment). 2) The endless and thus, in the final analysis, routine succession of important festivities in individual churches, in particular: • • • • •

the greatest feasts in the universal liturgical calendar (Christmas, Easter and major Marian celebrations; musical activity also increased, sometimes significantly, during Advent and Lent); feasts honouring a church’s patron saint; feasts honouring a monastic order’s founder or patron saint; (sometimes) the dedication of a church; feasts honouring the patron saints of guilds and confraternities, normally celebrated at side altars maintained by the confraternities themselves and dedicated to the saints in question.

These festivities provided singers and instrumentalists with what, in the larger cities, was a continuous supply of daily and recurring engagements: in Venice, for example, we can certainly speak of well over 500 occasions per year, all of which normally required the presence of singers and instrumentalists at first Vespers, Mass and second Vespers. This festive practice is, in Venice at least, well established by the first half of the fifteenth century (probably much earlier, but little archival evidence survives) and continues unabated until the fall of the ancient régime. A similar picture seems to emerge elsewhere on the Italian peninsula (though archives or archival research are often lacking). For example, Leonardo da Vinci states as follows in his so-called Trattato della pittura: Or non si vede le pitture rappresentatrici le immagini delle divine deità essere al continuo tenute coperte con copriture di grandissimo prezzo? E quando si scuoprono, prima si fanno grandi solennità ecclesiastiche con vari canti con diversi suoni. E nello scoprire, la gran moltitudine de’ popoli che quivi concorrono, immediate si gittano a terra, quelle adorando e pregando per cui tale pittura è figurata, dell’acquisto della perduta sanità e della eterna salute, non altrimenti che se tale idea fosse lì presente ed in vita. [...]4

This passage certainly implies that similar musical practices were current in late fifteenth-century Florence and/or Milan, where Leonardo apparently penned the texts later assembled as 4 “Is it not true that the paintings containing the images of the holy saints are continuously covered with drapings of the greatest value? And when these paintings are uncovered, first great ecclesiastical ceremonies are made with divers voices and instruments. On seeing them, the great multitude of people who come [on these occasions] immediately throw themselves to the ground in adoration and prayer to the saints represented in the paintings, for the recovery of lost health and acquisition of eternal bliss, no less as though they were present in real life.” Leonardo da Vinci, Trattato della pittura (Cod. Vaticano Urbinate 1270), vol. I, part I, cap. 4 (“Delle scienze imitabili, e come la pittura è inimitabile, però è scienza”).

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the Trattato. (It also illustrates the nature of altar-pieces as a kind of ‘set-design’ for festive liturgies: a visual parallel to the celebrative music “with divers voices and instruments”. The act of unveiling has a similar function to the presence of music with voices and – above all – instruments as a sign of particular solemnity.) Our first case study regards Costanzo Antegnati’s Salmi a otti voci of 1592.5 The volume was dedicated by the composer, organist at Brescia cathedral, to the abbess, prioress and nuns of the Benedictine monastery of San Vittore, Meda (north of Milan), with the following text: Molto reverende Madri [...]. Quando io mi ritrovai per mia buona sorte costì alla festa di S. Vittore, con occasione di rimetter in punto l’organo grande [...] fatto già loro dalla buona memoria di mio padre e da me, tra gli altri frutti spirituali, ch’io gustai quel giorno, uno fu segnalato l’udir cotesti Divini Officij cantati con sì divota, & affettuosa leggiadria, e tramezzati col suono di cotest’organo per mano della reverenda madre d. Claudia mia zia [...]. E se bene l’eccellenza della musica, in cui io quel giorno cotanto mi compiacqui, deve essere attribuita più tosto all’arte di chi cantava, che di chi l’haveva composta, nondimeno [...] confesso d’haver anch’io quel giorno stimata la compositione di que’ salmi assai migliore di quello, che per avanti io la stimassi; e d’esser entrato in pensiero di darla alla stampa [...]6

Salient points are as follows: • •

these 8-part, double-choir psalms for Vespers are obviously connected to at least one pre-publication performance during the festive liturgy in honour of a church’s patron saint; it is not clear whether the music was performed by the nuns, external professionals or a mixture of the two (we know only that the organist was a nun); nor does the dedication state whether instruments other than the organ were used (though, on the basis of what is known from elsewhere and the fact that Antegnati speaks of “questo strepitoso rimbombo d’aria”, this seems quite likely).

Though, as a glance will show, the music is technically impeccable,7 in our opinion Antegnati’s statement that “the excellence of the music [...] must be attritubed more to the art of the performers than to the composer” is more than pure rhetoric! Part-writing is simple, texture is largely chordal, ranges are narrow. The choirs alternate not by verses or hemistichs (i.e., liturgically) but, at times, with short phrases tossed backwards and forwards; there are short 5 Costanzo Antegnati, Salmi a otti voci, publ. Angelo Gardano, Venice 1592. 6 “Most Reverend Mothers [...]. When, happily, I was present in your church on the feast of St Victor for the purposes of registering the great organ [...] built by my father and me, I was able to enjoy – among the spiritual delights – the divine offices sung with devout and affectionate grace, with the sounds of the organ played by my aunt Donna Claudia [...]. And, though the excellence of the music that so pleased me must be attributed more to the art of the performers than to the composer, I yet [...] confess that I too esteemed the composition of those psalms much more on that day than ever before, and hatched the idea of printing them [...]”; ibid. 7 See, for example, the edition of the 8-part Magnificat octavi toni, in: La musica della cattedrale di Brescia. Magnificat anima mea Dominum. Antologia di brani vocali dei compositori della cattedrale di Brescia dal XVI al XVIII secolo, a cura di Remo Crosatti, Milan [1991], pp. 57 – 65.

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intermediate tutti, and a final tutti towards the end of the Doxology with a hint of stretto between choirs, much in the way of some final sections in Andrea Gabrieli’s Concerti of 1587. Can this kind of psalm composition normally be associated with festive occasions? Or is the compositional style to be considered as generic, open to elaboration by performers in accordance with the ceremonial and economic necessities of the moment? In his thesis for Ca’ Foscari University, Venice, Umberto Cecchinato looked at the uses of sacred polyphony in Conegliano, a small city north of Venice.8 Among other things, he was able to document the purchase of several collections of printed music by local monasteries. One such collection is Giulio Belli’s 8-part, double-choir Psalmi ad vesperas in totius anni solemnitatibus of 1596 (reprinted in 1600 and 1615), acquired in 1601 by the Franciscan friars of San Fran­esco.9 Belli’s print was purchased by the monastery in early September, i.e. shortly before the annual feast of St. Francis – patron saint of the church and founder of the Franciscan order – on 4 October. Thus the acquisition of the musical repertoire may be linked to an apparent function. However, this explanation is not without problems. The account books of San Francesco contain annual payments to external musicians especially hired for their services on the feast of St Francis, presumably at Mass and Vespers.10 In a recent paper, Claudio Bacciagaluppi suggested that one of the reasons for the non-survival of significant parts of many festive repertoires may lie in the fact that outside musicians frequently use their own music which, as their personal property, does not end up in the archive of the host institution.11 Thus, the purchase of Giulio Belli’s 8-part psalm might seem more intimately connected to the institution’s normal liturgical and musical activities. In fact, according to an anonymous local manuscript of 1588, the Franciscans of Conegliano “sempre servono in divinis con suoni, organo et bella musica et con predi­ cationi fatte da primi huomeni della loro religione”.12 The print itself, as the title-page reveals, contains psalm settings for “Vespers of the major feasts throughout the year”. But how can 8-part music be used by a religious family which, in various years between 1597 and 1613, numbered between 11 and 17 members, in­cluding the prior, the guardian, the

8 Umberto Cecchinato, La pratica musicale nelle chiese di Conegliano, dalla seconda metà del 1500 alla caduta della Serenissima Repubblica, Ca’ Foscari University, Venice, 2007 – 2008, and, in particular, id., “Il consumo della polifonia sacra: pratiche e repertori musicali presso le chiese di Conegliano tra Cinquecento e Seicento”, in: La musica policorale del secolo XVI: i precursori, l’ambito veneto, Asola e Croce, report of conference held at the Fondazione Ugo e Olga Levi, Venice, 27 – 29 May 2010 (forthcoming). 9 Giulio Belli, Psalmi ad vesperas in totius anni solemnitatibus octo voc. duoq; cantica Beatæ Virginis, publ. Angelo Gardano, Venice 1596; Angelo Gardano, 16002; Bartolomeo Magni, 16153. The monastery of San Francesco presumably acquired the second edition. 10 See, for example, Archivio di Stato di Treviso, Corporazioni religiose soppresse, S. Francesco di Conegliano, b. 23, reg. di spese per il 1600, sub data. 11 Cf. Claudio Bacciagaluppi, “I mottetti su testo metrico neolatino di Händel: tracce di un repertorio romano scomparso?” (final paragraph, entitled “Come scompare un repertorio?”), in: Georg Friedrich Händel. Aufbruch nach Italien. In viaggio verso l‘Italia (= Venetiana 11), ed. Helen Geyer and Birgit J. Wertenson, Rome 2013, pp. 227 – 252. 12 Archivio storico Comunale di Conegliano, b. 488, p. 6.

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cook etc.,13 and which appears not to have paid external musicians as members of a regular cappella musicale? Cecchinato’s hypothesis is that these psalms may sometimes have been performed by one or two vocal soloists with organ accompaniment, much in the way described by Pietro Lappi in his 8-part collection La Terza, con il Te Deum et Litanie of 1607: Ancorché in queste mie fatture si possino cantare tutte le parti sempre a piacere de maestri o de cantori, pur in alcune come si vede nella partitura dell’organo ho voluto anco che si possino cantare talvolta parte per parte, & talvolta due insieme, con simil modo stimando di più dilettare gli ascoltanti e moverli a divotione per la recitatione delle parole che si ode più chiaramente, & anco perché il cantore andandosi più adaggio in simil caso possa più gratiosamente dimostrare le sue perfettioni.14

Belli’s compositional layout is similar to Antegnati’s, though perhaps with greater complexity in the alternation of choirs and longer tutti sections. But these psalms, in the context of their employment at S. Francesco, Conegliano, seem to represent not – or not just – the music for the feast of the church’s patron saint but normal use at potentially all major festivities. Our next example regards two well-known, mid sixteenth-century definitions of “cori [...]” and “salmi spezzati”. Gioseffo Zarlino and Adriano Willaert, though colleagues at St. Mark’s, define these terms in quite different ways. In his Istitutioni harmoniche, Zarlino writes for musicians: Accaderà alle volte di comporre alcuni salmi in una maniera, che si chiama a choro spezzato, i quali spesse volte si sogliono cantare in Vinegia nelli vesperi, et altre hore delle feste solenni; et sono ordinati et divisi in due chori, over in tre; ne i quali cantano quattro voci. [...] I chori si pongono alquanto lontani l’un dall’altro.15

Willaert (or Gardano), when publishing in 1550 a collection of Salmi apertinenti alli vesperi per tutte le feste dell’anno,16 for pratical use by cappelle musicali and free-lance singers who earned money for services rendered,17 gives a functional, ‘liturgical’ definition of the term. 13 See, for example, the documentation in Archivio di Stato di Treviso, Corporazioni religiose soppresse, S. Francesco di Conegliano, b. 12 (account book for 1605). 14 The passage quoted is to be found in the “avviso” to the “signori Musici” of the organ-part: “Though, in these compositions, all the parts may be sung if desired by the maestro di cappella or singers, in some – as can be seen in the organ score – it is sometimes possible to sing one part alone, sometimes two parts together, in this way delighting the listeners and moving them to devotion, both on account of the recitation of the words (which can be heard more clearly) and because the singer, adopting a slower tempo in these cases, can more graciously embellish [his part].” Pietro Lappi, La Terza con il Te Deum: et Litanie della B. Vergine, et Santi. A otto voci, publ. Raveri, Venice 1607. 15 “Psalms are sometimes set in a manner called coro spezzato, which often in Venice it is the custom to sing during Vespers and the other hours of the solemn feasts; and they are arranged and divided in two or three choirs, each comprising four voices. [...] The choirs are placed at some distance, one from the other.” Gioseffo Zarlino, Le istitutioni harmoniche, Venice 1558, p. 268. 16 Salmi apertinenti alli vesperi per tutte le feste dell’anno, parte a versi, & parte spezzadi accomodati da cantare a uno & a duoi chori, publ. Antonio Gardano, Venice 1550. 17 A copy of the second edtion (Salmi apertinenti alli vesperi..., ed. Anton Gardano, Venice 1557) now conserved at the Museo Internazionale e Biblioteca della Musica, Bologna, bears a manuscript anno-

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The print, quite popular (a second edition was published in 1557), contains the following categories of polyphonic psalm setting: 1. “Salmi a versi con le sue risposte ali medesimi numeri”: the two 4-part choirs alternate verse by verse throughout, with no tuttis (compositions by Willaert, Phinot, Jachet) 2. “Salmi senza risposte quali sono nel primo choro”: the four parts of Choir I set the first hemistich of each verse 3. “Salmi senza risposte quali sono nel secondo choro”: the four parts of Choir II set the second hemistich of each verse 4. “Salmi spezzadi di m. Adriano”: the two 4-part choirs alternate hemistich by hemistich and come together for the final Doxology18 Here, the term “spezzadi” refers to the division of the liturgical text. In short, while Zarlino “breaks” or “divides” the groups of performers, Willaert “divides” the verses of the psalms (and musicologists sometimes confound the issues). The term “spezzati” recurs periodically in the printed repertoires right through until the early eighteenth century. Though rarely used in precisely the same way as by Willaert, in almost every case it has similar liturgically functional connotations: we are talking not of festive alternating choirs but of music born out of normal liturgical use and necessity. Gregorio Zucchini’s 4-part, necessarily single-choir “vesperi spezzati” of 161519 and Pietro Lappi’s 4-part Salmi spezzati of 163020 contain settings of alternate verses (corresponding, exactly, to categories 2 and 3 of Willaert’s and Jachet’s 1550 collection). Giacinto Bondioli’s 5-part psalms of 1627, “intieri è spezzati à beneplacito”, have coronas on the last chord of each verse;21 all verses are present, but odd or even verses can be amputated at will. Certainly, “salmi a versi spezzati” were very commonly used in the so-called ‘minor’ churches. Giovanni Matteo Asola, in 1578, published in two separate editions the “Primus” and “Secundus chorus” of his Vespertinae omnium solemnitatum psalmodiae, respectively containing odd and even verses; five reprints are known of the “Primus chorus” music (1582, 1586, two editions of 1590, 1598) and three of the “Secundus chorus” music (in 1583, 1589, 1596).22 If required, the two choirs can be combined for 8-part performance, because the tone of each psalm is identical. tation on the title-page of each part-book, with attribution of ownership to a certain “compagnia dell Rondine”. 18 Ibid., index. 19 Cf. Gregorio Zucchini, Missa quatuor vocibus [...] cum nonnullis psalmis integris, divisis, falsibordonibus, Magnificat, et litaniis B. V. [...], publ. Giacomo Vincenti, Venice 1615. Odd verses only are set to music, whereas the “vesperi intieri a quattro voci” which precede the “spezzati” versions in the print contain settings of all verses. 20 Pietro Lappi, Salmi spezzati a quatro voci con il basso continuo à beneplacito, publ. Bartolomeo Magni, Venice 1630. 21 Giacinto Bondioli, Psalmi tum alterno tum continuo choro canendi cum basso ad organum [...] opus octavum. Quinque vocum, publ. Bartolomeo Magni, Venice 1627. The psalms are described as “intieri è spezzati à beneplacito” in the index. 22 Giovanni Matteo Asola, Vespertinae omnium solemnitatum psalmodiae iuxta decretum sacrosancti Tridentini Concilij, duoq; B. Virginis cantica [...] cum quatuor vocibus. Primus chorus. Extat etiam secundus

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Our last examples regard, ideally, all the polyphonic repertoires, including the psalms. What, in compositional terms, are the ingredients of ‘normal’ festive music, at least in the sixteenth and early seventeenth centuries? We thus finish by looking at what was certainly intended by composers as festive music: compositions, for example, written by Augustinian friars for the feast of St. Augustine, by Franciscans for the feast of St Francis, by any composer for the patron saint of a minor church where he was employed etc. Ippolito Baccusi formed part of the Augustinian community and was maestro di cappella at the church of S. Stefano, Venice, from 1574 until at least 1577 and again beginning in 1592.23 The two compositions here partially reproduced are his 5-part O lumen Ecclesiae beate Augustine (published in his first book of 5-, 6- and 8-part motets of 1579) and his 5-part Missa Sancti Stephani (from his second book of 5-, 6- and 8-part masses of 1585).24 Nothing in the compositional style of these pieces differentiates them from other 5-part motets or masses by Baccusi or by others! Indeed, contrary to what we might have imagined, they are among the smallest-scale pieces in their respective prints. Yet the motet could certainly have been used in any Augustinian church on the feast of the Order’s spiritual leader (the text praises the “heremitarum Pater et fundator”), and the Missa Sancti Stephani would naturally have been appropriate for use during the titular feast of the church where Baccusi was employed. Is the difference, then, totally confined to the realm of performance practice? If this were the case, then most surviving polyphony would have to be considered as little more than draft material to be transformed, in performance, in line with functional necessities and economic conditions.

chorus, publ. Angelo Gardano, Venice 1578, 21582; Vincenti 31586, 41590; Amadino 51590, 61598; and Secundus chorus, publ. Angelo Gardano, Venice 1578, 21583; Amadino 31589, 41596. 23 Cf. Quaranta, Oltre San Marco (as n. 3), pp. 78 – 79. 24 Cf., respectively, Ippolito Baccusi, Motectorum cum quinque sex et octo vocibus liber primus, Venice, erede di Francesco Rampazetto, 1579; and id., Missarum cum quinque, sex, & octo vocibus. Liber secundus, Venice, Vincenti and Amadino, 1585.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 231

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi, maestro am Ospedale degl’Incurabili (1751 – 1757), am Beispiel seiner Psalmvertonungen Birgit Johanna Wertenson

Vermutlich kennen heutzutage nur die Wenigsten den Komponisten Gioacchino Cocchi. Er ist unbekannt – und das, obwohl er an einer der renommiertesten Wirkungsstätten im Europa des 18. Jahrhunderts tätig war. Von 1751 bis 1757 war er als maestro di cappella am Ospedale degl’Incurabili in Venedig angestellt. Dieses Ospedale, dem unter anderem der bereits zu seinen Lebzeiten renommierte deutsche Komponist Johann Adolph Hasse treu verbunden war, ist eines von vier venezianischen Institutionen, an dem ausschließlich Sängerinnen und Instrumentalistinnen als figlie di coro lebten und wirkten.1 Das Ospedale degl‘Incurabili wurde 1522 gegründet und betätigte sich vor allem als Spital für unheilbar Kranke, etwa für an Syphilis Leidende, und bereits ab 1524 als Waisenhaus primär für Mädchen. Ab etwa Mitte des 16. Jahrhunderts sind musikalische Aktivitäten nachweisbar.2 Wie aus zahlreichen Quellen hervorgeht, hatte die Kirche des Ospedale, Santissimo Salvatore, den Ruf einer hervorragenden Akustik. Dieser Kirchenbau war bereits 1588 nach Bauplänen 1 Zu den Psalmvertonungen der Ospedali-Komponisten siehe grundlegend die Datenbank: ­www.­psalmmusic-database.de. Eine Auswahl wesentlicher Forschungsliteratur zum Ospedale degl‘ Incurabili in alphabetischer Reihenfolge: Jane Baldauf-Berdes, Women Musicians of Venice: musical Foundations 1525 – 1855, Oxford 2004; Giuseppe Ellero, Origini e sviluppo storico della musica nei quattro grandi ospedali di Venezia, Venedig 1979; ders., Arte e musica all’Ospedaletto. Schede d’archivio sull’attività musicale degli ospedali dei Derelitti e dei Mendicanti di Venezia (sec. XVI – XVIII), Venedig 1978, Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Helen Geyer und Wolfgang Osthoff, Rom 2004; Helen Geyer, „Cantavano come usignoli: Le ,putte‘ e la loro influenza sulla musica dei quattro ospedali/conservatori veneziani“, in: Donne a Venezia: vicende femminili fra Trecento e Settecento, hrsg. von Susanne Winter, Rom 2004, S. 157 – 202; Helen Geyer, „Die venezianischen Konservatorien im 18. Jahrhundert: Beobachtungen zur Auflösung eines Systems“, in: Musical Education in Europe (1770 – 1914) (= Compositional, Institutional, and Political Challenges Volume 1), hrsg. von Michael Fend und Michel Noiray, Berlin 2005, S. 31 – 47; Helen Geyer, Das venezianische Oratorium 1750 – 1820: Einzigartiges Phänomen und musikdramatisches Experiment (= Analecta musicologica 35), 2 Bde., Laaber 2005; Pier Giuseppe Gillio, L’attività musicale negli ospedali di Venezia nel Settecento, Florenz 2006; Sven Hostrup Hansell, „Sacred Music at the Incurabili in Venice at the time of J. A. Hasse”, in: Journal of the American Musicological Society XXII (1970), S. 505 – 521; Berthold Over, Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert, Bonn 1998; Claudia Valder-Knechtges, „Musiker am Ospedale degl’Incurabili in Venedig 1765 – 1766“, in: Die Musikforschung 34 (1981), S. 50 – 56; Joan Whittemore, Music of the Venetian ,Ospedali‘ Composers, New York 1995; dies.: Revision of Music performed at the Venetian Ospedali in the Eighteenth Century, Illinois 1986. 2 S. hierzu Eleanor Selfridge-Field, Pallade Veneta. Writings on Music in Venetian Society 1650 – 1750, Venedig 1985, S. 37 – 41.

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des Architekten Jacopo Sansovino fertiggestellt worden und scheint in der Tat auf die Besonderheit der Musikaktivitäten hin konzipiert worden zu sein, worauf einige Merkmale seiner Architektur verweisen, die wohl fundierte Kenntnisse der damaligen Akustiktheorie zur Voraussetzung haben: Zu nennen seien das Oval des Grundrisses, frei von Ecken und Kanten, die glatten, relativ spartanisch gehaltenen Wände des Innenraums, beinahe frei von Vorsprüngen oder Dekorationen, so dass sich die Schallwellen ungehindert verbreiten konnten, und schließlich der soffitto – eine gerade Decke aus dem Resonanzmaterial Holz.3 Francesco Caffi schwärmte in einem Brief von 1843 an Emanuele Antonio Cicogna von der Kirche als einer „Musikmaschine“, einer „‚macchina musicale‘, caratterizzata da un’ottima sonorità in quanto concepita e costruita con forme riconducibili a quelle di uno strumento ad arco.“4 Noch rund 150 Jahre nach dem Kirchenbau, wenige Jahre nach Antonio Vivaldis Tod, sollten sich die Bautechniker des Neubaus der Kirche des Ospedale di Santa Maria della Visitazione (genannt „La Pietà“), Giovanni Poleni und Bernardino Zendrini, die Incurabilikirche zum Vorbild nehmen. Sie bestaunten im Jahre 1745 anerkennend deren großartige Akustik: è noto non altro esser la diffusione del suono, sia degli strumenti, sia dell’umana voce, se non una undulazione dell’aria che cominciando come in centro o dagli strumenti stessi, o dalla voce, si dilata successivamente per circoli concentrici nell’aria, percuotendo l’orecchio di lui si trova dentro di tal sfera di attività [...]5

Maestri an den Incurabili Zahlreiche maestri und seit dem Jahr 1726 insbesondere Komponisten, die an einem der neapolitanischen Konservatorien ausgebildet worden waren, wirkten an den Incurabili.6 Nach Nicola Porporas Weggang, der dort grundlegende organisatorische Ausbildungsstrukturen eingeführt hatte und als einer der renommiertesten Gesangslehrer seiner Zeit die stimmlichen Fähigkeiten der figlie und damit die musikalische Aktivität dieses Ospedale zu einer großartigen Prachtentfaltung führte, wurde Johann Adolph Hasse zur wichtigen zentralen Figur. Zwar war Hasse Anfang der 1730er Jahre nur für wenige Jahre maestro, doch komponierte er während der folgenden Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1783 weiter für das Institut und führte auch von seinem neuen Wirkungsort Dresden eine Art Beratertätigkeit aus, un3 Vgl. die Studien im Band Nel regno dei poveri: arte e storia dei grandi ospedali veneziani in età moderna, 1474 – 1797, hrsg. von Bernard Aikema und Dulcia Mejers, Venedig 1989, insb. S. 80f. und 145f., sowie Laura Moretti, Dagli Incurabili alla Pietà. Le Chiese degli Ospedali Grandi di Venezia tra Architettura e Musica, Florenz 2008. 4 Brief von Francesco Caffi in Cicogna 1824 – 1853, V, S. 329f. 5 I-Vmc, Codici Cicogna, 2320, Otto Opuscoli Spettanti a Venezia Del march. E Giovanni Poleni […]. Zitiert nach Moretti, Dagli Incurabili alla Pietà (wie Anm. 3), S. 12. 6 Vgl. Berthold Over, „Ein Neapolitaner in Venedig: Nicola Porpora und die venezianischen Ospedali“, in: Die italienische Kirchenmusik zur Zeit Händels (= Händel-Jahrbuch XLVI), 2000, S. 205 – 230 sowie Jolando Scarpa, „Una dinastia di Napoletani all’Ospedaletto da Traetta a Cimarosa (1767 – 1782)“, in: Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien (wie Anm. 1), S. 295 – 312.

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ter anderem hinsichtlich der Wahl bestimmter maestri – wobei seine Vorliebe für in Neapel ausgebildete Komponisten nicht ohne Auswirkung blieb: 1726 – 1733

Nicola Porpora

1733 – 1737

Johann Adolph Hasse

1737/1738

Nicola Porpora

1738/1739

Johann Adolph Hasse

1739 – 1743

Giuseppe Carcani (von Hasse vorgeschlagen)

1743 – 1747

Niccolò Jommelli (von Hasse vorgeschlagen)

1747/1748

Vincenzo Ciampi

1749/1750 ?

Johann Adolph Hasse

1751/52 – 1757

Gioacchino Cocchi

1757/1758

Johann Adolph Hasse

1758/1759

Nicola Porpora, Giuseppe Scarlatti

1760 – 1762

Vincenzo Ciampi

1762 – 1765

Baldassare Galuppi

1766 – 1768

Giovanni Francesco Brusa (Andrea Lucchesi)

1768 – 1776

Baldassare Galuppi

Nach 1777

Kompositionen unterschiedlicher Komponisten.

Tab. 1: Liste der Maestri di coro am Ospedale degl‘Incurabili.7

Die Anstellungsliste zeigt, dass trotz Hasses kontinuierlichen Engagements das Institut nach dem Weggang Niccolò Jommellis – der selbst nur knappe vier Jahre dort arbeitete – von Unbeständigkeit geprägt war, mit raschen Wechseln in der Leitungsposition. Eventuell hatte das Institut manches Mal Probleme, die jeweiligen Lücken nach Weggang einzelner Komponisten wie Vincenzo Ciampi oder Gioacchino Cocchi sofort zu schließen und war dann auf helfendes Einspringen Hasses oder Porporas angewiesen. Vor diesem Hintergrund nimmt sich die fünf bis sechs Jahre währende Amtszeit Cocchis als regelrecht beständige Zeit für das Institut aus. Man darf deshalb annehmen, dass diese Zeitspanne für das Institut prägend war. Doch wer war dieser Komponist? Über Cocchis Leben geben nur wenige Archivdokumente und die uns überlieferten Werke Auskunft. Zumeist handelt es sich dabei um Opern; seine uns heute bekannten Kirchenkompositionen sind dagegen vergleichsweise gering an der Zahl. Das Vorhaben, sich seinen Psalmvertonungen und damit einem Teil seines kirchenmusikalischen Schaffens zu widmen, soll einen ersten Versuch darstellen, vor allem über eine stilkritische Analyse Licht auf diese biographische und institutionelle Lücke zu werfen.

7 Die Zeitangaben basieren auf eigenen Recherchen in Kombination mit denen von Gillio, Hostrup Hansell, Over und Selfridge-Field (vgl. Anm. 1). Hostrup Hansells Annahme bezüglich Porpora im Jahr 1737/38 basiert auf einer auf 1738 datierten Motette Veni tua pura face (VK 259) für Anna Maria Zambelli. Vgl. Hostrup Hansell, Sacred Music at the Incurabili (wie Anm. 1).

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Gioacchino Cocchi – eine biographische Skizze Über Gioacchino Cocchi ist manches aus seinem Lebenslauf bekannt, einiges, wie etwa Geburtsort und -datum sind unklar. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er in Neapel geboren.8 Denn auch wenn manche Quellen wie Ernst Ludwig Gerber oder François-Joseph Fétis als Geburtsort Padua annehmen,9 so gibt Cocchi sich selbst stets als Neapolitaner aus bzw. nennt Zeit seines Lebens den Beinamen „Napoletano“. Allerdings könnte es sich auch lediglich um einen Verweis auf die großartige neapolitanische Komponistenschmiede jener Zeit handeln und damit eine Maßnahme der Eigenwerbung sein. Vermutliches Geburtsjahr ist 1720, und er starb in Venedig nach 1788, vielleicht 1794, wie Francesco Caffi berichtet.10 Anzunehmen ist mit ziemlicher Sicherheit, dass er ab dem Jahr 1735 in Neapel war und dort am Conservatorio di Santa Maria di Loreto studierte.11 Diese Annahme geht aus einer handschriftlichen Notiz auf dem Manuskript seiner Psalmvertonung Dixit Dominus hervor, das sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München befindet: Annotazione, che merita questa tal memoria. Una della prime giovanili mie produzzioni, quasi in tutte, e per tutte rinnovatasi da me nell’ anno 1788, per mostrare quali siano al presente, grazie a Dio, gli aumentidelle cognizioni armoniche, la vastità delle vaghe idee, il gusto moderno, ed una eleganza sublime, significativa, e penetrante negli animi li più insensibili frà i viventi; effetti di scienzia in quei tempi del tutto ignioti. Pensieri utili, e rimarcati dal Medo Gioacchin Cocchi ut Supra, dopo tanti anni […] Finis ad Laudem die, et Virgin[is] M[ariae] E Lauretanae Napoli Li 23 Luglio 1735 Gioacchino Cocchi.12

In den 1740er Jahren schlug Cocchi seine Laufbahn als Opernkomponist ein. Er begann seine Karriere mit der Oper La Matilda, die im Karneval 1739 am Teatro de‘ Fiorentini von Neapel uraufgeführt wurde. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte komponierte er zahlreiche

8 Vgl. Piero Weiss, „Gioacchino Cocchi”, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 4, London 1980, S. 509 – 510 und Gian Paolo Minardi, „Cocchi, Gioacchino“, in: Die Musik in Ge­ schichte und Gegenwart (MGG), 2. Auflage, Bd. 4, Sp. 1291 – 1293. 9 Vgl. Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, welches Nachrichten von dem Leben und Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Componisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, Dilettanten, Orgel- und Instrumentemacher, enthält, Bd. 1, Leipzig 1790, Sp. 290, und FrançoisJoseph Fétis, Biographie universelle des musiciens, Bd. 2, Paris 1867, S. 326. 10 Francesco Caffi, Storia della musica teatrale in Venezia: I-Vnm, It IV, 747-49 [10462-65], hier: 10465, fol. 109r. 11 Nach Dietz wirkten die folgenden Maestri am Conservatorio di Santa Maria di Loreto: 1739 – 1742 Nicola Porpora (Primo Maestro) und von 1742 – 1755, Francesco Durante (Primo Maestro) sowie Pietro Antonio Gallo (Secondo Maestro). Vgl.: Hanns-Bertold Dietz, „Zur Frage der musikalischen Leitung des Conservatorio di Santa Maria di Loreto in Neapel im 18. Jahrhundert“, in: Die Musikforschung (1972), S. 419 – 429. 12 Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus, D-Mbs [Mus.ms. 124]. Das gleiche Werk befindet sich auch in der Österreichischen Nationalbibliothek: A-Wn, [Mus.Hs.19084. 1 Mus].

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 235

Opern, rund 50 sind uns heute überliefert.13 Seine Werke wurden in Rom, Neapel, Padua, Bologna, Venedig, Paris, Wien, Berlin, London u.a. aufgeführt. Seine bekannteste Oper ist La maestra, una commedia per musica auf Grundlage eines Librettos von Antonio Palomba und Carlo Goldoni. Sie wurde 1747 in Neapel uraufgeführt, dann am Teatro Formagliari di Bologna, 1749 am King’s Theatre in London, unter dem Namen La scaltra governatrice 1753 an der Académie de Musique in Paris und als Die Schulmeisterin am Schlosstheater in Berlin. Mit dieser commedia erwarb sich Cocchi europaweit den herausragenden Ruf eines autore comico: „[Cocchi] war einer der ersten, der durch seine komische Laune die Opera buffa in Italien in Aufnahme brachte. Man schätzt ihn in diesem Fache dem Galuppi gleich.“14 La maestra kam 1748 auch in Venedig am Teatro San Moisè auf die Bühne, zusammen mit Musik von Vincenzo Ciampi, der in diesem Jahr noch maestro di cappella am Ospedale ­degl‘Incurabili war und den Cocchi vermutlich noch aus seiner Zeit in Neapel gekannt haben dürfte. Eventuell war also Cocchi, zudem Schüler von Porpora, bereits Ende der 1740er Jahre in Venedig und als Nachfolger von Ciampi im Gespräch. Hier komponierte er, so wie die meisten maestri an den Ospedali, nicht nur Kirchenmusik, sondern schrieb weiterhin parallel für die Oper. In Venedig entstandene und aufgeführte Bühnenwerke sind: Siroe, re di Persia (1750), La mascherata (1750), Le donne vendicate (1751), Nicotri (1751 Turin), Il pazzo glorioso (1753), Semiramide riconosciuta (1753), Rosmira fedele (1753), Tamerlano (1754), Demofoonte (1754), Li matti per amore (1754). Letzteres ist ein dramma giocoso auf ein Libretto von Goldoni, das weit rezipiert wurde, mit Aufführungen in Modena 1755, in Berlin an der Königlichen Oper 1764, und schließlich am King’s Theatre in London, ebenfalls 1764. In Venedig uraufgeführt wurden außerdem noch die beiden Dramen Zoe und Emira (1755 und 1756). Das erste Werk wiederum, das am King’s Theatre in London auf die Bühne gebracht wurde, ist die Komödie Gli amanti gelosi15, im Jahre 1757 aufgeführt durch eine fahrende Operntruppe aus Neapel unter der Leitung Giuseppe Giordanis. David Mason Greene zufolge wurde damit möglicherweise der Weg bereitet für Cocchis spätere erfolgreiche Karriere in London.16 1757 beendete Cocchi seine Zeit als maestro di coro am Ospedale degl’Incurabili und reiste als Opernkomponist nach London.17 Dort wurde er zunächst von 13 Auflistung aller Opern: Vgl. Weiss, Gioacchino Cocchi (wie Anm. 8) und Raoul Meloncelli, „Cocchi, Gioacchino (Detto il Napoletano)”, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 26, Rom 1982, hier: 13.02.2013. S. ausführlicher zum Opernschaffen, speziell zu La maestra: Anna Laura Bellina, „‘La maestra‘ esaminata“, in: Drammaturgia musicale veneta 19, 1987, S. 7 – 64. 14 Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon (wie Anm. 9), Sp. 290. Minardi, in „Cocchi, Gioacchino“ (wie Anm. 8), dazu: „Das deutlichste Zeichen der Bedeutung Cocchis im komischen Genre stellen die Erfolge mit der Truppe Bambini in Paris dar. Der Erfolg Cocchis, Signal einer Veränderung des Zeitgeschmacks, führte dazu, daß sein Name häufig gemeinsam mit dem B. Galuppis genannt wurde.“, Sp. 1293. 15 Nach Piero Weiss mit zweifelhafter Zuschreibung an Cocchi, vgl. Weiss, Cocchi (wie Anm. 8). 16 David Mason Greene, Biographical Encyclopedia of Composers, Bd. 1, New York 1985, S. 350. 17 Es war gängige Praxis unter den Ospedali-Komponisten, ihre Karriere an renommierten Stellen in ganz Europa weiterzupflegen – man denke u.a. an Nicola Porpora, Baldassare Galuppi, Ferdinando Bertoni, Antonio Sacchini und Giovanni Perotti, die in London Karriere machten oder an Andrea Bernasconi, Niccolò Jommelli und Johann Adolph Hasse in Deutschland: München, Stuttgart, Dresden.

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der Sopranistin und Intendantin Maria Colomba Mattei als Musikdirektor an das King’s Theatre am Haymarket engagiert. Seine erste Oper festigte eine zunächst erfolgversprechende Karriere, die mit einem Pasticcio Demetrio re della Siria begann; außerdem war er als Dirigent tätig.18 Während dieser Londoner Zeit stand Cocchi weiterhin in Verbindung mit dem Ospedale19 bzw. Venedig, so ist etwa auch im Libretto der 1761 aufgeführten Oper von Galuppi, Il filosofo di campagna, zu lesen, dass diese unter der Leitung von Gioacchino Cocchi, dem neapolitanischen Lehrer am Ospedale degl‘Incurabili, auf die Bühne gebracht worden sei.20 Cocchi wurde 1762 durch Johann Christian Bach abgelöst. Ursache dafür war laut Charles Burney eine Unzufriedenheit des Publikums: „[…] Although he had two admirable singers to write for, Elisi and Mattei, their performance could not procure any of his airs an encore in the Opera-house, or popularity out of it.”21 Cocchi arbeitete daraufhin 1764 als Konzertmanager am Carlisle House am Soho Square, das Teresa Cornelys betrieb und wo sich die musikhistorisch bedeutsamen Bach-Abel Concerts gründeten.22 Thomas Busbys Einschätzung nach waren dies die musikalisch intensivsten Jahre Cocchis, in denen er unter anderem für den Englischen Hof komponiert habe und kompositorisch wie organisatorisch an den zahlreichen Londoner Festivitäten beteiligt gewesen sei.23 Zwar kehrte Cocchi in den darauffolgenden Jahren für manche Opernprojekte an das King’s Theatre zurück, verdiente aber Burney zufolge vor allem als erfolgreicher Gesangslehrer sein Geld: In 1762 his engagement in England as a composer ceased. In 1765 he compiled La Clemenza di Tito, a serious pasticcio; and in 1771 composed Semiramide riconosciuta, and this was his Finale; but the nation had been too long accustomed to better music to listen to it with pleasure. About 1772 he retired to Venice […]. He remained here long enough to save a considerable sum of money by teaching to sing.24

Als Cocchi ca. 1772 – übrigens das Jahr, in dem Teresa Cornelys den Bankrott ihrer Unternehmung am Carlisle House erklären musste – nach Venedig zurückkehrte, war Baldassare Galuppi maestro di coro an den Incurabili. Somit war an eine Rückkehr an seine ursprüngliche Wirkungsstätte nicht zu denken. Allerdings konnte er vermutlich wie viele andere Komponisten nach dem Bankrott der Incurabili im Jahre 1777 noch einmal für den coro aktiv 18 Vgl. u.a. Charles Burney, A General History of Music, Bd. 4, London 1789, Reprint New York 2010, S. 476. 19 Dies kann die Vermutung nahelegen, dass Cocchi, wie durchaus üblich unter den maestri der Ospedali, mit der Intention nach London aufbrach, lediglich auf befristete und kürzere Zeit in das Ausland zu reisen und durch Substitute ersetzt wurde. Auch die anschließenden Jahre fehlender konstanter maestri unterstützt diese Theorie. 20 Nach Hostrup Hansell, Sacred Music at the Incurabili (wie Anm. 1), S. 507. 21 Burney, A General History of Music (wie Anm. 18), S. 476. 22 S. Thomas Mackinley, Mrs. Cornelys’s Entertainments at Carlisle House, Bradford 1840. Unter anderem traf dort laut einer Tagebuchnotiz auch der achtjährige Wolfgang Amadeus Mozart mit seinem Vater Leopold auf ihrer Londonreise im Jahre 1764 auf Cocchi. Information entnommen aus: Stanley Sadie, Mozart. The Early Years 1756 – 1781, Oxford 2006, S. 69. 23 „[…] at that time Cocchi occupied, and almost engrossed, the operatic stage.”, s. Thomas Busby, A Ge­neral History of Music, from the Earliest Times to the Present, Comprising the Lives of the Eminent Composers and Musical Writers, Bd. 2, London 1819, S. 313. 24 Burney, A General History of Music (wie Anm. 18), S. 478.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 237

werden, der nach diesem Jahr auf externe Komponisten zurückgreifen musste. Zumindest ist überliefert, dass Cocchi einige seiner älteren kirchenmusikalischen Werke in den 1780er Jahren revidierte, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Die wenigen Quellen, in denen Cocchi namentlich erwähnt wird, stammen aus der Zeit nach seinem Tod bzw. vom Ende seiner musikalischen Aktivitäten. Sie fallen in ihrer Einschätzung des Komponisten höchst unterschiedlich aus. Bei Fétis, der sich die Informationen bei Burney geholt haben dürfte, begegnen wir einer unverhohlen negativen Einschätzung: […] n’ayant point réussi à faire goûter sa musique, il s’adonna pendant près de quinze ans à l’enseignement du chant, ce qui lui procura des sommes considérables. […] Quoique ce compositeur ait eu un instant de vogue en Italie, surtout pour le genre bouffe, et bien qu’on l’ait comparé à Galuppi, il avait peu d’imagination, et n’est recommandable que par la clarté de son style et une gaieté assez franche.25

Das Urteil von Burney liest sich allerdings weitaus niederschmetternder: [...] he had good taste and knowledge in counterpoint, and in all the mechanical parts of his profession; but his invention is very inconsiderable, and even what he used from others became languid in passing through his hands. […] COCCHI was quite exhausted long before his comic operas were produced. Indeed his resources in the serious style were so few, that he hardly produced a new passage after the first year of his arrival in England; but in attempting to clothe comic ideas in melody, or to paint ridi­ culous situations by the effects of an orchestra, he was quite contemptible. Without humor, gaiety, or creative powers of any kind, his comic opera was the most melancholy performance I ever heard in an Italian Theatre. When COCCHI first arrived in England, he brought over the new passages that were in favour at Rome and Naples, to which, however, he added so little from his own stock of ideas, that by frequent repetition the public was soon tired of them; and his publications in this country are now as much forgotten as if he had lived in the 15th century. [...].26

Positivere Worte wiederum findet, neben der bereits wiedergegebenen Einschätzung Gerbers aus dem Jahre 1791, Francesco Caffi: Lo stile di questo compositore era caratteristico per una certa studiosa negligenza e concessione, usata con gran fuoco e insieme con gran giudizio, che però a meraviglia riusciva nel rappresentare le grandi passioni. La ‘Semiramide’ di Metastasio da lui scritta in Venezia fu considerata classica e fu successivamente in altre città molto applaudita. Metastasio che la sentì nel 1754 in Vienna subito ne scrisse con lodi a Farinelli nel 1754 in Ispagna quasi insinuandogli di fargli scrivere la nuova opera ch’egli apparechiava per la Corte di Madrid. Fu grande amico di Pescetti con quale anche in Inghilterra passò di poi alcuni anni, e la cui società si elesse per la musica de ‘Tamerlano’ del teatro di Venezia.27

Caffi kommt auch auf das kirchenmusikalische Schaffen zu sprechen: Poich’egli solo non potea prestarsi a tutto, oppresso com’era in quell’anno 1754 da lavoro per l’Oratorio e per altri drammi. Molto brillò anche nel Coro degl’Incurabili prestandosi con zelo singolare a produr 25 Fétis, Biographie universelle (wie Anm. 9), S. 326. 26 Burney, A General History of Music (wie Anm. 18), S. 478. 27 Caffi, Storia della musica teatrale in Venezia (wie Anm. 10), fol. 109r.

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con loro onore quelle donzelle negli Oratorii, e nelle solenni funzioni della lor Chiesa. Succedendo in quel reggimento musicale al celeberrimo Nicola Jomelli, incominciò nel 1754 coll’Oratorio ad otto voci ‚Petri contritio‘ e dopo una lacuna di molti anni per le sue assenze che riempite furono da altri maestri, terminò trent’anni dopo con un Oratorio a cinque voci nel 1784.28

Als Würdigung eines vergessenen Repräsentanten der neapolitanischen Musikszene liest sich der Beitrag des englischen Musikrezensenten Richard Mackenzie Bacon. Er widmet sich 1823 in seiner Zeitschrift The Quarterly Musical einer Untersuchung der neapolitanischen Schule und in diesem Zusammenhang auch einer kritischen Auseinandersetzung mit Gioacchino Cocchi: In Naples an artist succeeded to Latilla, who promised to attain the same eminence in the comic opera. Latilla had rivaled the first Venetian masters in Venice itself; and the composer of whom we shall speak did not fail to follow in his steps, to rival, nay sometimes to surpass GALUPPI himself, who was the Piccini of Venice. This master is GIOACCHINO COCCHI: endowed with ingenuity and originality, every thing bespoke in him the rank to which nature had destined him. In a word, his compositions possessed the spirit and gaiety of LOGROSCINO; but what must both afflict and astonish us, that notwithstanding the beauty of his compositions, and his undoubted talent, his scores have had the same fate as those of his model, and we neither know nor are able to name the title of one of his operas; this fatal neglect, which we have regretted more than once, has deprived the formerly abundant archives of the school of Naples of works greatly to be regretted. Chance alone appears to have presided at the choice of the works there collected. The friends of Polyhymnia in vain seek for a multitude of productions which at the time they appeared were, according to tradition, received as master pieces in art.29

Mackenzie Bacon zitiert daraufhin die gesamte Passage Burneys mitsamt dessen vernichtendem Urteil, von dem er sich am Ende dann dezidiert abwendet: However this may be, COCCHI has a title to respect in the career of melody; he adorned it with more than one fine work; and tradition preserving his name from oblivion, has at least informed us that he was a worthy successor of LOGROSCINO, and one of the most brilliant forerunners of PICCINI.30

Zu Gioacchino Cocchis Kirchenmusik Nach dem bisherigen Stand der Archivrecherche zu urteilen, können Gioacchino Cocchi vier Psalmkompositionen, 25 Solomotetten und sieben Oratorien oder oratorienartige Werke für das Ospedale degl’Incurabili zugeschrieben werden:31

28 Ebd. 29 Richard Mackenzie Bacon, „The School of Naples”, in: The Quarterly Musical. Magazine and Review, Bd. 5, London 1823, S. 163 – 182, hier: S. 172f. 30 Ebd., S. 173. 31 Vgl. Helen Geyer, Das venezianische Oratorium (wie Anm. 1), und Over, Per la gloria di Dio (wie Anm. 1). Der Onlinekatalog Opac des RISM listet acht Werke als Geistliche Gesänge auf, fünf davon sind für Sopranstimme, die noch einer eingehenden Untersuchung bedürfen.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 239 1754

Petri contritio in passione Domini Nostri Jesu (ad otto voci)

[1755

Divinae hypostasis encomium

1755

Abel occisus Christi Redemptoris figura (doppelchörig)

1756

Jerusalem ad Christum Dominum conversa

1756

Sermo apostolicus post Dominicam Transfigurationis (= Kantate)

1757

Mons divinae claritatis

1757

Noè (Introductio zu Miserere)

1784

Oratorio a cinque voci [evtl. Wiederaufnahme von Divinae hypostasis encomium]

Tab. 2.: Gioacchino Cocchis Oratorien bzw. oratorienartige Werke für das Ospedale degl’Incurabili.

Cocchis Motettenschaffen für Solostimme befindet sich erstens in der Textsammlung Sacra Modulamina (VL 80). Dort sind auch die Motettentexte von Johann Adolph Hasse, Giuseppe Carcani, Niccolò Jommelli und Vincenzo Ciampi überliefert.32 Zweitens beherbergt Modulamina Sacra (VL 81), angelegt ab etwa 1754, die jüngeren Solomotetten Cocchis. Die folgende tabellarische Übersicht basiert auf Berthold Overs Untersuchung:33 Textincipit

Sammlung2

Sängerin

Afflicata plorando

81

Emilia Cedroni

Alma fides exoptata

81

Teresia Tosi

Aura movendo infesta

81

Margherita Nicolini

Confusa, turbata

81

Emilia Cedroni

Dum currunt laetabundae

81

Cecilia Nassa / Margherita Nicolini

Equi flammantes

81

Regina Rossi

Felix nauta jam portum videndo

80/81

Laura Rimondi

Fons dilecte, o fons jucunde

80/81

Caterina Licini

Fulgura ecce tonat

81

Laura Rimondi

Iam dies languescit

81/81

Emilia Cedroni

Igne rapido micante

80/81

Teresia Tosi

Inferni tormenta

81

Francesca Rubini

Insurgendo rea procella

80/81

Laura Rimondi

Mare fremit in procella

80/81

Francesca Rubini

Offensa sum irata

80/81

Teresia Tosi

Oh mei cordis tu dilecta

80/81

Caterina Licini

Per colles, per prata

80/81

Antonia Traversi

Prata, colles, plantae, flores

80/81

Emilia Cedroni

Qualis excitat in bello

81

Francesca Rubini

32 Vgl. Over, Per la Gloria di Dio (wie Anm. 1), S. 267f. 33 Vgl. ebd., S. 270ff.

240

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Quam horribilis aspectu

81

Laura Rimondi

Tendebat ad occasum

80/81

Emilia Cedroni

Undas cerno minaces iratas

80/81

Francesca Rubini

Undique cerno armatos

81

Antonia Traversi

Veni exsultans, o mea cara

80

Antonia Traversi

Vox Dilecti dulce sonat

81

Margherita Nicolini

Tab. 3: Gioacchino Cocchis Solomotetten.34

Dementsprechend gering nimmt sich die Quantität der Psalmvertonungen aus, die uns heute als handschriftliche Quellen überliefert vorliegen. Es handelt sich um eine Dixit Dominus-Komposition, die Cocchi allem Anschein nach während seiner Ausbildungszeit in Neapel komponiert und 1788 eventuell für das Ospedale revidiert hat, des Weiteren um drei Kompositionen für das Ospedale degl’Incurabili, wobei lediglich das uns erhaltene und in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrte Autograph klare Identifikationsparameter aufweist, nämlich die Namen einiger Sängerinnen des Instituts. 1735 (Neapel, Revision 1788)

Dixit Dominus

S|A|T|B

A-Wn [Mus.Hs.19084. 16 Mus] D-Mbs [Mus.ms. 124]

1751—1757 (Autograph)

Laudate pueri Dominum

S|S|A|A

D-Mbs [Mus.ms. 125]

Abschrift nach 1757c

Dixit Dominus

S|S|A|B

I-Vnm [IV c. 1413 c. 11208]

Abschrift nach 1757

Domine ad adjuvandum

S|S|A|B

I-Vnm [IV c. 1413 c. 11208]

Tab. 4: Gioacchino Cocchis Psalmvertonungen.35

Paradigmatisch sollen die groß gefassten Vertonungen der beiden Vesperpsalmen Laudate pueri Dominum und Dixit Dominus näher untersucht werden, wobei die Analyse formelle und stilistische Merkmale des Komponisten mit der venezianischen und neapolitanischen Tradition kontextualisiert, insbesondere mit Charakteristica von Komponistenkollegen wie Niccolò Jommelli, der nur wenige Jahre vor ihm an den Incurabili tätig war.

34 In dieser Übersicht unberücksichtigt bleiben Overs Anmerkungen, ob der Text mit oder ohne Angabe des Komponisten abgedruckt vorliegt und ob es sich um einen Zusatz eines Textes zum Hauptkorpus handelt. Vgl. ebd., S. 270ff. 80 = VL 80, Sacra Modulamina. Die Sammlung kodifiziert das Motettenrepertoire nach ca. 1742 bis vor 1754. 81 = VL 81, Modulamina Sacra, enthält Textsammlungen von 1754 bis ca.1760. 35 Das Manuskript der Laudate pueri-Vertonung erweist sich als Ospedale-Komposition. Eingetragen sind die Namen der Sängerinnen: Cattarina, Emilia, Caecilia, Elisabetta. Es dürfte sich dabei um die Interpretinnen Caterina/Cattarina Licini, Emilia Cedroni, C[a]ecilia Nassa und Elisabetta Mantovani handeln.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 241

Laudate pueri Dominum (112) Der Psalm Laudate pueri gehört zum festen Bestandteil beider gebräuchlicher Vespertypen, als vierter Psalm der regulären Bekennervesper sowie als zweiter Psalm der Marienvesper, wobei letztere aufgrund des Marienkultes in Venedig auch im Festtagskalender der Ospedali fest verankert war.36 Laudate pueri gehört zur Gattung der Lobpsalmen.37 Sein Text leitet die Gläubigen an, Gott in all seiner Macht und Herrlichkeit zu preisen und Ehre zu erweisen. Formal gesehen charakterisiert diesen Psalm seine größtenteils starre Form mit klar voneinander getrennten inhaltlichen Textblöcken. Er ist dreiteilig gegliedert; Vers I bis IV präsentieren den Lobpreis und können inhaltlich zusammengefasst werden: Laudate, pueri, Dominum; laudate nomen Domini. Sit nomen Domini benedictum ex hoc nunc et usque in saeculum. A solis ortu usque ad occasum laudabile nomen Domini. Excelsus super omnes gentes Dominus, et super caelos gloria ejus.

Im Anschluss folgt in Vers V eine für Psalmen eher unübliche rhetorische Frage, die den Lobpreis unterbricht: Quis sicut Dominus Deus noster, qui in altis habitat et humilia respicit in caelo et in terra?

Die Frage führt als Verbindungsglied zur abschließenden Textpartie, in der das Elend und Leid der Welt vor Augen geführt werden (Vers VI bis VIII). Auch dies ist ein rhetorischer Kunstgriff, insofern die sich anschließende Beschreibung der Macht und Mildtätigkeit Gottes sich wirkungsvoller hervorhebt: Suscitans a terra inopem et de stercore erigens pauperem: ut collocet eum cum principibus, cum principibus populi sui. Qui habitare facit sterilem in domo matrem filiorum laetantem.

An den Psalmtext wird das Gloria Patri angefügt, da es mehrere Funktionen bedient. Erstens intensiviert die Trinitätsformel die christliche Interpretation. Zweitens wird der Ruhm Gottes unabhängig vom Inhalt des vorangehenden Psalms als Abschlusselement fixiert, so dass jede musikalische Darbietung mit einer jubilatio endet: Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum, Amen.

36 Detaillierte Untersuchung zur Stellung der Psalmen in der Vesper und den Psalmvertonungen an den Ospedali siehe: Alan Dergal Rautenberg und Birgit Johanna Wertenson, „The Psalm-Settings of the Venetian Ospedali in the 18th Century. Considerations about an Extraordinary Repertoire“, in: Studi Musicali 3 (2012/1), S. 73 – 125. 37 Vgl. ebd., insbes. S. 105 – 122, sowie Helen Geyer, „Beobachtungen an einigen Vertonungen des 112. Psalms ‚Laudate pueri‘ für die venezianischen Ospedali (Conservatori)“, in: Geyer u. Osthoff (Hrsg.), Musik an den venezianischen Ospedali (wie Anm. 1), S. 149 – 217.

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In seiner Laudate pueri-Vertonung folgt Cocchi dem venezianischen Usus jener Zeit, den groß angelegten Psalmtext als Nummernpsalm zu vertonen. Nach bisherigen Recherchen ist seine Vertonung mit insgesamt 1140 Takten mit Abstand die umfangreichste.38 Er ordnet jedem Vers einen einzelnen Satz zu, der von einem bestimmten Charakter getragen wird und zumeist mit den benachbarten Sätzen, ganz im Sinne des Prinzips der variatio, kontrastiert: Satz

Psalmvers (Incipit)

Tempo, Tonart

I.

Laudate pueri

3/4, B-Dur

II.

A solis ortu usque

2/4, G-Dur, Andante spiritoso

III.

Excelsus super omnes gentes

3/4, D-Dur, Andantino

IV.

Quis sicut Dominus Deus noster

C alla breve, A-Dur

V.

Suscitans a terra

2/4, D-Dur

VI.

Ut collocet

2/4, h-Moll, Andantino

VII.

Qui habitare

3/4, G-Dur, Allegro moderato

VIII.

Gloria patri

C alla breve, Es-Dur, Adagio

IX.

Sicut erat

3/4, B-Dur

X.

Et in saecula

C alla breve, B-Dur

Tab. 5: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri.

Bestimmte kompositorische Charakteristica Cocchis sollen im Folgenden am Beispiel des ersten, vierten und fünften Satzes näher erläutert und unter anderem durch einen Seitenblick auf Cocchis Amtsvorgänger, Niccolò Jommelli, kontextualisiert werden.39 Wir stoßen hier auf bemerkenswerte Parallelen, die ihre gemeinsamen Wurzeln möglicherweise in der neapolitanischen Ausbildung haben. Gioacchino Cocchi folgt nicht nur in der großformalen Anlage den venezianischen Gepflogenheiten. Fast allen Psalmvertonungen Venedigs, und zwar nicht nur des Laudate pueri-Psalms, ist gemeinsam, dass die beiden ersten Psalmverse zumeist zu einem Satz verschmolzen werden. Auch Cocchi verfährt so, allerdings differenziert er das musikalische Geschehen, indem er alle vier Vershälften aus Vers I und II mit neuen musikalischen Motiven versieht. Diese kleingliedrige Anlage weitet sich zu einer größeren formalen Balance mit einem gewissen Schema: Die erste Vershälfte von Vers I und II werden jeweils solistisch vorgetragen, einmal vom Sopran, beim zweiten Mal vom Alt, und die jeweils zweiten Vers­ hälften von einem Duett, meist in einem kleinen concertare mit Imitationen von Sopran und Alt. Als Finalwirkung vom ersten Vers weitet sich das Duett bis hin zu einem Quartett, dem 38 Zum Vergleich: Bernasconi (1750) mit 806 Takten, Bernasconi (1753) 620 T., Pampani (1753) 629 T., Galuppi (1763) 823 T., Galuppi (1769) 661 T., Galuppi (1774) 758 T., Anfossi (1770) 561 T., Bertoni (1764) 758 T., s. Geyer, „Beobachtungen an einigen Vertonungen des 112. Psalms“ (wie Anm. 37), insbes. S.  156ff. und dortige Tabellen sowie Rautenberg u. Wertenson, „The Psalm-Settings of the Venetian Ospedali“ (wie Anm. 36). 39 Grundlegend zu Jommelli: Wolfgang Hochstein, Die Kirchenmusik von Niccolò Jommelli, 2 Bde., Hildesheim 1984.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 243

das Ritornellmotiv des Anfangs jetzt im Quintanschluss auf F-Dur nachfolgt, um dann in den zweiten Vers überzuleiten. Der erste Satz beginnt mit einem jubilierenden und regelrecht tänzerischen Ritornell. Dieser Beginn wird charakterisiert von einem rhythmisch nicht unkomplizierten Motiv, das mit seinen Synkopen, raschen Violinfiguren und Oktavsprüngen an einen Springtanz denken lässt. Damit knüpft Cocchi an eine Tradition an, das Tänzerische als Ausdruck des Körperlichen heranzuziehen, und zwar als adäquaten Ausdruck für die Jubilatio Gottes:

Notenbeispiel 1: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 1. Satz, Anfang.

Gerade unter diesem Blickwinkel des Tanzes als unterstützendem, freudigen Jubel vor Gott finden sich Parallelen in der kompositorischen Ausarbeitung dieses Psalms, und zwar am Beispiel des Laudate pueri, das Jommelli 1746 für das Ospedale degl’Incurabili komponierte:

Notenbeispiel 2: Niccolò Jommelli, Laudate pueri 1746, 1. Satz, Incipit.

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Doch fallen noch weitere Parallelen zwischen beiden Kompositionen auf. So stellt Wolfgang Hochstein als Auffälligkeit bei Jommellis Kompositionsstil fest, dass dieser – und das lässt sich für Cocchi fortwährend konstatieren – eine „Vorliebe für intrikate Rhythmen“ habe.40 Cocchis Partitur kennzeichnet eine kleingliedrige motivisch-thematische Arbeit mit starken rhythmischen Differenzierungen und vielen kleinen Notenwerten, oftmals im imi­ tatorischen Einsatz. Außerdem fällt wie bei Cocchi auch bei Jommellis Ritornellaufbauten eine Vorliebe für eine Aneinanderreihung unterschiedlicher thematischer Bausteine ins Auge, und zwar auch solche, „die sich durch den Verzicht auf die Baßstimme vom sonstigen Klangbild abheben und als eine Art Kontrastglied fungieren […] – ein sparsames Erscheinungsbild innerhalb eines rauschend bewegten Umfelds.“41 (vgl. Notenbeispiel 3). Cocchi wendet diese Technik des Kontrasts mit plötzlichem Verzicht auf die Bassstimme unter anderem im Orchestervorspiel des ersten Satzes an (s. Notenbeispiel 4). Ein weiteres Kompositionsmittel Cocchis, um einen Kontrastreichtum innerhalb des Satzes zu erzielen, sind die Wechsel zwischen Soloeinwürfen und Chor. Die Satzdichte wird auch hier für einen kurzen Moment aufgelockert. Derartige Passagen lassen sich in allen Chorsätzen der Psalmvertonungen Cocchis wiederfinden. Im Folgenden sei ein Beispiel anhand des Auszugs aus der langen finalen Passage des ersten Satzes gezeigt. Zum Seitenthema, das zuvor als Kontrastglied beschrieben wurde (s. Notenbeispiel 4), finden sich kurze Solopassagen von Sopran 1 und Alt 2, die von kurzen kadenzierenden Tuttieinwürfen eingerahmt werden. Dieses Vorgehen wiederholt sich noch mehrfach, bis das Anfangsritornell aufgegriffen wird und nach einigen Takten zur Schlusswendung führt (s. Notenbeispiel 5). Der fünfte Vers sticht aufgrund seiner rhetorischen Frage aus dem Psalmtext heraus. Cocchi strukturiert das Ritornell des hier nun vierten Satzes in zwei sich kontrastierende Motive: Das erste Motiv ist geprägt von einem punktierten und getragenen Rhythmus in den hohen Streichern über einem Bass-Orgelpunkt, das zweite löst sich davon ab und bringt ein kleines Konzertieren, wobei der Bass, ähnlich wie in dem obigen Kontrastglied Jommellis, von der Bratsche übernommen wird. Cocchi entscheidet sich für eine etablierte kompositorische Lösung, den majestätischen Gestus mit einem punktierten Rhythmus zu inszenieren (s. Notenbeispiel 6). Die Vertonung erinnert dabei, wie es Helen Geyer beo­ bachtet hat, an das Laudate pueri, das Andrea Bernasconi parallel im Jahr 1753 für das benachbarte Ospedale della Pietà komponierte. Während Bernasconi jedoch diese rhetorische Stelle als Aufforderung für ein Chorrezitativ nutzt, vertont Cocchi – und so auch zeitgleich Antonio Pampani am Ospedaletto oder Hasse in seinem Laudate pueri von 1735 – die Frage als Solonummer für Sopran. Damit wird diese Frage nicht kollektiv gestellt, sondern sie erscheint wie ein betroffenes Fragen eines Einzelnen. Strukturierenden Charakter erfährt die Vertonung des „Quis“-Fragepronomens: Dieses wird als Quintruf isoliert und nach den jeweiligen Versvorträgen als „Scharnier“ quasi zwischengeschaltet (s. Notenbeispiel 6). 42 40 Wolfgang Hochstein, „Solomotetten bei den Incurabili unter besonderer Berücksichtigung der Kompositionen Jommellis“, in: Geyer u. Osthoff (Hrsg.), Musik an den venezianischen Ospedali (wie Anm. 1), S. 321 – 365, hier: S. 334. 41 Ebd., S. 335. 42 Zur Analyse dieser Stelle s. Geyer, „Beobachtungen an einigen Vertonungen des 112. Psalms“ (wie Anm. 37), S. 165f.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 245

Notenbeispiel 3: Niccolò Jommelli, „Kontrastglied“ aus der Solomotette Fuge, o misera Columba, 1. Satz.

Notenbeispiel 4: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 1. Satz, T. 13 – 28, „Kontrastglied“.

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Notenbeispiel 5: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 1. Satz, finale Passage.

Notenbeispiel 6: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 4. Satz, T. 1–11.

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Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 247

Der dritte Versteil „et humilia respicit“ löst eine harmonisch interessante Wanderung in Mollbereiche aus, von E-Dur über a-Moll bis nach g-Moll und F/B-Dur. Es ist ein scharfer Kontrast zum Vorangegangenen, dem sich der vierte Versteil mit einem Auskosten des Wortbilds von „in caelo“ anschließt und hier zunächst zu A-Dur zurückführt und über d-Moll nach D-Dur moduliert. Diese höchst virtuos gestaltete Arie mit ihrer reichen Metaphorik endet erneut mit dem Quint-Ruf auf „quis“ (s. Notebeispiel 7):

Notenbeispiel 7: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 4. Satz, „humilia respicit“.

In der anschließenden Vertonung des sechsten Verses mit seinem fragenden Text: „der den Schwachen aus dem Staub emporhebt und den Armen erhöht, der im Schmutz liegt?“ („suscitans a terra inopem, et de stercore erigens pauperem“), bricht der punktierte Achtelrhythmus ab. Dafür setzen schnelle Violinfiguren ein, die dieses Bild des Emporhebens mit einer von über zwei Oktaven sich spannenden Aufwärtsskala sinngemäß widerspiegeln. Auch der Chor setzt unmittelbar in Imitation ein. Wiederum unterstreicht dieser Satz eindrücklich Cocchis Vorliebe für kleingliedrige, sich kontrastierende Abschnitte und den virtuosen Umgang mit den hohen Streichern (s. Notenbeispiel 8). Zwei isolierte „suscitans“-Ausrufe des Chores lösen daraufhin einen kontrapunktischen Abschnitt aus, der für die Vertonung der zweiten Vershälfte „et de stercore erigens“ herangezogen wird (s. Notenbeispiel 9). Die Sechzehntelbewegung in den hohen Streichern setzt aus,

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Notenbeispiel 8: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 5. Satz, „suscitans“.

Notenbeispiel 9: Gioacchino Cocchi, Laudate pueri, 5. Satz, „et de stercore erigens“.

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wird aber in manchen kadenzierenden Momenten des folgenden Abschnitts häufig herangezogen. So ist die bis zum Takt 94 laufende kontrapunktische Ausgestaltung immer wieder von wirkungsvollen Passagen gekennzeichnet, z.B. eine ab Takt 57 einsetzende rhythmische Verdichtung: in den Violinen eine rasche Sechzehntelbegleitung, im Bass eine fließende Achtelbewegung. Sie umspannen die rhythmisch verschiedentlich akzentuierten Stimmführungen des Chores: im Sopran die über den Takt gedehnte Halbe, die durch Alt 1 mit einer Überbindung und durch den Einschub einer Achtelnote aufgelockert wird, in Alt 2 hingegen ein punktierter Viertelrhythmus. Eine derart große kontrapunktische Anlage an dieser Stelle ist – soweit dies zu überblicken ist – wohl einmalig.43 Ebenso bemerkenswert in ihrer Länge und Durcharbeitung ist die anspruchsvolle Fuge, mit der Cocchi seine Psalmvertonung schließt. Er rekurriert nicht, wie es die Textstelle „sicut erat in principio“ herausfordert und wie sie typischer Weise von vielen Komponisten umgesetzt wird, auf den Anfang seiner Komposition, sondern schreibt eine zweiteilige Fuge, die in dieser Art unter den Ospedali-Komponisten nur selten anzutreffen ist. Dass die Vorliebe für polyphone Satztechniken bis hin zu Fugen vor allem bei Cocchi kein Sonderfall bleibt, zeigen seine weiteren Psalmvertonungen, so auch seine Dixit Dominus-Komposition, deren stile antico-Rekurse samt Abschlussfuge näher betrachtet werden sollen.

Dixit Dominus (109) Im Gegensatz zu Laudate pueri Dominum hat der Psalm Dixit Dominus einen festen Platz in der Vesper. Als Eröffnungspsalm kommt ihm eine herausgehobene Stellung zu, was für die Vertonung maßgeblich ist. Während der Text des Laudate pueri unschwer als Lobpreis Gottes auszumachen ist, zeigt sich der Psalm Dixit Dominus weit weniger zugänglich: Es gibt fast keinen Satz, der sich unmittelbar erschließt. Dixit Dominus gehört zur Gruppe der Königspsalmen, zu der zehn der 150 Psalmen gehören. Sie lassen sich insofern als Königspsalmen gruppieren, als in ihnen einzelne Lebensstationen der israelitischen Könige angesprochen werden. In Psalm 109 wird die Zeremonie der Thronbesteigung reflektiert. Der König wird gekrönt und erhält das Protokoll als Legitimation seines Königtums und seines Namens, um im Auftrag Gottes zu herrschen. Natürlich handelt es sich hier um einen politischen Akt, der jedoch durchaus messianisch gedeutet werden kann. Verglichen mit den poetischen Texten der Oratorien, Motetten und Opern stellt der vordefinierte Text der Psalmen das dramatisch-musikalische Verständnis der Komponisten vor eine nicht unbeträchtliche Herausforderung,44 und dies gilt in besonderem Maße angesichts der hier vorliegenden schwierigen Textverständlichkeit. Der Text liefert klar konturierte expressive Bilder für die Darstellung der Macht, des Ruhms, der Kraft zur Zerstörung und der richterlichen Gewalt des Herrn. Bereits das Anfangsbild im ersten Vers beschwört dies eindrucksvoll. Hier werden wörtlich genommen die Feinde als Schemel unter des Königs Füße gelegt: 43 Vgl. ebd., S. 166. 44 Vgl. dazu ebd., insb. S. 151f.

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Dixit Dominus Domino meo, sede a dextris meis: donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum.

Vers II unterstreicht den Sinn des ersten Verses: Im Zeremonienritual erhält der neue König als Zeichen seiner Herrschaft das Szepter, um „unter seinen Feinden zu herrschen“. Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum.

Wie ein Orakel mutet der dritte Vers an, wenn die ruhmreiche Zukunft des neuen Königs geweissagt wird. Auch der sich anschließende vierte Vers trägt orakelhafte Züge: Mit dem Namen Melchisedech, ehemals König von Salem und Priester Gottes, wird auf die zukünftige Verschmelzung des Königs als weltlicher Herrscher mit dem Amt des ewigen Priesters verwiesen. Tecum principium in die virtutis tuae: in splendoribus sanctorum ex utero ante luciferum genui te. Juravit Dominus et non poenitebit eum: tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech.

Der fünfte und sechste Vers bestechen durch ihre drastische Wortwahl und die Bilder der Gewalt. Damit liefern sie ein klares Zeichen für die einzigartige Macht des Herrn und unterstreichen die Botschaft, dass das Schicksal aller allein in seinen Händen liegt als der letzten richterlichen Instanz. Dominus a dextris tuis: confregit in die irae suae reges. Judicabit in nationibus implebit ruinas: conquassabit capita in terra multorum.

In Vers VII hingegen verändert sich das Szenario. Zwar wird das literarische Subjekt nicht geändert, aber es ist nicht Gott, der sich am Wasser des Flusses erfrischt. Es ist der neue König, der aus dem vermutlich geheiligten Wasser seine Kraft bezieht; angezeigt am letzten Vers „und darum wird er das Haupt emporheben.“ De torrente in via bibet: propterea exaltabit caput.

Es ist in Anbetracht des textlichen Gehalts unschwer vorstellbar, dass der dramatische Grundtenor des Psalms ein relativ dunkles Feld an extremen dramatischen Szenarien für die Komponisten liefert. Verglichen mit dem vorher diskutierten Psalm Laudate pueri werden hier keine Momente für Hoffnung, Friedfertigkeit, Jubel oder Vertrauen geschenkt. Kompositorisch scheint es eine Herausforderung, eine große und kohärente Form zu gestalten. Es zeigt sich allerdings, dass sich auch hier der sich im 18. Jahrhundert in Venedig gefestigte

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Nummernpsalm als angemessene Form erweist. Ihr folgt auch Cocchi in der Dixit Dominus-Vertonung, aufbewahrt in der Biblioteca Marciana in Venedig45. Doch wann und zu welchem Anlass komponierte Cocchi dieses Werk? Seine Komposition liegt uns in einer Abschrift vor, geschrieben für die Vokalbesetzung Solo und Chor mit zwei Sopranen, Alt und Bass. Für eine Zuordnung dieser Komposition an die Incurabili sprechen mehrere Argumente: Die Institution konnte sich zu jener Zeit einiger glänzender Contraaltistinnen rühmen. So führt Joan Whittemore an, dass Emilia Cedroni die Tenor- und Cecilia Nassa die Basspartien übernommen haben könnten.46 Sie erörtert, dass Jommelli das Credo seiner Messe in F-Dur von der Besetzung SSAA in SSAB umschrieb, indem er den zweiten Alt um eine Oktave nach unten transponierte. Auch in unserer Komposition verläuft die Bassstimme relativ hoch, meist im Dezimabstand zu Alt 1, so dass es sich eventuell um eine Revision der Alt 2-Stimme handeln könnte. Außerdem legen kompositionstechnische, formale sowie stilistische Elemente eine Zuortbarkeit an die Incurabili nahe, mit deutlichen Parallelen zu Cocchis Laudate pueri. Vers

Psalmvers (Incipit)

Tempo, Tonart

Besetzung

I II.

Dixit Dominus Virgam virtutis tuae

4/4, D-Dur 4/4, D-Dur

Chor Chor

III.

Tecum principium

4/4, A-Dur, Andante

Solo (SS)

IV.

Juravit Dominus “tu es sacerdos”

4/4, D-Dur, Adagio 2/2. G-Dur. Chor

Chor

V.

Dominus a dextris

4/4, C-Dur, Tempo giusto [Bruch nach “confregit”]

Solo (S)

VI.

Judicabit in nationibus “implebit ruinas”

4/4, G-Dur, Maestoso 3/4, C-Dur, Allegro.

Chor

VII.

De torrente

3/4, A-Dur, Allegro assai.

Solo (B)

VIII.

Gloria patri

4/4, d-Moll, Larghetto.

Chor

IX.

Amen

2/2, D-Dur [stile antico-Fuge]

Chor

Tab. 6: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1757a.

Auch diese Psalmvertonung Cocchis ist von dem Bemühen getragen, die Verse so zu gruppieren, dass sie sich sinnvoll in eine große musikalische Form einpassen. Cocchi verbindet in Analogie zu seinem Laudate pueri jeweils Vers I mit Vers II, was in Anbetracht des sinnverwandten Textes auch hier plausibel erscheint. Dem venezianischen Usus folgend wird im ersten Satz der dramatische Charakter des Textes in der Musik nicht widergespiegelt, sondern nur der festlichen Stimmung Raum gegeben. Cocchi wählt als angemessenen Aus-

45 I-Vnm [IV c. 1413 c. 11208]. 46 Whittemore, Revision of Music Performed at the Venetian Ospedali (wie Anm. 1). Weitere Informationen über die Probleme hinsichtl. der Ospedali-Besetzungen vgl. Michael Talbot, „Tenors and Basses at the Venetian Ospedali“, in: Venetian Music in the Age of Vivaldi, London 1999, S. 123 – 138.

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druck für die Atmosphäre der Krönung die Tonart D-Dur47 und ein leggero-Spiel in den Instrumenten. Ein insgesamt 19 Takte langes Ritornell eröffnet den Satz mit spielerischen und wie in Laudate pueri ebenfalls tänzerisch beschwingten Gesten in den Violinen. Abermals begegnen wir einer kleingliedrig motivischen Anlage, die Cocchis Sinn für Flexibilität, Abwechslungs- und musikalischen Ideenreichtum widerspiegelt. Nach den ersten zwei Takten beginnen die Violinen mit einem modulierenden Skalenspiel, das die Stimmen für die weiteren vier Takte begleitet. Auch die Behandlung der Singstimmen zeigt variatio: Ihr erster Einsatz ist eine homophone Deklamation der ersten Wörter „Dixit Dominus Domino meo“, während bereits mit dem darauffolgenden Wort „sede“ der Charakter des „Sitzens“ nachempfunden wird, nämlich mit langgedehnten Notenwerten (s. Notenbeispiel 10).

Notenbeispiel 10: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus, 1. Satz, „Dixit Dominus“.

47 S. dazu den Exkurs über adäquate und traditionell benutzte Tonarten zur Vertonung des ersten Satzes vom Psalm Dixit Dominus, durchgeführt im Rahmen der Untersuchung von Georg Friedrich Händels Psalmkomposition, die mit g-Moll äußerst ungewöhnlich ist: Birgit Johanna Wertenson, „Psalmvertonungen als dramatische Konzeption. Händels Dixit Dominus im venezianischen Umfeld“, in: G. F. Händel: Aufbruch nach Italien, In viaggio verso l’Italia (= Venetiana 11), hrsg. von Helen Geyer und Birgit J. Wertenson, Rom 2013, S. 175 – 206, insb. S. 188 – 190.

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 253

Im Gegensatz zum Laudate pueri birgt die formale Einteilung des Dixit Dominus in einen Nummernpsalm wegen seines schwer greifbaren Textes gewisse kompositorische Probleme. Cocchi entschied sich wohl aus dramaturgischen Gesichtspunkten dafür, den dritten, vierten und fünften Satz in jeweils zwei sich kontrastierende Abschnitte zu unterteilen. Bei diesen Sätzen handelt es sich um die dramatischen Schlüsselstellen des Psalms, beginnend mit Vers IV. Mit ihren metaphorischen Bildern der Gewalt sind sie für einen Musikdramatiker wie es Cocchi und auch die anderen Ospedali-Komponisten fast durchweg waren, eine Herausforderung zum Experiment, um unterschiedliche musikalische Affekte wirksam werden zu lassen. Cocchi spaltet den IV. und den VI. Psalmvers in zwei Teile und verändert den Satzcharakter im V. Vers, eingeleitet mit dem Wort „confregit“ (vgl. Tab. 6). Verdeutlicht werden soll dies am Beispiel des Verses „Juravit Dominus“ (vgl. Notenbeispiel 11a und b). Hier lässt Cocchi die Worte mit einem zurückhaltenden Chor vortragen – bemerkenswert übrigens die differenzierten Agogik- und Dynamikangaben für die Streicher. Zur Gestaltung der zweiten Vershälfte „tu es sacerdos“ entscheidet sich Cocchi für einen scharfen Kontrast: Er wendet ein kirchenmusikalisch typisches Stilmittel an und lässt den Satz mit einer kunstvollen Fuge im stile antico enden. Während die polyphone Gestaltung im Laudate pueri an einer relativ ungewöhnlichen Textstelle eingesetzt wurde, entspringt sie hier einer gewissen Tradition48. Sie kann auf den ihr zugrundeliegenden Textgehalt zurückgeführt werden, insofern mit dem Namen Melchisedech auf die zukünftige und ewige Priesterschaft des Königs verwiesen wird: Dadurch steht der Rückgriff auf den Kirchenstil in eindeutigem Bezug zum textlichen Kontext und damit zur sakralen Ewigkeit. Die Fuge ist relativ einfach gehalten und wirkt fast schulmäßig. Interessant ist ihre instrumentale Einrichtung: In der Exposition läuft der Generalbass parallel zu den hohen Streichern (im C1-Sopranschlüssel!). Anschließend folgt ein auftaktiges und mit schnelleren Notenwerten charakterisiertes Kontrasubjekt zu den Worten „secundum ordinem Melchisedech“ (s. Notenbeispiel 11a und b). Mit der verstärkten Verwendung von Fugenelementen in den Psalmvertonungen rückt Cocchi erneut in die Nähe seines Kollegen Jommelli, der in seinen Kirchenkompositionen insgesamt in rund 40 Sätzen Chorfugen einfügte. Gerade seine frühen Werke aus den 1740er Jahren für die Ospedali zeigen die gleiche Modellhaftigkeit, den gleichen Rückgriff auf den stile antico und zuweilen die gleiche Instrumentierung mit dem zu den hohen Stimmen colla parte laufenden Generalbass. 49 Damit äußert sich bei Jommelli wie bei Cocchi eine ihnen gemeinsame Bedeutung des Traditionellen, wobei sie damit auch ihre Kunstfertigkeit und ihr technisches Geschick unter Beweis stellen konnten. Beispielhaft angeführt sei Jommellis Laetatus sum aus dem Jahre 1743 für das Ospedale degl‘Incurabili mit einer 88 Takte langen Fuge, deren Charakteristica und Techniken in direkter Parallele zu sehen sind mit Cocchis 89-taktiger Fuge, die er in der Doxologie seiner Dixit Dominus-Vertonung auf das abschließende Wort „Amen“ komponierte (vgl. Notenbeispiel 12): 48 Man denke unter anderem an Dixit Dominus-Kompositionen von Antonio Vivaldi und Johann Rosenmüller. Vgl. Wertenson, „Psalmvertonungen als dramatische Konzeption“ (wie Anm. 47). 49 S. die umfassende Untersuchung der Kirchenmusik Jommellis von Wolfgang Hochstein, Die Kirchenmusik von Niccolò Jommelli (wie Anm. 39).

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Notenbeispiel 11a: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1757a, 3. Satz, „Juravit Dominus“.

Notenbeispiel 11b: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1757a, 3. Satz, „tu es sacerdos“

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 255

Notenbeispiel 12: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1757a, „Amen“.

Blicken wir zum Abschluss dieser Untersuchung in ein Frühwerk Cocchis, die Dixit Dominus-Vertonung, die er noch während seiner Ausbildung am neapolitanischen Konservatorium komponierte und nach seiner Rückkehr nach Venedig im Jahre 1788 revidierte. Geschrieben ist sie für zwei Violinen, eine Oboe, gemischten Chor mit Solisten und Basso continuo. Satz

Psalmvers (Incipit)

Tempo, Tonart

Besetzung

I.a

Dixit Dominus

E-Dur, C

Chor + solistische Einwürfe

I.b

Donec ponam inimicos

Fuge, stile antico

Chor

II.

Virgam virtutis

Allegro, D-Dur, 3/8

Sopran-Solo

III.

Tecum principium

Andante, G-Dur, 4/4

Alt-Solo

IV.a IV.b

Juravit Dominus Et non poenitebit

Largo, e-Moll, C Allegro

Chor Chor

V.

Tu es sacerdos

Andante, D-Dur, 3/4, fugisch

Solistisch + Tutti

VI.

Dominus a dextris tuis

Allegro, A-Dur, C

Tenor-Solo

VII.

Judicabit in nationibus

fis-Moll, 3/8

Bass-Solo

VIII.

De torrente

D-Dur, C alla breve

Chor

IX.

Gloria patri

H-Dur, C

Chor + solistische Einwürfe

X.

Sicut erat

Fuge, E-Dur, C alla breve.

Chor

Tab. 7: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1735 (rev. 1788).

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Bestimmte kompositorische Merkmale, die wir bereits bei Cocchis Incurabili-Kompositionen kennenlernten, begegnen auch in seiner früheren Psalmvertonung. Das Dixit Dominus von 1735 ist eine beschwingte, tänzerische und virtuose Komposition. Auffallend sind die zahlreichen imitatorischen bzw. fugischen Satztechniken. So wird direkt zu Beginn die zweite Vershälfte vom Eröffnungssatz abgesetzt und kontrapunktisch im stile antico vertont, mit imitatorischen Einsätzen und Rückbezügen zum Anfangsthema. Zwar ist hier die Komplexität der Satztechnik bemerkenswert, doch unüblich ist der Einsatz kirchenmusikalischer Stilistika an dieser Stelle keineswegs: Auch Händel greift zum Psalmton, Antonio Vivaldi in RV 595 zu einem fugierten Psalmton und Johann Rosenmüller bei seinem Dixit à 4 in C-Dur gestaltet ebenfalls ein fugiertes Thema.50 Fugisch aufgebaut sind bei Cocchi außerdem noch der sechste Satz „Tu es sacerdos“ und der zehnte Satz „Sicut erat“ – darauf wird noch genauer zurückzukommen sein. Blicken wir zunächst in den ersten Satz: Ein prächtiger Beginn in E-Dur mit zwei Akkordschlägen und rauschenden Sechzehntel-Dreiklangsbewegungen in Violinen und Oboe. Es ist ein klassischer symmetrischer Aufbau, wo nach vier Eröffnungs­takten die Oboe ein ebenfalls viertaktiges punktiertes tänzerisches Seitenthema anstimmt. Ab Takt 20 beginnt der Textvortrag. Interessanter Weise wird hier die übliche deklamatorische Geschlossenheit aufgebrochen. Cocchi lässt einen solistischen Alt den ersten Vortrag „Dixit Dominus Domino meo“ wie eine Invocatio voranstellen und nutzt dazu das Motiv des Oboen-Seitenthemas. Ihm folgt die chorische Antwort: „sede a dextris meis“. Die hier wie Fragen und Antworten gegeneinander gesetzten Wechsel durchziehen den gesamten ersten Satz, so dass es nur selten zu einer geschlossenen Deklamation aller vier Stimmen kommt. Der Satz ist aufgelockert in kleingliedrige Abschnitte. Es finden sich kurze kommentierende Achteleinwürfe, oft aufwärtsschreitende Halbe, Vorhaltssynkopen, imitatorisches Spiel, stimmlich versetzte „Dixit“-Einsätze, syllabisches Deklamieren. Diese verschiedenen Merkmale sorgen für einen enormen Abwechslungsreichtum, umrahmt von einem Instrumentalpart mit größtenteils klangvollem repetitiven Sechzehntel- und Skalenspiel (s. Notenbeispiel 13). In den beiden darauffolgenden solistischen Sätzen für Sopran und Alt zeigt Cocchi seine Kunst der Wortaffektausdeutung und führt die Virtuosität nicht nur der beiden Gesangsstimmen, sondern auch der Violine und Oboe vor. Im Anschluss daran folgt der inhaltlich dramatische Höhepunkt des Psalmes, der mit dem vierten Vers „Juravit Dominus“ beginnt. Cocchi hatte sich, wie oben gezeigt, in dem späteren Dixit Dominus für eine Zweiteilung entschieden. Hier gewichtet er den Vers sogar noch stärker, und zwar mit drei verschiedenen „Inszenierungen“. Er lässt den Vers mit einer langsamen Einleitung beginnen: einem homophonen Largo mit harmonisch interessanten Modulationen von E-Dur nach Fis-Dur. Unmittelbar nach der Fermate löst sich das Largo auf in ein Allegro mit affektreichen Gesten. Der Sopran singt solistisch „et non poenitebit“, während die restlichen Stimmen chorisch kommentieren und einwerfen: „non non non“, womit eine regelrecht theatrale Szene entworfen wird (s. Notenbeispiel 14).

50 Vgl. Wertenson, „Psalmvertonungen als dramatische Konzeption“ (wie Anm. 47).

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Notenbeispiel 13: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1735, 1. Satz, Choreinsatz.

Notenbeispiel 14: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1735, 4. Satz, „Juravit Dominus“.

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Die zweite Vershälfte „tu es sacerdos“ setzt Cocchi auch in dieser älteren Komposition als deutlichen Kontrast vom vorangegangenem Geschehen ab, mit einem Andante in ruhig fließendem 3/4-Takt. Der Satz ist fugisch aufgebaut und alle Themen werden solistisch vorgetragen. Statt einer stile antico-Fuge wie rund 20 Jahre später wählt Cocchi hier ein sehr einfaches punktiertes Thema, das über Sequenzfolgen und ohne größere Komplexität zu einer Fuge ausgearbeitet wird (s. Notenbeispiel 15).51 Relativ neutral, gerade im Vergleich zum späteren Dixit Dominus, erscheinen der siebte und achte Satz: Immerhin handelt es sich ja um den dramatischen Höhepunkt des Psalms, welcher den älteren Cocchi auch zu interessanten kompositorischen Lösungen herausfordert. Hier hingegen wählt der Komponist zwei solistische Sätze, je für Tenor- und für Bassstimme, welche offensichtlich eher schematisch den Text deklamieren. So wird im siebten Satz das Wort „confregit“, mit dem Cocchi im Dixit Dominus der 1750er Jahre eine musikalische Wendung hin zum Dramatischen unternimmt, nicht akzentuiert. Und auch der achte Satz für Bass-Solo wirkt unbekümmert: Schnelle Oktavpendelfiguren, Dreiklangsspiel und repetitive Streicher erscheinen eher als universale Versatzstücke, als dass sie konkreten Bezug auf den Inhalt nähmen, der mit einem Schreckensszenario über einen alles vernichtenden Gott eine dramatische Steilvorlage für einen Musikdramatiker liefern könnte. Vergleichen wir abschließend die Vertonung der Doxologie. Im Dixit Dominus für die Incurabili gibt es keine thematischen Referenzen an den Eröffnungsatz, dafür eine prachtvolle Fuge auf das Wort „Amen“. Auch in der neapolitanischen Komposition finden keine Rückbezüge statt, statt dessen begegnen wir direkt für die letzten Verse: „Sicut erat in principio“, einer großen Fugenkomposition. Der Satz ist 105 Takte lang und eine Doppelfuge mit jeweils eigenen Themen: ein schneller deklamierendes soggetto für „sicut erat“ und ein dagegen gesetztes hymnisch wirkendes für „et in saecula saeculorum“. Die Fuge begleiten Oboe und Violinen, und sie endet in einem umfangreich zelebrierten „Amen“ (s. Notenbeispiel 16). *** In einem Brief an Cicogna resümiert der venezianische Musikhistoriker Caffi die handwerklichen Fertigkeiten, die ein maestro für die Ospedali mitbringen sollte, und zwar eine perfekte Beherrschung der beiden Musikstile, dem kirchenmusikalischen und dem theatralen. Beide Stile sollten möglichst eine elegante musikalische Synthese eingehen. Außerdem weist er auf die kompositorische Schwierigkeit hin, welche in dem von den antiken Meistern so genannten Kontrapunkt für gleich hohe Stimmen liege: Bisognava ch’ei maneggiasse di continuo, ed alla perfezione, e (per così esprimermi) promiscuamente, i due stili musicali sì differenti fra loro, l’ecclesiastico cioè, ed il teatrale, ch’è quanto dire, doveva egli 51 Anzumerken sei an dieser Stelle die abwärtsfallende Achtelpassage zu „secundum ordinem“. Sie durchschreitet nicht komplett die Oktave, sondern nur die Septime, sonst wäre eine direkte Parallele erkennbar zu Händels Dixit Dominus oder auch zu Rosenmüllers Dixit à 4. Die Oktavambitus könnte man als Symbol für die sakrale Ewigkeit (Allumfassenheit) deuten.

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Notenbeispiel 15: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1735, 4. Satz, „tu es sacerdos“.

Notenbeispiel 16: Gioacchino Cocchi, Dixit Dominus 1735, 10. Satz, „sicut erat“.

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Birgit Johanna Wertenson

riunire in se stesso il profondo artificio scientifico, e il vezzo più squisito del gusto, ed una facile ed elegante sintassi musicale, e valersene in due generi, come dissi, affatto diversi. Ma ciò non è tutto. […] Chiunque […] ben sa qual ardua faccenda sia al compositore questo che gli antichi maestri chiamavano contrappunto per voci pari acute […].52

Die kontrapunktischen Fertigkeiten sowie eine gewisse Leichtigkeit im konzertanten Stil bringt Cocchi für seine Amtszeit an den Incurabili mit. Angesichts des Herausstellens der Virtuosität der Sängerinnen durch zahlreiche solistische Einwürfe und Solonummern und durch das virtuose und teils solistische Spiel der Instrumente ist es leicht vorstellbar, dass seine Werke an diesem Institut, das in ständiger Rivalität mit den anderen Ospedali lag, einen hohen Anklang gefunden haben. Einige kompositorische Stilistika, die seit der Ägide Porporas dort besonders geschätzt worden sein müssen, weisen eben jene neapolitanischen Züge auf, die Magda Marx-Weber bei den Psalmvertonungen von Gaetano Latilla – er war zur Zeit Cocchis am benachbarten Ospedale della Pietà (1764 – 1766) tätig – sowie auch am Beispiel anderer neapolitanischer Komponisten wie Traetta eruieren konnte: die Konzentration auf Einzelmomente, bspw. plötzlich lange Notenwerte innerhalb eines bewegten Klang­ raums, die meist kleingliedrige Form, die aufgelockerte musikalische Syntax mit oftmals kurzen solistischen Einwürfen, der schnelle Wechsel in den Klangfarben, bspw. mit differenzierten Dynamik- und Agogikanweisungen. Diese Charakteristica resultieren zuvorderst auf einer äußersten Subtilität in der Textbehandlung.53 Zahlreiche Stellen in Cocchis Partituren beweisen, dass der Komponist die Text- und Wortausdeutung weitaus ernster nahm als eine wirkungsvolle Kantabilität der Melodien oder eine größere formale Balance. Was Hucke wiederum am Beispiel der Psalmvertonungen von Cocchis berühmtem Zeitgenossen und neapolitanischem Kollegen Giovanni Battista Pergolesi feststellen konnte,54 gilt in manchen Aspekten auch hier: Cocchi folgt den Grundregeln eines abwechslungsreichen chiaroscuro, wobei bestimmte affekthafte Deutungen des Psalmtextes direkt die nach der Oper gebildeten ästhetischen Maßgaben widerzuspiegeln scheinen.55 Das für Cocchi typische Spiel mit differenzierten, teilweise tänzerischen Rhythmen mag ihn vor allen anderen Stilistika ausweisen, wird er doch als Opera Buffa-Komponist gerühmt und in einem Atemzug mit Galuppi genannt. Differenziert kostet Cocchi Wortbilder aus, die er sogar zu theatralischen Szenen ausbaut. Er erweist sich außerdem vor allem in seinen späteren Psalmwerken als handwerklich geschickt im Umgang mit Kontrapunktik und als profund ausgebildeter Kirchenmusiker, der im Sinne des Traditionsbewusstseins mehr als seine venezianischen Kollegen – zu denken sei unter anderem an den circa gleichaltrigen Ferdinando Bertoni am Ospedale dei Mendicanti56 – in bestimmten Textpassagen auf den 52 Vgl. Francesco Caffi, Storia della musica teatrale (wie Anm. 10), fol. 109r. 53 S. Magda Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“, in: Archiv für Musikwissenschaft 43 (1986), S. 136 – 163, hier: S. 149. 54 Helmut Hucke, „Pergolesi. Musikalisches Naturtalent oder intellektueller Komponist? Seine Psalmvertonungen“, in: Studi pergolesiani (= Pergolesi Studies 1), Florenz 1986, S. 179 – 193. 55 Ebd., S. 179f. 56 Beobachtbar an Bertonis Dixit Dominus-Vertonung aus dem Jahr 1760 für die Mendicanti, vgl. Rautenberg u. Wertenson, „The Psalm-Settings of the Venetian Ospedali“ (wie Anm. 36), insb. S. 98ff. Bertoni bat außerdem seinen Lehrer Padre Martini brieflich um eine „Tunc-imponent“-Fuge für drei

Von Neapel nach Venedig: Zur Kirchenmusik von Gioacchino Cocchi 261

stile antico zurückgriff und auch nicht davor zurückscheute, große Fugen zu komponieren. Dass diese Eigenart auf seine neapolitanischen Wurzeln verweist, muss bei dem derzeitigen Forschungsdesiderat zur Kirchenmusik Neapels im 18. Jahrhundert nach wie vor Hypothese bleiben, die allerdings aufgrund der Parallelen zu den großen Abschlussfugen von Jommellis Psalmkompositionen oder zu der 220 Takte umfassenden alla breve-Fuge in Pergolesis Dixit Dominus-Komposition durchaus Berechtigung finden kann. Claudio Bacciagaluppi hat jüngst eine umfangreiche Studie zur neapolitanischen Messe aus dem ersten Drittel des 18.  Jahrhunderts vorgelegt, d.h. zu eben jener Zeit, in der Cocchi seine Ausbildung durchlaufen hat. Er kommt zur Überzeugung, dass die Tradition des stile misto in der Kirchenmusik Neapels tatsächlich nie, und zwar auch nicht unter der Habsburger Krone (von 1713 – 1735), eine Unterbrechung erfahren habe.57 Pergolesis Dixit Dominus sei deshalb aufgrund seiner Kontrapunktik nicht, wie dies Hucke vermutet hat, ein „Dokument kirchenmusikalischer Reform“58, insofern der stile antico stets an der Seite des stile moderno weitergepflegt worden sei und integrativer Bestandteil einer konzertierenden Messe war.59 Vor diesem Hintergrund müssen auch Cocchis selbstverständlicher Gebrauch von kurzen stile antico-Passagen und die intensiven fugischen Ausarbeitungen gesehen werden. Insgesamt betrachtet ist Cocchis Satzbild, verglichen mit seinen venezianischen Kollegen Bertoni und Galuppi, aber auch mit dem deutschen Hasse, weitaus uneinheitlicher. Es ist – und das hat er gemeinsam mit Jommelli – bewusst auf Kontraste hin angelegt. Hochsteins Äußerungen über Jommelli könnte man bedingt auch auf Cocchi übertragen: Die Kirchenwerke beider Komponisten erwecken den Eindruck einer „gewissen Maniriertheit“60. Bereits der Musiktheoretiker Georg J. Vogler hatte konstatiert: In Jommellis Kompositionen „betäubte manchmal die Vielheit seiner Instrumente den Hörer, riß ihn wie ein unbändiger Waldstrom mit sich fort […]. Manchmal artete auch das Uebergewicht oder [die] Mehrheit der scherzhaft mitspielenden Stimmen zum Komischen aus, ein Fehler, den jeder große Redner begehen kann.“61 Diesen Eindruck hinterließen manche ins Komische oder Tänzerische geratene Passagen in Cocchis Psalmvertonungen, so dass man Voglers Bericht von Jommelli, jener habe sich stets von „Hassens Satze, der nur wenig Noten hatte“ beeindruckt gezeigt und sich noch wenige Jahre vor seinem Tod dessen „Enthaltsamkeit“62 gewünscht, eventuell auch Cocchi in den Mund legen könnte. Allerdings zog es Cocchi nicht wie Jommelli nach Rom: Er verabschiedete sich nach seiner Ospedale-Zeit lieber ganz von der kirchlichen „Bühne“ und verschrieb sich der Oper. Frauenstimmen für sein Miserere in c-Moll. Vgl. Anne Schnoebelen, Padre Martini’s Collection of Letters in the Civico Museo Bibliografico Musicale in Bologna. An annotated Index (= Annotated Reference Tools in Music 2), New York o.J. (1980), Nr. 675. 57 Claudio Bacciagaluppi, Rom, Prag, Dresden. Pergolesi und die Neapolitanische Messe in Europa (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung 14), Kassel u.a. 2010, insb. S. 50ff. 58 Hucke, Pergolesi. Musikalisches Naturtalent oder intellektueller Komponist? (wie Anm. 54), S. 184. 59 Bacciagaluppi, Rom, Prag, Dresden (wie Anm. 57), S. 50. 60 Hochstein, „Solomotetten bei den Incurabili“ (wie Anm. 40), S. 335. 61 Georg Joseph Vogler, Betrachtungen der Mannheimer Tonschule, Mannheim 1778, S. 162f. Hochstein zitiert Vogler ebenfalls, siehe ebd., S. 335. 62 Ebd., S. 163. (Im Druck steht fälschlich die Seitenzahl 153).

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 263

„…colmando il cuore d’una mestizia dolcissima“. Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld Alan Dergal Rautenberg

Unter den 150 Psalmen ragen einige Texte durch ihre häufige Verwendung in musikalischen Werken, insbesondere bei den Psalmvertonungen hervor. Diese wurden meistens im Kontext der Vesper an Samstagen und Sonntagen und an wichtigen Festen aufgeführt. Die strenge Struktur der Vesper, sowie die dortige regelmäßige Verwendung einer bestimmten Gruppe von Psalmen führten dazu, dass einige Psalmen vielmals, andere kaum in Musik gesetzt wurden. Die wichtigste Ausnahme in dieser Hinsicht bildet der 50. Psalm in der Vulgata-Zählung, das Miserere, das trotz seiner Nichtzugehörigkeit zu den Vesperpsalmen regelmäßig vertont wurde. Das Miserere zählt zusammen mit den Psalmen 6 (Domine ne in furore tuo – quoniam infirmus sum), 31 (Beati quorum remissae sunt iniquitates), 37 (Domine ne in furore tuo – quoniam sagittae tuae), 101 (Domine exaudi orationem meam, et clamor), 129 (De profundis clamavi) und 142 (Domine, exaudi orationem meam, auribus percipe) zu der Gruppe der seit Augustinus von Hippo so genannten Bußpsalmen und hat seinen festen Platz im Totenoffizium sowie in der Liturgie in der Passionszeit, hauptsächlich am Schluss der Tenebrae am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag.1 Diese Commemoratio passionis bestand noch aus dem Graduale Christus factus est sowie aus den stillen Gebeten Pater noster und Respice, quaesumus Domine.2 Da der Text beider Gebete nicht rezitiert werden musste, fungierte das Christus factus est als Einleitung, quasi als Antiphon zum Miserere.3 Beide wurden oft mehrstimmig vorgetragen und sind auch in einer großen Anzahl von Handschriften gemein1 Das Miserere wurde außerdem regelmäßig in privaten Andachten verwendet und war bis 1955 Bestandteil jeder einzelnen Hore der drei Kartage, womit diese stets abgeschlossen wurden. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Verwendung des Miserere in der Liturgie siehe Magda Marx-Weber, „Römische Vertonungen des Psalms Miserere im 18. und frühen 19. Jahrhundert“, in: Liturgie und Andacht. Studien zur geistlichen Musik (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 7), hrsg. von Hans-Joachim Marx und Günther Massenkeil, Paderborn u.a. 1999, S. 1. Hinzu kommen rein musikalische Aufführungen im privaten Bereich (siehe z.B. Francesco Caffis Bericht über die Aufführungen von Johann Adolf Hasses und Ferdinando Bertonis Miserere in seiner Storia della musica sacra nella già Cappella Ducale di San Marco in Venezia dal 1318 al 1797, Venedig 1854, Bd. 1, S. 432), sowie die Miserere-Vertonungen in italienischer Sprache, u.a. Niccolò Jommellis Pietà, Signore, oder etliche lateinische Miserere-Kompositionen italienischer Autoren in protestantischen Bereichen. 2 Marx-Weber, „Römische Vertonungen“ (wie Anm. 1), S. 1 – 2 und dies., „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“, in: Liturgie und Andacht (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 41. 3 Marx-Weber, „Römische Vertonungen“(wie Anm. 1), S. 2 und „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 41.

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sam überliefert, wobei sie dort als Einheit behandelt werden und meistens eine ähnliche kompositorische Faktur aufweisen. Die bevorzugte Position des Miserere in der Liturgie der Karwoche, sowie die Verbindung zum Christus factus est, führte zu einer Neuinterpretierung des Psalmtextes, in der die Buße zu einer kollektiven Reue wird, die ihren Ausgangspunkt in Christi Leiden und Tod und in der intensiven Passionsfrömmigkeit der Zeit4 hatte. Wie sämtliche Psalmen für das Offizium der Tenebrae, ist der größte Teil der Miserere-Vertonungen ohne Doxologie überliefert, was auf die Bußzeit innerhalb des Kirchenjahres zurückzuführen ist, in der das Gloria entfällt. Es lassen sich allerdings einige venezianische und norditalienische Miserere-Vertonungen finden, die mit dem „Gloria Patri“ abgeschlossen werden. Sie waren für die Komplet an den Mittwochen oder Freitagen der Fastenzeit bestimmt, wie es aus dem anonymen venezianischen Druck aus dem Jahr 1777 Raccolta di cose sacre che si soglion cantare dalle pie vergini dell’Ospitale dei Poveri Derelitti5 hervorgeht.6 Bei einigen Kompositionen finden sich beide Schlussmöglichkeiten (mit oder ohne Doxologie);7 so konnten die Werke zu jeder Zeit aufgeführt werden.8 Außerdem erklang das Miserere an den venezianischen Ospedali regelmäßig während der Kirchenkonzerte am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag9 sowie in den Quarant’ore am Palmsonntag, Montag und Dienstag der Karwoche,10 wobei das Miserere hier nach einem kurzen, meistens einteiligen Oratorium, einer Kantate oder einer Gruppe von Motetten11 und stets ohne Doxologie erklang. Eine weitere venezianische Besonderheit ist, dass die Miserere-Vertonungen dort nicht vom Christus factus est eingeleitet wurden.12 Dagegen knüpfen sie hin und wieder an den 4 Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 41. 5 I-Vmc, Rava 014002036 (171 c. 206) und I-Vcg, Libretti Venezia 58 A 82, S. 287ff, insbes. S. 295. 6 Siehe auch Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 73. Over zählt ebenfalls die Mittwoche und Freitage der Fastenzeit zu den Verwendungsmöglichkeiten des Miserere, siehe Berthold Over, Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 91), Bonn 1998, S. 137f. (insbesondere Anm. 4). Auch in Wien und in Süddeutschland lassen sich großangelegte konzertante Miserere-Vertonungen für die Komplet an den Freitagen der Fastenzeit finden, siehe dazu Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 46 und 2. Teil, S. 91. 7 Einen solchen Fall bilden beide Miserere-Kompositionen (in c- und in d-Moll) von Johann Adolf Hasse. 8 Eine dritte Variante des Miserere-Schlusses stellen die Anfangsworte des Requiems „Requiem aeternam dona eis Domine“ dar, die im Totenoffizium statt der Doxologie gesungen werden. Ein solcher Schluss ist allerdings in keiner venezianischen Quelle überliefert. 9 Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 72. 10 Dies geht vor allem aus einem Avviso des Ospedale dei Mendicanti aus dem Jahr 1781 hervor, wo die unterschiedlichen Aufführungsmomente des Miserere während der Fastenzeit erwähnt werden, u.a. mehrere Freitage der Fastenzeit, in den Quarant’ore und in der Tenebrae an den Kartagen, siehe den Avviso nella Chiesa delli Mendicanti in: I-Vcg, Correr Oratori 59 F 12/1 (auch bei Denis Arnold in englischer Sprache, siehe D. Arnold, „Music at the Mendicanti in the Eighteenth Century“, in: Music and Letters 65/4 (1984), S. 354f ). Berthold Over zählt ebenso das Miserere zu den wesentlichen Bestandteilen der Quarant’ore, siehe Over, Per la Gloria di Dio (wie Anm. 6), S. 137. 11 Ebd., S. 137 und S. 225. 12 Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 72.

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 265

Lobgesang des Zacharias Benedictus Dominus Deus Israel an. Beide sind oftmals mehrstimmig vertont und, wie beim Christus factus est, als zusammengehöriges Paar in mehreren venezianischen Quellen überliefert. Auch in der Konstellation kurzes Oratorium/Modulanima/Motette-Miserere sind die Beziehungen zwischen beiden Werken viel komplexer als die bloße Aneinanderreihung zweier unterschiedlicher Kompositionen. So geht das erste Werk in das nächste unmittelbar über, indem eine Aufforderung zum gemeinsamen Beten und zum Vortragen des Miserere am Schluss des ersten Werkes erklingt. Diese Aufforderung ist jedoch nicht willkürlich an die Handlung angehängt, sie bezieht sich direkt auf sie. Das Passionsgeschehen, ein häufiges Thema dieser kurzen Oratorien, oder der Hinweis auf das Leiden Christi aus dem Alten Testament heraus,13 sollen zur Reue und zum Mitfühlen der Zuhörer führen. Diese werden am Schluss der Aufführung durch den Bußpsalm direkt einbezogen, der somit zu einem direkten und auch subjektiven Erlebnis wird. Die Zuhörer erkennen sich als Sünder und öffnen sich dem Mitleid, der Mitempfindung und der Buße.14 Somit wird das Miserere, in Worten von Wolfgang Horn, zum „Ziel einer nicht nur gedanklich nachvollziehbaren, sondern emotional nachempfindbaren Entwicklung“.15 Weiterhin schreibt er: Die venezianischen Miserere-Vertonungen und ihre Einleitungen können einen Beleg dafür liefern, daß eine ‚Mitleidspoetik’ nicht lediglich ein Phantom in den Köpfen einiger Dramentheoretiker von Aristoteles bis Lessing war, sondern einen Aspekt im (nicht notwendigerweise reflektierten) Selbstverständnis auch und gerade der ‚einfachen’ Christenmenschen traf – einen Aspekt, der während der Passionsandachten der Quarant’ore in Venedig alljährlich einen Höhepunkt erreichte. Oratorium und Psalm, Drama und kirchlicher Text schaffen im Rahmen der Quarant’ore das denkbar intensivste Angebot zum Mit-Leiden.16

Noch interessanter ist die Tatsache, dass diese kurzen, einteiligen Oratorien oder Kantaten17 meistens nicht als solche bezeichnet werden, sondern als Introductio ad Psalmum Miserere, Carmen praecinendum psalmo Miserere oder als Sacra Isagoge ad Psalmum Miserere.18 Aus die13 Die Beziehung zum Passionsgeschehen konnte auch indirekt erfolgen, wie im Oratorium Serpentes in deserto von Johann Adolf Hasse, wo die Verbindung zwischen der Schlange und Christus erst im Titel auf dem Libretto (Christus Dominus in Serpente Aeneo praefiguratus) deutlich wird. Siehe Wolfgang Horn, „Die Inszenierung des Leidens in Johann Adolf Hasses venezianischen Miserere-Einleitungen“, in: Hasse-Studien 1, hrsg. von Reinhard Wiesend, S. 228f. 14 Vgl. ebd., S. 227 – 244. 15 Ebd., S. 243. 16 Ebd., S. 244. 17 Zu einer ausführlichen Beschreibung der unterschiedlichen Oratorientypen (insbesondere des einleitenden Oratorientypus vor anderen Kirchengesängen, u.a. auch dem Miserere) sowie zu den Beziehungen zwischen (kurzem) Oratorium und Kantate siehe Helen Geyer, Das venezianische Orato­ rium 1750 – 1820: Einzigartiges Phänomen und musikdramatisches Experiment (= Analecta Musicologica 35), Laaber 2005, Bd. 1, S. 39ff. 18 Horn, „Die Inszenierung des Leidens“ (wie Anm. 13), S. 238 und Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 72. Eine ähnliche Situation findet sich bei der bereits erwähnten Koppelung der Gruppe von Motetten – Miserere (statt Oratorium/Kantate – Miserere). Vier Motetten von Ferdinando Bertoni werden z.B. als Carmina praecinenda Psalmo Miserere bezeichnet, siehe Over, Per la Gloria di Dio (wie Anm. 6), S. 225 (VL 12). Dagegen erscheint im

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sem Blickwinkel lag, zumindest aus liturgischer Sicht, der Schwerpunkt der Aufführungen auf dem Miserere und der Buße. Dagegen werden die Komponisten der Miserere-Verto­ nungen in den Titeln der Libretti gar nicht erwähnt, sondern öfter nur die der vorangehenden, einführenden Werke.19 Dabei konnte es sich mehrfach um zwei unterschiedliche Autoren handeln, wie man es aus anderen Quellen entnehmen kann.20 Zweifelsohne fungierte eine solcherart kombinierte und bereicherte Aufführung als Magnet für die Gläubigen, wobei die neue mitleidende, abbüßende Funktion des Miserere nicht unterschätzt werden darf. Es ist auch denkbar, dass die Zuhörer die Autoren der Miserere-Vertonungen bereits kannten, da diese Werke erstaunlich oft wiederholt wurden.21 Der Sachverhalt, dass die Miserere-Komponisten nicht genannt werden, führt dazu, dass man eine damalige Aufführung nur bedingt und fast immer nur ungenau rekonstruieren kann. Wegen seiner häufigen Vertonung ragt das Miserere durch seine Vielfalt an kompositorischen Möglichkeiten hervor. Dennoch lassen sich allgemeine Prinzipien erkennen, die je nach Regionen unterschiedlich sind.22 Ein wichtiger Teil der Miserere-Vertonungen ist im stile antico geschrieben, mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Diese Form war bis ins 19. Jahrhundert hinein weit verbreitet, vor allem in Rom. Es lassen sich jedoch solche Kompositionen auch an anderen Orten finden. In Rom ist das Miserere meistens für Chor a cappella oder für Chor mit Continuo geschrieben (das erste aber grundsätzlich an der Sixtinischen Kapelle) und wird vielfach nach Alternatim-Praxis aufgeführt, bei der mehrstimmig-gesungene und einstimmig-rezitierte Verse Libretto des Oratoriums Serpentes in deserto von Johann Adolf Hasse die Bezeichnung „Oratorium [...] prò introductione ad Psalmum“. 19 Der Titel des Oratoriums S. Petrus et S. Maria Magdalena von Johann Adolf Hasse lautet im Libretto: „S. PETRUS / ET / S. MARIA MAGDALENA, / SACRA ISAGOGE / Ad Psalmum, MISERERE. / CANTABUNT / FILIAE CHORI / PII NOSOCOMII INCURABILIUM. / MODOS FECIT / IOANNES ADOLPHUS HASSE, / FRIDERICI AUGUSTI III. / POLONIA REGIS, / ET ELECTORIS SAXONICI, / MUSICES MODERATOR. / VENETIIS, / MDCCLVIII. / Excudebat JO­ SEPH ROSA. / SUPERIORIUM PERMISSU.“ 20 Girolamo Zanetti berichtet in einem Tagebucheintrag über die Aufführung von Johann Adolf Hasses beliebtem Miserere nach einem Oratorium von Giuseppe Carcani am 7. April 1743, siehe G. Zanetti, „Memorie per servire all’istoria della inclita città di Venezia“, in: I-Vnm, Cod. It. XI n.58, fol. 89v, und in: Archivio veneto 29 (1885), S. 116f. Die Stelle wird auch bei Over und bei Sven Hansell (in diesem Fall auf Englisch) erwähnt, siehe Over, Per la Gloria di Dio (wie Anm. 6), S. 137 und Sven Hostrup Hansell, „Sacred Music at the ‘Incurabili’ in Venice at the time of J. A. Hasse“, in: JAMS 23/2 (1970), S. 293. Desgleichen referiert Francesco Caffi über den Vortrag von Hasses Miserere nach dem Oratorium Maria Magdalena von Baldassare Galuppi, siehe Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 395f. (auch bei Hansell auf S. 511f.). 21 Die Miserere-Vertonungen von Ferdinando Bertoni und Johann Adolf Hasse (beide in c-Moll) blieben mehr als 30 Jahre im Repertoire der jeweiligen Ospedali. Lottis Miserere in d-Moll für San Marco wurde noch lange Jahre nach seiner Entstehung während der Karwoche in San Marco aufgeführt, u.a. vom späteren maestro di capella Baldassare Galuppi. Insgesamt war es länger als 100 Jahre zu hören. 22 Für eine genauere Analyse der unterschiedlichen Kompositionsstile der Miserere nach Regionen, siehe die Studie von Magda Marx-Weber in drei Teilen, siehe Marx-Weber, „Römische Vertonungen“ (wie Anm. 5), S. 1 – 40 und „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), S. 41 – 71 (Neapel) und S. 72 – 102 (Venedig). Die nächsten Abschnitte orientieren sich an ihr.

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 267

alternieren. Die mehrstimmigen Teile sind abermals schlicht und knapp gehalten, bedienen sich am Anfang der Verse des Falsobordone, sind sonst ohne komplexe kontrapunktische Entfaltung, und bleiben stets in einer der beiden typischen Grundtonarten g-Moll oder a-Moll (die von Magda Marx-Weber so genannten g-Moll und a-Moll-Miserere-Typen).23 Die Werke in g-Moll (darunter die Mehrheit der Miserere-Vertonungen für die Sixtinische Kapelle) orientieren sich grundsätzlich an dem berühmten Miserere von Gregorio Allegri.24 Weitere Psalmvertonungen aus Rom, die den Rahmen dieser festen „römischen“ Form sprengen, sind aber auch vorhanden, darunter Vertonungen mit konzertanten Instrumenten sowie mehrere Miserere-Kompositionen Niccolò Jommellis, die sich durch ihre Faktur und besondere Struktur kaum in einen der von Magda Marx-Weber vorgeschlagenen regionalen Miserere-Typen einordnen lassen.25 Neben Vertonungen im stile antico lassen sich vor allem in Neapel, Venedig und Nord­ italien etliche konzertante Miserere-Kompositionen finden. Auch die schlichteren Kompositionen im stile antico entfernen sich teilweise vom oben erwähnten römischen Muster. So werden meistens alle Verse des Bußpsalms vertont, wobei eine größere Tendenz zur Alternatim-Praxis auch in Neapel ab der Mitte des 18. Jahrhunderts festzustellen ist.26 Trotzdem sind sie von einer Vielfalt an Tonarten gekennzeichnet, die sich bei den einzelnen Nummern ändern können. Ebenfalls ist die Verwendung eines fünfstimmigen Chores mit zwei Sopranstimmen, zum Teil auch einem dreistimmigen Ensemble sowie von Vokalsolisten und In­ strumenten, wie von unterschiedlichen musikalischen Mitteln und Gattungen beispielsweise in Neapel sehr verbreitet.27 Als wichtigste Vorlage für spätere neapolitanische Miserere-Vertonungen diente vor allem Leonardo Leos Komposition in c-Moll aus dem Jahr 1739.28 Viel ausgeprägter als in Neapel ist der konzertante Stil in Venedig und Norditalien. Hier findet man noch bis ins 19. Jahrhundert hinein ausgedehnte, kantatenartige Miserere-Kompositionen für Chor, Solisten und Orchester nach der Tradition der Nummernpsalmen.29 Trotz der bedeutsamen Ähnlichkeiten mit den anderen Vesperpsalmen behält das Miserere 23 Eine genauere Untersuchung der römischen Miserere-Vertonungen findet sich in: Marx-Weber, „Römische Vertonungen“ (wie Anm. 1), S. 1 – 40. 24 Ebd., S. 7ff. 25 Siehe den Beitrag von Michael Pauser „Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis“ in diesem Band sowie seine Bachelorarbeit Untersuchungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis, 2 Bde., Weimar 2011. 26 Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 42. Die nächsten Feststellungen bezüglich der neapolitanischen Miserere-Vertonungen stammen auch von ihr. 27 Für eine genauere Untersuchung der neapolitanischen Vertonungen siehe Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 41 – 71. 28 Ebd., 1. Teil, S. 52ff. 29 Die beiden ersten bekannten venezianischen Miserere-Kompositionen, die eindeutig zum Typus des Nummern-Miserere gehören, sind eine Vertonung in g-Moll von Antonio Biffi und eine weitere in a-Moll von Antonio Lotti, die heutzutage in Form von Abschriften in Paris (Biffi, Signatur: F-Pn, Rés Vma ms 1215, S. 55 – 134), bzw. in Berlin (Lotti, Signatur: D-B, Mus.ms. 13166) liegen. Letztere Komposition hat Johann Adolf Hasse u.a. eindeutig gekannt, siehe Horn, „Die Inszenierung“ (wie Anm. 13), S. 233.

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eigentümliche Merkmale, die es als besondere Variante innerhalb der Gattungsform der Psalmvertonungen erscheinen lassen, wenngleich dies in Venedig viel weniger ausgeprägt ist als in anderen Regionen.30 So wird bei allen analysierten Werken hier (siehe weiter unten) auf eine Wiederholung der Musik des Anfangs am Schluss der Komposition verzichtet.31 Diese Wiederholung lässt sich sonst bei einem Großteil der anderen norditalienischen Psalmkompositionen feststellen.32 Eine kennzeichnende Eigenschaft der Miserere-Vertonungen ist auch die häufige Verwendung von Chromatik, Vorhalten, scharfen Dissonanzen und einer herben Harmonik, geprägt zu einem guten Teil von verminderten und alterierten Akkorden.33 Diese melodisch-harmonische Tendenz lässt sich leicht auf den Text des Psalms zurückführen. In diesem wird der Mensch als Übeltäter und Sünder dargestellt, der aber sich selbst als solchen erkennt und bekennt. Die Spannungen in solch einer konfliktreichen Beziehung zwischen Geist, Körper und der leidenden Seele des sündhaften Menschen finden ihre Entsprechung in der Harmonik und den musikalischen Figuren. Gute Beispiele dafür bilden die ersten sechs Takte des Miserere in d-Moll von Antonio Lotti mit ihrem vorhalts- und dissonanzreichen Satz (siehe Notenbeispiel 1a) sowie die Takte 195 bis 208 des gleichen Werkes, wo Chromatik, verminderte und alterierte Dominantakkorde (zum Teil mit außergewöhnlichen Auflösungen in weitere dissonante Akkorde) und scharfe Dissonanzen eine häufige Verwendung finden (siehe Notenbeispiel 1b), wie auch die ersten sieben Takte des Schwe­ sterwerkes in g-Moll (von Antonio Lotti)34 mit ihren dissonanten Vorhalten und ihrem alte30 Siehe dazu Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 80 und 93 und im Vergleich zu den Miserere-Vertonungen aus Rom und Neapel. Helmut Hucke sondert das Miserere von den restlichen Vesperpsalmen und sieht in ihm sogar eine eigenständige kirchenmusikalische Gattung, siehe Helmut Hucke, „Vivaldi und die vokale Kirchenmusik des Settecento“, in: Antonio Vivaldi. Teatro musicale, cultura e società, Florenz 1982, S. 196. Auch in der Raccolta di cose sacre che si soglion cantare dalle pie vergini dell’Ospitale dei Poveri Derelitti, in Venezia 1777 (IVmc, 171 c. 206) wird das Miserere getrennt von den restlichen Psalmen erfasst. 31 Die einzige vom Verfasser bekannte Miserere-Vertonung, bei der die Musik des Anfangs am Schluss wieder aufgegriffen wird, ist das Miserere in e-Moll von Nicola Porpora, das darüber hinaus außergewöhnliche und sonst sehr unübliche interne Strukturen aufweist. Dieses Werk bildet eine Ausnahme unter den Miserere-Kompositionen. Mehr dazu bei Sylvia Lucy Ross, A Comparison of Six Miserere Settings from the Eighteenth Century Venetian Ospedali, Diss., Urbana/Illinois 1973, S. 52ff., insbes. 52, 54, 62 und 63. 32 Zu diesem Phänomen und für eine genauere Untersuchung und Gegenüberstellung unterschiedlicher Psalmen venezianischer Provenienz siehe u.a. Alan Dergal Rautenberg und Birgit Wertenson, „The Psalm-Settings of the Venetian Ospedali in the 18th Century. Considerations about an Extraordinary Repertoire“, in: Studi musicali, n.s. II, 2012/1, S. 73 – 125. 33 Auch Karl Gustav Fellerer konnte diese Eigenschaft in nicht-venezianischen Miserere-Vertonungen nachweisen, siehe Karl Gustav Fellerer, Der Palestrinastil und seine Bedeutung in der vokalen Kirchenmusik des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenmusik in Italien und Deutschland, Augsburg 1929, S. 129f. 34 Das Miserere in g-Moll wird in einigen Quellen mitunter anderen Autoren zugeschrieben. Wegen etlicher Parallelen zur d-Moll-Vertonung erscheint die Autorschaft Lottis als sehr wahrscheinlich. Mehr darüber bei Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 77 – 78. Siehe auch Pauser, Untersuchungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis (wie Anm. 25), S. 14 – 16.

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 269

Notenbeispiel 1a: Antonio Lotti, Miserere d-Moll, T. 1 – 6.

Notenbeispiel 1b: Antonio Lotti, Miserere d-Moll, T. 195 – 208.

rierten Akkord mit seinem Querstand zwischen Tenor und Sopran, der bei seiner Auflösung in einen weiteren dissonanten Septakkord mit Quartvorhalt entsteht (Notenbeispiel 1c).

Notenbeispiel 1c: Antonio Lotti, Miserere g-Moll, T. 1 – 7.

Eine ähnliche Funktion wie die Chromatik, Dissonanzen und alterierte Harmonik haben die von Warren Kirkendale so genannten „pathotypischen“ melodischen Motive,35 bei denen große Sprünge, oft in verminderte Intervalle, eine besondere Rolle spielen. Sie lassen 35 Warren Kirkendale, Fuge und Fugato in der Kammermusik des Rokoko und der Klassik, Tutzing 1966, S.  137; auch bei Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 47.

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sich vor allem in Fugen und fugatoartigen Passagen finden, hauptsächlich am Ende der Vertonungen. Dort dienen sie allerdings nur zur Rekapitulation des Bußgedankens aus dem Psalm und korrespondieren nicht mehr direkt mit dem vertonten Text (siehe die ersten Takte der Schlussfuge des Miserere in f-Moll von Giuseppe Sarti, Notenbeispiel 2a, und die des Miserere in d-Moll von Ferdinando Bertoni, Notenbeispiel 2b).

Notenbeispiel 2a: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 14. Satz, T. 21 – 27.

Notenbeispiel 2b: Ferdinando Bertoni, Miserere d-Moll, 11. Satz, T. 27 – 32.

Pathotypische Themenkomplexe sind jedoch nicht nur in Venedig und in Norditalien typisch, sondern lassen sich auch in den neapolitanischen Vertonungen häufig finden.36 Trotz der komplizierten, zum Teil zukunftsweisenden Harmonik, weist das Miserere häufig altertümliche Elemente in seiner Faktur auf. So schreibt Lotti seine Miserere-Vertonungen in d- und g-Moll im polyphon-imitatorischen Stil im alla breve-Takt. Darüber hinaus lässt er oft die Stimmen über weite Strecken paarweise laufen, womit er längere zweistimmige Abschnitte schafft, größtenteils in den Kombinationen Sopran mit Alt und Tenor mit Bass. Damit greift er nicht nur auf den stile antico, sondern auch auf die Bicinien-Technik der Renaissance zurück. Mit der Gegenüberstellung des hohen und des tiefen Registers weist er außerdem auf das antiphonale Prinzip, ja sogar auf die angedeutete Mehrchörigkeit hin, wie sie auch in den Werken Palestrinas zu finden ist. Der Rückgriff auf ältere Formen bei den Miserere-Vertonungen geht bei manchen Komponisten so weit, dass sie die Werke älterer Autoren in ihre Kompositionen einarbeiteten. 36 Ebd., 1. Teil, S. 47.

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 271

Dies ist der Fall bei zwei Miserere-Vertonungen von Niccolò Jommelli, eine in d-, die andere in g-Moll. Beide Werke zitieren größere Abschnitte aus Lottis Vertonungen (ebenfalls in dbzw. g-Moll), beziehen thematisches Material ein und weisen Parallelen zu Leonardo Leos Miserere in c-dorisch auf, wenngleich Jommelli die Musik jedoch später anders bearbeitet.37 Weitere Miserere-Kompositionen, die Jommelli zugeschrieben werden, bleiben grundsätzlich in einem schlichten stile antico. Wegen ihres simplen Satzes und ihrer einfachen Harmonik wurde ihre Autorschaft schon mehrmals in Frage gestellt.38 Sie sind auf jeden Fall im 18. Jahrhundert, vielleicht sogar Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden und sind gültig als Beispiele für das Anknüpfen an ältere Traditionen. Die Pflege älterer Traditionen in den Miserere-Kompositionen beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Kompositionen im alten Stil, sondern zeigt sich auch in den moderneren Werken trotz der konzertanten Faktur. So findet man bei Hasse gleich am Anfang des Vokaleinsatzes in seiner c-Moll-Vertonung eine Folge von verminderten Akkorden (siehe Notenbeispiel 3a). Zusammen mit alterierten Dominantakkorden mit übermäßiger Sexte und Vorhalten mit scharfen Dissonanzbildungen prägen diese den ersten Chorsatz. Ab der zweiten Hälfte des 1. Verses „secundum magnam misericordiam tuam“ finden wir außerdem eine ähnliche Linienführung und Imitation mit Sekundreibung wie am Anfang von Lottis Miserere in d-Moll (siehe Notenbeispiele 3b und 3c).39 Später, beim Erreichen des 3. Verses des Psalms „Amplius lava me“ lässt Hasse ein Chorduett der unteren Stimmen erklingen, das entfernte Anklänge an die Duette oder Bicinien Lottis hat. Interessant an dieser Stelle ist, dass Hasse während des Vortrags des gesamten Verses nur einen verminderten Akkord bei „et a peccato“ – der in eine Kette von wohlklingenden Terzen aufgelöst wird – und sonst keinen einzigen verminderten Akkord anbringt, diese jedoch sofort im nächsten Vers wieder gehäuft erklingen (siehe Notenbeispiele 3d und 3e).40 Wenn man sich den Psalmtext vor Augen führt, wird sofort klar, weshalb Hasse so vorgeht (siehe Tabelle im Anhang). In den ersten zwei Versen wird um Erbarmung und um die Tilgung der Ungerechtigkeit gebeten: der Ruf um Gnade (bekräftigt außerdem durch die Fermaten nach jedem „Miserere“, siehe Notenbeispiel 3a), sowie die Ungerechtigkeit 37 Für eine genauere Untersuchung siehe Wolfgang Hochstein, Die Kirchenmusik von Niccolò Jommeli unter besonderer Berücksichtigung der liturgisch gebundenen Kompositionen, Hamburg 1984, Bd. 1, S. 270ff. und Michael Pauser, „Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 25). 38 Siehe u.a. Hochstein, Die Kirchenmusik von Niccolò Jommelli, S. 270ff., Pauser, „Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen“(wie Anm. 25), sowie auch bei Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 79. 39 Eine ähnliche thematische Beziehung findet sich in Lottis Crucifixus in c-Moll und im Lacrimosa des Requiems in C-Dur von Hasse, auf die Szymon Paczkowski schon hingewiesen hat, siehe dazu S. Paczkowski, „Einige Bemerkungen zum Requiem C-Dur von J. A. Hasse“, in: Johann Adolf Hasse und Polen. Materialien der Konferenz Warszawa, 10 – 12 Dezember 1993 (= Studia et Dissertationes Instituti Musicologiae Universitatis Varsoviensis B 4), hrsg. von Irena Poniatowska und Alina Żórawska-Witkowska, Warschau 1995, S. 43f. 40 In der späteren Fassung für gemischten Chor überspitzt Hasse dies, indem er den verminderten Akkord und die synkopierenden Dissonanzbildungen aus dieser Stelle völlig entfernt und somit nur wohl­ klingende Terzen für den ganzen Vers lässt.

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Notenbeispiel 3a: Johann Adolf Hasse, Miserere c-Moll, 1. Satz. T. 10 – 14.

Notenbeispiel 3b: Johann Adolf Hasse, Miserere c-Moll, 1. Satz, T. 20 – 23.

Notenbeispiel 3c: Antonio Lotti, Miserere d-Moll, T. 1 – 6.

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Notenbeispiel 3d: Johann Adolf Hasse, Miserere c-Moll, 1. Satz, T. 39 – 48.

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Notenbeispiel 3e: Johann Adolf Hasse, Miserere c-Moll, 1. Satz, T. 49 – 53.

erklingen mit scharfer Harmonik. Bei der Bitte um die Befreiung von Schuld und um die Reinigung von den Sünden wird die Harmonik jedoch von diesen unangenehmen Akkorden entlastet. Bei der erneuten Bekennung der eigenen Ungerechtigkeit und der Sünden im 4. Vers erscheinen sie wieder. Wegen der Länge des Psalmtextes werden die Verse nicht einzeln vertont wie in vielen Psalmkompositionen, sondern öfter zusammengehalten. Hasse unterteilt den Psalmtext in sechs Abschnitte (siehe Tabelle). Die ersten 4 Verse vertont er als Chor, den 5. als Arie für Sopran (in der späteren gemischten Fassung auch für Bass), die nächsten neun wieder als Chor mit Solisten, den 15. und 16. als Duett für zwei Alte (in den späteren Fassungen für Sopran und Alt), den 17. und 18. Vers als Arie für Sopran und die restlichen zwei als Chor. Am Schluss fügt er eine knappe 18-taktige Doxologie an, die je nach Zeit im Kirchenjahr ausgelassen werden kann. In den späteren Fassungen unterteilt er die Doxologie in eine Arie für Alt und in einen Schlusschor und ändert die Tonart des 6. Chores zu g-Moll. Da die Tonart des ursprünglichen Schlusschores nicht mehr mit der Grundtonart des Werkes korrespondiert, darf die neue Doxologie dann nicht mehr entfallen. Interessant in dieser Disposition ist, dass Hasse die Verse 6 bis 14 in einem einzigen Satz vertont, obwohl er vor dem Vers 13 das ursprüngliche Tempo Andante in ein Allegro umwandelt. Thematisch sind beide Teile miteinander verwandt, doch der Textaffekt ändert sich: Der Sünder wird von seinen Untugenden befreit und mit Gottes Geist ausgerüstet; demnach kann er freudig anderen den rechten Weg zeigen (Allegro). Wie man auf der Tabelle im Anhang sehen kann, besteht Hasses Miserere aus drei Chören, zum Teil mit solistischen Passagen, zwei Arien und einem Duett. Außer bei der ersten Arie, die einige Koloraturen enthält, wird im Großen und Ganzen auf große Virtuosität in den Solo-Sätzen verzichtet. In dem damals weit verbreiteten empfindsamen Stil geschrieben,

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scheint der Komponist mehr die Enthaltsamkeit der Zeit im Kirchenjahr, die Buße und die Reue des Textes nachbilden zu wollen und auf die Gemütsbewegung der Zuhörer und das Mit-Fühlen zu zielen. Auch Francesco Caffi bezeichnete Hasses Miserere in seiner Storia della musica sacra nella già Cappella Ducale di San Marco in Venezia dal 1318 al 1797 als einfach, direkt, konzis, natürlich, bescheiden und dennoch als tief und ergreifend.41 Insbesondere bewunderte er die Knappheit der Perioden, den Verzicht auf unnötige Erweiterungen, die Meisterschaft und Vielfalt an Gefühlen, ohne dabei in den solistischen Arien und Ensem­ blestücken zu übertreiben, die rührenden Chöre mit ihren schönen Modulationen, mit denen der Komponist die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer von Anfang bis Ende des Werkes ohne jegliche Ablenkung und ohne weitere besondere Kunstgriffe festhalten konnte.42 Auch Girolamo Zanetti beschreibt in einer Notiz zum Palmsonntag 1743 das Werk als besonders schön und vergnüglich („singolarmente bello e dilettevole“43). Es ist wahrscheinlich, dass gerade diese Qualitäten Hasses Miserere in c-Moll damals zu einem Lieblingswerk des Publikums machten. Anders als die meisten Psalmvertonungen der Zeit endet das Werk mit einem lockeren Chorsatz, jedoch nicht mit einer Fuge. Dass dies eine Besonderheit darstellt, geht klar aus Caffis Worten hervor: „E qualche sorpresa mi recò il vedere all’incontro, che Hasse (scrittore senza dubbio de’primi [fughe]) abbia voluto chiudere il suo [Miserere] bensì con dotto stile fugato, in cui il salto di quarta presenta nel contrabbasso una bella ostinazione, ma senza impegnarsi in una fuga formale“.44 Über mehr als 30 Jahre lang wurde Hasses Miserere in c-Moll in den jährlichen Aufführungen während der Passionszeit am Ospedale degli Incurabili aufgeführt, auch unter der Leitung der späteren Maestri di coro.45 Die außerordentliche Beliebtheit des Werkes sicherte 41 Caffi schreibt: „L’introduzione del primo [il Miserere di Hasse] fu semplice, breve, commovente [...]. Hasse continua poi tutto il salmo con quella franchezza, con quel nerbo e con quella dotta sprezzatura che sono a mio avviso l’aurea qualità sua caratteristica.“, siehe Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 429 – 430. 42 „Sempre stretto di periodo, quasi dell’amplificazione nemico, leggiadro nella tessitura de’sentimenti ed in questa eziando copioso, senza molto occuparsi di versetti a solo, o di concerto, ma le masse de’ripieni più spesso agitando, passa per belle modulazioni, dal principio alla fine tenendo in attenzione l’orecchio senza permettergli mai distrazione. [...] Non sorprende con istraordinarii artifizii, non investe con meravigliose squisitezze, ma (cosa anzi per questo assai notabile) non si lascia accusar di monotonia o di fredezza, e tiene l’uditor desto sempre ed inteso a goder di quel che sente e di sentir dell’altro bramoso“, ebd., S. 430. 43 Zanetti, „Memorie per servire all’istoria della inclita città di Venezia“, in I-Vnm, Cod. It. XI n.58, fol. 89v, ebenfalls enthalten in: Archivio veneto 29 (1885), S. 116; auch bei Over, Per la Gloria di Dio, (wie Anm. 6), S. 137 und bei Hansell, „Sacred Music“ (wie Anm. 20), S. 293, zitiert, im letzten Fall in englischer Übersetzung. 44 Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 431 – 432. 45 Offenbar war die Aufführung von Hasses Miserere am Ospedale degli Incurabili an den drei Kartagen zu einer festen Tradition geworden (siehe u.a. ebd., Bd. 1, S. 395 und 428). Sogar Galuppi, der selbst mindestens zwei Miserere-Vertonungen für dieses Ospedale schrieb (ein doppelchöriges Miserere in c-Moll, heute in GB-Lbm, Add 14402, und ein Miserere in Es-Dur, heute in I-Vsm, B. 5, ferner noch ein früheres Miserere in Es-Dur für das Ospedale dei Mendicanti, heute in I-Tn, Giordano 73 und in D-Dl, Mus. 2973-D-28,1 und 28,2), ließ Hasses Werk zumindest einmal nach seinem Ora­

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zahlreichen Besuch. Auch an den anderen drei Ospedali schrieben die Komponisten etliche Miserere-Vertonungen, die oft jedoch keinen festen Platz in den jährlichen Aufführungen erlangten.46 So entstanden drei Miserere-Kompositionen von Ferdinando Bertoni. Das Interessante bei diesen Werken ist, dass sie sich grundsätzlich an Hasses Miserere orientieren und mehrere gemeinsame Eigenschaften mit ihm teilen. Beide Komponisten vertonen den Großteil der Verse des Miserere nicht einzeln oder paarweise, wie in den größeren Psalmvertonungen, sondern fassen mehrere Verse in längere Chorabschnitte zusammen (bis zu neun bei Hasse, drei zu sechs bei Bertoni, siehe Tabelle im Anhang). Dabei unterteilen sie die Chöre in Abschnitte mit unterschiedlicher Bese­tzung (Tutti, Chorduette, Solo, Duette), Takt und Tempo, die sich über ein oder zwei Verse erstrecken. Somit bleibt die Versstruktur des Psalms trotz längerer Sätze erhalten. Bei der Vertonung des Textes findet man ebenfalls bei Bertoni wie bei Hasse Pausen und Fermaten nach dem Wort „Miserere“ am Anfang des Psalms sowie verminderte und alterierte Akkorde im ganzen Werk, wenngleich nicht mit der Häufigkeit wie bei Hasse. Ferner schreibt Bertoni regelmäßig imitatorische Abschnitte, in die er wiederholt Vorhalte einarbeitet. Dieses Mittel ist uns auch aus Hasses Kompositionen (vor allem seinem Miserere) vertraut. An einigen Stellen lässt er ebenfalls zwei von den vier Chorstimmen über weite Strecken alleine erklingen (siehe z.B. den ersten Chor beider c-Moll-Vertonungen, wo mehrere der soeben erwähnten Elemente zu finden sind, Notenbeispiel 4). Diese kompositorischen Prinzipien, die man eventuell auch als allgemein bekannt betrachten könnte (wenngleich nicht in dieser stilistischen Häufung), werden durch ein weiteres Moment übertroffen: Wie Hasse verbindet Bertoni die Verse 12 und 13 des Miserere in einem Chorsatz, ändert jedoch das Tempo vor dem 13. Vers (siehe Tabelle). Dies ist insofern interessant, weil Bertoni den Psalmtext völlig anders unterteilt als Hasse. Trotzdem verbindet er zwei Textstellen mit unterschiedlichen Affekten in einem einzigen Satz. Mit dem Wechsel zum neuen Affekt ändert er das Tempo und erreicht somit eine größere dramatische Wirkung, als wenn er die Verse unabhängig voneinander vertont hätte. In gewisser Hinsicht versuchte Bertoni allerdings, Hasse zu übertreffen, indem er beispielsweise virtuosere, zum Teil sehr koloraturreiche Arien und Ensemblestücke schrieb, die dem torium Maria Magdalena erklingen (sei es, wie Caffi berichtet, aus gleichzeitiger Hochachtung gegenüber dem Miserere und Rache gegenüber Hasse, siehe Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 395 – 396). Hansell erklärt diesen Sachverhalt damit, dass Galuppi, im Hinblick auf seine Reise nach Russland, keine Zeit für die Komposition eines neuen Miserere hatte und deswegen Hasses Werk nach seinem Oratorium wiederholte, siehe Hansell, „Sacred Music“ (wie Anm. 20), S. 511–512. Auch Pier Giuseppe Gillio nimmt Zeitmangel für die Nichtkomposition eines neuen Miserere seitens Galuppis an, siehe Pier Giuseppe Gillio, L’attività musicale negli ospedali di Venezia nel Settecento, Florenz 2006, S. 362. Allerdings berichtet Caffi, dass Galuppi das Miserere Hasses aus Bewunderung für das Werk nicht mehr durch ein anderes tauschen wollte (siehe Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 428). Trotzdem schrieb Galuppi mindestens zwei eigene Kompositionen für dieses Ospedale. 46 Caffi referiert, wie die Frauen des Ospedale dei Mendicanti den neuen maestro di coro Ferdinando Bertoni um eine würdige Miserere-Komposition baten, die mit Hasses Werk vergleichbar wäre und womit sie auch mit dem rivalisierenden Ospedale degli Incurabili konkurrieren könnten, siehe Caffi, Storia della musica sacra (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 428.

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Notenbeispiel 4: Ferdinando Bertoni, Miserere c-Moll, 1. Satz, T. 30 – 38 und 84 – 90.

Geschmack seiner Zeit und den Möglichkeiten und Kapazitäten des damaligen Coro entsprachen. Auch fängt Bertoni seine Komposition, im Gegensatz zu Hasse, mit einer seiner Vokalsolistinnen an. Die Aufgabe des Chors beschränkt sich im ersten Satz mehr oder weniger auf den Vortrag der Reprise des Anfangsthemas am Schluss der Nummer. Wie schon Caffi in seiner Storia della musica sacra beschreibt, konnte der Chor der Mendicanti bei Bertoni nicht mit der „unübertrefflichen“47 Tutti-Gruppe der Incurabili gemessen werden und spielt deswegen eine untergeordnete Rolle in seinem Werk. Der Komponist wollte stattdessen mit seinen hervorragenden Solistinnen über seinen Rivalen siegen.48 Den damaligen Erwartungen entsprechend und wieder im Gegensatz zu Hasse, beendet Bertoni seine unterschiedlichen Vertonungen stets mit einer relativ knappen Fuge. Merkwürdig ist der Sachverhalt, dass Bertoni sich nicht als sicherer Kontrapunktiker sah und so47 Ebd., Bd. 1, S. 429. 48 Ebd., S. 430. Caffi gibt ebenfalls den Namen der Sängerinnen bei Bertoni an: Lelia Archiappati, Francesca Tomii, Laura Risegari und Antonia Lucovich (ebd. S. 428).

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gar seinen ehemaligen Lehrer Giovanni Battista Martini um eine Schlussfuge für mindestens eines seiner Werke bat.49 In seinen Miserere-Vertonungen versuchte Bertoni verschiedene Elemente zu vereinigen, die das damalige Publikum Venedigs begeisterte und mit denen er auch eine große Wirkung erzielen konnte. Er griff möglicherweise deswegen auf die effektivsten musikalischen Mittel der beliebten Vertonung Hasses zurück und verband sie mit weiteren modernen Elementen, die dem Wunsch seiner Zuhörer entsprachen. Seine zweite c-Moll-Vertonung konnte sich am Ospedale dei Mendicanti in Venedig für mehr als 30 Jahre fest verankern und sich sogar in einigen Ländern Europas verbreiten.50 Bertonis Kompositionen sind jedoch nicht die einzigen, die Ähnlichkeiten mit Hasses Miserere aufweisen. Auch bei Galuppi finden sich Parallelen zum Werk des deutschen Komponisten. So fasst er in seinen drei erhaltenen Miserere-Vertonungen mehrere Verse des Bußpsalms in einem einzigen Chorsatz zusammen, wobei er diesen ebenfalls wie Hasse und Bertoni in klar definierte Abschnitte unterteilt, die sich in der Besetzung, Taktart und Tempo voneinander unterscheiden und sich an der Verseinteilung orientieren, wenngleich das thematische Material bei Galuppi über längere Abschnitte und bei wechselnder Besetzung beständig bleibt und somit fließende Übergänge zwischen den Versen entstehen. Das Interessante daran ist, dass Galuppi die Technik der Verszusammenfassung stets nur am Anfang seiner Kompositionen anwendet, sie im späteren Verlauf seiner Werke jedoch nicht mehr vorkommt. Somit werden die ersten sieben bis zehn Verse des Psalms (d.h. bis zur Hälfte davon) in einem oder zwei Sätzen, die restlichen jedoch einzeln oder paarweise vertont (siehe Tabelle). Christopher M. Eanes hat schon darauf hingewiesen, dass Galuppi auf diese Weise den Akzent von den Bußgedanken der Unreinheit und der Sünde der ersten Verse auf die Erlösung des Geistes und die Lobpreisung und Exaltation Gottes der späteren Verse verschiebt.51 Darüber hinaus begegnen uns weitere Elemente in den Miserere-Vertonungen Galuppis, die aus den Werken Hasses und Bertonis bekannt sind. So führt Galuppi eine Pause nach dem Wort „Miserere“ in seiner ersten Es-Dur-Komposition für das Ospedale dei Mendicanti ein (siehe Notenbeispiel 5a). Auch verwendet er eine scharfe Harmonik mit verminderten und alterierten Akkorden an den Stellen, wo die eigene Schuld bekannt wird (siehe Notenbeispiel 5b). Diese scharfe Harmonik prägt allerdings keinen seiner Sätze und spielt eher eine untergeordnete Rolle. Ebenfalls bilden die Chorduette (nicht aber die solistischen Duette in 49 Siehe Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 85. Dabei handelt es sich allerdings um eine Tunc imponent-Fuge für drei Frauenstimmen, die von der Besetzung her mit keiner der überlieferten Miserere-Vertonungen von ihm (alle für vierstimmgen gemischten Chor) übereinstimmt. Der Brief findet sich bei Anne Schnoebelen, Padre Martini’s Collection of Letters in the Civico Museo Bibliografico Musicale in Bologna. An Annotated Index, New York 1980, Nr. 675. 50 Das Werk ist vor allem durch den Druck von Sebastiano Valle (Venedig 1802) bekannt geworden, der heute noch in etlichen Bibliotheken europaweit vorhanden ist. 51 Dabei bezieht er sich nur auf das Miserere in c-Moll für Doppel-Frauenchor, siehe Christopher M. Eanes, A Historical Analysis and Performing Edition of Baldassare Galuppi’s C-minor Miserere for Double Treble Chorus and Orchestra, Ann Arbor/Mi 2011, S. 46f.

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den Chören) eher eine Ausnahme in seinen Kompositionen. Führt man sich ebenfalls die Vertonung der ersten Worte des Bußpsalms „Miserere mei Deus“ bei Galuppi vor Augen, so fällt besonders auf, dass er sie nicht mehrmals wiederholt wie Hasse und Bertoni und dass sie auch nicht den Anschein eines verzweifelten, wiederkehrenden Rufes nach Barmherzigkeit erwecken. Indessen geht Galuppi sofort auf die zweite Hälfte des Verses „secundum magnam misericordiam tuam“ über, entkräftet somit das Bittgesuch und hebt die große Barmherzigkeit Gottes hervor. In seinen beiden Es-Dur-Vertonungen finden sich außerdem keine der sonst typischen verminderten oder alterierten Akkorde an dieser Stelle, sondern eine lieblichere, von Dur-Klängen geprägte Harmonik (siehe auch die auffallende Auswahl der Tonart Es-Dur für ein Miserere). In seinem Miserere aus dem Jahr 1776 erklingen die er­sten Worte sogar in einem zurückhaltenden, fast zaghaften sotto voce und auch nicht in Form eines Massenrufes en bloc, sondern imitatorisch nacheinander, wie ein auskomponiertes Crescendo (siehe Notenbeispiel 5c). Offensichtlich wollte Galuppi von der beliebten Komposition Hasses Abstand halten und legte deswegen die musikalischen und theologisch-interpretatorischen Schwerpunkte, zumindest teilweise, an andere Stellen, was eventuell jedoch auch auf aktuelle Tendenzen theologisch-katechetischer Diskussionen verweisen könnte. Aber auch seine Vertonung in c-Moll entfernt sich von der Komposition seines Rivalen. Dort fordert Galuppi einen Doppelchor und lässt den Großteil des Psalms antiphonal mit abwechselnden Chören erklingen. Denis Arnold hat in dieser Hinsicht schon darauf hingewiesen, dass die Verteilung des Textes in zwei Chöre eher ausschmückende, erheiternde und nicht strukturelle Gründe hat, indem der Reiz im Wechsel von einem Chorbalkon zum anderen liegt und sonst keine wirklichen Dialoge zwischen den Chören stattfinden.52 Wenngleich diese antiphonalen Momente einzeln genauer untersucht werden müssten, zeigt diese Aussage, dass Galuppis Miserere in c-Moll völlig anders konzipiert ist als Hasses Werk. Auch harmonisch bewegt sich Galuppi in entferntere tonale Bereiche als Hasse, vor allem im B-Bereich (Des-Dur/b-Moll, es-Moll, as-Moll, des-Moll, siehe Notenbeispiel 5d). Wahrscheinlich versuchte der Komponist auf diese Weise, die weniger ausgeprägte herbe Harmonik in seinem Werk zu kompensieren. Im Einklang mit Bertoni spielt auch die Virtuosität in den Arien bei Galuppi eine wichtige Rolle. Vor allem in seinen beiden späteren Werken für die Incurabili findet man schwierige Koloraturen in ziemlich hoher Lage. Auch beendet der Komponist seine beiden Es-Dur-Vertonungen wie Bertoni mit jeweils einer knappen Fuge, sein c-Moll-Werk jedoch mit einem lockeren polyphonen Satz mit kurzen zweistimmigen Imitationen und einem cantus-firmus-artigen Orgelpunkt. Interessant in dieser Hinsicht ist in Galuppis Miserere in Es-Dur für das Ospedale dei Mendicanti ferner die Vertonung der zweiten Hälfte des Verses 17 „holocaustis non delectaberis“ als stilistisch archaisierende Fuge. Noch zugespitzter als bei Hasse und Bertoni, und zum Teil auch bei Galuppi, ist die Verbindung und Weiterentwicklung der schon erwähnten musikalischen Elemente bei Giuseppe Sarti. Von ihm sind zwei große Miserere-Vertonungen erhalten, eine in g-Moll für Soli­ 52 „...the division between the choirs is cosmetic rather than structural, diverting the listener from one choir gallery to another rather than making for a true dialogue“, siehe Denis Arnold, „Galuppi’s Religious Music“ in: The Musical Times 126/1703 (1985), S. 49.

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Notenbeispiel 5a: Baldassare Galuppi, Miserere Es-Dur (Mendicanti), 1. Satz, T. 7 – 12.

Notenbeispiel 5b: Baldassare Galuppi, Miserere Es-Dur (Mendicanti), 1. Satz, T. 45 – 49.

Notenbeispiel 5c: Baldassare Galuppi, Miserere Es-Dur (1776), 1. Satz, T. 7 – 12.

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Notenbeispiel 5d: Baldassare Galuppi, Miserere c-Moll, 1. Satz, T. 16 – 23.

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sten, vier- oder fünf- bis sechsstimmigen Chor,53 Hörner, vollständige Streicher mit geteilten Violen, Salterio und Continuo,54 die andere in f-Moll für Solisten, vierstimmigen Chor, drei Violen, Violoncello und Continuo.55 Diese letzte Komposition erfreute sich großer Beliebtheit und ist in zahlreichen Quellen in ganz Europa überliefert.56 Wie bei Hasse setzt der volle Chor in beiden Vertonungen Sartis nach einer instrumentalen Einleitung blockartig ein. Im Miserere in g-Moll erinnert die aufsteigende Linie im ersten Sopran an die steigende Linie Hasses, die Sarti allerdings zu einem passus duriusculus chromatisiert. Diese Linie lässt wegen des dynamischen Crescendos einen Jammerschrei assoziieren (höchste Note bei „Deus“), der allerdings isoliert bleibt und nicht mehr wiederholt wird (siehe Notenbeispiel 6a).57 Auch dieser Chorsatz ist von Vorhalten, Dissonanzen, verminderten und alterierten Akkorden geprägt, wobei Sarti, wie Hasse, klar zwischen schuldbewussten und erlösenden Versen und Halbversen unterscheidet, die jeweils mit scharfer Melodik und Harmonik bzw. im milden Dursatz vertont werden. In seiner späteren Vertonung in f-Moll wiederholt Sarti – anders als in seiner ersten Komposition – die Worte „Miserere mei Deus“ mehrmals, vor allem die einzelnen Worte „Deus“ und „miserere“, und sondert sie wie Hasse durch Pausen vom Rest ab. Durch die hohe Lage im forte und den alterierten Akkord bei „Deus“ erweckt dies wieder den Eindruck eines schmerzlichen Massenrufs, der in ganzer Hilflosigkeit in eine Bitte um Erbarmung („miserere“) in piano und tieferer Lage mündet (siehe Notenbeispiel 6b). Ebenfalls wie Hasse verwendet Sarti ständig verminderte Akkorde. Einige Chöre sind sogar zu einem guten Teil aus dem Wechsel zwischen unterschiedlichen verminderten und alterierten Akkorden und deren Auflösung innerhalb eines falsobordonartigen Deklamationsduktus bzw. der Rezitationsmanier des Psalmodierens gregorianischer Choräle aufgebaut (siehe Notenbeispiele 6c und 6d). Eine untergeordnete Rolle spielen dennoch die imitatorischen vorhaltsreichen Chorabschnitte, wie sie uns mit großer Häufigkeit bei Hasse, Bertoni und Galuppi begegnen. Auch die längeren Chorabschnitte mit wechselnder Besetzung und die ausführlichen Chorduette fehlen in beiden Vertonungen Sartis gänzlich. Die Arien enthalten wie bei Bertoni und Galuppi längere virtuose Koloraturen. Beide Miserere-Vertonungen schließen äußerst schwierige Solosopran-Sätze ein, die zum Teil bis aufs Unsingbare hochgetrieben werden und somit die außergewöhnlichen Kapazitäten der Aufführenden demonstrieren (siehe Notenbeispiele 6e und 6f ).58 53 Sartis Miserere in g-Moll existiert in zwei Fassungen, von denen die erste (für vierstimmigen Chor) für die Pietà geschrieben wurde und nur fragmentarisch erhalten ist. 54 Teilautograph in I-FZc, RM cart. 11. 55 Autograph in I-FZc, RM cart. 10. 56 Bekannte Lagerungsorte von Abschriften des Miserere in f-Moll von Giuseppe Sarti sind: CH-E, D-B, D-Dl, D-Hs, D-HVs, D-LEm, D-MÜs, D-Mbs, DK-Kk, GB-Lbl, I-BGi, I-Fa, I-Mc, I-Raf, I-Rrosti­ rolla, I-Vnm, PL-WRu, RUS-Mk, RUS-SPsc, S-Skma in Europa, sonst noch US-Bp, US-SFsc, US-Wc. 57 Die Notenbeispiele 6 a – j befinden sich auf den Seiten 285 – 289. 58 Leider sind die Interpreten bei den Ur- und späteren Aufführungen beider Miserere-Vertonungen nur teilweise bekannt. Zwar enthielt die Handschrift der g-Moll-Komposition die Namen der Sängerinnen bei der ersten Aufführung am Ospedale della Pietà, viele von diesen wurden allerdings bei der späteren

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 283

In vielen Arien gibt es außerdem eine solistische Streicherstimme (Salterio, Violine, Viola oder Violoncello), die ebenfalls sehr virtuos gehalten wird. Dort lassen sich darüber hinaus zwei Kadenzen am Schluss finden: eine für den Vokal-, eine spätere für den Instrumental­ solisten (siehe Notenbeispiel 6g). Sarti unterteilt den Text ganz anders als Hasse, Bertoni und Galuppi und vertont einen guten Teil der Verse einzeln, vor allem am Anfang seines g-Moll-Werkes (siehe Tabelle). Dabei trennt er die bei Hasse und Bertoni zusammengehaltenen Verse 12 und 13 voneinander. Das Problem mit den wechselnden Affekten wird somit an dieser Stelle umgangen. Da Sarti jedoch keinen Vers unterteilt, stellen die Verse 15 und 16, die keinen einheitlichen Affekt enthalten, eine besondere Schwierigkeit dar. In seinen beiden Vertonungen fasst er beide Verse zusammen. In der g-Moll-Komposition ändert er aber die Streicherbegleitung von einem langsamen Schreiten in Vierteln und Halben (1. Halbvers) in eine beseelte Achtelbewegung (2. Halbvers, siehe Notenbeispiel 6h). Die Rufe nach Befreiung (siehe außerdem die dynamische Intensivierung und das Innehalten bei „Deus, Deus salutis meae“) werden zu einem erregten Freudengesang („et exultabit lingua mea“). Ebenso behandelt er den 16. Vers. An gleicher Stelle in seinem Schwesterwerk (Satz Nr. 12) akzentuiert Sarti diesen Affektwechsel, indem er wie Hasse und Bertoni (diese in den Versen 12 und 13, siehe oben) vorgeht und das ursprüngliche Tempo Andantino in ein Allegro in der zweiten Hälfte der Verse 15 und 16 wandelt, womit die Struktur Andantino (15,1) – Allegro (15,2) – Andantino (16,1) – Allegro (16,2) entsteht. Dabei ändert Sarti die Faktur: Der regelmäßige, von Pausen getrennte Wechsel zwischen Alt- und Tenorsolisten und Chor (15,1 und 16,1) wird zu einem Fugato (15,2 und 16,2). Die immer intensiveren Rufe „Libera, libera me, libera me de sanguinibus“ seines Miserere f-Moll münden erneut in einen Freudengesang. Ebenfalls wird die scharfe Harmonik des ersten Teils an dieser Stelle aufgegeben (siehe Notenbeispiele 6i und 6j). Den 7. Satz der zweiten Vertonung, eine Sopranarie, leitet ein Accompagnato-Rezitativ ein. Dies ist insofern interessant, als solches in den Psalmvertonungen relativ selten anzutreffen ist.59 So schafft Sarti einen fließenden Übergang zwischen den Versen 8 und 9, Bindung der Partitur versehentlich weggeschnitten (darunter auch der Name der Interpretin der hier besprochenen Arie). Das Autograph des Miserere f-Moll enthält dagegen keinerlei Hinweise zu den Aufführenden (auch nicht zu den Solo-Instrumentalisten, siehe weiter unten). Die schwierigsten Stellen dieses letzten Werkes, vor allem aber die Koloraturen in hoher Lage, wurden später vom Komponisten selber größtenteils umgeschrieben. 59 Helmut Hucke beschreibt das Vorkommen von Rezitativen in Psalmvertonungen als „höchst selten“, Magda-Marx Weber ihrerseits als „ziemlich selten“, siehe Helmut Hucke, „Vivaldi und die vokale Kirchenmusik des Settecento“ (wie Anm. 30), S. 198 und Magda Marx-Weber, „Rezitative in Psalmund Stabat-mater-Vertonungen des 18. Jahrhunderts“, in: Liturgie und Andacht. Studien zur geistlichen Musik (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 7), hrsg. von Hans-Joachim Marx und Günther Massenkeil, Paderborn u.a. 1999, S. 206, bzw. Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen“ (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 88. Helen Geyer hat auf die Existenz der Rezitative hingewiesen (vor allem in den Laudate pueri-Vertonungen) und ihre besondere Funktion in den von ihr untersuchten Psalmen hervorgehoben, siehe Helen Geyer, „Beobachtungen an einigen Vertonungen des 112. Psalms Laudate pueri für die venezianischen Ospedali (Conservatori)“, in: Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert / La musica negli Ospedali/

284

Alan Dergal Rautenberg

und bewirkt die Bildung einer geschlossenen Szene mit einer dramatischen Steigerung im Geschehen, die im zweiten Teil der 7. Arie ihren Höhepunkt erreicht: zuerst Rezitativ, dann eine Arie, die mit einem Largo anfängt und später in ein Allegro mündet. Die Buße und Reinigung der Seele wird zur Voraussetzung für das spätere Erreichen der Freude und für den abschließenden Jubel am Ende der Arie. Dafür ändert der Komponist das Tempo, wie im Satz Nr. 12, ab der zweiten Hälfte des 9. Verses.60 Der versierte Kontrapunktiker Sarti beendet seine beiden Miserere-Vertonungen mit jeweils einer ausführlichen, gut gelungenen Fuge. Sie zeichnen sich unter anderem durch die Verwendung dreier gleichzeitiger Themen (Miserere g-Moll) sowie durch die Erscheinung des Themas in der Umkehrung, ab der zweiten Hälfte des Satzes, und durch die Engführung desselben aus (Miserere f-Moll). Ebenfalls wird gegen Ende des Satzes ein Orgelpunkt in die Bassstimme eingeführt, der schließlich in eine plagale Kadenz mit dissonanten Vorhalten mündet, mit der das zweite Werk abgeschlossen wird. In den Miserere-Vertonungen Sartis können wie bei Hasse, Bertoni und Galuppi, ja sogar bei Lotti, hochmoderne und altbewährte kompositorische Prinzipien nebeneinander stehen. Der Rückgriff auf die musikalischen Traditionen der vergangenen Zeiten und die Vermischung dieser mit den neueren Tendenzen ermöglichten die Entstehung von Werken, die gleichzeitig dem Geschmack der Zeit entsprachen und trotzdem immer noch universell wirken. Diese Verschmelzung sicherte ihnen einen festen Platz im Repertoire der damaligen Kirchenmusik, einen Platz, den sie noch bis in das 19. Jahrhundert hinein beibehalten konnten.

Conservatori veneziani fra seicento e inizio ottocento, hrsg. von Helen Geyer und Wolfgang Osthoff, Rom 2004, S. 159ff, insbes. 160 und 161. In den hier untersuchten Werken kommen sie nur in Form von Accompagnato-Rezitativen in zwei Miserere-Vertonungen von Galuppi und in der hier besprochenen Komposition von Sarti vor (siehe Tabelle im Anhang). 60 Solche Strukturen aus Rezitativ und zweiteiliger Arie (Largo-Allegro) sind typisch für dramatische Szenen in der Oper oder im Oratorium. In den Psalmkompositionen bilden sie eine Seltenheit, sind aber ebenfalls vorhanden.

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 285

Notenbeispiel 6a: Giuseppe Sarti, Miserere g-Moll, 1. Satz, T. 13 – 17.

286

Notenbeispiel 6b: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 1. Satz, T. 13 – 19.

Notenbeispiel 6c: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 8. Satz, T. 1 – 6.

Alan Dergal Rautenberg

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 287

Notenbeispiel 6d: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 14. Satz, T. 15 – 20.

Notenbeispiel 6e: Giuseppe Sarti, Miserere g-Moll, 9. Satz, T. 32 – 37.

Notenbeispiel 6f: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 7. Satz, T. 45 – 50.

288

Notenbeispiel 6g: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 13. Satz, T. 71 – 82.

Alan Dergal Rautenberg

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 289

Notenbeispiel 6h: Giuseppe Sarti, Miserere g-Moll, 8. Satz, T. 9 – 17.

Notenbeispiel 6i: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 12. Satz, T. 9 – 16.

290

Notenbeispiel 6j: Giuseppe Sarti, Miserere f-Moll, 12. Satz, T. 23 – 29.

Alan Dergal Rautenberg

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 291

Anhang Psalm 1

Miserere mei Deus, secundum magnam misericordiam tuam.

Et secundum multitudinem miserationum tuarum, dele iniquitatem meam. 3 Amplius lava me ab iniquitate mea: et a peccato meo munda me. 4 Quoniam iniquitatem meam ego cognosco: et peccatum meum contra me est semper. 5 Tibi soli peccavi, et malum coram te feci: ut justificeris in sermonibus tuis, et vincas cum judicaris. 6 Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum: et in peccatis concepit me mater mea. 7 Ecce enim veritatem dilexisti: incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi. 8 Asperges me hyssopo, et mundabor: lavabis me, et super nivem delabor. 9 Auditui meo dabis gaudium et laetitiam: et exsultabunt ossa humiliata. 10 Averte faciem tuam a peccatis meis: et omnes iniquitates meas dele.

Hasse c-Moll (Incurabili)

Bertoni d-Moll (Mendicanti)

1. Chor, c-Moll, C; 1. Chor, d-Moll, Non troppo lento ₵; Maestoso; zuerst Soli, dann Tutti.

2

(Chorduett-AA)

Bertoni c-Moll (Mendicanti, 1754) 1. Chor, c-Moll, ₵; Andante; zuerst Solo-S mit Chorduett-AA, dann Tutti.

2. Arie-S, g-Moll, 2. Arie-A, g-Moll, 2/4; Allegretto 2/4; Allegretto

(Tutti)

2. Arie-S, g-Moll, C; Andante

Bertoni c-Moll (Mendicanti) 1. Chor, c-Moll, C; Andante; zuerst Solo-A mit Chorduett-AA, dann Tutti.

2. Arie-S, Es-Dur, 3/4; Andantino 3. Chor, c-Moll, C; Andante

3. Chor, d-Moll, 3/4; Allegro

3. Chor, c-Moll, 2/4; Andante; zuerst Chorduett-SA, dann Tutti.

(Duett-SA)

4. Arie-S, B-Dur, 3/8; Allegro

4. Arie-S, B-Dur, C; Allegro

(Tutti)

5. Chor, Es-Dur, 3/4; Allegro

5. Chor, g-Moll, 3/4; Allegro

3. Chor, Es-Dur, 3/4; Andante

(Duett-SA)

4. Arie-S, B-Dur, 2/4; Allegretto (Solo-S)

11 Cor mundum crea in me Deus: et spiritum rectum innova in visceribus meis. 12 Ne projicias me a facia tua: (Duett-SA) et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.

5a. Chor, g-Moll, 6. Duett-SA, C; Allegro f-Moll, C; Andante 5b. Duett-SA, g-Moll, C; Allegretto 6. Arie-S, F-Dur, 7. Quartett-SSAA, 6. Duett-SA, Es3/4; Andantino F-Dur, 3/4; Dur; Andante Allegro 7. Chor, d-Moll, C; Comodo; zuerst Chorduett-SA, dann Tutti.

8. Chor, c-Moll, C; Maestoso

7. Chor, c-Moll, C; Adagio

292

Alan Dergal Rautenberg Hasse c-Moll (Incurabili)

Psalm 13 Redde mihi laetitiam salutaris tui: et spiritu principali confirma me.

(Allegro-Tutti)

Bertoni d-Moll (Mendicanti) (Allegro, 3/4)

14 Docebo iniquos vias tuas: et impii ad te convertentur. 15 Libera me de sanguinibus Deus, Deus salutis meae: et exsultabit lingua mea justitiam tuam.

8. Duett-SS, 11. Arie-S, B-Dur, (Duett-SA) B-Dur, C; Allegro C; Allegretto 5. Arie-S, Es-Dur, 9. Chor, F-Dur, C; un poco andante C; Allegro

18 Sacrificium Deo spiritus contribulatus: cor contritum et humiliatum Deus non despicies.

10. Arie-A, f-Moll, ₵; Larghetto

19 Benigne fac Domine in bona 6. Chor, c-Moll, C; 11. Chor, voluntate tua Sion: Più tosto allegro d-Moll, 3/4 ut aedificentur muri Jerusalem. 20 Tunc acceptabis sacrificium justitiae, oblationes et holocausta: tunc imponent super altare tuum titulos.

Miserere mei... secundum magnam...

2

Et secundum multitudinem... dele iniquitatem... Amplius lava me... et a peccato meo...

3

4

Quoniam iniquitatem... et peccatum meum...

(Allegro, 3/4)

10. Chor, g-Moll, 3/4; zuerst Chorduett-SA, dann Tutti.

4. Duett-AA, B-Dur, 3/4; Lento

17 Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique: holocaustis non delectaberis.

1

Bertoni c-Moll (Mendicanti)

9. Arie-S, Es-Dur, C; Allegro

16 Domine labia me aperies: et os meum annuntiabit laudem tuam.

Psalm

Bertoni c-Moll (Mendicanti, 1754) (Allegro, 3/4)

(Più presto)

Galuppi Es-Dur (Mendicanti) 1. Chor, Es-Dur, ₵; Maestoso (C)

12. Chor, B-Dur, 3/8; Allegro

(Tutti)

13. Arie-S, EsDur, ₵

8. Arie-A, f-Moll, C; Cantabile

14. Chor, c-Moll, C; Allegro

9. Chor, c-Moll, C

(Allegro, C-Fuge) (3/4-Fuge)

Galuppi c-Moll Galuppi Es-Dur (Incurabili) (Incurabili, 1776) 1. Chor, 1. Chor, Esc-Moll, C; Dur, C; Largo Largo (2 Cori) (3/4; Andante; Solo-A) 2. Chor, c-Moll, C; Andante; (Duett-SA, Coro 1) (Duett-SS, Coro 2)

(Solo-S)

(Duett-SA)

(Allegro, 3/8Fuge)

Sarti g-Moll (Pietà, 1766)

Sarti f-Moll

1. Chor, g-Moll, C; Adagio

1. Chor, f-Moll, C; Larghetto

2. Arie-S, Es-Dur, ₵

2. Terzett-SAB, As-Dur, 3/4

Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld 293 Psalm

Galuppi Es-Dur (Mendicanti)

5

Tibi soli peccavi... ut justificeris...

(Duett-SS)

6

Ecce enim in iniquita- (Duett-AA, tibus... Chorduett-SA et in peccatis concepit... und Tutti)

7

Ecce enim veritatem... incerta et occulta...

8

Asperges me hyssopo... lavabis me...

9

Auditui meo... et exsultabunt...

2. Arie-A, Es-Dur, ₵; Andantino 3. Arie-S, B-Dur, 3/8; Allegro moderato

Galuppi c-Moll Galuppi Es-Dur Sarti g-Moll (Incurabili) (Incurabili, (Pietà, 1766) 1776) (Tutti) (Duett-SA) 3. Chor, c-Moll, ₵, Moderato (Duett-SS, (Duett-SA, 4. Arie-S/A, Coro 1) Quartett-SSAA) F-Dur, C; Moderato; (Solo-S) (Duett-SS, (Tutti) (Solo-A, Coro 2) C-Dur) (Tutti)

10 Averte faciem tuam... et omnes iniquitates...

11 Cor mundum... et spiritum rectum... 12 Ne projicias me... et spiritum sanctum... 13 Redde mihi laetitiam... et spiritu principali... 14 Docebo iniquos... et impii ad te convertentur. 15 Libera me... et exsultabit... 16 Domine labia me... et os meum... 17 Quoniam si voluisses... holocaustis non delectaberis. 18 Sacrificium Deo... cor contritum...

2. Arie-S, f-Moll, ₵; Andantino 3. Duett-SA, B-Dur, ₵; Andante con spirito 4. Chor, g-Moll, 3/4; Larghetto

4. Arie-A, 3. Arie-A, Esg-Moll, ₵; Largo Dur, C; Andantino (Coro 2) 4. Arie-S, B-Dur, 3/4 (Coro 1) 5. Chor, d-Moll, 5. Chor, F-Dur, 3/8; Allegro C; Allegro (2 Cori) 6. Arie-S, F-Dur, 2/4

5. Acc-A, F-Dur, C; Recitativo 6. Chor, B-Dur, C; Allegro, non presto 7. Arie-A, F-Dur, ₵; Andante 7. Arie-S, 6. Duett-SA, B- 8. Arie-S, d-Moll, Dur, 3/4; C-Dur, 3/4; Comodo Andantino (2 3/4; Larghetto Cori) 8. Duett-SS, B- 7. Arie-S, 9. Chor, F-Dur, Dur, ₵ g-Moll, C; ₵; Allegro Andante con (Coro 2) spirito 9. Chor, g-Moll, 8. Chor, C (17,1); f-Moll; c-Moll, 3/4; Allegro (17,2) Allegro (2 Cori) 10. Arie-A, 9. Arie-S, Es10. Arie-S, c-Moll, ₵; Dur, ₵; Adagio B-Dur, C; Largo Adagio (Coro 1)

Sarti f-Moll 3. Chor mit Solo-T, c-Moll, ₵; Largo 4. Chor, Es-Dur, C; Comodo

5. Arie-B, G-Dur, C; Allegro spiritoso 5. Sex6. Acc-S, tett-SSC-Dur, C; SATB, Recit. G-Dur, 3/4, 7. Arie-S, Andante F-Dur, 3/8; (Originalfas- Largo (9,1)-Alsung nicht legro (9,2) erhalten) 6. Ter8. Chor, zett-SAA, c-Moll, C; E-Dur, 3/4; Largo Andantino (Solo A I) (Solo S) 9. Arie-A, EsDur, 2/4 (Solo A II) 7. Arie-S, A-Dur, C; Allegro assai

10. Chor, g-Moll, C; Maestoso 11. Arie-S, G-Dur, C

8. Chor, d-Moll, ₵; Andante

12. Chor mit Soli-AT, c-Moll, 3/4; Andantino (15,1)-Allegro (15,2)-Andantino (16,1)-Allegro (16,2)

9. Arie-S, G-Dur, C

(Larghetto)

10. Arie-A, D-Dur, C; Adagio

13. Arie-S, F-Dur, 2/4; Adagio

294

Alan Dergal Rautenberg Psalm

19 Benigne fac Domine... ut aedificentur... 20 Tunc acceptabis sacrificium... tunc imponent super altares...

Galuppi Es-Dur (Mendicanti) 11. Arie-S, B-Dur, C; Allegro 12. Acc.-A, B-Dur, C 13. Chor, EsDur, 3/8; Fuge

Galuppi c-Moll Galuppi Es-Dur (Incurabili) (Incurabili, 1776) 10. Chor, 11. Arie-S, g-Moll, C (2 c-Moll, 2/4; AnCori) dante spiritoso 11. Chor, 12. Chor, c-Moll, 3/4 (2 f-Moll/Es-Dur, Cori) C; Maestoso (Tempo comodo; Fuge)

Sarti g-Moll (Pietà, 1766) 11. Chor, g-Moll, C

Sarti f-Moll 14. Chor, f-Moll, C; Andante devoto

(3/4; Allegro; (₵, Allegro moFuge) derato, Fuge)

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 295

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis1 Michael Pauser

Vorbemerkungen Unter den zahlreichen Kirchenkompositionen Niccolò Jommellis befinden sich ca. zwei Dutzend Psalmvertonungen. Ein Viertel davon sind Miserere-Vertonungen. Angesichts scheinbarer Widersprüche bzgl. der Entstehungsumstände und einer offensichtlichen Verwandtschaft sollen hier – v.a. unter dem Gesichtspunkt der Parodie – drei dieser Kompositionen einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Die Untersuchungen Wolfgang Hochsteins2, Marita Petzoldt McClymonds‘3 und Robert Richard Pattengales4 ordnen die Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis in einen den Komponisten betreffenden zeitlichen bzw. lokalen Kontext ein, Magda Marx-Weber versuchte, Jommellis Miserere-Vertonungen in einem übergeordneten örtlichen Bezug zu verorten.5 Nichtsdestotrotz bewirkten beide umfangreiche Untersuchungen der lateinischen Miserere-Vertonungen (Hochstein und Marx-Weber) bislang nicht, dass diese Miserere-Vertonungen Jommellis in modernen Drucken vorgelegt worden sind, und folglich gibt es bspw. auch noch immer keine einzige Einspielung der fünf in Rom entstanden Miserere-Vertonungen Jommellis.6 Zu Beginn der Untersuchung soll das Parodieverfahren Jommellis anhand kurzer ausgewählter Beispiele zweier Vertonungen vorgestellt und hinsichtlich der verschiedenen Tech1 Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine stark gekürzte und leicht geänderte Fassung der Bachelorarbeit von Michael Pauser, Untersuchungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis, Bd. 1 Textband und Bd. 2 Notenedition, Weimar Juli 2011. Frau Prof. Dr. Helen Geyer sei an dieser Stelle für die Betreuung der Arbeit sowie die Möglichkeit der Veröffentlichung einiger Ergebnisse derselben in diesem Aufsatz herzlich gedankt. 2 Vgl. bes. Wolfgang Hochstein, Die Kirchenmusik von Niccolò Jommelli (1714 – 1774) unter besonderer Berücksichtigung der liturgisch gebundenen Kompositionen, 2 Bde., Hildesheim u.a. 1984. 3 Marita Petzoldt McClymonds, Niccolò Jommelli: The last years, 2 Bde., Ann Arbor 1978. 4 Robert Richard Pattengale, The cantatas of Niccolò Jommelli, Ann Arbor 1974. 5 Vgl. bes. Magda Marx-Weber, „Neapolitanische und venezianische Miserere-Vertonungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“, in: AfMw  Jg.  43  Nr.  1, Stuttgart 1986, S.  17 – 45; Fortsetzung in: AfMw Jg. 43 Nr. 2, Stuttgart 1986, S. 136 – 163; dies., „Römische Vertonungen des Psalms Miserere im 18. und frühen 19. Jahrhundert (1985)“, in: Liturgie und Andacht. Studien zur geistlichen Musik (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 7), hrsg. von ders., Paderborn u.a. 1999, S. 1 – 40; dies., „Typen süddeutscher Miserere-Vertonungen im 18. Jahrhundert und ihr Einfluß auf das Miserere von Joseph Martin Kraus (1986/1990)“, in: Liturgie und Andacht, S. 103 – 118. 6 Stand: Juli 2013. Immerhin zwei Aufnahmen des letzten für Stuttgart entstandenen lateinischen Miserere konnten ausfindig gemacht werden: Musica Sacra nella Napoli del‘700 (Leitung: Luigi Marzola) und Vesperae in Sancto Petro Romae (Ensemble „A Sei Voci“, Leitung: Bernard Fabre-Garrus). Beide Tonträger sind jedoch nur noch schwierig zu erwerben. Das „italienische Miserere“ Pietà Signore liegt in mehreren Einspielungen vor, ist aber ebenfalls nicht gedruckt.

296

Michael Pauser

niken differenziert werden. Obwohl Parodien in der Musik des 18. Jahrhunderts allgegenwärtig sind, lohnt sich die Betrachtung der Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis, weil der Komponist gewisse Sätze immer wieder parodierte. Den Beginn des Satzes „Redde mihi“ aus dem Miserere in d-Moll von Antonio Lotti übernahm er bspw. ohne dabei substanzielle Änderungen vorzunehmen in sein Miserere in d-Moll (HocJ  C.I.18). Im letzten lateinischen Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23) parodierte er diesen Satz erneut. Doch anhand welcher Vorlage, der Partitur Lottis oder seiner eigenen? Andere Sätze werfen ähnliche Fragen auf, welche mit der vorliegenden Untersuchung beantwortet werden sollen. In den weiteren Verlauf dieser Untersuchung soll auch Jommellis „italienisches Miserere“ Pietà, Signore (HocJ Anh. 42) einbezogen werden. Zwar sind in diesem Werk keine Parodien lateinischer Miserere-Vertonungen feststellbar, jedoch stellt es den Betrachter aufgrund der völlig anderen musikalischen Faktur vor weitere Fragen. Nicht jedes Miserere-Manuskript, welches Niccolò Jommelli als Komponisten ausweist, ist von Wolfgang Hochstein als tatsächliche Komposition Jommellis in sein Werkverzeichnis übernommen worden.7 Er legte strenge Kriterien an, die im Folgenden noch einmal zitiert werden: • • • •

Die Komposition ist vollständig oder teilweise im Autograph erhalten.8 Die Komposition liegt in einer der als zuverlässig anerkannten Abschriften vor; dies sind insbesondere die Kopien von Giuseppe Sigismondo oder die Manuskripte aus der Zeit von Jommellis Dienst an St. Peter in Rom. Die Komposition ist durch zeitgenössische Aufführungsberichte oder frühes Schrifttum (z.B. Mattei) bezeugt. Einzelne Sätze oder Satzteile verwenden in eindeutiger Weise musikalisches Material wieder, das aus anderen, gesicherten Kompositionen Jommellis stammt (Parodie).9

7 Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen „echten Werken“ und „zugeschriebenen Werken“ stammt von Wolfgang Hochstein. Vgl. ders., Kirchenmusik (wie Anm. 2), hier bes. Bd. 2, S. 141 – 153 u. S.  160 – 165. Diese Unterscheidung manifestiert sich auch in der Werkverzeichnisnummer: „C“ steht für „Psalmen“, die römische Ziffer „I“ für „echte Werke“ sowie die „II“ für „zugeschriebene Werke“, desweiteren wird die Werkverzeichnisnummer durch arabische Zahlen komplettiert, nach der die jeweilige Komposition alphabetisch und bei gleichem Namen (wie z.  B. Miserere) zusätzlich alphabetisch nach Tonart bzw. chronologisch angeordnet wird. RISM benutzt zur Kenntlichmachung dieses Werkverzeichnisses der Kirchenmusik Niccolò Jommellis das Kürzel „HocJ“. Damit setzt sich die Werkverzeichnisnummer bspw. des zuerst im Werkverzeichnis aufgeführten Miserere in d-Moll wie folgt zusammen: HocJ C.I.18. In dieser Form wird die Werkverzeichnisnummer vom Verfasser benutzt. Da das ebenfalls zu besprechende Pietà, Signore nicht zu den liturgisch gebundenen Kompositionen gehört, war es auch nicht Gegenstand der umfangreichen Untersuchungen Hochsteins. Dennoch führt er solche Werke in seinem Werkverzeichnis als Anhang auf. Besagte Komposition trägt die Nummer HocJ Anh. 42. Anstelle der z.T. langen Werktitel und der Tatsache, dass es von Jommelli gleich drei Miserere in g-Moll gibt, werden die Miserere-Vertonungen Jommellis in der vorliegenden Untersuchung nur mit der jeweiligen Werkverzeichnisnummer benannt. Eine Übersicht der Miserere-Vertonungen befindet sich im Anhang. 8 Trifft für keine der Miserere-Vertonungen zu. 9 Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 103.

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 297

Nach Prüfung dieser Kriterien bleiben sieben10 Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis übrig, die als „echtes Werk“ klassifiziert werden können. Die ersten fünf lateinischen Vertonungen sind wahrscheinlich alle in Rom entstanden. Da sich jedoch nur das (vermutlich) erste datieren lässt, nämlich auf 1751, müssen sie innerhalb von zwei bis drei Jahren entstanden sein, da Jommelli nur von 1750 bis 1753 an S. Pietro tätig war, mutmaßlich allerdings erst für die Karwoche des Jahres 1751 ein Miserere zu komponieren hatte.11 Mit einem Abstand von sechs Jahren ist das letzte lateinische Miserere in Stuttgart entstanden; es stellt allerdings lediglich eine Umarbeitung der Sätze aus HocJ C.I.18 sowie HocJ C.I.22 und damit keine Neukomposition dar. Das Pietà, Signore entstand kurz vor dem Tod des Komponisten 1774 in Neapel, also 21 Jahre nach dem letztmöglichen römischen und 15 Jahre nach dem Stuttgarter Miserere; möglicherweise wegen des Volgare-Textes wurde es von der Wissenschaft bislang nicht beachtet. Offensichtlich erfreute es sich jedoch großer Beliebtheit: Hochstein waren bereits über 100 Abschriften dieses Werkes bekannt, die neben Österreich, Belgien, der Schweiz, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und natürlich Italien sogar in Brasilien12 zu finden sind. Mittlerweile sind dem Forschungsprojekt „Psalmvertonungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Italien“ an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Helen Geyer 118 handschriftliche Quellen bis einschließlich aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt.13 Weiterhin konnte in I-Vc eine Quelle gefunden werden: I-Vc [Torr. Ms. B.30]. 10 Das Pietà, Signore HocJ  Anh.  42 wird im Gegensatz zu Hochstein vom Verfasser ebenfalls als Miserere-Komposition behandelt. Lateinische – und damit liturgisch verwendbare – Vertonungen des 50. Psalms gibt es nur sechs. An der Echtheit von HocJ Anh. 42 gibt es darüber hinaus aber keinen Zweifel. 11 Einige Abschriften geben für HocJ  C.I.18 bereits 1750 als Kompositionsjahr an. Die Primärquelle nennt das Jahr 1751. Vgl. auch die Übersicht bei Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 38 – 41. Vgl. auch Gunnar Wiegand, „Die Rahmendatierung von Jommellis Tätigkeit als Koadjutor an der Cappella Giulia“, in: Mf 63 (2010), S. 390 – 400. 12 Auf welch unterschiedlichen Wegen europäische (Kirchen-) Musik des 18. und 19. Jahrhunderts nach Brasilien kam, wird ausführlich bei Antonio Alexandre Bispo geschildert. Vgl. ders., Die katholische Kirchenmusik in der Provinz São Paulo zur Zeit des brasilianischen Kaiserreiches (1822 – 1889) (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 108), Regensburg 1980. 13 Stand: Juli 2013. Vgl. http://www.psalmmusic-database.de. Allerdings sind noch nicht alle Quellen endgültig ausgewertet worden, weshalb die momentan angezeigte Zahl der verlinkten Quellen geringer ist. Grundlage für die Verzeichnung der Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis in der Datenbank bildeten neben Hochsteins Katalog und RISM auch Bibliothekskataloge sowie alte Zettelkataloge ausgewählter Bibliotheken in ganz Europa. Durch diese Arbeit konnten auch in Moskau und St. Petersburg Jommellis Miserere-Vertonungen gefunden werden. Ob diese Abschriften jedoch ursprünglich russischer Provenienz sind oder als Kriegsbeute nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin gebracht wurden, konnte ebenfalls noch nicht geklärt werden. Da aber Fortunato Santini als Schreiber angegeben wird, ist letzteres wahrscheinlicher. Dessen römische Bibliothek kam nach seinem Tod an die Diözesanbibliothek Münster, wo sie noch heute aufbewahrt wird. Von 1923 bis 1948 wurde dieser Bestand von der Universitätsbibliothek übernommen und während des 2. Weltkrieges erneut ausgelagert. Der Zettelkatalog der Bibliothek wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört, desweiteren fielen 1946 Teile der Santini-Sammlung einem Hochwasser zum Opfer. Vgl. dazu http://www.dioezesanbibliothekmuenster.de.

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„Zugeschriebene Werke“ werden den vorangegangenen Ausführungen zufolge die Kompositionen genannt, die zwar Jommelli als Autor nennen, aber nicht Hochsteins Kriterien erfüllen, um als „echte Werke“ zu gelten. Von den fünf Kompositionen dieser Klassifizierung gelten vier noch immer nicht als eindeutig Jommelli zu- oder abgesprochen, d.h. die Zahl der „echten Werke“ könnte noch ansteigen. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich jedoch ausschließlich mit den sog. „echten Werken“.14

Über Jommellis Parodieverfahren Das Parodieverfahren ist eine für die Kunstfertigkeit der Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis nicht zu unterschätzende Inspirationsquelle. Doch bedient sich Jommelli verschiedener Arbeitsweisen, die an dieser Stelle kurz differenziert und erst im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele praktisch erläutert werden sollen. Grundsätzlich ist zwischen der Parodie eigener und fremder Werke zu unterscheiden. Beides wird allzu oft auf Zeitmangel während des Kompositionsprozesses zurückgeführt,15 was zwar (zumindest nahezu) wörtliche Übernahmen, nicht aber die gegenüber eines neuen Kompositionsprozesses wesentlich aufwändigeren Umarbeitungen erklären könnte. Dies wird daher genauso zu untersuchen sein wie die Parodien fremder Werke. Letztgenanntes Verfahren ist keinesfalls immer mit den gleichen Absichten oder der gleichen Konsequenz verbunden. Es sollen daher drei Abstufungen vorgenommen werden: Erstens die exakte oder nahezu wörtliche Übernahme einer Passage oder gar des ganzen Satzes, zweitens die Übernahme eines Soggettos mit anschließend freier Verarbeitung sowie drittens die Übernahme einer Idee bezüglich des formalen Aufbaus oder der Abfolge von Soli und Chor bzw. von zwei Chören bei Werken mit doppelchöriger Anlage. Oft ist eine Kombination der zweiten und dritten Möglichkeit zu beobachten. Außerdem soll unterschieden werden zwischen direkter und indirekter Parodie fremder Werke. Unter direkter Parodie werden die oben erläuterten Verfahren verstanden, indirekte Parodien sind jene Sätze Jommellis, die zwar Parodien eigener Kompositionen sind, ihrerseits jedoch auf Parodien fremder Werke zurückgehen. Der Nachweis der Existenz der indirekten Parodie soll dabei als Gegenargument zur ‚Gelegenheits-Parodie‘ und als Nachweis zur dauerhaften Tradierung eines Stilpluralismus bei Jommelli dienen. Die beiden wichtigsten Komponisten, die Jommelli in seinen Miserere-Vertonungen parodierte, waren Antonio Lotti (San Marco, Venedig) und Leonardo Leo (Neapel). Beide Komponisten finden sich sowohl im (vermutlich) ersten Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18, 14 Dass die Echtheit von HocJ C.I.21 gelegentlich angezweifelt wird, sei an dieser Stelle angemerkt. Vgl. Pauser, Untersuchungen (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 14f.; siehe auch den Beitrag von Alan Dergal Rautenberg in diesem Band: „‚…colmando il cuore d’una mestizia dolcissima‘. Überlegungen zu Miserere-Vertonungen des 18. Jahrhunderts im venezianischen Umfeld“. 15 Vgl. u.a. Wolfgang Hochstein, „Die Meßvertonungen von Niccolò Jommelli – Besonderheiten und Probleme“, in: 50 Jahre Musikwissenschaftliches Institut in Hamburg. Bestandsaufnahme – aktuelle Forschung – Ausblick (=  Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 16), hrsg. von Peter Petersen und Helmut Rösing, Frankfurt a. M. u.a. 1999, S. 405 – 426.

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Rom 1751) als auch im letzten lateinischen Miserere in g-Moll (HocJ  C.I.23, Stuttgart 1759) wieder. Während Jommelli in Neapel Leos Schüler gewesen war, gestaltet sich die Suche nach einer persönlichen Beziehung zwischen Jommelli und Lotti schwieriger. Die Behauptung Marx-Webers, Jommelli hätte ein Miserere für San Marco in Venedig geschrieben, konnte nirgends – auch nicht anhand einer in die venezianische Zeit datierten Komposition – belegt werden.16 Was der MGG-Artikel zu Lotti17 verschweigt, ist, dass es Nachweise dafür gibt, dass Lotti maestro di coro am Ospedale degli Incurabili gewesen ist.18 Es ist also nicht nur denkbar, dass Jommelli das Miserere in d-Moll von Antonio Lotti, welches im Folgenden als essentiell für das Miserere-Schaffen Niccolò Jommellis beschrieben werden soll, als Hörer an San Marco kennen gelernt hatte, sondern dass er es auch im Archiv des Ospedale degli Incurabili studieren konnte. Immerhin hatte er dort ca. ein halbes Jahrhundert nach Lotti eine Kapellmeisterstelle inne.19

Das Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18) Jommellis (vermutlich) erstes Miserere ist zugleich dasjenige, welches die meisten Parodien fremder Werke enthält. Dabei sind bereits alle drei oben vorgestellten Abstufungen der direkten Parodie zu finden. Wie schon von Hochstein ausführlich beschrieben und mit Notenbeispielen belegt, stellt der erste Satz eine nahezu wörtliche Übernahme des ersten Satzes des Miserere in d-Moll von Antonio Lotti dar.20 Sopran und Alt sind im ersten Halbvers exakt übernommen worden, der Bass weicht nur im T. 8 durch einen chromatischen Anstieg b – h – c – cis zum d ab. Anders verhält es sich mit dem Tenor, der von T. 5 – 8 neu gestaltet wurde 16 „Für den Gottesdienst an San Marco schrieben Antonio Biffi, Antonio Lotti und Niccolò Jommelli ihre Miserere für vierstimmigen Chor a cappella.“ Vgl. Magda Marx-Weber, „Die G. B. Pergolesi fälschlich zugeschriebenen Miserere-Vertonungen“, in: Florilegium musicologicum. Hellmut Federhofer zum 75. Geburtstag, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahlig, Tutzing 1988, S. 209 – 218, hier: S. 210. Das erste datierbare Miserere Jommellis stammt jedoch aus dem Jahr 1751, als dieser bereits in Rom weilte. Vgl. Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 1), Bd. 2; vgl. auch Pauser, Untersuchungen (wie Anm. 2), Bd. 1. 17 Panja Mücke, Art. „Lotti, Antonio“, in: MGG2, Personenteil Bd. 11, Kassel u.a. 2004, Sp. 503 – 507. 18 Vgl. Jolanda Scarpa, Arte e musica all‘Ospedaletto. Schede d‘archivio sull‘attività musicale degli Ospedali dei Derelitti e dei Mendicanti di Venezia (sec. XVI – XVIII), Venedig 1978; und Giuseppe Ellero, Origini e sviluppo storico della musica nei quattro grandi ospedali di Venezia, Venedig 1979. Vgl. auch Norbert Dubowy, „Bemerkungen zur Kirchenmusik von Antonio Lotti“, in: Händel-Jahrbuch 46, Kassel u.a. 2000, S. 85 – 99; hier bes. S. 88 Anm. 15. 19 Diese Annahme berücksichtigt nicht, dass Lottis Komposition erst nach dem genannten Tätigkeitszeitraum entstanden ist. Aus der Erfahrung mit den Komponisten an den venezianischen Ospedali weiß man, dass sie auch ohne ein festes Anstellungsverhältnis für eine solche Institution tätig sein konnten bzw. dass ihnen die Komponisten auch später einzelne Werke überließen. Somit gibt es durchaus die Möglichkeit, dass die geäußerte Vermutung zutreffen könnte; vgl. Helen Geyer, Das venezianische Oratorium 1750 – 1820: Einzigartiges Phänomen und musikdramatisches Experiment (= Analecta musicologica 35), 2 Bde., Laaber 2005; v.a. zu den jeweils letzten Jahrzehnten der musikalischen Produktion, besonders nach 1777. 20 Vgl. Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 271 – 275.

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und sich durch mehr Bewegung auszeichnet. Die Kadenz zum Halbschluss (A-Dur) bleibt notengetreu erhalten; ebenso der Beginn des zweiten Halbverses. In T. 15 ist der Sopraneinsatz auf die erste Taktzeit vorgezogen, bevor die wesentlich chromatischer geführten Stimmen den gleichen Schlussakkord erreichen, wie ihn bereits Lotti schrieb. Damit bleiben beide Anfänge und Schlüsse genau gleich, die Gründe der Abweichung sind die Ausprägung einer chromatischeren Stimmführung (bes. Bass und Sopran) sowie prägnantere Rhythmik (Tenor). Desweiteren hat Jommelli einen Takt (T. 17) ergänzt (vgl. Notenbeispiel 1a und 1b)21. Der 5. Satz „Auditui“ ist in doppelter Hinsicht durch den gleichen Satz in Leonardo Leos Miserere in c-Moll (KraL C/I)22 angeregt worden. Jommelli übernahm einerseits das Soggetto, andererseits die Dreiteiligkeit des Satzes. Im Gegensatz zu Leo, der den Bass, gefolgt vom Alt, und wenig später den Sopran, gefolgt vom Tenor, einsetzen lässt, also jeweils eine Ober- und Unterstimme kombiniert, fächert Jommelli das Klangspektrum auf, indem er die eng geführten Mittelstimmen (Tenor, gefolgt vom Alt) beginnen lässt und erst danach mit dem Bass und dem Sopran die beiden Außenstimmen in das Klanggeschehen einführt (vgl. Notenbeispiel 2a und 2b). Während Leo diesen Satz doppelchörig vertonte und bereits in den Schlussakkord von Coro I, der allein den ersten Halbvers vorträgt, den Beginn des zweiten Halbverses, den er nun allein Coro II übertrug, komponierte, löste Jommelli das Problem der klanglichen Differenzierung in seiner einchörigen Vertonung nicht dadurch, dass er das Ende des ersten Halbverses und den Beginn des zweiten Halbverses separierte, sondern indem er bewusst die gleiche Idee anders umsetzte: Sopran und Bass bleiben liegen und die Mittelstimmen beginnen mit dem zweiten Halbvers. Den dritten Teil des Satzes komponierte Leo zu Beginn für Coro I, am Ende tritt Coro II dazu. Jommelli löste auch dieses Problem: Den Anfang des dritten Teils komponierte er nur für Sopran, Alt und Tenor. Der Bass – also der rudimentäre Coro II in Leos Kompositionen – tritt erst später hinzu. Es wird zwar dadurch nicht die Klangwirkung entfaltet, die akustisch mit der bei Leo vergleichbar wäre, aber das strukturelle Prinzip, letztlich einen gegenüber dem ersten Teil volleren Klang zu erzeugen, wird von Jommelli konsequent umgesetzt, zumal das Fehlen des Basses in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine noch größere Wirkung gehabt haben dürfte, als dies vielleicht heute der Fall ist, und daher semantisch aufgeladen ist. Ebenfalls auf Leo geht der folgende 6. Satz „Cor mundum“ zurück (vgl. Notenbeispiel 3a und 3b). Jommelli übernahm hierbei scheinbar den Gedanken der Doppelchörigkeit, indem er dem Chor ein Solistenquartett (SSAT) gegenüberstellte. Doch die Struktur von Leos Satz scheint unwichtig für Jommellis Vertonung dieses Verses gewesen zu sein. In der Tat handelt es sich bei den Solisten um Chorsolisten, die nicht zwingend räumlich getrennt zum Tutti gestanden haben müssen, sondern aus dem Chor heraus singen konnten. Im Gegensatz zu Leo hätte man Jommellis Partitur auch mit vier statt mit acht Zeilen schreiben können, da Soli und Tutti immer voneinander getrennt agieren, auch wenn sie 21 Die Notenbeispiele befinden sich am Ende des Beitrages ab S. 312. 22 Genau wie die HocJ-Nummern handelt es sich auch hier um eine zusammengesetzte Werkverzeichnisnummer. „KraL“ ist ein RISM-Kürzel, die Nummer entstammt dem Werkverzeichnis Ralf Krauses. Vgl. ders., Die Kirchenmusik von Leonardo Leo (1694 – 1744). Ein Beitrag zur Musikgeschichte Neapels im 18. Jahrhundert (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 151), Regensburg 1987. Vgl. auch ders., Art. „Leo, Leonardo“, in: MGG2, Personenteil Bd. 10, Kassel u.a. 2003, Sp. 1581 – 1592.

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aufeinander reagieren.23 Während also die Struktur dieses Satzes keine Rolle für Jommelli spielte, bot ihm die musikalische Substanz gleich in mehrfacher Hinsicht Anregungen: Er extrahierte aus dem homophonen Beginn Leos das Soggetto und sponn es imitatorisch fort, wodurch – verstärkt durch den klanglichen Kontrast der Soli gegenüber dem Chor des vorangegangenen Satzes – ein stark konzertierender Charakter entsteht. Umso stärker hebt sich das Tutti ab, das dem konzertierenden Stil der Soli den schlichten polyphonen Satz entgegensetzt. Doch mit der Behauptung, Jommelli würde nur aus Gründen der Stilvielfalt oder Kontrastwirkung alt gegen neu stellen, hätte man vielleicht einen Aspekt übersehen. Die Aufmerksamkeit soll auf den Alt in den ersten sechs Takten und den Sopran  II in den zweiten sechs Takten gelenkt werden: Es handelt sich um eine Reminiszenz an einen Cantus firmus. Obwohl sich das gesamte Miserere in c-Moll (KraL C/I) von Leo auf einen gleichbleibenden Cantus firmus stützt, wendete Jommelli diese Technik in keinem einzigen seiner Miserere-Vertonungen an – auch im hier besprochenen Satz „Cor mundum“ nicht. Jommelli kannte diese alte Tradition, einem Psalm genauso wie bspw. einer Messe einen Cantus firmus zugrunde zu legen. Doch neben Traditionellem gab es für Jommelli, den berühmten Opernkomponisten24, auch moderne Schreibarten, mit denen er versuchte, Kirchenmusik zu schaffen, die trotzdem dem Anspruch gerecht werden sollte, „nicht dem Ohrenkitzel, sondern der Förderung der Andacht [zu] dienen“25. In Bezug auf Jommelli muss davon ausgegangen werden, dass der theatralische Stil für die Cappella Giulia ausdrücklich beabsichtigt war. Warum sollte ein Komponist mit seinem Ruf als Opernkomponist sonst ein Jahr nach der Enzyklika Annus qui an diese Kapelle gebunden worden sein, wenn er nicht auf seine Art und Weise neue Musik mit all ihm zur Verfügung stehenden kompositorischen Mitteln hätte schreiben sollen?26 Jommelli sorgte von nun an mit seiner Musik an S.  Pietro für klangliche Innovationen, wie Zeitzeugenberichte belegen.27 Man 23 So geschehen in HocJ C.I.23. Dort wird dieser Satz parodiert und in der Tat in fünf Zeilen (doppelter Sopran aufgrund zweier Soli) notiert, was durch das Wegfallen der optischen Differenzierung zwischen Soli und Tutti die formale Anlage (optisch) verschleiert. 24 Viele zeitgenössische Quellen bezeichnen ihn bereits als „il celebre Jommelli“. 25 Karl Gustav Fellerer, „Die Enzyklika ‚Annus qui‘ des Papstes Benedikt XIV.“, in: Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Bd. 2 „Vom Tridentinum bis zur Gegenwart“, Kassel u.a. 1976, S. 149f. 26 Eine Feststellung, die Fellerer erst 1929 schriftlich fixierte, dürfte bereits im 18. Jahrhundert bekannt gewesen sein und nicht nur auf Leo sondern auch auf seinen Schüler Jommelli anwendbar sein: „Wie Scarlatti und Durante, so denkt auch Leo nicht daran, seine Karwochenresponsorien im strengen polyphonen Stil zu schreiben; zum Ausdruck dieses tiefen Textes braucht er die modernen Mittel.“ Vgl. Karl Gustav Fellerer, Der Palestrinastil und seine Bedeutung in der vokalen Kirchenmusik des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenmusik in Italien und Deutschland, Kassel 1929, Neudruck Augsburg 1972, S. 147. Trotzdem gelang es Jommelli, „gerade im strengen Stil [gemeint ist der stile antico] den tiefsten Ausdruck für den Ernst seiner Worte zu finden.“ Vgl. ebd., S. 158. 27 Ein eindrucksvolles Beispiel bildet die Aufführung unter Leitung Jommellis im Jubeljahr 1750 mit 200 Sängern und Instrumentalisten (11 Orgeln!), deren Authentizität Wolfgang Hochstein nachweisen konnte: „[…] La musica del Vespero fu / numerosasi sopra 200. Perso- / ne tra voci, ed istrumenti [!], con / undici Organi [!], e l’Eco sul Cor- / nicione della Cuppola; dirette le virtuose [!] Composizioni dal / Sig. Niccola Jummella Maestro / di Cappella Coadiutore della / Basilica; […]”, in: Diario ordinario Nr. 5142, [Rom] 04.07.1750, S. 17. Hier zit. nach dem Faksimile auf http://cracas.casanatense. it/browse.asp?db=1750 (09.07.2011). Vgl. auch Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 45.

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muss nicht darüber spekulieren, dass sich dort, wo es Neuerungen gibt, auch Kritiker zu Wort melden. Dass Jommelli durchaus auch kritische – wenn nicht sogar ablehnende – Stimmen bezüglich eines derart modernen Kirchenmusikstils gegenüber standen, scheint sich in dieser Vortonung des „Cor mundum“ widerzuspiegeln. Nicht nur, dass ein Cantus firmus in einer Stimme und imitatorisch einsetzende andere Stimmen kunstvoll miteinander kombiniert werden, auch dass diesem Solo-Teil ein eindrucksvoll wirkendes Tutti im schlichten polyphonen Satz folgt, welches seine Wirkung verfehlen würde, hätte er bereits den ersten Teil im gleichen Stil verfasst, zeigt einerseits die Kunstfertigkeit Jommellis, andererseits aber auch die Ernsthaftigkeit, mit der er diese Musik schrieb. Bezeichnenderweise handelt es sich mit dem 11.  Psalmvers „Cor mundum“ um genau jenen Vers, der mit dem Ruf nach Erneuerung (zweimal im forte: „innova“) endet. Unmissverständlich zeigt Jommelli also mit diesem Satz zwei Dinge: Erstens, dass liturgische a-cappella-Musik für die Karwoche auch mit modernen Mitteln geschrieben werden kann, und zweitens, dass Erneuerung nicht das Gegenteil von Bewahrung ist. Ähnlich zum 1. Satz liegt im 7. Satz „Redde mihi“ abermals eine wörtliche Parodie sowohl in Bezug auf die musikalische Substanz als auch auf die formale Anlage des gleichen Satzes aus Lottis Miserere in d-Moll vor, was – vom Soggetto einmal abgesehen – detailliert aber erst auf den zweiten Blick erkennbar ist. Das Soggetto setzt wie bei Lotti im Alt und Tenor in Terzparallelen in T. 1 ein, der Sopran folgt in T. 2, der Basseinsatz wird ausgelassen. Bis einschließlich T. 8 sind Musik und Text nahezu komplett übernommen, lediglich Diminutionen, vorgezogene Einsätze und vereinzelt auch veränderte Töne verschleiern den großen Anteil von Lottis Musik in diesem Satz (vgl. Notenbeispiel 4a und 4b). Bis einschließlich T. 11 ist pro Takt und Stimme mindestens ein Ton aus der Feder Lottis enthalten, dessen Existenz nicht auf Zufälligkeit zurückgeführt werden kann. Jedoch moduliert Lotti am Ende nach C-Dur, was Jommelli wahrscheinlich dazu veranlassen musste, drei zusätzliche Takte einzufügen, in denen er den harmonischen Ausweichversuchen Lottis anfänglich zwar nachzugehen scheint, am Ende aber doch wieder nach d-Moll zurückkehrt.

Das Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23) Kein einziger Satz dieser Komposition ist von Jommelli von Grund auf neu komponiert worden. Die Sätze 1  „Miserere“, 2  „Amplius“, 4  „Ecce  enim“, 9  „Quoniam“ und 11 „Tunc imponent“ sind direkte Parodien der jeweils gleichen Sätze aus dem Miserere in Vgl. außerdem die Beschreibung Carl Friedrich Cramers aus dem Jahre 1782: „Die zweite merkwürdige Music, die ich hier [S. Pietro] ge- / hört habe, ist die am St. Peterstage in der Vesper. / Acht Orgeln, 16 Contrabässe, 64 Violoncelle / und Fagotte accompagnieren 180 Sängern. […] / Die Mu- / sik soll größtentheils von Jomelli seyn.“, in: Carl Friedrich Cramer, Magazin der Musik 1. Jg., Hamburg 1783, Nachdruck Hildesheim u.a. 1971, S. 159; vgl. auch Wolfgang Hochstein, „Niccolò Jommelli (1714 – 1774) als Vizekapellmeister an S. Pietro in Rom“, in: Mf 33 (1980), S. 189 – 194, hier: S. 194. Zu weiteren Aufführungssituationen in Rom vgl. Rainer Heyinks Beitrag in diesem Band: ‚„ma la chiesa non è teatro‘. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert“.

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g-Moll (HocJ C.I.22).28 Die übrigen Sätze sind direkte Parodien der jeweils gleichen Sätze aus HocJ C.I.18. Jedoch handelt es sich nur bei Satz 3 „Tibi soli“ und Satz 10 „Benigne“ um Sätze, deren tatsächlich ausschließlicher Urheber Jommelli ist. Die übrigen Sätze sind indirekte Parodien der beiden für HocJ C.I.18 grundlegenden Miserere-Vertonungen Antonio Lottis (7  „Redde  mihi“) und Leonardo Leos (5  „Auditui“, 6  „Cor  mundum“ und 8 „Libera me“). Zu betonen ist dabei, dass es sich tatsächlich nur um indirekte Parodien handelt; Grundlage in allen genannten Sätzen ist ausschließlich HocJ C.I.18 und nie dessen ursprüngliche Parodievorlage, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Sehr umfangreich sind die Änderungen im 2.  Satz  „Amplius“: Die formale Struktur bleibt die gleiche, doch bereits der Beginn ließe durch Augmentation auf eine Änderung des musikalischen Duktus schließen. Erstaunlicherweise wird jedoch ein Großteil der Musik übernommen und nur der Text anders verteilt. Besonders deutlich wird dies im ersten Teil des zweiten Halbverses (T. 7 – 12): Lediglich vier Noten im Tenor und drei Noten im Bass wurden verändert, Sopran und Alt blieben unangetastet, doch 40 Silben wurden in dieser kurzen Passage anders ausgerichtet, was maßgeblich mit dem geänderten Text („et a peccato“ [= Vulgata] statt „et a delicto“ [= Vetus Latina])29 zu begründen ist. Schließlich befindet sich in der mittleren Silbe nun der sangliche Vokal „a“, der im Gegensatz zum „i“ lange Töne und Melismen erlaubt. Das gleiche gilt für den zweiten Teil des ersten Halbverses; auch dort reagierte Jommelli darauf, dass durch die Änderung von „injustitia“ zu „iniquitate“ das „i“ in der vierten Silbe durch ein „a“ ersetzt wurde, was jedoch die musikalische Substanz nur minimal berührte (vgl. Notenbeispiel 5a und 5b). Im 5. Satz „Auditui“ tritt erstmals das Problem auf, dass die Tonart der Komposition und die Tonart einer von Jommelli selbst stammenden Parodievorlage nicht übereinstimmen. Bei d-Moll und g-Moll handelt es sich einerseits um zwei Tonarten, deren absolute Tonhöhen sehr weit auseinander liegen, andererseits handelt es sich aber auch um verwandte Quintengrade. Beides machte sich Jommelli zunutze. Das Soggetto wurde wörtlich übernommen, und nachdem der Einsatz der Mittelstimmen eine Quinte tiefer erfolgt, setzen Bass und Sopran, die an der gleichen Stelle bereits in HocJ C.I.18 im harmonischen Kontext g-Moll beginnen, auf gleicher Tonhöhe ein. Das hat zur Folge, dass der harmonische Verlauf des Satzes und somit auch die Stimmführung (besonders Tonhöhen und -dauern) geändert werden mussten. Bemerkenswert ist daher T. 7: Der erste Akkord entspricht exakt dem Akkord in HocJ C.I.18, nur dass er eine Quinte tiefer erklingt und Alt und Tenor vertauscht wur28 Nur im 9. Satz „Quoniam“ wurde zum ersten (und auch einzigen) Mal bei der Übernahme eines Satzes aus HocJ C.I.22 die Schlusskadenz substantiell verändert. 29 Obwohl laut Magda Marx-Weber die Vetus Latina nur für den einstimmigen Gesang der Capella Sistina vorgeschrieben war und mehrstimmige Gesänge die Vulgata als Textgrundlage verwendeten, bleibt festzuhalten, dass einige „Maestri der Cappella Giulia – zu nennen sind hier neben [Domenico] Scarlatti noch Jommelli, Guglielmi und Fioravanti – […] für ihre ‚Miserere‘-Vertonungen die Fassung der Vetus Latina“ verwendeten. Vgl. Magda Marx-Weber, „Domenico Scarlattis ‚Miserere‘-Vertonungen für die Cappella Giulia in Rom“, in: Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Bach – Händel – Schütz. Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Stuttgart 1985, 2 Bde., Kassel u.a. 1987, Bd. 2, S. 134. Jedoch verwendete Jommelli in Rom beide Textvarianten in seinen Miserere-Vertonungen, weshalb man nur anhand des Textes Rom den Status des Entstehungsortes von HocJ C.I.18 bis HocJ C.I.22 weder zu- noch absprechen kann.

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den.30 Vertauscht wurden auch die Themeneinsätze des Mittelteils: Während in HocJ C.I.18 die Mittelstimmen beginnen, setzen diese nun nach den Außenstimmen ein. Ebenfalls bemerkenswert sind T. 9 – 11: Sopran und Alt stammen aus HocJ C.I.18 und erklingen nun eine Terz höher, der Tenor folgt dem Sopran eine Sexte tiefer und die Basstöne entsprechen exakt denjenigen Tönen, die in der indirekten Parodievorlage, dem „Auditui“ (in g-Moll!) aus Leonardo Leos Miserere in c-Moll KraL C/I, zu finden sind, jedoch wurde der Text geändert. Ob bewusst oder unbewusst geschah somit eine Reminiszenz an Leos Komposition, obwohl die für HocJ C.I.18 als grundlegend beschriebene akustische Klangfüllendifferenzierung durch Weglassen des Basses in HocJ C.I.23 nicht erfolgt; im Gegenteil: Überträgt man die im Continuo notierten Staccato-Punkte in T. 7f. auf den Vokalpart, so invertieren die synkopischen Ganzen durch ihre exponierte Verwendung die alte Idee sowohl innerhalb des Satzes als auch zwischen beiden Vertonungen, ohne aber dass dadurch der Bezug zu Leo verloren geht (vgl. Notenbeispiel 2a – 2c). Zwar keine musikalische Substanz aber wiederum eine Idee Leonardo Leos ist im 6. Satz „Cor mundum“ zu finden. Erneut stand Jommelli vor dem Problem, einen d-Moll-Satz in seine g-Moll-Komposition zu integrieren. Die Lösung ist genauso einfach wie genial: In HocJ C.I.18 erklingt der Beginn zweimal, einmal in A-Dur (Dominante) und ein zweites Mal in D-Dur (Tonika[variante]). In HocJ C.I.23 vertauschte Jommelli die beiden Teile und transponierte den nun zweiten Teil eine Sekunde nach unten. Auch in dieser Variante klingt also zuerst die Dominante (D-Dur) gefolgt von der Tonika(variante) G-Dur. Lediglich der vorgezogene Einsatz der Reminiszenz an den Cantus firmus sowie die Verzierungen stellen Neuerungen bis T. 14 dar. Man würde nun vermuten, dass der Tutti-Einsatz in T. 15 neu komponiert sein müsse, da er nicht mehr in den harmonischen Kontext passen würde. In der Tat sind T. 18 – 23 neu gestaltet, doch die ersten drei Takte nicht: Der Bass erklingt eine Quinte tiefer, der Tenor entspricht dem früheren Alt und erklingt eine Quinte tiefer, der Alt entspricht dem früheren Sopran und erklingt ebenfalls eine Quinte tiefer, der Sopran entspricht dem früheren Tenor und erklingt eine Quarte höher (vgl. Notenbeispiel 3a – 3c). Im Kritischen Bericht zu HocJ C.I.18 wurde darauf hingewiesen, dass in T. 18 für nur einen Takt lang eine plötzliche und nicht angezeigte metrische Ausweichung in einen 3/2Takt erfolgt.31 Die dort geäußerte These, es könne sich nicht um ein Versehen handeln, wird endgültig durch die Betrachtung von T. 21f. in HocJ C.I.23 bewiesen: Für die Dauer von sechs Takten (T. 15 – 20) bewegt sich der Rhythmus ausschließlich in punktierten Halben, was auch für T.  23f. zutrifft. Doch in T.  21f. schrieb Jommelli nur drei Halbe, wodurch zwei Synkopen entstehen. Zwar wird hier das Metrum beschleunigt statt verlangsamt, doch handelt es sich in beiden Fällen um ein falsch wirkendes oder zumindest irritierendes Me­ trum an exakt der gleichen Stelle („in me De-[us]“) wie in HocJ C.I.18 und muss daher als rückwirkender Beweis für deren Richtigkeit angesehen werden.32 30 Zusätzlich stimmt der Sopran im T. 6 mit HocJ C.I.18 überein, erklingt aber ebenfalls eine Quinte tiefer. 31 Pauser, Untersuchungen (wie Anm. 1), Bd. 2. 32 Man könnte auch annehmen, dass im Original von HocJ C.I.18 ebenfalls zwei 3/4-Takte gestanden hätten. Giuseppe Sigismondo, der die Abschriften von Jommellis Autographen besorgte, müsste beim Schreiben von I-Nc [22.5.1-2 (olim: Mus.Rel.10061)] verwirrt gewesen sein, weshalb er einen Takt im

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 305

Mit dem 7.  Satz  „Redde mihi“, der eine direkte Parodie des gleichen Satzes aus HocJ  C.I.18 darstellt, liegt auch eine indirekte Parodie des gleichen Satzes aus Antonio Lottis Miserere in d-Moll vor. Abermals musste Jommelli also einen d-Moll-Satz in diese g-Moll-Komposition integrieren. Jommelli arbeitete den ersten Halbvers um und gestaltete den zweiten Halbvers völlig neu.33 Das Prinzip, die drei oberen Stimmen in die jeweils tiefere Stimme zu verschieben und einen neuen Sopran zu schreiben, wendete Jommelli auch am Anfang dieses Satzes an. Der ursprüngliche Alt erklingt im Tenor eine Quinte tiefer, der ursprüngliche Tenor erklingt ebenfalls eine Quinte tiefer im Bass. Grundlage des neuen Alts bildet der ursprüngliche Sopran, der auch um eine Quinte erniedrigt wurde. Anders als in HocJ C.I.18 oder bei Lotti ist nun der Bass am Vortrag der Textstelle „Redde mihi laetitiam“ beteiligt. Infolge dieser Konstellation ergibt sich eine neue Dramaturgie: Die paarig geführten Unterstimmen und die paarig geführten Oberstimmen setzen einander imitierend ein. Durch den Einsatz einer vierten Stimme (Sopran) muss der Tenor in T. 2 aus harmonischen Gründen geändert werden. Weitere Änderungen betreffen jedoch nur die Schlusstöne in Tenor und Alt, wogegen die beiden Schlusstöne im Sopran die einzigen aus HocJ C.I.18 übernommenen Töne dieser Stimme sind – von der Oktavierung einmal abgesehen. Diese beiden Töne markieren sowohl den Punkt, an dem die Transposition um eine Quinte gegenüber HocJ C.I.18 aufgehoben wird, als auch den Einsatz des Basses. Somit stimmen diese Einsätze und deren Anfangstöne nicht nur mit HocJ C.I.18 sondern auch mit Lotti überein. Dass jedoch Lottis Satz nicht die Parodievorlage für den ersten Halbvers lieferte, sondern HocJ C.I.18, ist erstens daran zu erkennen, dass einerseits die geänderte Stimmführung und andererseits die vorgezogenen Einsätze aus HocJ C.I.18 übernommen wurden und zweitens zwar die drei übernommenen Unterstimmen, nicht aber der neu komponierte Sopran in der Intervallstruktur mit Lotti übereinstimmen. Hätte Jommelli an dieser Stelle Lottis Partiturstelle direkt übernommen, würde infolge der konsequenten Parodie, mit der Jommelli andere imitierende Teile übernahm, auch der Sopran übereinstimmen; legt man die Intervallstruktur zugrunde, handelt es sich jedoch genau genommen beim Sopraneinsatz um den ursprünglichen Basseinsatz aus HocJ C.I.18, der um eine Quartdezime erhöht wurde und somit doch Jommellis Einfall in sich birgt (vgl. Notenbeispiel 4a – 4c). Ein letztes Mal findet mit dem 10. Satz „Benigne“ ein Satz aus HocJ C.I.18 Einzug in diese Komposition. Wiederum stand Jommelli vor dem Problem, einen d-Moll-Satz in diese g-Moll-Komposition zu integrieren; und er fand einen neuen Weg: Die Dreistimmigkeit des Satzes bleibt dadurch bewahrt, dass zwar die Anzahl der Vokalstimmen von drei auf zwei reduziert wurde, aber der Generalbass das erste (und auch einzige!) Mal in Jommellis lateinischen Miserere-Vertonungen substanziell am Satzverlauf beteiligt ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich der Beginn der Generalbassstimme auf den ursprünglichen Alt zurückführen lässt, während der ursprüngliche Tenor zum um eine Undezime erhöhten neuen „falschen“ Metrum notierte. Damit wäre er dem Umstand gerecht geworden, den Fortgang in Halben konsequent weiterzuführen, der bereits zwei Takte früher beginnt. Allerdings ist diese Annahme wenig überzeugend. 33 Allerdings bleiben die Einsätze des zweiten Halbverses gleich: Der Bass entspricht dem Tenoreinsatz, der Tenor dem Alteinsatz und der Alt dem Sopraneinsatz. Folglich muss die Musik mit Beginn des neuen Sopraneinsatzes einen anderen Verlauf nehmen.

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Alt wurde; der Sopran wurde beibehalten und um eine Quarte erhöht. Da der Grundton im Generalbass jedoch nicht die Quinte des Akkordes (bezogen auf den sukzessiv erkennbaren Einsatz-Akkord) darstellen darf, wie es im ursprünglichen Alt der Fall ist, wurde das ursprüngliche a nicht zum d, sondern zum neuen Grundton g. Folglich konnte dieser Ton nicht für die im nächsten Takt erklingende Dominante beibehalten werden, sondern wurde zu deren Grundton d geändert. Von nun an verläuft der Generalbass unabhängig von HocJ C.I.18, während mit dem Auftakt zu T. 6 in den Vokalstimmen ein Stimmentausch stattfindet.

Pietà, Signore (HocJ Anh. 42) In Anbetracht dessen, dass Niccolò Jommelli seine lateinischen Miserere-Vertonungen – ebenso wie all seine anderen Psalmvertonungen – immer für Chor komponierte, stellt sich die Frage, wieso er den Vokalpart von Pietà, Signore auf zwei solistische Soprane reduzierte?34 Obwohl ein35 bzw. zwei36 Sopranpaare in anderen Psalmkompositionen Jommellis durchaus anzutreffen sind, so stellen diese dort als Kontrastmittel verwendeten Reduktionen des vielstimmigen und chorisch besetzten Satzes dennoch keine strukturelle Grundidee der gesamten Komposition dar. Als naheliegendes Vorbild scheint daher nur Jommellis Opernschaffen infrage zu kommen. Dass die Opernduette nicht ohne Einfluss auf HocJ Anh. 42 geblieben sein können, wird niemand bestreiten wollen. Doch muss es für Jommelli eine weitere, möglicherweise viel fruchtbarere Inspirationsquelle gegeben haben, nach deren Vorbild er HocJ Anh. 42 komponierte: das italienische Kammerduett. Julia Liebscher zufolge handelt es sich beim Kammerduett um eine „genuin italienische Vokalform“37, die jedoch durch die Kompositionen Händels „den abschließenden Höhepunkt in der Geschichte“ dieser Gattung erreicht hätte. Demnach seien nach 1745 keine Kammerduette mehr entstanden. Dies trifft jedoch nicht zu. Niccolò Jommelli komponierte mehrere Duetti sacri für zwei Soprane und Generalbass. Diese Kompositionen sind eindeutig Kammerduette, die bezüglich der Besetzung mit zwei Singstimmen und Generalbass das vokale Pendant zu Triosonaten, die Jommelli ebenfalls komponierte, bilden.38 Dieses letztgenannte Merkmal war es gerade, das das Kammerduett „als eigene Gattung greifbar 34 Die mögliche pragmatische Antwort, es hätten nur zwei Sopran-Stimmen zur Verfügung gestanden, soll hierbei unbeachtet bleiben, da sie den gänzlich anderen strukturellen Aufbau der Musik weder bedingen noch erklären könnte. 35 Z.B. In convertendo (HocJ C.I.14) (Rom 1751) für SS-Soli, SATB/SATB-Doppelchor und Bc. 36 Z.B Laudate pueri (HocJ C.I.16) (Rom 1752) für SS/SS-Soli, SATB/SATB-Doppelchor und Bc. 37 Julia Liebscher, „Händels Kammerduette – Höhepunkt und Wandlung einer Gattung“, in: Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Bach – Händel – Schütz. Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Stuttgart 1985, 2 Bde., Kassel u.a. 1987, Bd. 2, S. 59. Vgl. zum Duett allgemein auch dies., Art. „Duett“, in MGG2, Sachteil Bd. 2, Kassel u.a. 1995, Sp. 1572 – 1577. 38 Obwohl der 10. Satz „Benigne fac“ aus HocJ C.I.23 ebenfalls für zwei Singstimmen und Generalbass geschrieben wurde, kann er nicht als Kammerduett bezeichnet werden, da die Generalbassstimme die Reduktion der vokalen Altstimme aus HocJ C.I.18 darstellt und somit nicht als Triosatz komponiert

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 307

[macht], die sich sowohl von der Triosonate als auch von der Solokantate, den verwandten kammermusikalischen Gattungen, als selbstständige Kompositionsform abhebt.“39 Auch bei zwei weiteren wesentlichen Merkmalen, welche Liebscher als singuläres Phänomen der Kammerduette beschreibt, findet man Übereinstimmungen zu HocJ Anh. 42: „Auffallend ist die Verwendung von Liebeslyrik, deren Vortrag in Ich-Form eine subjektiv gefärbte, reflektive Grundhaltung erzeugt, die der Vertonung als Duett und der damit verbundenen Übertragung auf zwei Solisten widerspricht.“40 Bei HocJ Anh. 42 handelt es sich um eine Lyrik, die in Form der Gottesliebe intentional mit profaner Liebeslyrik, die von Liebscher gemeint ist, gleichgesetzt werden kann. Doch entscheidend ist der zweite Teil der Aussage: Der gesamte Text von HocJ Anh. 42 ist – genau wie die ursprünglich von Jommelli und anderen Komponisten vertonte lateinische Fassung des 50. Psalms auch – in der narrativen Sichtweise einer einzelnen (!) Person geschrieben; es finden sich in fast jeder Strophe Pronomen wie z.B. „mio“, „me“, „io“, „me“ usw. oder vereinzelt auch konjugierte Verben wie z.B. „(io) sono“, „ho“ oder „penso“. Jedoch sind nirgends zwei Individuen entsprechende Wörter wie z.B. „noi“, „nostro“, „siamo“, „abbiamo“ oder „pensiamo“ zu finden.41 Damit bleibt „der Widerspruch zwischen lyrischem Ich und zweistimmigen Vortrag“, durch den sich das Kammerduett „vom dramatischen Dialog und vom Opernduett deutlich abhebt“42 erhalten bzw. wird von Jommelli bewusst konstruiert.43 Immerhin erfreut sich die folgende Feststellung Liebschers in Bezug auf Händels Kammerduette bei Jommellis Pietà, Signore einer noch schlüssigeren Logik:

wurde, sondern nur die triosatzartige Parodie eines vokalen Terzetts darstellt. Außerdem treffen auch die im Folgenden zu erläuternden Merkmale nicht zu. 39 Liebscher, „Händels Kammerduette” (wie Anm. 37), S.  59. Michael Talbot bezeichnet die reine Generalbassbegleitung als „unentbehrliche[n] Teil ihrer Identität.“ Vgl. ders., „Die italienische weltliche Kantate“, in: Kantate. Ältere geistliche Musik. Schauspielmusik (=  Handbuch der musikalischen Gat­ tungen 17,2), Laaber 2010, S. 25 – 32; hier: S. 27. 40 Liebscher, „Händels Kammerduette” (wie Anm. 37), S. 60. 41 Für einen Druck Anfang des 19. Jahrhunderts wurde HocJ Anh. 42 sogar auf Deutsch übersetzt. Auch in dieser Textversion bleibt der Widerspruch bestehen, z.B.: „verzeih mir“ oder „meine Fehle“. Vgl. bspw. das Exemplar D-B [Mus. 16091]. 42 Beide bei Liebscher, „Duett“ (wie Anm. 37), Sp. 1575. 43 Dass dies nach dem Vorbild Agostino Steffanis geschah, ist nicht unwahrscheinlich. Immerhin wirkte dieser in München, Hannover und Düsseldorf und war berühmt für seine Kammerduette, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zu Jommellis Engagement in Stuttgart dort schon vorhanden waren. Vielleicht hat der auch für die Kammermusik am Hofe zuständige Oberkapellmeister Jommelli selbst Werke Steffanis aufgeführt? Desweiteren schildert Hanns-Berthold Dietz eine aufschlussreiche Begebenheit über den Unterricht an neapolitanischen Konservatorien, die trotz ihres Anekdotencharakters auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung von Kammerduetten hinweist: „Von Sacchini wird berichtet, er habe besonders die Kammerduette Durantes im Gesangsunterricht benutzt und fast niemals eine solche Lehrstunde beendet, ohne sein Heft dieser Kompositionen zu küssen.“ Vgl. Hanns-Berthold Dietz, „Alte Musik im Schatten alter Musik. Zur historisch-ästhetischen Stellung der Kirchenmusik neapolitanischer Meister der Bach-Händel Generation“, in: Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Bach – Händel – Schütz. Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Stuttgart 1985, 2 Bde., Kassel u.a. 1987, Bd. 1, S. 454.

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Die ein kommunikatives Moment implizierende Präsenz des zweiten Sängers im Duett macht jedoch das Vorhandensein latenter dialogischer Bezüge bewußt, die nahezu alle Textvorlagen der Kammerduette Händels besitzen und in Aussprüchen wie ‚einer andern als dir werd‘ ich nie gehören‘ zum Ausdruck kommen. Die angesprochene Person – gewöhnlich die ferne Geliebte –, die lediglich in der Vorstellung des Sprechers anwesend ist, wird so mit Hilfe des zweistimmigen Satzes, also durch die Beteiligung eines zweiten Sängers präsent, gleichsam musikalisch hörbar gemacht – bezeichnenderweise jedoch ohne eigenen, also neuen Text vorzubringen.44

Das Bewusstwerden „latenter dialogischer Bezüge“ erfolgt gleichermaßen in HocJ Anh. 42: Die angesprochene „Person“ ist in diesem Fall jedoch nicht die ferne Geliebte, sondern Gott, der im kontemplativen Gebet sowohl fern und unerreichbar als auch „in der Vorstellung des Sprechers anwesend ist“ und „durch die Beteiligung eines zweiten Sängers präsent, gleichsam musikalisch hörbar gemacht“ wird. Nachdem diese These über die Herkunft der duettierenden Singstimmen diskutiert worden ist, stellt sich die Frage, wieso Jommelli nach der ausschließlichen a-cappella-Vertonung seiner Miserere-Kompositionen plötzlich ein Streichensemble einsetzt?45 Ab dem Jahr 1762 erschienen Joseph Haydns Divertimenti a quattro op. 1 und op. 2 im Druck.46 Der Oberkapellmeister am Württembergischen Hof Niccolò Jommelli wird sie also mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zu seiner Abreise 1769 kennen gelernt haben. Sieht man sich die Partituren an, so glaubt man tatsächlich bereits Streichquartette vorliegen zu haben. Doch „Quartett“ impliziert heutzutage nicht nur eine Satzstruktur, sondern auch eine Besetzungsangabe: „mit vier Solisten“. Haydn benutzte jedoch selbst den Titel „Quartetto“ erst in op.  42, auch wenn der Erstdruck der Quartette op. 33, „an deren Gattungscharakter niemand zweifelt“47, ihn bereits verwendet. Bis dahin – und besonders in der Entstehungsphase – bleibt die Besetzung der Divertimenti a quattro allerdings offen; sie können solistisch besetzt werden, müssen es aber nicht. Es handelt sich also um Kompositionen für vier Stimmen und nicht zwingend für vier ausführende Musiker.48 So könnten diese kammermusikalischen Kompositionen Jommelli zum Nachdenken über eine eigene kammermusikalische Schreibart angeregt haben. Bei all dieser vermuteten Vorbildwirkung Haydns und seiner Nachahmer nördlich der Alpen soll nicht vergessen werden, dass eine eigenständige Entwicklung einer Kammermusik für Streicher – wenn auch anders ausgeprägt – u.a. auch in Jommellis Heimat Neapel stattgefunden hat. Gemeint seien hier nicht nur die 6 Sonate a quattro senza Cembalo von Alessandro Scarlatti, die „eher nur eine Fortführung der älteren Sonata da chiesa“49 dar-

44 Liebscher, „Händels Kammerduette” (wie Anm. 37), S. 60. 45 Auch wenn man annimmt, dass bereits bei den a-cappella-Miserere-Kompositionen Streicher nicht nur den Bass verstärkten, sondern gleichsam die Oberstimmen colla parte mitspielten, erklärt das nicht ihre jetzige Verwendung als eigenständiger Begleitapparat mit eigenem musikalischen Material. 46 Vgl. Friedhelm Krummacher, Das Streichquartett. 1: Von Haydn bis Schubert (= Handbuch der musikalischen Gattungen 6,1), Laaber 2001, S. 13. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Vgl. ebd., S. 15.

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 309

stellen, sondern auch das Vorhandensein einer Art „neapolitanische[n] Violinschule“50 im 18. Jahrhundert. Christoph Timpe zufolge „entwickelte sich die neapolitanische Violinmusik besetzungstechnisch aus den Quartettsonaten von Cailò und Marchitelli“51. Besonders verdienstvoll muss dabei Cailò gewesen sein, der an S. Maria di Loreto unterrichtete und seinen Schülern ein „breites Repertoire an Bogentechnik, vor allem weite Sprünge über die Saiten und komplizierte Arpeggios“52 vermittelte sowie „ihnen außergewöhnliche Fähigkeiten im Lagenspiel“53 beibrachte. „Diese violintechnischen Fertigkeiten […] sind demnach autonome neapolitanische Entwicklungen“.54 Ob sich diese Entwicklungen jedoch bereits umfangreich vollzogen hatten, während Jommelli noch in Neapel studierte, oder ob dies erst passierte, während er in Venedig, Rom und Stuttgart angestellt war, und die somit bei seiner Rückkehr 1769 als neu und überraschend hätten wirken müssen, muss an dieser Stelle offen bleiben. Dennoch bleibt zu vermuten, dass die verschiedenen sich in Europa ent­wickelnden kammermusikalischen Ausprägungen bei Jommelli, der immer wieder – besonders bei seinen Miserere-Vertonungen – fremde Stile, Satz- und Formmodelle aufgriff, um sie dann in Kombination mit eigenen Ideen weiterzuentwickeln, nicht ohne Konsequenzen auf eigene Kompositionskonzepte geblieben sind. Sieht man sich HocJ Anh. 42 an, so erkennt man darin ein stark ausgeprägtes kammermusikalisches Denken, welches nicht von Jommellis großangelegten Psalm-, Mess- oder Opernkompositionen herrühren kann. Aus diesem Grund kann man nicht einfach das hier verwendete Instrumentarium mit den Streichern des Opernorchesters (zwei Violinen, Viola und Generalbass) gleichsetzen. Jommelli komponierte mit HocJ Anh. 42 bewusst ein Werk, das sich besetzungstechnisch55, d.h. quantitativ, reduziert, um sich in seiner kleingliedrigen Anlage qualitativ steigern zu können. Seit den 1740er Jahren jedoch war Jommelli für etwas ganz anderes europaweit berühmt: Für seine Opernsinfonien56, die dazu beitrugen, den Weg zur großbesetzten Konzertsinfonie zu ebnen. Ein Widerspruch? Eine Feststellung Helmut Hells bezüglich der Orchester-Trios und Sinfonien Stamitz‘ ist daher auch für HocJ Anh. 42 aufschlussreich: Diese Instrumentalwerke [Trios] haben eine andere Herkunft; sie sind, obwohl sie vom vollen (Streich-) Orchester ausgeführt werden können, von kammermusikalischer Faktur. Sie können ohne weiteres so50 Christoph Timpe, „Violinmusik in Neapel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Italienische Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts. Alte und neue Protagonisten (= Analecta musicologica 32), Laaber 2002, S. 183 – 208; hier: S. 207. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 208. 55 Zu verstehen ist „besetzungstechnisch” hier besonders als Implikation des Raumes: die Kammer anstelle des großen Konzertsaales. 56 Vgl. Helmut Hell, Die neapolitanische Opernsinfonie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. N. Porpora – L. Vinci – G. B. Pergolesi – L. Leo – N. Jommelli (= Münchener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 19), Tutzing 1971, S. 488: „Dittersdorf spricht [auf das Jahr 1750 zurückblickend] also ganz selbstverständlich von Jommelli, und zwar nicht vom Opernkomponisten, was uns nach den Wiener Erfolgen des Neapolitaners im Jahre 1749 nicht wundern würde, sondern vom Sinfoniekomponisten; und er kann als Elfjähriger um 1750 von sich behaupten, daß ihm die betreffende Jommellische Sinfonie bereits bekannt war.“

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listisch besetzt werden, was für die Sinfonien von Stamitz, wenigstens soweit wir sie kennen, undenkbar ist.57

Die Instrumentalstimmen in Pietà, Signore sind von zahlreichen Verzierungen (Vorschläge, zahlreiche ausgeschriebene Umspielungen, etc.) geprägt und auch sonst handelt es sich um Stimmen, die desto besser zur Geltung kommen, je flexibler ihr ausführender Klangkörper ist. Giorgio Ubaldi bemerkt im Booklet58 seiner Aufnahme richtig, dass die vielen Verzierungen nicht ihrer schriftlichen Fixierung bedurften, sondern selbstständig von den Musikern ausgeführt worden wären. Zur selbstständigen Ausführung nicht notierter Verzierungen – also Improvisationen – bedarf es aber eines möglichst kleinen Ensembles. Je größer das Orchester, desto weniger konnte spontan verziert werden. Mit der Notation der Verzierungen verbindet sich also ein kompositorisches und aufführungspraktisches Anliegen Jommellis: eine kleine, kammermusikalische Besetzung. Deshalb muss die Möglichkeit einer großen Besetzung – die zahlenmäßig zwar damals kleiner59 war als heute, aber für eine adäquate Ausführung aller vorgeschriebenen Verzierungen immer noch als zu groß empfunden werden muss – aufgegeben werden, auch wenn sie wie im Falle der Stamitz-Trios durchaus möglich ist.

Fazit Die verschiedenartigen Ausprägungen des Parodieverfahrens bei Niccolò Jommelli bezüglich seiner Miserere-Vertonungen, durchgeführt an zwei ausgewählten Kompositionen, ließen die Fremdvorlagen – selbst im letzten lateinischen Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23) – noch erkennen. Es waren Antonio Lottis und Leonardo Leos Kompositionen in Form indirekter Parodien. Somit handelt es sich bei den Parodien im Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18) nicht um Gelegenheitsparodien. Offensichtlich verfolgte Jommelli beim Komponieren und Parodieren seiner Miserere-Vertonungen stets einen durchdachten Plan. Mithilfe übernommenen Materials entwickelten sich von Komposition zu Komposition verschiedene Satzmodelle, die Jommelli zunehmend mit eigenem musikalischen Material ausgestaltete, wobei Leos Ideen sich erkennbar weiter tradierten und Lottis Spuren stark verwischten. Dagegen ist das „italienische Miserere“ Pietà, Signore (HocJ Anh. 42) viel schwieriger hinsichtlich seiner stilistischen Herkunft zu definieren. Indem Jommelli während seiner früheren Anstellungen lokalen Gegebenheiten unter Bevorzugung zeitgemäßer Mittel gerecht werden musste, wurde er zwar nicht müde, ständig Neues auszuprobieren und dabei auch Altes zu revidieren, doch das in seinem Todesjahr entstandene HocJ Anh. 42 ist frei von 57 Ebd., S. 499. 58 S. 15. 59 Das Orchester des Teatro San Carlo hatte bspw. einen Streicherapparat von 38/8/2/4 im Jahr 1741 und 25/4/2/6 im Jahr 1796. Eine Besetzung, mit der HocJ Anh. 42 durchaus spielbar gewesen wäre, ist am Teatro Nuovo zu finden: 14 Violinen und Violen (insgesamt), 2 Celli und 2 Kontrabässe. Vgl. die Übersicht bei John Spitzer und Neal Zaslaw, The Birth of the Orchestra. History of an Institution, 1650 – 1815, Oxford (USA) 2004, S. 144 – 147.

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 311

zeitlicher und lokaler Determination. Keine institutionell gebundene Aufführungssituation, wie S. Pietro in Rom oder der Hof in Stuttgart grenzte Jommelli bei der Komposition ein. Obwohl er bei seinen Miserere-Vertonungen immer auf eigene Kompositionen bzw. auf solche anderer Komponisten zurückgriff – sei es im Hinblick auf konkretes musikalisches Material oder nur ein formales Gestaltungsvorbild – finden sich in HocJ Anh. 42 keine solchen Rückgriffe. Überhaupt scheint es fast unmöglich, die letzten Werke Jommellis in zeitliche oder lokale Kategorien einzuordnen.

Anhang Werk Miserere

Tonart / Modus d-Moll

Ort und Jahr

Werkverzeichnisnummer

Rom 1751

HocJ C.I.18

Miserere à 8

e-phrygisch

Rom o. J.

HocJ C.I.19

Miserere

g-mixolydisch

Rom o. J.

HocJ C.I.20

Miserere

g-dorisch

? [Rom 1751–1753?]

HocJ C.I.21

Miserere

g-Moll

? [Rom 1751–1753?]

HocJ C.I.22

Miserere

g-Moll

Stuttgart 1759

HocJ C.I.23

Pietà, Signore

g-Moll

Neapel 1774

HocJ Anh. 42

Tabelle 1: Die zweifelsfrei echten Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis nach Hochstein, Kirchenmusik (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 141 – 153 und S. 273 – 278.

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Notenbeispiel 1a: Antonio Lotti, Miserere in d-Moll, 1. „Miserere“, SATB, T. 1 – 18. Quelle: D-MÜs [SANT Hs 2405].

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 313

Notenbeispiel 1b: Niccolò Jommelli, Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18), 1. „Miserere“, SATB. Quelle: I-Nc [22.5.12 (olim: M.Rel.10061)].

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Michael Pauser

Notenbeispiel 2a: Leonardo Leo, Miserere in c-Moll (Kral C/1, 9). „Auditui meo“, Coro I SATB und Bc, T. 1 – 6. Quelle: I-Nc [1.6.152].

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 315

Notenbeispiel 2b: Niccolò Jommelli, Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18), 5. „Auditui meo“, SATB, T. 1 – 7. Quelle: I-Nc [22.5.12 (olim: M.Rel.10061)].

Notenbeispiel 2c: Niccolò Jommelli, Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23), 5. „Auditui meo“, SATB und Bc, T. 1 – 8. Quelle: I-Nc [22.5.16 (olim: M.Rel.1001)].

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Michael Pauser

Notenbeispiel 3a: Leonardo Leo, Miserere in c-Moll (Kral C/1), 11. „Cor mundum“, Soli SATB/SATB und Bc, T. 1 – 6. Quelle: I-Nc [1.6.152].

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 317

Notenbeispiel 3b: Niccolò Jommelli, Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18), 6. „Cor mundum“, Soli SSAT / Coro SATB, T. 1 – T. 19. Quelle: I-Nc [22.5.12 (olim: M.Rel.10061)].

318

Michael Pauser

Notenbeispiel 3c: Niccolò Jommelli, Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23), 6. „Cor mundum“, Soli SSAT / Coro SATB und Bc, T. 1 – 23. Quelle: I-Nc [22.5.16 (olim: M.Rel.1001)].

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis 319

Notenbeispiel 4a: Antonio Lotti, Miserere in d-Moll, 13. „Redde mihi“, SATB, T. 1 – 8. Quelle: D-MÜs [SANT Hs 2405].

Notenbeispiel 4b: Niccolò Jommelli, Miserere in d-Moll (HocJ C.I.18), 7. „Redde mihi“, SATB, T. 1 – 8. Quelle: I-Nc [22.5.12 (olim: M.Rel.10061)].

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Michael Pauser

Notenbeispiel 4c: Niccolò Jommelli, Miserere in g-Moll (HocJ C.I.23), 7. „Redde mihi“, SATB und Bc, T. 1 – 9. Quelle: I-Nc [22.5.16 (olim: M.Rel.1001)].

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis

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Notenbeispiel 5a: Niccolò Jommelli, Miserere in g-Moll (HocJ C.I.22). „Amplius“, SATB, T. 1 – 29. Quelle: D-B [Mus.ms 11235/4].

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Michael Pauser

Betrachtungen zu den Miserere-Vertonungen Niccolò Jommellis

323

Notenbeispiel 5b: Niccolò Jommelli, Miserere in g-Moll (HocJ C.I.22). „Amplius“, SATB und B.c., T. 1 – 16. Quelle: D-B [Mus.ms. 11235/4].

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„ma la chiesa non è teatro“. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert Rainer Heyink

Die Situation der Kirchenmusik in Rom unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von derjenigen anderer italienischer Musikzentren. Allein die Anzahl der musikalischen Institu­ tionen, der potentiellen Auftraggeber und Anlässe, zu denen Musik erklingen konnte, war einzigartig. Hervorzuheben wären die Kapellen der drei großen Basiliken S. Pietro in Vaticano (Cappella Giulia)1, S. Giovanni in Laterano (Cappella Pia)2 und S. Maria Maggiore (Cappella Liberiana)3, ferner Priesterkollegien wie das Seminario Romano4, Bruderschaften 1 Zur Cappella Giulia siehe u.a. Giancarlo Rostirolla, „Musicisti umbri nella Cappella Giulia di San Pietro in Vaticano dalle origini agli inizi del Seicento. Con una nota sul magistero padovano di fra Rufino Cecchi Bartolucci di Assisi“, in: Arte e musica in Umbria tra Cinquecento e Seicento. Atti del XII convegno di studi umbri, Gubbio-Gualdo Tadino, 30 novembre – 2 dicembre 1979, hrsg. von Biancamaria Brumana und Francesco F. Mancini, Gubbio 1981, S. 115 – 147; und ders., „La bolla ‚De communi omnium‘ di Gregorio XIII per la restaurazione della Cappella Giulia. Un documento rilevante per la storia istituzionale della cappella musica nel periodo post-tridentino“, in: La cappella musicale nell’Italia della Controriforma. Atti del convegno internazionale di studi nel IV centenario di fondazione della cappella musicale di S. Biagio di Cento. Cento, 13 – 15 ottobre 1989 (= Quaderni della rivista italiana di musicologia 27), hrsg. von Oscar Mischiati und Paolo Russo, Florenz 1993, S. 39 – 65. 2 Raffaele Casimiri, Cantori, maestri, organisti della Cappella Lateranense negli atti capitolari (sec. XV – XVII). Revisione e aggiornamenti di L. Callegari (= Quadrivium 25/2), Bologna 1984; Wolfgang Witzenmann, „La festa di San Giovanni Evangelista a San Giovanni in Laterano nel Seicento: disposizione musicale e partecipazione di predicatori“, in: La cappella musicale (wie Anm. 1), S. 161 – 174; ders., „Materiali archivistici per la Cappella Lateranense nell’Archivio Capitolare di San Giovanni in Laterano“, in: La musica a Roma attraverso le fonti d’archivio. Atti del convegno internazionale. Roma, 4 – 7 giugno 1992 (= Strumenti della ricerca musicale 2), hrsg. von Bianca Maria Antolini, Arnaldo Morelli und Vera Vita Spagnuolo, Lucca 1994, S. 457 – 467; ders., „Zur Präsenz der päpstlichen Kapelle an San Giovanni in Laterano im 17. Jahrhundert“, in: Collectanea II. Studien zur Geschichte der päpstlichen Kapelle. Tagungsbericht Heidelberg 1989 (= Capellae Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta 4), hrsg. von Bernhard Janz, Vatikanstadt 1994, S. 611 – 629; und Wolfgang Witzenmann, Die Lateran-Kapelle von 1599 bis 1650 (= Analecta musicologica 40/1 – 2), Laaber 2008. 3 John Burke, Musicians of S. Maria Maggiore Rome, 1600 – 1700. A Social and Economic Study (= Supple­ ment zu Note d’archivio per la storia musicale, nuova serie 2 (1984)), Venedig 1984; und Luca della Libera, „La musica nella basilica di Santa Maria Maggiore a Roma 1676 – 1712: nuovi documenti su Corelli e sugli organici vocali e strumentali“, in: Recercare 7 (1995), S. 87 – 161. 4 Raffaele Casimiri, „‚Disciplina musicae‘ e ‚mastri di capella‘ dopo il concilio di Trento nei maggiori istituti ecclesiastici di Roma. Seminario Romano – Collegio Germanico – Collegio Inglese (sec. XV – XVII)“, in: Note d’archivio per la storia musicale 12 (1935), S. 1 – 26, 73 – 81, 15 (1938), S. 1 – 14, 49 – 64, 97 – 112, 145 – 146, 225 – 247, 16 (1939), S. 1 – 19, 19 (1942), S. 102 – 129, 159 – 168, 20 (1943), S. 1 – 17; Riccardo G. Villoslada, Storia del Collegio Romano dal suo inizio (1551) alla soppressione della compagnia di Gesù (1773) (= Analecta Gregoriana 66), Rom 1954; ders., „Algunos

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wie die Arciconfraternita della SS. Trinità dei Pellegrini5 oder del SS. Crocifisso6, aber auch die großen Adelsgeschlechter der Stadt, die in ihren Palazzi7 und Familienkapellen8 bei ausgewählten Gelegenheiten für konzertierende Musik sorgten. Da Rom nicht nur Zentrum der katholischen Christenheit war, sondern zudem als Hauptstadt des Kirchenstaates Sitz einer bedeutenden weltlichen Macht, ließen auch die Vertreter der europäischen Herrscherhäuser an ihren jeweiligen Nationalkirchen politisch-dynastische Feiern mit aufwendiger Musik ausschmücken.9 Die im 17. und 18. Jahrhundert in der Ewigen Stadt aufgeführte Kirchenmusik war daher stilistisch von größter Vielfalt. Abgesehen vom Gregorianischen Choral – der als Folge des Tridentinischen Konzils auch in einer Reformfassung (Editio Medicaea, 1614/15) von Felice Anerio und Francesco Soriano vorlag10 – stand die Vokalpolyphonie im Stile Giovanni Pierluigi da Palestrinas weiterhin neben dem neuen monodischen und konzertierenden Stil. Zu berücksichtigen sind ferner die gerade in Rom ausgeprägten Sondertraditionen einzelner

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documentos sobre la musica en el antiguo Seminario Romano“, in: Archivium Historicum Societatis Jesu 31 (1962), S. 107 – 138; Thomas D. Culley, Jesuits and Music: I. A Study of the Musicians Connected with the German College in Rome during the 17th Century and of their Activities in Northern Europe, Rom und St. Louis 1970; Peter Schmidt, Das Collegium Germanicum in Rom und die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars (1552 – 1914) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 56), Tübingen 1984; Graham Dixon, „Music in the Venerable English College in the Early Baroque“, in: La musica a Roma attraverso le fonti d’archivio, S. 469 – 478; und István Bitskey, Il Collegio Germanico-Ungarico di Roma. Contributo alla storia della cultura ungherese in età barocca (= Studi e fonti per la storia dell’Università di Roma, nuova serie 3), Rom 1996. Noel O’Regan, Institutional Patronage in Post-Tridentine Rome. Music at Santissima Trinità dei Pellegrini 1550 – 1650 (= Royal Musical Association Monographs 7), London 1995. Domenico Alaleona, Storia dell’oratorio musicale in Italia, Mailand 1945, Kap. XI. Jonathan Paul Couchman, „Musica nella cappella di Palazzo Altemps a Roma“, in: Musica e musicisti nel Lazio (= Lunario Romano 1986/15), hrsg. von Renato Lefevre und Arnaldo Morelli, Rom 1985, S. 167 – 183; und ders., Felice Anerio’s Music for the Church and for the Altemps Cappella, Ph.D. Dissertation University of California at Los Angeles 1989. Jean Lionnet, „Les activités musicales de Flavio Chigi cardinal neveu d’Alexandre VII“, in: Studi musicali 9 (1980), S. 287 – 302; und ders., „La ‚Salve‘ de Sainte-Marie Majeure: La musique de la chapelle Borghese au 17ème siècle“, in: Studi musicali 12 (1983), S. 97 – 119. Zur französischen Nationalkirche siehe Jean Lionnet, La musique à Saint-Louis de Français de Rome au XVIIo siècle, 2 Bde. (= Supplement zu Note d’archivio per la storia musicale, nuova serie 3 (1985) und 4 (1986)), Venedig 1985/86; und Arnaldo Morelli, „‚Alle glorie di Luigi‘. Note e documenti su alcuni spettacoli musicali promossi da ambasciatori e cardinali francesi nella Roma del secondo Seicento“, in: Studi musicali 25 (1996), S. 155 – 166; zur spanischen Nationaleinrichtung Jean Lionnet, „La musique à San Giacomo degli Spagnoli au XVIIème siècle et les archives de la Congrégation des Espagnols de Rome“, in: La musica a Roma attraverso le fonti d’archivio, S. 479 – 505; und Francesco Luisi, „S. Giacomo degli Spagnoli e la festa della Resurrezione in Piazza Navona. Mire competitive, risorse e finanziamenti per la Pasqua romana degli spagnoli“, in: La cappella musicale (wie Anm. 1), S. 75 – 103; und zur deutschen Nationalkirche Rainer Heyink, Fest und Musik als Mittel kaiserlicher Machtpolitik. Das Haus Habsburg und die deutsche Nationalkirche in Rom S. Maria dell’Anima (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 44), Tutzing 2010. Vgl. David Hiley und Michel Huglo, Art. „Choralreform. IV. Die Editio Medicaea von 1614/15“, in: MGG2, Sachteil Bd. 2, Kassel u.a. 1995, Sp. 848 – 863, hier: Sp. 852f.

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Kapellen wie der Cappella Sistina – der päpstlichen Hofkapelle – oder der Cappella Giulia von S. Pietro in Vaticano.11 Während die päpstliche Kapelle – mit ihrer Pflege eines liturgischen Repertoires von Messen und Motetten des 15./16. Jahrhunderts oder mit ihrem in der Nachfolge Palestrinas für Neukompositionen geschriebenen Stil – als eines der letzten ‚Reservate‘ eines rein vokalen stile antico gelten kann,12 war die Cappella Giulia durchaus den neuen musikalischen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen, wobei sie Orgel und In­ stru­men­te jedoch nur für den Basso continuo zuließ; selbst an Sonn- und Feiertagen wurden grundsätzlich keine Instrumente außer dem Basso continuo verwendet, der nur durch die Orgel auszuführen war. Einzig an Hochfesten konnten zur Verstärkung des Generalbasses Violonen und Kontrabässe hinzugezogen werden.13 Besetzung und Art der musikalischen Ausstattung richteten sich dabei nach Rang und Bedeutung des betreffenden Tages.14 In anderen Basiliken und Kirchen der Stadt hingegen, in denen Repertoire und Ausführung keinen Auflagen unterworfen war, lagen die Auswahl der aufzuführenden Werke, Stil und Besetzung der Musik ganz in der Verantwortung des maestro di cappella. Dabei wurde der liturgische Alltag natürlich anders begangen als die kirchlichen Hochfeste mit ihren musiche straordinarie, an denen der maestro di cappella die Möglichkeit nutzen konnte, zusammen mit bereits bekannten Kompositionen seine eigenen neuen Werke einem größeren Publikum vorzustellen. Hier wiederum hing es von den finanziellen Möglichkeiten seiner Auftraggeber ab und von den von Kirche zu Kirche stark unterschiedlichen institutionellen Voraus­setzungen, ob man sich mit einem kleinbesetzten Ensemble begnügen musste oder sich doppel- oder sogar mehrchörige Musik leisten konnte, ob die Musik ganz mit auswärtigen Kräften organisiert werden musste oder ob man nur auf die eigene und vielleicht zu diesem Anlass verstärkte Kapelle zurückzugreifen brauchte.15 11 Beschränkte sich der Tätigkeitsbereich der Cappella Sistina auf die musikalische Ausschmückung der päpstlichen Zeremonien, die überwiegend in der Sixtinischen Kapelle des vatikanischen Palastes stattfanden, so hatte die Cappella Giulia regelmäßig die liturgischen Feiern an der Basilika von S. Pietro mit Musik zu versehen; sie umfassten täglich die Stundengebete des Kapitels – Matutin, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet – sowie eine messa cantata; vgl. die erste gedruckte Fassung der ordini der Kapelle von 1600, die 1723 das letzte Mal ohne Veränderung nachgedruckt wurde: Ordini da osservarsi dai cantori e cappellani della Venerabile Cappella Giulia della Sacrosancta Basilica del Prencipe degl’Apostoli di Roma, In Roma, MDCCXXIII. Apresso Giovanni Maria Salvioni stampator vaticano nell’Archiginnasio della Sapienza (Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Cappella Giulia 431). Ein kommentierter Abdruck der ordini von 1600 findet sich bei Giancarlo Rostirolla, „Gli ‚Ordini‘ della cappella musicale di S. Pietro in Vaticano (Cappella Giulia)“, in: Note d’archivio per la storia musicale, nuova serie 4 (1986), S. 227 – 254; hier insb. die capitoli 19, 20, 22 – 24 und 28. 12 Vgl. Jean Lionnet, „Performance practice in the Papal Chapel during the 17th century“, in: Early music 15 (1987), S. 3 – 15 und Giancarlo Rostirolla, „Alcune note storico-istituzionali sulla Cappella Pontificia in relazione alla formazione e all’impiego dei repertori polifonici nel periodo post-palestriniano, fino a tutto il Settecento“, in: Collectanea II (wie Anm. 2), S. 631 – 788. 13 Vgl. Rainer Heyink, „Pietro Paolo Bencini, ‚uno de’ più scelti Maestri della Corte di Roma‘“, in: Händel-Jahrbuch 46 (2000), S. 101 – 124, hier: S. 110f. 14 Siehe ders., „‚con un coro di eco fino in cima alla cupola‘. Zur Vespermusik an S. Pietro in Vaticano um die Mitte des 18. Jahrhunderts“, in: Recercare 11 (1999), S. 201 – 227. 15 Vgl. hierzu Pietro della Valle, „Della musica dell’età nostra che non è punto inferiore, anzi è migliore di quella dell’èta passata [1640]“, in: Le origini del melodramma. Testimonianze dei contemporanei, hrsg. von

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Größerbesetzte Figuralmusik erklang dabei fast ausschließlich in der Messe sowie zur ersten und zweiten Vesper eines hohen Festtages. Ihr Stil reichte von einfachem improvisierten Kontrapunkt bis zu der höchst komplexen kanonischen oder vielchörigen Schreibweise. Insofern lag es nahe, dass die Entwicklung des neuen konzertierenden Stils neben den beiden traditionellen musikalischen Gattungen der Motette und Messe16 ihren Niederschlag vor allem im Bereich der Offiziumskompositionen fand. Insbesondere die Psalmtexte mit ihrem Reichtum an gefühlshaftem Ausdruck, Kontrast und Dramatik waren wie geschaffen für die neue konzertierende Schreibweise. So lässt sich immer wieder beobachten, dass Komponisten tendenziell weiterhin die Messvertonung wählten, um ihre kontrapunktischen Fähigkeiten im stile osservato zur Schau zu stellen, die Psalmkompositionen hingegen verstärkt nutzten, um ihr Können im Umgang mit dem neuen stile concertato zu beweisen. Die Vesper wurde somit zur neuen kompositorischen Repräsentationsform schlechthin, vergleichbar mit der Rolle der Messe im 16. Jahrhundert. Doch gerade auf dem Gebiet der Kirchenmusik macht sich bei einer sehr großen Materialfülle die bislang fehlende Quellenerschließung für weiterreichende Studien nachteilig bemerkbar.17 Was das 17. und das frühe 18. Jahrhundert betrifft, lassen sich jedoch für Rom einige feste kompositionstechnische bzw. aufführungspraktische Tendenzen feststellen. So wurde Angelo Solerti, Turin 1903, S. 148 – 179, hier: S. 122f.: „Oggi dì nelle composizioni da cantarsi in chiesa non si preme tanto come per avanti nella sodezza et artificio del contraponto, ma nella loro grande varietà e nella diversità de gli ornamenti et a più cori nelle feste solenni, con accompagnamento di sinfonie di varj istromenti, con intromettervi anche lo stile recitativo, il qual modo ricerca gran prattica più tosto e vivacità d’ingegno e fatica di scrivere, che gran maturità e scienza di contrapunto esquisita. E per tal segno si vede che li Maestri di Cappella delle chiese principali sono giovenotti; et il più vecchio fra essi è Vincenzo Ugolino d’età di anni 40 in circa, che fu Maestro di Cappella in S. Pietro per alcuni anni [...]“. Grazioso Uberti sieht sich 1630 veranlasst, die aufwändige, mitunter als problematisch empfundene festliche römische Kirchenmusik mit folgenden Worten zu rechtfertigen: „Nelle Chiese si recitano li Divini Officij, si sacrifica à Dio, si celebrano le Festi, e solennizano i giorni festivi. si suonano le Campane ogni giorno per radunare ivi il popolo; ma per maggior allegrezza, e per convocare maggior numero de’fedeli ne i festivi, e solenni si suona al doppio. e però il tumulto, e concorso del popolo alla Chiesa, quando anco fusse cagionato dalla musica, non sarebbe effetto cattivo“, Grazioso Uberti, Contrasto musico. Opera dilettevole, Rom 1630, Reprint Lucca 1991, hrsg. von Giancarlo Rostirolla, S. 97 – 98. 16 Hinsichtlich der Gattung Motette siehe Graham Dixon, „Progressive Tendencies in the Roman Motet during the Early Seventeenth Century“, in: Acta musicologica 53 (1981), S. 105 – 119; zur Messe ders., „Tradition and Progress in Roman Mass Setting after Palestrina“, in: Atti del II convegno internazionale di studi palestriniani, hrsg. von Lino Bianchi und Giancarlo Rostirolla, Palestrina 1991, S. 309 – 324. 17 Siehe hierzu etwa Ludwig Finscher, Art. „Psalm“, in MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel u.a. 1997, Sp. 1853 – 1900, hier: Sp. 1883 (Italien, im 17. und frühen 18. Jahrhundert betreffend): „Stilistisch lassen sich drei Bereiche unterscheiden: Psalmen im Stile antico mit oder ohne Generalbass (konzentriert vor allem auf Rom); Psalmen im konzertierenden Stil in kleiner Besetzung; groß besetzte und mehrchörige Psalmen im venezianischen konzertierenden Stil und im römischen ‚Kolossalstil‘. [...] Eine auch nur annähernd repräsentative Auswahl von Namen ist unmöglich“, bzw. Sp. 1879: „das Repertoire ist noch nicht annähernd erschlossen“. Was das 17. Jahrhundert betrifft, ist erstmals 1999 der Versuch unternommen worden, eine Übersicht über einen zentralen Aspekt der Kirchenmusik der Stadt Rom im 17. Jahrhundert zu geben, den der konzertierenden Vespermusik; siehe Rainer Heyink, ‚Al decoro della Chiesa, & à lode del Signore Iddio‘. I vespri concertati nella Roma del Seicento (= Studi, Cataloghi e Sussidi dell’Istituto di Bibliografia Musicale 4), Rom 1999.

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der römischen Tradition folgend der erste Psalm der Vesper, Dixit Dominus Domino meo (Psalm 109), noch oftmals im alten pieno-Stil vertont – also vollstimmig und ohne Solisten –, während insbesondere Confitebor tibi Domine (Psalm 110), Laetatus sum (Psalm 121), Lauda Jerusalem Dominum (Psalm 147) und Laudate pueri Dominum (Psalm 112) häufig für konzertierende Solostimme und Ripieno-Chor gesetzt wurden. Eine figurale Ausführung aller Vesperpsalmen ist allerdings wohl eher die Ausnahme gewesen, doch dürfte zumindest das Magnificat als Höhepunkt der Vesper an Sonn- und Feiertagen in der Regel figural erklungen sein.18 Anhand der Diarien der Cappella Sistina ist diese Praxis für die durch die päpstlichen Sänger aufgeführte Musik zur Vesper belegt. Hier wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Regel das Magnificat, der Hymnus und jeweils zwei (oder höchstens drei) der insgesamt fünf Psalmen figural gesungen19 – Psalmen und Magnificat oftmals doppelchörig –, die übrigen Teile der Vesper hingegen in Gregorianik, falsobordone oder contrapunto alla mente.20 Im Gegensatz zur Messe, die unvermindert von Palestrinas Kompositionen dominiert wurde, scheint man für die Vesper dabei eher auf zeitgenössisches Repertoire zurückgegriffen zu haben.21 An vier hohen Kirchenfesten – Ostern, Pfingsten, SS. Pietro e Paolo und Weihnachten – wurde die zweite Vesper aber nicht öffentlich in der Sixtinischen Kapelle abgehalten, sondern in die päpstlichen Privatgemächer des Palazzo Apostolico verlegt (Abb. 1).22 Nur bei diesem im privaten Rahmen abgehaltenen vespro segreto konnte auch Musik des neuen konzertierenden Stils zur Aufführung gelangen, wobei die Verwendung einer Orgel wohl obligatorisch war.23 Die in den Diarien anzutreffende Beschreibung der bei diesem Anlass aufgeführten Psalmen und Antiphone mit „concertato“ dürfte nach Noel O’Regan Werke mit geringstimmig gesetzten Passagen und Orgelbegleitung gemeint haben.24 Der figurale Anteil der im privaten Rahmen aufgeführten Vespermusik war anschei18 Uwe Wolf, „Et nel fine tre variate armonie sopra il Magnificat. Bemerkungen zur Vertonung des Magnificats in Italien im frühen 17. Jahrhundert“, in: Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 2 (1993), S. 39 – 54. 19 Die Frage, welche Psalmen gewöhnlich in der Vesper figural ausgeführt wurden und welche nicht, dürfte wohl als Überlegung auch hinter den für eine Drucklegung ausgewählten Werken gestanden haben. Anders lässt es sich nämlich nicht erklären, warum zwar kaum eine Sammlung ohne Vertonung der ersten vier Psalmen der Sonntagsvesper samt Magnificat auskommt, sich aber bei insgesamt 86 Drucken nur 14 Vertonungen des letzten Psalms In exitu Israel de Aegypto finden; siehe Heyink: ‚Al decoro della Chiesa, & à lode del Signore Iddio‘ (wie Anm. 17), S. 24f. 20 Siehe Herman-Walther Frey, „Die Gesänge der sixtinischen Kapelle an den Sonntagen und hohen Kirchenfesten des Jahres 1616“, in: Studi e testi della Biblioteca Apostolica Vaticana 236 (= Mélanges Eugène Tisserant 6), Vatikanstadt 1964, S. 395 – 437; und Noel O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome 1575 – 1621, 2 Bde., Ph.D. Dissertation St. Catherine’s College, Oxford 1988, hier: Bd. 1, S. 43. 21 Lionnet, „Performance Practice in the Papal Chapel“ (wie Anm. 12), S. 11. 22 O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome (wie Anm. 20), S. 43f.; und Jean Lionnet, „Le répertoire des vêpres papales“, in: Collectanea II (wie Anm. 2), S. 225 – 248. 23 Siehe auch Andrea Adami, Osservazioni per ben regolare il coro de i cantori della Cappella Pontificia, Rom 1711, Reprint Lucca 1988, hrsg. von Giancarlo Rostirolla, S. 65f.: „Il giorno all’ora prescritta dal Papa, si troverà il nostro Collegio nella stanza avanti alla Cappella segreta per cantare con l’Organo il Vespero [...] e tanto i Salmi, che le Antifone devono essere corti, ed allegri, e di buoni Autori, ed il Signor Maestro regolerà il tutto con la battuta.“ 24 O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome (wie Anm. 20), S. 43.

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nend auch höher als bei der in der Sixtinischen Kapelle gefeierten Vesper; auch konnten dabei Kompositionen für bis zu vier Chöre zum Einsatz gelangen, während das Repertoire ansonsten maximal doppelchörig war.

Abb. 1: Basilika von S. Pietro in Vaticano mit Sixtinischer Kapelle und Apostolischem Palast (aus: Giovanni Battista Falda, Il terzo libro del’ Novo Teatro delle chiese di Roma […], Rom 1669).

Was die Basilika von S. Pietro betrifft, hatte die Cappella Giulia jährlich drei Hochfeste musikalisch auszuschmücken, die bezüglich der Besetzungsgröße, der ausgewählten Kompositionen und in Hinblick auf den Aufführungsrahmen alle anderen Festtage des Jahres übertrafen: die Kathedra Petri („la festa della cattedra di S. Pietro“) am 18. Januar, das Patro­ natsfest SS. Pietro e Paolo am 29. Juni (das Hauptfest der Kirche) und das Kirchweihfest („la dedicazione della basilica vaticana“) am 18. November. Kamen allein an diesen Hochfesten alle Psalmen mehrstimmig und auch mehrchörig zur Aufführung, sang die Cappella Giulia an Sonn- und Feiertagen in der Regel nur drei Psalmen mehrstimmig und die zwei restlichen choraliter.25 Eine detaillierte Beschreibung eines musikalischen Vesperprogramms anlässlich des Festes von S. Lucia am 13. Dezember 1656 oder 1657 ist bspw. vom AugustinerinnenKloster S. Lucia in Selci erhalten. Damit die für die Feier der Messe und der beiden Vespern benötigten Musiker überhaupt das Kloster betreten durften, hatte die maestra di musica eine Sondererlaubnis einzuholen und in ihrem Antrag genau zu spezifizieren, wozu die Musiker im Einzelnen benötigt würden: 25 Siehe Heyink, „‚con un coro di eco fino in cima alla cupola‘“ (wie Anm. 14), S. 207.

„ma la chiesa non è teatro“. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert 331 Primo e secondo Vespro Antifone in Contrapunto, doi Salmi e tre in Cantofermo falsobordone a coro pieno doi salmi concertati in canto figurato senza versi a solo, doppo li salmi replicano le Antifone in concertino à doi o tre voci per ciascheduna et anco una à coro pieno, et in loco di una di dette Antifone quattro botte de instrumenti. L’Hinno in canto figurato à versi, il cantico Magnificat in canto figurato come sopra, La Salve in Canto figurato concertato a coro pieno, La Messa in canto figurato compartita in Concertino et a Coro pieno; doppo l’Epistola quattro botte d’instrumenti, all’Offertorio un concertino à quattro voci, all’elevatione concertino à tre voci.26

Hinsichtlich der Frage, ob die Psalmtexte ganz oder in wechselnden Versen vertont wurden, sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch die vers­ weise abwechselnden doppel- und mehrchörigen Kompositionen überwiegen, oder die sogenannten Alternatim-Psalmen, bei denen entweder nur die geraden oder ungeraden Verse mehrstimmig figural vertont wurden und mit einstimmig choralen Versen abwechselten.27 Hingegen finden sich die als salmi intieri (oder mit dem lateinischen Terminus als psalmi integri) bezeichneten Psalmen, in denen der gesamte Psalmtext durchkomponiert ist, in Rom selten.28 Einer Meinungsverschiedenheit über die Entlohnung von kirchenmusikalischen Aufführungen zwischen der Arciconfraternita della SS. Trinità dei Pellegrini und Asprilio Pacelli, maestro di cappella an S. Apollinare, ist es zu verdanken, dass wir Aufschluss darüber gewinnen können, mit welchen Kosten man in Rom im Durchschnitt für eine dreichörige Ausgestaltung von zwei Vespern und einer Messe rechnen musste. In einem von den beiden Kapellmeistern Giovanni Andrea Dragoni (S. Giovanni in Laterano) und Francesco Soriano (S. Maria Maggiore) aufgesetzten Gutachten vom 13. Juli 1595 heißt es zu diesem Streitpunkt: Noi Infrascritti Mastri di Capella facciamo piena et indubitata fede, che p[er] quanto habbiamo osservato, et visto comunemente osservare nella Corte di Roma, quando un’ Mastro di Capella canta et fa cantare doi Vesperi et una Messa à tre Cori con unite voci con alunni29 di Capella di N[ostro] S[igno]re et instrumenti cioè Cornette Tromboni Violini et Liuti si suole dare al d[etto] Mastro p[er] sua mercede et p[er] pagare le dette voci et instrumenti trenta scudi [...] et cosi comunem[en]te habbiamo osservato, visto osservare et publicam[en]te in Roma si osserva, et anco p[er] ordinaria et competente Mercede si paga [...].30

Was die Anzahl der Ausführenden, die Größe und Besetzung der Ensembles betrifft, die diese Vesperkompositionen zur Aufführung brachten, sei angemerkt, dass Kirchen, die eine 26 Nach Jean Lionnet, „Una svolta nella storia del collegio dei cantori pontifici: il decreto del 22 giugno 1665 contro Orazio Benevolo; origine e conseguenze“, in: Nuova rivista musicale italiana 17 (1983), S. 72 – 103, hier: S. 83. 27 Hierzu ausführlich Klaus Fischer, Die Psalmkompositionen in Rom um 1600 (c. 1570 – 1630) (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 98), Regensburg 1979, S. 96ff. 28 Vgl. Heyink, ‚Al decoro della Chiesa, & à lode del Signore Iddio‘ (wie Anm. 17), S. 22f. 29 Nach Noel O’Regan dürfte Georg Kinsky hier ‚alcuni‘ irrtümlich mit ‚alunni‘ übertragen haben; siehe Noel O’Regan, Institutional Patronage in Post-Tridentine Rome (wie Anm. 5), S. 48, Anm. 24. 30 Nach Georg Kinsky, „Schriftstücke aus dem Palestrina-Kreis“, in: Festschrift Peter Wagner zum 60. Geburtstag, hrsg. von Karl Weinmann, Leipzig 1926, S. 108 – 117, hier: S. 114.

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stehende Musikkapelle unterhalten konnten, in der Regel auch über einen maestro di cappella und einen Organisten verfügten; insbesondere in kleineren Kirchen konnten beide Tätigkeiten aber auch einer einzigen Person übertragen sein.31 Die Anzahl der Sänger reichte – um einige Beispiele zu nennen – von drei an S. Maria in Traspontina über sechs an der Chiesa del Gesù (regelmäßig belegt seit 1625)32 und 18 an S. Pietro in Vaticano33 bis zu 32 an der Cappella Sistina,34 wobei die Cappella Pontificia dabei mit Abstand die Spitzenstellung einnahm. Die durchschnittliche Sängerzahl einer großen Kapelle lag bei acht wie an S. Maria in Trastevere (1605 – 45)35 oder zehn wie an S. Giovanni in Laterano,36 S. Maria Maggiore (1600 – 1650)37 und S. Luigi dei Francesi (seit 1644);38 sie umfasste im Einzelnen vier Soprane sowie je zwei Altisten, Tenöre und Bässe. Diese ‚Standardbesetzung‘ mag gerade ausreichend für die musikalische Ausgestaltung einer sonntäglichen Vesper gewesen sein, aber nur bei gut geschulten Sängern und keinem krankheitsbedingten Fehlen auch dazu geeignet, doppelchörige Kompositionen zur Aufführung zu bringen. Zusätzliche Sänger und Instrumentalisten mussten demnach für besonders feierlich begangene Festlichkeiten heran­ gezogen werden. Aber selbst bei mehrchörigen Aufführungen wurde – wie es Finanzakten, Musikerlisten und Aufführungsbeschreibungen belegen – die Musik in der Regel von einem oder maximal zwei Sängern pro Stimme ausgeführt.39 Selbst an größeren Kirchen, die zwar einen fest angestellten maestro di cappella besaßen, aber über keine stehende Kapelle verfügten – wie die deutsche Nationalkirche S. Maria dell’Anima –, wurden Messe und Vesper der kirchlichen Hauptfeste (Mariӕ Geburt, Fronleichnam und das Kirchweihfest) mit doppelchöriger Musik gefeiert, die hier in der Regel zwei Sänger pro Stimmlage um-

31 Eine umfassende Übersicht bietet Arnaldo Morelli, „Le cappelle musicali a Roma nel Seicento: Questioni di organizzazione e di prassi esecutiva“, in: La cappella musicale (wie Anm. 1), S. 175 – 203. 32 Graham Dixon, „Musical Activity in the Church of Gesù in Rome during the Early Baroque“, in: Archivum Historicum Societatis Jesu 49 (1980), S. 323 – 337. 33 Vgl. die Literaturangaben in Anm.1. 34 Nach ihrer 1625 erfolgten Vergrößerung durch Papst Urban VIII., siehe Lionnet: „Performance Practice in the Papal Chapel“ (wie Anm. 12), S. 3 – 15. 35 Graham Dixon, „The Cappella of S. Maria in Trastevere (1605–45): An Archival Study“, in: Music and Letters 62 (1981), S. 30–40. 36 Zur Cappella Pia vgl. die Literaturangaben in Anm. 2. 37 Zur Cappella Liberiana vgl. die Literaturangaben in Anm. 3. 38 Jean Lionnet, „Quelques aspects de la vie musicale à Saint-Louis-des-Francais. De Giovanni Bernardino Nanino à Alessandro Melani (1591 – 1698)“, in: Les fondations nationales dans la Rome pontificale (= Collection de l’École Française de Rome LII), Rom 1981, S. 333 – 375; und ders., La musique à Saint-Louis des Français de Rome au XVIIo siècle (wie Anm. 9). 39 Neben der bereits zitierten Literatur siehe ferner Alberto Cametti, „Organi, organisti ed organari del senato e del popolo romano in S. Maria in Aracoeli (1583 – 1848)“, in: Rivista musicale italiana 26 (1919), S. 441 – 485; Graham Dixon, „The Pantheon and Music in Minor Churches in SeventeenthCentury Rome“, in: Studi musicali 10 (1981), S. 265 – 277; Jean Lionnet, „André Maugars, Risposta data a un curioso sul sentimento della musica d’Italia“, in: Nuova rivista musicale italiana 19 (1985), S. 681 – 707, hier: S. 684 – 686 (betreffend S. Maria sopra Minerva); ders., „La musique à ‚Santa Maria della Consolazione‘ au 17ème siècle“, in: Note d’archivio per la storia musicale, nuova serie 4 (1986), S. 153 – 202; und Heyink, ‚Al decoro della Chiesa, & à lode del Signore Iddio‘ (wie Anm. 17), S. 30.

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fasste; eine Ausnahme bildete dabei wieder der größer besetzte Sopran des ersten Chores.40 Zu den Vespern der beiden Kreuzesfeste (Kreuzesfindung am 3. Mai und Kreuzeserhöhung am 14. September), die die Arciconfraternita del SS. Crocifisso in der Kirche S. Marcello beging, kamen in den 1650er Jahren durchweg doppelchörige Kompositionen zur Aufführung (überwiegend CCATB 1° coro, CATB 2° coro; seltener CATB, CATB), die mit einem Sänger pro Part, zwei Violinen und Basso continuo (zwei Orgeln und Laute) besetzt waren.41 Dass bei mehrchöriger Musik jedem Chor meist eine eigene Orgel zugeordnet war, belegt das zeitgenössische Aufführungsmaterial, das der Anzahl der beteiligten Chöre eine entsprechende Anzahl identischer bassus ad organum-Stimmen bereitstellte.42 Mehrchörige Musik – die ursprünglich nur auf einer strikten Trennung und Alternierung von zwei oder mehreren Chören basierte, ohne obligate Instrumente oder konzertante vokale Partien43 – war ohne Zweifel ein charakteristischer Bestandteil der in römischen Kirchen begangenen Hauptfeste im 17. Jahrhundert.44 Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade den Jesuiten, die die Kunst in den Dienst ihrer großangelegten Offensive im Rahmen der Gegenreformation gestellt hatten, der mehrchörige, ‚kolossale‘ Musikstil sehr entgegen kam. Er konnte dabei eine passende Ergänzung zu dem triumphalen Stil der Innenausstattung ihrer Mutterkirche Il Gesù bilden, der jeglichen Zweifel an der Überlegenheit des Katholizismus vertreiben sollte; in ihrem Zentrum steht Baciccias spektakuläres Deckenfresko in geschickter perspektivischer Wirkung, das den Triumph des Namens Christi darstellt. Nicht nur am Patronatsfest, sondern auch an den Festen ihrer heiliggesprochenen Ordensmitglieder (wie S. Ignatio, S. Francesco Saverio und S. Francesco Borgia) wurde seit Mitte der 1630er Jahre in der Regel Musik zu vier Chören gegeben.45 Dem konnten natürlich die rivalisierenden Dominikaner nicht nachstehen, die ihr Hauptfest S. Domenico an S. Maria sopra Minerva ebenfalls mit mehrchöriger Musik 40 Siehe Heyink, Fest und Musik als Mittel kaiserlicher Machtpolitik (wie Anm. 9), S. 158, 159 und 299. 41 Freundlicher Hinweis von Frau Dr. Juliane Riepe. 42 Über die im Verlauf des Jahrhunderts wechselnden Instrumente, die zur Verstärkung des Basso continuo oder der Vokalstimmen herangezogen wurden, siehe O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome (wie Anm. 20), S. 67 – 71; und Giancarlo Rostirolla, „La professione di strumentista a Roma nel Sei e Settecento“, in: Studi musicali 23 (1994), S. 87 – 174, insb. S. 136 – 139. 43 Siehe O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome (wie Anm. 20), S. 143ff. Von Paolo Tarditi – Psalmi, Magnif. cum quatuor antiphonis ad vesperas octo vocib. una cum basso ad organum decantandi, auctore Paulo Tardito, romano, in Ecclesia SS. Iacobi, & Illefonsi hispanicae nationis, musices moderatore, liber secundus, Rom 1620 – stammt die einzige Sammlung doppelchöriger Vespermusik, die obligate Instrumente den zwei Chören zuordnet. 44 Vgl. Vincenzo Giustiniani, „Discorso sopra la musica de’ suoi tempi“ [Roma 1628], in: Le origini del melodramma (wie Anm. 15), S. 98 – 128, hier: S. 111: „Per l’avanti a questo tempo sono stati molti li compositori, come Claudio Monte Verde, Gio. Berardino Nanino, Felice Anerio et altri; li quali, senza uscire dal modo di comporre del Prencipe di Venosa Gesualdo, hanno atteso a raddolcire et affacilitare lo stile e modo di componere, e particolarmente hanno fatto molt’opere da cantarsi nelle chiese, con diverse maniere e varie inventioni a più chori, anche fino al numero di 12; et in questo stile si usa continuamente di cantare al giorno d’oggi e di componere con molto numero di buoni cantori e cantatrici.“ 45 Dixon, „Musical Activity in the Church of Gesù in Rome“ (wie Anm. 32); und ders., „The Origins of the Roman ‚Colossal Baroque‘“, in: Proceedings of the Royal Musical Association 106 (1979/80), S. 115 – 128, hier: S. 124.

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ausschmückten.46 Von André Maugars ist ein ausführlicher Bericht über das 1638 begangene Fest überliefert, bei dem während der Vesper die Antiphonen durch Sinfonien für eine, zwei oder drei Violinen mit Orgel ersetzt wurden.47 Auch am Patronatsfest der Basilika von S. Peter – SS. Pietro e Paolo –, das jedes Jahr von der Cappella Giulia musikalisch besonders reich ausgestaltet wurde, konnten bis zu 12 Chöre (jeder mit seiner eigenen Orgel) über das gesamte Kirchenschiff verteilt werden, mit einem in der Kuppel postierten Echochor. Kamen bei der musikalischen Ausschmückung der Vesper am 29. Juni des Jahres 1628 150 auf zwölf Chöre verteilte Musiker zum Einsatz,48 waren es im Jahr 1637 sechs Chöre, jeder aus ca. 13 Sängern und einer Continuo-Orgel bestehend, geleitet vom maestro di cappella Virgilio Mazzocchi unter Mithilfe von fünf Assistenten, begleitet von drei Violonen und „Cornetti 3 per la Cuppula“.49 Pietro della Valle beschrieb 1640 solche Aufführungen mit folgenden Worten: „Non ebbi fortuna di sentire un anno quel gran musicone che il medesimo Mazzocchi fece in San Pietro, non so se a dodici o a sedici cori, con un coro di eco fino in cima alla cupola, che intendo che nell’ampiezza di quel vasto tempio fece effetti maravigliosi“.50 Für das Jahr 1644 wird von 17 „Sängern, die auf die Kuppel gingen“ berichtet.51 An diese Aufführungstradition erinnern auch die auf dem handschriftlichen Aufführungsmaterial im Archiv von San Giovanni in Laterano anzutreffenden Anweisungen „con la cuppula“52. Auf die Feier des Patronatsfestes von 1750 und seine musikalische Ausschmückung soll an dieser Stelle abschließend ausführlicher eingegangen werden, auch weil sie dokumen­tarisch mit am besten belegt ist.53 Als verantwortlicher Kapellmeister fungierte Niccolò Jommelli (Abb. 2), der am 20. April 1749 dem mittlerweile bereits über siebzigjährigen Amtsinhaber Pietro Paolo Bencini als coadiutore an die Seite gestellt worden war, der altersbedingt 46 Ebd., S. 124 – 125. 47 André Maugars, Response faite à un curieux sur le sentiment de la Musique d’Italie, 1639, gedruckt Paris 1865, Reprint London 1965, S. 27f. 48 „fù cantato un sollennissimo vespero à 12 chori musicali tutti con l’organo, et altri instromenti musicali opera nova del maestro di cappella di detta basilica [Paolo Agostini], sendovi però stati da 150 musici“ (Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 1098, fol. 349v); siehe hierzu auch Giancarlo Rostirolla, „Policoralità e impiego di strumenti musicali nella basilica di San Pietro in Vaticano durante gli anni 1597 – 1600“, in: La policoralità in Italia nei secoli XVI e XVII. Testi della giornata internazionale di studi (Messina, 27 dicembre 1980) (= Miscellanea Musicologica 3), hrsg. von Giuseppe Donato, Rom 1987, S. 11 – 53; und O’Regan, Sacred Polychoral Music in Rome (wie Anm. 20), S. 46 – 53, 66 und 70. 49 Vgl. die „Nota delli cantori che han’ servito per il vespero di S. Pietro nell’anno 1637 à 6 chori“ in Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Censuali della Cappella Giulia 90 (1637), fol. 72r. 50 „Ich weiß nicht ob zu 12 oder 16 Chören, mit einem Echochor in der obersten Höhe der Kuppel, der in der Weite der riesenhaften Kirche eine wunderbare Wirkung machte“, in: della Valle, „Della musica dell’età nostra“ (wie Anm. 15), S. 172. 51 „cantori, che andorno su la cupola“ (Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, fogli e mandati 170 A, fol. 11v). 52 Wie z.B. Orazio Benevoli, Laudate pueri Dominum, a 12 voci in 3 cori, organo: „cioè tre cori d’obligo, e due di ripieno colla cupola“ (I-Rsg 52); oder ders., Magnificat, a 12 voci in 3 cori, cornetto, 3 tromboni, violone, organo: „con la cuppula“ (I-Rsg 152). 53 Vgl. zum Folgenden Heyink, „‚con un coro di eco fino in cima alla cupola‘“ (wie Anm. 14), S. 212ff.

„ma la chiesa non è teatro“. Aspekte römischer Vespermusik im 17. und frühen 18. Jahrhundert 335 Abb. 2: Niccolò Jommelli (1754), Porträt von Pier Leone Ghezzi (aus: Giancarlo Rostirolla: Il „Mondo novo“ musicale di Pier Leone Ghezzi (= L’arte armonica 2, serie IV. Iconografia e cataloghi), Mailand 2001, S. 224).

Abb. 3: Rom, Basilika von S. Pietro in Vaticano, Kuppelvierung mit Papstaltar, Stich von 1838.

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anscheinend nicht mehr in der Lage war, seinen Verpflichtungen nachzukommen.54 Nach dem am Vormittag vom Papst zelebrierten Hochamt, zu dem folglich die Cappella Sistina sang,55 wurde die zweite Vesper zu SS. Pietro e Paolo vom Bischof am Papstaltar gefeiert, der sich über dem Petrus-Grab unter der Kuppel erhebt, wo sich die Achsen des Lang- und Querschiffes schneiden (Abb. 3). Vor der Vesper wurde in der Regel eine Sonate für zwei Orgeln aufgeführt. Nach der Sitzordnung kamen die Kardinäle auf der rechten Seite des von Berninis 29 Meter hohem Bronzebaldachin gekrönten Papstaltars zu sitzen, die Kanoniker auf der linken Seite und der Rest des Kapitels hinter dem Papstaltar Richtung cattedra. Für die weltlichen Würdenträger waren die üblichen Tribünen an den Pfeilern der Vierung errichtet worden, unter denen sich dieses Jahr auch der im römischen Exil lebende englische Thronfolger Jacob Edward Stuart in Begleitung von „alcune Principesse, e Dame“ befand; laut Diario ordinario war er nicht zuletzt um der Musik willen gekommen.56 Weitere „Nobiltà di Dame“ hatte ihren Platz in drei Tribünen unter der Kuppel, wogegen das Kirchenschiff dem allgemeinen Volk offenstand. Während die Balustrade der confessio mit Kerzen reich 54 Vgl. Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Decreti 24, fol. 165v und Rainer Heyink, „Niccolò Jommelli, maestro di cappella der ‚deutschen Nationalkirche‘ S. Maria dell’Anima in Rom“, in: Studi musicali 26 (1997), S. 417 – 443, insb. S. 418 – 419. 55 Siehe Gaetano Moroni, Le cappelle pontificie cardinalizie e prelatizie. Opera storico-liturgica, Venedig 1841, parte I, S. 313 – 318, „§ X. 31. Pontificale messa celebrata dal Papa nella basilica vaticana ai 29 giugno per la festa de’ santi apostoli Pietro e Paolo.“ 56 „Roma 4. Luglio. [...] Ancora la festa celebratasi in S. Pietro per l’occasione medesima è stata in quest’anno di una magnificenza straordinaria, accresciutasi l’illuminazione attorno la Confessione de SS. Apostoli, ed appostavi una grande lampada d’argento arricchita di molti cornucopj con grosse candele. La musica del Vespero fù numerosa di sopra 200. persone tra voci, ed istromenti, con undici Organi, e l’Eco sul Cornicione della Cuppola; dirette le virtuose Composizioni dal Sig. Niccola Jummella Maestro di Cappella Coadiutore della Basilica; il tutto fatto eseguire senza risparmio di spesa dalla signorile idea, & ottimo gusto di Monsign. Passionei Canonico della stessa Basilica, e Prefetto della musica. Pontificò il detto Vespero Monsig. Santamaria Vescovo di Cirene, e pure Canonico in quel Rmo Capitolo, con il quale vi assisterono ancora altri molti Vescovi in abito, oltre di 24. Emi Cardinali, stati ricevuti, e respettivamente ringraziati dall’Emo Albani di S. Cesareo per l’Emo di S. Clemente suo Zio, Arciprete. Il Rè della Gran Brittannia volle sodisfare la propria divozione, e goderne la melodia dal solito Palchetto eretto per la Maestà Sua, in cui ebbe la benignità di ammettere alcune Principesse, e Dame, e primarj Signori; avuto il comodo altra Nobiltà di Dame sù di tre Ringhiere sotto la Cuppola; & in quella congiontura la vastità di quel sagro Tempio si rese necessaria per accogliere un tanto concorso di Gente di ogni sesso, e condizione; venerando tutti, dopo i Corpi de’ SS. Apostoli, che sono sotto l’Altare Papale, con divoto ossequio la celebre Statua di bronzo dell’Apostolo S. Pietro vestita per la sua festa di ricchissimi abiti Pontificali, e Triregno, e Formale ornato di preziose gemme. Oltre tutto il sopradetto diede compimento alla straordinaria solennità praticata nella Basilica la particolare illuminazione di fiaccole, e lanternoni fattasi per due sere nella gran Cuppola, e facciata della Chiesa, e per tutto il colonnato, che gira attorno la vastissima Piazza, di modo che è difficile lo spiegare la vaga comparsa, che rendevano una quantità così considerabile di lumi disposti a maraviglia circa la simetria, & in una maniera negl’anni passati mai più veduta. Furono fatte altresi nelle stesse due sere le consuete girandole nel Castel S. Angelo, e le publiche illumina­zioni, e fuochi di gioja da tutta la Nobiltà, e da molta divora Cittadinanza [...]“. Biblioteca Apostolica Vaticana, Diarii I 1750 (143), Diario ordinario, Num. 5142. In data delli 4. Luglio 1750.

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geschmückt war, hatte man der für das Jubeljahr 1300 von Arnolfo di Cambio geschaffenen Bronzestatue des heiligen Petrus – wie noch heute an diesem Tag des Patronatsfestes – ein päpstliches Gewand mit Tiara angelegt. Fassade und Kuppel der Kirche wie die Kolonnaden, die den Petersplatz im Halbkreis umschließen, wurden an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit Fackeln und Laternen illuminiert; ein großartiges Feuerwerk (die sogenannte girandola) auf der Engelsburg beschloss die Feierlichkeiten. Für die Musiker wurden auf beiden Seiten des Altars Tribünen errichtet (Abb. 4). Die musikalische Ausgestaltung durch die Cappella Giulia war dem Anlass entsprechend jedes Jahr besonders aufwendig, wobei zahlreiche weitere Musiker hinzugezogen wurden.57

Abb. 4: Rom, Basilika von S. Pietro in Vaticano, Feierliche Zeremonie unter dem Pontifikat Alexanders VII. (1655 – 1667), Zeichnung (aus: Maurizio Fagiolo dell’Arco, La festa barocca [= Corpus delle feste a Roma/1], Rom 1997, S. 61).

Erschienen die zur Verstärkung herangezogenen Musiker in ihren eigenen Kleidern, kamen die Sänger der Cappella Giulia wie gewohnt in Chorhemd, langem Gewand und Barett. Was die Anzahl der beteiligten Musiker betrifft, waren, nach den aus der Kapellmeisterzeit Jommellis komplett erhaltenen Musikerlisten zu urteilen, an der zweiten Vesper je vier Chöre 57 Dies belegt bereits ein Blick auf die Kosten für die Musik, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts am Patronatsfest mit 65 – 82 Scudi ein Vielfaches von den für das „festa della cattedra“ mit 8 – 11,50 Scudi bzw. das Doppelte des Dedikationsfestes mit 30 – 38 Scudi betrugen; siehe Heyink, „‚con un coro di eco fino in cima alla cupola‘“ (wie Anm. 14), S. 209.

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beteiligt – mit vier bis zwölf Sängern pro Stimmgruppe – und als Generalbassinstrumente Orgeln, Violonen und Kontrabässe, im Durchschnitt jeweils zwei Instrumente pro Chor. Detaillierte Angaben zu den aufgeführten Werken sowie zu den Aufführungsumständen des 29. Juni 1750 erlauben die Akten der Cappella Giulia (Musikerliste und Kopistenabrechnung), wobei in der Musikerliste die in der Kuppel postierten Musiker extra verzeichnet wurden.58 Demnach waren an der zweiten Vesper insgesamt vier Chöre beteiligt, 21 Kastraten (Kuppel: 5), 18 Altisten (Kuppel: 5), 22 Tenöre (Kuppel: 5), 25 Bässe (Kuppel: 4), 10 Organisten (Kuppel: 2), 11 violoni und 13 contrabassi (Kuppel: 4), wobei alle in der Kuppel eingesetzten Musiker eine doppelt so hohe Entlohnung erhielten wie die um den Hauptaltar postierten.59 Nach der Abrechnung des Kopisten wurde Stimmenmaterial für alle fünf Psalmen, den Hymnus, das Magnificat und vier Antiphone angefertigt.60 Dabei hatte der Kopist neben dem üblichen Stimmenmaterial für „organi, contrabassi, parte cantanti di concerto, e ripieno“ für die Psalmen Laudate pueri, In convertendo und das Magnificat auch „parte cantanti, ed organi della cuppola“ angefertigt. Folglich kam beim zweiten und vierten Psalm der Vesper sowie dem abschließenden Magnificat der in der Kuppel postierte Echochor zum Einsatz. Eine ausführliche Beschreibung der Aufführungsumstände gibt Girolamo Chiti, damals Kapellmeister an S. Giovanni in Laterano, in einem an Padre Martini gerichteten Brief vom 1. Juli 1750, der sich offenbar eingehend nach dem Erfolg der „Premiere“ Jommellis im Haus des Stellvertreters Christi erkundigt hatte.61 Chitis Beschreibungen sind aber deutlich von einer ironischen Skepsis durchsetzt, mit der er den ersten Auftritt des berühmten Opernkomponisten als Kirchenkapellmeister im Chorhemd betrachtete. So hätte sich Jommelli an diesem Tag gleich mit drei neuen Psalmen vorstellen müssen (Laudate pueri, Credidi und In convertendo), „in denen er ein Echo verlangte“.62 Aufgestellt waren die für 58 Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Cappella Giulia 203, Nr. 92. 59 1,20 statt 0,60 Scudi. 60 Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Cappella Giulia 203, Nr. 92b. 61 „[...] Finalmente il nostro Sig Jumella che si fè vedere incottato per la processione del Corpus Domini con la Cappella Vaticana, prese tempo di prender possesso nell’operare di Bencini nel giorno di S Pietro, fra tanto dispendendosi con tre salmi nuovi Laudate Credidi In convertendo in cui hà preteso di farci l’eco, come suol praticarsi della cupola di S Pietro, il Pitoni però lo fece nel cupolino con poche parole come al hinno O Roma felix al Magnificat Et exaltavit humiles Beatam me dicent omnes generationes Timentibus eum Amen. Il Jumella però, hà fatto il contrario, che ne suoi salmi e stato piu specie di 3° choro, che detto eco perche qui nimis probus &c. l’eco l’hà posto nel primo cornicione delle finestre della cupola; per quanto mi hanno riferito è andato stentato, e fuori di battuta aspettando a riprendere tanto sopra, che sotto, in modo troppo s[.?.] Laudate Laudate &c. napolitanate. Hà però havuto un gran lampo di farsi onore se aveva più esperienza, perche la chiesa da 70 scudi per questo vespero, e 70 di più ne hà dati il prefetto Ms Passionei, con 12 organi ne cori lunghi 5. per parte e suoi rifornimenti di violoncelli e contrabassi, e poi tutta sorte di musici romani, e forestieri, che si trovavano in Roma, copiature pagate, ma restringendoci alla conclusione il Dixit a 4.° chori, et il Domine probasti di Pitoni hanno fatto la sua grandissima opera di strepito armonico (benche stentatamente guidati) del resto con tanto apparato di cantori &c. hiems erat et parturient montes &c. Le relationi sincere l’ hò sentite da uno de primi virtuosi indifferente ma praticone di Cappella Pontificia che fù presente &c. e tanto mi imaginavo, perche so benissimo che à fare una cosa passabile in simili teatri di basiliche ci vuole almeno 12. anni di novitiato, e ci si coglie sì, o nò [...]“. Carteggio G.B. Martini, I-Bc I.12.124. 62 „in cui ha preteso di farci l’eco.“

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das Echo zuständigen Musiker im Umgang des Tambours, auf dem die Kuppel des Petersdoms aufsitzt.63 Dabei scheint die Echo-Wirkung jedoch nur mit Mühe zustandegekommen zu sein, da die große Entfernung zwischen den Chören die Koordination erschwerte. Die Musiker waren unsicher, wann sie wieder einzusetzen hatten, und gerieten aus dem Takt; in den Worten Chitis: „Laudate, Laudate, etc. napolitanate“. Nach Chiti waren es allein das vierchörige Dixit und das Domine probasti des gelernten Kirchenmusikers Pitoni, die das ‚Spektakel‘ „retteten“, obwohl Jommelli auch hier Schwierigkeiten gehabt hätte, die Werke zu leiten. Mit den Jommelli zur Verfügung stehenden Mitteln hätte es nach Chitis Meinung besser laufen können. Doch um „in simili teatri di basiliche“ etwas Passables zu präsentieren, brauche es ein mindestens 12jähriges Noviziat – so nicht ohne einige Herablassung Chiti, der übrigens bei der Aufführung selbst nicht einmal anwesend war. Zumindest eine der an diesem Tag mit Echo-Effekt aufgeführten Kompositionen Jommellis lässt sich mit Sicherheit identifizieren. Es handelt sich um die einzige von ihm erhaltene Vertonung eines Magnificat, überliefert im Fondo der Cappella Giulia.64 Das Stimmenmaterial der doppelchörigen Komposition umfasst pro Chor vier Solisten und einen vierstimmigen ripieno-Chor, fünf Orgeln sowie zwei Kontrabässe und Violoncelli. Je zwei Stimmhefte für Kastraten, Altisten, Tenöre, Bässe und Orgel sowie ein Stimmheft für den Basso continuo tragen den Hinweis „cuppola“.65 An dieser Komposition lässt sich sehr gut die Echo-Technik Jommellis – bzw. die Schwierigkeit, die er offensichtlich beim Zustandekommen des gewünschten Effektes hatte – nachvollziehen. Denn offensichtlich wurde dieser Chor nicht dazu benutzt, um ausgewählte einzelne Wörter am Ende einer musikalischen Phrase nach Echo-Art zu wiederholen. Vielmehr – wie auch bei Chiti beschrieben – setzte ihn Jommelli als einen selbständigen dritten Chor ein, der sich im dauernden Wechsel mit den um den Hauptaltar herum postierten beiden anderen Chören befand (Abb. 5). Dass damit die musikalische Koordination bei der Aufführung dieses Werkes allein schon aufgrund der großen Entfernung zwischen den Musikern in der Kuppel und im Kirchenschiff (rund 50 Meter) nicht einfach zu bewerkstelligen war, zeigt nicht nur der erwähnte Brief Chitis, sondern auch die rückblickende Beschreibung der am Patronatsfest aufgeführten Musik von Gaetano Moroni von 1841: „Aber wegen der großen Entfernung kam das Echo der anderen Chöre nicht zur rechten Zeit.“66 63 „l’eco l’hà posto nel primo cornicione delle finestre della cupola.“ 64 Biblioteca Apostolica Vaticana, Cappella Giulia VI 58. 65 „canto della cuppola“ [je 2 Stimmhefte], „alto della cuppola“ [2], „tenore della cuppola“ [2], „basso della cuppola“ [2], „secondo coro | Magnificat | organo terzo | non si sona altro che quando vi è scritto | cuppola“, „Magnificat | organo terzo | non si sona altro che quando vi è scritto | cuppola“, „Magnificat | basso continuo | per la cuppola | del Sig. Nicola Jommelli“ (Biblioteca Apostolica Vaticana, Cappella Giulia VI 58). 66 „ma per la distanza l’eco degli altri cori non poteva corrispondervi regolarmente“, in: Moroni: Le cappelle pontificie cardinalizie e prelatizie (wie Anm. 55), parte II, S. 379, „§ IV. 11. Vespero per la festa de’ ss. Pietro e Paolo, a’ 29 giugno, nella basilica vaticana.“

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Abb. 5: Niccolò Jommelli, Magnificat, erste Seite der Partitur (aus: Heyink: „con un coro di eco fino in cima alla cupola“, S. 216).

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Eine andere Art der Echo-Technik als bei Jommellis Magnificat war anlässlich des Patro­ nats­festes im anno santo 1725 gewählt worden, als unter dem damaligen Kapellmeister Ottavio Pitoni zum letzten Mal in S. Pietro mehrchörig unter Einbeziehung der Kuppel musiziert worden war. So schreibt Chiti in dem bereits erwähnten Brief an Padre Martini, dass im Gegensatz zu Jommelli67 Pitoni das Echo von dem „cupolino“ aus machte68 und zudem nur mit wenigen Worten.69 Die Besetzung für die zweite von Pitoni geleitete Vesper umfasste dabei auch nicht so viele Musiker wie bei Jommellis Aufführung von 1750: Einschließlich der aus Anlass des Heiligen Jahres zusätzlich herangezogenen Sänger und Instrumentalisten waren insgesamt 16 Kastraten, 15 Altisten, 14 Tenöre, 17 Bässe, 4 Organisten und 5 Violen beteiligt; und nur je zwei Sänger pro Stimmgruppe hatte Pitoni in der Kuppel postiert, ferner ein „organetto“ und einen Kontrabass.70 Bei einer Durchsicht des umfangreichen Werkbestandes Pitonis konnten zwei Werke ausfindig gemacht werden, die für eine Aufführung zu diesem Anlass unter Einsatz des Echochores in Frage kämen: der Hymnus Aurea luce71 und ein Magnificat,72 zwei vierstimmige Kompositionen, deren Stimmenmaterial wie bei Jommelli auf vier Chöre verteilt worden war. Dabei zeigt sich anhand des erhaltenen Aufführungsmaterials der beiden betreffenden Kompositionen, dass anders als bei Jommelli die in der Kuppel aufgestellten Sänger hier nur wenige Wörter am Ende einer musikalischen Phrase zu wiederholen hatten, so dass die Geschlossenheit der musikalischen Aufführung bei Pitoni zumindest in dieser Hinsicht weit weniger gefährdet war. Eine der wichtigsten Funktionen der italienischen Kirchenmusik bestand erklärtermaßen darin, ein Lockmittel zu sein.73 Kirchenmusik sollte dazu dienen, um Seelen zu fischen; Musik sollte Menschen in die Kirchen ziehen, die des Gottesdienstes wegen vielleicht nicht kommen würden, wohl aber der attraktiven Musik wegen, die sie dort und kaum irgendwo sonst hören konnten – Musik, die sie anzog, die auf ihre Sinne, ihre Herzen, ihre Seelen wirkte. Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass dieser Mechanismus funktionierte, war die, dass die Musik, die man dabei als Köder einsetzte, für die Leute attraktiv war. Und in der Tat hatte die italienische Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhunderts den Gläubigen einiges zu bieten, auch weil sie der weltlichen Musik in nichts nachstand: es waren dieselben Komponi­ sten, die Konzerte, Opern, Sonaten, Kantaten und Kirchenmusik komponierten; Es waren dieselben Musiker, die diese Musik interpretierten. Dieselben Kompositionstechniken, die man in der weltlichen Musik praktizierte, erschienen auch in der Kirchenmusik. Dies trifft 67 „Il Jumella però, hà fatto il contrario.“ 68 Eine genaue Lokalisierung dieses „cupolino“ gestaltet sich jedoch schwierig, zumal sich im Hauptschiff der Kirche keine weitere Kuppel außer der über dem Papstaltar befindet. Es ist eigentlich undenkbar, dass damit die in 120 Meter Höhe befindliche Laterne dieser Kuppel gemeint sein könnte. 69 „Il Pitoni però lo fece nel cupolino con poche parole come al hinno O Roma felix al Magnificat et exaltavit humiles beatam me dicent omnes generationes timentibus eum Amen.“ 70 Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Capitolare di S. Pietro, Cappella Giulia 203, Nr. 302. 71 Biblioteca Apostolica Vaticana, Cappella Giulia III 72. 72 Biblioteca Apostolica Vaticana, Cappella Giulia III 33. 73 Vgl. Gino Stefani, Musica e religione nell’Italia barocca, Palermo 1975, insb. S. 194 – 217; und Federico Mompellio, „San Filippo Neri e la musica ‚pescatrice di anime‘“, in: Chigiana 22, nuova serie 2 (1965), S. 3 – 33.

342

Rainer Heyink

auch zu für dieselben Techniken der vokalen und instrumentalen Virtuosität. Die Haltung der kirchlichen Obrigkeit gegenüber der kirchenmusikalischen Praxis blieb jedoch zwiespältig. Einerseits benutzte man Kirchenmusik als erprobtes Mittel zum geistlichen Zweck, andererseits stand man ihr mit Misstrauen gegenüber; allzu deutlich schien die Gefahr, dass das Mittel zum Zweck wird, sich verselbständigt, ja das Gegenteil von dem bewirkt, was es bewirken sollte. Musik kann der höheren Ehre Gottes dienen, kann Menschen in den Gottesdienst ziehen, kann helfen, sie für den Glauben zu gewinnen; sie kann aber auch vom Gottesdienst ablenken, Andacht und Gebet unmöglich machen. Zeitgenossen haben in Zusammenhang mit Jommellis Kirchenmusik immer wieder den Aspekt des „Theatralischen“ hervorgehoben, oft mit kritischem Unterton. Doch vielleicht bezog man sich damit ja nicht allein auf den Stil von Jommellis geistlicher Musik, vielleicht war es ja auch die Art und Weise, wie Jommelli S. Pietro als Bühne, die „basilica“ als „teatro“ nutzte, um seine Musik effektvoll in Szene zu setzen. Wie schrieb doch Chiti an Padre Martini am 10. Januar 1750 sarkastisch: Wollen mal sehen, was Jommelli – zweiter Palestrina der Cappella Vaticana – machen wird, „ma la chiesa non è teatro.“74

74 „vedrem cosa farà Jumella secondo Pier Luigi [Palestrina] della Vaticana gran cappella, ma la chiesa non è teatro“ (Carteggio G.B. Martini, I-Bc I.12.100).

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik 343

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik – liturgische Voraussetzungen, Bearbeitungspraxis und Stellung im Repertoire Gerhard Poppe

Verbindungen zwischen Venedig und Dresden gehören zum bewährten Mythenarsenal vor allem der deutschen Musikhistoriographie. Seit Carl von Winterfeld galten die Lehrzeit von Heinrich Schütz bei Giovanni Gabrieli und die Berufung des ersteren in das Amt des kursächsischen Hofkapellmeisters als Schlüsselereignisse der frühneuzeitlichen italienisch-deutschen Musikgeschichte, weil sie ein geeignetes Paradigma für die Bestimmung des Verhältnisses von Italien und Deutschland im Sinne einer national-protestantischen Historiographie boten.1 Als schließlich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in Dresden zahlreiche Manuskripte mit Instrumentalkompositionen von Antonio Vivaldi gefunden wurden und zunächst vornehmlich im Umkreis der Bachforschung auf Interesse stießen, war es umgekehrt Fausto Torrefranca, der für diesen Komponisten die sächsische Residenzstadt das „primo centro di propagazione in Germania“ nannte.2 Damit waren die aus deutscher und italienischer Sicht wesentlichen Schwerpunkte gesetzt, aber lateinische Psalmkompositionen kamen in derartigen Mythologien nicht vor. Aus dem Abscheu prussozentristisch eingestellter Historiker gegenüber der (vermeintlichen oder wirklichen) Dekadenz des sächsischen Hofes, der älteren deutschen Abneigung gegen die „kulturelle Fremdherrschaft“ der Italiener und nicht zuletzt der Abwehr gegenüber allen katholischen Einflüssen bildete sich eine Art mentale Blockade, die für lange Zeit intensivere Forschungen zur Geschichte der Dresdner Hofkapelle überflüssig erscheinen ließ. Zwar gibt es seit etwa drei Jahrzehnten eine Reihe von Studien sowohl zum Anteil der Italiener an der protestantischen Dresdner Hofkirchenmusik nach der Pensionierung von Heinrich Schütz als auch zur katholischen Dresdner Hofkirchenmusik des 18. Jahrhunderts, aber viele wichtige Details zum Themenkreis „Venedig und Dresden“ harren bis heute der Klärung. Bevor die Frage nach „Einflüssen“ – einer Lieblingskategorie des historischen Bewusstseins – angemessen gestellt werden kann, wäre die Verwendbarkeit und tatsächliche Verwendung von venezianischer Musik in Dresden zu erörtern. An diesem Punkt setzen meine Überlegungen ein: Für den Zeitraum von knapp hundert Jahren lassen sich venezianische Psalmkompositionen im Dresdner Hofkirchenrepertoire nachweisen und ihr Gebrauch beschreiben. Die Geschlossenheit der lokalen Quellenüberlieferung, die für 1 Carl von Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin 1834, Band 1, S. X und 49ff., Band 2, S. 168 – 212. Die Einwände gegen die Mythenbildung treffen weniger Winterfelds akribische Pionierarbeit, sondern eher die Rezeption seiner Darstellung in den folgenden Generationen. 2 Fausto Torrefranca, „Problemi Vivaldiani“, in: Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft. Vierter Kongress. Basel 29. Juni bis 3. Juli 1949. Kongressbericht, hrsg. von der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Ortsgruppe Basel, Basel 1949, S. 195 – 202, hier: S. 197.

344

Gerhard Poppe

einzelne Manuskripte eine ziemlich detaillierte Provenienzbestimmung erlaubt und in der auch Verluste kalkulierbar bleiben, bietet dafür gute Voraussetzungen. An vier Beispielen soll gezeigt werden, in welcher Gestalt venezianische Psalmkompositionen Eingang in die gottesdienstliche Musizierpraxis am Dresdner Hof fanden. Für die einzelnen Komponisten und ihre Werke greife ich dabei teilweise auf vorhandene Forschungen zurück, während der übergreifende Zusammenhang, in den diese Werke hier gestellt werden, bisher noch nirgends erörtert wurde. Die Zeit nach dem Regierungsantritt des Kurfürsten Johann Georg II. und der Versetzung von Heinrich Schütz in den Ruhestand wird in der älteren und neueren Literatur als eine Ära angesehen, in der italienische Kapellmeister gemeinsam oder abwechselnd das Musikleben am kursächsischen Hof dominierten. Eine Unterscheidung der beteiligten Italiener hinsichtlich ihrer Herkunft ergibt, dass nur ein einziger Venezianer dabei war – Carlo Pallavicino, dessen Karriere als Opernkomponist und Maestro di coro am Ospedale degl’Incurabili auf das engste mit den Musikinstitutionen der Serenissima verbunden war. 1667 wurde er als Vizekapellmeister an den Dresdner Hof berufen und rückte 1672 – nach dem Tod von Heinrich Schütz – zum zweiten Kapellmeister neben Marco Gioseppe Peranda auf. Bereits im folgenden Jahr ging er nach Venedig zurück und erlebte deshalb die Entlassung aller Italiener nach dem Tod Johann Georgs II. nicht mit. 1685 wurde Pallavicino von Johann Georg III. erneut und vor allem für die Neueinrichtung der italienischen Oper als zusätzlicher Kapellmeister neben Christoph Bernhard nach Dresden berufen und starb dort drei Jahre später.3 Aus dem Musikalienbestand der ehemaligen Schlosskapelle sind von Pallavicino in Dresden zwei Psalmkompositionen überliefert – ein als „Salmo grosso“ bezeichnetes Dixit Dominus für vier hohe Stimmen, Streicher und Basso continuo und ein Confitebor für vier Singstimmen und fünfstimmigen Streichersatz. Sowohl die Partitur des Dixit Dominus als auch der Stimmensatz des Confitebor stammen von einem unbekannten deutschen Kopisten, der auch noch in weiteren Dresdner Kirchenmusikmanuskripten aus dieser Zeit begegnet. Diese Manuskripte blieben nur erhalten, weil sie nach dem Konfes­sions­wechsel Augusts des Starken zu einem unbekannten Zeitpunkt in die Musizierpraxis der katholischen Hofkirche übernommen wurden und deshalb von den Folgen des Beschusses Dre­sdens im Juli 1760 durch preußische Truppen verschont blieben.4 Ursprünglich gehörten die Kompositionen zu den evangelischen Vespern in der Schlosskapelle, in deren Mittelpunkt an wichtigen Festtagen ein figuraliter musizierter 3 Für die elementaren Informationen immer noch grundlegend Moritz Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden, 2 Bde., Dresden 1861/62; hier: Bd. 1, S. 277 – 299. 4 Der Provenienzweg dieser Manuskripte lässt sich über den Catalogo della Musica di Chiesa composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto (D-B Mus. ms. theor. Kat. 186, ursprünglich aus der Katholischen Hofkirche zu Dresden, später über Georg Poelchau nach Berlin gekommen) problemlos verfolgen. Dazu kommt von Pallavicino noch ein Laetatus sum für Bass, fünfstimmigen Streichersatz, Fagott und Basso continuo (Mus. 1813-E-500) aus den Musikalienbeständen der Fürsten- und Landesschule Grimma, die sich seit 1962 in der Sächsischen Landesbibliothek befinden. Zur Provenienz der Dresdner Quellen siehe auch Gerhard Poppe, „Kontinuität der Institution oder Kontinuität des Repertoires? Einige Bemerkungen zur Kirchenmusik am Dresdner Hof zwischen 1697 und 1717“, in: Miscellaneorum de Musica Concentus. Karl Heller zum 65. Geburtstag am 10. Dezember 2000, hrsg. von Walpurga Alexander, Joachim Stange-Elbe und Andreas Waczkat, Rostock 2000, S. 49 – 81; hier vor allem S. 71ff.

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik 345

Psalm in lateinischer Sprache stand.5 Auch die außerhalb Dresdens erhaltenen Quellen derartiger Werke von Vincenzo Albrici, Marco Gioseppe Peranda und anderen waren für diese Vespern bestimmt.6 Angesichts der Herkunft und Ausbildung der zuletzt genannten Kapellmeister in Rom stellt sich die Frage, worin das spezifisch Venezianische an den Kompositionen von Pallavicino besteht. Dazu mag für das Dixit Dominus zunächst eine Übersicht hilfreich sein: Text (1) Dixit Dominus Domino meo: Sede a dextris meis, donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum. (2) Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum. (3) Tecum principium in die virtutis tuae in splendoribus sanctorum: ex utero ante luciferum genui te. (4) Juravit Dominus et non poenitebit eum: Tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech. (Ritornell) (5) Dominus a dextris tuis confregit in die irae suae reges. (Ritornell) (6) Judicabit in nationibus, implebit ruinas: conquassabit capita in terra multorum. (7) De torrente in via bibet: propterea exaltabit caput. Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto, (Ritornell) sicut erat in principio, et nunc et semper, et in saecula saeculorum. (Ritornell) Amen.

Taktart C

Tonart B–g

Besetzung Länge SSAA, 2 Vl., Va., B. c. (Tutti) 41

C

B

SSAA, B. c.

57

6/8

g

Tutti

21

3/4 3/4

d d

2 Vl., Va., B. c. A, B.c.

14 61

3/4 C

d B–d

2 Vl., Va., B. c. Tutti

14 46

3/8

D–g

SAA, B. c.

38

C 3/4 3/4

B D–g g

S, 2 Vl., Va., B. c. 2 Vl., Va., B. c. S, B. c.

28 12 51

3/4 3/4

D–g B

2 Vl., Va., B. c. Tutti

12 64

Tabelle 1: Carlo Pallavicino, Dixit Dominus.

Die Jahreszahl „1680“ auf der Partitur des „Salmo grosso“ passt zunächst nicht zu Palla­ vicinos Dresdner Anstellungsjahren. Angesichts der Besetzung mit je zwei Sopran- und Altstimmen liegt die Frage nahe, ob es sich ursprünglich um ein Werk für das Ospedale degl’Incurabili handelte.7 Anders als in dem relativ konventionellen Confitebor, das mit ho5 Die zugrundeliegende Ordnung Wie der Durchlauchtigste Hochgebohrne Fürst und Herr, Herr Johann Georg der Ander [...] es in Dero Hoff=Cappella, mit der Musica, an denen Fest= und Sonntagen, auch in der Wochen, hinfüro wolle gehalten haben (D-Dl Msc. K 89) ist abgedruckt in Letters and Documents of Heinrich Schütz 1656 – 1672. An Annotated Translation, hrsg. von Gina Spagnoli, Rochester 1990, S. 175 – 192. 6 Siehe dazu Mary Frandsen, Crossing Confessional Boundaries. The Patronage of Italian Sacred Music in Seventeenth-Century Dresden, Oxford 2006; hier vor allem die Übersicht S. 455 – 480. 7 Für das 18. Jahrhundert ist nach den bisherigen Erfahrungen die Chorbesetzung mit je zwei Sopranund Altstimmen sowie der Verzicht auf Tenöre und Bässe ein mögliches Unterscheidungsmerkmal für das Repertoire des Ospedale degl‘Incurabili gegenüber den anderen Konservatorien.

346

Gerhard Poppe

her Wahrscheinlichkeit direkt für Dresden entstand, findet sich im Dixit Dominus eine ausgebildete Differenzierung der unterschiedlichen Satztypen im Hinblick auf die Komposition der einzelnen Verse, die für die Jahre um 1680 als ziemlich modern gelten muss. Ebenso auffällig sind vier selbständige Ritornelle, von denen der Komponist wiederum zwei innerhalb der Doxologie plaziert hat. Weil die wenigen Kirchenmusikwerke aus der Feder Pallavicinos durchweg in Dresden erhalten sind, kann die Frage nach dem venezianischen Charakter dieser Psalmkomposition auf Basis dieses Materials nicht beantwortet werden. Gegenüber der Hofkapellpraxis in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war das Engagement von Antonio Lotti in Dresden von 1717 bis 1719 Ausdruck einer gänzlich veränderten Situation. Zwischen der Amtszeit von Pallavicino und den beiden Kapellmei­ sterjahren Lottis in der sächsischen Residenzstadt lagen der Konfessionswechsel Augusts des Starken und seine Wahl zum polnischen König (1697), aber auch der zeitweilige Verlust der polnischen Krone (1704) und die Einrichtung eines ständigen katholischen Hofgottesdien­stes in dem zur Hofkirche umgebauten alten Opernhaus am Taschenberg (1708). Die – seit 1697/98 Königlich Polnische – Hofkapelle war nach den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Großen Nordischen Krieg aufgelöst und im Sommer 1709 als reines In­strumentalensemble neugegründet worden. Für die Musik in der katholischen Hofkirche gab es seit Herbst 1709 zunächst ein eigenes, aus böhmischen Knaben bestehendes Ensemble in kleiner Besetzung.8 Lottis Engagement ab Herbst 1717 erfolgte – gemeinsam mit namhaften italienischen Sängern – im Hinblick auf die bevorstehende Hochzeit des Kurprinzen und die wieder einzurichtende italienische Oper. Er erhielt einen befristeten Vertrag für ein Jahr, der dann um ein weiteres Jahr verlängert wurde, während die meisten Sänger noch ein Jahr länger in Dresden blieben. Lottis Karriere war bis zu diesem Zeitpunkt fast ununterbrochen an die venezianische Hauptkirche San Marco gebunden gewesen und blieb es auch in den beiden auf den Dresden-Aufenthalt folgenden Jahrzehnten.9 Seine direkte Beteiligung an der (katholischen) Dresdner Hofkirchenmusik ist dagegen nicht sicher. Nach Auskunft des Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae, der Chronik der Dresdner Jesuiten, übernahmen die italienischen Sänger vom Herbst 1717 bis Ostern 1720 zu besonderen Gelegenheiten wie zum Fest der Heiligen Cäcilia oder in den Metten der Karwoche auch die Ausführung der Kirchenmusik.10 Der Name des Kapell8 Zur Institutionengeschichte siehe vor allem Poppe, Kontinuität der Institution oder Kontinuität des Repertoires? (wie Anm. 4), v.a. S. 60 – 70. 9 Siehe dazu Nobert Dubowy, „Bemerkungen zur Kirchenmusik von Antonio Lotti“, in: Händel-Jahrbuch 46 (2000), S. 85 – 99. Die beiden Jahre von 1717 bis 1719 als Kapellmeister am Dresdner Hof waren für Lotti der einzige längere Aufenthalt außerhalb Venedigs. 10 Siehe dazu Wolfgang Reich, „Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae als Quelle für die kirchenmusikalische Praxis“, in: Zelenka-Studien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka (Dresden und Prag 1995), Sankt Augustin 1997, S. 43 – 57. Die Stellen aus dem Diarium Missionis der Jahre von 1710 bis 1738 mit direkten Aussagen zu Musik und Musikern hat Wolfgang Reich exzerpiert; sie sind dort auf S. 315 – 379 abgedruckt. Zur Gesamtsituation der Hofkirchenmusik in diesen Jahren siehe Gerhard Poppe, „Dresdner Hofkirchenmusik von 1717 bis 1725 – über das Verhältnis von Repertoirebetrieb, Besetzung und musikalischer Faktur in einer Situation des Neuaufbaus“, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 6 (2004), S. 301 – 342.

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik 347

meisters fällt dabei aber nirgends, und außerdem lässt sich keines der von Lotti in Dresden erhaltenen Kirchenmusikwerke eindeutig seinen zwei Amtsjahren als Kapellmeister in der sächsischen Residenzstadt zuordnen.11 Dies gilt auch für die vier in Dresden erhaltenen Vesperpsalmen aus Lottis Feder – je ein Dixit Dominus, Laudate pueri, Laudate Dominum und Credidi – obwohl die Vermutung eines Zusammenhangs natürlich naheliegt.12 Der Schreiber der Partituren ist bisher unbekannt, aber die erhaltenen Stimmen zum Credidi und Laudate Dominum zeigen, dass zumindest diese beiden Psalmen seit den 1720er Jahren in der Hofkirche zur Aufführung kamen. Beide Kompositionen gehörten zum Repertoire von Giovanni Alberto Ristori, der an der Herstellung der Stimmen beteiligt war – die Psalmen wurden, wie aus später entstandenen Ergänzungsstimmen hervorgeht, in der Dresdner Hofkirche bis in die 1750er Jahre hinein aufgeführt. Offensichtlich geht auch die Ergänzung von colla parte mitwirkenden Streichern und Oboen im Credidi im stile antico sowie die Eliminierung der Trompete und Hinzufügung von zwei Oboen im Laudate Dominum auf Ristori zurück.13 Dagegen waren sowohl das Dixit Dominus als auch das Laudate pueri für die Dresdner Kirchenmusikpraxis schlicht zu lang. Von einer Abbreviata-Fassung des Dixit Dominus, die der Catalogo della Musica di Chiesa composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto noch mit Partitur und Stimmen verzeichnet, konnte neuerdings die Partitur in der Bibliothek des Royal Conservatoire in Brüssel als Manuskript von Giovanni Alberto Ristori identifiziert werden, der auch diese Komposition für den Dresdner Gebrauch bearbeitete (s. Tabelle 2).14 Damit gehörte dieses Werk in seiner bearbeiteten Version ebenfalls zum Repertoire von Ristori und kam wie das Laudate Dominum und das Credidi wahrscheinlich noch bis in die 1750er Jahre hinein zur Aufführung.

11 Siehe dazu auch den Hinweis von Gottfried Johann Dlabacž, Allgemeines historisches Künstler-Lexikon für Böhmen und zum Theil auch für Mähren und Schlesien, Prag 1815, Bd. 2, Sp. 233; hieraus geht hervor, dass sich Lotti während seiner beiden Dresdner Jahre öfter in Prag aufhielt. 12 Der Provenienznachweis führt wiederum über den Catalogo della Musica di Chiesa composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto . Ein ebenfalls in Dresden unter dem Namen „Lotti” in Stimmen überliefertes Confitebor (Mus. 2159-D-11) stammt nicht von ihm; die Fehlzuschreibung geht zurück auf das Verzeichniss derer vom Hr. Capellmeister Schuster hinterlassenen musikalischen Werke (D-Dl Bibl. Arch. III Hb 791b), dort unter Nr. 102. 13 Siehe dazu Poppe, Dresdner Hofkirchenmusik von 1717 bis 1725 (wie Anm. 10), S. 301 – 342. 14 B-Bc 26237. Diese Partitur gehört zu den Manuskripten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Dresden als (vermeintliche oder wirkliche) Dubletten abgegeben wurden, um auf diesem Weg Abschriften von Werken anderer Komponisten erwerben zu können. Über die Sammlung von Guido Richard Wagener kam sie 1904 nach Brüssel. Siehe dazu Ulrich Leisinger und Peter Wollny, Die Bach-Quellen der Bibliotheken in Brüssel. Katalog. Mit einer Darstellung von Überlieferungsgeschichte und Bedeutung der Sammlungen Westphal, Fétis und Wagener, Hildesheim 1997, S. 95 – 129 (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung 2). Die Partitur der Ristori-Bearbeitung des Dixit Dominus stand für den in Fußnote 13 genannten Aufsatz noch nicht zur Verfügung. Zum Gesamtzusammenhang siehe die Edition des Werkes: Antonio Lotti, Dixit Dominus (= Musik aus der Dresdner Hofkirche 5), hrsg. von Christin Seidenberg in Zusammenarbeit mit Matthias Jung, Beeskow 2008.

348

Gerhard Poppe Text

(1) Dixit Dominus Domino meo: Sede a dextris meis,

Original Takt Ton­­art Besetzung 3/4 A SSATB, Tr., 2 C E Ob., 2 Vl., 2 Ve., B.c.(Tutti)

donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum. (2) Virgam virtutis tuae emittet 3/8 Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum. (3) Tecum principium in die virtu- C tis tuae in splendoribus sanctorum: ex utero ante luciferum genui te. (4) Juravit Dominus et non poeni- C tebit eum: Tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech. (5) Dominus a dextris tuis confregit in die irae suae reges. (6) Judicabit in nationibus, implebit ruinas: conquassabit capita in terra multorum. (7) De torrente in via bibet:

C

h

BBB, Vl., Va., B. c. SSATB, 2 Ob., 2 Vl., Va., B. c.

Bearbeitung Länge Takt Tonart Besetzung Länge 85 3/4 A – D SATB, 2 Ob., 75 42 2 Vl., Va. B.c. (Tutti)

134

3/8

h

Tutti

37

G

A, Ob., B. c.

59

C

G

A, Ob., Vl., B.c.

52

D-A

Tutti

40

C

D–A

Tutti

15

D

Tutti

49

C

D

Tutti

17

Tutti, ohne Tr.

55

3/4

A – Fis Tutti

34

C

A

S, Vl. B.c.

28

12/8 A 3/2 C

e – H SSATTTB, B.c. 33 E – Fis Tutti 28

C

A–E

S, Vl., B. c.

21

propterea exaltabit caput.

3/8

A

S, Vl., B. c.

122

Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto,

C

D

Tutti

32

C

D–E

Tutti

5

sicut erat in principio, et nunc et semper,

3/4

A

Tutti

57

3/4

A–E

Tutti

49

et in saecula saeculorum. Amen.

C

A

SATB, Tr., 2 Ob., 2 Vl., 2 Ve., B.c.

74

C

A

Tutti

72

Tabelle 2: Antonio Lotti, Dixit Dominus – Originalfassung und Bearbeitung durch Giovanni Alberto Ri­ stori.15

Wichtigstes Merkmal von Ristoris Bearbeitung des Dixit Dominus war neben eingreifenden Kürzungen die Reduzierung der in der Regel fünfstimmigen, in einzelnen Abschnitten jedoch bis zu siebenstimmigen Vokalbesetzung auf vier Stimmen. Angesichts des Mangels an geeigneten Sängern in der Hofkapelle der 1720er Jahre gab es dazu keine Alternative, aber auch später blieb in Dresden der vierstimmige Vokalsatz die nur selten durchbrochene Norm. Während die Reduktion von fünf auf vier Stimmen ebenso wie die des Instrumentariums um die Trompete und die zweite Viola meist keine Probleme bereitete, eliminierte Ristori stärker besetzte Abschnitte wie „donec ponam inimicos tuos“ oder „Judicabit in nationibus“ und integrierte den Text entweder in den vorangehenden Abschnitt oder in die eigene Neukomposition ohne Rückgriff auf die Vorlage. Im „Tecum principium“ wurde dagegen der dreistimmige Satz streckenweise um die unisono geführten Violinen erweitert. Am wenigsten betroffen von Kürzungen – lediglich zwei rein instrumentale Takte – war 15 Fettdruck: Neukomposition ohne Rückgriff auf die Vorlage.

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik 349

naturgemäß die Schlussfuge des Werkes. Insgesamt ergaben Ristoris Streichungen und Bearbeitungen eine Kürzung von 730 auf 384 Takte. Wie Antonio Lotti wurde auch Johann Adolf Hasse vorrangig wegen seiner Opernerfolge in das Kapellmeisteramt an den sächsisch-polnischen Hof berufen. Seine Anstellung nach dem Tod Augusts des Starken und dem Regierungsantritt seines Sohnes war jedoch anders als bei Lotti von vornherein unbefristet und umfasste weitere Vergünstigungen: Wenn der Hof für längere Zeit nach Polen ging, konnte das Ehepaar Hasse nach Italien reisen und auf eigene Rechnung Opern herausbringen. Zu den lukrativen Aufgaben in Venedig gehörte auch das Amt des maestro di coro am Ospedale degl’Incurabili, das Johann Adolf Hasse mehrfach auf der Basis von Jahresverträgen übernahm. Dagegen ist sein Anteil an der Leitung des Kirchendienstes der Dresdner Hofkapelle bis auf weiteres nur hypothetisch zu bestimmen.16 Von Hasse sind insgesamt sechs Psalmkompositionen überliefert. Drei von ihnen – je ein Dixit Dominus, Beatus vir und Confitebor – sind typische Dresdner Psalmen mit kompakten Chorsätzen und Soli, deren Aufführungsdauer sich zwischen fünf und sieben Minuten bewegt. Bei den erhaltenen Partituren handelt es sich um Abschriften von der Hand eines Hofkopisten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, während die dazugehörigen Stimmen zu den kriegsbedingten Verlusten zählen. Hasses einzige Komposition des Psalms Laudate pueri entstand dagegen wahrscheinlich in der Mitte der 1730er Jahre und war ursprünglich für das Ospedale degl’Incurabili in Venedig bestimmt, wie vor allem aus der Chor-Besetzung für je zwei Sopran- und Alt-Stimmen hervorgeht. Später bearbeitete Hasse das Werk für den Dresdner Gebrauch. Die einzige erhaltene Partitur dieser Bearbeitung stammt von demselben Kopisten wie die Partituren der anderen drei „Dresdner“ Psalmen.17 Einen Vergleich beider Versionen hat Wolfgang Hochstein im Vorfeld seiner Edition innerhalb der Hasse-Auswahlausgabe vorgelegt.18 Abgesehen von der Veränderung der Chor­besetzung, der Eliminierung von zwei Einzelsätzen und der Hinzufügung von Oboen und Fagott halten sich die Veränderungen in Grenzen. Auch die Zeitersparnis bleibt verhältnismäßig gering: Die venezianische Version dauert eine knappe halbe Stunde, während die Dresdner Fassung etwa vier bis fünf Minuten weniger braucht. Ganz anders sind die Voraussetzungen für die Dresdner Bearbeitungen der beiden Miserere-Kompositionen in c-Moll und d-Moll von Johann Adolf Hasse. Am Ospedale degl’Incurabili dienten diese Werke unter anderem als Schlussstück der lateinischen Kompositionen 16 Siehe dazu Gerhard Poppe, „Ordentlicher und außerordentlicher Kirchendienst – Johann Adolf Hasses Aufgaben in der Dresdner Hofkirchenmusik und das erhaltene Repertoire“, in: Johann Adolf Hasse – Tradition, Rezeption, Gegenwart (Bericht über das Symposium vom 23. bis 25. April 2010 in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg), hrsg. von Wolfgang Hochstein, Stuttgart 2013, S. 69 – 78. 17 Siehe dazu die Edition: Johann Adolf Hasse, Kompositionen zur Vesper (= Johann Adolf Hasse, Werke: Abteilung IV: Kirchenmusik, Band 1), hrsg. von Wolfgang Hochstein, Stuttgart 1999. Für den Kopisten der Partituren von Hasses in Dresden überlieferten Vesperpsalmen „Copyist x1“ schlägt Ortrun Landmann die Identifizierung als Johann Ludwig Kremmler vor, der seinem Vater Johann Georg Kremmler im Amt als Hofnotist nachfolgte. Siehe Ortrun Landmann, Katalog der Dresdener HasseMusikhandschriften, München 1999. 18 Wolfgang Hochstein, „Die beiden „Laudate pueri“-Vertonungen von Johann Adolf Hasse (1699 – 1783)“, in: Cari amici: Festschrift 25 Jahre Carus-Verlag, hrsg. von Barbara Mohn und Hans Ryschawy, Stuttgart 1997, S. 22 – 33.

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in der Karwoche, die ihrerseits in vielen Quellen als „Isagoge ad Miserere“ bezeichnet werden. In Dresden gab es in der Ära Hasse Aufführungen italienischer Oratorien am Abend des Karfreitags und am Nachmittag des Karsamstags, während der Bußpsalm Miserere zu Nachmittagsandachten gehörte, die seit 1730 in der gesamten Fastenzeit – vom Aschermittwoch bis zum Dienstag der Karwoche – täglich außer samstags und sonntags stattfanden. Der Ablauf dieser Andachten blieb etwa zweihundert Jahre lang konstant: Zu Beginn erklang vor ausgesetztem Sanctissimum das Miserere. Freitags schloss sich daran eine Predigt an, während der das Sanctissimum von einer Sakramentsfahne verdeckt war, und auf die ein weiterer, in den Quellen meist nicht näher bezeichneter Gesang folgte. Daran schlossen sich Versikel und Oration des Priesters sowie der Hymnus Pange lingua mit dem sakramentalen Segen an. Am Ende wurde das Lied O Lamm Gottes unschuldig einstimmig mit Orgelbegleitung gesungen. Kompositionen des Bußpsalms Miserere, die in diesen Andachten zur Aufführung kamen, beziehen normalerweise die Doxologie Gloria Patri etc. ein. Dies ist am klarsten ablesbar an dem 1722 entstandenen Miserere in d-Moll ZWV 56 von Jan Dismas Zelenka: Dieses Werk war ursprünglich für die Metten der Karwoche bestimmt und enthielt deshalb keine Doxologie. Erst in der – wahrscheinlich 1725 erfolgten – Einrichtung für die Nachmittags­andachten der Fastenzeit komponierte Zelenka einige Verse neu und ergänzte außerdem die Doxologie.19 Mit den Unterschieden in der Vokalbesetzung und der Einbeziehung der Doxologie gibt es also zwei Merkmale, um auch für die beiden Miserere-Kompositionen von Hasse die venezianischen Fassungen von den Dresdner Versionen zu unterscheiden. Allerdings ergibt sich daraus trotzdem kein eindeutiges Bild, weil auch in Dresden beide Miserere in jeweils mehr als einer Fassung vorliegen. Hasse veränderte nicht nur die vokale Tuttibesetzung, sondern tauschte darüber hinaus ganze Sätze aus. Wolfgang Horn hat die unterschiedlichen Fassungen eingehend untersucht und außerdem das Miserere c-Moll mit Hasses Tätigkeit für das Ospedale degl’Incurabili 1735/36 in Verbindung gebracht, während er das Miserere d-Moll in die Jahre 1757/58 datiert. Daraus ergibt sich jeweils der Terminus post quem für alle späteren Fassungen.20 In Dresden blieben beide Miserere-Kompositionen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts Bestandteil des Hofkirchenrepertoires. Anders als Lotti und Hasse war Baldassare Galuppi nie am Dresdner Hof angestellt gewesen. Seit der Kurprinz Friedrich Christian während seiner Kavalierstour im April 1740 zwei Konzerte am Ospedale dei Mendicanti in Venedig gehört hatte, bei denen mindestens eine Arie von Galuppi erklungen war, war er in der sächsischen Residenzstadt kein Unbekannter mehr. Seit 1753 gehörten die opere buffe des Venezianers in Dresden für einige Jahre zum Repertoire der Operntruppe von Giovanni Battista Locatelli, und am Karfreitag 1754 wurde von ihm das Oratorium Il sacrifizio di Jefte in der kaiserlichen Gesandtschaftskapelle aufgeführt.21 Über die reiche Dresdner Überlieferung von Manuskripten mit Galuppis 19 Siehe dazu die Edition dieses Werkes: Jan Dismas Zelenka, Miserere d-Moll ZWV 56 (= Musik aus der Dresdner Hofkirche 4), hrsg. von Stephan Thamm, Beeskow 2005. 20 Wolfgang Horn, „Die Inszenierung des Leidens in Johann Adolf Hasses venezianischen Miserere-Einleitungen“, in: Johann Adolf Hasse in seiner Zeit. Bericht über das Symposium vom 23. bis 26. März 1999 in Hamburg, hrsg. von Reinhard Wiesend, Stuttgart 2006, S. 227 – 249. 21 Für Werke und Aufführungsdaten siehe Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 281 – 287. Libretti des Oratoriums ohne Nennung des Kompo-

Venezianische Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik 351

Kirchenmusik informiert die Dissertation von Ines Burde, der ich in meinen weiteren Überlegungen folge und dabei wiederum vor allem den Gebrauch seiner Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirche befrage.22 Der bereits genannte Catalogo della Musica di Chiesa composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto verzeichnet insgesamt 75 Galuppi zugeschriebene Kirchenmusikwerke, deren Partituren aus der Copisteria Baldan in Venedig stammen. Dazu kommen – ebenfalls in Partituren aus der Copisteria Baldan – weitere elf Werke verschiedener italienischer Komponisten. Die Anschaffung dieser Partituren lässt sich auf den Zeitraum zwischen etwa 1758 und 1764 eingrenzen; möglicherweise erfolgte der Ankauf in mehreren Aktionen, weil einzelne Werke doppelt vertreten sind und außerdem inzwischen einige Fehlzuschreibungen identifiziert werden konnten.23 Ein solcher Ankauf erwies sich als naheliegend, weil die Last der Neukomposition von Werken für die Dresdner Hofkirche seit den 1750er Jahren fast ausschließlich auf den Schultern des Kirchen-Compositeurs Johann Georg Schürer lag. Diese Baldan-Kopien mit italienischer Kirchenmusik sind längst nicht mehr alle erhalten, und vor allem die dazugehörigen Aufführungsmaterialien zählen zu den Kriegsverlusten. Zu den unter Galuppis Namen in Dresden bis heute aufbewahrten Kirchenmusikwerken gehören insgesamt 14 Vesperpsalmen und ein Miserere (s. Tabelle 3). Von diesen Psalmen konnten inzwischen vier mehr oder weniger sicher als Werke von Antonio Vivaldi identifiziert werden; weitere fünf stammen aus stilistischen Gründen mit Sicherheit nicht von Galuppi, aber trotzdem aus Venedig. Der Catalogo von 1765 weist lediglich für das Miserere und das Laudate Dominum Stimmenmaterial nach. Nach der Beendigung dieses Kataloges wurden außerdem noch für zwei Kompositionen des Laetatus sum sowie für das inzwischen Vivaldi zugeschriebene, im stile antico komponierte Lauda Jerusalem Stimmen angefertigt. Alle diese Aufführungsmaterialien gehören durchweg zu den kriegsbedingten Verlusten. Angesichts der umfangreichen Ankäufe stellt sich wiederum die Frage, warum nur wenige dieser Werke zeitweilig Eingang in das Hofkirchenrepertoire fanden. Auch hier waren diese venezianischen Psalmkompositionen für den Dresdner Gebrauch einfach zu lang oder verlangten wie das Nisi Dominus RV 803 seltene, in Dresden nicht gebräuchliche Instrumente.24 Eine wichtige Ausnahme bildet Galuppis Miserere EsDur, das – ähnlich wie Hasses Kompositionen dieses Bußpsalms – in Dresden wiederum nicht als Schlussstück von lateinischen Oratorien diente, sondern seinen Platz im Repertoire nisten, aber mit eindeutiger Zuordnung aufgrund des verwendeten Textes finden sich in CZ-Pu und D-Hs. Eine Dresdner Partitur des Werkes ist nicht erhalten. 22 Für Informationen zum Gesamtbestand siehe Ines Burde, Die venezianische Kirchenmusik von Baldassare Galuppi, Frankfurt am Main 2008, S. 42f. und Werkverzeichnis. 23 Ein besonders drastisches Beispiel für manche offene Fragen zu den Dresdner Baldan-Kopien bietet der Motetto Quae columna luminosa, der in Dresden gleich zweimal unter Galuppis Namen überliefert ist (D-Dl Mus. 2973-E-15 und Mus. 2973-E-16), aber mit Sicherheit von Johann Adolf Hasse stammt. Entweder kannten die Mitarbeiter der Copisteria den Auftraggeber nicht oder sie erledigten ihren Auftrag extrem oberflächlich. Aufführungsmaterial von diesem Motetto wurde allerdings nicht hergestellt. 24 Aus dem zuerst genannten Grund blieb zum Beispiel auch das im Catalogo della Musica di Chiesa composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto verzeichnete, aber heute nicht mehr vorhandene Laudate pueri für Sopran, Streicher und Basso continuo RV 601 von Antonio Vivaldi ohne Stimmenmaterial.

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der Nachmittags­andachten in der Fastenzeit fand. Den im Zweiten Weltkrieg verlorenengegangenen Stimmen könnte man auch entnehmen, ob Galuppis Komposition um die Doxologie ergänzt oder anderweitig bearbeitet wurde.25 Titel Dixit Dominus Dixit Dominus Confitebor Beatus vir Laudate pueri Laudate pueri Laetatus sum Laetatus sum

Verzeichnis Burde II/18

II/34 II/33 Anh. 12

SATB, 2 Vl., Va., B. c. SATB, Tr., 2 Fg. 2 Vl., Va., B. c. SA, 2 Vl., B. c. SATB, 2 Vl., Va., B. c. SAB, 2 Vl., Va., B. c. SSA, 2 Fl., 2 Vl., Va., B. c. SATB, 2 Vl., Va., B. c.

Anh. 13

SATB, 2 Vl., Va., B. c.

II/48 Anh. 14

SAT, Chal., Tr. marina, Va. d’amore, 2 Vl., Org., B. c. SATB, 2 Vl., Va., B. c. SATB, 2 Vl., Va., B. c.

II/6

Nisi Dominus Nisi Dominus Lauda Jerusalem

Besetzung

Lauda Jerusalem

SATTB, 2 Vl., Va., B. c.

In exitu Israel

Anh. 11

SSATB, 2 Vl., Va., B. c.

Laudate Dominum

Anh. 16

SATB, 2 Hr., 2 Vl., Va., B. c.

Miserere

II/46

SATB, 2 Vl., Va., B. c.

Bemerkungen

Fehlzuschreibung, Vivaldi, RV 807 Fehlzuschreibung, Vivaldi, RV 795

Fehlzuschreibung, Komponist unbekannt, Stimmen nach 1765 Fehlzuschreibung, Stimmen nach 1765 Fehlzuschreibung, Vivaldi, RV 803

Fehlzuschreibung, Komponist unbekannt Bearbeitung Vivaldis, RV Anh. 35a, Stimmen nach 1765 Fehlzuschreibung, Komponist unbekannt Fehlzuschreibung, Komponist unbekannt, Stimmen Stimmen

Tabelle 3: Die unter Galuppis Namen in Dresden bis heute aufbewahrten Kirchenmusikwerke.26

Wie die vorgelegten Beispiele ergaben, folgte die Verwendung venezianischer Psalmkompositionen in der Dresdner Hofkirchenmusik innerhalb eines knappen Jahrhunderts ganz pragmatischen Kriterien. Waren bei dem Dixit Dominus von Carlo Pallavicino die venezianischen Besonderheiten und der mögliche Dresdner Gebrauch wegen fehlender Vergleichsmöglichkeiten noch schwer zu ermitteln, ist dies bei den Psalmkompositionen von Antonio Lotti ganz anders. Letztere konnten nur in teilweise eingreifenden Bearbeitungen innerhalb der Dresdner Hofkirchenmusik Verwendung finden. Johann Adolf Hasse stellte die Dresdner Bearbeitungen seiner eigenen, ursprünglich für Venedig bestimmten Psalmkompositionen selbst her, und die Unterschiede zwischen Originalkompositionen für die Dresdner Hofkirche und diesen eigenen Bearbeitungen liegen auf der Hand. Dagegen wurden bei den Galuppi zugeschriebenen Werken die Grenzen der Integrierbarkeit von venezianischen Psalmkompositionen in das Dresdner Repertoire deutlich sichtbar. Der letztere Befund ließe sich durch einen Vergleich mit den einschlägigen Werken der in Dresden angestellten Ka25 Siehe dazu auch die Edition dieses Werkes: Baldassare Galuppi, Miserere Es-Dur (=  Musik aus der Dresdner Hofkirche 8), hrsg. von Susanne Cox, Beeskow 2011. 26 Jeweils vokale Gesamtbesetzung; weitere Differenzierungen in den Soli wurden nicht eigens notiert.

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pellmeister und Kirchen-Compositeurs Johann David Heinichen, Giovanni Alberto Ristori, Jan Dismas Zelenka, Johann Michael Breunich und Johann Georg Schürer weiter ausführen. In jedem Fall eignet sich die Untersuchung der lateinischen Psalmkompositionen im Spannungsfeld zwischen Venedig und Dresden kaum zur Erweiterung des musikhistorischen Mythenarsenals, vermittelt aber wichtige Einblicke in die Praxis.

Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France (1661 – 1789) 355

Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France (1661 – 1789) Thierry Favier To Graham Sadler, with thanks

For well over a century, studies of the circulation and reception of Italian music in France in the seventeenth and eighteenth centuries have focused mainly on secular music, and more especially on opera. This broad topic has given rise to numerous writings, ranging from the pioneering contributions of Charles-Louis-Etienne Nuitter and Ernest Thoinan, Henry Prunières and others, to a number of important recent publications.1 In such writings, sacred music is not completely neglected; but the few studies devoted to it or which mention it in passing are generally based on individual personalities – Italian composers in France, French composers who favoured the “Italian style”, collectors or patrons – with little analysis of the activity or influence of such individuals to allow a bigger picture to emerge.2 During the Querelle des Bouffons, the authority acquired by certain philosophical writings and the abundant pamphlet literature devoted to opera led to a confusion of identity between Italian music and Italian opera. We might therefore legitimately reconsider the true position of Italian sacred music in the aesthetic discourse in France at that time and, above all, the conditions within which that discourse was formulated. In this regard, any attempt to focus on aesthetic debates and the resulting literature poses a problem, in that it tends to consider the reception of Italian music in terms of polemical parties, and to create a false unity between the protagonists which conceals the differences between individual sensibilities, practices, milieux, or even epochs. Although the discussion of differences between French and Italian music was one of the stimulating forces behind the renewal of French style throughout the period covered by this article (1661 – 1789), and such discussion has tended to present a one-sided, abstract representation of Italian music. However, recent studies focusing on the entourage of the Grand Dauphin, the duc d‘Orléans and other great princely families have revealed complex interactions between French music and the different realities encompassed by the term “Italian music” in France at that time, in making a clear distinction between Italian works that were performed in France, and Italian musicians who spent part or the whole of their

1 See in particular the studies by Maria Caraci Vela, Alessandro Di Profio, Jean Duron, Fabiano Andrea, Don Fader, Jean Lionnet and Barbara Nestola. Charles-Louis-Etienne Nuitter et Ernest Thoinan, Les origines de l‘opéra français, Paris 1886; Henry Prunières, L‘opéra italien en France avant Lulli, Paris 1913. 2 The article by Denise Launay, devoted to the period preceding this study, is an exception. See “L’Italianisme et la musique religieuse en France au temps de Mazarin”, in: La France et l‘Italie au temps de Mazarin, ed. Jean Serroy, Grenoble 1986, pp. 335 – 348.

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careers there.3 In this regard, a study of the reception of Italian sacred music in France suggests several lines of enquiry. These fall into three interdependent categories. The first has to do with contemporary knowledge of Italian sacred music. Which works were known at that time? By whom were they known? And what was the nature of that knowledge? The second category involves the musical experience from a dual social and experiential perspective. It aims to identify the music played, the conditions under which it was played, and the practices and modes of reception attached to it. The third category is concerned with the nature and purposes of the resulting discourse. The present investigation makes no claim to being exhaustive: the subject is vast and complex, particularly since the musical activities of most of the relevant religious institutions have yet to be studied in detail. Its intention is simply to gather together examples, some well known, others less so, in an attempt to identify trends in the circulation of the Italian motet in France, and to relate those trends to the general chronology of the reception of Italian music, as revealed mainly through existing studies of the history of opera. Within the current state of knowledge it aims, on the one hand, to compare the nature of “Italian”musical activity in various French institutions according to their degree of subordination to royal power; and, on the other hand, to define the position and nature of the Italian motet repertory within that activity.

The royal court of France During the reign of Louis XIV, the sacred music performed at court remained almost exclu­ sively within the framework of the liturgy.4 The motet had traditionally been associated either with extraordinary ceremonies or with the sacred offices on major feast days. Yet Louis XIV‘s decision in the early 1660s to attend low mass publicly each day in the palace chapel, rather than in a private oratory as in his father‘s time, upset the traditional hierar­chical principle that had regulated the distribution of plainchant and polyphony throughout France. Following a practice that would be observed until the end of the Ancien Régime, the king‘s daily mass was now accompanied by motets performed by the Musique de la Chapelle. Plainchant and its derivatives, which were the prerogative of the Chapelle de Musique, were 3 See Jean-Paul  C. Montagnier, Un mécène-musicien: Philippe d‘Orléans, régent (1674  –  1723), Paris 1996; “La musique de Philippe d‘Orléans et son mécénat musical”, in: Cahiers Saint-Simon 34 (2006), pp. 75 – 82; Donald Fader, “The ‘Cabale du Dauphin’, Campra and Italian Comedy: The Courtly Politics of French Musical Patronage circa 1700”, in: Music and Letters 86/3 (August 2005), pp. 380 – 413; Thomas Vernet, ‘Que leurs plaisirs ne finissent jamais’, spectacles de cour, divertissements et mécénat musical du Grand Siècle aux Lumières: l‘exemple des princes de Bourbon Conti, Thesis, École pratique des hautes études 2010. 4 Not until the end of the seventeenth century were motets performed outside the liturgical context, at the instigation of some of the princes. Regular concerts based on the Concert Spirituel-model and including motets à grand chœur by André-Cardinal Destouches did not begin to appear at court until the early 1730s.

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reserved for masses on major festivals.5 This important change created the need for a repertoire of motets specifically for this new purpose. These were commissioned from Thomas Gobert, and particularly Pierre Robert, Henry Du Mont and Gabriel Expilly,6 the sousmaîtres engaged in 1663. The resulting motet à grand chœur, a quintessentially French genre, was radically different from motets composed elsewhere in Europe in the mid-seventeenth century. Along with the Lullian tragédie en musique, it formed part of a drive to establish a national stylistic idiom. This initiative had begun in the years following the Peace of the Pyrenées (November 1659) as part of an artistic policy intended to serve the new-found unity of the kingdom, to strengthen its absolute monarchy and to exalt French supremacy over other European nations.7 It was Pierre Perrin, a neo-Latin poet and theorist particularly active after the death of the Cardinal Jules Mazarin (1683) and the departure of most Italian musicians from France, who initially supplied the texts of many of the motets composed for the Chapelle Royale. Perrin summed up perfectly the importance of the new musical genres to France‘s national identity and their appropriateness to Jean-Baptiste Colbert‘s policies intended to counterbalance Italy‘s artistic reputation: En verité, Monseigneur, j‘ose vous dire qu‘il y va de la gloire du Roy et de la France de ne pas souffrir qu‘une Nation, par tout ailleurs victorieuse, soit vaincüe par les etrangers en la connaissance de ces deux Beaux Arts [la poésie et la musique].8

Such a context for the affirmation of French art clearly left little room for the work of foreigners, and the only evidence we have of the performance of Italian motets within the framework of the king‘s mass is a manuscript entitled Petits Motets et Elévations de Messieurs Carissimi, de Lully, Robert, Danielis Et Foggia A 2. 3. et 4. voix, et quelques unes avec des violons. Recüeillis Par Philidor l‘Aisné, Ordinaire de la Musique du Roy En 1688.9 This manuscript, containing 72 motets, reflects the practice described by Perrin in the foreword to his Cantica pro capella regis, whereby three motets were performed during the king‘s mass: Pour la longueur des cantiques, comme ils sont composés pour la messe du roy, où l‘on en chante d‘ordinaire trois, un grand, un petit pour l‘élévation et un Domine, salvum fac Regem, j‘ay fait les grands de telle longueur qu‘ils peuvent tenir un quart d‘heure, étant bien composés et sans trop de répétitions, et

5 Limited at first to ordinary days, the celebration of low mass with motets was extended from 1669 to all Sundays and holy days, with the exception of ten or so “solemnities”. See Alexandre Maral, La Chapelle royale de Versailles sous Louis XIV: cérémonial, liturgie et musique, Liège 2002, p. 115. 6 Their predecessor Jean Veillot died in 1662. Gobert‘s resignation in 1668, followed by that of Expilly in 1669, left Pierre Robert and Henry Du Mont in sole charge of the Musique de la Chapelle until 1683. 7 See Jean Duron (ed.), La naissance du style français (1650 – 1673), Wavre 2008. 8 “In truth, Monseigneur, I dare say to you that it is fitting to the glory of the King and of France not to accept that a Nation that is victorious in all other things should be vanquished by foreigners in the knowledge of these two arts [Poetry and Music].” Pierre Perrin, Recueil de paroles de musique, BnF, ms fr 2208. 9 See description by Catherine Cessac and Nathalie Berton,

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occuper depuis le commencement de la messe jusqu‘à l‘élévation. Ceux d‘élévation sont plus petits et peuvent tenir jusqu‘à la post communion, que commence le Domine.10

Of the sous-maîtres of the Chapelle Royale, Du Mont and Robert produced most of the motets for the king‘s low mass until 1683, when they were replaced by Michel-Richard de Lalande, Guillaume Minoret, Nicolas Goupillet and Pascal Colasse. While the distinction introduced by Perrin between the “grand” motet and the “petit” motet for the elevation was based mainly on duration and had nothing to do with instrumental and vocal resources, the following practice was quickly established: first, a motet à grand chœur for vocal soloists (the petit chœur), five-part chorus (the grand chœur) and basso continuo, with passages for one or two solo violins; and second, an elevation motet performed by members of the petit chœur and with the same instrumental accompaniment but without the grand chœur. The five-part grand chœur, with just one treble (dessus) and three inner parts (hautes-contre, tailles and basses-tailles) was typical of French choral writing. The opening motet in the king‘s mass, invariably taken from the repertoire of pieces written by the sous-maîtres, thus acquired a strong identity function. This function became even stronger after 1683, when the five-part orchestra, hitherto reserved for special occasions, began to be used on a daily basis in those motets à grand chœur performed during the king‘s mass. Conversely, the vocal and instrumental resources required for the elevation motets were not unique to the French, which may explain how a few Italian motets found a place in the repertoire. The above-mentioned collection copied in 1688 formed part of an initiative entrusted to the Philidor atelier by Louis XIV to conserve this heritage.11 The title of the manuscript is some­what misleading in that, in addition to ten motets by Lully, ten by Robert and thirteen by Daniel Danielis, it includes 39 Italian motets, unevenly distributed among seven composers: Giacomo Carissimi (1605 – 1674): 24 motets Francesco Foggia (1604 – 1688): 9 motets (two of them misattributed to Carissimi12) Maurizio Cazzati (1616 – 1678): 2 motets (misattributed to Carissimi) Carlo Cecchelli (fl. 1626 – 1664): 1 motet (misattributed to Carissimi) Girolamo Ferrari (c. 1600 – after 1664): 1 motet (misattributed to Carissimi) Bonifazio Graziani (1604/5 – 1664): 1 motet (misattributed to Carissimi) Giovanni Maria Pagliardi (1637 – 1702): 1 motet (misattributed to Carissimi)

10 “With regard to the length of the canticles composed for the king‘s mass, three [motets] are normally sung: a longer one, a shorter one for the elevation, and a Domine, salvum fac regem. I have designed the longer ones, being well written and without too much repetition, to last a quarter of an hour and to occupy the first part of the mass, as far as the elevation. Those for the elevation are shorter and may last until the post-communion, when the Domine [salvum] begins.”, Pierre Perrin, Cantica pro capella regis, Paris 1665, “Avant-Propos”. See Louis E. Auld, The ‘Lyric Art’ of Pierre Perrin, Founder of French Opera, vol. 2, Henryville 1986, p. 168. 11 See Denis Herlin, “La constitution d‘une mémoire musicale: La collection Philidor”, in: Le prince et la musique: les passions musicales de Louis XIV, ed. Jean Duron, Wavre 2009, pp. 233 – 273. 12 The eight motets erroneously attributed to Carissimi were identified by Andrew V. Jones, The Motets of Carissimi, Ann Arbor 1982, vol. I, p. 61, vol. II, pp. 165 – 166.

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In the context of the present study, André Danican Philidor‘s selection of motets prompts two observations. First, most of the authors of these motets were either Roman or had close links with Rome. That is true not only of Giacomo Carissimi and Francesco Foggia, the two most influential Roman composers of the years 1640 – 1680, whose music makes up most of the content, but also of Luca Cecchelli and Bonifazio Graziani. The former became cantor of San Luigi dei Francesi and subsequently spent most of his career in Rome, while the latter settled in Rome in 1646 as maestro di cappella at the Gesù church and at the Seminario Romano. The two motets by Cecchelli and Graziani were printed in Rome, Cecchelli‘s Peccaverunt habitatores terrae in an anthology of 1645 and Graziani‘s Benignissime Jesu in his third book of motets, published in 1656.13 The motet Ecce sonuerunt by Pagliardi, who was then maestro di cappella at Genoa Cathedral, was included in the anthology Scelta de‘ motetti published in Rome in 1667, which probably explains how it came to be known in France. On the other hand, neither Cazzati nor Ferrari worked in Rome, nor were their motets in the Philidor collection ever published there. The two pieces by Cazzati appear in one of the composer‘s many books of motets, Tributo di sagri concerti (op. 23), published in Bologna in 1660 and in Antwerp in 1669. The motet by Ferrari was included in two anthologies published in Milan in 1649 and 1653.14 Second, none of the Italian composers represented in this Philidor manuscript belonged to the generation of Lully and Danielis. Indeed, most of them were only slightly younger than Du Mont and Robert. Although the 39 Italian motets cannot be dated precisely, many of them were written either in the mid-century or in the years 1660 – 1680. Foggia‘s O ignis qui semper ardes and Quare suspiras, for instance, were published in Roman anthologies in the early 1640s.15 Likewise, the motets by Cecchelli and Ferrari predate the reform of the Chapelle Royale by more than a decade. Although this time difference does not apply to all the Italian motets copied by Philidor, few of them date from the years immediately before the 1683 competition – years during which both an elevation motet and the motet à grand chœur were still performed. After 1683, when Du Mont and Robert were replaced by four new sous-maîtres, the motets à grand chœur performed during the king‘s daily mass established the model of the much longer type of motet formerly intended only for extraordinary ceremonies. Although a second motet may still have been used after 1683, it was no longer the invitable counterpart of the motet à grand chœur, which might now continue until the end of the ceremony.16 The ascendancy of the motet à grand chœur, as it became longer and required larger forces, was thus at the expense of the solo motet, the aim being to strengthen the identity and national dimension of the king‘s mass. The Italian motets from the Chapelle Royale repertoire, the most recent of which dated from the 1670s, appear to have been completely abandoned after that decade, and the Italian branch of the repertoire was not renewed. From then until 13 Florido de Silvestri (ed.), Has alteras sacras cantiones […], Rome 1645; Bonifazio Graziani, Motetti [...] libro terzo, op. 7, Rome 1656, reprints Rome 1657, 1658. 14 Giorgio Rolla (ed.), Teatro musicale de concerti ecclesiastici, Milan 1649, reprint Milan 1653. 15 Respectively: Concentus ecclesiastici binis [...], Rome 1645, reprint Antwerp 1658; Sacrarum modulationum [...], Rome 1642. 16 See Thierry Favier, Le motet à grand chœur. Gloria in Gallia Deo, Paris 2009, pp. 80 – 85.

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the eve of the French Revolution, the repertoire of the Chapelle mainly consisted of motets à grand chœur, almost all of them written by the current sous-maîtres; the only exceptions are the few motets composed by former sous-maîtres or by French composers such as Lully or Jean Gilles, who were specialists in the genre. Like the Académie Royale de Musique, the Chapelle Royale remained a bastion of French music, associated with a specific genre and with composers who for the most part devoted themselves entirely to royal service, e.g.  Lalande to Louis XIV, Antoine Blanchard to Louis XV, Julien-Amable Mathieu and François Giroust to Louis XVI.

Music for the aristocracy Initially, the bond linking the new national style and its associated genres to the monarchy of Louis XIV underpinned all the activities of the princely musical establishments. Under the influence of Colbert, the prevailing view promoted a pyramidal conception of taste, in which music created for the king represented the purest expression of the nation‘s genius. In such a context, the subservience of the whole aristocratic élite and major religious institutions to the king‘s musical preferences, notably in using musicians who were either associated with his court or who kept as closely as possible to its aesthetic canons, amounted to a form of political allegiance. At the transition from the seventeenth to the eighteenth century, the rise of princely patronage undermined this hierarchical conception of taste. The royal children had re­ ceived an excellent musical education, lavished on them by the best teachers. Some of them – the Grand Dauphin, the duc de Chartres (future Regent) and the duchesse de Conti, for example – showed a real passion for music. Their patronage and that of several other royal offspring, such as Louis-Françoise de Condé, the duc du Maine and the duc de Toulouse, showed some autonomy, finding expression in the possession of their own households and the running of courts independent of that of the ageing Louis.17 The promotion of various kinds of Italian music enabled them to demonstrate their desire for emancipation in a non-political manner. From the mid-1680s, Italian composers and performers had been excluded from the court, apart from a few castrati who were still employed at the Chapelle Royale. But opposition to Italian music, initially limited to opera, soon affected sacred music. This is illustrated, on the one hand, by the return to Rome of Paolo Lorenzani, even though his motets had been performed only a few years previously before the king, and on the other hand, by the “Discours sur la musique d‘église” at the end of Lecerf de La Viéville‘s Comparaison de la musique italienne et de la musique française of 1705.18 17 Some of the divertissements were no longer presented in the state apartments at Versailles but in the apartments of other members of the royal family or at their châteaux in the Île-de-France. See David Hennebelle, De Lully à Mozart: aristocratie, musique et musiciens à Paris, Seyssel 2009, p. 62 ff. 18 Lorenzani, a pupil of Orazio Benevoli, was appointed music teacher to queen Marie-Thérèse in 1679. After 1683, the year both of her death and of the competition for the appointment of the new sous-

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In this context of aesthetic and ethical opposition to Italian music, the Grand Dauphin and the future Regent had since the 1690s supported the most important Italophile French composers – those like Marc-Antoine Charpentier, André Campra and Nicolas Bernier, who had developed on the fringe of the royal court.19 Despite the lack of complete records, recent studies of such aristocratic patronage have clarified the nature of its support for Italian and Italianate music. To judge from what we know of the musical activity at this time, the repertoire com­ posed for and performed at the personal residences of these aristocrats or their relatives was organised with a strict separation between genres. This does not mean that the works were segregated according to their function, secular from sacred, instrumental from vocal, but that a dividing line was introduced according to the degree of rapport between these genres and the national identity as constructed in the early decades of Louis XIV‘s personal reign. On the one hand, those genres associated with France‘s musical identity – not only operas and related genres such as divertissements and ballets but also motets – were now composed exclusively by French composers with Italian sympathies. The representations of identity attached to them appear to have served as a foil to the related Italian works. On the other hand, genres of Italian origin like the sonata or cantata and the independent aria were championed both by Italophile French composers and by Italian composers and performers,20 thus providing an ideal opportunity to develop a réunion des goûts. In the case of the motet, this sense of identity explains the almost complete absence of Italian motets for chorus, soloists and orchestra, works which could have competed with the motet à grand chœur.21 Exceptionally, Giovanni Antonio Guido‘s collection of Italian petits motets, which maîtres of the Chapelle Royale, he left the court to work for the Theatine order and for aristocratic patrons. In 1693 he returned to Rome after failing to obtain the position left vacant by Goupillet. During the same period, Henry Desmarets‘s request to travel to Italy was refused by the king at the instigation of Lully. See Jean Duron, “Aspects de la présence italienne dans la musique française de la fin du xviie siécle”, in: Le concert des muses: promenade musicale dans le baroque français, ed. Jean Lionnet, Versailles and Paris 1997, p. 103. 19 Charpentier and Bernier had studied in Italy, the former with Carissimi and the latter with Antonio Caldara.  Bernier had been appointed maître de musique at the Sainte-Chapelle at the instigation of Philippe  II, duc d‘Orléans, in 1704, before joining the Chapelle Royale in 1723. See Jean-Paul C. Montagnier, “Bernier, Nicolas”, in: Grove online, 20 Among the latter were the violinists Michele Mascitti and Giovanni Antonio Guido and the castrati Pasqualino Tiepolo and Pasqualino Betti, recruited from Italy by Philippe d‘Orléans. See Don Fader, “Philippe II d‘Orléans‘s ‘chanteurs italiens’, the Italian cantata, and the gouts-réunis under Louis XIV”, in: Early Music, 35/2 (2007), pp. 237 – 249; Andrea Fabiano, “Le chant italien en France à l‘époque des Lumières: mythe et réalité”, in: La voix dans la culture et la littérature françaises: 1713 – 1875, ed. Jacques Wagner, Clermont-Ferrand 2001, pp. 139 – 153. 21 The Miserere by Antonio Biffi, maestro di cappella of San Marco in Venice from 1702, seems to be the only exception. Apparently commissioned by Philippe II in 1704, it was performed at the Chapelle Royale. See Antonio Biffi, Miserere mei, Deus, ed. Don Fader (= Web Library of Seventeenth-Century Music 15), 2009. . The manuscript is preserved in the Toulouse-Philidor collection. See Catherine Massip, “La collection musicale Toulouse-Philidor à la Bibliothèque nationale”, in: Bulletin de la Bibliothèque Nationale IV/4 (1979), pp. 147 – 157.

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were published by Henry Foucault in 1707,22 are very close in style to those written by such Italophile French composers as Jean-Baptiste Morin.23 Two extreme cases underline the concept of the motet‘s identity and the political function it acquired through its status as a royal genre, particularly in the context of regular worship. The first concerns the music of the court of James II of England. In the aftermath of the Glorious Revolution of 1688, James was living in exile in the royal château of SaintGermain-en-Laye, where his court maintained considerable independence from Versailles. Its maître de musique until 1719 was Innocenzo Fede, who, before joining James‘s Chapel in 1686, had worked in Rome, his appointment having doubtless been influenced by the queen consort, Mary of Modena. With the exception of a few motets by Lalande in honour of James‘s cousin Louis XIV, all the music for the exiled king‘s offices was composed by Fede.24 The second of these cases concerns Stanislas Leszczyński, the deposed king of Poland. Stanislas owed his position in France to two factors: the marriage of his daughter Marie Leszczyńska to Louis XV in 1725, and his acquisition of the Duchy of Lorraine and Bar in 1737. Stanislas held court in his various residences. A detailed inventory of his music collection, drawn up after his death in Lunéville in 1764, is divided into three main categories: instrumental music (mostly Italian and German); French music for the stage (tragédies en musique and opéras comiques); and a very large collection of motets à grand chœur. These are mostly by Lalande, but the inventory also lists motets by other composers who had worked at the Chapelle Royale or had enjoyed some success at the Concert Spiritual in the middle of the century.25 Among the 114 references to sacred music in this document, only two mention Italian works: a set of six printed mass settings by Giovanni Battista Bassani, who died in 1716, and a Recueil de motets à 1. 2. 3. 4. 5. et 7. parties / recueillis d‘illustres auteurs français et italiens. The creation of several private concert series in Paris during the Regency led to an emancipation of patronage and a gradual move towards the aristocratic model that would characterise musical life in Paris in the second half of the eighteenth century. Some of the regular concert series in the capital were devoted exclusively to Italian music,26 like those of the king‘s treasurer Pierre Crozat (1661 – 1714). These initially took place at Crozat‘s residence in the rue de Richelieu, but were later given at the Louvre and the Tuileries, thanks to the 22 Giovanni Antonio Guido, Motetti ad una e più voci con sinfonia […] opera prima, Paris 1707. It is revealing that this collection by an Italian composer was inspired by the aesthetic of a réunion des gouts. The collection is described in Nathalie Berton, Catalogue du motet imprimé en France (1647 – 1789), Paris 2001, p. 1107. 23 Jean-Baptiste Morin worked for the duc d‘Orléans as ordinaire de la musique from c.1701. 24 See Edward T. Corp, “The Exiled Court of James II and James III: A Centre of Italian Music in France, 1689 – 1712”, in: Journal of the Royal Musical Association 120/2 (1995), pp. 216 – 231. 25 The inventory is published in René Depoutot, “La musique à la cour de Lunéville sous le règne de Stanislas à la lumière de deux inventaires”, in: Itinéraires musicaux en Lorraine: sources, événements, compositeurs: colloque Commercy, 2002: actes, ed. Yves Ferraton, Langres 2003, pp. 59 – 119. 26 By 1755 Paris had four subscription societies that presented Italian music. See Jacques-Gabriel Prod‘homme, “La musique à Paris, de 1753 à 1757, d‘après un manuscrit de la Bibliothèque de Munich”, in: Sammelbände der Internationalen Musik-Gesellschaft 6 (1904 – 1905), p. 577.

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influence of Madame de Prie and the duc de Bourbon, Louis XV‘s first minister. Unfortunately, those concert series had no official basis, and no archival material appears to have survived. We know no more about the repertoire of Crozat‘s concerts than we do about that of the Concert des Mélophilètes, supported by Louis-Armand de Bourbon, prince de Conti, or those of other individual patrons: M. de Lubert, président aux Enquêtes du Parlement; John Law and his wife; Joseph Bonnier de La Mosson, trésorier général des États du Languedoc; or the prince de Carignan. Five programmes for concerts organised in 1757 by the flautist Filippo Ruge and his wife, who was a singer, are the only evidence we have of the repertoire performed at an Italian series in France at that date: these five concerts were devoted entirely to secular vocal music, mostly operatic arias.27 The few pieces of information we do have about the aristocratic orchestras that flourished in the second half of the century – those of the tax-farmer Le Riche de La Pouplinière from 1731 onwards, Louis-François de Bourbon, prince de Conti, from 1762, and others of lesser importance – give us no clear idea of their repertoire. We know that these orchestras played an important part in the dissemination of instrumental music in general and of the symphony in particular. Few of them performed on a daily basis, and their repertoire, mainly orientated towards the social life of the salons, contained little or no sacred music. At the end of the reign of Louis XV and during that of Louis XVI, we witness the disbanding of the orchestras of the comte d‘Ogny (1769), the prince de Conti and the comte de Clermont (1771), the Rohant-Chabots (1778), the prince de Guéménée (1782) and the marquise de Montesson (1785). This phenomenon coincided with the creation of new types of semi-public concerts resulting not so much from the withdrawal of the aristocracy as from the fact that its patronage was gradually becoming better adapted to the increasing financial needs of the new orchestral music.28 Such concerts enabled people to hear arias from the operas of Antonio Sacchini, Giovanni Paisiello, Baldassare Galuppi and many other Italian composers; but sacred music, by contrast, appears to have had little or no place in these programmes. In that respect, these events followed the same evolution as that witnessed in the repertoire of the Concert Spirituel.29 It is nevertheless possible that Italian motets of the Neapolitan school were occasionally performed, as they were at the Concert Spirituel.

27 The Ruge family moved to Paris in 1753. See François Lesure, “Concerts italiens à Paris en 1756 – 1757”, in: Musica senza aggettivi: Studi per Fedele d’Amico, vol. 1, ed. Leo S. Olschki (= Quaderni della ‘Rivista italiana di musicologia’ 25), Florence 1991, pp. 165 – 170. The works bear the names of Niccolò Jommelli, Alessandro Scarlatti, Giuseppe Scolari, Nicola Conforto, Ferdinando Bertoni and Christoph Willibald Gluck. 28 See David Hennebelle, “Nobles, musique et musiciens à Paris à la fin de l‘Ancien Régime: les transformations d‘un patronage séculaire (1760 – 1780)”, in: Revue de Musicologie 87/2 (2001), pp. 395 – 418. 29 The Italian arias sung at such concerts were sometimes published in periodicals. See, for example, Baldassare Galuppi‘s Idol mio che fiero istanto, published in the Journal d‘Ariettes of 1779, with the mention “Rondeau chanté par Mme Todi au Concert de Messieurs les Amateurs”.

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Religious institutions In the current state of research, study of the repertoire of French religious institutions of the seventeenth and eighteenth centuries encounters a number of almost insurmountable methodological obstacles. Few provincial institutions have preserved a truly representative collection of scores, and only a few precious inventories have come to light. Even when the archives of a given chapter have not been partially or completely destroyed, they had rarely been methodically investigated. Moreover, liturgical function took precedence over the identification of the composer or the musical resources involved, which generally makes it difficult to pinpoint the works named in the sources. Despite such difficulties, the many studies of religious institutions in Paris and the provinces which have accumulated since the nineteenth century enable us to identify certain trends. On the one hand, the great cathedrals or the large collegiate churches used an almost exclusively endogenous repertoire – one that consisted mainly of works composed by the current maître de musique or occasionally by important former musicians of the institution, whether deceased or continuing their careers in the major Parisian establishments. Thus when François Pétouille left his position in charge of the choral foundation at Langres Cathedral to take up a similar one at Notre-Dame in Paris, the Chapter took the trouble to have his music copied, and it subsequently commissioned copies of his new compositions.30 Exceptionally, for major feast days, these institutions could present works by external composers. This very limited exogenous repertoire was confined mostly to motets à grand chœur – settings of the Te Deum, Exaudiat or other psalms of praise suited to the dynastic ceremonies celebrated in the presence of the king‘s representatives and city dignitaries. There are many examples of provincial institutions, valid even during many years of the eightenth century, which presented works by Lalande, Campra or, more rarely, Joseph Cassanéa de Mondonville. Be that as it may, the music of the cathedrals and large collegiate churches, as pillars of the Gallican church, focused largely on the French national aesthetic, as may be seen from the absence of Italian composers in almost all of the extant inventories.31 Less is known about the repertoire of provincial monasteries and convents. In the absence of a choral foundation, many of these institutions had to employ musicians from outside on an ad hoc basis, engaging the maître de chapelle of a cathedral or an important regional or national musical figure to organize their extraordinary ceremonies. Those celebrated in Toulouse in the eighteenth century, particularly by the confraternities of penitents, relied mostly on the music of local composers such as Jean Gilles, Thibault Aphrodisias or Joseph Valette de Montigny.32 Likewise in Dijon, the ceremonies to celebrate the birth of the Dauphin in 1729 provided various opportunities to hear Te Deum settings by Joseph Michel, not only 30 See Bernard Populus, L‘ancienne maîtrise de Langres: notes et documents sur la musique à la cathédrale, des origines à la Révolution et pendant la première partie du xixe siècle, Langres 1939, p. 40. 31 See Thierry Favier, Le motet à grand chœur. (as n. 16), pp. 379 – 404. 32 See Benoît Michel, “La musique des cérémonies extraordinaires toulousaines d‘après les relations de fêtes éditées dans cette ville aux xviie et xviiie siècles”, in: Les cérémonies extraordinaires du catholicisme baroque, ed. Bernard Dompnier, Clermont-Ferrand 2009, pp. 133 – 152.

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in the Sainte-Chapelle, where he was maître de musique, but also in the chapels of the Palais des Etats and the Treasury, as well as in the parish church of Notre-Dame and the Jacobin monastery.33 The repertoire of the major religious institutions did not include Italian music, at least as regards the extraordinary ceremonies. This situation did not change until the late eighteenth century when, exceptionally, the provincial choral foundations were in a position to provide opportunities for Italian composers who had chosen to go into exile. Among these was Antonio Lorenziti, son of an Italian musician in the service of the Prince of Orange at The Hague, who became maître de chapelle at the primatial (and later cathedral) church in Nancy from 1760 to 1789. An inventory of the music of the cathedral dating from 1791 shows that almost all the previous repertoire had been abandoned, to be replaced largely by up-to-date works of Lorenziti, plus some by former maîtres de chapelle of the institution such as Seurat and Henry.34 Although Lorenziti‘s appointment allowed him to perform his own works during the ceremonies, it does not appear to have favoured the inclusion of sacred music by other Italian composers, either in the cathedral repertoire or in that of the local concert society.35 The situation in some of the Parisian monastic institutions is better known and provides a glimpse at the many issues affecting the reception of Italian music. In 1644 Queen Anne of Austria and Mazarin encouraged the establishment in Paris of a congregation of Theatines. From the outset, this Roman order of „regular clerks“ demonstrated a strong affinity with the music of its native land. Thus in March and April 1661, when Mazarin‘s heart was transported to and eventually buried in the Theatine church of Sainte-Anne-la-Royale, much of the music was provided by the „sieur Cavallo“ [Francesco Cavalli] and his Italian singers.36 Moreover, there is reason to believe that the earliest of Charpentier‘s dramatic motets, Judith sive Bethulia liberata (H.391) and Historia Esther (H.396) – both strongly influenced by the model of Carissimi and other Italians – were commissioned for performance in this same church in the 1670s.37 During the following decade, from 1685 to 1687, the Theatines employed as a maître de chapelle the Italian composer Paolo Lorenzani, who had been unable 33 See Thierry Favier, “Die Ausstrahlung der Musik der Klöster und Konvente von Dijon im 18. Jahrhundert”, in: Oberschwäbische Klostermusik im europäischen Kontext, ed. Ulrich Siegele, Frankfurt am Main 2004, pp. 67 – 87. 34 See Yves Ferraton, “La maîtrise de la primatiale de Nancy aux xviie et xviiie siècles”, in: Musique en Lorraine: Contribution à l‘histoire de la musique à Nancy, xviie – xxe siècles, ed. Yves Ferraton, Paris 1994, pp. 103 – 126; René Depoutot, “Musique du chapitre, concerts, théâtre lyrique à Metz au xviiie siècle”, in: À quatre temps: la musique en Moselle des origines à nos jours: exposition, catalogue, ed. Marion Duvigneau, Metz 2002, pp. 23 – 40. The inventory, of 1791 is now in the Meurthe-et-Moselle departmental archives (1 Q 656, file, 1790 – 1794, document no 2); it has never been published. My thanks to René Depoutot for this information. 35 Both instrumental and vocal music by Lorenziti was performed at the concert society in Nancy in the 1770s; the latter included motets labelled “à grand chœur”. 36 Gazette de France, 1662, 41, p. 315 and 43, p. 332. 37 See Patricia M. Ranum, “Un ‘Foyer d‘italianisme’ chez les Guises: quelques réflexions sur les oratorios de Charpentier”, in: Marc-Antoine Charpentier: Un musicien retrouvé, ed. Catherine Cessac, Sprimont 2005, pp. 85 – 109.

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to continue his career at court after the queen‘s death. Lorenzani‘s music for the Salut (the Benediction of the Blessed Sacrament) at the Theatine church was inspired by Roman liturgical practices and genres including the oratorio, and was very popular with the public. But French eccle­siastical milieux took a different attitude towards such “theatrical” practices, and Lorenzani‘s initiative was condemned both by the royal power and by the moralists; the former wished to end the disturbance caused by the success of these Saluts, while the latter strongly disapproved the intrusion of operatic elements in church.38 Long before Lorenzani left for Rome in 1693 these ceremonies had evidently been suppressed, and there is no evidence that the Theatines engaged another Italian maître de chapelle thereafter. During his time at the French court, Lorenzani had performed motets before the king; and Ballard published some of them in 1693 when the composer was hoping to obtain the vacant position of sous-maître of the Chapelle Royale following the dismissal of Goupillet. These motets show Lorenzani‘s willingness to adapt his style to the French aesthetic. The same concern is found in the work of the Venetian composer Antonia Bembo, who had arrived at the French court around 1690. Her Te Deum and Sept Psaumes de David mis en air, written after 1705, reveal an acceptance of the prevailing French taste and its encomiastic nature.39 During the entire period the reigns of Louis XIV, XV and XVI, no other major religious institution in Paris engaged an Italian maître de musique. The largest congregation of Italian origin was the order of Jesuits, but its connection with Italian music was limited to the engagement of composers who had either been trained in Italy, such as Charpentier, or whose music was heavily influenced by the Italian style, such as Campra and Pierre-César Abeille. Yet the Jesuits also recruited composers like Henry Desmarets or Pascal Colasse who had been brought up in the French tradition. Likewise, the Sainte-Chapelle systematically employed Italophile French composers until the middle of the eighteenth century. René Ouvrard (1663 – 1679), who had been maître de musique at the Bordeaux and at the Narbonne Cathedrals and who, in the early 1660s, had composed dramatic motets in the Italian style; his equally Italophile successors included Marc-Antoine Charpentier (1698 – 1704), Nicolas Bernier (1704 – 1726) and his student François Lacroix (1726 – 1745). Even so, no works by Italian composers formed part of its repertoire.40 38 Among the hostile reactions, let us mention that of La Bruyère in Les Caractères (1688): “Quoi? parce qu‘on ne danse pas encore aux TT***, me forcera-t-on d‘appeler tout ce spectacle office d‘Eglise?” (“What! because they do not yet dance at the TT*** [Theatines] must I call all this spectacle a church service?”) (De quelques usages, 19). See Thierry Favier, “Aux origines du Concert spirituel: pratiques musicales et formes d‘appropriation de la musique dans les églises parisiennes de 1680 à 1725”, in: Organisateurs et formes d‘organisation du concert en Europe 1700 – 1920. Institutionnalisation et pratiques, ed. Hans Erich Bödeker, Patrice Veit, Michael Werner, Berlin 2008, pp. 297 – 319. On the influence of immigrant Italians on the organisation of the important religious ceremonies, see also Jérôme de La Gorce, Jean-Baptiste Lully, Paris 2002, p. 325. 39 The texts by Bembo are taken from Elisabeth-Sophie Chéron, Essay de psaumes et cantiques […], Paris 1694. See Claire Fontijn, The Life and Music of Antonia Padoani Bembo, Oxford 2006; Thierry Favier, Le chant des muses chrétiennes. Cantique spirituel et dévotion en France (1685 – 1715), Paris 2008. 40 François de Lacroix was appointed organist of the church of Saint-André-des-Arts in 1705. He published a collection of very Italianate motets in 1741 (MI. Recueil.72). See Nathalie Berton, Catalogue (as n. 22), p. 1192.

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These institutions, often patronised by members of the royal family, were called upon in particular for the public ceremonies that were ordered by the king on the occasion of important dynastic events. Central to such events was the performance of a motet à grand chœur, or the Te Deum, Exaudiat or De profundis. The duty to show allegiance to the crown which justified the use of this typically French genre did not, however, exclude an interest in Italian motets. This is revealed in two manuscript collections from the monastery of the Augustins Déchaussés at Notre-Dame-des-Victoires, where Lully was buried.41 These manuscripts, copied around 1680 – 1690, contain motets by an earlier generation of French composers, Veillot, Etienne Moulinié, Guillaume Bouzignac, Du Mont and Robert; yet they also include a mass by Bassani and several motets by such famous Italian masters as Alessandro Stradella, Giacomo Carissimi, Alessandro Melani and Giovanni Legrenzi.42 With the exception of Carissimi, whose motets circulated widely in Europe as manuscripts, none of these composers is represented in the collection of the Chapelle Royale, though they were all active in the second half of the seventeenth century. Indeed one of them, Alessandro Melani, travelled to France with his brother Atto. There is nothing to indicate that this Augusti­nian monastery continued to take an interest in Italian music. Nevertheless, these surviving manuscripts reveal a contrast between a French repertory designed for special ceremonies and requiring large forces and an Italian repertory of motets for small forces intended exclusively for the use of the community or even for just a few of its members.

The Concert Spirituel The first viable concert institution in France, the Concert Spirituel was founded in 1725 by Anne Danican Philidor, son of the king‘s music librarian, André Danican Philidor l‘aîné, and an instrumentalist in the Musique du Roi. Although the institution had not the direct benefit of a royal privilege, it came under the patronage of Louis XV, who allowed its concerts to be held in the Salle des Suisses at the Tuileries Palace. Since the Académie Royale de Musique (the Opéra) owned a royal privilege granting it a musical monopoly, Philidor was obliged to contract an agreement with the Opéra management. In return for an annual fee, the Concert Spirituel was allowed to give performances, but only when the Académie Royale was closed (i.e. on the major religious festivals). More­ over, its repertoire was to include no settings of French texts or operatic pieces (“aucune musique française ny morceau d‘opéra”)..43 From 1725 to 1790 the Concert Spirituel organised between 20 and 30 concerts a year, consisting mostly of sacred and instrumental music. From the outset, the motets of Lalande featured prominently in its repertoire and were

41 Bibliothèque Nationale de France, manuscripts department, Latin collection, 16830 – 16831. 42 See John Burke, “Sacred Music at Notre-Dame-des-Victoires under Mazarin and Louis XIV”, in: Recherches sur musique française classique 20 (1981), pp. 19 – 44. 43 Constant Pierre, Histoire du Concert spirituel 1725 – 1790, Paris 1975, reprint Paris 2000, p. 15. This clause was abandoned in the following years.

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regularly performed there until 1771, together with motets à grand chœur by other French composers.44 As the table below shows, Italian motets were not presented at the Concert Spirituel until 1753, when they generally replaced the opening motet à grand chœur. 1728 – 173345 Directors

Philidor (Anne Danican), then Simart (Pierre) and Mouret (Jean-Joseph)

French motets à grand chœur

Lalande (Michel Richard de): 30 – 80 motets per year

Italian motets

none

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1734 – 1748 Directors

Académie Royale de Musique

French motets à grand chœur

Lalande (Michel Richard de): c. 15 per year Mondonville (Jean Joseph Cassanéa de): 7 – 21 per year

Italian motets

none

1748–1762 Directors

Royer (Joseph Nicolas Pancrace) and Capperan (Gabriel).

French motets à grand chœur

Lalande (Michel Richard de): c. 8 motets per year. Mondonville (Jean Joseph Cassanéa de): 12 – 28 motets per year.

Italian motets

Adolfati (Andrea), In exitu, 1748 (2); Miserere, 1749 (2). Allegri (Gregorio), Miserere, 1756 (1). Pergolesi (Giovanni Battista), Stabat mater, c. 4 per year from 1753.

1762 – 1773 Directors

Dauvergne (Antoine), Capperan (Gabriel) and Joliveau (Nicolas René); then Dauvergne (Antoine) and Berton (Pierre Montan)

French motets à grand chœur

Dauvergne (Antoine), c. 10 per year Giroust (François), c. 5 per year Lalande (Michel Richard de), c. 5 per year

Italian motets

Feo (Francesco), Confitebor, 1762 (2). Leo (Leonardo), Dixit Dominus, 1763 (3); 1764 (2). Pergolesi (Giovanni Battista), Stabat mater, c. 4 per year.

1773 – 1790 Directors

Gaviniès (Pierre), Leduc (Simon) and Legros (Joseph)

French motets à grand chœur

Gossec (François Joseph), c. 2 Floquet (Étienne Joseph), c. 1 Rigel (Henri Joseph), 1

44 The programmes adopted an arch structure, with two motets à grand chœur framing a middle section consisting of short pieces of instrumental music and motets sung by soloists. From 1748, a first part devoted to the “symphony” preceded this arch structure, which remained unchanged. Not until the 1780s did the opening motet tend to disappear, while the second one was often replaced by an oratorio or by Joseph Haydn‘s Stabat mater. See Thierry Favier, Le motet à grand chœur. Gloria in Gallia Deo, Paris 2009, pp. 323 – 378. 45 Number of performance in brackets if appropriate.

Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France (1661 – 1789) 369 Italian motets

Anfossi (Pasquale), Lauda Sion, 1777 (1). Aurisicchio (Antonio), Confitebor, 1773 (2); 1776 (1). Bonesi (Barnaba), “motet”, 1780 (1); Nisi Dominus, 1782 (1). Cambini (Giuseppe Maria), Miserere, 1775 (2), 1776 (1). Durante (Francesco), Dixit Dominus, 1773 (3), 1774 (1), 1775 (2). Hasse (Johann Adolph), Miserere, 1773 (1); Regina caeli, 1782 (2), 1783 (1). Jommelli (Niccolò), Veni sancte spiritus, 1780 (1), 1782 (1). Pergolesi (Giovanni Battista), Stabat mater, c. 2 per year Piccinni (Niccolò), “motet”, 1777 (1), 1781 (1). Prati (Alesio), “new motet”, 1777 (1), 1779 (1). Rispoli (Salvatore), Stabat mater, 1786 (1), 1787 (2), 1788 (1) Sacchini (Antonio), Qui habitat in adjutorio, 1777 (1); Cum invocarem, 1777 (1); “new motet”, 1777 (1); Qui habitat in adjutorio, 1778 (1); In te Domine speravi, 1778 (1), Cum invocarem, 1778  (1); “motet”, 1779 (1); “new motet”, 1780 (1); Qui habitat in adjutorio, 1781 (1); “motet”, 1784 (1). Signor ***, “motet”, 1777 (1). Vito, Stabat mater, 1781 (1). Zingarelli (Niccolò Antonio), In exitu, 1789 (1).

Tab. 1: Italian motets at the Concert Spirituel (1725 – 1790), according to Constant Pierre.46

There were, however, specific conditions governing the presentation of Italian motets. With the exception of Pergolesi‘s Stabat mater, which became one of the touchstones of the Concert Spirituel repertoire and was performed regularly there from 1753 until 1790, each Italian motet was presented only once or twice in quick succession. Three different periods may be distinguished, corresponding to the different directorships of the institution. Under Royer and Capperan only three Italian motets were performed: two psalms by the Venetian Andrea Adolfati, maestro di cappella of the Basilica della Santissima Annunziata del Vastato in Genoa, and Allegri‘s Miserere from the previous century. The second period saw the introduction of motets by two composers of the first Neapolitan school, Feo and Leo, both born in the early 1690s. It was at this time, too, that concert programmes began to include Pergolesi‘s Stabat mater, which was already circulating internationally and had been first published in London in 1749. The third period, under Gaviniès, Leduc and Legros, corresponds to the adoption of a much wider repertoire at the Concert Spirituel, taking in the most modern German and Italian composers. The latter included Anfossi, Cambini and Sacchini, whose operas were also being presented in Paris at that time. Comparatively speaking, Italian motets were programmed much less frequently than secular Italian instrumental music and arias. Under Royer‘s direction, concertos and sonatas by Antonio Vivaldi and Giuseppe Tartini were played regularly, sometimes by Italian violinists, and during the 1750s Italian arias were sung at every concert. These were generally performed by foreign singers, large numbers of whom were welcomed at the Concert Spirituel until 1762, among them the castrati Caffarelli, Gaetano Gaetano Guadagni and Ranieri, and the female singers Regina Mingotti, Violante Vestris, Giulia Frasi and Dorotea Wendling. The success of Italian arias and instrumental music thus depended for the most part on performances by musicians presenting the most modern repertoire. Before the early 1770s, by contrast, it was only a sort of old-fashioned Italian sacred music, written in the galant style, that found a place in the Concert Spirituel, as we see from the comment in the Mercure de France on Leonardo Leo‘s Dixit Dominus, given in 1763: 46 Constant Pierre, Histoire (as n. 43).

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[le Dixit Dominus de Leo] porte le caractère du temps où la Musique Italienne n‘avoit pas encore été corrompue par l‘extravagance des saillies & par la surabondante affluence des tours d‘exécution.47

The programming of Italian motets at the Concert Spirituel thus came up against two different obstacles. First, the typical manner of Italian singing and playing, while acceptable in secular music, was not in keeping with the ideal of propriety that was expected in the performance of sacred works. Secondly, the Italian motet found itself in competition with the motet à grand chœur which, through its aesthetic and history, reflected the institution‘s allegiance to royal power and guaranteed its respected place in the repertory, notably through the many performances of motets by Lalande or Mondonville composed for the Chapelle Royale. The evolution of musical tastes and the autonomisation of the cultural field that characterised the last decades of the eighteenth century led to a weakening of the Concert Spirituel‘s link with the French monarchy, notably in its identity and national dimension. The decline in the number of performances of grands motets at the Concert Spirituel, from about 30 – 40 per year in the 1730s to fewer than ten after 1773, was the main consequence of that deve­lopment and coincided with programmes expanding to include the most modern Italian motets.48

Provincial Music Academies Of the thirty or so académies de musique that sprang up in the French provinces during the first half of the eighteenth century, most had been granted letters-patent by the king and were placed under the patronage of his representative, the governor or intendant of the province. However, these académies were not subject to the constraints affecting the Concert Spirituel programmes. As a result, the concerts they organised once or twice a week were wide open to French secular music. Despite some differences in content and arrangement, the programmes of the académies de musique consisted mainly of acts taken from tragédies en musique or opéras-ballets, plus a single motet. This last was invariably a motet à grand chœur either by a local composer or, more often, by one of the great masters of the genre from Paris or Versailles, in particular Lalande, whose motets were performed all over the country until the early 1770s. The motet à grand chœur, which followed the Concert Spirituel model in being placed at the end of the programme, was the only sacred piece in these pro­grammes. This was not because of any religious obligation, however: the motet fulfilled a ritual and identity 47 “[Leo‘s Dixit Dominus] bears the character of the time when Italian music had not yet been tainted by extravagant outbursts of passion or overabundant displays of technical skill.”, in: Mercure de France, April II, 1763, p. 174. 48 Even more significantly, the motet à grand chœur traditionally presented by the Académie Française and the Académie des Inscriptions et Belles-Lettres during the mass for the feast of St Louis, in the purest Chapelle Royale tradition, was sometimes replaced by an Italian motet from 1778 onwards. Camille Doucet and Gaston Boissier (ed.), Les Registres de l‘Académie française, 1672 – 1793, Paris 1895, vol. 3, p. 441 (25 August 1778, motet by Alesio Prati), p. 475 (25 August 1780, motet by Bonezi), p. 546 (25 August 1784, motet by Piccini).

Reflections on the Chronology of the Circulation of the Italian Motet in France (1661 – 1789) 371

function, which was reinforced, as at the Concert Spirituel, by the repeated programming of old motets and the permanence of the symbolic representations attached to them. While some académies regularly presented Italian arias and, more rarely, Italian concertos and sonatas, the inclusion in concert programmes of the motet à grand chœur precluded the integration of Italian motets.49 In the early 1770s, the motet à grand chœur was still a central feature in the programs of several provincial académies. Within a few years, however, those concert societies which were still active had practically ceased presenting sacred music altogether, apart from a few oratorios and key works such as the Stabat mater settings by Pergolesi or Joseph Haydn. In the years 1787 – 1789, in Rheims the concert society still occasionally presented a few motets by local composers or oratorios on French texts. But the surviving programmes for the public concerts organised by the Musée de Bordeaux between 1783 and 1792 reveal that the sacred repertoire had been almost completely abandoned there.50 The decline of the motet à grand chœur in provincial concerts, unlike that at the Concert Spirituel, had not encouraged the performance of Italian motets, even though the French and Italian operas of Piccinni, Pai­ siello and Sacchini, for example, were sometimes featured prominently in the programmes.

Private collections The inventories of private music libraries, whether domestic catalogues, sales catalogues or posthumous inventories, give us direct access to the sources that music lovers had at their disposal. Free from the obligations of performance and allegiance that characterised institu­ tional musical practices, several of these collections assembled by music lovers reveal a certain independence from the “absolute” conception of musical taste that was still prevalent in the first half of the eighteenth century, and thus Italian music sometimes features prominently. At a time when noble patronage was becoming autonomous, the catalogues of aristocratic libraries in the second half of the eighteenth century offer a glimpse at the part Italian music played in the private or semi-private concerts often supported by the aristocracy. However, these catalogues pose various methodological problems, and therefore we must be cautious in interpreting such evidence. Apart from the inaccuracy of certain references and the possibility that some catalogues are incomplete, the main difficulties stem primarily from the fact that the mentionning of a given score tells us little or nothing about the probably practical use of that score.51 Furthermore, since no general inventory of 49 Article X in the statutes of the concert society in Lille, published in 1726, stipulates: “la musique sera partie françoise et partie italienne et autant qu‘il sera possible, elle sera terminée par un motet” [the music will be partly French and partly Italian and, insofar as possible, will end with a motet]. Quoted by Louis Lefebvre, Le concert de Lille: 1726 – 1816, Lille 1908, pp. 149 – 152. 50 See Odile Touzet and Patrick Taïeb, “Programmes musicaux des séances publiques du Musée de Bor­ deaux”, in: Le Musée de Bordeaux et la musique 1783 – 1793, ed. Patrick Taïeb, Natalie Morel-Borotra and Jean Gribenski, Mont-Saint-Aignan 2005, pp. 197 – 218. 51 For example, the posthumous inventory of the works of Marie-Charles-Louis d‘Albert, duc de Luynes et Chevreuse, drawn up on 24 October 1771, mentions 16 musical items, including: “no 128: Motets

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these catalogues has ever been drawn up, we do not know how representative the few available examples may be. It is not the intention here to discuss the role of Italian sacred music in the evolution of French musical tastes, but rather to compare the catalogues of certain Italophile music collectors from a chronological perspective. The Abbé Mathieu‘s collection Nicolas Mathieu was the creator of one of the main centres in Paris for the dissemination of Italian music during the late seventeenth century. From 1681 until his death in 1706, he was curé of the church of Saint-André-des-Arts, near the Louvre, where the organist was François de La Croix. Mathieu gathered together a circle of devotees of Italian music with the aim of organising concerts, and it was at these that the sonatas of Corelli were heard for the first time in France.52 His music collection, as the posthumous inventory reveals, consisted exclusively of sacred music, especially Italian. The fact that the 30 or so volumes of motets are listed simply as being “from Italy”, “by various Italian authors” or “by all the good authors of Italy” precludes a detailed analysis of the collection, but it is worth noting that it included several editions by Roman composers or ones attached to the Papal States, not only Paolo Lorenzani and Alessandro Melani who had both worked in France, but also Giovanni Battista Bassani, Giovanni Paolo Colonna and Francesco Foggia. These were either longestablished composers or were deceased or close to retirement, hence their works represent the mid-seventeenth-century aesthetic rather than that of a new generation (though we cannot be sure that the latter were not represented in the anonymous batches). The Brossard collection Sébastien de Brossard‘s music collection was assembled during the 37 years between the composer‘s appointment as maître de chapelle at Strasbourg Cathedral in 1687 and his donation of the collection to the Bibliothèque Royale in 1724.53 Various studies have already revealed the exceptional richness of this collection, but also various gaps.54 Italian sacred music is represented by the great german anthologies published by Abraham Schade, Caspar Vincentius, Erhard Bodenschatz and Johann Donfrid between 1611 and 1627.55 Brossard de differens auteurs francois et italiens in folio et in quarto gravés et manuscrits prisés quinze livres” [Motets by different French and Italian authors in folio and in quarto, printed and manuscript, valued at 15 livres]; see David Hennebelle, De Lully à Mozart, (as n. 17), p. 216. 52 See Michel Le Moël, “Un foyer d‘italianisme à la fin du xviie siècle: Nicolas Mathieu, curé de SaintAndré-des-Arts”, in: Recherches sur la musique française classique 3 (1963), pp. 43 – 48. 53 This catalogue has been published in Yolande de Brossard (ed.), La collection Sébastien de Brossard 1655 – 1730: catalogue (Département de la Musique, Rés. Vm8. 20), Paris 1994. 54 See Jean Lionnet, “Les limites du ‘goût italien’ de Sébastien de Brossard”, in: Le concert des muses: promenade musicale dans le baroque français, ed. Jean Lionnet, Versailles and Paris 1997, pp. 117 – 124. 55 Abraham Schade (ed.), Pomptuarii musici, saccras harmonias sive motetas [...], Strasbourg 1611; Caspar Vincentius (ed.), Promptuarii musici, sacras harmonias [...], Strasbourg 1617; Erhard Bodenschatz (ed.),

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also possessed a few manuscript volumes of motets by Giacomo Carissimi, Bonifacio Graziani and Giovanni Legrenzi, but especially printed collections from the years 1645 to 1680, which he considered to be the golden age of sacred music. In being dependent on channels for the distribution of printed music, Brossard‘s collection of Italian motets testifies not only to the difficulty of obtaining Roman editions of the mid-seventeenth-century (he acquired very few) but also to the decline of publishing in Venice after 1670. Furthermore, his catalogue includes few collections of psalms. Only two of the four books by Bassani listed by Brossard (out of the 17 by this composer published between 1690 and 1707) are devoted to psalms.56 Moreover, Brossard possessed Agostino Steffani‘s Sacer Ianus quadrifrons (Munich, 1685) but not his book Psalmodia vespertina (Rome, 1674). Of the major Venetian composers, Brossard had acquired only one volume of motets by Natale Monferrato (1681), even though the latter had published six books of psalm settings between 1647 and 1678. Simi­ larly, Brossard owned only two publications by Legrenzi, his Acclamationi divote (1670) and the second book of Sentimenti devoti (1683) but not the Salmi a cinque (1657) nor Messa e psalmi a due chori (1667).57 One cannot help being struck by the correlation between the under-representation of Italian psalm settings in the Brossard collection and the status which the psalter had acquired in French sacred music. The Book of Psalms had become the main literary source of the motet à grand chœur, supplanting the other biblical texts, centonizations and neo-Latin poetry that had been fashionable in the 1670s. Even more significantly, Sébastien de Brossard‘s Italian collection was old-fashioned. It contains no motets by major composers of the years 1680 – 1720. There is nothing, for example, by the Venetians who worked at San Marco, such as Gian Domenico Partenio (before 1650 – 1701), Antonio Biffi (1666 – 1733), Carlo Francesco Pollarolo (1653 – 1723) and his son Antonio (1676 – 1746), or Antonio Vivaldi (1678 – 1741). It also lacks works by renowned composers who were attracted to Rome by the dynamism of the city‘s patronage, such as Giovanni Bononcini (1670 – 1747), Alessandro Scarlatti (1660 – 1725), Antonio Caldara (c. 1671 – 1736), Francesco Mancini (1672 – 1737) and Georg Friedrich Händel (1685 – 1759). The fact that most music by such composers remained in manuscript does not fully explain such deficiencies. After all, the motets of some of those composers circulated widely in Europe in this form. Furthermore, the few books of Italian motets printed during those years, notably Caldara‘s famous Motetti a 2 e 3 voci (Bologna, 1715) and his Concerti sacri, motetti […] e Salve regina (Naples, 1702; Amsterdam, 1707), are not included.

Florilegium portense, Leipzig 1618; Florilegii musici portensis, sacras harmonias sive potetas […], Leipzig 1621; Johann Donfrid (ed.), Promptuarii musici, concentus ecclesiasticos […], Strasbourg 1622, reprint Strasbourg 1627. 56 These are the Salmi di compieta […], Venice 1697; and the Salmi concertati […], Venice 1699. 57 Likewise, Brossard possessed neither Francesco Cavalli‘s Musiche sacre concernenti messa, e salmi concertati con istromenti, imni, antifone et sonate, Venice 1656, nor Antonio Sartorio‘s Salmi a due chori ma accomodati all‘uso della serenissima capella ducale di S Marco, Venice 1680.

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Venice

Agazzari (Agostino), Psalmorum ac Magnificat […], Amadino, 1615. Bassani (Giovanni Battista), Salmi di compieta [...], Sala, 1697. Bernardi (Stefano), Psalmi […], Vincenti, 1624; Psalmi […], Vincenti, 1627. Bruschi (Giulio), Modulatio Davidica […], Vincenti, 1622. Cazzati (Maurizio), Motetti a voce sola […], op. 65, Sala, 1685. Cifra (Antonio), Motecta […], Vincenti, 1609 – 1611. Corsi (Bernardo), Sacra omnium solemnitatum […], Gardano [for Bartlomeo Magni], 1617. Ghizzolo (Giovanni), Salmi, messa, et falsi bordoni […], Vincenti, 1624. Grandi (Alessandro), Motetti a una et due voci […], Vincenti, 1626; Il primo libro de motetti [...], Vincenti, 1628; secondo libro, 1628; terzo libro,1636. Lambardi (Girolamo), Contrapunta in Introitus missarum […], Gardano [for Bartolomeo Magni], 1617. Legrenzi (Giovanni), Sentimenti devoti […] secondo libro, Sala, 1683. Leoni (Leone), Omnium solemnitatum psalmodia […], Magni, 1623. Mattioli (Andrea), Harmonia sacra […], Gardano, 1675. Monferrato (Natale), Motetti […], Sala, 1681. Pace (Pietro), Salmi […], Vincenti, 1619. Scarabelli (Damiano), Magnificat […], Amadino, 1597.

Rome

Cesi (Pietro), Messa a quattro con altre sacre cansoni […], Fei, 1659. Melani (Alessandro), Delectus sacrorum concentuum […], Mascardi, 1673; Concerti spirituali […], op. 3, Mascardi, 1682. Severi (Francesco), Salmi […], Borboni, 1615.

Milan

Casati (Teodoro), Concerti ecclesiastici […], Camagni, 1668. Cozzi (Carlo), Salmi per la compieta […], Rolla, 1649. Grancini (Michel’Angelo), Novelli fiori ecclesiastici […], Rolla, 1643. Grossi (Giovanni Antonio), Celeste tesoro […], Camagni, 1664.

Bologna

Bassani (Giovanni Battista), Metri sacri resi armonici in motetti […], op. 8, Silvani, Monti, 1690; Concerti sacri […], Silvani, Berardi (Angelo), Salmi concertati […], Monti, 1668. Cazzati (Maurizio), Salmi per tutto l‘anno […], Monti, 1681. Cherici (Sebastiano), Compieta concertata […], Monti, 1686. Colonna (Giovanni Paolo), Motetti sacri […], Monti, 1681; Sacre Lamentationi […], Monti, 1689; Compieta […], Monti, 1687; Messa e salmi concertati […], Silvani, 1691. Gastoldi (Giovanni Giacomo), Salmi per tutto l‘anno […], Monti, 1673. Legrenzi (Giovanni), Acclamationi divote […], Monti, 1670. Leonarda (Isabella), Motteti […], Monti, 1677; Motetti […], op. 13, Monti, 1687; Salmi concertati […], Silvani, 1698. Macchetti (Teofilo), Sacri concerti di salmi […], Monti, 1687. Monti, 1692, Motetti sacri […], op. 1, Silvani, 1698; Salmi concertati […], Silvani, 1699. Penna (Lorenzo), Il sacro Parnaso delli salmi festivi […], Monti, 1677. Scorpione (Domenico), Compieta da capella […], Monti, 1672. Tarditi (Orazio), Motetti […], op. 40, Monti, 1670.

Published outside Italy

Cazzati (Maurizio), Motetti e hymni [...], Antwerp: Phalese, 1658; Tributo di sacri concerti […], Antwerp: Phalese, 1663. Anon., Messa e salmi […], Augsburg: A. Erfurt, G. Weh, 1662; Motetti […], Antwerp: Potter, 1682. Della Porta (Francesco), Libri primi cantionum […], Antwerp: M. Phalese, 1650; Cantiones […], op. 3, Antwerp: M. Phalese, 1650; Motetta […], Antwerp: Phalese, 1654. Finatti (Giovanni Petro), Missae, motetta, litaniae […], Antwerp: M. Phalese, 1652. Grossi (Carlo), Moderne […], Antwerp: Potter, 1680. Steffani (Agostino), Sacer Ianus […], Munich: Jädklin, 1685. Vignali (Francesco), Sacri concentus […], Überlingen: Breni, 1671.

Tab. 2: Italian sacred music in the Brossard collection (1724).

The Ballard collection The private collection of the Ballard family of music publishers, inventoried in 1750, included many books of Italian sacred music, even though the firm itself, which possessed an

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exclusive royal privilege, did not publish such works. The Ballards were very keen on Italian music, and it is likely that they helped the dissemination of this repertory in France. The Ballard collection presents characteristics similar to those of Brossard‘s. Most of the Italian volumes were published in Venice, but some came from Bologna, Modena and (more rarely) Rome too and dated from the years 1675 – 1705. We find books by the Venetian composers Bassani and Legrenzi, as in the Brossard collection, but also Antonio Sartorio‘s Salmi a otto voci a due chori (Venice, 1680). Likewise, the maestri of San Marco are absent, as the major composers of the first half of the eighteenth century. Venice

Bassani (Giovanni Battista), Salmi di compieta […], op. 10, Sala, 1697; Salmi concertati à 3, 4 et 5 […], op. 21, Sala, 1698; Harmonici di Davide salmi concertati […], op. 9, Sala, 1698; Lacrime harmoniche il vespero de deffuncti […], op. 22, Sala, 1699; Motetti a voce sola […], op. 12, Sala, 1700; Repons et l‘office des morts […], Sala, 1700; Le Note lugubre concertate ne responsorri d‘ell l‘officio de morti […], op. 23, Sala, 1700; Davidde harmonico à 2 et 3 voix […], op. 24, Sala, 1700; Antiphone sacre a voce sola […], op. 26, Sala, 1701; Moteti sacre a voce sola […], op. 27, Sala, 1707. Brevi (Giovanni Battista), Motteti […], op. 2, Sala, 1692. Bondioli (Giacinto), Salmi intieri a quattro voci […]¸op. 4, Gardano and Magni, 1622. Legrenzi (Giovanni), Messa et salmi a due chori con stromenti […], op. 9, Gardano, 1667; Acclamationi divote […], Sala, 1688 (reprint of Monti, 1670); Lamentationi divote […], op. 11, Sala, 1688; Motteti sacri a voce sola con tre strumenti […]¸ Sala, 1692. Rossi (Francesco), Salmi et missa […], Sala, 1688. Sartorio (Antonio), Salmi a otto voci e due chore [...], Sala, 1680.

Bologna

Albergati (Pirro), Messa e psalmi concertati […], op. 4, Monti, 1687. Bassani (Giovanni Battista), Metri sacri in motetti a voce sola […], op. 8, Silvani, 1698. Colonna (Giovanni Paolo), Salmi brevi […], Monti, 1681; Litanie con le quattro antifone […], op. 4, Monti, 1682; Messa salmi et responsori […], op. 6, Monti, 1682; Motetti sacri […], op. 2, Monti, 1691. Ghezzi (Ippolito), Oratorii sacri a tre voce […], op. 3, Silvani, 1700. Filippini (Stefano), Salmi concertati a tre voci […], Monti, 1682. Stiava da Luca (Francesco Maria), Salmi concerti […], Monti, 1694. Urio (Francesco Antonio), Salmi concertati […], Silvani, 1697.

Modena

Bassani (Giovanni Battista), Harmonice festive, Motetti a voce sola [...], op. 13, Silvani, 1696; Concerti sacri, motetti [...], op. 11, Silvani, 1697. Battistini (Giacomo), Armonie sacre […], Silvani, 1689. Cherici (Sebastiano), Harmonia di devoti cantici […], op. 2, Silvani, 1698. Colonna (Giovanni Paolo), Il secondo libro de salmi brevi […], op. 7, Silvani, 1686; Compieta […], op. 8, Silvani, 1687; Sacri lamentationi a voce sola […], Silvani, 1689; Missa et salmi concertati […], op. 10, Silvani, 1691; Salmi otto vocibus [...], op. 11, Silvani, 1694; Salmi ad versperas [...], op. 12, Silvani, 1694; Motetti [...], op. 3, Monti, 1698. Vitali (Giovanni Battista), Himni sacri, Modena, 1684.

Rome

Gratiani (Bonifatio), Motetti a 2, 3, 4 e 5 voci […], op. 24, Rome: Mascardi, 1676. Melani (Alessandro), Motetti a 1, 2 e 5 voci […], Rome: Mascardi, 1698.

Publications outside Italy

Bernabei (Ercole), Sacre modulationes […], Munich: Straub, 1691. Bianchi (Andrea), Motetti a 4 voci […], Antwerp: Phalese, 1626. Cornetti (Paolo), Sacrae cantiones, Antwerp: successors of Phalese, 1645. Fiocco (Pietro Antonio), Sacri concerti […], op. 1, Antwerp: Aertssens, 1691. Grandi (Alessandro), Liber sextus Mottetorum […], op. 20, Antwerp: successors of Phalese, 1640. Philips (Peter), Missa al psalmi […], Antwerp: Phalese, 1631. Rondino (Crisostomo), Cantiones sacrae […], Antwerp: Phalese, 1624.

Tab. 3: Italian sacred music listed in the inventory of the Ballard collection (1750).58

58 See Laurent Guillo, “La bibliothèque de musique des Ballard d‘après l‘inventaire de 1750 et les notes de Sébastien de Brossard”, in: Revue de musicologie 90/2 (2004), pp. 283 – 345 (first part); 91/1 (2005), pp. 195 – 232 (second part).

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The Bouhier collection The Bouhier library, built up over several generations, was one of the most important French aristocratic collections of the first half of the eighteenth century. It consisted of some 30.000 items, including 400 volumes of music.59 Most of the music collection was assembled by Jean IV Bouhier de Savigny (1673 – 1746), first président to the Parlement of Burgundy. As well as being a member of the Académie Française and a correspondant of Voltaire, Jean Bouhier was a major figure in the cultural and musical life of Dijon, and no doubt played a part in directing the Dijon Académie de Musique, founded in 1727. The Italian section of his music library is more up-to-date than those previously discussed, in that it focused on instrumental music of the 1690s to 1740s, with emphasis on the concerted music, sonatas and concertos of Giuseppe Tartini, Giovanni Battista Locatelli, Antonio Vivaldi, Giuseppe Valentini and Tomaso Giovanni Albinoni. Eight books of Italian sacred music are listed in Jean Bouhier‘s carefully compiled catalogue.60 Most of these were published in Bologna between 1669 and 1693 by Giovanni Paolo Colonna, Isabella Leonardo and Pirro Albergati. Pergolesi‘s Stabat mater is the sole representative of Italian sacred music of the first half of the eighteenth century; no other composers of the Neapolitan school are included. These two observations – the emphasis on Italian instrumental music and the almost total exclusion of up-to-date Italian sacred music – also apply to other private collections assembled at that time by keen Italophiles, as witness the libraries of François Thévenard, a singer at the Académie Royale de Musique, and of Louis duc de Villars-Brancas, assembled by 1750.61 Aristocratic collections of the late eighteenth century Compared with the first half of the century, a more significant number of inventories of private music collections compiled after 1750 have survived. In addition to domestic and commercial catalogues, inventories of the music seized from emigrants and convicts, drawn up by the Commission Temporaire des Arts in 1794, provide valuable insight into the collections of aristocratic families of the Faubourg Saint-Germain and the Luxembourg and Palais-Royal quarters of Paris.62 Such documents confirm the secularisation of culture that 59 This figure excludes theoretical treatises and opera librettos. 60 See Jean Bouhier, Bibliotheca Buheriana, Bibliothèque municipale de Troyes, ms 17, 1024 f. 61 On the Thévenard collection, see Albert Cohen, “Un cabinet de musique: The library of an eighteenth-century musician”, in: Quarterly journal of the Music Library Association 59/1 2002, pp. 20 – 37. The music library of Louis-Félicité de Brancas, comte de Lauraguais (1733 – 1824), has been analysed by David Hennebelle, De Lully à Mozart, (as n. 17), p. 252. It consisted of 294 items dating from before 1750, 16 per cent of them from the Italian repertoire – early eighteenth-century arias and cantatas, violin sonatas by Michele Mascitti and Francesco Manfredini, harpsichord sonatas by Domenico Scarlatti, Galuppi, Giovanni Mossi and Domenico Alberti. 62 This task was entrusted by the Commission to the Italian violinist Antonio Bartolomeo Bruni (1715 – 1821), who had arrived in France in 1780.

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had come about in the second half of the eighteenth century, and most of them mention very little sacred music. Of the collections orientated towards Italian opera, some contain a few sacred works, thereby revealing a complete reversal of the usual situation as regards French and Italian music of this kind. The inventory of the collection belonging to Baron Melchior Grimm (1723 – 1807) lists several motets by Hasse, a Te Deum by Carl Heinrich Graun and Haydn‘s Stabat mater, but only a single Italian sacred piece: a manuscript copy of a Miserere by Jommelli.63 Like­wise, sacred music accounts for less than 2 per cent of the collection of Jean-Baptiste-Charles-François Clermont d‘Amboise (1728  –  1792), that is to say, 13 references. More than 75 per cent of this collection, assembled by one of the great Parisian aristocratic families, consists of Italian cantatas, arias and operas; it nevertheless includes motets by Leonardo Leo and Pergolesi, and motets and masses by Jommelli and Durante, as well as one French motet, Jean-François Lesueur‘s Paratum cor meum.64 The relative proportions of French and Italian sacred works in the collection of Claude-François-Marie Rigoley, Comte d‘Ogny (1757 – 1790), intendant général des postes and one of the initiators of the Concert de la Loge Olympique in Paris, are even more unbalanced. French music is represented by Gossec‘s Messe des morts, a hymn and a “motet français” by André-Étienne Le Preux, another anonymous “motet français” and Henri-Joseph Rigel‘s oratorio Jephté. There are thus no psalm settings in the motet à grand chœur tradition. On the other hand, nine of the twelve Italian items are motets, masses or oratorios by Jommelli and Sacchini. The collection of Jacques Joseph François de Voguë, bishop of Dijon (1740 – 1787) and a great opera lover, confirms that trend. With the exception of a few works by FrançoisJoseph Gossec and Honoré Langlé, sacred music is represented solely by the works of modern Italians. Pergolesi‘s Stabat mater is the earliest work of this type in Bouhier‘s collection, the others are psalms by Francesco Maria Zanetti (1737  –  1788), Quirino Gasparini (1721 – 1778), Pasquale Anfossi (1727 – 1797), Antonio Aurisicchio (c. 1710 – 1781), Pietro [Pier, Piero] Alessandro Guglielmi (1728 – 1804), Giovanni Battista Borghi (1738 – 1796), Gian Francesco de Majo (1732 – 1770) and Giuseppe Gazza­niga (1743 – 1818). Most of these composers belonged to the Neapolitan school, and their works, apart from the Stabat mater settings of Pergolesi and Gasparini and possibly Jommelli‘s Miserere, were only available in manuscript form.

63 See Catherine Massip, “La bibliothèque musicale du baron Grimm”, in: D‘un opérà l‘autre: Hommage à Jean Mongrédien, ed. Jean Gribenski, Marie-Claire Mussat and Herbert Schneider, Paris 1996, pp. 189 – 205. 64 See David Hennebelle, De Lully à Mozart (as n. 17), pp. 253 – 254. The library had been built up over several generations.

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Italian sacred works listed in the inventory of the Voguë collection (1787):65 Stabat mater by Pergolesi66 Stabat Mater by [Quirino] Gasparini67 Dies irae for 4 voices by Ricci68, engraved scores, 1 vol., green parchment binding Messe à cinq voix & à symphonie by Anfossi, manuscript score, 1 vol., hard cover Credo, à quatre voix & symphonie by Aurisicchio, 1 vol. Domine ad adjuvandum by the same, 1 vol. Another Domine ad adjuvandum by the same, 1 vol Dixit Dominus for 4 voices by Guglielmi Confitebor tibi Domine by [G. B.] Borghi, 1 vol. Laudate pueri Dominum for 5 voices by Aurisicchio, 1 volume all scores à grande symphonie, manuscript, hard-cover binding. Beatus vir qui timet for 5 voices by Anfossi Laetatus sum for 4 voices by Aurisicchio Domine ad adjuvandum me festina for 5 voices by Sacchini Qui habitat for 5 voices by the same Salve Regina by Francesco de Maïo [Gian Francesco di Majo] Litanies for 4 voices by Gazaniga Miserere mei Deus by Jommelli69, manuscript scores comprising 7 volumes. Messe à grand choeur & grande symphonie by Domenico Terradella Introduzzione del invittorio de l‘Officio de‘ Morti for large choir by N***, Lauda Sion Salvatorem for 4 voices & chorus by Anfossi Motet d‘un nouveau genre avec symphonie, pour une voix de dessus by M. le Chevalier Gluck70 Beatus vir qui timet, solo motet Laurenti.

Conclusion  Louis XIV‘s assumption of power in 1661 and the establishment of a veritable “Ministry of Glory” under Colbert created a sharp division between French and Italian music. The result was a massive rejection of Italian artists and the development of a national idiom through specific genres, intended to establish France‘s cultural leadership in Europe. Italian music, whose stylistic features had largely permeated those new genres, nevertheless remained a driving force behind the evolution of French music until the end of the eighteenth cen65 Catalogue de la musique et des instrumens dependans de la succession de M. de Vogüé, Evêque de Dijon […], Dijon 1787. The works have been identified by Laurent Guillo, as part of an on-going research project on the music libraries of the aristocracy of Burgundy. My thanks to him for allowing me to use this information. 66 There are many engraved scores of this work dating from 1753 onwards. See RISM 1348 to 1360. 67 An edition published in Paris (Bureau d‘abonnement musical [1776]) is not mentioned in RISM. 68 Probably his Opus 7, published in The Hague by Anton Stechwey c.1768, and in London by Peter Welcker (n.d.). See RISM R 1263 or R 1264. 69 There are six known Miserere settings by Jommelli, two of which were engraved in the late eighteenth century. See RISM J 576 and 577. 70 Probably Alma sedes, published in Paris by Lemarchand c.1770. See RISM G 2631.

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tury, as is evidenced by the long series of disputes involving partisans of the two national styles. Despite such lively aesthetic debate, the concept of a réunion des goûts that emerged in the late seventeenth century in circles on the fringes of power became the more or less acknowledged aesthetic norm for French music from the Regency onwards. Parallel with this limited assimilation of Italian influence, the increase in royal (and subsequently aristocratic) patronage enabled the advancement of Italian musicians and favoured the circulation of the Italian repertoire in France. In this panorama, the circulation of Italian sacred music followed a specific timeline and specific procedures related to the cultural status acquired by the motet à grand chœur from the end of seventeenth century onwards. Despite the continued assimilation of elements from the Italian musical tradition and the diversity of the contexts in which it appeared, the motet à grand chœur remained until the Revolution strongly linked to the permanence of the ritual nucleus consisting of God, the King and France on which every important religious ceremony was centred. In such a context, competition between the Italian motet and the motet à grand chœur took on a dimension of identity far greater than that of secular and in­ stru­mental music. This explains why French institutions, particularly those with close ties to the monarchy, did not adopt the Italian motet until quite late, and then only selectively, even though they may have been presenting Italian sonatas or arias for years. Likewise the late seventeenth-century evolution from royal to aristocratic patronage, centred on the activities of the salons, favoured above all the circulation of Italian sonatas and arias. A study of the private collections allows us to refine that picture. Outside the public domain, lovers of Italian music from differing backgrounds made Italian sacred music known and performed it throughout the eighteenth century. At the transition from the previous century, the humanist ecclesiastics Mathieu and Brossard looked upon this repertoire with a musician‘s curiosity and furhtermore, as collectors and scholars, with a desire to gain an understanding of the progress music had made. They were interested primarily in the music of the second half of the seventeenth century – that is, in works they considered to represent the golden age of Italian music whose features had been assimilated by the founders of le goût français, Du Mont, Pierre Robert and Lully. From the Regency onwards, a major figure in the galant culture of the salons was the devotee of Italian music. Far removed from the erudite humanism of the ecclesiastics, he was more interested in social music-making and in assembling a repertory of Italian sonatas and cantatas capable of competing with works of the same type by French composers. By contrast, the revival of interest in Italian sacred music after 1770 accompanied a sort of revolution in taste; testimonies were above all the latest motets by composers of the Neapolitan school, who produced operas in France. The circu­lation of this repertoire in France, mainly in manuscript form, testifies the important cultural and commercial networks that had been established in Italy by certain aristocratic families. Considering the repertoire of public institutions and private individuals, thus the years 1700 – 1760 represent a veritable “black hole” in the dissemination of Italian sacred music in France. This phenomenon is explained by the collective assertion of a French aesthetic superiority in the field of sacred music, as represented by the type of motet à grand chœur established by Lalande. During the Querelle des Bouffons, certain partisans of French music

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claimed that this superiority was incontestable and, indeed, that it was accepted even by the partisans of the Italians71. Others saw in it the expression of a specifically musical génie français, and hence a refutation of Rousseau‘s theory that the style of French music stemmed directly from the native language.72 It was not until at least a decade after this controversy that France‘s conversion to a European musical modernity enabled the reintroduction of Italian sacred music into the French musical landscape. This phenomenon coincided with the decline of the motet à grand chœur in French cultural life. From the 1770s, the increasing hold of political power over questions of musical aesthetics largely conditioned attitudes towards the genre and contributed to the decline of religious institutions. While composers like Giroust and Mathieu at the Chapelle Royale, along with provincial maîtres de chapelle such as Mathieu, Nicolas Roze, Haudimont (Joseph Meunier, abbot of Haudimont) and many others, adapted the canons of the genre to the modernity of European music, this decline deprived music lovers of the most vibrant part of the grand motet repertoire and contributed not only to the success of the Italian motets of Jommelli, Sacchini and Durante, but also to the revitalisation of the mass and the oratorio.

71 See, for example, [Rousselet or Elie-Catherine Fréron], “Lettres sur la musique françoise. En réponse à celle de Jean-Jacques Rousseau”, Geneva 1754, in: La Querelle des Bouffons: texte des pamphlets, ed. Denise Launay, Geneva 1973, p. 812. 72 See, for example, Marc-Antoine Laugier, “Apologie de la musique françoise, contre M. Rousseau”, 1754, in: La Querelle des Bouffons, (as n. 71), p. 1156.

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Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders: Repertoire und Einsatz von Figuralmusik im Beromünster Inventar von 1696 Claudio Bacciagaluppi

Einleitung Das Stift St. Michael in Beromünster wird hier als Mikrokosmos des Musiklebens im späten 17. Jahrhundert betrachtet. Einerseits ist es ein Paradigma der kirchenmusikalischen In­ sti­tutionen im nördlichen Alpenraum, andererseits stellt es einen Sonderfall dar, denn der Bonus ordo – das Musikinventar von 1696, das unsere Hauptquelle ist – darf als einzigartig bezeichnet werden.1 Nach einer Vorstellung der tragenden Institution wird zunächst die Quelle beschrieben, um danach die Funktionen der Vespermusik im liturgischen Geschehen und das Repertoire hierfür am Stift zu untersuchen.

Das Stift Beromünster Chorherrenstifte können als die korporativ organisierte weltliche Kirche bezeichnet werden.2 Das Stift Beromünster, seit 1045 reichsfrei, liegt nördlich von Luzern und beherbergte im 17. Jahrhundert 20 Chorherren.3 Traditionell kamen die meisten Kanoniker aus Patrizier­ familien von Luzern. Sie genossen reiche Pfründe, was den Jüngeren unter ihnen den Bezug von Stipendien für ein Theologiestudium im Ausland ermöglichte.4 Johann Christoph Riser (1673 – 1736) zum Beispiel konnte ausnahmsweise 1697 die Kaplanie noch vor seiner Priesterweihe annehmen; in der Folge unternahm er 1700 eine Reise nach Rom.5 Federico Borromeo, päpstlicher Nuntius in Luzern und Neffe des Heiligen Karl, soll 1656 angesichts der (musikalisch unterstützten) Pracht der Zeremonien ausgerufen haben: „Berona altera 1 Obschon der Artikel von mir allein unterzeichnet ist, wurde der Inhalt gemeinsam mit Luigi Collarile innerhalb eines vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten und von Luca Zoppelli geleiteten Projekts an der Universität Fribourg erarbeitet. 2 Guy P. Marchal, Klemens Arnold u. a. (Hrsg.), Die weltlichen Kollegiatstifte der deutsch- und französischsprachigen Schweiz (= Helvetia sacra 2:2), Bern 1977, S. 48 – 50. 3 Ebd., S. 163 ff.; Therese Bruggisser-Lanker, „Kirchenmusik zwischen barocker Religiosität und politischer Repräsentation: Die Musikkultur des 17. und 18. Jahrhunderts im Stift Beromünster“, in: Lieder jenseits der Menschen: Das Konfliktfeld Musik – Religion – Glaube, hrsg. von Annette Landau und Sandra Koch, Zürich 2002, S. 107 – 132. 4 Waltraud Hörsch und Josef Bannwart, Luzerner Pfarr- und Weltklerus 1700 – 1800: ein biographisches Lexikon, Luzern 1998, S. 27, 30 – 33. Auf die Auslandsreisen des Schweizer Klerus werden wir zurückkommen. 5 Ebd., Eintrag Nr. 745.

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Roma“.6 Musik genoss traditionell eine hohe Stellung am Stift. Bis 1683 war stets ein Laie Organist. Er war oft zugleich Schulherr, und somit mit dem Musikunterricht an der angegliederten Stiftsschule beauftragt, welche einen Teil des musikalischen Personals des Stifts stellte. Den Stiftsschülern wurde ab 1617 täglich eine Stunde Unterricht im Figuralgesang erteilt. Seit 1605 war neben dem Organisten ein musikbewandter Kanoniker als Kapellmei­ ster mit der musikalischen Ausschmückung der Gottesdienste beauftragt.7 Im 17. Jahrhundert durchlief das Musikleben am Stift eine typische Entwicklung. 1602 – 1606 wurden neue Statuten verfasst und das Ceremoniale Romanum nach den tridentinischen Vorschriften eingeführt,8 1608 die große Orgel erneuert und eine neue Orgel auf dem (damals noch existierenden) Lettner zwischen Chor und Hauptschiff errichtet. Damit waren die Voraussetzungen für eine zeitgemäße Ausübung der Figuralmusik am Stift gegeben. 1691 erfolgte mit dem Abbruch des Lettners und dem Bau zweier Chororgeln (neben der alten großen Orgel auf der Westempore) die erste Barockisierung der Kirche.9 1694 wurden neue Statuten vom Bischof in Konstanz genehmigt.10 1773 erfolgte die zweite Barockisierung, welche der Kirche die heutige Gestalt verlieh; kurz zuvor, 1771, war das heute noch in der Karzeit aufgerichtete heilige Grab fertiggestellt worden.11

(1) Der Bonus Ordo Schon die Statuten von 1605 schrieben dem Kapellmeister vor, dass er ein genaues Inventar aller geschriebenen wie gedruckten Musikalien führen solle.12 Vielleicht erfolgte 1639 eine neue Inventarisierung, als das Kapitel den Kapellmeister Rudolph von Wyl die Musikalien „revidieren“ und dafür einen Notenschrank bauen ließ.13 Sicher wurde um 1681 ein Inventar der Vespermusik vom Kanoniker Bernard Späni mit Hilfe des Kapellmeisters Moritz

6 Melchior Estermann, Die Stiftsschule von Bero-Münster: ihr und der Stift Einfluss auf die geistige Bildung der Umgebung, Luzern 1876, S. 56. 7 Ebd., S. 54 – 65. 8 Ebd.; vgl. CH-BM, StiA Bd. 752, Statuta. Eine Vorredaktion vom 25. Februar 1605 mit verschiedenen Anmerkungen befindet sich unter dem Titel Statuta nova in Bd. 753. 9 Robert Ludwig Suter, Dreichörige Kirchenmusik am Chorherrenstift Beromünster (= Heimatkunde des Michelsamtes 3), Beromünster 1986, S. 6f. 10 Marchal, Arnold u.a. (Hrsg.), Die weltlichen Kollegiatstifte (wie Anm. 2), S. 167. 11 Suter, Dreichörige Kirchenmusik (wie Anm. 9), S. 6. 12 „Dabit operam, ut tam ipse [Magister Capellae], quam Ludimagister, habeat inventarium, seu Notam omnium Cantionum ad Ecclesiam nostram spectantium, sive Typis illae mandatae sint, sive scriptae; ut singulis annis, diligenter semel inquiri possit, utrum aliquae lacerae sint, aut perditae: fractae ut reficiantur, amissae eius sumptibus, cuius incuria periere, Collegio restituantur“, CH-BM, StiA Bd. 752, Statuta, fol. [35]. 13 „[27.9.1639] Domino Rudolpho à Wyl officium Magistri Capellae restitutum est, Dabit operam ut Cantiones omnes diligenter revideret […] decretum ut arca conficiatur in quo omnes commode asservari possunt“; CH-BM, StiA Bd. 662, Ludwig Bircher, Annales Beronenses, Jahr 1639, S. 239.

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Suter verfasst, das aber verschollen ist.14 Wohl ist es kein Zufall, dass zeitgleich mit der ersten Barockisierung und der Verfassung der neuen Statuten von 1694 auch ein neuer Schrank für die Musikalien gebaut wurde, und diese neu gesichtet und verzeichnet wurden. Der interimistische Kapellmeister Bernard Späni (der Amtsinhaber hieß Beat Schumacher) verfasste in mehrjähriger Arbeit den Bonus ordo musices (CH-BM, StiA Bd. 1206), das unvollständig überlieferte, immerhin fast sechshundert Seiten umfassende Musikinventar, welches die hauptsächliche Quelle für unsere Untersuchungen darstellt.15

Abb. 1: Die Darstellung des Notenschranks in der Stiftskirche aus dem Beromünster Inventar (CHBM, StiA Bd. 1206, S. [2a-3a]) 14 „[1681] Herr Organist Moritz Suter die Orgel-Schlüssel ufgelegt, Ist darbeÿ bestället, soll seinen compositionen allwegen ein Copia im Chor lassen alhier, und das Inventarium cantionum helfen machen“; CH-BM, StiA Bd. 247, Protocollus sive Acta Capituli, 1679 – 1690, S. 115. Im späteren Inventar von 1696 ist nur eine Sammlung Moritz Suters verzeichnet (mit fünfstimmigen Psalm-Antiphonen für Festtage primae classis), aber mehrmals ein index vespertinus antiquior „itidem a me [Bernard Späni] antehac conscripto“; CH-BM, StiA Bd. 1206, Bonus ordo, S. 498 bzw. 307. Dieses heute verschollene ältere Inventar der Vespermusik war mit dem Datum 1687 und der Signatur Bd. 1207 mindestens bis in die 1940er Jahre im Stiftsarchiv vorhanden (laut freundlicher Auskunft des heutigen Archivars, Jakob Bernet, Oktober 2012). Vgl. Josef Anton Saladin, „Die Musikpflege am Stift St. Leodegar in Luzern: musikgeschichtlicher Beitrag unter stilkritischer Beleuchtung bestimmter Epochen“, in: Der Geschichtsfreund 100 (1947), S. 41 – 168, hier: S. 165. 15 Suter, Dreichörige Kirchenmusik (wie Anm. 9), S. 4; Bruggisser-Lanker, Kirchenmusik zwischen barocker Religiosität und politischer Repräsentation (wie Anm. 3), S. 111f. Der Band wurde innerhalb einer von RISM Schweiz mitinitiierten Datenbank vollständig reproduziert und die Einträge für Musikalien übertragen (http://inventories.rism-ch.org).

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Dreimal werden die Informationen zu den vorhandenen Musikalien angegeben (siehe die Inhaltsübersicht im Anhang 1): bibliographisch, topographisch, analytisch-systematisch. Ein bibliographisch angeordneter Katalog verzeichnet in knapper Darstellung die vorhandenen physischen Einheiten. Auf einer eingelegten Doppelseite bildet Späni topographisch den Notenschrank ab. Der Schwerpunkt der katalographischen Arbeit liegt jedoch im analytisch-systematischen Katalog, wo Späni die in den verschiedenen handschriftlichen und gedruckten Sammlungen enthaltenen Kompositionen nach Gattungen auflistet und sie auf die Festtage verteilt, für welche sie sich eignen. Das im Haupttitel angekündigte „Directo­ rium“ ist nicht erhalten. Glücklicherweise sind im Katalogteil zahlreiche Rubriken verstreut, aus welchen sich der Einsatz der Figuralmusik durch das Kirchenjahr trotz der Verluste weitgehend rekonstruieren lässt (siehe Anhang 2). Die topographische Übersicht vermittelt einen plastischen Eindruck des damaligen Notenschrankes (siehe Abb. 1). Fächer mit Messen bilden Dach und Boden, Fächer mit Motetten die Träger eines Rahmens um die Fächer mit Vormittagsmusik (links) und Vespermusik (rechts). Insgesamt waren 47 von 117 Fächern mit Vespermusik gefüllt (etwa 40%). Ein Kasten auf der Orgelempore enthielt noch eine kleine Anzahl alter oder selten benutzter Musikalien. Wo sich der neue Schrank genau befand ist nicht klar, vielleicht ebenfalls auf der Westempore.

(2) Dramaturgie des Kalenders Der im Bistum Konstanz, dem das Luzernische gehörte, gültige liturgische Kalender mit der gewöhnlichen Unterteilung in feste und mobile Feiern, und der Rangordnung in erste und zweite Klasse, bildete nur einen allgemeinen Rahmen für die Feierlichkeiten an jeder Kirche.16 Die Musik stellte gerade dank ihres flexiblen Verhältnisses gegenüber dem eigentlichen liturgischen Geschehen den Kanonikern ein willkommenes Mittel dar, um gewisse Feiertage mehr oder weniger feierlich auszuschmücken, und eine eigene, den Bedürfnissen der eigenen Institution angepassten Rangordnung in jener zeremonialbesessenen Zeit deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die relevanten Stellen des Inventars wurden übertragen und in einer tabellarischen Übersicht zusammengefasst (siehe Anhang 2).17 Bei vielen begangenen Festtagen wird eine Aufführung der Vesper als Figuralmusik vorgeschrieben. An feierlicheren Tagen wurden neben den Psalmen auch die Antiphonen, das Nunc dimittis und die für den jeweiligen Zeitpunkt im Kirchenjahr passende marianische Antiphon musiziert. Das Magnificat war wohl stillschweigend immer dabei. Unter dieser 16 Vgl. den zwischen 1601 und 1763 gültigen Luzerner Kalender in Hans Wicki, Staat, Kirche, Religiosität, Luzern 1990, S. 532. 17 Zum Vergleich können das Einsiedler (1694; CH-E, A.CC.6, S. 232 – 237) oder das Engelberger Directorium (vor 1729; CH-EN, StiA Cod. 202, S. 45 – 58 und 316, fol. 33v – 36v) herangezogen werden. Sie sind übertragen in Claudio Bacciagaluppi, „La musique prédomine trop dans nos abbaïes helvétiques: Einige Quellen zur Stellung der Figuralmusik in Schweizer Klöstern“, in: Musik aus Klö­ stern des Alpenraums: Bericht über den Internationalen Kongress an der Universität Freiburg (Schweiz), 23. bis 24. November 2007 (= Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 2:55), hrsg. von Giuliano Castellani, Bern 2010, S. 139 – 176, hier: S. 161 – 171.

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Annahme erscheint das ausdrücklich erwähnte figurale Singen des Magnificats am Samstag vor Albae und in der Oktav von Fronleichnam, bei Wegfall der Psalmen, als eine Abstufung der Feierlichkeit, was m.E. wahrscheinlicher ist als eine völlig anders geartete Praxis. Der Teil des Inventars, der die Magnificatkompositionen verzeichnete und vermutlich weitere Informationen zu ihrem Gebrauch beinhaltete, ist leider verschollen. Auch im Fall des Miserere sind die entsprechenden Seiten verloren gegangen. Zu beachten ist jedoch seine frühere Verwendung in der Andacht nach der Vesper beim Grab Christi während der Fastenzeit und der Karwoche, das jetzt durch Motetten ersetzt wird (Anhang 2, S. 93 – 94). Unterschiede im Kalender hinsichtlich der begangenen Festtage zwischen der Stifts- und der Pfarrkirche werden mit den Ausdrücken „festum chori“ beziehungsweise „fori“ angegeben. Um dem Volk dabei näher zu kommen, wurde vom Kapitel beschlossen, an Vespern solcher Tage die Psalmen nicht mehr im Fauxbourdon, sondern in einfacher Polyphonie (a cappella) zu singen (Anhang 2, S. 309). Überhaupt zeigte sich das Stiftskapitel dem in der Kirche anwesenden Publikum gegenüber aufmerksam: So wurden die Messen für Maria Magdalena im Juli und für Katharina im November etwas feierlicher gestaltet, mit Rücksicht auf die Besucher des Dorfmarktes (Anhang 2, S. 320, 329). Motetten und Symphonien wurden hauptsächlich bei der Messe eingesetzt. Sinfonien ertönten „post Epistolam, seu ad Graduale“, und – eine unseres Wissens seltene Vorschrift – als Einleitung zu den Motetten zum Offertorium, Elevation und Postcommunio (Anhang 2, S. 39). Die zwanzig „Trombetenstückli“, welche im Inventar aufgelistet sind (auf dem hier nicht übertragenen fol. 13r), wurden vermutlich als Intraden aufgeführt. Trompeten kamen aber vielleicht auch während der Elevation zum Einsatz. Zumindest in Einsiedeln kamen sie mit Sicherheit an letzterer Stelle zur Anwendung. Das dortige Directorium für die Verwendung des jubilus tubarum (siehe Anhang 3) zeigt sehr deutlich, wie die Musik die liturgische Rangstellung eines Festes beeinflussen konnte. In der ersten Kategorie von Festen, an denen Trompeten bei der Elevation zugelassen werden, handelt es sich um Pontifikalmessen des Abtes, also die rechtmäßig feierlichste Liturgie im Kloster. Bei der zweiten Kategorie handelt es sich um wichtige Festtage, wenngleich ohne Pontifikalmessen. Bei der dritten Kategorie schließlich handelt es sich um außerordentliche Feiern, welche gerade durch den Einsatz der Musik als wichtig deklariert wurden: die Geburts- und Namenstage des Abtes, die Feste des Heiligen Michael (Schutzheiliger der Klostermusiker) und der Heiligen Cäcilia. Die außerordentlichen Feiern, gemäß der Definition von Bernard Dompnier, bezeichnen einerseits die Feiertage, welche gleichsam außerhalb des Jahreszyklus liegen, also einmalige Ereignisse markieren: Jubiläen, Selig- und Heiligsprechungen, Translationen, vierzigstündige Andachten. Andererseits kann der Begriff auch auf jene regelmäßig wiederkehrende Feiern ausgeweitet werden, welche einer Lokalkirche eigen sind und daher ein größeres Ausmaß als im Kalender vorgeschrieben einnehmen.18 Das beste Beispiel dafür ist in Beromün­ster die Verehrung des Heiligen Michael, wofür das Stift mit dem allergrößten musikalischen Aufwand im ganzen Jahr aufkam (siehe Anhang 4).19 Auch der Heilige Vitalis wurde mit 18 Bernard Dompnier, „Déchiffrer“, in: Les cérémonies extraordinaires du catholicisme baroque, hrsg. von Bernard Dompnier, Clermont-Ferrand 2009, S. 11 – 16, hier: S. 13. 19 Vgl. dazu das Vorwort zu Andrea Bernasconi, Miserere, hrsg. von Christoph Riedo (= Musik aus Schweizer Klöstern 3), Adliswil 2009.

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einem größeren musikalischen Aufwand gefeiert, als seine Rangstellung unter den Heiligen dies zulassen würde (Anhang 2, S. 320). Das hängt damit zusammen, dass seit 1650 eine Reliquie in der Stiftskirche aufbewahrt wurde. Die Translation im Jahre 1650 ist ein typisches Beispiel für eine einmalige außerordentliche Feier. Weitere Translationen folgten im 18. Jahrhundert.20 Es ist nicht bekannt, welche Musik 1650 erklang; eine Parallele kann man jedoch in der Publikation von Valentin Molitor, Missa una cum tribus mottettis (St. Gallen, 1681), sehen, in welcher die Musik für die Translation der Heiligen Sergius, Bacchus und Erasmus abgedruckt wurde.21 Als am 26. September 1693 – kurz vor Michaelis – die barockisierte Kirche neu eingeweiht wurde, erklang eigens für die einmalige Gelegenheit komponierte Musik von Walter Ludwig Bürgi.22

(3) Zusammensetzung und Bildung des Repertoires An dieser Stelle soll sogleich vorausgeschickt werden, dass von allen im Bonus ordo aufgeführten Quellen überhaupt nichts mehr erhalten ist. Bei den Drucken können heute noch aus anderen Sammlungen bekannte Exemplare herangezogen werden; der Inhalt der im Inventar verzeichneten Handschriften lässt sich hingegen nicht mehr rekonstruieren. In der folgenden Besprechung werden wir zuerst knapp die Zusammensetzung des Repertoires an Vesperkompositionen beleuchten, und danach der Frage nachgehen, wie die Musik überhaupt gesammelt wurde. Unter den vertretenen Komponisten können drei Kategorien unterschieden werden: Eidgenossen, Italiener und Deutsche (Anhang 5). Von lokalen Komponisten verzeichnet das Inventar, wie zu erwarten, viele Handschriften, die eher für lokale Feiern bestimmt waren. Johann Georg Benn, damals in Luzern als Organist tätig, schenkte beispielsweise im Oktober 1639 dem Kapitel eine vollständige acht- und neunstimmige Michaelsvesper.23 War sie vielleicht im vorigen Monat in der Michaelskirche aufgeführt worden? Jedenfalls stellte diese Gabe vermutlich seine Bewerbung für eine Stelle am Stift dar, denn 1638 war der frühere Kapellmeister, Heinrich Hiestand, verstorben.24 Die Italiener machen mit 22 Namen mehr als die Hälfte aller Komponisten aus; darunter finden wir auch die einzige Komponistin, 20 Wicki, Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 16), S. 519; Marchal, Arnold u.a. (Hrsg.), Die weltlichen Kollegiatstifte (wie Anm. 2), S. 167. Zum Phänomen der Translationen vgl. Hansjakob Achermann, Die Katakombenheiligen und ihre Translationen in der schweizerischen Quart des Bistums Konstanz, Stans 1979. 21 Valentin Molitor, Missa una cum tribus mottetis in solemni translatione SS. MM. Sergii, Bacchi, Hyacinthi et Erasmi (St. Gallen 1681), hrsg. von Luigi Collarile (= Musik aus Schweizer Klöstern 6), Bern (in Vorbereitung). 22 Suter, Dreichörige Kirchenmusik (wie Anm. 9), S. 12 – 16. 23 „[8.10.1639] Dominus Benn Organista Lucernensis obtulit Collegio nostro novas Cantiones quas ipse composuit scilicet integras vesperas de Sancto Michaele octo et novem vocum cum Basso generale ad organa etc. Cui Capitulum remunerari fecit Nummum aureum italicum […] florentinum“; CH-BM, StiA Bd. 662, Ludwig Bircher, Annales Beronenses, Jahr 1639, S. 301. 24 Estermann, Die Stiftsschule von Bero-Münster (wie Anm. 6), S. 93.

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Isabella Leonarda. Dieser Anteil ist nicht außerordentlich, doch leicht höher als der Durchschnitt, wie ein Blick auf zwei weitere Inventare aus dem süddeutschen Raum bezeugt.25 Die Eidgenossen aus der Innerschweiz pflegten traditionell mit ihrem Bischof in Konstanz keine guten Beziehungen.26 Trotzdem sind acht Konstanzer Drucke aufgelistet, gegenüber zwölf Augsburger und dreißig sonstiger Drucke aus dem deutschen Sprachraum. Außerdem sind zwölf Drucke aus Venedig, ein Druck aus Rom und etwa dreißig aus Mailand vertreten. Diese ansehnliche Menge von Titeln aus einem Nebenschauplatz des Musikdrucks wie Mailand lässt sich durch die besonderen Bedingungen der Überlieferung in der Innerschweiz erklären. Wie kamen die Musikalien nach Beromünster? Drucke konnten vielleicht direkt beim Besuch von Messen eingekauft werden. Die Messe im nahen Marktfleck Zurzach hatte ein großes Einzugsgebiet.27 Der Einsiedler Kapellmeister Joseph Dietrich (1645 – 1704) besuchte mehrmals die Messe in Zurzach, und reiste 1684 sogar zur Buchmesse nach Frankfurt.28 Eine andere Möglichkeit war, eine Bestellung bei einem Buchhändler in Auftrag zu geben. Johann Jost Singisen zum Beispiel, Abt des Benediktinerklosters Muri von 1596 bis 1644, bediente sich bei den Buchhändlern Haller in Zürich und Hederlin in Luzern – bei letzterem bestellte er auch liturgische Bücher.29 Die Beromünster Kapitelprotokolle erwähnen mindestens einmal den Einkauf von Noten, und zwar missbilligend: Kapellmei­ster Karl [?] Pfyffer hatte nämlich mehrmals ohne Erlaubnis Ausgaben getätigt.30 Eine dritte Möglichkeit ist der Austausch von Musikalien mit weiteren (kirchlichen) Institutionen. Auf diesem Wege gelangten vermutlich einige im Bonus ordo ausdrücklich als handschriftliche Kopien von italienischen Drucken bezeichnete Werke von Gaspare Casati, Sisto Reina und Giovanni Antonio Rigatti nach Beromünster. Eine vierte wichtige Möglichkeit des Musikalienerwerbs – die aber schwer nachzuweisen ist – stellen die Reisen der Kanoniker besonders anlässlich ihrer Studienaufenthalte im Ausland dar. Wegen der besagten Unstimmigkeiten mit dem Bischof 25 Siehe Anhang 5. Die dort zum Vergleich hinzugezogenen Inventare aus Feldkirch und Ingolstadt wurden von Walter Pass und Armin Brinzing untersucht; vgl. Walter Pass, „Das Musikalieninventar der Pfarrkirche St. Nikolaus in Feldkirch aus dem Jahre 1699“, in: Montfort 20 (1968), S. 404 – 444; Armin Brinzing, „Die Musikpflege am Collegium Georgianum in Ingolstadt, Landshut und München“, in: Musik in Bayern 68 (2004), S. 63 – 93. 26 Rudolf Reinhardt, „Frühe Neuzeit“, in: Die Bischöfe von Konstanz, Bd. I, hrsg. von Elmar L. Kuhn u. a., Friedrichshafen 1988, S. 25 – 44, hier: S. 32 – 35 und S. 41. 27 Vgl. Walter Bodmer, Die Zurzacher Messe von 1530 bis 1856 (= Argovia 74), Aarau 1962. 28 Vgl. P. Rudolf Henggeler OSB, Professbuch der Fürstl. Benediktinerabtei U. L. Frau zu Einsiedeln. Fest­ gabe zum tausendjährigen Bestand des Klosters (= Monasticon Benedictinum Helvetiae 3), Einsiedeln [1937], online unter http://klosterarchiv.ch/e-archiv_professbuch_liste.php. 29 Aarau, Staatsarchiv des Kantons Aargau (StAAG), AA/5474, Kloster Muri, Ausgabenbuch des Abts 1596 – 1610 und 1644 – 1654, fol. 9r – 10r (1599), 12r (1600). 30 „[25.9.1665] Herrn Carlo [?] Pfÿffer Ist die Cantorij auch wider zu gestelt worden; solle mit inkauffen so viler Cantionen eigne kösten verpliben laßen, und wolle sich die Stifft mit gägenwährtiges dißmahl vernügen, Inßkünfftig aber Jährlich ein oder den anderen berümt von [eingefügt: nüeren] auctoren, so ihme gefellig kauffen und zuhe thun“; „[26.9.1669] Wilen er aber […] auch über die 70 gl Can­ tiones erkauft, und die Stifft darumb niemahlen befragt, Sind die Cantiones zwar acceptiert, solle aber der selben eine lista dem Capittull vorleggen“, CH-BM, StiA Bd. 246, Protocollus sive Acta Capituli, 1664 – 1678, fol. 42v, 182r.

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von Konstanz, gingen Schweizer Priester auch nach der Gründung des bischöflichen Seminars in Meersburg vorzugsweise in das von Karl Borromäus gestiftete, mit Freiplätzen für Studierende aus der Eidgenossenschaft und aus den Graubünden ausgestattete Collegium Helveticum in Mailand.31 So waren im 18. Jahrhundert die häufig­sten auswärtigen Studien­ orte Luzerner Kleriker (in der Reihenfolge): Mailand, Solothurn, Freiburg im Uechtland, Freiburg im Breisgau und erst an fünfter Stelle Konstanz.32 Auch Konventualen konnten Studienreisen unternehmen: Oswald Weissenbach, ein junger Noviz im Zisterzienserklo­ ster Wettingen, wurde von Abt Bernard Keller 1654 – auf seine Kosten – ein Jahr lang ins Kloster Sant’Ambrogio in Mailand geschickt, um das Orgelspiel zu erlernen. Damit sollte er seine ganze Zeit verbringen, keine anderen Fächer belegen und sogar vom Stunden­ gebet dispensiert werden. Man beachte, dass die Begründung die Gläubigen ins Zentrum rückt: Wettingen brauche einen tüchtigen Organisten, weil die Gottesdienste viel besucht seien.33 Ganz besonderer Art war die Studienreise, welche ein gewisser Xaver 1744 nach Mailand unternahm: Er war Sopran-Kastrat und wurde auf Kosten des Benediktinerklosters Einsiedeln für zwei Jahre nach Mailand geschickt, um sich dort im Gesang ausbilden zu lassen.34 Der umgekehrte Fall, die Anstellung eines italienischen Musikers, glückte 1704 dem Beromünster-Kapitel trotz seiner Anstrengungen nicht. Als im Juni 1704 der Kapellmeister Leonhard Grutter verstarb, wurde nach einem geeigneten Nachfolger in Italien gesucht. Nach fünf Monaten Vakanz beschloss jedoch das Kapitel ohne weitere Suche zur Wahl des neuen Kapellmeisters zu schreiten.35 Nicht einmal eine Vermutung können wir schließlich 31 Hans Stadler, „Collegium Helveticum“, in Historisches Lexikon der Schweiz, Version 11.3.2010, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10430.php; Wicki, Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 16), S.  164f. Dokumente dazu befinden sich u.a. in CH-La, AKT 19B/452 – 489; I-Ma, Atti di governo, Studi parte antica, buste 47 – 48, 355 – 366 und I-Mca, Archivio spirituale, Sezione XI, Seminari, Nr. 4 – 9, 25, 37 – 46. 32 Nach der Statistik für das 18. Jahrhundert in Hörsch und Bannwart, Luzerner Pfarr- und Weltklerus 1700 – 1800 (wie Anm. 4), S. 30 – 33. 33 Bernard Keller, Abt von Muri, schreibt an Attilio Pietrasanta, Abt von Sant’Ambrogio in Mailand: „[23.6.1654] Porro intentionis meae meae [sic] est in primis ut […] bonos ac religiosos mores addiscat et exerceat, deinde quoniam multus populus ad locum nostrum ad Divinum officium confluit eamque ob causam aliquis necessarius sit qui bene pulset organum, ut arti pulsandi organum liber ab alijs studio­ rum occupationibus praecipue incumbat quam ad rem ut Reverendissima P.V. illi et bono magistro pro meis sumptibus providere dignetur rogo“; und ein Monat später „[26.7.1654] quem [filium meum] a Choro exemptum esse quo commodius ars Musicae pro qua addiscenda tantum Anni spatium habet, insudare possit valde cuperem, et obnixe ac humillime rogo“; StAAG, AA/3462a, Kloster Wettingen, Missivenbuch der Äbte, fol. 57r – v, 58v. 34 „[4.9.1746] Dieser tagen ist der Castrierte Discantist Xaveri NN. von Maÿland mit denen P.P. von Bellenz allhero kommen – welcher nunmehro 2 Jahr zu Maÿland gewesen, und alda sich in dem gsang qualificiret in des Gottshauses kösten, damit man ein beständigen Diskantist in hier hat. – ob nun diser annoch ein oder 2 Jahr widerumb auf Maÿland werde gschikht werden, ist zu erwarthen, indessen hat diser sich sehr perfectioniret in so wenig Zeit“, CH-E, A.HB.19, Diarium Einsidlense, fol. 74r. 35 „[20.6.1704] Als die Music uf versterben Hr. Leodegari Grutter […] sehr leidet, werden umb ein anderes solches Subiectum so vil möglich auch etwan [?] in Italien, gewichtet [?] werden, darzu Commission, gegeben. [10.11.1704] [Weil] dann die Praebenda S. Thomae in den 5. Monat vacieret, und noch kein gwüsheit, ob ein musicus aus Italien kommen werde, so seie nit länger abzuwarten, und […] den tag

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über die Herkunft der 770 Vesperkompositionen wagen, die in Beromünster als ungebundene Stimmhefte aufbewahrt und dessen Autoren nicht im Bonus ordo, sondern im verlorenen älteren Vesperninventar verzeichnet waren (die Auflistung erfolgt im letzten Teil des Inventars, S. 504 – 559; siehe Anhang 6).

(4) Schlussbemerkungen Nur Inventare können den Überblick über das in einer kirchlichen Institution vorhandene Repertoire gewährleisten. Der Bonus ordo ist selbst innerhalb dieser Quellenkategorie ein Sonderfall, denn es gibt nicht nur Hinweise über das vorhandene, sondern auch über das an jedem Fest im Jahr aufgeführte Repertoire.36 Das Repertoire erhält dadurch eine ortsspezifische Konnotation. Gewisse Kompositionen werden nämlich mit spezifischen Funktionen verknüpft und erhalten einen identitätsstiftenden Wert. Es müssen dabei nicht nur Kompositionen von lokalen Kapellmeistern sein. Ein typischer Fall sind die a cappella-Messen von Giovanni Antonio Grossi, welche Späni für jedes „festum fori non chori“ empfiehlt (Anhang 2, S. 309). Erst die Feierlichkeit der Musik bestimmt die orts-, ja kirchenspezifische Rangordnung der Feiertage, welche für die Rezeption durch das Publikum maßgebend ist. Es werden ja wiederholt ausdrücklich die Bedürfnisse der „hospites“ bei der Gestaltung der Gottesdienste berücksichtigt (Anhang 2, S. 315, 320, 329). Der festliche Apparat, wovon die Musik einen wichtigen Teil darstellt, bestimmt oder differenziert somit die vom liturgischen Kalender vorgeschriebene Klassifizierung der Feiertage. Der Bonus ordo dokumentiert den Zeitpunkt, ab dem endgültig nur komplexe Figuralmusik als „condecens“ oder „congrua“ verstanden wurde (Anhang 2, S. 309, 329). Psalmvertonungen in Fauxbourdon wurden auch in Festen niederen Ranges zugunsten von „musica simplicior“ ersetzt (Anhang 2, S. 309). Es zeigt somit den entscheidenden Schritt kurz vor 1700 zur eigentlich ,dramaturgischen‘ Gestaltung der Vesper.

Electionis auf Freitag post Catharinae angesetzet bleiben“; CH-BM, StiA Bd. 251, Protocollus sive Acta Capituli, 1690 – 1719, S. 789, 792. Am 1. August 1704 wird auch einen gewissen „Marchese Beretti den Musicum“ genannt, vielleicht einen Durchreisenden, vielleicht aber einen Kandidaten auf den Posten (CH-BM, StiA Bd. 251, S. 794). 36 Eine Aufzeichnung der aufgeführten Werke ist sehr selten. Aus den Jahren 1684  –  1732 ist das sogenannte Programmbuch von Johann Philipp Krieger und seinem Sohne zu nennen; vgl. Johann Philipp Krieger, 21 ausgewählte Kirchenkompositionen (= Denkmäler Deutscher Tonkunst 1:53/54), hrsg. von Max Seiffert, Leipzig 1916, S. XXII f. Für die Jahre 1813 – 1853 gibt es ferner das sogenannte Kapellmeisterbuch aus Einsiedeln; vgl. dessen Facsimile und Übertragung unter http://d-lib.rism-ch. org/kapellmeisterbuch/.

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Anhang 1. Inhalt BONUS ORDO MUSICUS | sive | INDEX UNIVERSALIS | Missarum aliarumque Cantionum | quarum in Insignis huius Collegiatae Ecclesiae Beronensis choro | ante- et pomeridianus esse solet usus […] Huic accessit | DIRECTORium MUSICUM […] 1696 CH-BM, StiA Bd. 1206, Folio, cm 22x33.8, [15 fol.] + 559 S. fol. [1r] Titelblatt fol. [3r] Epistola dedicatoria fol. [5r] Praemonitiones ad rectorem musices Katalog nach bibliographischen Einheiten, I. Teil fol. [7r] Opera Missalia fol. [9v] Elenchus operum motteticorum S. 2

Topographische Zusammenfassung

Katalog nach Gattungen, I. Teil S. 4 Te Deum S. 9 Introitus S. 10 Messen S. 39 Sonaten S. 61 Motetten (nach liturgischer Feier) S. 64 Advent bis Fastenzeit S. 93 Fastenzeit S. 109 Osterzeit S. 119 Hl. Kreuz S. 125 Christi Himmelfahrt, Pfingsten und Trinitatis S. 147 Fronleichnam S. 167 Für Jesusfeste S. 191 Für jede Zeit S. 219 Für jedes Fest S. 231 Für Primizien S. 233 Für Marienfeste S. 259 Für einzelne Marienfeste S. 269 Lauretanische Litaneien S. 290 Für Schutzengel S. 296, 315, 325 Für den Hl. Michael S. 307 Für einzelne Heiligenfeste S. 336 Für Apostelfeiern S. 352 Für Märtyrer S. 368 Für mehrere Märtyrer und Heilige S. 384 Für Konfessoren S. 400 Für weibliche Heilige S. 416 Für jeden männlichen Heiligen

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 391 S. 432 Für jede weibliche Heilige S. 294, 295, 448 Für Kirchweihe S. 461 Sonstige Motetten S. 466 Requiem S. 477 Motetten für Totenfeier Katalog nach bibliographischen Einheiten, II. Teil S. 494 Opera Vespertina Katalog nach Gattungen, II. Teil S. 504 Psalmen [die Seiten ab 559 fehlen] [S. 578 Hymnen] [S. 584 Magnificat] [S. 594 Nunc dimittis] [S. 599 Marianische Antiphonen] [S. 626 Directorium musicum] 2. Figuralmusik im Kalender 2a. Übertragung der zerstreuten Directoriumsangaben Die Übertragung lässt diakritische Zeichen weg (zum Beispiel „optimè“) und modernisiert behutsam die Satzzeichen, behält aber die originale Großschreibung. [S. 4] 4 De Hymno Ambrosiano Te Deum. De 3.tia 9.na Hymnus iste Ambriosanus Te Deum laudamus in choro nostrae collegiatae Ecclesiae musicaliter, seu, ut dicere solet, figuraliter cantatur ad organum maius in festis sequentibus: Nativitatis Domini, Resurrectionis, et Vigilia Sanctissimi Corporis Christi post Nocturna Matutini, ut alias decantari consuevit. […] Hymni ambrosiani Indicem sequitur brevis assignatio Antiphonae Veni Sancte Spiritus. in primitijs sacerdotalibus cantari solitae; uti et Horarum Minorum Canonicarum quarum in Choro musicalis etiam usus est. Et quidem Tertia. cantatur ad organum maius in festo Pentecostes tantum. Nona vero in festo Ascensionis Domini, postquam redierit, et Ecclesiam Collegiatam cum Venerabili praetervecta fuerit Processio Equestris. His subiunxi etiam breviusculum Indicem Antiphonae Dominicalis Asperges me &cetera eo quod et huius nonnunquam ante sacram Missam, licet rarior, sit usus. […] [S. 9] 9 Introitus Missarum. Horum duo adsunt opera: quorum 1um melioris ordinis et distinctionis gratia a me vocatum Introitus Maiores: eo quod plurium, videlicet 5. Vocum maioribus libris comprehensi reliquis paulo solenniores sint. Porro hisce commodum in cista maiori locum non inveniens reclusi eos in cistam minorem nigram ad organum maius stantem, vel ideo quoque, quod ipsis non nisi in festis solennioribus ad idem organum maius uti soleremus. […] [S. 34] Missae 10. Voc. cum Instrumentis in 3. Choris solennissimae

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A. m. R. D. Gualt. Ludovico Bürgi. 1.a et 2.a […] cum cuiusque chori organo proprio; et 4.o integro, seu cum tribus choris accommodato. Harum usus in festis S. Michaelis et Dedicationis Ecclesiae tantum. […] [S. 39] 39 Sonate seu Symphoniae de his Praenotabis 1mo Quod sonatarum seu Symphoniarum usus nobis hactenus fuerit praecipue in Missis seu officiis solemnibus; et quidem saepius ac plerumque libentius dum ad organum maius quam dum ad minus haberetur musica. Ordinarie autem concinuimus tales post Epistolam, seu ad Graduale officii, Instrumentis pluribus in festis magis solennibus; paucioribus vero in festis, quae minoris solennitatis; Imo etiam sine discrimine festorum nonnumquam pro numero praesentium Instrumentistarum. […] Huc vero harum Indicem ponere volui, quod secundum paulo ante expressa usus ipsarum potissimus sit ante Mottetas in officiis ad offertorium, Elevationem et Postcommunionem decantandas. […] [S. 64] 64 Notanda de Adventu et Festis sequentibus usque ad Quadragesimam. De Mottetis pro Tempore Adventus. Cantiones, quae huic tempori proprie applicari debent possentque, pauculas inveni: puto quod sicut hic, ita et alibi locorum earum sat rarus esset usus. De hoc enim tempore in Collegiata nostra Ecclesia non habetur musica, nisi in Dominica 3.tia Adventus, ubi ad organum minus cantatur officium (non tamen Vesperae Sabbatho praecedente nec 2.dae in ipsa Dominica) cui mottetae huius temporis propriae inservire possunt; quas paulo post folijs 67. et 68. invenies: hae si non arrideant, vel haud sufficientes videantur, ad indices de seu pro omni tempore, aut de Christo Jesu recurres. […] De die Nativitatis Domini & Festis hanc suqsequentibus 1. In pervigilio Nativitatis Domini cantantur ad organum maius Vesperae solennes, uti eaedem in ipso quoque festo; adhibitis etiam musicalibus Antiphona, Hymno, et Nunc dimittis in Completorio. 2 Cantatur musicaliter in Matutino diei Hymnus Ambrosianus Te Deum laudamus: cuius indicem vide ad initium huius libri a fol. 5. 3 Musica solenni decantatur mox post idem Matutinum ante Laudes prima missa eius diei, seu Officium noctis, quod tamen, quantum honeste et discrete fieri potesti, abbrevietur; solennitate musices maiori ad 3.tia missam hora consueta cantandam dilata. 4 2.dae Vesperae habentur ut 1.mae Antiphonis scilicet […] etiam figuraliter decantandis. Alijs vero sub sequentibus hanc solennitatem diebus antiphonae etcetera choraliter tantum concinuntur, utpote quod festa 2.ae solum, non autem primae classis sint. […] 6 Pro hisce festis Natalitijs habetur Missa super melodias Natalitias composita Authore Domino Joanne Georgio Benn, inter scriptas a Reverendo Domino Jodoco Francisco Suter in opere ad commodum usum consuto, cum missis 3. vocum et instrumentum, recondito in Receptaculo IX. Apta est hisce festis et alia Missa Joannis Stadlmayr à 5. vocibus 5. instrumentibus et ripienibus in opere, quod signat litera N. recondito in Receptaculo LXIV. Istis item quam alijs festis aptior est Missa folijs separatis inscripta Authore Johann Melchior Gletle a 6. vocibus 5. instrumentibus et ripienibus signata numero 5. b. reposita in Receptaculo X. Rursus pro his festis apprime quadrat Missa 1.a in opere P. Leopoldi a Plawen, quod non superioris huius, sed inferioris Ecclesiae proprium, quia inibi rarioris est usus, plerumque nostris operibus musicis tanquam mutuo acceptum hactenus adiunxi. […] [S. 66] 66 […]

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 393 Pro festo Sancti Stephani Protomartyris decantantur 1.ae Vesperae etiam in Inferiori Ecclesia Parochiali, sicut et officium diei solenni musica. Habentur cantiones omnis generis ibidem. Studeat autem Chori Rector, huiusve Vicarius, ita tam Vesperas quam officium, quoad bene fieri potest, abbreviare rei Divinae Superioris seu Collegiatae Ecclesiae nil derogetur. […] Superiorem nostram seu Collegiatam Ecclesiam quod attinet Officium huius decantantur hisce diebus adhuc ad organum maius musica solemni. In Vesperis autem Antiphonae Choraliter tantum, licet consonante organo; caetera per musicam tantis festis convenientem. […] Ne verò, quod mihi quondam contigit, ob paucitatem musicorum praesentium confusio oriatur, semper sibi Rector Musices ita de cantionibus provideat, ut etiam nonnullis absentibus honestâ musica Ecclesiam remque Divinam condecorare possit. Hoc vero si unquam, certe in festo Sancti Joannis Apostolis et Evangelistae ad Vesperas observandum, a quibus eo die etiam Dominorum Cantorum aliqui abesse solent in Stuba Capitulari cum Reverendissimo Domino Praeposito et Dominis laicis ad dignitates civiles recens promotis praesumentes in multam saepe noctem protrahi solitum, quod serius caeptum. […] [S. 93] 93 […] Nota […] 3.tio pro nostro Beronensi Choro (nisi alia, quam huiusque fuerit dispositio seu per accidens seu per consuetudinem introducatur) haud multis de hoc Tempore Quadragesimali mottetis tibi opus esse; quippe quod nulla per Quadragesimam de tempore musica habeatur (in festis infra hanc occurrentibus quid cantandum agendumque sit suis locis annotatum vide) nisi in Dominica Quarta Quadragesimae, Laetare dicta qua per musicam simplicem plerunque [sic] sine Instrumentis ad organum minus cantatur officium quidem, non tamen 1.ae nec 2.dae eius diei Vesperae, nisi die Sabbathi praecedente fuerit, aut feria subsequente 2.a futurum sit festum aliquod 2.as vel 1.as requirens Vesperas Musicales. 4.to Possent quidem mottetae temporis Quadragesimalis etiam usurpari in Officio, quod feria 5. Coenae Domini musicaliter decantatur; tum vero aptiores erunt, quae de Venerabile Sacramento, aut de passione Domini paulo inferius inscribuntur. 5.o Hoc tempore Quadragesimae post Dominicarum Festorumque Vesperas antehac usus etiam erat psalmi 50. Miserere musicaliter decantandi; qui mos desijt quidem (quorundam huic refragantium acediosa ignavia) subdidi tamen huius psalmi inter reliquas cantiones exinde etiamnum in choro nostro remanentis Indicem his de Quadragesima mottetis, quia nunc loco mottetarum de passione Domini subinde eum usurpavimus ad sepulchrum Domini cantantes, de quo mox. […] [S. 94] 94 De Hebdomada Sancta et Cantionibus eiusdem. 1 Sciendum, quod in die Palmarum et feria 6ta Parasceves ad Passionem Domini sub Missa seu Officio cantando habeatur chorus Musicalis iuxta Cymbalum vel Regale, in Contrapunct, qui reperitur copositus a Domino Johann Georg Benn contentus libris violaceis, vocibus item duplicato descriptis in cistae Receptaculo XVIII. Congregantur autem pro hocce cantu Domini Musici ad organum minus a latere Custodiae ad dictum Regale, ut ex opposito Cronistae cum Ministris suis etc. ad alterum organum minus a laterae [sic] Praepositurae stantis suum perficiant, ad quem antehac quidem nullum adhibebatur organum aut aliud instrumentum; modo autem Regale pro Basso organico a Domino Mauritio Suter composito, id quod et decentius et pro continenda voce passionem cantantis Cronistae commodius videbantur. 2 Mottetas de passiones Domini usurpavimus hucusque, et utimur etiamnum commodissime in die Parasceves post Matutinum et in Sabbatho Sancto post collatiunculam nocturnam ab hora 7.ma circiter Vespertina usque ad 8.vam vel paulo ultra scilicet musica solet haberi pro magis excitanda ac iuvanda devotione populi ad sepulchrum Domini nostri coram Venerabili pie orantis. Et hic cantus potest institui ad libitum

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Rectoris sive ad organum maius, sive ad organum minus, vel etiam ad Regale ut hactenus diversis diversimode placuit. 3 […] Denique scias hanc musicam ad Sepulchrum Domini utroque die a nobis hactenus coeptam fuisse per decantatum Miserere, cuius indicem paulo ante videre poteris. 4 Sabbatho Sancto cantatur ad organum maius musicaliter totum Completorium, incipiendo videlicet a Versu: et averte iram etcetera ac dein Domine ad adiuvandum, cum omnibus psalmis, antiphona: Vespere autem Sabbathi ad canticum, ipsoque Cantico: Nunc dimittis, et antiphona Regina caeli. […] [S. 109] 109 […] In ipsius diei Paschatis seu Resurrectionis Dominicae Matutino figuraliter ad organum maius cantatur: Te Deum laudamus etcetera 3 Officium eiusdem diei, uti et utriusque subsequentis feriae musica solenni ibidem. In Vesperis huius tridui pariter solennibus cantantur figuraliter etiam Antiphonae cum Cantico completorij nunc dimittis. […] 5 Sabbatho ante Dominicam in albis musicaliter etiam cantatur in Vesperis caeteroquin choralibus Magnificat, et postmodum in Completorio etiam Antiphona Beatae Virgini Regina Coeli. 6 In octava Paschatis, seu, Dominica in albis officium cantatur musicaliter ad organum minus. In Vesperis tamen huius diei, nisi festum duplex 1.ae aut 2.ae classis in diem Lunae sequentem incidat, nulla amplius habetur Musica. 7 Clauditur tempus paschale per Antiphonam Regina coeli etcetera musicaliter decantandam ad organum minus Sabbatho post Pentecosten finito officio, quod eo die post Nonam primum habetur. […] [S. 125] 109 125 De Ascensione Domini. Celebratur haec primis secundisque Vesperis et officio ad Organum maius musica solenni; et in ijs quidem etiam Antiphonae Hymnus et nunc dimittis figuraliter cantantur. […] In ipsa die Ascensionis Nona quoque musicaliter concinitur primum postquam redierit et Ecclesiam Collegiatam praeterrecta fuerit processio Equestris. […] De Pentecoste. Sabbatho ante Pentecosten quid officio diei finito agendum dictum supra fol. 109. Caeterum hoc etiam Sabbatho totoque triduo pentecostes ad Vesperas et tria officia fit organo maiori musica Solennis, cantanturque in Vesperis musicaliter etiam antiphonae, Hymnus, et in Completorio nunc dimittis. […] Die Sancto Pentecostes figuraliter etiam cantantur psalmi (si placet, etiam Hymnus: Veni creator Spiritus etcetera) Tertiae […] [S. 126] 110 126 De Festo Sanctissimae Trinitatis. Est quidem festum hoc 2.dae classis tantum; at quia tantae dignitatis cantantur 1.ae et 2.ae Vesperae cum officio eiusdem ita iubente Reverendissimo Domino Chori Rectore Domino Beato Schuemacher ad organum maius; antiphonae tamen in illis, uti et Hymnus, choraliter. […] [S. 147] 147 De Festo Sanctissimi Corporis Christi et [eingefügt: mottetis] de Venerabile Sacramento 1 Celebrandum est festum Sanctissimi Corporis Christi tam quoad officium tam quoad Vesperas utique musica solemni ad organum maius. Convenit autem officium illius diei (ut tempus pro instituenda processione lucreris) et vesperas utrasque (propterea quod caeteris in Choro tamdiu aperto capite semper stare paulo molestius accidat) fieri breviores. In his nihilominus figuraliter cantantur etiam antiphonae, Hymnus, et canticum Completorii Nunc dimittis.

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 395 2 Intra processionem huius diei eundo ad singulas usque Capellas cantantur singulae cantiones, quae sine Basso generali vel organico in hunc finem compositae habentur inter mottetas scriptas non compactas de Venerabile Sacramento in cistae receptaculo XXIV. Has videbis assignatas infra fol. 157. ad finem. Dein prope singulas Capellas ad Regale seu Cymbalum subsistendo cantantur 8. vocibus sine instrumentis singulae etiam mottetae, quae in libellos consutae pariter habentur ibidem authore Domino Johann Georg Benn. Quarum tamen loco inibi etiam aliis uti Chori Rector neutiquam prohibetur. Sunt autem illae quatuor: Exultate, Caro mea, O Sacrum, O salutaris. 3 Per huius festi octavam singulis diebus officium quidem more alias solito choraliter inchoatur; cantantur tamen sub eodem figuraliter ad organum minus vel regale quatuor mottetae; 1a post Epistolam loco gradualis. 2a. post Credo ad offertorium. 3a. post Elevationem, 4a. post Agnus Dei pro Communione, quas utique convenit de Venerabili esse, nihil tamen obstat, quo minus etiam ex ijs, quae de Christo Jesu, de tempore quovis, aut qualibet solennitate inscribuntur, hic applicentur. Caetera praeter dictas quatuor mottetas in his officiis omnia habentur cantu chorali. 4 Singulis etiam diebus per hanc Octavam in Vesperis caeteroquin Choralibus musicaliter ad organum maius [correted by another hand: minus] cantatur Magnificat tantum. Excepto Sabbatho: quo et Salve habetur figuraliter. In ipsa vero Dominica infra octavam Sanctissimi Corporis Christi totum officium musica paulo solemniori cantatur ad organum minus [correted by another hand: maius]. In Vesperis autem eiusdem diei ad organum musicaliter nihil cantatur nisi Canticum Magnificat. [by another hand: Quod si Dominica haec Vigilia sit Sanctorum 10000 Martyrum cantatur etiam Salve] [S. 148] 148 5 In ipsa dein octava Sanctissimi Corporis Christi officium totum […] ad organum minus [von anderer Hand korrigiert: maius] Musica solemni. In Vesperis tamen 1.mis aeque ac 2.dis nil per cantum figuralem, nisi Magnificat ut paulo ante de caeteris per et infra octavam diebus insinuatum. […] [S. 307] 307 […] Directorium Particulare in omnia et singula totius Anni Festa Fixa […] Circumcisio Domini. Celebratur hoc festum per 1.as 2.dasque Vesperas et officium contra quam alia pleraque festa 2.ae classis Musica solenni ad organum maius, tum quod festum Domini sit, tum ut servet consequentia seu conformitas cum die Nativitatis Domini et hanc subsequentium, quae omnes Musicam suam ad organum maius habuere. Vesperarum autem Antiphonae non figurali sed chorali tantum cantu concinuntur. Solent insuper huius festi Vesperae 2dae tum decore fieri potest, abbreviari, ut sic opportunitas ad honestam iucundioremque coenulam cum civibus sumendam transeundi ijs, quibus libuerit. Epiphania Domini duplex 1.ae classis Si ullum totius anni festum a Sancta Christi Ecclesia, profecto quoque solennissime celebratur; unde 1.ae et 2.ae Vesperae una cum officio ad organum maius solenni cantantur musica; Cumque festum sit 1.ae classis in utrisque Vesperis figuraliter etiam decantantur Antiphonae, Hymnus; et in Completorio canticum Simeonis: Nunc dimittis; cum antiphona Beatae Virginis Alma Redemptoris. […] [S. 309] 309 Festa Februarij. Die 2 | Purificatio Beatae Virginis Mariae. duplex 2. classis. Cantantur Vesperae 1.ae et 2.ae cum Officio ad organum minus musica paulo solenniori. In utroque Completorio, contra quam alias in festis 2.ae classis fieri soleat, figuraliter etiam cantatur Simeonis Canticum: Nunc dimittis, utpote huic festo proprium; velut et infra insinuatur fol. [leer].

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Cantiones autem alias in officio usurpandas quaeque huius festi propriae sunt, indicat tibi praesens Index supra fol. 259. Si hae non sufficiant, alias inquires de Beata Virgine Maria à fol. 235. etc. 5. | S. Agathae Virginis et Martyris duplex Festum fori quidem non autem proprie simul & Chori. Plura per annum huiusmodi habentur, et hic annotabuntur festa, quae festive in foro quidem non autem in choro celebrantur. Ad distinctionem tamen utque plebis devotioni aliquatenus saltem condescenderet ac sese conformaret chorus 1.ae similium festorum Vesperae antehac solebant decantari per Falsobordon psalmos, ita videlicet, ut alternatim canerent horum versus choraliter Chorus, et figuraliter musici ad organum minus; Quos psalmos festorum communium sicut et de Beatissima Virgine Maria, et de Apostolis, ac Virginibus etiamnum folijs separatis inscriptos reperies in Receptaculo [leer]. Modo autem mos iste sic decantandi Vesperas authoritate Reverendissimi Capituli sublatus est penitus, horumque festorum vesperae cantantur non aliter ac aliae festorum duplicium per annum, hoc solo discrimine, quod pro huius modi festis fori Praesbyterum ad Vesperas agat, non quis ex sacellanis, sed Canonicus Hebdomadarius, uti alias in Sabbathis fieri solet. Officium tamen pro maiori feriantis devotione plebis hoc et similibus fori solius festis musica simpliciori cantatur ad organum minus et hucusque, a tempore illo quo Opus obtinui, in huiusmodi festis ego usus fui Missis in Contrapunct libro grandi Authoris Joannis Antonii Grossi contentis, quas etiam pro maiori opportunitate seu commoditate et copia musicorum a me descriptas invenies in Receptaculo [leer] 24. | Sanctae Mathiae Apostoli. Habetur musica festum tale 2.ae classis condecens ad utrasque Vesperas et Officium organo minori. […] [S. 311] 311 Festa Martij […] 19. | Sancti Josephi Confessoris duplex 2. classis Habentur 1.ae et 2.ae Vesperae cum officio per musicam solenniorem ad organum minus. 26. | Annuntiationis Beatae Virgini Mariae. duplex 2. classis. Celebratur festum istud ad utrasque Vesperas et officium musica festum 2.ae classis et Beatae Virginis decente, si in Quadragesima habeatur, ad organum minus. Quodsi contingat transferri post pascha, cantantur et Vesperae et officium ad organum maius, uti sic iubente Reverendissimo etcaetera Domino Chori Rectore Georgio Ludovico Dürler factum anno 1687. quo festum hoc translatum celebrabatur feria 2. post octava Paschae. […] [S. 313] 313 De Festis Aprilis. […] 23. | Sancti Georgij Martyris duplex. Est festum istud illorum unum de quibus supra ad festum S. Agathae fol. 309. scriptum, celebrandum proin eum in modum, qui ibidem declaratur. 25. | Sancti Marci Evangelistae Celebratur utrisque Vesperis et Officio Musicalibus ad organum minus. […] [S. 315] De Festis Maij. Die 1. | Sanctorum Apostolorum Philippi et Jacobi. duplex 2. classis habentur Vesperae 1.ae et 2.ae uti et Officium musica paulo solenniori ad organum minus. 3. | Inventio Sanctae Crucis. duplex 2. classis. Celebratur ut illud superius ad 1. huius. Officium convenit etiam paulo solemnius esse propter adventantes processionaliter hospites ex Hizkirch. […] Nota Bene Duae adsunt Sonatae super cantilenam Maialem compositae […] Item habetur super eandem melodiam composita una missa foliis separatis inscripta […] 8. | Apparitio Domini Michaelis Archangeli Insignis huius Collegiatae Ecclesiae Patroni. Habentur huius festi ambae Vesperae et officium Musica tam solemni et excellenti, quam potest, ad organum maius. In Vesperis figuraliter etiam cantantur Antiphonae et Hymnus, sicuti et in Completorio utro-

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 397 que Canticum: Nunc dimittis. Poteris etiam, si Musicorum copiam habes, ad officium maxime vel totum, vel saltem ad unam aut alteram eiusdem Symphoniam seu Mottetam bino vel terno uti organo, totidem scilicet Choris musicalibus festum Divi, cultumque Divinum magis solennizantibus. […] 12. | Sancti Pancratij Martyris Secundarij huius Collegiatae Ecclesiae Patroni duplex 2. classis. Celebratur musica condecenti ad organum minus utriusque Vesperis et officio. In illis cantantur Antiphonae choraliter tantum. 15. | Octava Apparitionis Sancti Michaëlis Archangeli. duplex. In primis Vesperis caeteroquin Choralibus cantatur figuraliter Magnificat, et post Completorium antiphona Beatae Virginis Regina caeli ad organum minus. In die ipsa cantatur totum officium musica non prorsus simplici ad idem organum. Ad 2.as autem Vesperas illius diei nulla amplius habetur musica. […] […] [S. 317] 317 De Festis Iunij […] Die 15 | Sancti Viti Martyris duplex 2. classis Festum chori et fori. Vesperae ambae, cum officio diei, celebrandae Musica tale festum condecente ad organum minus. Introitus Missae. In virtute tua etcaetera. 22 | Sanctorum 10000. Martyrum. duplex maius Festum fori, non chori: ex ijs unum, de quibus supra fol. 309. solum officium diei cantatur musica simplici, et Missa, si placet in Contrapunct ex opere magno Antonii Grossi. Introitus Missae: Clamaverunt etcaetera habetur Authore D. M. Suter folijs separatis inscriptus 5. vocibus in Receptaculo 1.o. 24 | Sancti Ioannis Baptistae duplex 1. classis. – In utrisque Vesperis et officio diei habetur Musica solennis ad organum maius. Cantantur figuraliter in illis etiam Antiphonae, Hymnus, et Completorij Canticum, cum antiphona de Beata Virgine Maria in fine. Introitus Missae: De ventre etcaetera invenitur in utroque opere maiori videlicet et minori supra fol. 9. descriptis. 29. | Sanctorum Apostolorum Petri et Pauli. Quae de hoc Sancti Joannis Baptistae festo insinuavi, eadem de isto Sanctorum Apostolorum dicta sunt. […] [S. 320] 320 De Festis Iulij. [Die] 2. | Visitatio Beatae Virginis Mariae duplex maius. Vesperae 1.ae antehac solummodo per falsobordon cantatae; uti aliae festorum duplicibus fori tantum, de quibus supra fol. 309. Reputabant vero exhinc nonnulli, quos inter et ipse Reverendissimus etcaetera Dominus Chori Rector, modo Custos meritissimus, decentius integras Musicaliter decantari, licet, hoc ipso quod duplex maius tantum sit, [hinzugefügt: per musicam] paulo simpliciorum; Quali et officium cantatur ad organum minus. in 2.dis autem Vesperis nullis amplius erit opus musicis. Dominica proxima post octavam Sanctorum Apostolis Petri & Pauli Festum Sanctorum Angelorum Custodum duplex 2. classis cum octava non solenni celebratur utrisque Vesperis et officio ad organum minus. […] 11. | Sancti Placidi Martyris duplex 2. classis secundarij in altari summo Patroni. Vesperae ambae cum officio decantantur Musica solenniori ad organum minus. Introitus Missae: In virtute etcaetera. 22. | Sanctae Mariae Magdalenae duplex maius. Vesperae simpliciter Chorales ut supra fol. 309. de festo Sanctae Agathae. Officium diei tamen musicale, pauloque solennius propter adventantes pro huius loci nundinis peregrinos hospites. 25. | Sancti Iacobi Apostolis duplex 2. classis. – ad ambas Vesperas et officium diei sit Musica festum Apostoli condecens ad organum minus. […]

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[S. 323] 323. De Festis Augusti Die 10. | Sancti Laurentij Martyris duplex 2. classis. Celebratur musica solenniori ambabus Vesperis et officio ad organum minus. 15. | Assumptio Beatae Virginis Mariae. duplex 1.ae classis. Est hoc unum de quatuor solennissimis huius loci festis; unde et officium cum ambabus Vesperis habetur musica omnino solenni ad organum maius; atque in his, etiam musicaliter cantantur antiphonae, Hymnus, et canticum Completorii cum antiphona Salve post Completorio. […] 24 | Sancti Bartholomaej apostolis duplex 2. classis Cantantur ambae Vesperae et officium musica festo tali congruente ad organum minus. 28 | Sancti Pelagij Martyris duplex 1. classis – Festum Chori non fori. Habetur ad utrasque Vesperas, uti et ad officium Musica solennis organo maiori; et in illis figuraliter etiam cantantur Antiphonae, Hymnus, Nunc dimittis et Salve in Completorio. […] [S. 325] 325 De Festis Septembris Die 8. | Nativitas Beatae Virginis Mariae. duplex 2. classis. Gaudium haec attulit universo, celebrabis, proin eam musica gaudiosa et sat solenni per 1.as 2.dasque Vesperas et officium ad organum minus. 14. | Exaltatio Sanctae Crucis. duplex maius. Vesperas, ut alia festa similia, de quibus supra fol. 309. habet tantum modo Chorales Sabbathinis per annum aequales. Officium vero simplici musica decantandum, ut ibidem notatur. […] 21 | Sancti Mathaei Apostoli et Evangelistae duplex 2. classis. Celebratur totum ad organum minus, musica tale festum et Sanctum condecente. 29. […] | Sancti Michaëlis Archangeli huius Ecclesiae Principalis Patroni. Celebratur musica solennissima non tantum ad maius, sed et, si tot musici adsint, ad unum vel utrumque minus organum, Choro vel duplici vel triplici. In ambabus Vesperis (Nota Bene: 2.dae huius diei cantantur de Dedicatione Ecclesiae cum commemoratione Sancti Michaëlis.) etiam Antiphonae Hymnus, Nunc dimitti & Salve figuraliter. 30. […] | Dedicatio Collegiatae huius Ecclesiae. Quod de festo D. Michaëlis paulo ante dictum, idipsum et de isto observa. […] […] [S. 327] 327 De Festis Octobris Die. | Dominica 1.ma octobris habetur celebraturque festum Sanctissimi Rosarij Beatae Virginis Mariae. duplex maius. Celebratur autem eodem prorsus modo, quo festum Visitationis Eiusdem Beatissimae Virginis, de quo vide supra fol. 320. Illic vero descriptis hic addendum, quod iuxta ibidem expressa per se quidem in 2.dis Vesperis huius diei nulla amplius habenda sit Musica; nisi, quod bene notabis, aliud festum maius aut una ex octavis vel D. Michaëlis Archangeli vel Dedicationis Ecclesiae in subsequentem Lunae diem occurrat; hoc enim casu faciendum erit id ipsum, quod de primis Vesperis octavae D. Michaëlis iussum supra fol. 315. et die 15. maij. 6. | Octava Sancti Michaëlis Archangeli. duplex. Celebratur ut octava Apparitionis Eiusdem de qua vide quae scribantur supra fol. 315. Illud huic speciale, quod hic etiam in 2.dis Vesperis figuraliter cantetur Magnificat ob festum octavae Dedicationis Ecclesiae subsequentis. 7. | Octava Dedicationis Ecclesiae huius Collegiatae. Officium prioris diei officio sit, si non aliquanto solennius, saltem aequale, ad organum minus. In 2.dis Vesperis musica nulla. Dominica post hanc Dedicationis octavam proxime festi celebratur festum Sancti Vitalis Martyris cuius hic ossa et sacrum corpus requiescunt, duplex 2. classis. Ad vesperas 1.as et 2.das, sicuti et ad officium Musica solennis organo minori. Introitus Missae. Laetabitur etcaetera de communi unius martyris.

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 399 18. | Sancti Lucae Evangelistae duplex 2. classis. Festum chori, non fori. Cantantur ambae Vesperae et officium musica non prorsus simplici nec etiam adeo solenni ad organum minus. 28 | Sanctorum Apostolorum Simonis et Iudae. duplex 2. classis. Habetur in ambabus Vesperis et Officio Musica paulo solennior ad organum minus. […] [S. 329] 329 De Festis Novembris Die 1. | Sanctorum omnium. duplex 1. classis. Celebratur musica solenni ad organum maius officio et duabus Vesperis, in quibus etiam figuraliter cantantur Antiphonae, Hymnus, et Nunc dimittis in Completorio. Hoc et crastino die cantatur (caepto post psalmos consuetos per Praesbyterum Hebdomadarium Pater noster etcaetera hocce per circuitum incensante et aspergente Tumbam Mortualem) ab hanc circumstantibus Dominis Sacellanis Responsorium chorale Libera me Domine etc. folijs non compactis a me inscriptum, concinente (extra Versus qui a solis duobus Dominis Cantoribus cantantur) etiam organo maiori. Folia autem ista reperies in Receptaculo cistae XLVII. iuncta cantionibus scriptis pro defunctis. 2. | Commemoratio omnium Fidelium Defunctorum. Cantatur hoc die figuraliter solum Requiem, seu Missa defunctorum post Nonam ultimum officium ad organum maius. Celebratur etiam infra hanc octavam Anniversarium Reverendissimorum omnium Dominorum Praepositorum et Canonicorum huius Ecclesiae officio de requiem solenni seu Musicali ad regale [korrigiert: organum maius] post Primam. 11. | Sancti Martini Episcopi et Confessori duplex. Ad vesperas, iuxta superius fol. 309. scripta, figurali cantu nihil. Officium solum Musica simplici ad organum minus. Simile officium de hoc eodem Sancto cantatur etiam crastino mane, ubi anniversarium Congregationis suae celebrant Reverendi Domini Sacellani. 21. | Praesentatio Beatae Virginis Mariae. duplex maius. Celebratur ut festum Visitationis Eiusdem supra fol. 320. cum hoc tamen discrimine, quod huius festi etiam 2.ae Vesperae paulo solenniori musica decantentur, ideo; quia festum istud per hacce Vesperas contiguum est festo Sanctae Caeciliae Virginis et Martyris Musicorum omnium Patronae, quam sic etiam in pervigilio convenit a nobis honorari. 22 | Sanctae Caeciliae Virginis et Martyris Augustissimae Musicorum Patronae Primas Vesperas quales hoc festum habeat, paulo ante insinuatum. Officium autem diei cantatur musica, quantum fieri potest solennissima: 2.dis vero Vesperis nulla amplius adhibetur. Nota Bene. Ad festum istud dantur a Reverendissimo etcaetera Domino Collegij Quaestore Reverendissimo etcaetera Domino Musices Rectori 16.- gl. 20.- s. Ex quibus Reverendo Domino Ecclesiae Collegiatae Subcustodi cedunt 20.- s. Pro his autem iste ex Argentoria et Reliquijs ad officium ornet summum altare per modum festi duplici 2. classis. – Aedituis, quibus incumbit ad officium pulsare omnes, maxima excepta, campanas in turri maiori 125.- s. – Calcanti ordinario organi (dem Brueder der Stifft) 20.- aut 25.- s. Residuum dictae pecuniae distribuitur inter Dominos Musicos pro meritis istorum, ac maiori ad musicam studio et frequentia. [quer am Rand:] Die 25. Sanctae Catharinae Virginis et Martyris. Ad Vesperas 1.as nihil musicale. Officium paulo solennius pro hospitum ad nundinas venientium de ratione, ad organum minus. 26. Vesperae solennes, ad organum maius, ob subsequens festum Sancti Conradi Episcopi & Confessoris 1.ae classis. – in his et 2.dis figuraliter cantantur etiam Antiphonae, Hymnus, et nunc dimittis etcaetera. Officium itidem solenni musica festo 1.ae classis congrua decantatur pariter ad organum maius. Die 30. Sancti Andreae Apostoli duplex 2. classis Cantantur ambae Vesperae et Officium musica reliquis Sanctorum Apostolorum festis 2. classis simili et competente ad organum minus. […]

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Claudio Bacciagaluppi

[S. 333] 333 De Festis Decembris Die 6.o | Sancti Nicolai Episcopi et Confessoris duplex. In Vesperis nec primis nec secundis musica. Offi­ cium tamen cantu figurali similibus festis consueto, ut supra fol. 309. 8. | Conceptio Immaculata Beatae Virginis Mariae. duplex 2. classis. Celebratur utrisque Vesperis et Officio paulo solennioribus ad organum minus. Occurrit semper infra hunc mensem, die quidem incerto Dominica 3tia Adventus, pro qua non quidem Vesperae, officium tamen cantatur musica simplici ad organum minus. […]

2b. Tabellarische Zusammenfassung Die Angaben beruhen auf dem erhaltenen Teil der Quelle; es ist also mit Informationslücken zu rechnen. Festa mobilia: Fest

Figuraliter aufgeführt

Orgel

3. Advent

Messe, mit Motetten

minus

Sonn- und Festtage der Fastenzeit

nach der Choralvesper: früher das Miserere, nun Motetten beim Grab Christi



4. Fastensonntag

Messe ohne Instrumente

minus

Palmsonntag

Messe

Cembalo od. Regal

Gründonnerstag

Messe Motetten beim Grab Christi

Cembalo od. Regal ad lib.

Karfreitag

Messe nach der Choralvesper: Miserere und Motetten beim Grab Christi

Cembalo od. Regal ad lib.

Karsamstag

Completorium mit Nunc Dimittis; Regina Coeli nach der Vesper: Miserere und Motetten beim Grab Christi

maius ad lib.

Ostern

Te Deum Messe Vesper, mit Antiphonen; Nunc dimittis

maius maius maius

Ostermontag und -dienstag

Messe Vesper, mit Antiphonen; Nunc dimittis

[maius] [maius]

Samstag vor Albis

Magnificat; marianische Antiphon

[?]

Dominica in Albis

Messe

minus

Christi Himmelfahrt

1. Vesper Non [Messe, mit Motetten] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis

maius maius [maius] maius

Pfingstsonntag

1. Vesper Terz Messe, mit Motetten [und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus

maius maius maius maius

Pfingstmontag und -dienstag

1. Vesper Messe, mit Motetten [und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus

maius maius maius

Samstag nach Pfingsten

Marianische Antiphon

minus

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 401 Trinitatis, 2. classis

1. Vesper Messe, mit Motetten 2. Vesper

maius maius maius

Vortag von Fronleichnam

Te Deum

maius

Fronleichnam

1. Vesper (kurz) Te Deum Messe, mit Motetten [und Symphonien] (kurz) 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis (kurz) Prozession mit Motetten

maius maius maius maius Cembalo od. Regal

Tage unter der Oktav von Fronleichnam

Motetten bei der Messe Messe (nur am Sonntag) Magnificat; marianische Antiphon (nur am Samstag)

minus od. Regal minus, später maius maius, später minus

Oktav von Fronleichnam

Magnificat zur 1. Vesper Messe [mit Motetten und Symphonien] Magnificat zur 2. Vesper

[?] minus, später maius [?]

Festa fixa: Fest

Figuraliter aufgeführt

Orgel

Weihnachten

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis Te Deum Frühmesse (kurz) Messe 2. Vesper, mit Antiphonen

maius maius maius maius maius

Stephanstag

1. Vesper (kurz) Messe (kurz) Messe, mit Motetten 2. Vesper, Anthiphonen choraliter mit Orgelbegleitung

Pfarrkirche Pfarrkirche maius maius

Beschneidung, 2. classis

1. Vesper Messe, mit Motetten 2. Vesper (kurz)

maius maius maius

Epiphanias, duplex 1. classis

1. Vesper Messe [mit Motetten und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

maius maius maius

Mariӕ Reinigung, duplex 2. classis

1. Vesper; Nunc dimittis Messe 2. Vesper; Nunc dimittis

[minus?] [minus?] [minus?]

Hl. Agatha, duplex, fori non chori

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „in contrapuncto“

minus minus

Hl. Matthias

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Joseph, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Mariӕ Verkündigung, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus od. maius minus od. maius minus od. maius

Hl. Georg, duplex, fori non chori

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „in contrapuncto“

minus minus

Hl. Markus

1. Vesper 2. Vesper

minus minus

402

Claudio Bacciagaluppi

Hl. Philipp und Jakob, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Kreuzauffindung, duplex 2. classis

1. Vesper Messe, mit Motetten und Symphonie über das Marienlied 2. Vesper

minus minus minus

Erscheinung Michaels

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis Messe [mit Motetten und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis

2 od. 3 Orgeln 2 od. 3 Orgeln 2 od. 3 Orgeln

Hl. Pankratius, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Oktav der Erscheinung Michaels

Magnificat in der 1. Vesper; marianische Antiphon Messe

minus minus

Hl. Veit, duplex 2. classis, chori et fori

1. Vesper Messe, mit Introitus In virtute tua 2. Vesper

minus minus minus

Hl. 10.000 Märtyrer, duplex maius, fori non chori

[1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter] Messe „in contrapuncto“, mit Introitus Clamaverunt

[minus] minus

Hl. Johannes der Täufer, duplex 1. classis

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe, mit Introitus De ventre 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

maius

Hl. Petrus und hl. Paulus

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

maius

Mariӕ Heimsuchung, duplex maius, fori non chori

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „in contrapuncto“

minus minus

Schutzengel, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Placidus, duplex 2. classis

1. Vesper Messe, mit Introitus In virtute tua 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Maria Magdalena, duplex maius

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „etwas feierlicher“

minus minus

Hl. Jakobus, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Laurentius, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Mariӕ Himmelfahrt, duplex 1. classis

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

maius

Hl. Bartholomӕus, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

maius maius

maius maius

maius maius

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 403 Hl. Pelagius, duplex 1. classis, chori non fori

1. Vesper, mit [Antiphonen und] Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe 2. Vesper, mit [Antiphonen und] Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

maius

Mariӕ Geburt, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Kreuzerhöhung, duplex maius

Messe mit „einfacher Musik“

[minus]

Hl. Matthӕus, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Michael

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe, mit Motetten und Symphonien 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

2 od. 3 Orgeln

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon Messe, mit Motetten [und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; marianische Antiphon

2 od. 3 Orgeln

Rosenkranzfest, duplex maius

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „in contrapuncto“

minus minus

Oktav des hl. Michael, duplex

Messe Magnificat der 2. Vesper

minus [minus]

Kirchweihe

maius maius

2 od. 3 Orgeln 2 od. 3 Orgeln

2 od. 3 Orgeln 2 od. 3 Orgeln

Oktav der Kirchweihe

Messe

minus

Hl. Vitalis, duplex 2. classis

1. Vesper Messe, mit Introitus Laetabitur [und Motetten und Symphonien] 2. Vesper

minus minus

Hl. Lukas, duplex 2. classis, chori non fori

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Simon und hl. Judas, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Allerheiligen, duplex 1. classis

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis Messe 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; Responsorium Libera me

maius maius maius

Allerseelen

Requiem

maius

Erinnerung an alle verstorbenen Kanoniker

Requiem

Regal, später maius

Hl. Martin, duplex

Messe mit „einfacher Musik“

minus

Folgetag von Hl. Martin

Messe mit „einfacher Musik“

minus

Mariӕ Tempelgang, duplex maius

1. Vesper, früher alternatim in Fauxbourdon, nun figuraliter Messe „in contrapuncto“ 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Cӕcilia

1. Vesper Messe [mit Motetten und Symphonien]

[minus?] [maius?]

minus

404

Claudio Bacciagaluppi

Hl. Katharina

Messe

minus

Hl. Konrad, 1. classis

1. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis Messe [mit Motetten und Symphonien] 2. Vesper, mit Antiphonen und Hymnus; Nunc dimittis; Responsorium Libera me

maius maius maius

Hl. Andreas, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Hl. Nikolaus, duplex

Messe

minus

Mariӕ Empfängnis, duplex 2. classis

1. Vesper Messe 2. Vesper

minus minus minus

Außerordentliche Feiern: Fest Primiz

Figuraliter aufgeführt Veni Sancte Spiritus

Orgel maius

3. Trompeteneinsätze bei der Elevation in Einsiedeln Aus dem Konvolut CH-E, A.EC.10, unnummeriert. [recto] Directorium / Quando ad Elevationem Jubilus / Tubarum cum Tympano et Organo / adhiberi soleat? 1.mo In Missis Pontificalibus extra Sanctissimum Sacellum. item in Primitiis RR. Patrum. 2.do In Sequentibus Festivitatibus, etiamsi non Pontificaliter celeberentur, ac id quidem ratione Mysterij, aut Solemnitatis. In Epiphania D.N. J. Christi. In Festo Sanctissimi P.N. Benedicti tempore Paschali. In Resurrectione D.N. Jesu C. In Dedicatione Basilicae majoris. In Ascensione D.N. In Die Pentecostes. In Assumptione B.V. Mariae. In Dedicatione angelica SS. Sacelli. In Solemnitate SS. Rosarij. In festo omnium Sanctorum. In Nativitate D.N. ad 3. Missam. [verso] 3.tio Jubilus hic Tubarum cum Tympano et organo ad Libitum fieri potest in hisce Solemnitatibus: In Natalitiis et Nominaliis Celsissimi Nostri feliciter regnantis. In Dedicatione S. Michaelis Archangeli, utpote Patroni Specialis Musices Eremitani. item in Festo S. Caeciliae V. et M. Patrone communis omnium Musicorum.

Zur Dramaturgie des liturgischen Kalenders 405 4. St. Michael und Kirchweihe (29. – 30. September)

Introitus

Anonymus

Messen „solemnissimae“ (dreichörig)

Franz Nikolaus Hartmann Walter Ludwig Bürgi (2)

Sinfonien

4 Sonaten zu 13 Stimmen. 2 anonym, 1 von Johann Stadlmayr [aus Apparatus musicus, RISM A/I S 4304] und 1 von Bürgi 1 Sonate zu 14 Stimmen in 3 Chöre von Stadlmayr [aus Apparatus musicus, RISM A/I S 4304] 1 dreichörige Sonate zu 15 Stimmen von Bürgi

Motetten

61 Motetten (alle Besetzungen), darunter eine dreichörige von Bürgi

Vesperpsalmen

Mit je 13 Stimmbüchern: a) aus Ludwig Hölzls Musica vespertina tripartita, RISM A/I H 5733, 4 Stimmen, 4 Ripieni, 4 Instrumente und Continuo. b) aus Tarquinio Merulas Concerto decimo quinto, RISM A/I M 2340. c) aus Maurizio Cazzatis Messa e salmi a cinque voci con 4 istromenti e suoi ripieni, op. 36, RISM A/I C 1635.

Hymnen

Index verloren

Magnificat Nunc dimittis Salve Regina

5. Die Komponistinnen und Komponisten von Psalmen Namentlich genannte Komponistinnen und Komponisten von Psalmen: 38 Komponistinnen und Komponisten aus Italien: 22 (58%) Collegium Ingolstadt, 1674: insgesamt 25 Italiener auf 51 Namen (49%) St. Niklaus-Pfarrkirche Feldkirch, 1699: insgesamt 20 Italiener auf 64 Namen (31%) Eidgenossen: Benn Johann Georg; Bürgi Walter Ludwig; Suter Jost Franz; Suter Moritz Aus Deutschland: Arnold Georg; Baudrexel Philipp Jakob; Caesar Johann Melchior; Gletle Johann Mel­ chior; Grieninger Augustin; Hagg (? als Nachtrag); Hölzl Ludwig; Martini Martin (als Nachtrag); Molitor Jakob; Reichwein Johann Georg; Stadlmayr Johann; von der Mihl Erasmus Aus Italien: Bagatti Francesco; Beria Giovanni Battista; Bernardi Stefano; Bruschi Giulio; Casati Gaspare (Abschrift aus Druck); Casati Gerolamo; Cazzati Maurizio; Cossoni Carlo Donato; Cozzi Carlo; Fonghetti Paolo; Grancini Michelangelo; Grossi Giovanni Antonio; Homati Tomaso; Leonarda Isabella; Mangoni Giovanni Antonio; Merula Tarquinio; Monferrato Natale; Olivero Agostino; Reina Sisto (z.T. Abschrift aus Druck); Rigatti Giovanni Antonio (Abschrift aus Druck); Ruggieri Costante; Trabattone Bartolomeo

406 6. Zusammensetzung des handschriftlichen Repertoires In handschriftlichen, ungebundenen Stimmen überlieferte Werke: ca. 770 Nach Gattung: Psalmen: 428 Magnificat: 87 Marianische Antiphonen: 174 Nach Besetzung: Werke mit Instrumentalbegleitung: 400 Werke a cappella: 358

Claudio Bacciagaluppi

Die Autoren 407

Die Autoren Claudio Bacciagaluppi was born in 1971 near Milan (Italy). He graduated in musicology in Zürich in 1998 and completed his Ph.D. in Fribourg with Luca Zoppelli in 2008. For his research, he obtained grants from the Paul Sacher Foundation (Basel) in 2000 and from the Swiss National Science Foundation in 2008. He worked for research projects of the Swiss National Sound Archive (Lugano) in 2001 – 2002 and of the University of the Arts (Berne) from 2005 – 2009. Since 2009 he is research assistant at Fribourg University. Since 2011 he also works for the Swiss RISM office in Berne. David Bryant is adjunct professor of music at Ca‘ Foscari University, Venice. His research interests regard above all the history of church music in Venice and its historical territories (musical practice, economy of production and consumption); he has also worked extensively on the economy of daily musical life in late nineteenth-century Italy and on the use of music in Italian prose theatre. Harald Buchinger geboren 1969 in Wien, C- und B-Prüfung in Katholischer Kirchenmusik, Studium der Theologie in Wien und Jerusalem, ab 1995 Assistent am Institut für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, 2002 Dr. theol. und 2006 Habilitation für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Universität Wien; 2004 – 2007 Forschungs- und Studienaufenthalt in Rom, seit 2008 Professor für Liturgiewissenschaft an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, 2012 – 2013 Senior Research Fellow und Visiting Professor an der Yale University, seit 2013 Dekan der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg. Thierry Favier Professor at the University of Poitiers, Thierry Favier is a specialist in French music of the 17th and 18th centuries. His research primarily focused on canticles, the motet à grand chœur and the musical life in Burgundy. His current interests are music collections, concert life and the notion of genre in cultural transfers. Among other books, he published a synthesis entitled Le motet à grand choeur. Gloria in Gallia Deo (Fayard 2009) and he directed with Sophie Hache a collective book on the sublime in European sacred music from Lalande to Haydn (Garnier, forthcoming).

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Die Autoren

Helen Geyer seit 1995 Professorin am Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, ist seit über 30 Jahren führende Forscherin für die Musik an den venezianischen Frauenkonser­ vatorien; sie führte das Projekt Psalmvertonungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Venedig durch, ist außerdem Opern- und Oratoriumspezialistin für diese Zeit und hat generell zu vielen ästhetischen und musikhistorischen Fragen des 17. – 20. Jahrhunderts gearbeitet; intensiv hat sie sich mit der Musikgeschichte Thüringens auseinandergesetzt (Gründung der Academia Musicalis Thuringiae e. V.). Sie leitet die Cherubini-Werkausgabe, ist stellv. Vorsitzende des DSZV, hat zahlreiche Monographien und Artikel publiziert bzw. herausgegeben. Andrea Gottdang studierte Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Volkskunde in Kiel und Wien. Promotion 1996 über Die Darstellung der antiken Geschichte in der venezianischen Malerei. 1680 bis 1760, ausgezeichnet mit dem Preis der Philosophischen Fakultät der Universität Kiel. 1996 – 2008 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der LMU München. 2003 Habilitation zum Thema Vorbild Musik. Die Geschichte einer Idee in der Malerei im deutschsprachigen Raum, 1780 bis 1915. Seit 2008 Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Salzburg. Publikationen zur italienischen Malerei des 16. – 18. Jh., zur deutschen Malerei des 19. und 20. Jh., zur Ikonographie und zu Wechselbeziehungen zwischen den Künsten (insbesondere Musik und Bildende Künste). Rainer Heyink wurde 1963 in Münster geboren. Studium der Historischen Musikwissenschaft, Systematischen Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an den Universitäten Münster und Hamburg; Promotion 1992. Zwischen 1990 und 1999 Forschungsaufenthalte in Italien (u. a. an der Musikabteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom). Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Frankfurt am Main. 2002 – 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Franckeschen Stiftungen in Halle und am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Halle-Wittenberg, dort 2007 Habilitation. Privatdozent an der Universität Halle-Wittenberg und seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Franz Körndle wurde 1958 in Monheim geboren. Er studierte seit 1980 Musikwissenschaft, Kunst­ geschichte und Mittelalterliche Geschichte an den Universitäten München und Augsburg. 1990 wurde er an der Universität München zum Dr. phil. promoviert, 1996 daselbst habilitiert. Körndle war von 1986 bis 1997 Assistent am Münchner Institut und von 1997 – 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter. Nach 1999 nahm er Vertretungen in Tübingen, München, Regensburg und Augsburg wahr. Von 2001 bis 2008 war er Hochschuldozent am Gemein-

Die Autoren 409

samen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, von 2008 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit April 2010 ist er Professor für Musikwissenschaft an der Universität Augsburg. 2012 wurde er dort zum Leiter des Leopold-Mozart-Zentrums ernannt. Publikationen zu Kirchenmusik, Jesuitendrama, Tasteninstrumente des 18. und 19. Jahrhunderts, Lied­ ästhetik sowie Landesgeschichte. Jeffrey Kurtzman is Professor of Music at Washington University in St. Louis. As a specialist in 16th and 17th-century Italian music, he has published books and articles on Claudio Monteverdi and other Italian composers and music from the same period, and editions of Claudio Monteverdi’s sacred music as well as a ten-volume series of seventeenth-century Italian music for Vespers and Compline. He was founding president and is an honorary member of the international ‘Society for Seventeenth-Century Music’, has served as the Reviews Editor of the Society‘s Journal, and is a member of the Editorial Boards of the Journal and the Society’s Web Library of Seventeenth-Century Music. Together with Anne Schnoebelen, he is the compiler of a detailed catalogue of more than 2.000 prints of Italian music for the mass, office and Holy Week from 1516 – 1770, published in the Instrumenta series of the Journal of Seventeenth-Century Music. Currently he is the General Editor of the Opera Omnia of Alessandro Grandi, published by the American Institute of Musicology, and General Editor of an anthology of 17th-century Italian instrumental music to appear in the Web Library of Seventeenth-Century Music. Marta Marullo graduated in Piano from the Conservatory ‘O. Respighi’ of Latina in 1999. In 2002 she earned a Degree in Musicology from the University of Pavia, where she specialised in History of Modern Music Theory. She also holds a Diploma in Archive-keeping from the Scuola Vaticana di Paleografia, Diplomatica e Archivistica of Città del Vaticano. She pursued a PhD in Musicology (2009) at the University of Lecce (Salento), Departement of Storia e Critica dei Beni Musicali. Her current research is centred on musical criticism, in particular on the study and exegesis of Sacred Music in the Renaissance and early Baroque. She is also involved in the preparation of the catalogue for the Bollettino Medioevo Musicale and the Bollettino Medioevo Latino of the Ezio Franceschini Foundation in Florence. She worked as an archivist and as a general inspector in Production office at the Orchestra Sinfonica di Roma, where she is currently Production Director. Michael Pauser geb. 1987 in Lichtenstein (Sachsen). 2008 – 2011 Bachelorstudium Musikwissenschaft und Philosophie an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der FriedrichSchiller-Universität Jena (Bachelorarbeit: Untersuchungen zu den Miserere-Vertonungen

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Die Autoren

Niccolò Jommellis), seit 2011 ebd. Masterstudium Historische Musikwissenschaft (Master­ arbeit zu den kleinformatigen Kirchenmusikwerken Luigi Cherubinis in Vorbereitung). Seit 2008 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 2009 – 2011 studentische und seit 2012 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, ebd. seit 2012 Lehrbeauftragter. 2012 – 2013 Mitarbeiter des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Erste Veröffentlichungen u. a. zu Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy und Niccolò Jommelli. Bandherausgeber der kritischen Gesamtausgabe der Werke Luigi Cherubinis. Seit 2011 Tätigkeit als Dirigent chorsinfonischer Konzertprojekte. Gerhard Poppe geboren 1960 in Heiligenstadt/Eichsfeld, Studium der Musikwissenschaft, Musikerziehung und Germanistik in Halle (Saale), 1987 Promotion, 1986 bis 1999 Anstellungen an Uni­versitäten und Musikhochschulen in Rostock und Dresden, 2006 Habilitation an der Universität Koblenz mit Festhochamt, sinfonische Messe oder überkonfessionelles Bekenntnis? Studien zur Rezeptionsgeschichte von Beethovens Missa solemnis (erschienen Beeskow 2007), seitdem Lehraufträge an den Universitäten Koblenz und Tübingen, seit 2007 Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, seit 2013 außerdem außerplanmäßiger Professor an der Universität Koblenz, zahlreiche Publikationen vor allem zu Georg Friedrich Händel, zur Dresdner Hofkapelle und zur mitteldeutschen Musikgeschichte sowie zur katholischen Kirchenmusik, umfangreiche Beratertätigkeit für Alte Musik-Ensembles bei Erst- / Wiederaufführungen vor allem von Musik des 18. Jahrhunderts. Elena Quaranta ist Musikwissenschaftlerin und arbeitet seit vielen Jahren über venezianische und venetische Musikgeschichte des 16. – 18. Jahrhunderts. Sie promovierte mit Oltre San Marco (publ. 1998). Sie lehrt und forscht in Venedig, in Zusammenarbeit mit der Universität Ca‘ Foscari und der Fondazione Cini. Alan Dergal Rautenberg wurde in Mexiko-Stadt geboren. Kompositionsstudium an der Nationalen Musikschule in Mexiko-Stadt sowie Musikwissenschaft, Musikpraxis und Romanistik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Abschluss 2009). 2008 – 2011 Mitarbeiter im Drittmittelprojekt „Psalmvertonungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Italien“ am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. 2010–2013 Stipendiat des Deutschen Studienzentrums in Venedig und der Graduiertenförderung der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Zurzeit Promovierender mit einer Dissertation zu vene­ zianischen Psalmkompositionen des 18. Jahrhunderts an den vier Ospedali grandi und der Basilica di San Marco. Seit August 2013 an der Staatsbibliothek zu Berlin im DFG-Projekt Bach Digital 2 tätig.

Die Autoren 411

Guido Reuter (geb. 1968) ist Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Kunstakademie Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Das barocke Sakralraumensemble; Deutsche Malerei der Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik; Theorie und Geschichte der Foto­ grafie; Bildende Kunst und Zeitlichkeit (Schwerpunkt: Statue und Zeitlichkeit); Skulptur des 20. Jahrhunderts. Eleanor Selfridge-Field is Consulting Professor of Music at Stanford University. She is the author of six books and many articles in musicology (among them a book on the music of Benedetto Marcello), as well as fifteen yearbooks and one anthology in digital applications in musicology. Her historical research has focused mainly on Venetian culture of the 16th – 18th centuries. She is currently exploring theatrical scenery in 18th-century opera. Junko Sonoda geboren 1978 in Yamaguchi (Japan). Studium der Musikwissenschaft an der staatlichen Ehime Universität, der städtischen Universität der Künste in Kyoto und der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar (DAAD-Stipendiatin). Forschungsförderung durch die Rohm Music Foundation 2004. Promotion 2013 in Kyoto (Titel: Die Vokalwerke von Johann Rosenmüller. Individualität und grenzüberschreitender Stil). Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der städtischen Universität der Künste in Kyoto. Birgit Johanna Wertenson studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Klavier in Weimar, Jena und Bologna, war Stipendiatin des Deutschen Studienzentrums in Venedig und des Forschungszentrums Musik und Gender in Hannover. Arbeit als Journalistin, Dramaturgin und Kulturmanagerin. 2007 – 2011 wissenschaftliche Mitarbeit am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Veröffentlichungen zur Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts und zur Neuen Musik. Doktorarbeit Mythos und Neue Musik. Zum Mythos als Medium des Wissenstransfers in zeitgenössischer Musik am Beispiel Orpheus & Kassandra (abgeschlossen 2014). Herausgeberin von Georg Friedrich Händel. Aufbruch nach Italien, Psalmen und Luigi Nono und der Osten. Saskia Maria Woyke studierte Historische und Systematische Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik in Hamburg und Genua. Nach Stipendien des DAAD und des Deutschen Historischen Instituts in Rom promovierte sie über das Opernschaffen Pietro Andrea Zianis. Ihre Habilitation schloss sie Ende 2013 ab („Stimme, Ästhetik und Geschlecht im barocken Italien“). Seit 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Jena und der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar im DFG-SFB „Kultur um 1800 – Ereignis

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Die Autoren

Weimar-Jena“. Seit 2007 war sie wissenschaftliche Angestellte des fimt Thurnau, zuletzt mit einem DFG-Projekt „Singstimmen in Italien 1600 – 1750“. Im WS 2013/14 und SS 2014 vertrat/vertritt sie die Professur für Musikwissenschaft an der Universität Bayreuth.