Tradition und Verfassungsrecht: zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft? [1 ed.] 9783428540709, 9783428140701

Die Bedeutung der Tradition für das Verfassungsrecht war bisher noch nicht Gegenstand einer systematisch vertieften Unte

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Tradition und Verfassungsrecht: zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft? [1 ed.]
 9783428540709, 9783428140701

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1234

Tradition und Verfassungsrecht zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft Vergangenheit als Zukunft? Von Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

WALTER LEISNER

Tradition und Verfassungsrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1234

Tradition und Verfassungsrecht zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft Vergangenheit als Zukunft?

Von Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Vorwort „Tradition“ ist ein Wort, das im Recht ebenso laufend benutzt, wie selten nur näher verdeutlicht wird. Letzteres geschieht dann in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, in der Regel ohne Systematisierungsstreben, ja ohne Versuche näherer Begriffsbestimmung. An deren Stelle treten meist allgemeinere Hinweise auf (rechts-)geschichtliche Entwicklungen. In besonderem Maße gilt dies für das Öffentliche, hier wieder speziell für das Staatsrecht. Selbst in dessen allgemein-grundsätzlicher, insbesondere ideengeschichtlich vertiefter Behandlung, in der Allgemeinen Staatslehre, ist Tradition als solche kein durchgehend rechtsbegrifflicher Topos. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil doch gerade auf dieser normativ hohen Stufe „Tradition“ im Sinne langer Übung wichtige Überzeugungskräfte entfalten könnte; so wird sie denn auch, jedenfalls verbal, immer wieder beschworen. In staats-politischen Diskussionen, wie auch im gesellschaftlichen Bereich, ist Tradition ein Wort, mit dem unterschiedliche, ja gegensätzliche Vorstellungen deutlich werden. Dies zeigt sich in vielen Einzelfragen, ja im Grundsätzlichen, nicht selten mit einer Intensität, welche bis in Lagerbildungen hineinführt: „Traditionalisten“ werden „Fortschrittlichen“ gegenübergestellt; Tradition erscheint den einen als überzeugender Ordnungsbegriff, den anderen als Hindernis auf dem Weg notwendiger Reformen. Gerade dieses Gegenüber, bis hin zum politischen FreundFeind-Denken, hat seinerseits – lange Tradition, verfassungsrechtlich verfestigt spätestens seit der späteren Aufklärung. Aufgabe der folgenden Betrachtungen kann es nicht sein, diese ideengeschichtliche Grundproblematik historisch auszuleuchten, staatsphilosophisch zu vertiefen oder gar hier eine menschliche Ewigkeitsdiskussion fortzuführen, zwischen Beharrung und Veränderung. Das Anliegen ist ein weit bescheideneres, es ist auf das gegenwärtige Staatsrecht und seine Dogmatik beschränkt: Gezeigt werden soll, welche vielfachen begrifflichen und systematischen Ansätze das geltende, praktizierte Verfassungsrecht bietet zur Erfassung und Eingrenzung eines Begriffs der Tradition. Vielleicht könnte er doch auch in dieser Rechtsmaterie, wenn auch nur in Elementen, fassbar, nicht nur allgemein-unkritisch eingesetzt werden. Dies ist ein schwieriges Unterfangen; es muss ein solcher – erster – Versuch, dem hoffentlich andere folgen werden, mit einer Vorsicht unternommen werden, die sich bis zu einer Behandlung steigert, welche Tradition in grundsätzlicher, letztlich wohl unauflöslicher Ambivalenz zeigen soll: Das Herkommen bringt beides zugleich im Recht, nur zu oft gleichgewichtig – Fortschrittshemmung wie Überzeugungskraft.

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Vorwort

„Traditionalisten“ wie „Fortschrittliche“ müssen sich beide als Advokaten ihrer Sache sehen, die aber letztlich nur eine gemeinsame sein kann – nun wirklich ein Bonum commune, das Gemeinwohl. Das Wort wird so oft gebraucht, für Einzelinteressen missbraucht, dass es dem Juristen schwer über die Lippen geht. Hier wird kein traditionalistisches Traktat geboten. Der Autor stand stets und steht hier in einer Mitte: Zwischen der Geschichtsverbundenheit des staatsrechtlichen Denkens und der Fortschrittshoffnung einer immer größeren, volleren Freiheit. Und er glaubt daran, dass dies im Letzten nicht Gegensatz ist, sondern die Zukunft. Deshalb werden im Folgenden Argumentationen geboten Pro und Contra Überzeugungskräfte des Vergangenen – Bisherigen. Elemente werden gesucht, nicht mit Blick auf ein Gesamtergebnis, auf „eine Grundthese“. Es ist dies ein antithetisches Nachdenken über Tradition – mehr nicht. Es sieht sich stets dem vielschichtigen, so oft sperrigen Staatsrecht verpflichtet, seinen Institutionalitäten in Evolution. Darin schließt es an jene „Grundzüge einer Allgemeinen Staatslehre“ an, die der Verfasser 2012 vorgelegt hat. Unterschiedliche Folgerungen mögen Leser aus diesen Seiten ziehen, hier wird dann jeder seine eigene Grundhaltung bestimmen. Dass dies nachdenklich geschehe – das haben Vergangenheit verdient und Zukunft. Was wahr ist, „wahrer“ an diesem Titel – der Autor weiß es nicht. München, im Januar 2013

Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Tradition, Wandel und Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Tradition und demokratische Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Die drei Schritte der „Tradition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Gegenwärtige „Grundstimmungen“ gegen juristischen Traditionalismus . . . . . . 17 1. Technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Tradition und/aus Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Grundströmungen einer Abschwächung der Traditionalität? . . . . . . . . . . . . 20 4. Nationalstaatliche Traditionen und „Herkommen“ in überstaatlichen Zusammenschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 5. Abschwächungstendenzen der „Tradition“ – dennoch Notwendigkeit ihrer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 III. Politik, Demokratie: Gegen Traditionalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Politik: Bewegung und Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Demokratie: Antithese zur Tradition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 IV. Verfassung: Staatsform aus Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Verfassung: Traditionsbezogene demokratische Ordnungsform . . . . . . . . . . 25 2. Verfassungsrecht als Verfestigung – Traditionalisierung der Ordnung . . . . . 26 3. Tradition und „Verfassung als Auftrag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

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Inhaltsverzeichnis

B. Tradition als Verfassungsbegriff – Allgemeines zu Geltungsvoraussetzungen und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I. Der Begriff Tradition im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Bisherige Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Feststellung bisheriger Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Zeitliche Nähe des Traditionellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Überzeugungskraft der Tradition – Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Lange Übung – Steigerungsform der Traditionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 34 a) Zusammenfassung von Unbestimmbarem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 b) Unvordenklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Tradition: Legitimation aus früherem Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Tradition als Legitimität, Staatsvoraussetzung, Wesen der Macht . . . . . . 37 b) Tradition: Macht (auch) aus (Willen der) Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . 39 4. Exkurs: Tradition und „Tendenz“ – „Dynamische Tradition“ . . . . . . . . . . . . 40 II. Die Rechtswirkung der Tradition – Herkommen und Rechtsgeltung . . . . . . . . . 41 1. Bindungswirkungen nur über gesetztes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Tradition als Geltungs-Form des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Geltungskonkretisierung durch Tradition – Anwendungs-Traditionen der Rechtslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4. Der favor legis: Geltungsverlängerung im Zweifel – durch Tradition . . . . . 44 5. Begründungsgewicht der Tradition – Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 III. Tradition und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Niedergang des Gewohnheitsrechts – damit des Traditionalismus im Recht? 47 2. Antitraditionalität aus der Entwicklung des Gewohnheitsrechts? . . . . . . . . . 47 3. Tradition als Systematisierung fortgesetzter Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Tradition: Ausgreifen in Außerrechtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 IV. Ergebnis zu Tradition als Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 I. Verfassungsentwicklung als wesentlicher Inhalt des Herkommens . . . . . . . . . . . 54 1. Tradition als geschichtsbezogene Verfassungsbegrifflichkeit . . . . . . . . . . . . 54 2. Verfassungsgeschichte als rechtliche Dogmengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Historia Magistra – Traditio legifera – Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Ambivalenz geschichtlicher Betrachtung gegenüber einer „Tradition“ . . . . 55 2. Tradition: Historische Erschlaffung – quietistische Versuchung zum Hedonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Historie als „Bild der Evolution“ – gegen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4. Historia – Magistra des Traditionsbruchs? – Die „revolutionäre Tradition“

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5. „Tradition im raschen Wandel“: in der Geschichte der politischen Ideen . . 60 III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Lang- und kurzfristige historische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Verabsolutierung kurzfristiger Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Geschichte als Pendelbewegung: Traditionsschwach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Tradition und „Unumkehrbarkeit“ geschichtlicher Entwicklungen . . . . . . . . 64 5. Geschichtswiederholung in Tradition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 D. Tradition und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 I. Die Ermittlung der Traditionalität im geltenden Verfassungsrecht: Induktives Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Traditionsmethodik aus Kontinuität – oder Herkommensbruch . . . . . . . . . . 68 2. Das Grundgesetz: Verfassungsrecht aus Traditionsbruch . . . . . . . . . . . . . . . 69 II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Zurückhaltendes Grundverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Die Ausnahme: „Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums“ . . . . . 72

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Inhaltsverzeichnis 3. Traditionsgehalt der Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Übergangsvorschriften als Traditionsregelungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Verfassungsrechtsprechung und Tradition als Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . 80 1. Fehlende Grundsatzrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Keine nähere Verdeutlichung nach Inhalt und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Formen einer „Traditionsbildung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4. Die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 IV. Tradition im Schrifttumsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Allgemein-Grundsätzliches und Einzelbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Beiträge zu einem verfassungsrechtlichen Traditionsbegriff im Schrifttum?

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V. Exkurs: „Verfassungswerte“ und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. „Verfassungswerte“ – ein Demokratieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Tradition als „Inhalt und Wirkung von Verfassungswerten“ . . . . . . . . . . . . . 86 3. Grenzen der Bestimmung von Verfassungswerten durch Tradition . . . . . . . 88 VI. Verfassungsgrundentscheidungen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie) und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Vorbemerkungen zum Folgenden: Grundfragen an Regelungen des geltenden Verfassungsrechts zu ihrem „Traditionspotenzial“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 VII. Grundrechtstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Allgemeines: „Grundrechtstraditionen“ als „Verfassungs-Traditionen“ . . . . 97 2. Traditionspotenzial der Grundrechte nach deren freiheitsschützendem Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Historischer Horizont der Grundrechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Formen der rechtlichen Grundrechtsgewährleistung – „Grundrechtssystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Inhaltsverzeichnis

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c) Geltungswirkung der Grundrechte – Sanktionen durch Normenkontrolle 101 d) Traditionell inhaltliches Ausmaß des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . 102 3. Tradition im Bereich rechtsinstitutionell verfestigter Grundrechte . . . . . . . . 105 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Beispiel: Ehe, Familie, Kindererziehung (Art. 6 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . 106 c) Eigentum – Erbrecht (Art. 14 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) „Institutionelles Fazit“ zur Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Traditionen im Bereich weiterer Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) Justizielle Traditionen (Art. 101 bis 104 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) 109 b) Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5. Ergebnisse zur „Grundrechtstradition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die „Änderungsintensität“ in der Staatsorganisation des Grundgesetzes . . . 113 2. Rückzug in und Primat der „Verfassungsrechtstechnik“ . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. „Entideologisiertes“ Staatsorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Tendenz zu „Traditionen in Einzelbereichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5. Insbesondere: „Traditionsgetragener Föderalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Historische Betrachtung: Heterogene Tradition in Abschwächung? . . . . 118 b) Technisch-ökonomische Entwicklungen contra Traditions-Potenziale . . . 119 c) EU-Entwicklungen und nationale Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 d) Grundgesetzliche Verbürgungen des Föderalismus: Der herkömmliche Territorialbestand der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Die föderalen (Mit-)Wirkungsformen bei der Gesetzgebung . . . . . . . . . . 122 f) Die „Zusammengehörigkeit“ in den Ländern als Traditionspotenzial . . . 123 g) Grundgesetzliche traditionelle Rahmen der „Zusammengehörigkeit“: Gleichwertige Lebensverhältnisse – Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . 124 h) Fazit zur „Tradition im deutschen Föderalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6. Kommunaltradition, Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Ein Bereich zentraler Traditionsentwicklung im öffentlichen Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

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Inhaltsverzeichnis b) „Föderale Traditionalität“ und Kommunalrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Traditionsgewicht der „örtlichen Angelegenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7. Selbstverwaltungstraditionen im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Hohe Grundsatzbedeutung für die Wirksamkeit von Traditionen . . . . . . 129 b) Geschichtliche Entwicklungsströme verfassungsrechtlicher Autonomiebedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Von der kommunalen zur funktionalen Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . 130 d) „Soziale Selbstverwaltung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 8. Ergebnisse zur „Tradition in der Staatsorganisation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 9. Exkurs: Verfassungswirkungen der „Tradition“ über das Staatskirchenrecht 133

E. Gesamtergebnis zu den Traditionswirkungen im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . 137 F. Ausblick: Sterbend-unsterbliche Tradition im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Die Tradition und der allgemeine Autoritätsverlust im Gleichheitsstaat . . . 141 2. Das Ende von Monarchismus und Aristokratismus – Mutation des „traditionellen Gemeinwohls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Traditionsgewinn aus Moral? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Neue Traditionen aus internationalen Verflechtungen – „Weltbürgertum“? 144 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts I. Tradition, Wandel und Fortschritt 1. Tradition und demokratische Offenheit Ein allgemeines Wort-Verständnis der „Tradition“, von dem (auch) für das Recht, das Staatsrecht insbesondere, auszugehen wäre, gibt es nicht. Nicht selten wird das Wort vereinfachend gebraucht im Sinne reiner Vergangenheitsbezogenheit und -verbundenheit, welche einen Wandel überhaupt nicht, „Fortschritt“, in welchem Sinne immer, gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Eine solche Vorstellung von Traditionalismus, von „Traditionalisten“, welche sich dem verschrieben, ist nichts als eine unzulässige, eine wahrhaft terrible simplification. In keinem Bereich menschlichen Lebens, am wenigsten in dem der Politik und der Rechtsentwicklung, hat es je ernsthaft derartige Vorstellungen gegeben. Seit dem Anfang systematischen Denkens in der vorsokratischen Philosophie war vielmehr das panta rhei, „alles im Fluss“ im Sinne des Heraklit, der geradezu natürliche Gehalt einer selbstverständlichen Erkenntnis von allgemeiner Gültigkeit. Eine Betrachtung, welche den Begriff der „Tradition“ im Staatsrecht, in der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes im Besonderen, zum Gegenstand hat, muss diese Selbstverständlichkeit bereits als ihren Ausgangspunkt festhalten; denn in keinem anderen Bereich mehr als in dem von Politik und Verfassungsordnung begegnet die verbreitete Vorstellung, gerade hier seien Wechsel, ja Dynamik das Wesen aller Entwicklung, gerade darin habe die Volksherrschaft, ja die Volkssouveränität statische Ordnungsformen des Feudalismus, vielleicht gar endgültig, abgelöst. Einerseits hält das Staatsrecht zwar fest am Begriff der normativ-statischen, nicht einem grundsätzlichen Wechsel unterworfenen Geltung seiner Normen; und der Rechtsstaat sucht normative Festigkeiten in der gesamten Rechtsordnung zu verbreiten1.

1 Rechtstaatlichkeit bedeutet feste Geltung in Normstatik ganz allgemein; denn die notwendige Klarheit und Bestimmtheit lässt eben die Vorstellung von dauernden, inhaltlichen Verschiebungen der Rechtsinhalte grundsätzlich nicht zu; vgl. Sommermann, K.-P. in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20, RN 293 ff.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

Andererseits bedeutet aber die demokratische Öffnung der politischen Ordnung zur „Gesellschaft“2, in deren unaufhörlichen außernormativen Veränderungen, eine grundsätzliche Offenheit zu einem Wandel aller Verhältnisse. Ihn soll nicht nur, es muss ihn das Staatsrecht aufnehmen und widerspiegeln, ihn zwar kanalisieren, in seinen rechtlichen Rahmen aber eben auch gewähren lassen, wirken und verändern. So kommt es dann zu Vorstellungen von einer „offenen Verfassung“3, mit allseitigen Durchlässigkeiten, wie sie nicht einmal mehr der Vorstellung von einem Gefäß entspricht, in welchem sich Ergebnisse von Evolutionen sammeln und bewahren ließen. Vielmehr ist es eine Begrifflichkeit des „Durchlaufens“, welche hier im Mittelpunkt steht, ins Staatsrecht aufgenommen wird im Begriff einer Trans-parenz, die weit mehr bedeutet als Durchschaubarkeit: Durchlässigkeit für die gesellschaftlichen und damit auch die rechtlichen Wandlungsströme in der Demokratie. Aus dieser Grundstimmung heraus hat sich der Begriff der „Wandlung“ vor allem im Staatsrecht geradezu eingebürgert, er wird verwendet an all seinen Ecken und Enden im bildlichen Wortsinn. In aller Regel fehlt es dabei an Vertiefung im Sinne einer Erkenntnis-Systematik; festgestellt werden meist einfach nur wechselnde Faktenlagen, die dann in irgendeinem Sinn, meist dem von dem Betreffenden gewünschten, auf das Recht einwirken, es verändern sollen. Damit entfernt sich gerade das Staatsrecht von einer normativen Festigkeit, einer beharrenden Unverbrüchlichkeit, welche es doch im juristischen Denken der späteren Aufklärung hervorgebracht hat, eben als eine Garantie in der politischen Erscheinungen Flucht, als eine Sicherung im gesellschaftlichen Wandel der Volksanschauungen. Gerade in den zentralen Materien des Verfassungsrechts, um nur den Schutz des Eigentums zu erwähnen4, ist aus kaum einem Begriff so leicht und viel argumentiert worden wie aus dem des Wandels. Eine „Wandlungsdogmatik“ hat sich aber bisher hier nicht einmal in Ansätzen entwickeln lassen, und nicht anders ist die Lage in so vielen wichtigen Materien dieses Bereichs. Allein mit dem Begriff der „Offenheit“5 lässt sich aber eine neue, eine typisch wandlungsgeneigte Dogmatik noch nicht schaffen; es ist dies vielmehr eher der Verzicht auf dogmatische Strukturen, auf Dogmatik überhaupt, wenn nicht auf jede rechtliche Klarheit. Bei dieser Feststellung einer Wandlungsdynamik, dem weit verbreiteten, aber problematischen Ausgangsbefund der folgenden Überlegungen, dürfen diese aber nicht stehenbleiben, sie müssen über ihn hinausdenken. Damit ist allerdings nicht 2 Über die politischen Parteien findet dies geradezu institutionell statt, vgl. Streinz, R. in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 21, RN 8 f., 15 f.; hier wirken dann allerdings „Pateientraditionen“ u. U. im Gegensinn. 3 Unter diesem Titel stehen ganze Sammelwerke, etwa Grawert, R. (Hg.), Offene Staatlichkeit, FS für Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1995. 4 Erinnert sei nur an Papier, H. J., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, 1984; begonnen hatte hier die Entwicklung bereits mit Schmitt, Carl, Die Auflösung des Eigentumsbegriffs, in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, 2. A. 1973, S. 110 ff. 5 Vgl. FN 3.

I. Tradition, Wandel und Fortschritt

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gemeint – und dies sei bereits hier festgehalten – ein Ausgreifen in eine rechtliche Transzendenz, welche im Sinne von Kant kaum oder gar nicht erfassbar wäre für menschliches Erkenntnisvermögen; vielmehr, um im Wortgebrauch Kants zu bleiben, kann hier nur etwas geboten werden wie ein transzendentaler Versuch: aus durchaus zeitlich begrenztem menschlichem Erfassungsvermögen, aus humanen Erkenntniskategorien heraus muss sich zeigen lassen, dass dieser Wandel, dem alles Menschliche unterworfen ist, seine Kanalisierung im Recht findet. Dieses wird damit zu einer der menschlichen Ordnungskategorien, in einer, wenn man so will, SubKategorie der kantischen Erkenntniskategorien. Und ein wesentliches Element in diesem Erkenntnisvorgang ist eben auch – die Tradition. Gewiss ist sie nicht das Einzige, das hier dem menschlichen Erkenntnisbemühen einen Anhalt bietet. Tradition ist eine Vergangenheitsschau, zugleich aber auch eine Verlebendigung der Vergangenheit, die sich verbindet und gemeinsam wirkt mit technisch-naturwissenschaftlichen Evolutionen, politischen Emotionen, Änderungsschüben. Doch es ist dies eben eine Erkenntniskategorie, wenn man sie in einem übertragenen Sinn so bezeichnen darf, welche sich nicht auflösen darf in der Dynamik anderer Erkenntnisinstrumentarien, sie verleiht diesen vielmehr eine gewisse gegenständliche Festigkeit. Hier hat gewiss die demokratische Staatsform mit ihrer Dynamik in den letzten Jahrzehnten rechtliches Denken verändert. Im Übergang aus den feudalen, vor allem monarchie-geprägten Strukturen in die neue Volksherrschaft, nach 1919, konnte Anschütz noch feststellen6, es habe sich im Grunde doch nur Weniges, nichts Wesentliches geändert – nach 1945 strafen ihn nun die Lawinen, wenn nicht Sturzfluten der „Wandlungsjurisprudenzen“ Lügen. Dennoch, und selbst in dieser eindeutig „neuen Grundstimmung“, vor allem des Deutschen Verfassungsrechts7, sollte es auch zu einer Besinnung auf die Tradition kommen, nicht nur im Sinne einer Rück-Blende auf Früheres, sondern in dem der Verlebendigung langer kontinuierlicher, weiterwirkender Vergangenheit, wie sie eben angelegt ist in diesem Begriff.

2. Die drei Schritte der „Tradition“ Tradition bedeutet nicht eine unbedingte, ausschließliche Vergangenheitsbezogenheit von Rechtserkenntnis und Rechtsanwendung, insbesondere im Verfassungsbereich. Vielmehr erschließt sich ihre Wirkungsweise nur in einem methodischen Drei-Schritt: Feststellung früherer, bis in die Gegenwart reichender Faktenlagen; Gewichtung der in geltenden Normlagen weiterwirkenden Elemente dieser Tatsachen; Feststellung der daraus sich ergebenden Entwicklungspotenziale für nahe, weitere rechtliche Evolutionen. Dies alles ist zu betrachten, gebündelt in In6

3, 8.

Anschütz, G., Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, s. etwa S. 1,

7 Zu der „Grundstimmung“ des deutschen Verfassungsrechts, vgl. unten D. I. 2.: zu dem „Verfassungsbruch“ nach 1945.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

stitutionen wie isoliert in deren einzelnen rechtlichen Regelungskernen. Hierzu gilt es, im allgemeinen Vorgriff auf die folgenden Kapitel, vor allem methodisch einiges fest- und klarzustellen: a) Feststellung früherer Rechtslagen sollte stets eine rein historische Operation sein, also eben konstatieren, nicht beurteilen. Hier unterlaufen aber nicht selten bereits die ersten Ungenauigkeiten, wenn nicht Fehler, sowohl in einem „pro- als auch in einem contra-traditionalistischen Sinn“: Gerade die rein zeitliche Geltungsdauer solcher Lagen wird schon entweder als ein Beweis ihrer überzeugenden Güte gewertet, oder aber – im Gegenteil – als ein Aufstau gesehen, welcher Wandel begünstigen, wenn nicht geradezu hervorbringen müsse. Darin liegt nicht nur ein methodischer Fehler8, welcher allein aus faktischer Dauer juristische Qualitäten abzuleiten versucht. Leicht wird dies grundsätzlich im Sinne einer „historischen Legitimation“ gedeutet, welche es dann auch nahelegen, wenn nicht erzwingen soll, Verfassungsgeschichte, ja Rechtshistorie als eine besondere juristische Disziplin zu sehen; sie wird daher von Anfang an mit Wertungen einer Rechtfertigung weiterer gegenwärtiger wie zukünftiger Geltung belastet. Derartigen unterschwelligen Versuchungen muss widerstanden werden. Am Anfang aller Tradition muss reine geschichtliche Feststellung stehen, nicht historische Legitimation. b) Eine qualitativ-kritische Beurteilung dieses Feststellungsbefundes in seiner Wirkung auf Normlagen hat sodann zu erfolgen, als ein selbstständiger weiterer Schritt der Ermittlung von Ordnungswirkungen der Tradition im Recht. Hier spielen Abschwächungen und Verstärkungen, vor allem aber die Überzeugungskraft früherer Rechtslagen eine wesentliche Rolle. Kriterium ist nicht mehr so sehr allein einstige formale Geltung als vielmehr die frühere Akzeptanz der jeweiligen Rechtslage. Sie tritt in bisherigen Diskussionen über diese, in Widerständen gegen sie in Erscheinung. Hier sind Diskussionslagen9 in der Entwicklung derselben, demgegenüber auch eine etwa festzustellende Schwerkraft der Geltung als solcher, von entscheidendem Gewicht. Aus all dem ergeben sich dann Elemente, die für oder gegen eine Fortsetzung oder gar Potenzierung der herkömmlichen Anordnungslage sprechen. Differenzierende Beurteilung wird dabei nur selten zu einem eindeutigen Ergebnis gelangen; jedenfalls aber ergeben sich Argumentationssammlungen, die sich für oder gegen eine Weitergeltung, und auch im Sinne einer nur teilweisen Veränderung, einsetzen lassen. Immer noch handelt es sich dabei primär um Auswertungen feststellender Art, nicht bereits um rechtliche Entscheidungen. Elemente einer Rechtspolitik, Ausgangspunkte derselben werden gewonnen, mehr nicht. Jede vor8 Insoweit handelt es sich allenfalls um Formen einer Rechtstatsachenfeststellung, die als solche ohne rechtlichen Bindungsgehalt sind, vgl. etwa die Tatbestandswirkungen eines nichtigen Verwaltungsakts; s. Sachs, M., in: Stelkens, T./Bonk, H. J./Sachs, M., VwVfG, 7. A., § 43, RN 154 ff. 9 Hier zeigt sich erstmals Verfassungsgeschichte als eine genuin rechtliche Materie. Denn mit ihr werden die dogmatischen Rechtskategorien und -kriterien in dieser Phase eingesetzt zur Beurteilung des jeweiligen rechtlichen Gewichts früherer Überzeugungslagen – die allerdings von gegenwärtig wirkenden Überzeugungskräften noch immer zu unterscheiden sind.

II. Gegenwärtige „Grundstimmungen“ gegen juristischen Traditionalismus

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schnelle Grundsatz-Rechtfertigung aus früheren Rechtslagen muss auch in dieser Phase stets vermieden werden. c) Rechtliche Entscheidungen für Gegenwart und Zukunft lassen sich erst auf solchen, sorgfältig zu gewinnenden, im Schwerpunkt noch immer feststellenden Grundlagen treffen. Primitivierende Grundstimmungen eines „Weiter so!“ oder eines „Il faut que cela change!“ sind Perversionen rechtswissenschaftlichen Denkens. Hier gibt es keine Vermutungen, weder für noch gegen Rechtsfertigungskräfte zeitlicher Dauer. Erst mit diesem dritten und letzten Schritt wird Tradition zu einem bedeutsamen Gesichtspunkt rechtlicher Weiterentwicklung; sie greift damit über in den Bereich des rechtlichen Denkens, einer Ordnungsdogmatik, die nun nicht mehr faktisch, sondern wertend, entscheidend orientiert ist. Jetzt steht sie unter Kriterien und Prämissen der Rechtswissenschaft, wenn eine solche denn als eigenständige Geisteswissenschaft10 anzuerkennen ist. Nun erst erweist sich die Tradition als eine geistig-geschichtliche Brücke, welche diese Rechtswissenschaft in den Bereich der Geisteswissenschaften einordnen lässt.

II. Gegenwärtige „Grundstimmungen“ gegen juristischen Traditionalismus 1. Technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung Als Ordnung des gesellschaftlichen Lebens muss alles Recht Veränderungen laufend Rechnung tragen, die sich aus der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung ergeben. So war es zu allen Zeiten, dass dieser Prozess sich heute wesentlich rascher vollzieht, ist allgemeine Erkenntnis. Dies wirft, ganz selbstverständlich, das Recht in eine laufende Wandlungsdynamik, welche, schon auf den ersten Blick, nur erscheinen kann als eine bedeutsame Antitraditions-Erscheinung. Ein „im Zweifel für“ Beibehaltung hergebrachter Produktionsmethoden, wirtschaftlicher Organisationsformen, würde zu Recht auf allgemeine Ablehnung stoßen. Liegt es dann aber nicht nahe, aus einem solchen „im Zweifel aus Dynamik“ zu schließen auf ein „im Zweifel für den Wandel“11, und von diesem wieder, rechtlich gesehen, zu einem „im Zweifel gegen (jede) Tradition“? Fordert nicht gerade die notwendige Verbindung von Marktwirtschaft und technischer Entwicklung unun10

Zu diesem Wissenschaftsanspruch des Deutschen Staatsrechts, damit auch zur Eigenständigkeit von dessen Kategorien und seiner Dogmatik, vgl., allerdings unter primärem Bezug auf die politische Wirksamkeit, VVDStRL, 67, 2008, dort insb. die Referate zu „Verfassung zwischen normativem Anspruch und politischer Wirksamkeit“ von Hillgruber, Chr., S. 7 ff. und Volkmann, U., S. 57 ff. 11 Der dann auch noch als ein kaum in Umrissen vorhersehbarer erscheint. Dies zeigt sich etwa in der Diskussion um den Risikobegriff, der das „Technik-Recht“ seit langem prägt, vgl. etwa Manssen, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 12 RN 16; Depenheuer, O., ebenda Art. 14 RN 174, zu Risikomanagement und Risikoentscheidungen.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

terbrochen, immer stärker eine Entwicklungs- im Sinne einer Wandlungsbereitschaft auch im Recht? Ist nicht die notwendige Folge davon eine Abwendung von jeder Art der Vergangenheitsbetrachtung, welche nur als betonierungssüchtige Zeitverschwendung erscheint? Gerade an den Schnittstellen der Wissenschaften und ihrer einzelnen Disziplinen mag dies dann rasch zu eigenartigen Kurz-Schlüssen führen, indem etwa in der rechtlichen Rezeption technisch-naturwissenschaftlicher Entwicklungen nur deren Ergebnisse in ihrer raschen Abfolge gesehen werden, nicht ihr allmähliches Entstehen und Werden. Dieses aber ist, weit mehr als Recht und Politik es wahrnehmen, Ergebnis, Fortsetzung und laufende Auswertung ständiger „Erfahrungen gebündelt in Traditionen“, so wie es bereits der experimentelle Grundcharakter heutiger Naturwissenschaftlichkeit nahelegt. Hier wird gerade in langsamen, zahllosen, vorsichtigen Schritten jener Progress ermittelt und vermittelt, welcher Außenstehenden dann leicht als eine geradezu vom Himmel fallende Entdeckung erscheinen mag. Weil eben das Recht diese Ergebnisse nur ordnet, nicht aber hervorbringt, mögen sie ihm erscheinen als Resultate einer traditionslosen Dynamik. Juristen erkennen nicht immer, was an Verwurzelung in lebendiger, aus sich selbst weiterentwickelter Tradition hinter all diesen Wandlungen steht. Die Rechtswissenschaft, bis hin zum Verfassungsrecht, unterliegt daher einer Versuchung der Verkürzung von Entwicklungen, welche Ergebnisse zur Kenntnis nimmt, nicht deren Werden nachzuvollziehen vermag. Dem Recht ist jene fortschreitende systematische Experimentalität weithin versagt, in welcher sich der technisch-naturwissenschaftliche Fortschritt vollzieht. Immerhin aber treten auch in ihm entsprechende Entwicklungen auf, insbesondere im Bereich einer Rechtsprechung, welche in ähnlicher Weise tastend-schrittweise voranschreitet wie dies in Laboratorien eine Selbstverständlichkeit ist. Weit mehr als bisher sollten daher die Rechtsprechung und ihre Traditionen, als die zentralen Formen der Rechtsentwicklung, in den Blick genommen werden, wenn über Tradition gesprochen wird, nicht nur eine den raschen politischen Durchbruch suchende, nur zu oft aus Augenblicken heraus entscheidende Gesetzgebung12. Dann würde auch weit größere Vorsicht herrschen in der Beurteilung all dessen, was Tradition bedeuten kann. Das vorschnelle Urteil gegen „Rückwärtsgewandtes“ entspräche dann nicht mehr einer Grundstimmung des Rechts, wie dies heute nur zu oft festzustellen ist. Technik und Naturwissenschaften sind kein Gegenpol zur Tradition, sie kennen nur andere Formen derselben, von ihnen ist zu lernen, nicht in ihrem Namen Tradition zurückzudrängen. Dies sollte als rechtliche Grundstimmung selbstverständlich sein. 12

Die „ständige Rechtsprechung“ wird nur zu oft allein in einer Versteinerungswirkung gesehen, die nichts mehr mit lebendiger, evolutiver Tradition zu tun hat. „Rechtsprechungsänderung“ erscheint dann lediglich als Form einer „novierenden Gesetzgebung“ im Bereich des „Richterrechts“; s. dazu u. a. Leisner, Anna, Kontinuität in der Finanzrechtsprechung, (Pezzer, H.-J., Hg.), Steuerjuristische Gesellschaft 27, 2004, S. 191 ff.

II. Gegenwärtige „Grundstimmungen“ gegen juristischen Traditionalismus

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2. Tradition und/aus Religion Tradition, verstanden in der vollen Wirkkraft der erwähnten drei Schritte13, ist eine wesentliche Grundlage religiösen Denkens überhaupt. In christlich geprägten Staatsordnungen hat sie sich geradezu als eine Grundlage des Ordnungsdenkens entfaltet und bewährt. Damit wird jede Form von Staatskirchentum, vom vollkonkordatären System bis zu Vorstellungen über ein in geistigem Verbund wirksames Zusammenleben in einer Zwei-Reiche-Ordnung14, zu einer Öffnung, wenn nicht zu einem Einbruch von Traditionalität auch in die staatliche Grundordnung. Tradition ist, besonders für christliche Religiosität, weit mehr als ein Element geistiger Wirksamkeit, sie ist eine wesentliche Grundlage religiöser Legitimation und jenseitsorientierter geistiger Entfaltung. Der Schöpfergott der Juden und Christen kann nicht gedacht werden ohne jenen Schöpfungsauftrag, der von Ihm kommt und von Seinen Geschöpfen, den Menschen, auch weiterhin zu erfüllen ist. Umweltorientiertes Denken hat dies gerade in letzter Zeit als eine seiner wesentlichen Grundlagen erkannt. Etwas von der Unverbrüchlichkeit eines Ersten Wortes, welches die religiöse Tradition einleitet, immer in ihr gelten und sie immer durchwirken wird, liegt ebenso in der Vorstellung von dem Alten und Neuen Bund zwischen Gott und seinem Volk, wie auch und erst recht in Vorstellungen von einer traditionell weiterwirkenden Erbsündigkeit, welche dann die Erlösung fordert und bringt. In all dem ist ein großer, ein einheitlicher geistiger Strom wirksam, erkennbar in oder zumindest Gegenstand einer fundamentalen Hoffnung. In der Religionsgeschichte fallen die drei Schritte der Tradition, von denen die Rede war, wesentlich zusammen, jedenfalls entfalten sie sich notwendig auseinander. Für das Christentum war und ist dies fortwirkend schicksalsbestimmend: Seine Vorstellungen von einer „Kirche“ bedeuten nicht mehr und nicht weniger als fortlebende Tradition, wie sie deren Organisationsformen verkörpern. Bereits die biblische Tradition, beruhend auf den heiligen, „kanonisierten“ Schriften, ist wesentlich Tradition, gerade wenn aus jenen, nach protestantischem Verständnis, Auslegungen immer neue Gedanken hervorbringen; das biblische Wort bleibt ihr unverrückbarer, traditionsbegründeter Rahmen. Weit deutlicher noch hat von jeher die stärker formierte katholische Kirchlichkeit die Tradition, als Grundlage eben dieses ihres Denkens, in ihren Mittelpunkt gestellt. Hier ist sie, neben der Schrift, gleichwertige Glaubensquelle, Erkenntnisgegenstand und Wirkungskraft der Religion aus Herkommen, aus Geschichte in deren lebendiger Fortsetzung im gottbezogenen Verhalten der Gläubigen. Diese katholische Tradition kann weder unterbrochen noch gar gebrochen werden, sie kennt nur Erneuerung, 13

Vgl. oben I. 2. Zu dieser in das Staatsrecht übergreifenden Bedeutung religiöser Traditionen in jenen beiden Grundmodellen der Staats-Kirchenbeziehungen vgl. Leisner, W., Gott und sein Volk. Religion und Kirche in der Demokratie. Vox Populi vox Dei?, 2008, S. 27 und passim. s. auch unten D. VII. 14

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

nicht Umsturz. Eine Revolution gegen den Allmächtigen – wie sollte sie stattfinden, wenn er seinen Willen in der Kirche, in der durch sie verkörperten Tradition den Menschen kundtut? Diese wesentliche, eigenständige entscheidende, Wirksamkeit der Tradition ist nicht nur ein staatskirchenrechtliches Faktum für die Entwicklung staatlicher Ordnung in Deutschland; sie hat diese über viele Jahrhunderte, im Grundsatz ungebrochen, geprägt, ihr Autoritätskräfte vermittelt und mitgegeben. „Der Staat“ mag sich von ihnen nun zwar distanzieren, in absehbarer Zeit aber wird er sich von der geistigen Wirksamkeit dieser kirchlichen Traditionalität nicht verabschieden. Sie lässt sich nicht beschränken auf einige, „traditionelle“ Ordnungsmaterien; sie beeinflusst die gesamte Kategorik, alle Kriterien eines Ordnungsdenkens in der Gemeinschaft. Und hier wirken nicht nur ausdrücklich vertretene, in die Politik als solche eingeführte Thesen aus religiösen geistigen Quellen; weit wichtiger sind die unterschwelligen ideellen Strömungen, welche nach wie vor alles staatliche Ordnungsdenken mit herkömmlicher Kirchlichkeit verbinden, sich aus dieser speisen, in Familie, Unterricht, moralisch geprägtem Sozialverhalten. Ein Niedergang religiösen Denkens mag Traditionalität, in all ihren Formen, im Staatsrecht abschwächen. Noch immer aber wirkt hier eine geistig mächtige Grundströmung, gerade wo dies unbewusst erfolgt, sich in Werten und Ideologien verschleiert, ja verkleidet. Diese Tradition, so lange Zeit ein religiös fundierter Begriff für alles Ordnungsdenken, trägt doch weiter, hinaus über alle religiös beeinflusste oder gar christlich geprägte Partei-Politik. In welchen Bereichen finden sich Wirkungen religiöser Traditionalität gerade in der gegenwärtigen deutschen Staats-Demokratie15 – das wäre ein Thema für größere, systematische Untersuchungen.

3. Grundströmungen einer Abschwächung der Traditionalität? a) Diese Betrachtungen galten Grundströmungen geistiger Entwicklung, welche in besonderer Weise auf das Denken in Staatsordnungen wirken und zugleich spezielle Bezüge zu einem wie immer verstandenen Traditionalismus aufweisen. Über ihre Bildungsmächtigkeit wirken sie in besonderer Weise aus der Gegenwart in absehbare Zukunft hinein. Beide Strömungen, die einer ökonomisierenden Technisierung wie religiöse Entwicklungen, mögen, gerade in ihrer Verbindung, eine Folgerung nahelegen: Traditionalität ist als solche auf einem Rückzug, der sich vielleicht rascher vollzieht als es heute bewusst ist. Zwar wirken auch im naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt traditionalisierende Kräfte bedeutsam fort, 15 Neuere Demokratisierungsbestrebungen im kirchlichen Raum knüpfen ja auch ihrerseits häufig gerade an „(früh-)christliche Traditionen“ an – und berufen sich zugleich auf diese Staats-Demokratie, vgl. FN 14, S. 131 ff.

II. Gegenwärtige „Grundstimmungen“ gegen juristischen Traditionalismus

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doch als solche erreichen sie die Staatsordnung eben nicht voll, welche vielmehr nur ihre Ergebnisse aneinanderreiht – in deutlicher Fortschrittsdynamik. Religiöses Denken schwächt sich in seiner Kirchenbezogenheit ab; wo es lebendig bleibt, entfernt es sich nicht selten von herkömmlicher Traditionalität in revolutionierenden Entwicklungsschüben. Insgesamt könnte dies zu einem gegenwärtigen Fortschrittsdenken mit allgemeiner Überzeugungskraft konvergieren. Hier mag Hoffnung wirken gegen die Depressionen einer entgöttlichten Welt, welches diese mit neuen Gedanken, ja mit neuen geistigen Wesenheiten zu erfüllen trachtet. Von dem Befund einer sich abschwächenden, grundsätzlich formierten Traditionalität müssen die folgenden Betrachtungen dennoch ausgehen, dies als ihre Kulisse, vielleicht ihren Horizont, gegenwärtig verstehen.

4. Nationalstaatliche Traditionen und „Herkommen“ in überstaatlichen Zusammenschlüssen Gerade in staatsrechtlicher Sicht kommt zu all diesen allgemeineren Abschwächungstendenzen noch eine weitere, rechtlich näherliegende hinzu: die Auf-, wenn nicht Ablösung der Nationalstaatlichkeit, deutlich in Europäischen Unionsentwicklungen, übergreifend in transnationalen ökonomischen Verflechtungen. Die Nationalstaaten waren es doch vor allem, in denen gesellschaftliche Traditionen bisher ihre – oft recht unterschiedlichen – (staats-) rechtlichen Verfestigungen gefunden haben. Weithin ist damit der Begriff der Tradition geradezu nationalstaatlich geprägt, ja besetzt. Wo immer sich diese staatsrechtlichen Bindungen lockern, muss dies zu Inhaltsänderungen von solchem Herkommen führen, in aller Regel zu dessen Abschwächung. Es bilden sich allerdings eben darin auch neue Traditionen. Gerade die verhältnismäßig langsamen Entwicklungen, in denen sich diese Mutationen der Nationalstaatlichkeit in Über-, vielleicht Weltstaatlichkeit hinein vollziehen, bieten derartigen Evolutionen einen typisch „traditionsschaffenden“ zeitlichen Rahmen. Überdies muss innerhalb desselben versucht werden, bisher wirksames staatsrechtliches Gedankengut in diese Entwicklungen nicht nur einzubeziehen, sondern sie aus ihm laufend zu speisen. Daraus mögen sich sogar Forderungen nach einer Wirkungs-Stärkung nationalstaatlicher Traditionen ergeben16, die sich allerdings auf Dauer zu größeren Traditionsströmungen integrieren lassen müssen. Dies letztere führt dann wiederum zur Notwendigkeit einer Veränderungsoffenheit, die bereits in geradezu begrifflicher Spannung steht zum Kernverständnis einer Tradition. 16 Die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ des Unionsrechts verstehen sich allerdings stets im Rahmen weiterbestehender und unauflöslicher Reservate nationaler demokratisch-parlamentarischer Bestimmungsrechte, entsprechend der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts (Solange II., E 73, 339 (375 f.); Maastricht, E 89, 155 (172); Europäischer Haftbefehl, E 113, 273 (298); Lissabon, E 123, 267 (357 f.)); s. auch Lazarus, K., Die Bedeutung der Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten und der EMRK für die Grundrechte der EU, 2006.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

5. Abschwächungstendenzen der „Tradition“ – dennoch Notwendigkeit ihrer Untersuchung All diese vielschichtigen Entwicklungsprobleme der Nationalstaatlichkeit sind heute, für den Bereich „Tradition und Verfassung“, allenfalls umrisshaft erkennbar. Sie können hier also nur allgemein angesprochen werden, zeigen aber bereits eine Zukunftsdimension der Tradition als solcher auf: Vorstellbar ist etwa, dass sie durch das laufende Zusammenwirken so zahlreicher, transnationaler Faktoren in ihren Randbereichen eher flexibler wird. Jedenfalls gilt es aber, auch unter diesen Prämissen, nationalstaatliche Traditionen als solche zu untersuchen; dies soll hier für die grundgesetzliche Ordnung geschehen. Ausblicke mögen sich dann bereits in Überstaatlichkeit hinein öffnen. Trotz all dieser Problematik der Wirksamkeit einer Tradition lohnt es sich aber nicht nur, es ist unumgänglich, beispielhaft Elemente im Folgenden zu betrachten, in welchen Tradition noch immer, und vielleicht auf Dauer in der Staatsordnung lebendig bleibt, geistig wirksam in deren Recht. Dies gilt besonders in einer demokratischen Staatsordnung, mag sie sich auch auf Fortschrittsglauben gründen, ja auf Fortschrittstradition (vgl. im Folg. III.); gerade sie hat aber rechtliche Formen entwickelt, vor allem in ihrem Verfassungsdenken, welche doch auch wieder gewisse Traditionalitäten aufnehmen, ja verfestigend weiter-geben (im Folg. IV.). Diese Entwicklungslinien, in ihren deutlichen Spannungsbögen, sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, zunächst in Rechtsdogmatik (B.) und Verfassungsgeschichte (C.), sodann nach geltendem Verfassungsrecht (D.).

III. Politik, Demokratie: Gegen Traditionalismus? 1. Politik: Bewegung und Fortschritt Aufgabe einer wie immer verstandenen Politik kann es nicht sein, nur oder auch nur wesentlich zu beharren, zu bewahren, Bisheriges fortzusetzen. Solcher Immobilismus, der in Quietismus enden müsste, kann Interesse für Probleme und Lösungen der Politik nicht wecken, mit ihm verlöre sie sich in einem reinen Feststellungsinteresse des Vergangenen. Erkennendes Denken mag dies fördern, doch es bleibt passiv, entbindet nicht Kräfte zur Aktivität. Sie aber sind allem Politischen wesentlich; mögen sie auch in unterschiedliche Richtungen tragen, bewegen. Politik wirkt nur mit der Kraft eines Bekenntnisses: C’est beau, le progrès! Politik, in welcher Form immer betrieben, ist stets Fortschrittsglaube, Fortschrittshoffnung, Fortschrittsliebe. Retardierende Momente kann sie nicht akzeptieren, ja nicht einmal dulden. Zu begeistern vermag sie nur in Veränderung. Darin liegt ihre jugendliche

III. Politik, Demokratie: Gegen Traditionalismus?

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Kraft, Bewahren lässt sie altern, nähert sie dem Absterben. Ist damit nicht bereits das Todesurteil gesprochen über systematischen Traditionalismus in der Gesellschaft, vor allem aber im Staat und seiner sie ordnenden Politik? Dies mag heute einer verbreiteten Grundstimmung entsprechen, in der Gesellschaft, wie im Staatsrecht. Dauernde Anstrengungen und Schübe von Reformen, zumindest deren Ankündigung in Permanenz, erwachsen nicht so sehr aus der Hamlet-Erkenntnis, „etwas ist faul im Staate (Dänemark)“; sie zeigen lediglich eines: Politik soll geschehen, politisch muss gehandelt werden, ob die Lage gut sei oder nicht, ob sie damit besser werde oder vielleicht gar schlechter. Dies schafft gewiss eine antitraditionalistische Grundstimmung – aber nur auf einen ersten, oberflächlichen Blick: Geht man von den oben (I., 2.) erwähnten drei Schritten aus, in denen Tradition sich aufbaut, so zeigt sich dieselbe als ein geradezu notwendiger Ausgangspunkt für ein derartiges, ebenso wesentlich politisches Fortschrittsdenken: Die Bedeutung der angestrebten Veränderungen lässt sich ja nur erweisen auf dem Hintergrund weiter zu entwickelnder früherer Lagen, vor allem aus bisherigen Traditionen, als deren besonders greifbare Ausdrucksform. Was dann festzuhalten ist, kann, in qualitativer Beurteilung, lediglich in jenem zweiten Schritt ermittelt werden, welcher aus dem Nicht-Bewährten überzeugend abzuleiten vermag, was änderungsbedürftig ist. Denn Überzeugungskraft kann nicht nur politischen Änderungsbemühungen als solchen zukommen, ihre Erfolge werden stets auch einem gewissen Kontinuitätsstreben Rechnung tragen müssen, welches sich mit ihnen verbindet. Dies wird dann im dritten Schritt des Traditionsdenkens realisiert, der Entwicklung von Neuem aus Altem, in dem das Bisherige, jedenfalls in gewissen Bereichen, wenn auch modifiziert, mitgenommen wird in die Zukunft: Gerade darin finden politische Änderungen besonders starke Überzeugungskräfte, wie sie der politische Mensch verlangt, sieht er doch auch sein Leben nicht in zerhackten Stunden, sondern in der Einheit einer Gesamtentwicklung. Die Politik anerkennt dies in den übergreifenden „Lebensleistungen“, in Begründungen aus früheren Erfolgen, bis hin zu deren Fortsetzung in gegenwärtigem Triumph17. Politischer Fortschritt verlangt also letztlich geradezu ein Denken in Tradition, nur auf diesem Hintergrund zeigen sich seine Akteure, wollen sie mehr sein als Figuren, Teil einer sich selbst bewegenden, mechanischen Staffage. Die These von der Politikfeindlichkeit der Traditionen, von der traditionsfeindlichen Politik zeigt Eindimensionalität des Denkens: Fortschritt kommt aus Tradition und will sich wieder zu ihr verfestigen.

17 Zur Verbindung eines allgemeinen menschlichen Erfolgsdenkens mit den Kräften einer dies steigernden Grundhaltung des großen Gemeinschaftserfolges, vgl. Leisner, W., Der Triumph, Erfolgsdenken als Staatsgrundlage, 1985, insb. S. 297 ff., 2. A., in: ders.: Das Demokratische Reich, Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 2004, S. 268 ff.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

2. Demokratie: Antithese zur Tradition? Diese allgemeineren Erkenntnisse zum Wesen der Politik und ihrer Fortschrittssuche gelten auch, ja vor allem, für jene Politikform der Demokratie, welche vielen als eine Staatsform der Fortschrittlichkeit erscheint, damit geradezu als eine Antithese zu aller Tradition. Gewiss stellt sich gerade diese Staatsform als eine Ordnung in fortlaufender Bewegung dar, welche (fast) alles auf Fortschritt hin programmiert, ihre Kräfte nur aus dessen Suche entbinden will. Von ihren Anfängen an ist der Volkswille stets als eine derartige „Macht in Bewegung“ gesehen worden, obwohl ursprünglich die Volkssouveränität bei Rousseau18 keineswegs in grenzenloser Dynamik angelegt war: Gerade die ganz großen Evolutionen, in welchen sich die Demokratie eruptiv beweisen will, gehen ja von Einmaligkeitsvorstellungen19 aus, nach ihnen soll und kann es weitere tiefergreifende Veränderungen nicht mehr geben; dies ist das wesentlich Statische selbst in einer Ordnung, die sich zu revolutionär-permanentem Umsturz bekennt. Immerhin kann und wird der Wille des Volkes alles ändern zu jeder Zeit in der demokratischen Staatsform; grundsätzlich wird er sich an nichts gebunden halten, alles zur Disposition stellen – mit Ausnahme von sich selbst und seiner Macht, damit wieder von Kräften der Veränderung jedenfalls im Ablauf der Generationen. Dennoch aber ist und bleibt es „das selbe Volk“20, welches in politischer Allmacht handelt. Es baut sich auf aus jenen Bürgern, deren Leben ihnen jeweils Anfänge bringt und Beendigungen, zwischen beidem Gewohnheiten – Traditionen. So wenig wie es ein traditionsloses Bürgerleben geben kann, ist ein traditionsloses Volk vorstellbar, schon gar nicht allein für (eine) gegenwärtige, vielleicht nur kurze, Lebenszeit. Veränderungen mögen hier laufende Selbstverständlichkeit sein – ebenso aber auch ein Festhalten, Bewahren, ein Entwickeln aus Bisherigem. Traditionslose Demokratie aus Volkssouveränität – das wäre keine überzeugende staatsrechtliche Ableitung. Spannungen mögen hier auftreten zu Herkömmlichem, ja zu einer Traditionalität als solcher. Es gilt aber, sie in Auflösung fruchtbar werden zu lassen, nicht sie in Gegensätzlichkeit zu verschärfen. Ein Kurz-Schluss wäre es, wollte man allein aus einem „Wesen der demokratischen Staatsform“ eine grundsätzliche Antitraditionalität ableiten. Gerade diese Demokratie beruft sich auf die 18

Rousseaus Denken über die Volkssouveränität geht historisch nicht von einem demokratischen Evolutionismus aus, sondern eher von einer gewissen Statik der alten Einrichtungen direkter Demokratie in der Schweiz. Nachweise zu seiner Staatslehre bei Leisner, W., Institutionelle Evolution, Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 24. 19 „Ihre Revolution“ als etwas einmalig-Endgültiges sahen alle großen Revolutionäre, von Frankreich über Russland, Mexiko und China – nur darin ließen sich ja derart massive Umbrüche mit all ihren Gewaltsamkeiten rechtfertigen. 20 Zum Begriff des demokratisch vorgestellten „Volkes“ vgl. Leisner, W., Das Volk – Realer oder fiktiver Souverän? 2005, insb. S. 19, zur grundsätzlichen Problematik, S. 106 ff., zu den institutionellen Ausprägungen, S. 117 f.

IV. Verfassung: Staatsform aus Tradition

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Vergangenheit in Errungenschaften ihres „sozialen Fortschritts“, der sie in der Tat entscheidend trägt; in ihren sozialistischen politischen Kräften ist eben sie traditionsbewusst in besonderem Maße21. Ihr Staatsrecht erscheint in der Gegenwart laufend als ein „Roots Seeking“, nach amerikanischem gesellschaftlichem und allgemein-geistigem Vorbild: Diese Demokratie soll sich erweisen lassen als eine traditionelle, darin erst wahrhaft überzeugende Staatsform. „Politik“ gerade in demokratischer Fortschrittssuche – das bedeutet also nicht einen Abgesang auf alle Tradition: sie ist eine Entwicklung der Rationalisierung des Herkömmlichen, Hergebrachten. Absage an ein Fortschleppen rechtfertigt auch hier, wie ganz allgemein, nicht eine Verachtung forttragender Kräfte.

IV. Verfassung: Staatsform aus Tradition 1. Verfassung: Traditionsbezogene demokratische Ordnungsform Die Demokratie wäre als solche keine Staatsform, sondern lediglich ein anarchischer Zustand, fände sie ihre friedliche Ordnung nicht in einer Verfassung. In Verfassungsdenken allein ist sie historisch praktikabel, ist sie überhaupt eine Ordnungsform geworden. Gerade in der strengen, durch Verfassungsgerichtsbarkeit gesteigerten und bewährten Normgeltung, in der Rigidität der Verfassung, ihrer erschwerten Abänderbarkeit, konnte und kann sich der Volkswille „geordnet“ entfalten. Von den Anfängen der Demokratie an hat dieses Verfassungsdenken stets nichts anderes bedeutet als einen gewissen, vielleicht den äußersten Rahmen eines Rechtsdenkens in Tradition. Gerichtliche Verfahren22 waren es zu allererst, die hier festgelegt und nur in verhältnismäßig geringem Umfang, in langer Entwicklung, verändert werden sollten. Es griff diese Verfassungsidee aber bald aus in Sicherung immer weiterer materieller Rechtspositionen, von Grundrechten, Freiheiten des Einzelnen. Als solche mussten diese ihre Legitimation, ja ihre Ordnungsformen in dem finden, was langes geschichtliches Herkommen dem jeweiligen Grundrecht als ein Zentrum, als einen Schutzbereich zuordnete. Wie kein anderer Gegenstand des Staatsrechts sind daher die Grundrechte normativer Ausdruck einer insgesamt vielhundertjährigen Tradition, jedenfalls in ihren entscheidenden Kern-Bereichen, 21

Der Traditionalismus im Sozialismus zeigt sich gerade in dessen ständiger Berufung auf sein Herkommen aus der „Arbeiterbewegung“ des 19. Jahrhunderts, vgl. dazu Abendroth, W., Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis 1933, 3. A. 1997; Dowe, D., Bibliographie zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, der Sozialistischen und Kommunistischen Bewegung von den Anfängen bis 1963, 2. A. 1977; Grebing, H., Arbeiterbewegung: sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, 1993; Klönne, A., Die Deutsche Arbeiterbewegung, Geschichte, Ziele, Wirkungen, 1989. 22 Wie sie mit der Magna Charta von 1215 am Anfang demokratischer Entwicklungen stehen.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

die immer wieder, wenn auch in unterschiedlicher Form, auf Randzonen ausstrahlen23. Hier gibt es zwar Veränderungen, ja Einbrüche in die jeweiligen Schutzbereiche; insgesamt aber, im Grundsätzlichen, in der „Verfassungsidee“, haben sich diese Freiheitsrechte, gerade in Deutschland, erwiesen als ebenso traditionsstark wie im Grunde doch änderungsfest. Mit dieser Festigkeit strahlen sie, in all ihren Traditionsbezügen, aus in ein Staatsorganisationsrecht, welches sich im Grunde nur an diesem Freiheitsschutz orientiert, sich aus ihm legitimiert24. Da mag die ständige, historisch gesehen geradezu ewige Spannung bleiben zwischen dem Veränderungswillen der Mehrheit und dem Sicherungsbedürfnis des Einzelnen, zwischen „Demokratie“ und „Freiheitssicherung“. Jede Generation wird hier eine neue Balance finden müssen, einen erneuerten Ausgleich aus veränderten allgemeinen Umständen heraus. Jeder ist es aber, gerade in der Demokratie, aufgegeben, dies mit Blick auf all jene zahlreichen, wenn nicht unzähligen großen und kleinen Traditionen zu verfolgen, welche in Grundrechten und in organisatorischen Ordnungsformen in die Verfassung Eingang gefunden haben. Darin ist diese Verfassung eine große Charta der Traditionen, in einer Vielfalt und Intensität, wie sie eben die Grundrechte widerspiegeln. Daher muss im Staatsrecht ganz selbstverständlich stets über Tradition nachgedacht werden, im Namen der Verfassung. Aufgabe des Staatsrechts ist es gerade, dies in der Geschlossenheit normativer Dogmatik in die Kreisläufe des Politischen einzuführen. Damit ist Tradition nicht ein Retardieren politischer Dynamik, sondern eines der zentralen Instrumente, durch welche diese überhaupt erst praktikabel werden kann. Demokratie und Verfassung zusammen ergeben Staatsordnung, jedenfalls und vor allem in Deutschland. Beide tragen in sich eine Potenzialität von Wirkungskräften des Hergebrachten, des Herkömmlichen, vor allem in der Verfassung, dem normativen Gegenstand des Staatsrechts.

2. Verfassungsrecht als Verfestigung – Traditionalisierung der Ordnung a) Die Verfassung ist ein rechtliches Ordnungsinstrument, welches in besonderer Beziehung und Nähe wirkt zu den dargestellten Großentwicklungen des rechtlichen Ordnungsdenkens überhaupt, in gesellschaftlichen Vorgängen, religiösen Überzeugungen und politischen Bestrebungen (vgl. oben II., III.). Was wirkt auf diesen übergreifenden Ebenen, muss, auf welche Weise auch immer, in den Blick verfassungsrechtlicher Gestaltung genommen werden. Zeitbedingte Einzelheiten können 23

Näher zu den einzelnen Gegenständen grundrechtlicher Freiheitssicherung unten D. III. Dieser organisationsrechtliche Freiheitsschutz beinhaltet insb. Freiheitssicherung durch Verfahren – aber auch grundrechtliche Vorgaben für verfahrensrechtliche Gestaltungen, s. dazu etwa BVerfGE 63, 131 (143); 73, 280 (296); 33, 303 (341); 53, 30 (59). Dies ist auch eine Grundlage der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten, im Sinne etwa von BVerfGE 115, 320 (346). 24

IV. Verfassung: Staatsform aus Tradition

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dabei ausgeklammert, jedenfalls weithin vernachlässigt werden; der „große Zug“, wie er einer Verfassung nach jedem Verständnis eigen ist, muss aber gerade im Staatsrecht deutlich werden, dort jedenfalls Kategorien und Kriterien finden, mit denen er sich erfassen lässt. Tradition und Verfassung weisen in diesem Sinne eine deutliche und wesentliche begriffliche Nähe auf. Eine Brückenvorstellung zwischen beiden ist der Gedanke einer gewissen Verfestigung. Ihrer bedarf die Tradition, dieser höchst allgemeine Begriff, soll sie rechtlich auch nur in Umrissen fassbar werden. Verfestigung ist das Wesen der Verfassungsgeltung überhaupt, welche in diesem Rahmen aus der politischen Erscheinungen Fluss auf eine allgemeinere Ebene gehoben werden soll25 – auf eben jene, in welcher es zur übergreifenden Tradition meist kommen wird. b) Die Verfassung ist nicht nur formal eine (hohe) Stufe in der allgemein anerkannten Normenhierarchie; sie weist auch in ihrem Inhalt eine begriffliche Stufungsstruktur auf, vom Allgemeineren absteigend, und ausstrahlend, zu spezielleren Normvorstellungen. In dieser inneren Stufung des Verfassungsrechts flexibilisiert sich dessen Normgeltung zunehmend, so wie sich dann in unterverfassungsrechtlichen Regelungen der einfachen Gesetze und der Verordnungen die immer weitere ordnungsspezialisierende Annäherung an die Ordnungsnotwendigkeiten der Realität vollzieht. Die höchste, aber auch allgemeinste Verfestigung erreicht das Verfassungsrecht in seinem System der „Grundordnung“, der „Staats- oder Regierungsform“; dieses bringt dann eine erste konkretisierende Stufe in einzelnen Verfassungsprinzipien hervor, die ihrerseits wieder in Einzelregelungen ihre Ausformung finden. Auf all diesen Ebenen wirken Traditionalitäten in jeweils unterschiedlicher juristischer Präzision und normativer Wirkkraft: absteigend immer konkreter, zugleich aber auch änderungsbedürftiger, aufsteigend bis in die sogar staatsformübergreifenden Höhen einer politischen oder gar einer Staatsideologie. Auf diesen höchsten, oft nur postulierten Geltungsebenen der Unabänderlichkeit26, etwa gewisser demokratischer Prinzipien, ist dann zugleich Tradition in etwas wie eine überzeitliche Geltung „geronnen“. c) Die gesamte Verfassungsproblematik mit ihren nie endenden Veränderungsdiskussionen, ihren Revisionsfragen27, kehrt wieder in den Problemen des Inhalts und der jeweiligen Mächtigkeit von Traditionen; denn diese finden im verfestigenden 25 Darin zeigt sich das Normstufendenken in Sinne Kelsens (vgl. neuestens dazu Isensee, J., in: Verfassungstheorie, 2010, hrsg. v. Depenheuer, O./Grabenwarter, Chr., S. 199 ff. (RN 34 ff.: „Wirklichkeitsbereinigte Normativität“) als eine Transformation der Entwicklungsdynamik in dogmatische Statik. 26 Zur Unabänderlichkeit demokratischer Prinzipien im Rahmen von Art. 79 Abs. 3 GG s. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 79, RN 43 ff. 27 Die Grundsatzproblematik von Verfassungsrevisionen tritt in letzter Zeit gegenüber früheren Diskussionen zurück: Einerseits im Zuge zunehmend spezialisierter Betrachtung einzelner Verfassungsinhalte, zum anderen in der zunehmend systematisierenden Erfassung der „Verfassungsgrundsätze“ (vgl. Hain (FN 26), RN 45 ff.), welche als flexible Grenzen von Verfassungsänderungen erscheinen.

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A. Tradition als Gegenwartsproblem des Staatsrechts

Verfassungsrecht ihren jeweiligen rechtlichen Ausdruck. Dies bedeutet nun nicht, dass Verfassung nichts anderes wäre als ein Mehr oder Weniger an jeweils rezipierten außerrechtlichen Traditionen; in der Verfassungsordnung wirkt, auf jeder ihrer Stufungen, politischer Entscheidungswille. Doch was er jeweils in sich aufnimmt, muss eben stets auch eine gewisse traditionelle Konsistenz aufweisen, um auf der entsprechenden verfassungsrechtlichen Verfestigungsebene bestehen zu können, sich jedenfalls in sie einfügen zu lassen. Andererseits verleiht dann, in einer verschlungenen Wechselwirkung28, der politisch wirksame jeweilige Verfassungswille eben diesen jeweiligen Traditionen ebenfalls einen gesteigerten, vielleicht sich auch abschwächenden, jedenfalls aber einen noch immer (traditions)bestimmenden Inhalt. Da die Tradition jedoch ihrerseits bereits einen jeweils mehr oder weniger geronnenen Stand von Rechtsüberzeugungen darstellt, ist sie damit auch in besonderer Weise geeignet, übernehmbar, einpassbar zu werden gerade in Verfassungsrecht. Gesetzgebungstraditionen, ja solche der Verordnunggebung, mögen zwar begegnen auch im unterverfassungsrechtlichen Bereich. Fassbar werden sie aber, mit normativer Wirkungskraft, in aller Regel gerade dort, wo sie sich zu „Grundentscheidungen“ verdichten, also in etwas wie eine „Normnähe zum Verfassungsrecht“ hinaufwachsen. Der früher häufiger in diesem Zusammenhang eingesetzte Begriff der „materiellen Verfassung“ brachte dies zum Ausdruck.

3. Tradition und „Verfassung als Auftrag“ a) Diese rechtliche Verfestigung eines Traditionsfundus, der in sich die Flexibilität zeitlicher Abläufe bewahrt hat, wirkt auch dort, wo „Verfassung“ als Auftrag verstanden wird, als Direktive, als Programm. Dies waren ja, historisch gesehen, in den vergangenen Jahrhunderten zugleich Entwicklungsstufen der Verfassungsbegrifflichkeit, in deren – zunehmend – normativer Geltungskraft. In Frankreich vor allem haben sie sich, seit 1789, erst in der III. bis V. Republik langsam zu voller Normwirkung entfalten können. In der deutschen Verfassungsentwicklung schwächen sich – umgekehrt – Verfassungssätze immer wieder in eine Grundsätzlichkeit hinein ab, die dann nur mehr optimale Annäherung an ihre Gebote, nicht mehr vollen, harten Normgehorsam verlangt29. In all diesen Formen flexiblerer „Verfassungsprogrammatik“, oder auch bereits Verfassungsgrundsätzlichkeit, können Traditionsinhalte „in der Zeit transportiert“ werden, aus ferneren Vergangenheiten in eine in Einzelheiten noch gar nicht absehbare Zukunft. Der Verfassungsauftrag ist, geradezu als solcher, eine Kontinuitätsform der Tradition, der Wirkung von all deren typischen rechtsbegründenden und legitimierenden Kräften. Das „Programm“ kann als Minimum einer bereits begon28

Die vom BVerfG zu Art. 5 GG entwickelte Wechselwirkungslehre (BVerfGE 59, 231 (265); 66, 116 (150); 71, 206 (214)) kann insoweit auch hier Anwendung finden. 29 Zu dieser Optimierungsproblematik bei der Verfassungsgrundsätzlichkeit vgl. m. Nachw. Hain (FN 26), RN 43 ff.

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nenen Tradition wirken, jedenfalls als Vor-Form eines damit einsetzenden Herkommens. Gerade darin entfaltet es dann die Überzeugungskraft des Hergebrachten, welches hier als Tradition angekündigt wird, und damit in sich wenigstens die politische Hoffnung einer rechtlichen Verwirklichung weiterträgt. b) Ein Beispiel dafür ist die Sozialstaatlichkeit: Über Programmatik wächst ihre Normgeltung letztlich nicht hinaus30 ; gerade darin aber liegt ihre Mächtigkeit, dass sie von einem größeren historischen Zug ihrer „Errungenschaften“ (weiter)getragen wird: Das Hergebrachte tritt „in Spannung zur Gegenwart“, nicht in Gegensatz – es wird, „zu stärkerer Wirksamkeit gespannt“ (tendere): Tradition wird formal zur Tendenz gesteigert, die sich nur durch starke Gegenkräfte schwächen oder gar brechen lässt; Normenentwicklung verstärkt eben den Verfassungsauftrag. Ein solches Mandat aber ist mehr als rein formale Kompetenz; es bedarf der inhaltlichen näheren Bestimmtheit. Wo könnte es diese überzeugender finden als dort, wo sich Ansätze für diese deutlich, weil in Dauer konkretisiert, bereits feststellen lassen: in der Tradition? So ist gerade – ein Paradox – die zukunftsoffene Verfassung damit zugleich geöffnet zur Vergangenheit: Tradition als wirkmächtige Tendenz entwickelt geradezu in der „Verfassung als Auftrag“ eine eigene Tradition; in ihr setzt sich Vergangenheit in einer Zukunft rechtlichen Sollens fort, in dem eben „der Auftrag verwirklicht werden – soll“. Insgesamt und grundsätzlich ist also der Verfassung und ihrem Recht, ihrer ganzen Dogmatik etwas eigen wie eine Traditionsnähe besonderer Art. In ihr unterscheidet sich dieser Rechtsbereich und sein typisches Denken von dem kontingenten Willen eines Augenblicks, wie er in nachgeordneten, weniger verfestigten und verfestigenden Normen hervortritt. In diesem Sinne ist Tradition als Verfassungsbegriff, auch in einer in vielem traditionsferneren Zeit, wesensnotwendig ein notwendiger Gegenstand verfassungsdogmatischer Grundsatzbetrachtungen.

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Das Wesentliche zur Verwirklichung der Sozialstaatlichkeit kann nur der Gesetzgeber leisten, vgl. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20 RN 98 ff. Was hier die „grundlegenden Elemente“ der Sozialstaatlichkeit sein sollen (vgl. BVerfGE 84, 90 (121)) lässt sich wiederum nur aus sozialrechtlichen Freiheitsverbürgungen ablesen; zurückhaltend daher zutreffend auch Hain (FN 26), RN 74.

B. Tradition als Verfassungsbegriff – Allgemeines zu Geltungsvoraussetzungen und Inhalt I. Der Begriff Tradition im Recht 1. Bisherige Übung Tradition ist nicht wesentlich oder gar ausschließlich ein Begriff geltender Rechtsordnungen oder deren Entfaltung in Rechtsdogmatik. Sie muss wohl sogar verstanden werden als eine wesentlich außerrechtliche Begrifflichkeit, die dann aber eben aus der Seins- in die rechtliche Sollensordnung übernommen wird. Damit erst gewinnt sie den dieser eigenen Verbindlichkeitscharakter: „Es war schon früher, lange, immer so, also soll es so bleiben“ – im Sinne einer bestimmten Rechtslage, einer Normsituation. Diese einheitliche Aussage enthält mehrere, qualitativ unterschiedliche Elemente, aus denen sich der Traditionsbegriff auch im allgemeinen Verständnis aufbaut; sie sind aber gerade für seine Rechtsbedeutung, insbesondere im Verfassungsrecht, wesentlich: a) Feststellung bisheriger Übung Frühere, oder gar bisherige Übung ist dogmatischer Ausgangspunkt allen Denkens in Tradition. Darin liegt, von vorne herein, die Vorstellung von einem gewissen Gewicht „des Herkömmlichen“: Der wesentlich isoliert bereits entschiedene, in seinen Auswirkungen eng begrenzte Einzelfall ist, nach seinem Ausnahmecharakter, nicht etwas, das sich in Tradition weitergeben ließe, als solches erfassbar wäre. „Übung“ dagegen ist rechtlich vielleicht unfassbar im Einzelnen, deutlich aber doch insgesamt, soweit sich in ihr bereits etwas von Tradition zeigt: eine gewisse herausragende, beispielgebende Bedeutung einerseits, eine zeitliche Erscheinungsform von Dauer zum anderen; in ihrer Verbindung, ja ihren gegenseitigen Kompensationswirkungen, verdichten sie sich zum Begriff einer Tradition. Nur so kann etwas entstehen, das in seiner Bedeutung wirksam, in seiner Feststellbarkeit fassbar ist, im Recht in einer für diesen Bereich typischen Wirksamkeit. Der Bestimmtheitsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit31 lässt nur derartige Komplexe zur Kenntnis nehmen, bringt sie als Gegenstände des Rechts in dessen gegenwärtiger Verbindlichkeit 31 Zum Bestimmtheitsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit vgl. Sommermann, K.-P. in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 6. A. 2010, Art.20 RN 294 ff.

I. Der Begriff Tradition im Recht

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zur Wirkung. Damit ist aber auch bereits eine für „Tradition im Recht“ nicht einfache Problematik angesprochen, die der „Bestimmbarkeit“ von Traditionen, die sich darin abheben von irgendwelchen diffusen Übungen, wie sie irgendwo, in irgendwelchen Formen feststellbar sein mögen32. Ein Minimum von Geschlossenheit, von Kohärenz muss der Tradition jedenfalls wesentlich sein, wenn auch nicht bereits eine Normförmigkeit, welche Einheitlichkeit und Allgemeinheit inhaltlicher Bedeutung voraussetzt. b) Zeitliche Nähe des Traditionellen Ein solches herkömmliches Phänomen muss in engem Zusammenhang mit einer Gegenwart sich zeigen, von welcher die jeweilige Betrachtung ausgeht: Die Geschlossenheit der Tradition wirkt dann als solche schon aus einer gewissen zeitlichen Nähe. Unterbrochene Tradition, wiederaufgenommenes, weiter zurückliegendes Herkommen mag noch immer Wirksamkeit entfalten, aber nur mehr über einen konstitutiven Geltungswillen, der es mit der Macht der Gegenwart aufnimmt und fortträgt. Die Tradition ist dann nicht mehr als solche bereits, und ganz wesentlich, noch ein „Teil dieser Gegenwart“; diese kann nicht einfach als ihre Fortsetzung angesehen, Brüche können nicht geleugnet, dogmatisch wegdefiniert werden, wie es immer wieder in der Geschichte versucht worden ist. Dies ist das dogmatische Problem der Restaurationen, des Versuchs, traditionsbildende Zeiträume zu definieren, die Wirkung des Herkommens aus diesen allein zu gewinnen und letztlich die „Gegenwart im Sprung mit der Vergangenheit zu verbinden“. Hier zeigen sich dogmatische Grundlagen einer Tradition: Im Grunde ist es ja die dieser zugrunde liegende Gleichheit als Rechtsbegriff, über welche die Tradition in das juristische Denken Eingang findet. Diese Gleichheit aber setzt eine Nachbarschaft der verglichenen Komplexe voraus, welche sich auch in zeitlicher Nähe zeigen muss. „Gleichheit in der Zeit“ ist daher zutreffend als (verfassungs)rechtliche Grundlage der Kontinuität erkannt worden: Gleichheit ist insoweit nicht nur ein Ergebnis, sondern auch Grundlage, Begründung für das Wirken einer Tradition im Recht33. Legalität mag gewisse zeitliche Abstände überspringen, wenn sie etwa auf eine unwandelbar gleichbleibende Menschenqualität, unveränderliche Menschenrechte zurückführbar ist. Es bedarf aber eben einer „wesentlichen zeitlichen Nähe“ der rechtlichen Betrachtungsgegenstände, damit Traditionsvorstellungen als solche wirken, nicht nur in Leugnung von Unterbrechungen weitergelten können. Hier liegt 32

Hier aber schließt sich der Kreis einer schwer aufzulösenden Problematik: Der Traditionsbegriff als solcher muss eben bestimmt sein (werden) – bisher aber ist er nach den herkömmlichen rechtsstaatlichen Bestimmbarkeitskriterien (vgl. FN 31) nicht festgelegt. Jedenfalls muss stets die eher zufällige Anwendung von einer traditionsbildenden Übung unterschieden werden. 33 In diesem Sinn ist die Egalität als „Gleichheit in der Zeit“ der rechtliche „Brückenbegriff“ nicht nur für eine Kontinuität, sondern bereits für ein Konstitutivelement derselben, der Tradition, als einer Kraft, welche Kontinuität hervorbringt. Vgl. zur Problematik Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 204 ff.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

auch der Unterschied einer „reinen Kontinuität“, welche einfach fortdauernde Wirkung feststellt, von einer Tradition, die eine solche bewusst und gewollt aus Früherem und doch Naheliegendem heraus entfaltet. c) Überzeugungskraft der Tradition – Effizienz Wer eine solche Tradition als geschlossene, zeitlich nahe, nicht durch Unterbrechungen gebrochene Kraft versteht, kann dieser auch Überzeugungswirkungen eines solchen Befundes zuordnen, mit welcher sie dann ins Recht, in dessen spezieller Begrifflichkeit, Eingang findet. So wie bei den Betrachtungen der Geschlossenheit die verfassungsrechtliche Rechtstaatlichkeit in ihren dogmatischen Vorwirkungen erkennbar war, wie bei der notwendigen Nähe der Tradition zur Gegenwart das Gleichheitsprinzip zur Wirksamkeit kommt, so ist es nun der allgemeine Rechtsbegriff der Effizienz34 der, nicht zuletzt in seinen verfassungsrechtlichen Ausprägungen, in Tradition zu einer speziellen Wirksamkeit rechtlich emporwächst35. Seine Bedeutung wird hier getragen durch eine Bewährung, welche letztlich zurückgeht auf widerstandslose Akzeptanz, auf das Zurücktreten einer Diskutabilität, im Letzten auf Konsensvorstellungen36. Dies alles ist staatsrechtlichem Denken als solchem wesentlich; es ist grundsätzlich-dogmatisch verankert in dem demokratiekonstitutiven Mehrheitsprinzip, welches ja letztlich den Konsens institutionalisiert hat, als überzeugende Beendigung des Meinungskampfes. In all dem findet also die Tradition bereits staatsrechtlich-dogmatische Begriffsöffnungen, über welche sie in die Rechtsordnung, an deren Verfassungsspitze, einfließen kann. Die drei klassischen Staatsgewalten werden auf Wegen und in Formen laufender Suche ihrer Effizienzverstärkung tätig: Die Exekutive vor allem, in der Bewährung durch selbstverstärkende Verwaltungspraxis. Es ist auch die, angeblich „gewichtslose“, Dritte Gewalt, die solche Tore öffnet: in ihrer rechtsstaatlich fundierten, 34 Effizienz als Rechtsbegriff (vgl. diesen Titel von Leisner, W., 1971), ist insoweit noch immer nicht voll geklärt, vgl. Nachw. bei Leisner, W., „Privatisierung“. Von der „Hoheitsgewalt“ zum gleichordnenden Privatrecht, S. 100, FN 149; neuerdings Matthis, K., Effizienz statt Gerechtigkeit? 2. A. 2006. 35 Vor allem in einer Steigerung der rechtlichen Geltungskraft, vgl. i. Folg. II. 36 Konsens ist ein allgemeiner Verfahrensbegriff, insoweit ist er auch von verfassungsrechtlicher Relevanz. Zu Konsens als Verfassungsbegriff vgl. Jakobs, G. (Hg.) Rechtsgeltung und Konsens 1976, darin insb. Scheuner, U., Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, S. 33 ff.; s. ferner Randelzhofer, A. (Hg.), Konsens und Konflikt, 35 Jahre Grundgesetz, 1986. Pasemann, B./Baufeld, St., Verfassungsrecht und Gesetzgebung auf der Grundlage von Konsensvereinbarungen, ZRP 2002, 119 ff. – Verfassungsinstitutionell wird der Begriff insbesondere diskutiert im Zusammenhang mit der „Konkordanzdemokratie“, als deren – vielkritisierte – Institution der Bundesrat erscheint, vgl. Korioth, St., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 50 RN 16, 32. – Von Bedeutung ist hier auch das Wort von der „praktischen Konkordanz“ (Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 20. A. 1995, Nachdruck, 1999, S. 72: Es postuliert ein bestimmtes Ergebnis der Auslegung von Verfassungsnormen („optimale Wirksamkeit“) – insoweit sagt es allerdings nichts über die Realisierungsmechanismen dieses Zustandes aus.

I. Der Begriff Tradition im Recht

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„Bestimmtheit als Beweisbarkeit des Rechts“ nimmt die geschlossene, bewährte, gegenwartsnahe Tradition einen entscheidenden Platz ein. Die judikative Entscheidung beruht ja auf Beweisbarkeit der Rechtslagen, diese wieder auf deren früherer effektiver Akzeptanz. Selbst dort, wo die Verfassungsordnung nicht auf Übung, sondern auf veränderndem Willen aufruht, in der wesentlich sich selbst und die Rechtsordnung ständig erneuernden Gesetzgebung, findet Tradition wenigstens über Vorstellungen der Effizienzsuche durch „Experimentiergesetze“37 Eingang, in denen sich dieser gesetzgeberische Wille gewissermaßen „hineintastet“ in neu zu schaffendes Herkommen. Und welches Gesetz wäre nicht ein „Experimentiergesetz“, eine Norm, die in Anwendung immer effektiv(er) werden soll? In all dem hat sich bereits ein Wandel vollzogen, aus dem reinen Sein hinein in ein Sollen aus Wollen, in welchem die Realität durch den rechtlichen Willen gestaltet, verändert wird. Und hier wird gerade in Tradition dann das Werdende zum Seienden. Die Zeit, mit all ihren Wandlungserscheinungen, ihren Realitätsabschwächungen, wird überwunden – geordnet, durch den menschlichen Willen zur Dauer im Recht. Dieses hebt, insbesondere in seinen verfassungsrechtlichen Formen, tiefste menschliche Ängste gegenüber allem Wandel auf, vor allem die Todesangst des Vergehens, besiegt sie in der verwandelnden Fortsetzung der Tradition. Das Recht ist wesentlich stets Vergangenheitsbewältigung, soweit es eben vorübergegangene, bereits irgendwie vollendete Tatsachen in ihrer Wirkung für die Zukunft (um-)bestimmt. Versucht es in Rückwirkung seiner Normen und Entscheidungen zu weit zurückzugreifen, so wird es nicht nur unglaubhaft, es verliert auch die Gegenwartsnähe einer Tradition. Daraus erklären und rechtfertigen sich die Rückwirkungsverbote der Rechtsstaatlichkeit38. Zugleich aber setzt diese rechtsstaatliche Ordnung den Rückwirkungsverboten auch wiederum eine Grenze: in der Erlaubnis einer Weiterwirkung des Früheren in die Zukunft hinein; „unechte Rückwirkung“ ist hier nur ein anderes Wort für eine Weiterwirkung, in der bisherige Rechtstradition eben weiterträgt. So wird die geschlossene, zeitnahe Tradition Trägerin normativer Überzeugungskraft; darin transzendiert sie, mit all ihren Kräften eines Sieges über die Zeit, die Vergänglichkeit der Gegenwart wie den Wandel des Vergangenen in Zukunft. Damit ist Tradition im Recht nicht nur eine Form des Werdens, sie wird zu einer solchen der dogmatischen Geltung. 37 Zu den Experimentiergesetzen vgl. grdl. Horn, H.-D., Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989; neuerdings spielen hier vor allem die kommunalrechtlichen Experimentierklauseln eine Rolle, vgl. Lange, Klaus, Die kommunalrechtliche Experimentierklausel, DÖV 1995, 770. 38 Rückwirkungsverbote führen begründungsmäßig schon darin wesentlich auf die Rechtstaatlichkeit zurück (vgl. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20 RN 294 ff), dass sie die Rechtsgeltung, als deren Fortsetzung die „Legalität“ dogmatisch entstanden ist, in jener zeitlichen Dimension begrenzen – in eben der auch das Wesen der Tradition liegt: diese kann damit in gesetzlicher Form (weiter) wirken, nicht „das Gesetz zurück“.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

2. Lange Übung – Steigerungsform der Traditionswirkung a) Zusammenfassung von Unbestimmbarem Tradition wirkt an sich wesentlich in Dauer, in besonderem Maße aber durch die Länge einer geschlossenen, gegenwartsnahen Übung. Gerade in ihr gewinnt die Gegenwart einen Hintergrund, welcher ihre Kraft und Legitimation über die Vergänglichkeit des gegenwärtigen Augenblicks hinaus steigert. Im Begriff geradezu der Tradition liegt vielleicht nicht eine bestimmte zeitliche Dauer, wohl aber eine nicht nur vorübergehende Länge derselben. Sie muss sich zwar, nach einem Elementarkriterium der Rechtsstaatlichkeit, „irgendwie“ feststellen lassen, festzumachen sein an gewissen Phänomenen in deren zeitlich erfassbarer Erscheinungsform. Im Begriff der Tradition als solcher liegt aber auch etwas von einer zeitlichen Unbestimmtheit, aus welcher gerade die Entfernung der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt. Tradition ist also nicht etwa wesentlich eine „Dauer in infinitum“, wohl aber ist in ihr etwas von einer Länge der hergebrachten Übung in indefinitum mitgedacht. Und gerade weil sie aus einer Vergangenheit kommt, welche auch in ihrer rechtlichen Macht dem Vergessen in Dauer ausgeliefert ist, können, wenn nicht müssen geradezu die Ursprünge dieser Tradition in etwas weit Zurückliegendem gefunden werden, über das sich bereits Erinnerungsschwäche ausbreitet. Der eigenartige Befund dieser Tradition liegt nun aber zugleich darin, dass sie in eben solcher Verlängerung auch stärker wird in ihrer gegenwärtigen Mächtigkeit, vor allem in ihrer juristischen Überzeugungskraft. Die Verlängerung der Zeitschiene nimmt ihr also einerseits, an deren Beginn, Erkennbarkeit – und stärkt doch gerade darin ihre Wirksamkeit. Besonders deutlich wird dies dort, wo lange Übung als eine solche gedeutet wird, welche „immer schon“ stattgefunden hat. Das aus ferner Vergangenheit Kommende, damit im Grunde gar nicht „wirklich genau Bestimmbare“, entfaltet daher in ihr seine Kraft in der Dimension einer Tradition als solcher, nicht mehr in den einzelnen, präzise erfassbaren Stadien, in welchen sich ihre Entwicklung vollzieht. Darin huldigt dieses Recht, welches doch wesentlich der Präzision, ja Genauigkeit seiner Befehle unterworfen ist, einer Zeit gerade in dem, worin diese die Bestimmbarkeit der Entwicklung abschwächt: ihrem Ab-Laufen in dauerndem Kommen und Gehen. Tradition ist insoweit eine wesentlich undefinierte, vielleicht gar undefinierbare Begrifflichkeit – daraus wächst ihre Macht auch und gerade im Recht; dieses sucht hier oft nicht mehr Klarheit zu erfassen, sondern verdämmernde Vergangenheit. Mit Überzeugungskraft wirkt die Tradition nicht aus ihren einzelnen, fassbaren rechtlichen Erscheinungen heraus, an denen sie sich, irgendwie und irgendwann, immerhin festmachen lässt; ihre eigentliche Legitimationskraft kommt aus ihrer (größeren) zeitlichen Dimension, steigert sich mit der Tiefe, in welcher diese Vergangenheit aus sich heraus wirkt. Es liegt in jeder Tradition etwas von der Kraft des „ganz Alten“ – auch daraus erklärt sich die Überzeugungskraft der Antike im Römischen Recht, nicht nur aus dessen Rationalisierung zur „ratio scripta“.

I. Der Begriff Tradition im Recht

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Dies ist, insgesamt, etwas wie eine Irrationalisierung der Zeit im Recht, in dessen Begründung aus dem letztlich Unüberschaubaren der Vergangenheit, die sich in ihr in Irrationalität verliert – vielleicht niemals in Rationalität erfassbar gewesen ist. Hier ersetzt dann historischer Konsens der Gegenwart über vergangene Vorgänge deren Realität. Napoleon nannte dies auf St. Helena die „Geschichte als konsensgetragene Fabel (fable conventionée)“39. Die Vergangenheit wird in dieser Tradition umso mächtiger, je mehr sich von ihrer Transparenz verliert, in der Betrachtung aus gegenwärtiger Sicht. Tradition ist ein mächtiger Integral-Begriff40 ; in ihm wächst zusammen was zusammengehört – und was nicht zusammengehört, aber in der Zeit, wie auch in der Natur, dennoch irgendwie „sich nahe war“, jedenfalls im Geist des Betrachters. Wer auf Tradition setzt im Recht kann sich nicht einer sezierenden Kritik zu allererst verpflichtet fühlen; er übernimmt eben Dimensionen, Globalitäten. Er schafft ihnen als solchen Raum in seiner Gegenwart, in deren kritischen Grundstimmungen, in denen Recht immer in zahllosen Einzelheiten, in wesentlich disparaten Formen gesetzt wird. Diese fasst er für die Vergangenheit aus seiner verlängernden Traditionssicht zusammen, zu einem Herkommen. Gemeinsam ist darin dann letztlich nur mehr eines: die gleiche, wenn möglich dieselbe Instanz und Form der Rechtsetzung. Bestimmt werden diese vor allem durch die Staatsform; und so wird diese letztere darin selbst zur übergreifenden Einheit integriert, aus solchen Rechtsetzungstraditionen heraus. Transparenz im Einzelnen mag hier verloren gehen – große Strukturen bleiben sichtbar, Umrisse der Staats-Form. b) Unvordenklichkeit Überzeugungskraft der Unvordenklichkeit liegt also in dieser Tradition, sie wirkt als Stärkung von deren Sollenswirkung im Recht. „So war es von jeher“, seit in solchen rechtlichen Kategorien und Gestaltungsformen gedacht wurde – also kann doch anders „eigentlich“ nicht gedacht werden. Die Vergangenheit wird zur geistigen Denk- und Gestaltungshürde in der Gegenwart, für die Zukunft. Auch in diese hinein lässt sich das Unvordenkliche nur schwer überspringen, eben weder zurück, noch im Fortschritt. Daraus erwächst dann die Vorstellung von einer „Richtigkeit“ im Recht, die letztlich nur überzeitlich gedacht werden kann. Kantianisch gewendet fällt dies mit dem immer gleichen Erkenntnisvermögen des Menschen zusammen. Rechtliches Denken findet darin aber auch seinen Anschluss an das erwähnte Rechtsdenken in „Effizienz“: Die Tradition fasst eben zusammen, was in der Vergangenheit gewirkt, sich darin bewährt hat, anders hätte es ja wohl nicht von Dauer sein können. Immer wieder sucht zwar gerade das politische, das Staats-Recht 39 s. dazu und überhaupt zur Tradition im Staatsdenken des Korsen, Leisner, W., Napoleons Staatsgedanken auf St. Helena, 2006, S. 29. 40 Gerade deshalb setzt sich auch die Wirkung der früheren „Feudal-Integration“ der Tradition in der Smendschen Integrationslehre als Kategorie fort in aktiven Wert-Bekenntnissen. s. dazu Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 32, 42.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

umgekehrt die Kategorien einer, auch längeren, „historischen Fehlentwicklung“ einzusetzen; aus ihr heraus sollen dann die großen Revolutionen legitimiert werden, von 1789 bis 1917. Dies waren nicht Versuche eines „Corriger la Fortune“, sondern einer Korrektur der Traditionen, der Geschichte als solcher. Für diese Vergangenheit hat allerdings auch immer wieder das Wort des Horaz von der Natur41 gegolten: Man mag sie mit (Schwertern und) Gabeln austreiben – sie kommt zurück, denn diese Natur wächst eben weiter – in Tradition. Sie kommt aus jenem geschichtlichen Boden, der das Frühere hervorgebracht, auf und in dem eine ganze Vergangenheit in Tradition „humifiziert“ zusammengelebt hat. Dies ist neues Wirken in der Effizienz des früher Hervor-Gebrachten (efficere). So findet die Überzeugungskraft der Tradition ihre Grundlagen geradezu in naturwissenschaftlich-biologischen Erkenntnissen, bis hin zu den Menschen, die im Recht ihre Ordnungen suchen: In ihren Genen wirken die früheren Effekte weiter, unausscheidbar kombiniert, als solche am Ende selbst dem feinsten Auge nicht mehr erkennbar. In einer geistig-rechtlichen Tradition bringt dies Triebe hervor, Gedanken, Ergebnisse neuer Ordnungssuche; in all dem wirkt aber eben das Unvordenkliche. Näher an menschlicher Ordnungswirklichkeit zeigt sich dieses Phänomen in der Überzeugungskraft des Unvordenklichen einer Tradition, welche aus religiösen Quellen schöpft. Das Uralte, Ursprüngliche der ersten Religionsgründung kann als solches gar nicht mehr hinterfragt, es kann eben nur geglaubt werden. Seine große Wirkungskraft bezieht es nicht nur aus einer langen Dauer. In dieser mögen sich seine Überzeugungen auch wieder abschwächen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Die eigentliche, die ganz große Überzeugungskraft kommt aber bleibend aus den unvordenklichen Ursprüngen, über die hinaus eben nicht gedacht werden darf. Mögen sie als solche für Viele nur mehr Mythen sein oder gar Märchen – gerade darin sind sie im Letzten unzerstörbar, unaufhebbar für spätere Sollensordnungen, damit vor allem für nachfolgendes Recht. Die Irrationalisierung schließlich, welche in der wahrhaft mächtigen Tradition des Unvordenklichen liegt, entbindet im Recht Ordnungskräfte, welche weit über rationales Erfassen und Fortentwickeln hinausreichen: Hier wirkt vor allem die größte der traditionellen Erscheinungen mit gemeinschaftsgestaltender Kraft, die Familie, die Beziehungen zwischen den Generationen. Sie lassen sich nicht einfangen in beliebig veränderbare Rechts-Hülsen42. Juristische Normen mögen Ent41

Horaz, Naturam expelles furca, tamen usque recurret, Epist. 1, 10, 24. Klar erkannt ist dies bereits von Platon in erb- und familienrechtlichen Ausführungen in den Nomoi (922 ff.), vgl. dazu neuerdings Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre, 2005, S. 587 ff. In den herkömmlichen Erläuterungswerken zum Begriff der Familie ist von deren Selbstgesetzlichkeit unter Rückgriff auf „familiäre Traditionen“ (Art. 6 GG) nur am Rand die Rede, vgl. etwa Robbers, G. in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 6 RN 87: „Auch hier (zum Problem Groß-Klein-Familie) ist von dem überkommenen, durch die einfachrechtlichen Bestimmungen maßgeblich erfassten Verständnis von Familie auszugehen“. 42

I. Der Begriff Tradition im Recht

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wicklungen folgen, doch sie werden weithin von außerrechtlichen Traditionen bestimmt; das Recht muss sich daher in laufender Grenzkorrektur bewähren, kann darin aber (nur) äußerlich fassbare Formen außerrechtlicher Traditionen absichern. Gerade diesem familiären Herkommen und seinen rechtlichen Garantien ist eine verdämmernde Unvordenklichkeit eigen, die im Einzelfall weit zurückreicht, je weiter desto stärker wirksam. Dies also ist jener Begriff der Tradition, der weithin aus außerrechtlichen Entwicklungen heraus ins Recht hineinwirkt. Seine Erscheinungsformen und Wirkungen sind nun im Einzelnen darzustellen, insbesondere in der gesellschaftsnächsten rechtlichen Ordnung, im Staatsrecht.

3. Tradition: Legitimation aus früherem Willen a) Tradition als Legitimität, Staatsvoraussetzung, Wesen der Macht Tradition ist nicht wesentlich, aber sie ist eben auch ein Begriff des Rechts. Mit ihren außerrechtlichen Erscheinungsformen, welche gerade mit ihr auch das Recht prägen, ist ihr die Wirksamkeit einer Machtverstärkung gemeinsam, zugunsten all derjenigen, welche sich auf sie berufen können. Dies gilt trotz einer Grundstimmung des Fortschrittsglaubens, einer gewissen Abschwächung des Herkömmlichen, wie sie unter A angesprochen wurde. Stets bedeutet Tradition in ihrer Geschlossenheit, Gegenwartsnähe, vor allem aber ihrer irrational-virtuellen „Kraft aus Vergangenheit“, eine wichtige Legitimationsquelle für gegenwärtige Rechtslagen. Nicht umsonst ist es ja der Begriff der Legitimität, über den Tradition, in all ihrer vergangenheitsorientierten Unbestimmtheit, rechtfertigend, ja überzeugend die Verbindlichkeit der Rechtslagen verstärkt. Diese Legitimität wird von der Legalität herkömmlich darin unterschieden, dass diese Letztere sich auf Ketten unmittelbar und eindeutig geltender Rechtsbefehle stützt, die Legitimität aber (auch) auf rechtliche Wirkungsströmungen allgemeinerer, integrierter Art (1. b) aa)), wie sie eben die Tradition bietet. „Legitimisten“ konnten sich daher, gerade aus unvordenklicher monarchischer Tradition heraus, in Frankreich als Erben dieser Tradition, damit aber als Vertreter, Wächter der Verfassungskräfte im weiteren Sinne darstellen. In ihrem Denken erschien eben die große Verfassung dieser ersten mächtigen Staatlichkeit in Europa gegründet nicht auf einzelne geschriebene Befehle, sondern auf eine größere, länger gelebte Tradition, die des Ancien Régime – dies war für solches Denken die eigentliche Verfassung Frankreichs. Dass dort das gesetzlich-normative Verfassungsdenken sich so lange nicht hat durchsetzen können, war wohl nicht zuletzt auch diesem fortdauernden, geschriebene Texte überwölbenden Legitimismus, d. h. Traditionalismus geschuldet. Hier war dann die „nationale“ Souveränität im Sinne

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

der französischen Staatslehre eines Carré de Malberg43, aus dieser Tradition heraus, mehr als der tagtägliche Wille des demokratischen Volkssouveräns. Die Tradition war es, welche letztlich das tägliche Plebiszit44 zur größeren übergreifenden Verfassung Frankreichs ergänzte, diese in die Geschichte hinauf, in die Zukunft hinaus führte. Diese legitimierende Tradition stärkte die Staatlichkeit als Ordnungskraft, quantitativ wie qualitativ. Die Größenordnung der Zeitverlängerung der Herrschaft wirkte damit überzeugend; der Staat wurde geradezu aus der Zeit herausgenommen, in etwas wie eine überzeitliche Dimension gehoben. Der Staat, nicht mehr (nur) der Schöpfergott, war jedenfalls in diesem Sinne zeitlich allgegenwärtig. Er gewann und gewinnt auch heute noch die Indiskutabilität der „im Zweifel“ und jenseits von ihm immer weiterwirkenden Herrschaft. Wie immer diese im Einzelnen gestaltet sein mag – als solche ist und bleibt Herrschaft Tradition, damit auch Staat. Qualitativ ist auf diesem Wege grundsätzliche Machtverstärkung durch Zeit erreicht. Sie, die wesentlich alles sterben lässt, jede Mächtigkeit, wird hier zu deren Befestigung eingesetzt; sie wirkt am stärksten dort, wo sie nur (mehr) als ein Vorübergehen wahrgenommen wird. In diesen Wirkungen zeigt sich die Tradition – gerade in ihrer zeitgebundenen Zerbrechlichkeit – als eine geradezu als solche überdauernde elementare Mächtigkeit, welche immer wieder die des Staates hält, ja stärkt. Darin wirkt sie als das Element dessen, was man die Verfassungsvoraussetzungen genannt hat45, jene Daten, die ein politisch-menschlicher Wille nicht setzen, die er nur als Voraussetzung annehmen, hinnehmen kann: die Existenz der Staatlichkeit, deren Notwendigkeit als solche. Sie ist nicht identisch mit Tradition, erkennbar, inhaltlich mächtig wirksam aber wird sie erst durch diese, aus ihr heraus. Was nur einen Augenblick Bestand hat, in der logischen Sekunde der jeweiligen Rechtsgeltung, das mag in dieser wirken – Mächtigkeit in Weiterwirken entbindet es nicht. Tradition entfaltet also eine weit tiefere Kraft der Machtverstärkung als nur die einer Legitimierung über Augenblicke hinaus; sie liegt im Begriff des Rechts selbst als einer wirkenden, aus einer gewissen Zeit heraus und in sie hinein gestaltenden Macht, sie ist ein Kernelement der Rechts-Macht als solcher: Macht in Zeit – aus Zeit.

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Carré de Malberg, Contribution à la Théorie générale de l’Etat, 1920, insb. I., S. 638; II., S. 582 ff. s. auch dens., La Loi – expression de la volonté générale, 1931. 44 Zu diesem täglichen Plebiszit, im Sinne von Ernest Renan s. Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip, 2012, S. 145. 45 „Verfassungsvoraussetzungen“ vgl. Isensee, J., HStR3, § 15, RN 46 ff.

I. Der Begriff Tradition im Recht

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b) Tradition: Macht (auch) aus (Willen der) Vergangenheit In rechtlicher Betrachtung ist Tradition nicht nur ein Vorgang des Weitergebens von Wirkungen rechtlicher Lagen. Her-kommen, weitergegeben werden Gegenstände rechtlicher Betrachtung, also eben, ja notwendig: Ordnungszustände, mag in ihnen auch eine gewisse Wandlung mitgedacht sein. Wesentlich ist darin aber stets das in der Vergangenheit Geordnete, aus vergangenem Willen heraus nur wirkt es in die Gegenwart. Tradition als vergangene Mächtigkeit mag zunächst als ein Ärgernis erscheinen in einer auf Volkssouveränität gestützten Demokratie, die nichts kennen will als ihr tägliches Plebiszit (Ernest Renan). Gerade dieses aber kann sich auch täglich in seiner gleichbleibenden Macht erneuern, damit gerade die Identität des Volkssouveräns in dessen gleichem Willen unter Beweis stellen. Macht der Vergangenheit, wie sie die Tradition weiterträgt, ist damit zugleich auch Macht aus Vergangenheit, in einer Wechselwirkung von Legitimationen des früheren und des gegenwärtigen souveränen Willens. Der politische Wille mag als solcher vergänglich erscheinen; da er sich aber stets auf ein Subjekt bezieht, das „irgendwie doch gleichbleibende Volk“ in der Demokratie, wie einst die eben weiter sich fortpflanzende Familie der Monarchie, – aus solchem und im Grunde identischem monarchischem wie demokratischem Denken heraus legitimieren sich Vergangenheit und Gegenwart in Wechselwirkung zu dem einen Willen der Zukunftsgestaltung durch Recht. Das Recht war ja auch in seiner Vergangenheit, in deren traditionsbegründenden Phasen, stets Willensäußerung; damit ist Tradition im Grund fortwirkender Wille als staatsgründendes Recht. Traditionalismus bedeutet also nicht eine grundsätzliche Absage an den Voluntarismus im Recht, er leugnet nicht den Dezisionismus als ein Wesenselement von dessen Entwicklung – im Gegenteil. Das Recht als Ausdruck eines Willens, Verfassungsrecht als besonders fest fixierter Wille zur Macht – all dies kann im Grunde nur darin von realem politischem Gewicht sein, dass sich vergangener Wille eben nicht sogleich auflöst in ablaufenden Zeiteinheiten, dass er diese vielmehr über-steht, sie zusammenfasst in einem Weiterwirken, das letztlich zur Tradition erstarkt. In diesem Sinn ist dann Tradition eher eine Verstärkung des Willenselements, gerade auch der demokratischen Verfassungsgrundlagen. Einer so gedachten Tradition muss nicht das Beiwort des „Lebendigen“ hinzugefügt werden, damit sie wirksam werde; es wäre dies ja auch nichts als die Banalität, dass alles Wirkende lebendig sein und bleiben muss. Ebenso selbstverständlich ist die grundsätzliche Endlichkeit dieser Fortsetzungen eines früheren Willens, der durch einen neuen ersetzt wird. Wo er aber weiter gehalten wird, und in all dem, was ihn so hält, ist er legitime rechtliche Ordnungs- und Machtkategorie, keineswegs belastet mit einer schicksalhaften laufenden Abschwächung: sie kann sich in immer neuem Herauswachsen aus Früherem fortsetzen.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

Gerade das Recht stellt hier bereits traditionelle dogmatische Grundformen seiner Allgemeinen Staatslehre46 zur Verfügung, in welchen dieser Vorgang des Herkommens juristischem Denken vermittelt werden kann, in rechtliche Ordnungen eingebettet erscheint:

4. Exkurs: Tradition und „Tendenz“ – „Dynamische Tradition“ Die hier behandelte Frage der möglichen Geltungswirkung der Tradition ist, rechtlich gesehen, eine solche der Form, in welcher dieser normative Effekt erkennbar wird. Diese „Rechtswirkung auf die Rechtsgeltung“ einer Ordnung kann jedoch, gerade im Fall des Herkommens, auch in einer speziellen Art und Weise auftreten: der einer „Tendenz“, welche gewisse direktive Wirkungen für künftige Entwicklungen auslöst. a) Bewegt sich eine Übung in gewisser, vor allem länger dauernder Kontinuität in eine bestimmte Richtung, indem sie Entscheidungen intensiv oder extensiv wirkungsmäßig verstärkt, so lässt sich darin etwas sehen wie eine „Tendenz“. Diese mag sich bis zur Unumkehrbarkeit (vgl. i. Folg. III. 4.) steigern, aber auch nur wahrscheinliche, vielleicht lediglich mögliche Entwicklungen beinhalten. Einen einigermaßen festen, rechtlich fassbaren Begriff einer solchen „Tendenz“ gibt es aber nicht. Es ist dies ein beschreibendes Wort, welches vor allem in rechtspolitischen Überlegungen eine Rolle spielt. Bis zu einer rechtlichen Vermutung, i. S. einer in dubio-Lösung, wird es in aller Regel nicht tragen. Denn der Unterschied zwischen einer Tendenz als einer Entwicklungsbeschreibung und einer Rechtswirkung, wie sie einer Tradition eigen sein kann, muss stets beachtet werden. Ersteres bleibt im Bereich der Rechtspolitik, das Herkommen kann, zumindest über Auslegung, in rechtliche Inhaltsbestimmung und damit aktuelle Wirksamkeit übergehen. b) „Tendenz“ könnte immerhin verstanden werden als „Anfang einer Tradition“, als ein „Herkommen in fieri“. Dann können von ihr alle Wirkungen ausgehen, wenn auch in abgeschwächter Form, welche einer Tradition zuzuschreiben sind, im Rahmen der Ergebnisse dieser Untersuchung. Bei Verständniszweifeln hinsichtlich rechtlicher Regelungsinhalte mag dem immerhin ein gewisses Gewicht zukommen, wenn es sich auch nicht zu einer in dubio-Entscheidungsgrundlage verdichtet. Doch auch dann lassen derartige Effekte das demokratische Änderungsrecht des Gesetzgebers unangetastet, zwingen ihn allenfalls in eine gewisse Begründungsklarheit und -intensität. c) Eines ist jedenfalls stets zu beachten: Tradition ist nicht ein (nur) wesentlich statischer Regelungszustand. Derartiges darf nicht daraus abgeleitet werden, dass 46 Zur Tradition in der Allgemeinen Staatslehre der Weimarer Zeit, hier insb. der des Dezisionismus i. S. v. Carl Schmitt, vgl. Isensee (FN 25), RN 27 ff.

II. Die Rechtswirkung der Tradition – Herkommen und Rechtsgeltung

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hier nur „Festes“, in und aus sich nicht Entwicklungsfähiges, weitergereicht (tradere) würde. Weitergegeben wird vielmehr ein „Zustand“ mit all den dynamischen Entfaltungspotenzialen, die bereits erkennbar in ihm angelegt sind. Wer so verstandenes Herkommen „aufnimmt“, wird, ja muss den entwicklungsmäßigen Schwung, den es mitbringt, ebenfalls erfassen – als solchen ihn weitergeben. Ob er sich darin, oder im ferneren Verlauf, abschwächt, ist eine weitere Frage; sie wird beantwortet werden je nach dem Gewicht und der Festigkeit, mit der die Inhalte eben empfangen werden; nur so können sie sich auch weitergeben lassen. Das Herkommen mag also (zunächst) eine gewisse beachtliche Statik aufweisen (müssen): weitergegeben wird mit ihm aber stets auch die ihm innewohnende Entwicklungsdynamik: In diesem Sinn ist Tradition immer auch „dynamisch“ Tendenz.

II. Die Rechtswirkung der Tradition – Herkommen und Rechtsgeltung 1. Bindungswirkungen nur über gesetztes Recht Tradition wirkt rechtlich nicht „als solche“, ausschließlich als ein Phänomen reiner „normativer Kraft des Faktischen“, in außerrechtlichen Effekten auf das Recht. Ihre Einbettung in die Rechtsordnung erst macht sie zu einer rechtswirksamen Erscheinung. Daher wirkt sie lediglich in Verbindung mit einer – wie immer gearteten – Rechtssetzung, in deren Inhalte sie einfließt, in einem Vorgang, der Rechtssetzung ist. Tradition ist aber als solche nicht eine Form der Rechtssetzung. Dies ergibt sich für die vorliegende Untersuchung schon aus deren Ansatz: Gesucht wird ein Rechtsbegriff der Tradition, nicht „Fakten als Recht“. Zum Rechtsbegriff wird die Tradition eben nur darin, dass ihrem Inhalt als solchem Rechtswirkungen in Rechtssetzung zuerkannt werden. Dogmatisch bedeutet dies: Tradition kann hier nur untersucht werden als eine Erscheinung mit Rechtsgeltung, in Formen der Produktion einer solchen. Daher ist Tradition nur wirksam und daher zu behandeln als eine Erscheinungsform eines „Rechts(zustandes)“, wie immer dieser „gesetzt“ sein mag – aber eben stets nur als ein Inhalt der Rechtssetzung, nicht als eine Form von dieser. Diese „Setzung“ schließt damit allerdings auch, und dies ist entscheidend, Formen der Rechtssetzung durch „Rezeption“ in die Rechtsordnung ein.

2. Tradition als Geltungs-Form des Rechts Geltung ist die Grundkategorie des rechtlichen Ordnens. Kräfte eines Augenblicks entfalten ihre eigenartige Dauerwirkung in dieser Sollens-Ordnung, welche sie für eine, grundsätzlich unbestimmte, Zukunft verbindlich werden lässt. Diese Kategorie der Geltung ist eine typische Erscheinungsform der normativen Rechts-

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

lage; sie lässt sich weiterdenken bis in alle rechtlichen Entscheidungen hinein, mag diesen auch nicht die Unbestimmtheit des allgemeinen Befehls eigen sein. In diesem Sinne ist alle rechtliche Wirksamkeit normative Geltung, darin kann der Reinen Rechtslehre Kelsens nicht widersprochen werden47. Der Begriff der Geltung als Rechtswirksamkeit weist eine gewisse Allgemeinheit auf, welche in Anwendung konkretisiert werden muss; es ist gerade diese Allgemeinheit, in welcher „Ordnung“ über den gegenwärtigen Augenblick, über sogleich durchzusetzende Rechtslagen, über den Einzelfall hinaus wirken kann. Das Wesen der Ordnungskraft liegt in eben jener rahmenmäßigen Bestimmtheit, welche den konkretisierenden Willen leitet. In diesem inhaltsbestimmenden Sinne ist Tradition eine typische Kategorie des Rechts, jedenfalls ein normativer Begriff. In jedem Falle ist ihr etwas Rahmenmäßiges wesentlich, sie vermittelt eine normative Ordnungskraft, welche in Anwendung fortgeltender Normen konkretisiert wird. Konkretisierungsbedürftigkeit ist geradezu tragende Qualifikation eines „traditionellen Rechtsdenkens“ in Kategorien der „Geltung“, welches hier seine notwendige Flexibilität gewinnt. Daher kann es nicht angehen, Tradition, in welchem Sinn auch immer, in einem Gegensatz zu einer „vollen, aktuellen Rechtsgeltung“ sehen zu wollen; sie ist als solche eine eigentümliche, normtypische Geltungs-, damit eine Ordnungsform im Recht. Normativismus steht als solcher in keinem Gegensatz zu einem rechtlichen Denken in Tradition. Dies muss besonders betont werden, ist doch unterschwellig im „rechtstechnischen Denken“ die Vorstellung lebendig, „Normen“ müssten irgendwie unabhängig von Traditionen, eben in ihrem aktuellen Willensgehalt, verstanden werden; daraus kann dann geradezu ein Gegensatz zwischen Tradition und normativem Denken entstehen, in welchem erstere als eine verunklarende Form der normativen Ordnungsanstrengungen erscheint. In Wahrheit kommt dies wohl aus Fehlvorstellungen der Auslegungslehre: Deren objektive Methodik wird dann gleichgesetzt mit einem (früheren) absoluten Denken in Gegenwartskategorien. In Wahrheit aber findet sich in objektiver Auslegung immer auch all das wieder, was als Tradition den so jeweils Betrachtenden geprägt hat; in der subjektiven Interpretation48 wirkt sogar häufig ausdrücklicher Fortsetzungswillen einer Tradition mit. Die – ihrerseits herkömmlichen – Auslegungsmethoden bieten also keine Grundlage dafür, Geltung und Traditionalität als Ordnungsformen des Rechts in einen wie immer gearteten Gegensatz zu bringen.

47 Nach der Allgemeinen Staatslehre Kelsens unterfällt die Einzelentscheidung den Grundsätzen der für die Normwirkung typischen „Rechtsgeltung“, vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, § 41, S. 285 ff., zu den Einzelentscheidungen als Normen der Rechtserzeugung – eben in einem normwirksamen Sinn. 48 Zur subjektiven Auslegung vgl. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 78 f.

II. Die Rechtswirkung der Tradition – Herkommen und Rechtsgeltung

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3. Geltungskonkretisierung durch Tradition – Anwendungs-Traditionen der Rechtslagen Geltungskraft erwächst rechtlichen Entscheidungen, von der allgemeinen Norm bis zur Einzelanordnung der Zweiten und Dritten Gewalt, grundsätzlich ausschließlich aus dem politischen Willen, welcher in diesen Formen die Rechtsordnung setzt. Seine jeweilige Gegenwärtigkeit ist dabei durchaus ein grundsätzlich wesentliches Element der rechtlichen Legitimation. Das zeitlich Nahe lässt sich eindeutig(er) erfassen, bestimmt insoweit das Gewicht der subjektiven Auslegung des Rechtsakts; dessen objektives Verständnis schließt ebenfalls an eine Zeitnähe an, welche eben in der Regel sogar die „erste Interpretation“ als die „nächstliegende“ – damit in ihrer Autorität stärkste erfassen lässt. Eine bemerkenswerte, in ihrer Bedeutung wohl noch nicht voll erkannte Ausnahme von diesem Primat des zeitnahen Verständnisses rechtlicher Entscheidungen findet sich allerdings in deren Entwicklungsvorgang in einer längeren Rechtsprechung und auch Verwaltungspraxis. Hier ist es durchaus nicht das erste, zeitnächste Verständnis, welches die Normanwendung, das konkrete Entscheidungsgewicht der einzelnen Dezisionen bestimmt. Vielmehr entfalten sich diese oft in einer längeren Zeitspanne, über Jahre hinweg, in einem Verständnis, welches sich zwar an Erkenntnissen „der ersten Stunde“ orientiert, dieses dann aber korrigiert und weiterentwickelt. Jede Rechtslage bringt, so kann man dies beschreiben, ihre eigene, kleinere oder größere Anwendungs-Tradition hervor, in welcher ihr Setzungswille erst voll bestimmt, damit für weitere künftige Zeiteinheiten ihre Geltung konkretisiert, überhaupt erst festgelegt wird. „Offen“ ist also die einzelne Rechtslage, die normative, ja die Einzelfallentscheidung, im Augenblick ihrer Setzung weit mehr als in späteren Phasen ihrer Anwendung, wo sie bereits konkretisierende, präzisierende Verengungen erfahren hat. Eine Fehlvorstellung liegt sogar darin, dass „Offenheit“, einzelner Rechtssetzung wie der Rechtsordnung überhaupt, von Anfang an gegeben sei, dass sie sich dann in Anwendung des Rechts auch immer noch erweitere. In aller Regel trifft das Gegenteil zu: Die einzelne Rechtslage verengt sich in ihrer jeweiligen Anwendungstradition, in inhaltlicher Fassbarkeit in der Gegenwart wie in Voraussehbarkeit für die Zukunft. Diese Präzisierung, durch Verengung der Rechtsgeltung darf als solche nicht als eine Geltungsschwächung durch Tradition erscheinen: Eingeschränkt wird die inhaltliche mögliche Geltungsweite, die Rechtsgeltung in ihrer Virtualität, nicht die Geltung als solche in ihrer Intensität. Diese letztere wird durch die jeweilige „kleine Anwendungstradition“ eher noch gesteigert. Zweifel, Bestreitbarkeiten, Unsicherheiten fallen von ihr ab durch ein „herkömmliches Anwendungs-„Herkommen“, welche das Verständnis präzisiert. Tradition wirkt als Steigerung der inhaltlichen Erkennbarkeit. In einem gewissen Sinne wird damit zwar die Allgemeinheit der rechtlichen Befehle deren Klarheit geopfert: Gerade dies aber entspricht wohlverstandener verfassungsprinzipieller Rechtsstaatlichkeit; für sie ist ohnehin die Allgemeinheit

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

einer Norm-, einer Rechtsgeltung, stets letztlich ein schwer lösbares Bestimmtheitsproblem49 gewesen. Nur dann wirkt überdies Tradition nicht geltungsverstärkend, sondern ab-schwächend, wenn man in sie von vorne herein eine globalisierende Allgemeinheit des Herkommens legt; eine solche wird dann generell zum rechtsstaatlichen Problem, in ihrer Unbestimmtheit. Hier liegt der Ausgangspunkt für viele Missverständnisse eines grundsätzlichen Anti-Traditionalismus. In Wahrheit bedeutet der Begriff Tradition auch in seiner Anwendung auf die Dogmatik der Rechtsgeltung deren grundsätzliche Verstärkung, nicht Abschwächung.

4. Der favor legis: Geltungsverlängerung im Zweifel – durch Tradition Eine zentrale Kategorie der rechtlichen Geltungsdogmatik ist das Prinzip des favor legis50 : In Zweifel ist stets von Weitergeltung auszugehen, nicht vom Abänderungswillen einer späteren Rechtsetzung. In all ihren Ausprägungen, von einer extensiven Interpretation, soweit sich Ausnahmen nicht aufdrängen, bis zu einer generellen Weitergeltung, wenn Übergangs- und Schlussbestimmungen eine solche nicht ausschließen – stets setzt sich damit die Rechtsgeltung fort, darin bereits traditionsschaffend; zugleich verlängert sich dieses Herkommen mit all den Inhalten, die es bereits bisher in der „kleineren Anwendungstradition“ der jeweiligen Rechtslage (vgl. 3.) gefunden hat. Der einmal gesetzte Rechtsinhalt ist damit sogar, „im Zweifel“ unsterblich; jede Änderung seiner bisher erlebten und gelebten Tradition bedarf einer Begründung. Sie aber muss immer noch überzeugender ausfallen, je länger die Geltung bereits, in all ihrer Traditionalität, Bestand hatte; so lässt sich der favor legis ohne weiteres, wenn nicht notwendig, fortdenken. Gewiss öffnet sich mit dem Fortdauern der Gesetzeswirkung auch ein Einfallstor außerrechtlicher Veränderungen zu neuer Rechtsetzung, welche eben in ihrem Gewicht mit der Zeit zunehmen – damit auch Änderungsnotwendigkeiten, bis hin zu einem gewissen Reformstau, nahelegen mögen. Dies alles ist dann aber nicht Ergebnis eines rechtsimmanenten, dogmatischen Verständnisses rechtlicher Kategorien und Überzeugungskräfte, sondern Ausdruck einer normativen Kraft des Faktischen. Rein rechtliche Betrachtung kennt kein „natürliches Altern des Rechts“, „Geltung“ ist als solche ein zeitloser, ein zeitübergreifender Begriff51.

49 Zur Allgemeinheit des Gesetzes als Verfassungsproblem s. Art. 5 Abs. 2 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, vgl. Huber, P. M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. A. 2010, Art. 19 RN 3 ff. 50 Zum Favor legis s. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 56. 51 Grundvorstellungen eines solchen Favor legis tragen sogar über zeitliche Geltungslücken gesetzten Rechts hinweg: In der Rezeption des Römischen Rechts wurden diese durch den Rationalismus geschlossen, der die einstige Setzung als ratio scripta verehrte. In der Berufung auf zeitübergreifende Geltung von Menschenrechten findet dieses Denken eine neue Renaissance.

II. Die Rechtswirkung der Tradition – Herkommen und Rechtsgeltung

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Der favor legis bedeutet „Weitergeltung im Zweifel“. Hier wird also der Rechtsinhalt geradezu grundsätzlich abgeschirmt gegen Wirkungen methodischer Grundsätze des Rationalismus, gegen Kritik: Sie muss überzeugen, sie trägt die Beweislast gegenüber aller Tradition. Besonders deutlich kommt dies zum Ausdruck auf der Ebene einer Verfassung, welche in ihrer Normativität durch den favor legis formell wie materiell im Sinne der Tradition wirkungsmäßig gesteigert erscheint: durch die erhöhten Mehrheitserfordernisse zu ihrer Abänderung wird die Beweislage virtueller Reformen von Anfang an erschwert; im Prinzip der möglichst allseitigen Geltung der Verfassungsnormen, die „optimale“, „maximale Wirksamkeit entfalten sollen“, vor allem im Freiheitsschutz, liegt auch eine Vermutung möglichster inhaltlicher Weitergeltung, damit eine Begründung für letztere. Die Verfassung soll kein Katalog von punktuellen Ausnahmen sein, sondern wesentlich ein Geltungssystem; darin ist sie der wesentlich übergreifenden Systematik der Tradition dogmatisch wesensverwandt. So lässt sich denn insgesamt die Tradition, versteht man sie in ihren typisch rechtlich wirkenden Formen, nahtlos einfügen in die Geltungsdogmatik des Rechts im Allgemeinen, des Verfassungsrechts im Besonderen. Weder steht ihr grundsätzlich juristischer Voluntarismus entgegen, etwa gesteigert in „demokratischer Dynamik“ – sie verleiht diesem Rechtsetzungswillen vielmehr gerade rechtsstaatliche Fassbarkeit – noch ist die Tradition als Geltungskraft des Rechts von vorne herein mit einem Vorwurf des abschwächenden Alterns belastet; ein solcher wäre nichts als eine methodisch unzulässig globale Hereinnahme außerrechtlicher Änderungen in Geltungsvorstellungen des Rechts. Tradition ist im Recht ein Geltungsbegriff, keine Beschreibung von außerrechtlichen Reformnotwendigkeiten oder -schranken von solchen. Allerdings muss sie eben rechtsimmanent verstanden, aus den Begrifflichkeiten rechtlicher Dogmatik heraus erfasst werden, nicht in Kriterien und Kategorien einer allgemeinen Geschichtlichkeit, welche nur alles in Kommen und Gehen betrachten will. Tradition sucht auch darin (vgl. im Folg. C.) jeweils das Feste, Bleibende, Geltende, wie es eben dem Recht eigentümlich ist, der Geschichte als solcher nie wesentlich sein darf. Tradition ist ein Begriff institutioneller Evolution im Rechtlichen, nicht eine Form der Wirkung des Faktischen ins Recht hinein.

5. Begründungsgewicht der Tradition – Abwägung a) Wie sich Tradition im Einzelnen auswirkt in der Verfassungsordnung, das hängt vom Gewicht der jeweiligen inhaltlichen Potenziale des Herkommens für die betreffende Rechtslage ab, in der dieses deren Verständnis bestimmt. Dies wiederum ergibt sich aus dem Umfang der Rezeption der Tradition durch Rechtssetzung in die Ordnung des gesetzten Rechts hinein (oben 1.); Voraussetzung für solche Übernahme sind die Wesenszüge einer rechtswirksamen Tradition (oben I.).

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

Zum Tragen kommen diese Traditionsinhalte rechtlich entsprechend ihrem inhaltlichen Gewicht für die Bestimmung von Norminhalten in einem weiten (kelsenianischen) Sinn. Dabei kommt es, nach allgemeinen Grundsätzen, vor allem auf die rechtliche Überzeugungskraft an, mit der sie jeweils zum Einsatz kommen (können). Diese bestimmt sich wiederum nach den Kriterien einer Abwägung, wie sie allgemein-grundsätzlich im Recht praktiziert wird. Dass bei diesem gerade im Verfassungsrecht nicht unproblematischen Vorgang im Falle der Tradition mit besonderer Sorgfalt zu verfahren ist, versteht sich von selbst; es ist diese Problematik aber nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. b) Praktisch laufen dann die Rechtswirkungen der Tradition in den Einzelbereichen (i. Folg. D.) auf argumentative Begründungsverstärkung durch Tradition hinaus; sie ist, im Rahmen der – herkömmlichen – Auslegungslehre zu ermitteln und anderen Gewichtungen, etwa aus dem Wortlaut textlich verändernder (Verfassungsrechts-)Setzung, abwägend gegenüber zu stellen. Hier mündet die Traditionsproblematik wirkungsmäßig ein in die allgemeine Verfassungsdogmatik. c) Ein grundsätzlicher Unterschied in der Wirkungsweise der Tradition besteht nicht zwischen Inhalten derselben, welche „im Einzelnen“ oder „ausdrücklich“ von dazu kompetenten Staatsorganen gesetzt werden, und solchen, welche nur mehr oder minder global, aus außerrechtlichen Bereichen von jenen rezipiert werden. Auch „rezipierte“ Inhalte sind im rechtlichen Sinn „gesetzt“, mag auch ihr Inhalt in anderer Weise, eben mit Blick auf „Außerrechtliches“ zu bestimmen sein (vgl. dazu noch unten III. 4.). Grundsätzlich aber gilt: Hinsichtlich der rechtlichen Wirksamkeit ist zu beachten: Traditionsinhalte binden einheitlich, sei ihr Inhalt „formal im Einzelnen in speziellen Rechtsformen gesetzt“ oder „global aus Außerrechtlichem rezipiert“. d) Bindungsintensitätsmäßig kann die Abwägung zu folgenden Wirkungen führen: – Die Bindungsverstärkung durch Tradition kann sich als eine solche der Legitimations-, der Rechtfertigungswirkung einer bestimmten rechtlichen Situation auswirken. Gegenargumente werden dann vor allem in ihren Einschränkungswirkungen reduziert. Jedenfalls verschiebt sich die „Diskussionslage“. – Zu einer in-dubio-Wirkung der Tradition kann es kommen; deren Voraussetzungen sind nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu bestimmen, ihre Effekte nach den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Bereichs. – Steht bei solcher Abwägung der Tradition-Wirkung keine andere von relevantem Gewicht gegenüber, so ist eine volle Rechtswirksamkeit der Tradition anzunehmen.

III. Tradition und Gewohnheitsrecht

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III. Tradition und Gewohnheitsrecht 1. Niedergang des Gewohnheitsrechts – damit des Traditionalismus im Recht? „Tradition“ lässt sogleich an „Gewohnheit(en)“ denken, an eine Rechtsgeltung, welche sich daraus legitimiert, dass sie (vielleicht) gewohnheitsmäßig entstanden ist, jedenfalls aber aus Gewohnheit sich legitimiert, fortsetzt. Im Recht hat diese Gewohnheitslegitimation in früheren Zeiten, vor allem im mittelalterlichen Recht Frankreichs, im droit coutumier, beherrschende, später überdies kodifizierte Bedeutung erlangt. Abgelöst wurde dies sodann weithin in einer Rezeptionsgeschichte des Römischen Rechts, dessen Geltung wiederum auf solche, überkommene und übernommene Übung gegründet wurde. Nach den zunächst vereinzelten, sodann systematischen Rechtssetzungen des früheren und vor allem des späteren Absolutismus setzte ein Niedergang dieses gewohnheitsrechtlichen Denkens ein; er setzt sich noch immer fort, ist aber fast schon an seinem Ende angekommen: Im staatsgrundsätzlichen Verfassungsbereich ist das Gewohnheitsrecht kein Problem mehr, kaum mehr ein Thema52. Nur in jenem Privatrecht53, welches auch hochsystematisierter Gesetzgebungswille nicht voll gestalten kann, erhält sich das Gewohnheitsrecht noch in Relikten von einiger Bedeutung, im Öffentlichen Recht etwa in der Ordnung der freien Berufe, in spezieller Privatrechtsnähe. Tradition wird nun aber, im allgemeinen Wortverständnis wie geradezu in verbreiteter, wenn nicht allgemeiner Anschauung, weithin mit etwas wie einer fortgesetzten Gewohnheit in Zusammenhang gebracht. Daher liegt es nahe, das Sterben des Gewohnheitsrechts, welches unabwendbar erscheint im Gesetzesstaat, sich in einem Absterben allen rechtlichen Traditionalismus fortsetzen zu sehen. Immerhin scheinen ja Konstitutivelemente des Gewohnheitsrechts auch die Wirkungsweise einer wie immer verstandenen Tradition zu tragen: Lange Zeit der Übung, der in dieser zum Ausdruck kommende Rechtsgeltungswille, die opinio necessitatis. Wer kann sich auf Tradition berufen – und sieht sich nicht sogleich mit dem Niedergang des Gewohnheitsrechts konfrontiert?

2. Antitraditionalität aus der Entwicklung des Gewohnheitsrechts? Hier muss jedoch grundsätzlich unterschieden werden. Gewohnheitsrecht ist eine Form der Rechtsetzung, auf allen Stufen der Rechtsordnung, Tradition als solche eine 52

Vgl. für diesen Bereich grdl. Tomuschat, Chr., Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972; zu dem Wortsinn der Verfassung als seiner Grenze vgl. BVerfGE 34, 216 (230); 45, S. 1 (33). 53 Zum Gewohnheitsrecht im Privatrecht vgl. Frühauf, M., Zur Legitimation von Gewohnheitsrecht im Zivilrecht unter besonderer Berücksichtigung des Richterrechts, 2006.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

inhaltliche Erscheinung der Fortentwicklung allen gesetzten Rechts. Der eigentliche, der einzige Grund des Niedergangs des Gewohnheitsrechts, schon seit den Zeiten der großen Kodifikationen im 18. / 19. Jahrhundert, liegt in der Entwicklung der Rechtsetzung in den Formen des sie tragenden Gesetzgebungswillens. Für das Gewohnheitsrecht war dies ursprünglich der Wille der Rechtsadressaten selbst, ihre Überzeugung, so und nicht anders rechtlich handeln zu müssen. Alsbald fand er seine Institutionalisierung in Erkenntnissen einer Richterlichen Gewalt, welche dies aufnahm, es systematisierte, das so im Wesentlichen von ihr gesetzte Recht wiederum den Rechtsgenossen vorgab. Diese Art von Rechtsgewinnung legitimierte, unter Einbeziehung der Rechtsgelehrsamkeit, die Rezeption des Römischen Rechts, lieferte dieses doch zugleich auch Elemente einer Gerichtsordnung, in der sich, in der Antike wie später, diese Rechtsgewinnung vollziehen konnte. Mit dem Heraufkommen des fürstlichen Absolutismus und seinem Übergang in den demokratischen Absolutismus der Volkssouveränität gewannen demgegenüber die Vorstellungen eines in Gesetzesform erlassenen und zu befolgenden Rechts langsam aber sicher die Oberhand, zunächst verstanden als Ausnahmen von einem weiterfließenden Gewohnheitsrecht, sodann und immer mehr dieses voll ersetzend. Mit einer grundsätzlichen oder gar eindeutig gewollten Antitraditionalität hat diese gesamte Entwicklung nichts zu tun – im Gegenteil: Sie suchte vielmehr, zunächst in ihren administrativ wirkenden fürstlichen Einzelentscheidungen, sodann und ganz deutlich in ihren Kodifikationsströmen nur eines: Zusammenfassung bisherigen Herkommens, Fortsetzung von all dem in neuen Traditionen. In der Französischen Revolution wollte der Staat zum Gesetz finden – in diesem Gesetz seine neue Tradition aufbauen, in seinen eigenen staatsrechtlichen Entwicklungen eine Staatstradition entfalten, sich ihr unterwerfen, in ihr sich ausdrücken, mit ihr sich schließlich, im vollen Normativismus, identifizieren. All dies sind Neuentfaltungen von Traditionen, herauswachsend aus neuen Normen einer rechtsstaatlichen Rechtsetzung, die sich in Herkommen fortsetzt. Da ist nicht mehr „reine Übung“, wohl aber Rechtsetzung in neuen Formen und sodann, ausgehend von diesen, neues Herkommen, neue Tradition. Der Rechtsgeltungswille, die opinio necessitatis, schließt nun nicht mehr an irgendwelche allein im Herkommen sich zeigende Formen von Rechtsetzungen an, verbreitert oder verengt, vor allem aber konkretisiert er vielmehr gegebene rechtsetzende Befehle. Die Entwicklung verläuft damit von einer Überzeugungstradition in eine formalisierte Rechtsetzungstradition. Die erstere geht nieder, mit ihr das Gewohnheitsrecht. Dies mag in dessen Absterben enden, bedeutet aber nichts gegen die Wirkungen einer Traditionalität, die nun an neue Formen der Gesetzgebung und auch, nach wie vor, der Entwicklung eines durch sie weitergetragenen Richterrechts, ja einer administrativen Praxis als Rechtsquelle anschließt. In all dem mögen noch immer manche Elemente der „früheren Gewohnheiten als Rechtsquellen“ sich fortsetzen, dort vor allem, wo diese Entwicklung nicht in einzelnen speziell geordneten Verfahrensgängen abläuft, wie in der Praxis der Verwaltung. Immer weiter verstärkt sich aber auch dort die gesetzlich-normative Durchdringung aller Komplexe, aus denen heraus Recht entstehen kann, damit deren

III. Tradition und Gewohnheitsrecht

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Normativierung, mit ihr aber auch die Entfaltung entsprechender, kleinerer und größerer Rechtstraditionen. Der Niedergang des Gewohnheitsrechts sollte also nicht als Beweis für ein Absterben der Traditionalität gewertet werden, sondern als eine Mahnung, diesen Begriff neu zu durchdenken, ihn anzuschließen an die jeweiligen Rechtsetzungsformen, welche sich eben, als solche immer deutlicher fassbar, weiter entwickeln, von den Inhalten zum Verfahren und zurück. Das alte Gewohnheitsrecht konnte nicht in voller Breite unter einer Rechtsstaatlichkeit fortleben, welche Bestimmbarkeit der Festsetzungsformen verlangte, in einer Legalität, die mit der Entwicklung des modernen Gesetzesbegriffs einhergegangen ist. Gewohnheitsrecht ist eben nicht gesetzesförmig, und so muss es sterben im Gesetzesstaat, oder dort doch bedeutungsarme Ausnahme bleiben. Derselbe Rechtsstaat aber nimmt seine Fortsetzungskraft auf in der Anwendungs-Übung seiner Normen und Einzelentscheidungen. In ihren Traditionen setzt er den Willen eines Augenblicks um in lebendiges Recht, transformiert das Leben des Rechts entsprechend dem Leben der Menschen, trägt es durch seine Rechtsordnung in dieses hinein.

3. Tradition als Systematisierung fortgesetzter Übung a) Tradition ist etwas anderes als fortgesetzte Übung in Rechtsüberzeugung. Sie stellt eine systematisch übergreifende und zugleich eine systematisierende Kategorie für alles Recht dar, in welcher Weise immer dieses gesetzt (worden) sein mag. Übung verlangt diese Tradition für geschriebenes ebenso wie für ungeschriebenes Recht; für ihre Wirksamkeit sind diese rechtlichen Erscheinungsformen aber nicht als solche von unterscheidendem Gewicht, – im Gegenteil: In den Effekten der Tradition wirken ausdrückliche Text-Grundlagen juristischer Entscheidungen zusammen mit Inhalten, die sich aus deren Anwendungsketten ergeben, welche als solche schriftlich nicht fixiert sind. Fortsetzungswille und Anwendungswille rechtlicher Entscheidungen verbinden sich in unausscheidbarem Gemenge. Eben dies ist das Wesen eines „Richterrechts“: es stellt selbst Tradition dar und findet seine Begründung in diesem Begriff. Die ständigen, mehr oder weniger überzeugenden Versuche, Gesetzesrecht und Richterrecht zu unterscheiden54, beruhen letztlich auch auf einer Verkennung der Begründungs- und Wirksamkeitskraft einer Tradition, welche sie zur Einheit zusammenführt. Darin wirkt diese als eine bedeutsame, vereinheitlichende Systematisierung der Rechtsordnung. b) Tradition ist, darüber hinaus, in einer qualitativ ausgreifenden Wirksamkeit, ein Begriff, dem eine Systematisierungskraft auch noch in einem anderen Sinn inne54

Was das Richterrecht in etwaiger Unterscheidung zum Gesetzesrecht anlangt, so gibt es – nach wie vor – unterschiedliche Auffassungen darüber, ob judikative Erkenntnisse eine eigenständige Rechtsquelle darstellen (vgl. Nachw. bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20 RN 286); letztlich ist dies aber vor allem eine Problematik im größeren Zusammenhang der Auslegungslehre.

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

wohnt: Traditionelle Auffassung öffnet die einzelnen Rechtsinhalte, grundsätzlich jedenfalls, einem verbindenden Verständnis zu anderen, jedenfalls zu naheliegenden Entscheidungen. Sie werden in einem zusammenfassenden Begriff von „Tradition“ sachlich nahen Entscheidungsinhalten zugeordnet, mit diesen vergleichend, bis hin zu Analogien55, verbunden. Tradition ist kein dogmatischer Isolierungs-Begriff, in ihm liegt nicht das Vorverständnis eines Ausnahmecharakters der von ihr geprägten Norm oder Einzelentscheidung; diese werden mit ihr immer, geradezu von vorne herein, eingeordnet in einen größeren Strom rechtlichen Ordnens. „Das Herkommen“ ist eben ein jedenfalls virtuell weiter, wenn nicht unbegrenzter, in diesem Sinn sogar ein wahrhaft „offener“, wenn auch zugleich integrierender Begriff; in ihn fließen außerrechtliche wie analoge rechtliche Erscheinungen gleichmäßig und grundsätzlich ein. Damit ist Tradition eine Kategorie „rechtlicher Dimensionsschaffung“, im Sinne einer Offenheit für Erweiterungen. Darin unterscheidet sie sich wesentlich von Vorstellungen einer Übung, welche auf das Konkrete, das „rechtstechnisch“ Verengte bezogen ist. Bereits im Sprachgebrauch zeigt sich dies deutlich: Einzelne Entscheidungen, aber auch Normen, werden eben „eingeordnet in eine (größere, weitere) Tradition“, zeigen sich als deren Erscheinungen im Sinne von wesensbegründenden Inhaltszentren. Einheitliche Virtualität des rechtspolitisch tragenden Willens wird so in allen einzelnen Traditionselementen erkennbar und wirksam. Das Hergebrachte wird zum Ausdruck einer politisch grundsätzlich übergreifenden, eben einer systematisierenden Willenskategorie. In der Tradition tritt damit etwas wie ein besonderes Systempotenzial des rechtlichen Ordnens in Erscheinung. Diese Systematisierungskraft kommt nicht allein, nicht einmal wesentlich aus einer „Übung“, welche ja begrifflich ohne weiteres auf etwas Isoliertes, wenn nicht Systemwidriges, so doch (auch) Systemfremdes bezogen sein kann. Vielmehr zieht die Tradition ihre Kraft auch und gerade aus allen systematisierenden Tendenzen rechtlicher Allgemeinheit – und zugleich aus der Kernbereichs-Kraft rechtlicher Norm- und Entscheidungssetzungen. Tradition nimmt eben Normativität im weitesten, im kelsenianischen Sinn56 auf, schließt sie zusammen und belässt ihr doch eine erweiterungsfähige Offenheit in der Entwicklung und aus dieser heraus.

4. Tradition: Ausgreifen in Außerrechtliches Besonders bedeutsam ist in all dem ein Wirkungsaspekt der Tradition, den man geradezu als rechtsübergreifend bezeichnen kann. In „Tradition“ ist, anders als im Gewohnheitsrecht, keine prinzipielle Verengung mitgedacht auf bestimmte typisch juristische Erscheinungsformen des Ordnens. In dieses werden „in Tradition“ vielmehr gleichermaßen, wenn nicht sogar in einer gewissen akzentuierenden Verstär55 56

Vgl. zur Analogie Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 91 ff. Zur Normativität im weiten, Kelsenschen Sinn vgl. FN 47.

III. Tradition und Gewohnheitsrecht

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kung, Phänomene einbezogen, die als solche im Außerrechtlichen liegen, rechtlichen Setzungen aber in besonderer Weise Überzeugungskraft verleihen. Jeder Mensch, jeder Rechtsträger hat seine eigenen Traditionen, aus seiner Lebensentwicklung heraus, richtet sein ganzes Verhalten an diesen aus, in Spannung zu oder in Fortsetzungen von ihnen. Wie immer für ihn sein eigenes Herkommen wirken mag, anziehend oder abstoßend – hier ist damit eine menschliche Grundhaltung angesprochen, eine normativ wirkende Orientierung aus einer Vergangenheit, die in der systematischen Einheit einer Lebensentwicklung gesehen wird. Dies begründet eine besondere vergangenheitsverhaftete Haltung des „Traditionalisten“ wie, umgekehrt, eine aus Gegensätzen zu Bisherigem heraus begründete Grundstimmung derjenigen, welche sich vom Herkommen zu entfernen trachten. In welche Richtung immer diese Wirkungen tragen, – sie beziehen sich bei jedem einzelnen Rechtsträger auf dessen gesamtes vergangenes wie gegenwärtiges, sein erhofftes außerrechtliches Umfeld, damit auf sein Verhalten, mit dem er, als Ordnender wie als Ordnungsadressat, in Erscheinung tritt. Gegen Tradition mag ordnend entschieden werde – ohne jeden Bezug zu ihr ist Ordnung schlechthin unmöglich. Hereinnahme des Außerrechtlichen ins ordnende Recht, in derartiger Breite, wird noch ergänzt durch die Tiefe, in welcher außerrechtliche Traditionen in ihrer Intensität auf die Grundordnungen des Rechts einwirken. Auch darin liegt ein entscheidender Abstand von Tradition und Gewohnheitsrecht. Was etwa aus dem familiären Bereich, aus ehelichen, elterlichen und Generationenbeziehungen an Bildungsvorstellungen57 ganz allgemein und laufend ins rechtliche Ordnungsdenken einfließt, lässt sich kaum im Einzelnen bestimmen oder gar isolieren. Es sind dies nicht nur hergebrachte Übungen, sie werden ständig aufgeladen in einer undefinierbaren Emotionalität, in welcher Vergangenheit zur Gegenwart findet, der Gegenwart in ihren rechtlichen Gestaltungen fortdauernden Rahmen bietet. In all dem zeigt sich, dass der Tradition eine systematisierende Kraft innewohnt, welche aller rechtlichen Gewohnheit, dem Gewohnheitsrecht im Besonderen, seit langem verlorengegangen ist. Es mag dieses als eine Randerscheinung des Rechts weiterleben – Tradition steht in dessen Mittelpunkt, als eine zentrale Erscheinung des in rechtlicher Ordnung systematisierten Lebens. Für dieses menschliche Leben aber gibt es, im Letzten, weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur Gegenwart im lebendigen Fluss zwischen beiden. Daher kann Tradition nur als eine Grundkategorie des rechtlichen Ordnens als solchen aufgefasst werden; sie muss vor allem wirksam werden an dessen Geltungs- und Begründungsspitze: in der Verfassung.

57 Dass dieser „Erziehungsbegriff“ als solcher wesentlich auch gesellschaftliche, außerrechtliche, jedenfalls vom staatlichen Recht nicht im Einzelnen geregelte Inhalte umfasst, zeigt sich bereits darin, dass er sich auch auf die religiöse und weltanschauliche Orientierung bezieht (vgl. BVerfGE 52, 223 (235 f.); 93, 1 (17), und dass er die Privatschulen-Wahlfreiheit einschließt (BVerwGE 112, 263 (269), überhaupt die geistigen Inhalte, die etwa über Lektüre einem Kind vermittelt werden (BVerfGE 83, 130 (139 f.).

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B. Tradition als Verfassungsbegriff

IV. Ergebnis zu Tradition als Verfassungsbegriff 1. Tradition zeigt sich im Verfassungsrecht in vielschichtigen Inhalten und Wirkungsweisen. Einer rechtlichen Definition in kurzer verbaler Prägnanz ist sie als „Verfassungsbegriff“ nicht zugänglich. Vielmehr erscheint sie in einer Kombination verschiedener Elemente: a) Übung, in einer gewissen Wiederholung rechtlicher (Fall-) Lösungen, b) Geschlossenheit, in systematisierender Zusammenfassung einzelner, als solcher heterogener Inhalte, c) Zeitliche Nähe zum jeweiligen Gegenstand ihrer Normwirkung, d) Dauer als rechtliche Wirkungsverstärkung, e) Inhaltliche Offenheit im Ausgriff auf Außerrechtliches, f) Überzeugungskraft rechtlicher Wirkungsmächtigkeit der Elemente a) – e) in bindend befolgter Effektivität. 2. „Tradition als Verfassungsbegriff“ ist auch zu unterscheiden von den Rechtswirkungen eines Verfassungsprinzips der Kontinuität: – Geschlossenheit der Traditionsinhalte prägt deren rechtliche Wirkungen; Kontinuität nimmt jede Veränderung des Rechtszustandes in den Blick. – Zeitnähe schließt für die Traditionswirkungen Kontinuitätsunterbrechungen nicht aus, das Herkommen kann sich auch auf Wiederaufnahmen in Restaurationen stützen; Kontinuität ist insoweit nicht erforderlich. – Die zeitliche Dauer ist für die Wirkungen des Herkommens wichtig, ja entscheidend; seine Bindungskraft steht zu jener in einer „Je-Desto-Beziehung“. Für die Kontinuität spielt dies aber keine Rolle. – Die Überzeugungskraft ist für die Wirkungen der Tradition wesentlich. Sie erwächst aus einer Intensität des Bekennens zu deren Inhalten, damit auch aus dem Maß von deren Indiskutabilität in der Vergangenheit. Für die Kontinuität ist dies ohne Belang. – Inhaltliche Offenheit charakterisiert wesentlich, quantitativ wie qualitativ, die Tradition; für eine Kontinuität ist Letzteres, wie überhaupt die Quelle der Diskontinuitäten im Einzelnen, dagegen nicht entscheidend. 3. Mit Verfassungsbegrifflichkeiten wie „den Grundsätzen oder Grundentscheidungen“ auf dieser Normebene weisen „Traditionen“ im Einzelnen inhaltlich nicht wenige Berührungen auf. Gemeinsam ist ihnen (oft) eine Fundamentalität wie eine gewisse Flexibilität. „Traditionen“ können, müssen aber nicht Verfassungsgrundsätze sein. Auf Letztere trifft allenfalls das Traditionskriterium einer gewissen Geschlossenheit zu. Im Übrigen sind sie aber durch die Weite ihrer Regelungsgehalte

IV. Ergebnis zu Tradition als Verfassungsbegriff

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sowie eine Annäherungs/in dubio-Wirkung charakterisiert; beides muss für Tradition(en) nicht zutreffen. Dogmatische Vertiefung dieser Beziehungs-Problematik wäre allerdings ein weiteres, lohnendes Untersuchungsfeld. 4. Dass eine solche Tradition, mehr Rechtsfigur als Begriff des Verfassungsrechts, Nähe wie aber auch Unterschiede zu einem (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht aufweist, hat sich gezeigt (III.). Dauer und Geltungsüberzeugung sind auch für die Tradition Wirkungsvoraussetzungen, insoweit kann sie als ein Phänomen des Gewohnheitsrechts gelten. Dessen beide – ihrerseits übrigens herkömmliche – Definitionselemente finden sich auch hier (1. d), e)). Sie werden jedoch konkretisiert durch weitere Elemente (1. a), b), c), e)). Sie lassen die Tradition jedenfalls erscheinen als eine eigenartige, wenn auch nicht notwendig engere Form eines Gewohnheitsrechts in einem weiteren Sinn. Hier zeigt sich übrigens, dass die beiden Definitionselemente des Gewohnheitsrechts ihrerseits doch überaus – wenn nicht allzu – allgemein sind: „Dauer“ ist ja ein Merkmal allen Rechts, schon aus dessen Geltung heraus; und „Geltungsüberzeugung“ muss ebenfalls alle Rechtslagen stets tragen, sie ist selbstverständlich, auch an sich schon, in diesem Sinn Rechtsquelle. 5. Tradition ist also, jedenfalls im Verfassungsrecht, dort in besonderem Maße, ein „Rechtsbestimmungsfaktor“: gegenständlich-inhaltlich und formal – im weiteren Sinn kompetenzrechtlich; hier zeigt sich, was (vor allem) und wie (auch) im Verfassungsrecht gestaltet wird (werden kann).

C. Verfassungsgeschichte und Tradition I. Verfassungsentwicklung als wesentlicher Inhalt des Herkommens 1. Tradition als geschichtsbezogene Verfassungsbegrifflichkeit Traditionen mag es geben in kleinen wie größeren, weiterreichenden Ordnungsanstrengungen. Der Tradition als solcher, ist aber, jedenfalls in ihrer begrifflichen Virtualität, stets etwas eigen von einer größeren ordnenden Reichweite, insoweit ändert ihre wesentliche Geschlossenheit nichts an einem Charakter ausgreifender Offenheit, bis ins Außerrechtliche (vgl. B. a. E.). Daraus folgt mit Notwendigkeit, dass sich Wirkungen einer „Tradition“ stets zunächst auf einer Ebene feststellen und verfolgen lassen, auf welcher ein Gesamtbemühen um rechtlichen Ordnens abläuft – eben im Normbereich der Verfassung. Verfassungstraditionen sind es also in erster Linie, in denen ein Herkommen, damit aber eben geschichtliche Abläufe, in rechtlicher Form in Erscheinung tritt; dogmatisch zeigt schon dieser Befund das besondere Gewicht der Tradition an. Von Gesetzgebungstraditionen mag die Rede sein, einzelne Institutionen mögen gerade in ihrer hergebrachten Entwicklung Beachtung finden. Doch zu seiner eigentlichen Bedeutung erwächst der Begriff der Tradition in seiner Verbindung nicht nur mit höchstrangigen Grundsätzen der Rechtsordnung, sondern sogar mit deren globalem System: mit der Verfassung, der Staatsgrundordnung als solcher.

2. Verfassungsgeschichte als rechtliche Dogmengeschichte Die Entwicklung der juristischen Materien spiegelt bereits seit langem deutlich die Verbindung von Verfassung und Tradition wider, damit die besondere rechtliche Bedeutung der Letzteren. Aus der allgemeinen Rechtsgeschichte als Rechtsdisziplin hat sich die Verfassungsgeschichte als ein besonderer Zweig, praktisch meist als grundsatzbezogene Fortsetzung derselben, entwickelt. Dies geschah nicht nur deshalb, weil ein Verfassungsbegriff im Sinn einer geschriebenen Rechtsgrundlage erst in späterer Zeit zum eigenständigen Betrachtungsgegenstand werden konnte; „Verfassungen“, jedenfalls im materiellen Sinn, ließen sich ja auch schon weit früher feststellen, jedenfalls bis hinauf in den „Staat des Hohen Mittelalters“ im Sinne von

II. Historia Magistra – Traditio legifera – Allgemeines

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Heinrich Mitteis58. Dass Verfassungsgeschichte als solche disziplinmäßig verselbstständigt werden konnte, zeigt, dass für diesen Normbereich geschichtliche Betrachtung von speziellerer Bedeutung, wohl auch von besonderer dogmatischer Qualität sein, jedenfalls immer mehr werden musste. Verfassungsgeschichte als eigenständige Rechtsdisziplin ist also jedenfalls ein Indiz dafür, dass in diesem Bereich den historischen Folgen früherer Normvorstellungen eine besondere Bedeutung zukommen muss. Dies aber kann als Beleg dafür gesehen werden, dass hier Traditionen, nachzuweisen in und gewonnen aus Historie, auch eine spezielle dogmatische Qualität zukommt: in ihnen kann, jedenfalls allgemein-grundsätzlich, etwas festgestellt werden wie eine Verwandlung des reinen Ablaufs, der Fortsetzung als solcher, in Begründungen von typischen Rechtswirkungen – damit in Formen juristischer Dogmatik. Verfassungsgeschichte mag dann geradezu als Disziplin eine Wandlung in juristische Dogmengeschichte erfahren; jedenfalls kommt der dogmatische Gehalt der darin wirkenden Tradition in diesem Vorgang der rechtlichen Disziplinentwicklung deutlich zum Ausdruck. Damit aber stellt sich die Frage einer Bedeutung historischer Betrachtungen der Verfassungsentwicklung in einem besonderen Licht. Es geht nicht mehr nur um irgendwelche Gestaltungen oder Wirkungen von Normen, von Grundsätzen, die sich „auch früher finden“; vielmehr ist zu untersuchen, ob dieser historische Befund eine Begründung oder Steigerung ihrer rechtlichen Wirksamkeit in der Gegenwart bedeutet. Tradition bleibt damit für das Recht ein dogmatischer Begriff, keine rein historische Kategorie. Jene dogmatische Wirksamkeit findet jedoch ihr „Material“ in der Verfassungsgeschichte. Die Frage lautet nicht, ob heute etwas gelten soll, weil es früher verbindlich war, sondern ob dieses Vergangene mit einer solchen Geschlossenheit, Gegenwartsnähe, Kontinuität der Verbindlichkeit feststellbar ist, dass ihm die Qualität einer rechtlich begründenden und legitimierenden Tradition zukommt. Historische Betrachtung unter diesem Gesichtspunkt muss im Folgenden gewisse Kriterien aufzeigen, nach denen die Wirkungspotenziale einer Verfassungsgeschichte als Tradition feststellbar sind.

II. Historia Magistra – Traditio legifera – Allgemeines 1. Ambivalenz geschichtlicher Betrachtung gegenüber einer „Tradition“ Historische Betrachtung wirkt nur zu oft übermächtig, nicht zuletzt dort, wo schwer verifizierbare Feststellungen die Gegenwart überzeugen sollen: Vor allem 58

Der Staat des Hohen Mittelalters, 1940.

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

Deutsche verfallen der „historischen Krankheit“, vor welcher Friedrich Nietzsche warnt. Und um bei seiner klassischen Philologie zu bleiben: Tradition wirkt wie eine große Promenade en Rome im Sinne Stendhals: ein Weg mit ständig wechselnden Eindrücken – aber eben zugleich an Monumenten vorüber, die in ihrer Statik der Zeit widerstanden haben, jedenfalls noch immer als solche (er)fassbar sind. Die Macht der Tradition erreicht den Betrachter aus beidem: aus der Monumentalität des Aufstehenden wie aus dem dynamischen Wechsel des Vorübergehens, wohl gerade in der Verbindung beider. Da bleibt eben doch viel Gleiches in den Eindrücken des Beobachters, oder es fügt sich Unterschiedliches in all seinen Spannungskräften zu Übergreifendem zusammen: die Betrachtung integriert es zur „Tradition“: So ordnet historische Schau die Vergangenheit – darin wird sie zur Ordnungskraft für den Schauenden in seinem Denken, mit dem er seine Gegenwart zu ordnen hat – zu allererst im Recht. Die Geschichte zeigt die Strömung – wie das, was diese mit sich führt –, im Recht den Wandel der (An-)Ordnung(en), aber auch die Institutionen59 welche diese (ge)tragen (haben), vielleicht noch immer weiter. Geltung bis zur Unverbrüchlichkeit und Relativierung von Ordnungszuständen fallen im Begriff einer Tradition zusammen, wenn menschliches Denken aus Historie Recht zu gewinnen sucht. Daher ist dieses Herkommen zugleich Verifizierung und Falsifizierung geschichtlicher Erkenntnisse im Recht – durch dieses. Die Historia Magistra lehrt den Juristen – aber in Ambivalenz. Nirgends ist dies deutlicher geworden als in den Zeiten und in den Werken dessen, der ihr großer Lehrer sein wollte – und es war: Friedrich Schiller. Sein Denken, herauswachsend aus dem Geist der zuallererst staatsrechtlichen Aufklärung, hat Generationen die Betrachtung von historischen Monumenten geschenkt, in ihrer unzerstörbaren Tradition – und zugleich gezeigt, wie Ketten zu lösen sind, welche eben solche Traditionen geschmiedet hatten. Die Französische Revolution wollte die gewaltigen feudalen Traditionen einer wahrhaft monumentalen Staatsgeschichte zerbrechen, wie sie die Reiterstandbilder des Sonnenkönigs symbolisierten – im Namen der höheren geistigen Traditionen der Menschen- und Bürgerrechte. Dieser große, geschichtliche und rechtliche „Kampf der Traditionen“ beherrscht seither das Staatsrecht, und wird lange noch dauern. Jede geschichtliche Epoche zeigt, und mit zunehmender Deutlichkeit, die Ambivalenz historischer Betrachtung der Tradition, sobald diese die „Politik“ erreicht, vor allem das Recht. Wenn die Historia Magistra das Staatsrecht etwas lehrt60, so dies: Sie zeigt ihm beides, Tradition und Wandel, sie ist ein Bergwerk, aus dem beides gewonnen wird: Steine zum Schutz der Burgen des Rechts und das Feuer, das diese verbrennen kann. 59 Traditionen einfacher Gesetzgebung von verfassungsrechtlicher Bedeutung haben vor allem Gewicht im Zusammenhang mit den Rechtsinstitutsgarantien und den Institutionellen Garantien, vgl. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 58 ff. 60 Dazu Leisner, A., Historia Magistra des Staatsrechts, Jenaer Schriften zum Recht Band 34, 2004.

II. Historia Magistra – Traditio legifera – Allgemeines

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2. Tradition: Historische Erschlaffung – quietistische Versuchung zum Hedonismus a) Geschichtliche Betrachtungen zeigen eben dieses zwiespältige Bild der Tradition gerade dort, wo politische Zustände, rechtlich verfestigt zu Regimen, ja Staatsordnungen, ihre zentralen Gegenstände darstellen. Nur zu gerne, zu oft „ruht sich staatsrechtliche Praxis aus“ auf Grundlagen einer Tradition – „weich“ für Machtträger, die sie sich immer neu zurechtlegen können, hart für Machtunterworfene, denen sie zum Prokrustesbett werden. Aus späterer Sicht sind dies dann Perioden einer „politischen Erschlaffung“, welche sich den Anstrengungen und Gefahren anstehender Reformen entziehen will. „Traditionen als rechtliche Krücken“, als „Betonierung von Geronnenem“, sind nicht nur polemische Worte, sondern längst schon rechtspolitische Begriffe. Sie beweisen „Reformstau“, „notwendige Neuerungen“, wie sie selbst höchste Gerichte immer wieder anmahnen, gegenüber einer Ermüdung, die in Erstarrung zu enden droht. Darin wird die Begrifflichkeit der Tradition unversehens, meist unbemerkt, „negativ belastet“ im Sinn eines Vorwurfes der Dekadenz: Sie ist nicht mehr „lebendig“, sondern etwas wie eine rechtliche Sterbehilfe für längst und permanent übermüdete Mächte: „ Es schleppen sich Gesetz und Recht wie eine ew’ge Krankheit fort“. Es versagt gerade jene Ordnungskraft, auf die nicht nur der Dezisionismus, sondern jede Staatslehre das Staatsrecht zurückführt. Die Geschichte „lebt“ nicht mehr in Tradition, sie zeigt das Absterben des Rechts in seinen tragenden Überzeugungen; steigern kann sich dies bis zum Todesurteil über eine „Tradition als Dauer-Begräbnis des Rechts“. b) Doch dies ist nur eines der gegenwärtigen Phänomene der „historischen Krankheit“, unter denen die „Tradition“ zu leiden hat. Dieselben allgemeinen, insbesondere auch gesellschaftlichen Ermüdungserscheinungen, welche den Begriff negativ prägen, im Sinne eines Quietismus, lassen das „Herkömmliche“ auch zu einem Rahmen werden, in dem sich in der Gegenwart Hedonismus61 ausbreitet, von den Circenses in moderner Form bis zur „dolce vita“. Soll der Aktivbürger der Demokratie zum „Genussmenschen“ werden, so ersetzt leicht ein „nil movere“, in den Rahmenbedingungen des Staates und seiner Ordnung, selbst den fundamentalen Fortschrittsglauben dieser Staatsform: Die Ermüdung, in der sich der Gewaltunterworfene „ausruht“, darin selbst die auf ihm lastende Staatsgewalt im Vergnügen vergisst, lenkt demokratische Dynamik um in Genusssucht. Traditionen im Staat, wie in der Gesellschaft, bedeuten eben zuallererst eine Beruhigung, in der dann auch in einem weiteren Sinne „umgelenkt“ wird: „vom Staat in die Gesellschaft“, zurück in eine „Privatheit“, aus der letztlich – die Monarchie belegt es in der Familie – alle Tradition sich entfaltet und die Macht ergriffen hat. Der staatsrechtliche Weg von der 61 Zu den Bezügen der vergnügungsoptimierenden Zielsetzungen der Demokratie und deren Freiheitsraum zu den Sündenvorstellungen der Kirchen vgl. Leisner, W., Gott und Volk, 2008, S. 105 ff.

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

Hoheitsgewalt zur Privacy als Bürgermacht, bis in den „Privaten Staat“62 – ist er nicht eine breite Heerstraße der Traditionen, auf welcher der müde, von Politik übersättigte Bürger „dahin-zieht“? Die Frage jedenfalls sei erlaubt – und es muss ja nicht die nach einer „Droge Tradition“ sein …

3. Historie als „Bild der Evolution“ – gegen Tradition Geschichte ist als solche ein „Bild der Evolution“, ihr Betrachter sieht sie – zunächst – nur darin. Selbst eine „Staatslehre der Institutionellen Evolution“63 erfasst sie, so scheint es doch, zuallererst in Bewegung, nicht in den Elementen, Institutionen, die in ihr Traditionen „statisch weitergeben“. „Grundlinien der staatsrechtlichen Entwicklung“ sind nicht geradlinig und vor allem: sie ver-laufen eben. Wenn der politische Fortschritt etwas anderes ist und mehr als ein geometrischer Vorgang des Zeichnens, in klaren Konturen und mathematisch notwendiger Folgerichtigkeit, so kommt gerade aus der demokratischen Dynamik der flutenden Meinungen und Thesen etwas wie ein Gegenbild zur stillen Strömung einer Tradition, in der diese in Ordnung gerinnt, sich staut, bis sich wieder, im Abschäumen gesetzgeberischer Änderungen, neue Kräfte entbinden. Historie mag das beruhigte, beruhigende Bild einer Tradition vielleicht noch in einer wissenschaftlichen Schau bieten, nicht aber in Perspektiven politischer Praxis. Erstaunlich bleibt es daher, dass eine Gegenwart, die dem Fortschritt huldigt, sich zugleich so oft „geschichtsfern“ zeigt. Verfassungsgeschichte bietet doch nicht etwa ein Lehrbuch von Kontinuitäten, sondern vielmehr vor allem eine Darstellung sich ändernder Ordnung(en) – gerade „in herkömmlicher Betrachtung“. Wenn hier überhaupt etwas hervortritt von „Tradition“, so ist es eine „traditio legifera“, eine Abfolge von Gesetzgebungszuständen; eine solche aber nimmt die Rechtswissenschaft dann zu allererst wahr in ihren Unterschieden – in ihrer Bewegung, ihrer Bewegtheit. Zu Feudalzeiten gab es letztlich „nur Staatsrecht“, ein für allemal geltend, weil „nur Tradition“; seit Verfassungsgeschichte als solche bewusst gepflegt wird, ist in ihr das Staatsrecht „von Anfang an relativiert“ – in seiner Ordnung. Soweit Tradition also Rechtsbegriff ist – steht da nicht Historie als solche im Letzten gegen Tradition?

62

Zur Thematik eines „Privaten Staates“ s. Leisner, W., Privatisierung des Öffentlichen Rechts, 2007, S. 146 ff.; ders., Der Förderstaat. Grundlagen eines marktkonformen Subventionsrechts, 2010, S. 133 ff.; ders., Wettbewerb als Verfassungsprinzip, 2012, S. 160 ff. 63 Zum Begriff der Evolution vgl. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 46 ff.

II. Historia Magistra – Traditio legifera – Allgemeines

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4. Historia – Magistra des Traditionsbruchs? – Die „revolutionäre Tradition“ René Capitant, der Lehrer des Verfassers64, hat nach dem 2. Weltkrieg, den er selbst im revolutionären Widerstand gegen die traditionalistischen Ordnungsvorstellungen des Siegers von Verdun erlebt hatte, die Lehre Carré de Malbergs aufgegriffen: Die französische Verfassungsentwicklung seit 1789 erschien in staatsrechtlicher Betrachtung als ein traditionsloses anarchisierendes Fluten von Umsturz zu Umsturz – er wollte es aufgefangen sehen in einer „Tradition républicaine et révolutionnaire“, welche Carrés Souveraineté nationale65 „dynamisierte“: Gerade die zahlreichen revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Frankreich sollten sich, in Orientierung an ihrer Fortsetzung der staatsrechtlichen Sturzflut von 1789, zusammensehen lassen in einer „Tradition der Revolution“, in einer coincidentia oppositorum – oder einer hegelianischen Synthese. Die „permanente Revolution“ des Maoismus mochte, ebenso wie das seinerzeit vielerörterte mexikanische Vorbild der „institutionalisierten Revolution“, in deren behaupteter Endgültigkeit, solchem Denken Beispiele bieten – in Frankreich verlor es sich bereits in der V. Republik de Gaulles, dessen Justizminister derselbe Capitant werden sollte. Doch etwas zeigt diese – verfassungshistorische – Parenthese: Selbst die Revolution66, das Gegenbild aller Tradition, lässt sich eben „historisieren“, in ihrer geschichtlicher Ordnungsmächtigkeit rechtlich erfassen; darin wachsen in der Tat geistesgeschichtliche Gegensätze rechtlich zu einer Ordnung zusammen, in welcher das Herkommen seinen Platz findet. Es zeigt sich darin als „rechtsformübergreifend“, dass es, in traditio legifera, hinweg trägt selbst über die fundamentalen, nun wirklich hergebrachten Phänomene der Rechtsetzung in (parlamentarisch-)„gesetzlicher“ Form, wie sie gerade die Französische Revolution in ihrer „légalité“ kanonisiert hatte: „Der Aufstand des Volkes hat – staatsrechtlich (!) – Tradition“. Die Geschichte kehrt als „revolutionäre Tradition“ ins Recht zurück, nach der Enthauptung der Monarchen, welche früher eben dieses Herkommen legitimiert hatte. Dies ist alles andere als ein Denken im „freien Raum der Geschichte“; es hat bereits seinen Weg gefunden in die institutionellen Gedankengebäude des Staatsrechts: Ist hier nicht der Aufbau einer „Tradition der direkten Demokratie“ im Gange67, vorgeformt in der demokratischen Anarchie: über „Verlust der Ordnung als

64

Nach den Vorstellungen von Carré de Malberg, seiner Theorie der „Nationalen Souveränität“, vgl. FN 43. 65 In Fortführung der Theorien von Carré de Malberg: Capitant, R., Souveraineté nationale et souverainé populaire, Revue Internationale d’histoire politique et constitutionelle, 1954, S. 153 ff. 66 Zur Anarchie als einem Phänomen der demokratischen Staatsform vgl. Leisner, W., Die demokratische Anarchie. Verlust der Ordnung als Staatsprinzip, 1982, 2. A. in: ders., Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 451 ff. 67 Einen Überblick bietet Rux, J., Direkte Demokratie in Deutschland, 2008.

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

Staatsprinzip“ – zu neuer Ordnung aus und in revolutionärer Tradition? Weitere Fragen des Staatsrechts an die Historie, im Namen der Tradition…

5. „Tradition im raschen Wandel“: in der Geschichte der politischen Ideen Wenn solchen Gedanken Erkenntniswert zukommt für das Staatsrecht, so führen sie hinein in ein weiteres Verständnis der Tradition in diesem Bereich: Das „Herkommen“ darf dann nicht verstanden werden lediglich als das in Form, Inhalt und Wirkung „Feste“, Bewegungslose, das in diesem Sinn allein in die Staatsordnung hinein wirkt. Die Historie gerade zeigt dann Verfassungsgeschichte in enger, laufender, untrennbarer Verbindung zu allgemeineren (staats)philosophischen Entwicklungen – eben als „Geschichte der politischen Ideen“. Dieser Ideengeschichte aber ist eine Beweglichkeit immanent, die ganz unmittelbar kommt aus einer „Freiheit des Geistes“, wie sie die staatsrechtliche Wissenschaftsfreiheit68 schützt. Nachdenken über „Tradition im Staatsrecht“ bewegt sich also, jedenfalls in historischer Betrachtung, sogar außerhalb jener „Treue zur Verfassung“69, welche das Grundgesetz verlangt. Die Straf- und Disziplinarverfolger können die Historia Magistra nicht „ver-haften“ – in Ideengeschichte bewegt sich diese zu rasch. Erst wenn Tradition eintreten will in die machtbewehrten Räume des Staatsrechts, wird sie auf Staatstreue kontrolliert. Immer folgt ihr aber, auch dorthin, die ideengeschichtliche Freiheit des Denkens, mit ihr eine geistige Bewegungsfreiheit, wie sie das streng formgebundene Öffentliche Recht nicht kennt, am wenigsten das Staatsrecht. Damit wird Tradition, als die Brücke zwischen Historie und Recht, vergangener und gegenwärtiger Macht, in deren geschichtlicher Ver-Bindung gerade nicht zur Zementierung, sondern zur Flexibilisierung. Der „Wille zur Macht“ wird ruhiger – aber rascher beweglich im Flug der Ideen. Tradition und Geschichte, das heißt eben: Ideengeschichte, und diese wirkt ins Staatsrecht hinein.

68

Zur Wissenschaftsfreiheit als Geistesfreiheit siehe Starck, Chr. in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 5 RN 352 ff. Zum Wissenschaftsbegriff, zu den hier verfassungsrechtlich geschützten Gütern, RN 418. 69 Zur „Treue zur Verfassung“ vgl. Starck (FN 68), RN 427 ff.

III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität

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III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität 1. Lang- und kurzfristige historische Betrachtung Entscheidend für die Wirksamkeit historischer Sicht für ein mehr oder weniger traditionalistisch orientiertes Denken mag es sein, ob längere oder kürzere Perioden der Entwicklung in den Blick genommen werden. Gerade bei einer Argumentation, welche rechtliche Verbindlichkeit auf Unvordenklichkeit stützen will70, muss es eine lange Evolution sein, auf welche zurückgegriffen wird. Doch hier sollte Vereinfachung vermieden werden: Das politische Erinnerungsvermögen ist weithin eine Funktion der allgemeinen, insbesondere durch ökonomisch-technischen Fortschritt getragenen Entwicklung. Je rascher diese sich vollzieht, umso schneller gehen frühere Zustände den Weg allen menschlichen Vergessens – mit technischen Entwicklungen verliert sich auch die politisch-rechtliche Überzeugungskraft einer früheren Lage. Dies mag die Traditionalität als solche abschwächen; es kann aber auch dazu führen, dass die Zeiteinheiten, welche sie tragen, sich verkürzen, darin dann in ihrer Mächtigkeit sogar noch zunehmen. Ein Ausblick weiter zurück in Vergangenheiten, die vom heutigen Entwicklungszustand bereits so weit entfernt sind, verliert dann an Traditionsbedeutung, kurzfristige Lösungen können sich rascher bewähren, weil ihr Anwendungsbereich, über rechtliche Analogien erweitert, ebenso rasch ein größerer geworden ist. Tradition findet also ihre Wurzeln heute auch bereits in dem, was früher, da in familiärer Traditionenvorstellung gedacht wurde, ein Herkommen nicht begründen konnte. Kurzfristige Geschichte schafft sich schon gegenwärtig ihre eigene traditionelle Mächtigkeit, sie muss als solche gesehen werden und vermag durchaus, auch in der Abfolge kürzester Zeitabschnitte, gewisse retardierende Gesamtentwicklungen zu stützen. Es sind dann eben die jeweiligen experimentalen Perioden, welche Kräfte der Traditionalität aus sich entfalten, wie überhaupt experimentelles Denken71 zu einer grundsätzlichen Verkürzung traditioneller Betrachtung führen, ja werden kann. Ein Fehler wäre es also, gerade demokratische Gestaltungsformen bis in feudale Fernen stets zurückführen, aus diesen allein oder vor allem ihre Begründung suchen zu wollen; eine „Liebe zum Nächstliegenden“, zum noch erinnerungsmäßig Fassbaren liegt auch neuer Rechts-, ja Verfassungsentwicklung eindeutig zu Grunde.

70

Zur „Unvordenklichkeit“ s. näher i. Folg. unter 4. Experimentelles Denken verkürzt traditionsbildende Zeiträume und es zeigt sich in der zunehmenden Projekt-Praxis in neuester Zeit, vgl. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 98 ff. 71

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

2. Verabsolutierung kurzfristiger Geschichte? Tradition verlangt allerdings, soll ihr ein Potenzial rechtlicher Verbindlichkeit eigen sein, nach einer bestimmten Dauer rechtlicher Geltung. Bis zu einem gewissen Grad kann diese auch durch die Intensität und die jeweilige Bedeutung der Geltung kompensiert werden. Langfristiges Herkommen mag auch, umgekehrt, bestätigen, dass etwas im Grunde bereits laufend abnimmt, eine Tradition sich selbst überlebt. Fehleinschätzungen liegen aber dann nahe, wenn Vorgänge von geringer zeitlicher Dauer in ihrem traditionsschaffenden Potenzial allzu hoch geschätzt werden. Sie lassen sich oft ihrerseits nicht so sehr als ein Her-Kommen sehen, das aus seiner Dauer als solcher heraus wirkt; vielmehr sind sie ihrerseits Ergebnis längerer vorangehender Entwicklungen, welche zwar als solche eine Tradition bilden mögen, von kurzfristigen Ereignissen, nicht selten aber auch unterbrochen, ja in ihr Gegenteil gewendet werden. Derartige kurzzeitige historische Erscheinungen wirken dann geradezu als eine Negativbestätigung früherer Traditionen, welche in ihnen umgekehrt werden sollen. Dies ist eine typische Betrachtungsweise von Revolutionen als traditionsbildenden Fakten. In der Verfassungsgeschichte, ja im Verfassungsrecht werden so die staatlichen Umsturzvorgänge seit 1789, in Deutschland insbesondere die von 1848/ 1849 verstanden. Was hier als „Tradition“ rechtlich gesehen werden soll, ist im Grunde eher ein Phänomen der Ideengeschichte, belastet mit all deren Beweglichkeit, ja Volatilität, ohne dass bereits das Gewicht einer fortlebenden Überzeugung nachweisbar wäre. Kurzzeitige, eruptive Vorgänge sind häufig nur Anfänge von Traditionen, gelten aber nicht selten bereits als deren bestätigende Erscheinungen. Gerade für die deutsche, aber auch für andere europäische Verfassungsentwicklungen ergibt sich aus solchen Versuchen einer „Traditionalisierung“ früherer, oft nur kontingenter Vorgänge die Mahnung, hier in Rückgriffen vorsichtig zu verfahren. Auf isolierte, insbesondere auf historisch in ihrem Kontext erfolglose, wirkungsschwache Vorgänge, etwa eines Widerstandes, dem Breite und Durchschlagskraft fehlte, sollte eine Verfassungstradition, im Zweifel nicht gestützt werden. Jede neue Entwicklung findet Vorläufer in irgendwelchen früheren Vorgängen. Doch sie muss sich letztlich aus sich selbst rechtfertigen, darf dies nicht im Rückgriff auf angebliche, eher nachträglich entwickelte Erfolgsgeschichten versuchen.

3. Geschichte als Pendelbewegung: Traditionsschwach a) Geschichtliche Betrachtung führt nicht selten zur Relativierung eines allzu rasch, weil allzu gern angenommenen rechtsbegründenden, jedenfalls legitimierenden Herkommens. In Wahrheit zeigen historische Abläufe ebenso Stärken wie Schwächen all dessen, was weithin unreflektiert Tradition genannt wird. In vielen ihrer vermeintlichen geschichtlichen Erscheinungen werden auch bereits Gegen-

III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität

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kräfte, ja Antibewegungen sichtbar, welche nicht nur ein Herkommen von Anfang an abschwächen, sondern bereits ein Auslaufen in eine Gegentradition ankündigen. Dieser Begriff sollte, jedenfalls dort, wo ganz allgemein von der Historia Magistra ausgegangen wird, stets ebenfalls und von Anfang an eingesetzt werden; er zeigt eben die Tradition als einen in sich bereits ambivalenten, in Kraft und Gegenkraft verschlungenen Begriff. Bis eine gegenläufige Pendelbewegung als solche mit typischer Traditionskraft bemerkbar wird, mag längere Zeit vergehen; solche Entwicklungen sollten aber von vorne herein aufmerksam dort betrachtet werden, wo aus Hergebrachtem rechtliche Geltungsfolgerungen abgeleitet werden. Tradition ist eben ein Begriff, der, wird er verfassungsrechtlich eingesetzt, nur in ständiger Stärkung und Abschwächung Wirksamkeit entfalten kann; die „reine“, rechtlich undogmatische Geschichtsbetrachtung kann – zunächst einmal – Tradition nur in solchem Rahmen aufzufinden suchen, sie muss ihr diese historische Relativierung stets in dogmatischer Vorsicht mitgeben. Der Rechtsdogmatik, ihren Setzungen, ihren Geltungsüberzeugungen ist eine Absolutheit, ja Wucht des Willens zur Macht eigen, welche nur zu leicht darüber hinweg täuschen mag, dass unter Geltungsgeboten sich bereits Relativierungen derselben verbergen, in ihnen vielleicht geradezu mitgedacht sind. Schwache Akzeptanz von Angeboten in rechtlicher, insbesondere normativer Form ist nur zu oft Anzeichen einer beginnenden Rechtsskepsis, ja Rechtsablehnung, welche dann in mehr oder weniger offenen Rechtsmissbrauch, ja Rechtswiderstand übergehen mag. In all dem wirken bereits beginnende „antirechtliche Traditionen“, Pendelbewegungen aus einem, als solchem weiter lebendigen, ja traditionellen Geltungswillen heraus. In all dem bietet rein historische Betrachtung ein vielschichtiges Bild der Tradition – ohne dass sie allerdings deren auch rechtssetzende Kräfte grundsätzlich hinterfragen oder gar zu deren Ablehnung führen müsste. Eines zeigt sich allerdings in voller Klarheit: Bei allem, was über jeweilige gegenwärtige Feststellungen mit Geltungskraft im Recht hinauswirken will, in die Zukunft unmittelbar hinein oder aus der Vergangenheit heraus weiter als eine Fortsetzung derselben – in alledem muss eine außerordentlich geschärfte historische Vorsicht jede Betrachtung leiten. Im Falle der zukunftsorientierten Prognose entspricht dies den Mahnungen einer herrschenden Lehre und Rechtsprechung72 ; für die Ermittlung einer „Kraft aus der Vergangenheit“, wie sie die Tradition bieten will, ist Gleiches, in ebensolcher vorsichtiger Differenzierung, unbedingtes Gebot. Dem lässt sich sogar noch leichter entsprechen als beim Blick in eine wesentlich unbekannte Zukunft: denn für die Vergangenheit „spricht ja verdeutlichend die Geschichte mit“.

72 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Prognosebegriff hat früher stattgefunden im Zusammenhang mit der atomrechtlichen Risikoproblematik. Häufig mündet die Fragestellung allerdings in die – sehr allgemeinen – Überlegungen zur „Einschätzungsprärogative“ des Gesetzgebers. Vgl. Schwarz, K.-A./Bravidor, Chr., Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011, 653 ff.; Hillgruber, Chr., Ohne rechtes Maß? JZ 2011, 861 ff.

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

b) In diese Betrachtung der historischen Pendelbewegungen muss sich vor allem die der immer wieder festzustellenden „Restaurationen“ und deren verfassungsrechtlicher Beurteilung einfügen. Sie sind, nach über 200 Jahren größerer revolutionärer Bewegungen, in welchen sich die Demokratie entfaltet hat, gerade unter dieser Staatsform in aller Regel mit einem negativen Vorurteil belastet: Ist der „Rückschritt“ im allgemeinen Sprachgebrauch bereits ein klarer, indiskutabler Gegensatz zu dem meist doch grundsätzlich gewünschten und begrüßten Fortschritt, so überträgt sich dies nur zu oft, wenn auch in unterschwelliger Bewertung, auf verfassungshistorische Betrachtungen. Restauration mag dann als Schwächeerscheinung in einer nur kurz dauernden Phase verstanden werden, deren Ende geradezu von vorne herein absehbar erscheint, selbst wenn es auch nur a posteriori konstatiert wird. In aller Regel führt dies dann zu einem ebenso bei historischer wie rechtsdogmatischer Betrachtung einseitigem, ja fehlerhaftem Urteil. Nur zu oft sind ja Restaurationen gerade nicht Rückschritte durch die Wirkung einer „total retardierenden Tradition“, sondern lediglich Korrekturen derselben, welche durchaus zukunftsfähige Kräfte in sich tragen können: Die postnapoleonische Restauration, ein historischer Mutterbegriff für all dieses auch in staatsrechtlicher Dogmatik fortwirkende Denken, ist dafür ein Beweis. In ihr haben sich frühere Kräfte eines Traditionsbeginns, wie etwa einer „Staatsdogmatik“, erneut äußern können, die Überlebensfähigkeit von Elementen eines Herkommens erst recht herzustellen und zu bewahren vermocht. Der Begriff des „Restaurativen“ sollte also nicht vereinfachend eingesetzt werden im Sinne von Gegenthesen wider Traditionalismus; er bedeutet nichts als die Bewahrung des noch immer Erneuerungsfähigen, damit des Zukunftsweisenden, welches in einer Tradition angelegt ist. Allerdings lenkt derartige historische Betrachtung, aus Vereinseitigungen entlassen, den Blick in die notwendige Richtung sorgfältiger, hier nun wirklich abwägender Geschichtsbetrachtung.

4. Tradition und „Unumkehrbarkeit“ geschichtlicher Entwicklungen „Unumkehrbarkeit“ ist, nach ihrem wesentlichen Inhalt, nicht ein Begriff aus dem Wortschatz der historischen Betrachtung, sondern allenfalls der politischen Theorie. Als solche ist sie auch nicht ein traditioneller Begriff, sondern eine Vorstellung, welche sich mit geistigen Grundströmungen größerer Epochen verstärkt und abschwächt. Der Antike mit ihrer systematischen Staatsformlehre war eine Unumkehrbarkeit als solche keine tragende Kategorie ihrer Staatstheorie. Eher schon mochte sich mittelalterlich-scholastisches Staatsdenken in diese Richtung, hin auf eine im Göttlichen verankerte Absolutheit bewegen, die in einer größeren, religiös getragenen Weltentwicklung ihren Rahmen fand; aber auch hier war noch immer etwas lebendig von der antiken Grundvorstellung von grundsätzlich gleichwertigen

III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität

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Staatsformen73. Daher bedürfte wohl der Begriff der Unumkehrbarkeit staatsrechtlicher Grundentwicklungen, etwa im Verhältnis zwischen demokratisch/republikanischem und feudalem Denken, auch historisch noch vertiefter Untersuchung. Die Wirkkraft eines Unumkehrbarkeitsdogmas zeigte sich vom Beginn der Aufklärung bis in die neueste Zeit: Es ist die Lehre von der Endgültigkeit der Entfaltung der Freiheit, ihrer geistigen Inhalten, aber auch ihrer staatsrechtlichen Rahmenbedingungen. Die Demokratisierungsbewegung hat dies, zögernd seit Rousseau74, in voller Überzeugungskraft seit dem Ende des monarchischen Staatsrechts in Weimar aufgenommen, in Deutschland, Europa und vor allem jenseits des Atlantik. Damit sollte nun eigentlich dem Begriff der Tradition, jedenfalls in den Spitzenbereichen der Staatsformenlehre, eine in früherer Zeit unbekannte, insbesondere aber eben auch staatsrechtliche Schubkraft zuwachsen. Der Weg in Richtung auf immer mehr Freiheit, in all ihren Formen, insbesondere denen der Wahldemokratie, erscheint heute als derart selbstverständlich, dass insoweit von einer nicht herrschenden, sondern geradezu ausschließlichen Überzeugung die Rede sein kann. Hier hat staatsrechtliche Dogmatik ihre höchstmögliche rechtliche Geltungsstufe erreicht, die einer Axiomatik. Doch diese Wirkung, die man durchaus auch als eine traditionalistische sehen kann, beschränkt sich auf allerallgemeinste Grundkategorien, aus denen sich Kriterien bereits für Einzelgestaltungen kaum mehr überzeugend ableiten lassen. Was diese „Freiheit“ bedeutet, verbunden und relativiert mit und in Gleichheit, in Auswirkungen einer Solidarität, in welcher revolutionäre Brüderlichkeit ihre Fortsetzung feiert – dies alles reicht über die große Devise der Französischen Revolution kaum hinaus. Darunter, im geltenden Staatsrecht, setzen sich Traditionen und Gegentraditionen, Fortschritt und Restauration unverändert in unzähligen kleineren Bewegungen fort; vor allem variieren die Formen des Volkseinflusses in Freiheit, selbst in Wahlen und Abstimmungen, nahezu in infinitum. Die „Unumkehrbarkeit geschichtlicher Entwicklung“ bezeichnet, auch in Sicht demokratischer Überzeugungen, weder eine klare Richtung, noch auch nur eine fassbare Hoffnung, sie (ver)schwindet sogleich, wenn sie sich in einzelnen rechtlichen Setzungen bewähren soll. Die Hoffnung, aus einem Begriff der Unumkehrbarkeit im Staatsrecht, vor allem aus dem Begriff einer „Demokratie“, eine ganz neue, geradezu unendliche Potenzialität einer „Tradition“ gewinnen zu können – sie muss in tagtäglicher, nicht nur rein historischer, sondern eben auch rechtssetzender, rechtsanwendender Erfahrung relativiert, wenn nicht aufgegeben werden. 73

Gegen Unumkehrbarkeit standen stets und eben auf antiken Grundlagen, die Kreislauflehren, vgl. dazu Leisner, W., Zyklustheorie der Demokratie. Die Volksherrschaft im Kreislauf der Staatsformen, in: Festschrift für Badura, 2004, S. 291 ff. 74 Rousseaus Denken war eben – im Gegensatz zu Montesquieu – kein wesentlich evolutionistisches; hier wurden überzeitliche Geltungen und Rechtsetzungsforderungen verkündet, exemplifizierend untermauert in Schweizer Institutionalität.

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C. Verfassungsgeschichte und Tradition

Es bleibt also bei jener grundsätzlichen Ambivalenz, welche historische Betrachtung dem Staatsrecht – nur – liefern kann, in dessen Suche nach Kräften, Hoffnungen und Enttäuschungen einer Tradition.

5. Geschichtswiederholung in Tradition? Das menschliche Streben nach Erfassung der Zukunft, aus der Gegenwart heraus und eben, wenn möglich, in Betrachtung der klarer fassbaren Vergangenheit, ist, gerade in der staatsrechtlichen Rechtssetzung, ungebrochen. Die hier immer wieder begegnende „rein historische“ Betrachtung einer Historia Magistra75, welche als solche verbindliche Traditionen hervorzubringen vermöchte, versucht auch in die Zukunft zu denken aus einer vorsichtigeren Position als die jener Unumkehrbarkeit, welche Traditionalität auf der Einbahnstraße freiheitlicher Demokratizität begründen soll (vgl. 4.). Fündig wird sie in diesem bescheideneren Streben in einer ebenfalls sehr allgemeinen, aber doch über Dogmatik in Axiomatik hinauf wirkenden These von einer sich wiederholenden, gerade darin auch traditionsschaffenden Historie. Dies ist dann etwas wie eine „Traditionalität“ in (ganz) weitem Rückgriff in (fernere) Vergangenheiten. Sie werden herangezogen zur Befestigung gegenwärtiger Anfänge und Ausgangspunkte historisch oft durchaus zufälliger Entwicklungen. Darin mag etwas liegen wie eine unbezähmbare menschliche Versuchung der Schatzsuche in ferneren Vergangenheiten, welche so wiedergeboren werden. Auf solche traditionsstärkende Kräfte hat staatsrechtliche Entwicklung in laufenden Rückgriffen auf Früheres vertraut; in neuester Zeit im faschistischen Rom, im 19. Jahrhundert schon in der deutschen Reichsidee. Seine Fortsetzung findet dies in zahllosen, heterogenen Formen der Anknüpfung an weit zurückliegende Traditionen in den früheren Kolonialländern. In der Darstellung einer „Staatsrenaissance“, als deren Erscheinungen zahlreiche gegenwärtige Entwicklungen zu deuten sind, wurde dies bereits näher untersucht76. „Geschichtswiederholung“ i. S. rechtlicher Geltungsverstärkung will zurückgreifen auf einstige rechtliche Gestaltungen, in denen gegenwärtiger politischer Wille Rechtfertigung und Begründung sucht. Wie weit hier aber Vorstellungen von einer fortzusetzenden Tradition tragen können, ist eine davon zu unterscheidende und historisch als solche zu untersuchende Frage. In vielen Fällen geht derartiger Rückgriffs-Traditionalismus eher einher mit Ablehnung einer Vergangenheit als solcher, die nicht in ihrer Fortdauer, sondern nur in ihren (angeblichen) „besten Zügen“ wieder aufgenommen werden soll. Dass sich darin dann „Geschichte wie75

Vgl. oben C. II., FN 60. Rückgriffe auf Wiederholungen der (Staats-)Rechtsgeschichte entfalten auch dogmatische Wirkkräfte. Näheres dazu bei Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der „guten Staatsformen“ 1987; 2. A. in: ders., Das demokratische Reich. Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 1998, etwa Kritik zu den Grenzen der Tradition, S. 45 ff. (S. 326 ff.); zu den wiederkehrenden Staatsinhalten S. 212 ff. (S. 479 ff.). 76

III. Einzelne Problembereiche historischer Traditionalität

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derhole“, kann man kaum als eine allgemeine Grundthese derartiger Rückgriffsversuche feststellen. In ihnen liegt jedenfalls mehr Zukunftswille als Zukunft aus staatsrechtlicher Vergangenheit. Auch in historischer Sicht, welche so manche „Wiederkehr“ feststellen mag, etwa in Großvergleichen zwischen autoritären Regimen und ihrem Scheitern, finden sich meist weniger staatsrechtliche Überlegungen als allgemein-politische, ja historisch-machtmäßige Betrachtungen. In diesen Phänomenen wirkt mehr eine Beurteilung institutioneller Güte, Belehrung aus früherer Erfahrung, unabhängig von forttragender, fortgesetzter Tradition, als die Überzeugung, dass es gerade diese letztere sei, die es zu bewahren gelte. Auch die Kategorie einer legitimierenden weil historischen Wiederholung muss also in all jener Vorsicht eingesetzt werden, welche jede historische Betrachtung dort fordert, wo sie die Schwelle zu rechtsbegründender Wirksamkeit überschreiten will. Historie ist der Weg der Tradition; er muss beschritten werden von denen, welche an seine Festigkeit glauben, sie unter ihren Füßen zu fühlen vermeinen, als ihr tragendes Fundament. Erst damit wird die Ebene des Staatsrechts betreten: es lernt von dieser Geschichte; seine Folgerungen aber muss es selbst daraus ziehen, in Vorsicht und einem politischen Wagemut, den historische Feststellungen nicht ersetzen können. Auch in der Tradition bleibt die große Trennung erhalten zwischen historischer Betrachtung als Tatsachensuche und rechtlicher Geltung. Eine Einheit schafft hier auch keine Geistes-, keine Ideengeschichte.

D. Tradition und Grundgesetz I. Die Ermittlung der Traditionalität im geltenden Verfassungsrecht: Induktives Vorgehen 1. Traditionsmethodik aus Kontinuität – oder Herkommensbruch „Tradition“ ist kein rechtstechnisch eindeutiger Begriff, auch nicht auf der Ebene des geltenden Verfassungsrechts. In den ersten Kapiteln dieser Betrachtung war ihre Bedeutung für diesen Rechtsbereich in einer Art von deduktivem Vorgehen zu ermitteln: Zunächst als Problematik der allgemeinen Wirkung von Herkommen und Fortschritt im Staatsrecht (A.), sodann in Versuchen begrifflicher Klärung dessen, was im Recht unter „Tradition“ verstanden werden kann (B. I.), insbesondere im Zusammenhang mit „Rechtsgeltung“ (B. II.) und „Gewohnheitsrecht“ (B. III.), schließlich in einer Betrachtung über die Bedeutung „reiner“ oder bereits traditionsgeneigter Sicht auf die Verfassungsgeschichte als solche (C.). Ergebnis war die Erkenntnis, dass dem Begriff der Tradition durchaus eine bedeutsame verfassungsrechtliche Wirkkraft innewohnt. Das Herkommen ist aber, gerade in geschichtlicher Betrachtung, auch zugleich eine begriffliche Kategorie, welche Abschwächung, Erneuerungs-, Änderungsbedürftigkeit der Rechtsordnung anzeigen kann. Konservierende und reformierende Wirksamkeit der Tradition muss daher jeweils sorgfältig unterschieden in rechtlicher Beurteilung eingesetzt werden. Wenn diesen allgemeinen Überlegungen nun solche folgen, welche sich mit der Tradition gerade in der geltenden grundgesetzlichen Ordnung beschäftigen, muss insoweit die Methodik gewissermaßen umgekehrt werden: Nunmehr ist induktives Vorgehen angesagt77, aufsteigend von konkreten Kategorien und Kriterien, die in der Verfassung als solche auf Traditionalität hindeuten, in allgemeinere Bereiche, in denen eine gewisse, wenn auch weithin unausgesprochene Potenzialität der Tradition zu finden sein könnte. Ein solches Vorgehen rechtfertigt sich schon als Folge einer Feststellung, die am Anfang derartiger Betrachtungen ihren Platz finden muss: Tradition als solche ist ganz offensichtlich keine rechtstechnische Verfassungskategorie der grundgesetzlichen Ordnung. Man mag dies als einen allgemeinen Zug moderner Verfassungen 77 Induktion ist gerade hier einzusetzen, nach den Kategorien der Allgemeinen Staatslehre, vgl. dazu Leisner, W., Allgemeine Staatslehre FN 18, S. 82 ff.

I. Die Ermittlung der Traditionalität im geltenden Verfassungsrecht

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sehen, die ja in aller Regel aus größeren politischen oder staatsethischen Traditionsbrüchen herauswachsen, daher Früheres allenfalls punktuell, kaum je in allgemein-grundsätzlicher Weise aufnehmen oder gar fortsetzen. Eine Ausnahme machen hier die französischen Verfassungen der IV. und V. Republik mit ihren allgemeinen Bekenntnissen zu Freiheitsrechten der Französischen Revolution von 1789 – weil eben diese Ordnungen in einer größeren republikanischen und insoweit revolutionären Tradition stehen. In Deutschland konnte die Entwicklung nicht über solche zugleich historische und dogmatische Brücken verlaufen. Gewiss sucht jede Verfassungsordnung nach Ausgangspunkten für ihre eigenen Traditionen, sie versucht diese auch rückgreifend auf Früheres aufzufinden, jedenfalls Kontinuitäten zu solchen Ordnungen herzustellen. Dies wurde bereits in der Entstehungszeit der Weimarer Verfassung unternommen, wenn ihr autoritativer Kommentator feststellen können zu glaubte, es habe sich im Grunde doch nichts geändert gegenüber einer früheren monarchischen Ordnung im Reich78. Doch die Lage in der grundgesetzlichen Ordnung ist eine völlig andere; ihre „Grundstimmung“, die deutlich erkennbar ist und fortwirkt, kann nur aus einem bedeutsamen Traditionsbruch heraus erfasst werden – gerade dieser verlangt dann aber ein vorsichtig-induktives Vorgehen in einer wirklich insoweit „neuen“ Ordnung: Ermittelt muss werden, was diese selbst, als solche, an (neuem) Traditionspotenzial bietet – dann erst kann ein vorsichtiger Rückgriff auf weitere, länger zurückgehende Traditionen versucht werden. So viel allgemein zum methodischen Ausgangspunkt für das Folgende.

2. Das Grundgesetz: Verfassungsrecht aus Traditionsbruch a) Rein historisch gesehen ist das Grundgesetz „so alt geworden“, dass es – in einer Übernahme allgemeiner amerikanischer Vorbilder – sich bereits auf der Straße eines systematischen „Roots Seeking“ bewegt: Da es politisch in seiner Grundsätzlichkeit nicht diskutabel erscheint, kann man sich auf eine Traditionssuche begeben, die dann eine zusätzliche Überzeugungskraft bringen mag; eine solche wirkt ja gerade dann, wenn „grundsätzlich diskutiert werden soll“. In dieser Stimmung sind viele Erwähnungen von „Vätern und Müttern“ des Grundgesetzes zu verstehen, mögen sie oft auch nicht mehr ergeben, als Bestätigung eines politischen Konsenses, ja inzwischen erreichter (vermeintlicher) rechtlicher Selbstverständlichkeit. Dennoch muss die bereits festgestellte Ambivalenz der Tradition selbst hier gesehen werden: Es gibt eben auch etwas wie eine „ursprüngliche Antitraditionalität“, welche dem Grundgesetz in seiner Entstehungszeit (mit)gegeben wurde, die es seither in immer neuen Hinweisen, ja politischen Überzeugungsstößen begleitet: 78

Vgl. FN 6.

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D. Tradition und Grundgesetz

Dies sollte doch eine Verfassung des entscheidenden Bruchs mit einer längeren Vergangenheit sein, mit zentralem Herkommen gerade im Verfassungsbereich. Dieser Traditionsbruch als Verfassungsgrundstimmung des Grundgesetzes, als dessen grundsätzliche Vorverfassungssituation und damit Auslegungsrichtlinie, ist deutlich in einer doppelten Distanz der Bonner Verfassung zur Vergangenheit: b) Eine Gegenordnung zum Nationalsozialismus sollte dies sein, in allem und jedem, gerade in den tragenden, systembildenden Prinzipien des Verfassungsrechts. Dies gilt für eine nun vorbildlos sanktionierte Grundrechtlichkeit wie für den Föderalismus des Grundgesetzes: Er ist eindeutige Gegenthese gegenüber der staatsorganisatorischen Gleichschaltung im Einheitsstaat der Nationalsozialisten79; er greift darüber noch hinaus in einer gewissen Distanzierung sogar gegenüber Weimarer Vorbildern. Die gesamte Führungsideologie des Nationalsozialismus80, Prinzip dieser Staatsordnung, wird im Grundgesetz durch vielfache Gegenpositionen ersetzt, welche Kollegialitäten, Gewaltenteilungen, Dezentralisierungen an die Stelle des durchwirkenden einheitlichen Führerwillens setzen. Hier gibt es keine Traditionsfortsetzung, auch nicht in der allzu oft berufenen „Kanzlerdemokratie“81 – sie kann weder aus institutionellem Rückgriff auf die Bismarck-Verfassung noch, und erst recht nicht, auf die zentrale Führung des Nationalsozialismus auch nur in Ansätzen begründet werden. Allenthalben wirkt eine radikale Ablehnung der unmittelbar vorhergehenden Ordnung, selbst in vielem, was diese noch aus früherer Zeit weitergetragen hatte: c) Denn eine Gegenordnung selbst zur Weimarer Verfassungslage sollte und wollte dieses Grundgesetz bieten, gerade darin, dass Grundentscheidungen für deren Geltungszeitraum, der sich ja als ein „Tradition bildender“ angeboten hatte, in Distanz zu einer solchen aufgegeben wurden. Die Weimarer Verfassung fand eben doch ihren Mittelpunkt – darin konnte Carl Schmitt nicht widersprochen werden –, ihre tragende Säule in der Figur des Reichspräsidenten. Wer ihn nicht mehr in seinen Funktionen als Hüter der Verfassung und als Diktator der Demokratie übernehmen wollte, konnte nur eine ganz andere Verfassung schaffen; und dies ist mit dem Grundgesetz geschehen. Protokollpräsident und Bundesverfassungsgericht als Verfassungsgarant sind nicht Verfassungsmarginalien des Grundgesetzes, sondern

79 Zur „Gleichschaltung“ der Länder im NS-Staat vgl. Huber, E. R., Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, 2. A., 1939, S. 316 ff. 80 Zur Führungsideologie im Nationialsozialistischen Staat vgl. Stern, K., Das Staatsrecht der BRD, Band 5, 2001, S. 821 f.; Huber (FN 79), S. 230 ff. 81 Die „Kanzlerdemokratie“ des GG ist mit einer gewissen Kontinuität zur BismarckVerfassung gesehen worden. Das sog. „Kanzlerprinzip“ des GG (vgl. dazu Schröder, Meinhard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 65 RN 7 m. Nachw.) wird im Wesentlichen im Zusammenhang mit einer Richtlinienkompetenz diskutiert, die aber rechtlich nicht unumstritten und politisch in Koalitionsregierungen ohnehin von begrenzter Wirksamkeit ist.

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext

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dessen Grundentscheidungen – sie bedeuten einen wirklichen Traditionsbruch, der sich auch nicht mit vielen rechtlichen Einzelklammern zusammenhalten lässt. Diese Verfassung ist also keine Ordnung aus Tradition, sondern aus Traditionsbruch. Diejenigen, die immer wieder „Antifaschismus“ anmahnen, mögen bei ihrer meist kritischen „antitraditionalistischen Traditionssuche“ ihren Thesen nicht immer einen Überzeugungsdienst erweisen, hat doch dieses Deutsche Volk, wie wenige andere, aus seiner Vergangenheit derart zu lernen vermocht, dass ihm diese nicht ständig entgegengehalten werden muss. Zutreffend nehmen sie aber eine Verfassungsgrundstimmung auf, welche eindeutig das Grundgesetz in tragenden Grundentscheidungen bestimmt hat, weiter prägen wird: Man mag „Verlust der Ordnung als Staatsprinzip“82 als eine weithin gebannte Gefahr sehen – dass sie in Übersteigerungen antiautoritärer Tendenzen täglich Realität werden könnte, wird kaum jemand leugnen. Darin aber liegen eben auch Auswirkungen eines grundsätzlichen Traditionsbruchs im deutschen Verfassungsrecht, der ernst genommen werden muss: Wer in dieser Ordnung für Tradition eintritt, dem obliegt eine doppelte, eine schwierige Beweislast: Nicht nur die jeweiligen angeblich traditionsgetragenen Einzelelemente hat er nachzuweisen als Bestandteile der grundgesetzlichen Ordnung; darüber hinaus steht ihm deren grundsätzliche Antitraditionalität entgegen. Geschichtsvergessenheit der Gegenwart ist sicher ein übersteigerter Pauschalvorwurf; eine Grundlage findet er aber jedenfalls darin, dass eine solche geistesgeschichtliche Grundhaltung eine Legitimation in gegenwärtigem Verfassungsdenken hat: in einer weiten und grundsätzlichen Entfernung von Verfassungstraditionen der Monarchie und der Ordnungen, welche sie ersetzen sollten.

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext 1. Zurückhaltendes Grundverständnis Der Begriff einer „Tradition als solcher“ begegnet im Text des Grundgesetzes an keiner Stelle83. Es ist dies eben kein Verfassungs-Topos, der in den herkömmlichen Erläuterungswerken des Grundgesetzes eine größere oder gar durchgehende, zumindest eine bereichsmäßig prinzipielle Rolle spielen könnte. Soweit ersichtlich findet sich in keinem dieser Werke eine längere oder gar vertiefende Behandlung dieses Begriffes als einer Kategorie oder auch nur eines Kriteriums des Verfassungsrechts als solchen. Gleiches gilt für die synonymen Begriffe, wie etwa das „Herkommen“ oder „das Hergebrachte“, in einem, wie immer zu verstehenden, übergreifenden oder gar verfassungsgrundsätzlichen Sinn.

82

Vgl. FN 66. Zu den „hergebrachten Grundsätzen“ (Art. 33 Abs. 5 GG), welche aber Tradition nicht als eine allgemeine Begrifflichkeit ansprechen, vgl. i. Folg. 2. 83

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D. Tradition und Grundgesetz

Dies spricht bereits dafür, dass der erwähnte allgemeine Befund des Grundgesetzes als einer „Verfassung aus einem Traditionsbruch heraus“ jedenfalls in dem Sinn auf das Verfassungsrecht des Grundgesetzes im Einzelnen gewirkt hat, normativ dort rezipiert worden ist, dass dem Herkömmlichen als solchem zumindest keine ausdrückliche begrifflich-rechtstechnische Bedeutung im geltenden Staatsrecht zukommt. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass es in allgemeineren dogmatischen Überlegungen auch für diese Rechtsmaterie erscheint, etwa zu den „herkömmlichen Auslegungsgrundsätzen“. Ausgeschlossen ist damit auch nicht, dass bei einer bestimmten Verfassungsnorm eine spezielle Bedeutung des Herkommens in Rechtsprechung oder Schrifttum anklingt; dies erfolgt aber eher negativ, in Ablehnung eines Gewichts der Tradition, wie etwa im Fall der Differenzierungen im Bereich der Gleichheit84. Von vorne herein lässt sich also deutliche Zurückhaltung hinsichtlich der Bedeutung der Tradition für die grundgesetzliche Ordnung feststellen. Von einer insgesamt übergreifenden, oder gar systemschaffenden Bedeutung eines Verfassungsbegriffs der Tradition kann nicht die Rede sein. Dies entspricht auch einem literarischen Befund, welcher, soweit ersichtlich, Traditionalität nur in wenigen sehr allgemeinen, kaum rechtstechnisch fassbaren Bezügen erwähnt85. Nichts ist allerdings damit über eine „traditionelle Potenzialität“ von Regelungsinhalten oder, spezifischer, zu einer Rechtfertigung der Verbindlichkeit einzelner Norminhalte aus Tradition im Verfassungsrecht ausgesagt. Im Grunde spiegelt dieser Wortlaut-Befund allerdings lediglich Allgemeinheit und ambivalente Potenzialität einer Tradition wieder, welche aber Rechtstechnizität im engeren Sinn nicht erreicht hat. Dass sie damit jedoch als Rechtsbegrifflichkeit aus den Wirkungskräften des Verfassungsrechts schlechthin auszugrenzen sei, wäre eine vorschnelle Schlussfolgerung. Die Wirksamkeit der Tradition kann sich ja, wie das Folgende zeigen wird, auch in einzelnen normativen Inhaltsdeutungen zeigen, in Verstärkung wie Abschwächung; dies ist dann jedenfalls auch in der Sicht einer allgemeineren Verfassungstheorie zu ermitteln und bei der inhaltlichen Bestimmung der jeweiligen Normeffekte einzusetzen.

2. Die Ausnahme: „Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums“ a) Juristisches Denken verbindet in Deutschland mit dem Begriff der „Tradition“ in aller Regel nur eine Bestimmung der Verfassung: Art. 33 Abs. 5 GG, nach welchem das Recht des Öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten 84

Das Diskriminierungsverbot nach „Herkunft“ in Art. 3 Abs. 3 GG mag als soziologischer Begriff gewisse traditionelle Hintergründe ansprechen; traditionsgeprägt ist dies als solches nicht, in dem rechtlichen Sinn, dass damit „Traditionen“ egalitätsrelevant wären. Verboten ist es sogar, „der von den Vorfahren hergeleiteten sozialen Verwurzelung“ (BVerfGE 9, 124 (129)) – also doch einer familiär-sozialen Tradition – rechtliche Bedeutung beizumessen. 85 Vgl. zur Behandlung der Tradition im geltenden Staatsrecht i. Folg. IV. 1. a) m. Nachw.

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext

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Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln, neuerdings auch fortzuentwickeln ist. In diesem staatsorganisatorisch wichtigen Bereich hat damit der Begriff der „Tradition als solcher“ eine verfassungsjudikative Konkretisierung erfahren, welche ihn in zahlreichen normativen und Einzelentscheidungen rechtlich hat fassbar werden lassen: in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den „traditionsbildenden Zeiträumen“86. Diese wurden im Wesentlichen auf die Weimarer Periode und die zweite Nachkriegszeit beschränkt. Insoweit allerdings wurde ihr Grundsatzcharakter in vielen Entscheidungen immer wieder herausgestellt, es wurden daraus zahlreiche einzelne rechtliche Folgerungen abgeleitet, mit Bedeutung auch, ja vor allem für die normative Ausgestaltung des Berufsbeamtentums. Will der Gesetzgeber von derartigen traditionellen Norminhalten abweichen, so unterliegt er einer Beweislast für die Notwendigkeit einer Veränderung; der normativen Beharrungskraft früherer Regelungen kommt in diesem Zusammenhang also auch politisch erhebliche Bedeutung zu. b) Andererseits hat das Grundgesetz gerade darin auch eine novierende Grundströmung verdeutlicht, dass es diese Traditionen lediglich in den verhältnismäßig engen traditionsbildenden Zeiträumen sehen will, normative Wirkungen nur aus ihnen abgeleitet hat. Die grundsätzliche Vorstellung vom Grundgesetz als einer Ordnung aus „Traditionsbruch“ wird also insoweit nicht grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. dazu oben I. 2.). Weitergeführt wird im Wesentlichen nur, allerdings nun ausdrücklich, eine Gesetzgebungstendenz im Öffentlichen Dienst, die sich in neuester Zeit sogar verfestigen konnte. Insoweit ist dies also zu verstehen als eine spezielle verfassungsrechtlich verdichtete Geltungsform rechtlicher Institutionalität87 auf der höchsten innerstaatlichen Normebene. Dies mag andererseits dafür sprechen, dass ganz allgemein diese „verfassungsbeamtenrechtliche Rechtsfigur“ der Hergebrachten Grundsätze nicht dogmatisch erweiterungsfähig ist, auf den Gesamt- oder auch nur einen weiteren größeren Bereich der Verfassungsordnung; hier sollte ersichtlich nur eine bestimmte traditionsbegründete normative Situation aufrecht erhalten werden. Ist dies vielleicht gar ein Beweis für „Tradition als Ausnahme in der grundgesetzlichen Ordnung“? c) Art. 33 Abs. 5 GG bezieht sich auch keineswegs auf eine Tradition als solche, an der ohne Abstriche festzuhalten wäre. Von Anfang an wurde diese Verweisung auf Grundsätzliches beschränkt – wie immer dieses verstanden werden mochte; der Begriff „berücksichtigen“ schien ja das Herkommen nur als ein, wenn auch wesentliches Element, vielleicht gar nur als einen Ausgangspunkt künftiger Regelungen festzuschreiben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat in ihrer Unterscheidung zwischen „zu berücksichtigenden“ und „zu beachtenden“ traditionellen Grundsätzen des Berufsbeamtentums hier immerhin eine dogmatische Ver86

Zu den „traditionsbildenden Zeiträumen“ s. BVerfGE 8, 332 (342 f.); 114, 258 (281 f.) – st. Rspr. 87 Zu solchen Vorstellungen von „Institutionalität“ s. Leisner, W., Allgemeine Staatslehre (FN 18), S. 58 ff.

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D. Tradition und Grundgesetz

schärfung vollzogen. Sie ist vielfach kritisiert, insgesamt aber doch von einer herrschenden Lehre hingenommen worden88. „Tradition“ hat insoweit für das Beamtenverfassungsrecht ihre eigene normative Traditionalität entfaltet: im Sinne eines Festhaltens an „Kerninhalten“. Selbst diese Verfestigung einer Tradition für diesen Bereich auf „volle“ Traditionswirkung hat allerdings in neuester Zeit wiederum eine Präzisierung erfahren, welche das Herkommen auf Wirksamkeit allein im Sinne einer Entwicklungsdirektive zu reduzieren scheint: in der „Fortentwicklungsklausel“89. Was auch immer deren Bedeutung sein, ob sie überhaupt eine Veränderung im Verständnis der Tradition bringen wird, lässt sich noch kaum absehen. Zu erwarten ist wohl, dass darin eine Konkretisierungsoffenheit der Wirkungen des Traditionsbegriffs als solchen gesehen wird, welche diesem dann bereits von Anfang an eigen sein soll: Zukunft ist aus Herkommen heraus normativ zu gestalten, nicht aber in einer Versteinerung des Früheren. Zugunsten eines solchen Verständnisses mag sich die Verfassungsrechtsprechung nun auch auf bereits frühere, flexibilisierende Ansätze berufen; so etwa im Bereich der Berechnung und Abgeltung von Überstunden, aber auch hinsichtlich zentraler Regelungsformen eines eigenständigen Beamtenrechts, welches nicht mehr ohne Übernahme von vertragsrechtlichen Regelungen des Angestelltenrechts auskommt90. All dies zeigt, dass sogar Kernbereiche des Beamtenrechts sich schon im Sinne einer Fortentwicklung dargestellt haben, nicht in dem eines unbedingten Festhaltens an einst gesetzten rechtstechnischen Regelungen. In derartiger Sicht mag Art. 33 Abs. 5 GG nicht nur eine verfassungsrechtliche Konkretisierung des bereichsspezifischen Traditionsbegriffs bedeuten; es kann dem wohl eine allgemeinere Konkretisierungstendenz hinsichtlich all dessen entnommen werden, was man als „Herkommen“ im Verfassungsrecht sonst noch verstehen mag: In diesem flexiblen Sinn kann dann „Tradition“ jedenfalls auch überall dort gesehen werden, wo dieser Begriff Herkömmlichkeit als Regelungspotenzial für die Zukunft beinhalten kann: im Bereich des Grundrechtsschutzes wie der organisationsrechtlichen Verfassungsregelungen. Denn beide Bereiche werden ja gerade im Beamtenverfassungsrecht in kombinierter Weise angesprochen. Damit lässt sich aus dieser

88 Zur Unterscheidung von „zu berücksichtigenden“ und „zu beachtenden“ Grundsätzen vgl. BVerfGE 8, 1 (16); 62, 374 (383); 64, 367 (379); 117, 330 (349) – st. Rspr. Dogmatisch führt diese Unterscheidung als solche allerdings nicht allzu weit, weil der Unterschied zwischen den „zu beachtenden“ und den (nur) „zu berücksichtigenden“ Inhalten sich wieder – aus „der Bedeutung des Berufsbeamtentums in der freiheitlichen und sozialstaatlichen Demokratie“ ergeben soll. 89 Zur Fortentwicklungsklausel in Art. 33 Abs. 5 GG vgl. Jachmann, M., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 33 RN 54 m. Nachw. 90 In der Überstundenabgeltung etwa als einer Grenze der „Pflicht zur vollen Hingabe“ der Beamten, zeichnet sich seit längerem bereits eine flexible Fortentwicklung eines hergebrachten Grundsatzes ab, ebenso in der laufenden Praxis der Übernahme von Ergebnissen der Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst in das Beamtenrecht, welches hier doch früher auch inhaltlich eigenständige Entscheidungen in Gesetzgebungsform verlangt hatte.

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext

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Verfassungsbestimmung vielleicht gar etwas wie ein Hinweis auf ein allgemeineres verfassungsrechtliches Verständnis der Tradition ableiten. d) Bedeutsam ist allerdings, gerade bei solchem beispielmäßigen Verständnis, dass die Verfassungsrechtsprechung die Bedeutung der Tradition auf Fälle einer Rechtsgeltung während „längerer Zeiträume“, „jedenfalls aber seit der Weimarer Zeit“ beschränkt hat. „Kürzere“ Geltungsdauer soll also wohl grundsätzlich ein Herkommen im verfassungsrechtlichen Sinn nicht begründen (können). Welche Anforderungen darüber hinaus an einen Begriff des „traditionsbildenden Zeitraums“ zu stellen sind, bleibt zwar offen. Immerhin zeigt der Hinweis auf die Weimarer Periode, dass Geltung in derselben (parlamentarisch-demokratischen) Staatsform für die „Traditionsbildung“ von Gewicht sein soll. Ob dies allerdings wiederum allgemein, oder doch nur für das, ja speziell „regime-bezogene“, Berufsbeamtentum gelten soll, bleibt offen. Jedenfalls deutet diese Wendung aber auf einen „Staatsformbezug“ der Tradition hin.

3. Traditionsgehalt der Präambel a) Allgemein ist, soweit ersichtlich, das Problem einer verfassungsnormativen Traditionsbedeutung der Präambel als solcher nicht thematisiert worden. Verschiedene, auch rechtlich bedeutsame Inhalte sind allerdings, gerade wenn man von einer gewissen ambivalenten Wesensbedeutung dieses Begriffs ausgeht, in den Blick zu nehmen. Als solcher kommt der Präambel Bedeutung für die Dogmatik, damit jedenfalls auch für dogmatische Ansätze einer Tradition zu. Sie will Neues einleiten, dessen normative Grundsätze redaktionell an seine Spitze stellen. Damit ist sie zu allererst und wesentlich nicht ein Bekenntnis zu Vergangenem, sondern normativer Ausdruck eines gewollten Neuanfangs, der allerdings als solcher weder grundsätzliche Ablehnung noch Widerspruch zu staatsrechtlichem Herkommen bedeuten muss. Entscheidend kommt es eben auf die Inhalte an, in welchen sich das grundsätzliche Selbstverständnis der hier ja ausdrücklich angesprochenen verfassunggebenden Gewalt ausdrückt. Entscheidend sind also die verfassungstragenden inhaltlichen Elemente der Präambel; als solche ist sie eher Beleg für den Setzungswillen einer neuen Ordnung als für den einer Übernahme des Bisherigen oder gar Herkömmlichen. b) Deutschland, Deutsche Einheit, Deutsches Volk sind eindeutige Rechtsbegriffe des Verfassungsrechts der Bundesrepublik. Es handelt sich ersichtlich um Leitworte für das gesamte Verständnis und die Auslegung dieser Verfassung. Ihnen müssen aber nicht mit logischer Notwendigkeit herkömmliche Inhalte zuerkannt werden – im Gegenteil: sie sollten ja ersichtlich näher bestimmt, wenn nicht geradezu rechtlich neu definiert werden. Es zeigt dies schon der Text dieses selben Verfassungsvorspruchs: Deutschland besteht eben – nur – aus den dort angesprochenen Ländern, das

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D. Tradition und Grundgesetz

deutsche Volk allein aus Rechtsträgern, die eine wesentliche, juristisch bedeutsame Verbindung zu diesen rechtlichen Gebilden aufweisen, insbesondere als deren Bürger. Ein Rückgriff auf Tradition hätte schwierige und in damaliger wie gegenwärtiger Lage unlösbare politische Probleme der Bestimmung eines „traditionellen Deutschland“ aufgeworfen, vielleicht gar zu territorialen Ansprüchen geführt, auf welche die Vertreter der grundgesetzlich bestimmten Staatlichkeit verzichten mussten. Da der Geltungsbereich des Grundgesetzes nur einen Teil dessen umfasst, was im 19. und 20. Jahrhundert, in wechselnden machtpolitischen Konstellationen, als „Deutschland“ angesehen worden war, kann insoweit von einem traditionellen Rückgriff auf staatsrechtliche Gegebenheiten der Vergangenheit für die Begriffe „Deutschland“ und „Deutsches Volk“ auch nicht entfernt die Rede sein. Wenn sodann Vollendung der „Einheit und Freiheit Deutschlands“ angesprochen wird, so bezieht sich auch dies ersichtlich allein auf die Ablösung eines im Jahre 1945 eingetretenen besatzungsrechtlichen Zustands, in welchem von Einheit wie Freiheit nicht die Rede sein konnte. Wieder hergestellt wurde also, 1949 wie 1989/1990, lediglich ein Einheits- und Freiheits-Zustand, der sich auf ein Gebilde bezog, welches als solches „Deutsche Tradition“ in staatsrechtlicher Ausdehnung, damit eben doch in rechtlicher Subjektivität, für sich nicht mehr hatte beanspruchen können. Auch diese Feststellung ist folglich auf eine ganz bestimmte, kontingent entstandene historische Lage bezogen, ohne Rückgriff auf ein längeres Herkommen, welches auch territorial eine volle Traditionswirkung kontinuitätsschaffender oder gar -rechtfertigender Art hätte hervorbringen können. c) Dem steht nun allerdings ein staatsrechtlich bedeutsamer Befund gegenüber, wenn nicht entgegen, der als solcher der Entwicklung dieser Verfassungsordnung mitgegeben, stets auch in rechtlicher Ansprüchlichkeit aufrechterhalten worden ist: die Kontinuität zwischen dem Deutschland der Bonner Republik und dem Deutschen Reich von 1871. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts91 war jedenfalls (auch) in dem Sinne zu verstehen – und ist so verstanden worden – dass wenigstens der Begriff „Einheit“ im Sinne einer verfassungsorganisatorischen Kontinuität Grundlage auch der gesamten grundgesetzlichen Ordnung sei. Dass es also einen „Deutschen Staat in Einheit“ geben müsse, allerdings in Verbindung mit föderaler Verfassungsorganisation, lässt sich somit als eine Grundsatz-Tradition für das Deutsche Staatsrecht als solches feststellen. Dies dürfte sich allerdings auf ein prinzipielles Verbot der Sezession einzelner staatlicher Länder-Gebilde aus dem gesamtdeutschen Staatsverband reduzieren lassen. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet es, diesem Föderalismus eine stärkere direktive staatsrechtliche Zukunftswirkung zuzuerkennen. Eine Tradition lässt sich lediglich darin feststellen, dass dieses eine Deutschland „in Länder grundsätzlich gegliedert“ sein muss. Gerade diese Tradition reicht zumindest bis auf den Beginn des II. Deutschen Reiches zurück. 91 Zur Kontinuität „Deutschlands“ mit Blick auf die Präambel des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 5, 85 (126); 36, 1, (16); 77, 137 (154 ff.).

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext

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Dies ist aber wohl alles, was sich nach der Präambel als Tradition begründen lässt im geltenden Staatsrecht: eine gewisse föderale Gliederung Deutschlands, auf die noch zurückzukommen sein wird (VIII. 5.). Begrifflich ist dies als solches allerdings von derart geringer juristischer Präzision, dass hier von einer wesentlichen Traditionsgrundlage des Deutschen Staatsrechts insgesamt nicht die Rede sein kann. Der Hinweis auf die Fortsetzung des Deutschen Reiches durch die Bonner Bundesrepublik Deutschland von 1949 darf also als solcher nicht als eine traditionsbegründete, noch weniger als eine traditionsbegründende Aussage verstanden werden. Denn ersichtlich sollte dies nichts anderes bedeuten, als zum einen die Aufrechterhaltung von Haftungsansprüchen gegenüber Gesamt-Deutschland, andererseits die eines Rechtsanspruchs der Bundesrepublik Deutschland auf Wiedervereinigung mit den Ländern der damaligen sowjetischen Besatzungszonen. Dies letztere aber kann für die Begründung einer „Deutschen staatsrechtlichen Tradition als solcher“ nicht genügen. Lediglich gewisse historisch bestimmte Einbrüche in traditionsgetragene Situationen sollten wieder rückgängig gemacht werden. Dass daraus dann, spätestens im Deutschland nach 1990, ein anderer Staat entstehen würde als das Bismarck-Reich von 1871, lag doch wohl näher als eine staatsrechtliche „Schrumpfungstheorie“. Auch sie würde sich übrigens lediglich auf den territorialen Umfang Deutschlands beziehen, für eine staatsrechtliche Traditionalität in einem weiterreichenden rechtlichen Sinn könnte dies kaum genügen. d) Die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ schließlich, kann, jedenfalls in ihrem Wortlaut als solchem, nicht ohne weiteres als ein Hinweis auf eine traditionsgetragene Staatsordnung verstanden werden92. Dies gilt selbst unter Einbeziehung jüdischer Traditionen, nach denen sich diese Religiosität geradezu aus dem Herkommen der bundesmäßigen Verbindung des Schöpfergottes zu seinem Volk ableiten lässt. Es mag darin etwas wie eine „Gottesstaatlichkeit“ liegen, ein Begriff, der deshalb nicht vorschneller Ablehnung verfallen sollte. Allerdings kann dies als eine Anerkennung des Einbruchs der Transzendenz in das Staatsrecht gedeutet werden, jedenfalls einer Übernahme derselben in den Verfassungsbereich. Dass dann einem Herkommen in diesem Sinn nicht nur bedeutsame, sondern beherrschende Bedeutung für das Verständnis der tragenden Verfassungsnormen insgesamt, ja für ihre Auslegung im Einzelnen, zukommen muss, liegt nahe. Traditionalität liegt im Begriff einer „Schöpfer-Göttlichkeit“93, wie sie im Umweltschutz neu entdeckt

92

Die Invocatio Dei wird gemeinhin nicht als Bekenntnis zu einer von Traditionen bestimmten spezifischen Religiosität verstanden, vgl. dazu für viele Starck, Chr., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Präambel RN 36. 93 Die in diesem Zusammenhang nicht selten angesprochene „Bewahrung der Schöpfung“ ist eine Fragestellung, die vor allem im kirchlichen Raum diskutiert wird. Im Staatsrecht mündet sie, im Zusammenhang mit den „natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20 a GG), in die Problematik, ob hier auch die vom Menschen (mit-)gestaltete oder nur die „unberührte Natur“ geschützt wird, vgl. dazu m. Nachw. Epiney, A., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20a RN 16 ff. m. Nachw.

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D. Tradition und Grundgesetz

worden ist. Auch „künftige Generationen“ im Sinne von Art. 20 a GG94, sind in der Tat in einer Verantwortungstradition mit gegenwärtiger Rechtssetzung verbunden, von dieser bereits zu schützen – welche ihrerseits wieder auf die Vorstellung von einer alles umfassenden und überwölbenen transzendenten Schöpfung zurückführt. Die Invocatio Dei ist also, mit Blick auf verfassungsrechtliche Tradition, nicht etwa eine Marginalie; sie könnte Grundsatzwirksamkeit für alles Verfassungsverständnis beanspruchen; dieses würde dann darin auf Traditionen zurückführen, wie sie in diesem Deutschland, auch als Teil eines größeren Europa, stets nicht nur „lebendig waren“, sondern gegolten haben. Insgesamt lässt sich allerdings, jedenfalls im gegenwärtigen Verständnis der tragenden Inhalte der Präambel, aus dieser wohl kaum eine eindeutige Traditionsneigung der grundgesetzlichen Ordnung ableiten, weder allgemein-grundsätzlich, noch in einzelnen, tragenden Elementen solcher Wirksamkeit. Vielmehr setzt sich hier eher der Befund einer gewissen Ambivalenz95 der Tradition fort. Er schließt allerdings, wie bereits mehrfach betont, die Suche nach Einzelelementen derselben im Folgenden nicht aus. Auch und gerade als ein Steinbruch ist insoweit das Grundgesetz zu sehen, aus dem sich die Materien traditioneller Konstruktionen stets von Neuem aufbauen und verstärken lassen. Wie eben ein Hintergrund immer nur in einzelnen Zügen bei vordergründiger Betrachtung in Erscheinung tritt, so wirkt auch hier das geschichtliche Denken allenfalls in größeren Umrissen, allerdings auch in einzelnen, deutlicheren Zügen, ins Verfassungsrecht hinein.

4. Übergangsvorschriften als Traditionsregelungen? a) Eine Rechtsbegrifflichkeit, die zwar nicht ausdrücklich das Hergebrachte erwähnt, sich aber doch zentral auf Weitergeltung bisherigen Rechts bezieht, ist die der „Übergangsvorschriften“ im Grundgesetz. Sie ist ein fester Bestandteil der Dogmatik der Normgeltung, ja der Wirkung von Rechtszuständen allgemein im Recht. Es geht darum, wie bisher geltendes Recht in neue Ordnungszustände übergeleitet werden soll. Dies betrifft – selbstverständlich – dieses Recht auch dann, wenn es sich als Ausprägung einer Tradition darstellt, mit welchen bisherigen und künftigen Rechtsfolgen auch immer dies der Fall sein mag. Übergangsvorschriften können Traditionalismen in diesem Sinn weiterführen, unterbrechen oder beenden. b) Soweit ersichtlich sind jedoch diese Übergangsregelungen noch nie in diesem Zusammenhang vertiefend untersucht worden. Dies ist verständlich, weil solche Vorschriften in aller Regel im Verfassungsrecht nur für ganz bestimmte Fallkon94 Auch mit den „künftigen Generationen“ (vgl. dazu allgemeine Di Fabio, U., Wechsel auf die Zukunft – Rechte künftiger Generationen, 2010) werden zeitliche Bezüge angesprochen, welche Kontinuitätswirkungen entfalten (können), wenn auch nicht in typisch traditionsmäßiger Form. 95 Zur Ambivalenz von Traditionen vgl. C. II. 1.

II. Hinweise auf Tradition im Verfassungstext

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stellationen gelten: Meist geht es dabei um Abmilderung von Folgen hoheitlicher Eingriffe in die Berufs- und Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)96, um den Schutz sogenannter Altbetroffener bei Änderung von Rechtslagen97, oder um Ausgleichsmaßnahmen bei Eingriffen in grundrechtsgeschützte Rechtspositionen nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG98. Generell verlangt rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeit angemessene Übergangsregelungen99, ebenso einen Schutz des Vertrauens auf bisherige Rechtsgeltung100. All dies sind aber allgemeine Gestaltungsmodalitäten bei Rechtsänderungen überhaupt, allenfalls Randkorrekturen derselben, die keinen speziellen Bezug gerade auf traditionsmäßig verfestigte Inhalte des früher/bisher geltenden Rechts aufweisen. Gleiches gilt für die zahlreichen Übergangsbestimmungen, welche das Grundgesetz ausdrücklich zu bestimmten Geltungsbereichen einfach-gesetzlicher Regelungen enthält101. Sie betreffen zwar die legislative Änderungsdogmatik zu einzelnen inhaltlich bestimmten Regelungsgegenständen, nicht aber gerade eine traditionsbestimmte Inhaltlichkeit derselben. Diese kann im Einzelfall, muss aber nicht generell durch die so geregelten, „abgefederten“ Änderungen berührt sein. Auch ein Vertrauen in bisherige Rechtslagen kann, muss aber nicht durch eine wie immer bestimmte Traditionalität in einer Weise verstärkt (gewesen) sein, die dann eine spezielle Behandlung bei Änderungen erfordern würde. Hier gelten allenfalls allgemeine Je-desto-Grundsätze im Verhältnis bisheriger Dauer zur Tiefe der Änderungswirkungen. c) Traditionsbedingte Specifica des Änderungsrechts der Rechtslagen aus einem „Verfassungsrecht der Übergangsregelungen“ sind also nicht ersichtlich. Dies gilt auch gegenüber Rückwirkungsbeschränkungen bei Gesetzesänderungen im Namen der Rechtsstaatlichkeit102. Sie sichern die Geltung allen bisherigen, nicht speziell die eines traditionsgetragenen Rechts ab. Ihnen gegenüber mag bei Änderungen besondere Zurückhaltungs-, vielleicht auch spezielle Begründungspflicht angenommen werden, im Namen der Rechtsstaatlichkeit, diese aber sichert das Geltungsnicht ein Traditionsvertrauen der Normunterworfenen. d) Dieser Befund könnte sogar, allgemein, dafür sprechen, dass sich im Recht der Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes die „verfassungsrechtliche Grund96

s. etwa BVerfGE 98, 265 (309); BVerwGE 101, 185 (188). BVerfGE 32, 1 (36 f.); 5, 301 (331); BVerfG NJW 2002, 346. 98 BVerfGE 70, 191 (201); 83, 201 (212 f.). 99 BVerfGE 58, 300 (351); 67, 1 (15). 100 BVerfGE 36, 256 (359). 101 Übergangsregelungen im einfachen Gesetzesrecht oder in sonstigen normativen Bestimmungen unterscheiden sich hinsichtlich der grundsätzlichen Problematik wie der Wirkungen im Einzelnen nicht von den Fragestellungen, welche sich für das Verfassungsrecht ergeben oder von diesem allgemein vorgegeben werden (Rechtsstaatlichkeit). 102 s. dazu m. Nachw. f. viele Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20 RN 294 ff. 97

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D. Tradition und Grundgesetz

stimmung“ eines „Verfassungsbruchs“ mit früheren Regime-Traditionen103 fortsetzt: Traditionsänderungen sind dann eben doch nichts anderes als Rechtsänderungen, eine Form derselben, erschwerend vielleicht wirkend für Betroffene, für den Gesetzgeber aber unter Umständen auch erleichternd hinsichtlich seiner Sorgfalts- und Begründungspflichten, wenn gerade eine Tradition Reformnotwendigkeit, ja Reformstau indiziert104. Allgemein-grundsätzlich gilt jedenfalls: Das Verfassungsrecht der Übergangsbestimmungen zeigt keine allgemeine Regelungspotenzialität für Tradition im Staatsrecht.

III. Verfassungsrechtsprechung und Tradition als Verfassungsbegriff 1. Fehlende Grundsatzrechtsprechung Wenn sich Näheres zum Begriff der Tradition kaum grundsätzlich aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergibt, so könnten doch verfassungsgerichtliche Stellungnahmen hier eine Klärung bringen. In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts findet sich jedoch, soweit ersichtlich, keine Entscheidung von größerem Gewicht, die man als ein „Grundsatzurteil zu einem Verfassungsbegriff der Tradition als solcher“ bezeichnen könnte. Das Wort begegnet zwar in nicht wenigen Erkenntnissen des Gerichts, i. d. R. aber nur in Form einer kurzen, ja meist geradezu „beiläufigen Erwähnung“. Genannt werden bestimmte Verfassungs- oder Gesetzgebungsbereiche, in denen die „Tradition“, herkömmliche oder hergebrachte Vorstellungen dazu, eine gewisse Rolle spielen: etwa für die Verteilung der Gesetzungsgebungszuständigkeiten105, die Selbstverwaltungsgarantie106, die Finanzierung von Religionsgesellschaften107, (keine) Gewerbesteuerpflicht der Freien Berufe108, Einsatz der Bewaffneten Macht nur mit parlamentarischer Zustimmung als Ausdruck „Deutscher Verfassungstradition“ seit 1918109.

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s. auch Brunner, W., Bundestagswahlkämpfe und ihre Effekte – Der Traditionsbruch 1998, ZParlR 1999, S. 268. 104 Und dies etwa in Diskussionen oder Änderungsankündigungen bereits zum Ausdruck gekommen ist, vgl. dazu Leisner, A., Vertrauen in staatliches Handeln – Ein unkalkulierbares Risiko? StuW 1998, S. 254 ff. 105 Etwa BVerfGE 42, 20 (29); 33, 1 (12 f.) (überkommenes Bild des Strafvollzugs); zur Übertragung strafrechtlicher Kompetenzen auf die EU vgl. BVerfG NJW 2009, 22268 (2288). 106 Von einem besonderen verfassungsrechtlichen „Traditionsschutz“ ist schon die Rede in BayVerfGHE 2, 143 (163). 107 BVerfG NVwZ 2009, 1217 (1220). 108 BVerfG DB 2008, 12143. 109 BVerfG DVBl 2008, 770 (771).

III. Verfassungsrechtsprechung und Tradition als Verfassungsbegriff

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2. Keine nähere Verdeutlichung nach Inhalt und Wirkung Diese Aufzählung völlig heterogener Materien, aber auch die so allgemeine, ja vage Form der Erwähnung der Tradition in diesen Erkenntnissen, zeigen bereits, dass von einer dogmatischen Durchdringung des Begriffes nicht die Rede sein kann. Der Inhalt desselben wird nicht näher verdeutlicht. Insbesondere bleibt schon unklar, ob sich ein Herkommen im Sinn der Verfassung lediglich auf Geltung von Rechtsnormen beziehen soll110, oder auch auf das tatsächliche, „gesellschaftliche“ Verhalten bestimmter Rechtsträger, etwa der politischen Parteien111, oder im Hochschulbereich112. Für Letzteres mag etwa die Lissabon-Entscheidung sprechen: Dort ist die Rede – zu „Schule und Bildung“ – vom Recht der „familiären Traditionen und Entscheidungen für Fragen der Sprache und der Einbeziehung des Transzendenten in das Öffentliche Leben, im besonderen Maß gewachsenen Überzeugungs- und Wertvorstellungen, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt sind“113. Derartige – (mehr als vorsichtige) – Formulierungen lassen aber doch die Frage nach der Bedeutung außerrechtlicher Traditionen für das Verständnis von Rechtsnormen offen. Insbesondere bleibt unklar, wie weit die Ursprungs-, Ergänzungs- oder gar Bindungswirkung des außerrechtlichen Herkommens im Sinne einer Prägung verfassungsrechtlicher Traditionen bei politischen Entscheidungen reichen darf. Was hat der Gesetzgeber hier an gesellschaftlichen Entwicklungen zu berücksichtigen, damit der „rechtliche Verfestigungszustand“ einer Tradition als „einfache Gesetzgebungs-“ oder gar als „Verfassungstradition“ erreicht werde?

3. Formen einer „Traditionsbildung“? Dies leitet bereits über zur Problematik der rechtlichen Formen, in denen sich eine Tradition im verfassungsrechtlichen Sinn – gegebenenfalls – bilden kann. Auch dazu bringt die Verfassungsrechtsprechung bisher kaum nähere Hinweise. Dass hier die Gesetzgebung, in der Aufrechterhaltung normativer Lagen, eine wesentliche Rolle spielt, ist selbstverständlich, und dies hat sich ja auch bereits im Zusammenhang mit den Übergangsvorschriften114 gezeigt. Zum Problem der normbildenden Praxis der Zweiten Gewalt finden sich immer wieder, und weit verstreut, Hinweise, welche in der Regel Einzelmaterien betreffen. Dass hier jedoch von einer direktiv verfestigten Verfassungsbegrifflichkeit auszugehen wäre, ist bisher nicht mit einer auch nur gewissen Deutlichkeit ersichtlich. 110

Vgl. dazu die Fälle in den FNen 105 bis 109. BVerfG DVBl. 2008, 770 (771) („Parteientradition“). 112 Entsprechend den deutschen universitären Traditionen, BVerfG DVBl. 2009, 2190 (2192). 113 BVerfG NJW 2009, 2268 (2275). 114 Vgl. oben III. 111

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D. Tradition und Grundgesetz

Bedeutsam wären in diesem Zusammenhang Bemerkungen zu einer Rechtsprechungstradition115. Dahinter steht die „traditionelle“ Problematik einer „ständigen (Verfassungs-)Rechtsprechung“; eine solche aber gibt es eben nicht, jedenfalls nicht im Sinne einer näheren Ausformung eines Verfassungsbegriffs, im Falle der Tradition. Bleibt die Frage nach der Bedeutung des „Richterrechts“ für Erkenntnis und nähere Bestimmung einer Tradition. Sie kann hier nicht vertieft werden. Fest steht lediglich: Einerseits beziehen sich gerichtliche Äußerungen zu einer, wie immer angenommenen, Tradition sehr häufig, wenn nicht regelmäßig auch auf solches Richterrecht, jedenfalls als judikative Ausformung und/oder Bestätigung einer normativen Kontinuität; andererseits gibt es aber, soweit ersichtlich, keine h. L. dazu, wie und wann gerade auf wesentlich judikativen Wegen eine „Rechtstradition“ entsteht. Insbesondere ist hier die Kontinuität einer Rechtsgeltung in ihrem Verhältnis zur Tradition noch völlig ungeklärt. Der Schwerpunkt in der Diskussion um das Richterrecht liegt bisher wohl eindeutig bei der (Feststellung einer) Fortdauer von Rechtsprechungszuständen. Das Bundesverfassungsgericht selbst lässt die Antwort – vielleicht notwendig – im Zwielicht: Einerseits legt es seine Judikatur laufend an Zitatketten, zum anderen scheut es vor Rechtsprechungsänderungen aber auch nicht zurück.

4. Die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung Hier harren also zentrale Fragen zu „Tradition und Verfassung“ noch der Antwort. Sie kann nur in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gegeben werden; und dazu bedarf es – irgendwann einmal – nicht mehr nur vorsichtig sich „herantastender“ Induktion, sondern einer deduktiven Grundsatzentscheidung dieses in diesem Sinne wirklich höchsten Gerichts. Eine solche wird entsprechend den Vorstellungen vom souveränen Gestaltungsrecht des Volkssouveräns fallen (müssen). Hier wird sich dann aber die Problematik eines die verfassungsbestimmte Rechtsetzung übergreifenden überpositiven Rechts erneut116 in „demokratischer“ Version stellen: dahin, ob der „Volkssouverän“ auch außerhalb institutioneller verfassungsrechtlicher Formen seiner Willensbildung, durch „sein“ Verhalten verfassungsrechtliche Vorgaben schaffen, vor allem aber anerkennen kann, in etwas wie einer Form von überpositivem Recht im formalen Sinn. Dies aber mündet dann in „Ewigkeitsfragen“ des überpositiven Rechts, ja der Säkularisierung des Transzendenten in der Verfassung. 115

Derartiges findet sich etwa in BVerfGE 40, 42 (44), (auch) in der Verbindung mit „Gesetzestradition“, vgl. BVerfGE 40, 46 (58). Zur judikativen Tradition s. u. a. Rasehorn, Th., Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt, 1989. 116 Zum überpositiven Recht s., in Verbindung mit der „Wertediskussion“, unten V.; auch dort geht es bereits um das formelle überpositive Recht, also um Fragen der Rechtssetzungsproblematik.

IV. Tradition im Schrifttumsüberblick

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Darin werden sich Wesen, Kraft – und Grenzen einer Verfassungsrechtsprechung zeigen, wenn sie überhaupt „so hoch hinaus“ vordringen will. Bisher herrscht hier – Vorsicht.

IV. Tradition im Schrifttumsüberblick 1. Allgemein-Grundsätzliches und Einzelbereiche a) Ausführungen darüber, inwieweit sich Hinweise auf „Tradition als solche“ im verfassungsrechtlichen Sinn oder auch nur für einzelne Rechtsbereiche, im Schrifttum auffinden lassen, würden den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zu konstatieren ist lediglich hier Folgendes: Aussagen zur „Tradition“ in allgemein-grundsätzlicher Form finden sich bisher nur gelegentlich und ohne grundlegenden Anspruch für die Dogmatik einer gerade verfassungsrechtlichen Begrifflichkeit117. Äußerungen zu einer „Deutschen Verfassungstradition“118 beschäftigen sich meist nur generell mit verfassungshistorischen Hintergründen. b) Für einzelne Rechts-/Gesetzgebungsbereiche verweisen Behandlungen im Schrifttum, generell oder zu Einzelproblemen, häufig auf „Tradition“. Im Vordergrund stehen hier etwa, mit deutlicherem, auch verfassungsrechtlichem Zug: Privatrecht allgemein119, insbesondere Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht120, Arbeitsund Sozialrecht121, Bildung, Schule und Kultur122, Kirche und Religion123. In den 117 s. vor allem Britz, G., Der Einfluss christlicher Traditionen auf die Rechtsauslegung als verfassungsrechtliches Gleichheitsproblem, JZ 2000, 1127; Caroni, P./Dilcher, G., Norm und Tradition, 1998; Dedek, H., Tradition und Fortschritt im Recht, JZ 2000, 940; Hetzenecker, A., Die vergessenen Wurzeln der abendländischen Rechtstradition, JZ 2006, 292; Keller, Erhart, Tradition und Moderne, WRP 2005, 68; Muth, J., Neues Recht zwischen Tradition und Systemwechsel, 2004; Rückert, J., Bericht zur Tagung „Norm und Tradition. Zur Situation und Aufgabe der Rechtsgeschichte als Teil einer Europäischen Rechtswissenschaft“, ZEuP 1997, 185. 118 Etwa Grimm, D., Das GG in der Deutschen Verfassungstradition. Der Richter und 40 Jahre GG, Justiz und Recht Band 7, 1991, 1; Vogel, H.-J., Kontinuität und Tradition in der Deutschen Rechtsgeschichte, FS f. Rebmann, 1998, S. 97. 119 Jansen, Nils, Traditionsbegründung im Europäischen Privatrecht, JZ 2006, 536. 120 Z. B. Maul, S., Gesellschaftsrechtliche Entwicklungen in Europa – Bruch mit deutschen Traditionen? BB Beilage 2005, Nr. 19, 2. 121 Klenk, T./Nullmeier, F. u. a., Das Ende einer Bismarck-Tradition, Sozialer Fortschritt 2009, 85; zur „Notwendigkeit der Alterssicherung in Bismarck-Tradition“ Frommert, D./Loose, P., ebenda 2009, 199; s. auch Braun, Bernhard/Klenk, T., Traditionsreicher Steuerungsmechanismus – mit welcher Zukunft? Soziale Sicherung 2006, 54; Oehlke, P., Arbeitspolitik zwischen Tradition und Innovation, 2004; Ruland, F., Funktion und Tradition sozialer Selbstverwaltung am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung, Mitt. LVA BE 1993, 271. 122 Pirson, D., Christliche Traditionen in der staatlichen Schule, Bay VBl. 2006, 745; Hartner, M., Wozu Universitäten? Tradition versus „Institutionelle Performance“, FS f. Schiedermair 2001, 477.

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D. Tradition und Grundgesetz

Mittelpunkt rücken auch immer mehr Erscheinungsformen europarechtlicher Tradition124.

2. Beiträge zu einem verfassungsrechtlichen Traditionsbegriff im Schrifttum? Grundrechtliche Traditionen und solche aus den Staatsgrundsatznormen125 bieten also immer wieder Anlass zu spezielleren Untersuchen über Wirkungen einer Tradition. Im Mittelpunkt steht dabei aber in aller Regel nicht eine einheitliche verfassungsrechtliche Begrifflichkeit; zu einer solchen wird auch nicht „hochgerechnet“ aus „Einzeltraditionen“ bestimmter Rechtsbereiche. In den meisten, stärker „traditionsgeprägten“ Einzelbereichen gewinnen außerrechtlich-gesellschaftliche Entwicklungen erhöhte Bedeutung gegenüber rechtlichen Entscheidungstraditionen. Die enge, letztlich oft ununterscheidbare Verbindung zwischen beiden Traditionsströmen zeigt sich aber auch in den Spezialmaterien nahezu durchgängig. Hier bleibt also noch großer spezialrechtlicher Untersuchungsbedarf. Gerade dafür mögen aber die folgenden verfassungsrechtlichen Überlegungen einige ordnende Direktiven bieten.

V. Exkurs: „Verfassungswerte“ und Tradition 1. „Verfassungswerte“ – ein Demokratieproblem a) Die Diskussion um Inhalt und Wirkung von „Verfassungswerten“ wird zeitgleich mit dem Niedergang naturrechtlichen Denkens in zunehmender Intensität geführt126, so wie dieses nach dem Ende der Monarchie deren „theokratische“ Begründung abgelöst hatte. Hier werden Tendenzen deutlich, die Wirkungen einer „Transzendenz“ in der staatlichen Ordnung aufrecht zu erhalten und so Grundlagen einer Staatsrechtfertigung zu gewinnen. Gerade in diesem Sinne lassen sich diese 123 Reimann, R. P., Virtuelle Kirche zwischen Tradition und Moderne, ZevKR, 47, 2002, 555; Droege, M., Prekäre Leitfunktion christlicher Tradition in Zeiten kultureller Differenz? KritV 2001, 466. 124 Lazarus, Th., Die Bedeutung der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und der EMRK für die Grundrechte der Europäischen Gemeinschaft, 2006, sowie etwa noch Jansen (FN 119), Rückert (FN 117). 125 s. dazu im Folg. E., F. 126 Zur Diskussion um die „Verfassungswerte“ s. Überblicke bei Wernsmann, Th., Wert, Ordnung und Verfassung, 2007; Dieckmann, H.-E., Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des GG, 2006, S. 138 ff.; Di Fabio, U., Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, 1; Leisner, W., „Wertewandel“ und Verfassungsrecht, JZ 2001, 313 ff. m. Nachw.; ders. Gott und sein Volk. Religion und Kirche in der Demokratie, 2008, S. 93 ff.

V. Exkurs: „Verfassungswerte“ und Tradition

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Werte auch als Fundamente „überstaatlicher Staatlichkeit“ betrachten: Die vielberufene „Wertegemeinschaft“ in der Europäischen Union127 stützt sich dabei ausdrücklich auf Wertvorstellungen, wie sie im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten „anerkannt“ sind, damit eben auch als Gegenstände rechtlicher Regelungen auf hoher Normebene. Dass diese Verfassungswerte, gerade in ihrem Wesen als „Fortsetzung von Staatsreligionen128 in Staatsmoral“, rechtlich, nach Inhalt wie Wirkung, enge, wesentliche Beziehungen zum Begriff einer wie immer verstandenen „Tradition“ aufweisen, kann schon deshalb nicht zweifelhaft sein. Die Verfassungsrechtsprechung hat dies denn auch im Lissabon-Urteil ausdrücklich hervorgehoben129. b) „Verortung“ oder gar „Verankerung“ dieser Werte im Grundgesetz, in dessen Wortlaut, wirft sowohl grundsätzliche als auch rechtstechnische Fragen auf, denen hier im Einzelnen nicht nachgegangen werden kann. Bemüht wird, auch in diesem Sinne, wiederum die Präambel, insbesondere in ihrem Bekenntnis zu Grundrechten130, aber auch Art. 79 Abs. 3 GG131: Unabänderlichkeit kann ja letztlich nur aus Wertvorstellungen heraus begründet werden, welche dort angesprochen, aber nicht positivrechtlich „gesetzt“ sind. In diesem – weiteren – Sinn wird dies hier (noch, als Exkurs) im Zusammenhang mit dem Wortlaut des Grundgesetzes behandelt. Immerhin strahlt diese „Wertepositivierung“ ja in das gesamte Verfassungswerk aus, sei es „rechtstechnisch“, in der (früheren) „Mitreißungslehre“, welche insbesondere einen „Mindeststandard“ von Grundrechten in Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet sah132, sei es ganz allgemein in „Ausstrahlungswirkungen“ fundamentaler Verfassungswerte133 in die gesamte 127 Zur „Wertegemeinschaft Europa“ vgl. u. a. Meyer, J., Die EU ist auch eine Wertegemeinschaft, ZRP 2000, S. 114 ff.; Calliess, Chr., Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch Europäisches Verfassungsrecht? JZ 2004, 1033; Mandry, Christof, Europa als Wertegemeinschaft, 2009. 128 s. dazu Leisner, W., Gott und sein Volk. Religion und Kirche in der Demokratie. Vox Populi – Vox Dei?, 2008, S. 18 ff. 129 Vgl. Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Vertrag FN 109. 130 Zur Bedeutung der Präambel als Bekenntnis zu den Grundrechten für Werteordnung des Grundgesetzes vgl. Starck, Chr., Art. 1 RN 124 ff. m. Nachw. 131 Zur Ewigkeitsentscheidung in diesem Zusammenhang vgl. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG 6. A., 2010, Art. 79 RN 67 ff. 132 Neuerdings wieder aufgenommen und vertieft in den Diskussionen um den „Menschenrechtsgehalt“ in Art. 1 und 79 Abs. 3 GG, vgl. FNen 130, 131. s. auch zur Bedeutung der Menschenrechte allgemein und insb. in Deutschland Leisner, W., Eigentum als Menschenrecht GS f. Blumenwitz 2008, S. 197 ff. m. Nachw. Allgemein Zenger, M., Menschenrechte als transnationales Privatrecht, 2008. 133 Als Beispiel für die Ausstrahlungswirkung sei hier nur die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte erwähnt, dazu Leisner, W., Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 352 f., 356 ff.; ders., Wettbewerb als Verfassungsprinzip, 2012, S. 77 ff.; Schwabe, J., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971; Rupp, H. H., AöR 101, 1976, 161 (170); Canaris, C.-W., Das Recht auf Meinungsfreiheit, Festschrift f. Leisner, 1999, S. 413 ff. Zur Ausstrahlungs-

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D. Tradition und Grundgesetz

grundgesetzliche Ordnung – oder über eine „Überformung“ des Verfassungswortlauts durch eine „Allgemeine Verfassungsdogmatik“, wie sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unablässig weiter entwickelt, mit ihr letztlich den Wortlaut der Verfassung präzisiert. c) Werte werden aber im Recht nicht „gesetzt“, es bekennt sich zu ihnen. Darin zeigt sich eine Spannung zwischen dem Willen der Mehrheit als Träger der Demokratie und jenen Werten, die als unerreichbare, unantastbare Ideale über jedem menschlichen Wollen stehen (bleiben), diesem vorgegeben im platonischen Sinn. Diese Spannung lässt sich logisch nicht auflösen, sondern allenfalls politisch erklären – damit letztlich „umgehen“: Wozu sich der Volkssouverän nicht (mehr) bekennt, das verliert seine „Werthaltigkeit“ in der Gemeinschaft, im Recht. Damit erscheinen die „Werte als demokratisiert“, Verfassungswerte fügen sich ein in die Staatsform der Volksherrschaft. In einer – gewagten – Analogie könnte es heißen: Wenn sich ein Volk nicht mehr zu seinen Göttern bekennt, dann, erst und damit (dadurch?) kann es dann heißen: „Gott ist tot“. Dennoch darf sich auch Radikaldemokratie zu Werten bekennen. Der Mensch „schafft sie, wie Gott, nach seinem Bild und Gleichnis“ – so würde dies dann aus atheistischer Sicht heißen. Religös-christliche Auffassung sieht jedenfalls in ihrem Glauben, der vor allem die Werte zum Gegenstand hat, ein Bekennen der Bürger, in dem sich ein Erkennen vollzieht.

2. Tradition als „Inhalt und Wirkung von Verfassungswerten“ a) Damit muss sich die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung der Tradition für die Bestimmung der „Verfassungswerte“ stellen. In der allgemein-politischen Wertediskussion geschieht dies weithin unreflektiert: „Ruhen (nicht) diese Werte auf“, werden sie nicht erkannt gerade in der „Tradition“ eines Volkes, der „Rechtsund Staatstradition der Mitglieder der Europäischen Union“? Oder gar: Woraus sollen sie denn kommen, worin jedenfalls erkennbar sein, wenn nicht aus dieser Tradition? Hier mag sogar etwas verlaufen wie eine gewisse Zäsur zwischen „reiner Verfassungskontinuität“ und deren zugleich Erweiterung und Verfestigung in Tradition134 ; jedenfalls kann diese letztere als eine (höhere) „Kontinuitätsstufe“ aufgefasst werden.

wirkung der Grundrechte in die Privatautonomie s. etwa BVerfGE 96, 375 (398); 102, 347 (362). 134 Zum Verhältnis von Kontinuität und Tradition s. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 12 f., 70 ff., 276.

V. Exkurs: „Verfassungswerte“ und Tradition

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b) In eben diesem Sinn wird also ein Begriff „Tradition“ zu Inhalt und Gegenstand, ja sogar zu einem Medium der Erkenntnis von Verfassungswerten. In der französischen Diskussion um den Begriff der (innerstaatlichen) Souveränität ist dies schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts deutlich erkannt worden: Diese souveräne Gewalt des Staates kommt nicht aus einem soziologisch feststellbarem politisch wirkenden Willen der organisierten Gemeinschaft, wie es Durkheim und auch Duguit lehrten. Sie ergibt sich, in Form der „Souveraineté Nationale“, aus einem integrativen Zusammenwirken von Elementen in einem historischen Rahmen135: Er wird gebildet in und durch nationale Traditionen in einem weiten Sinn, von (großen) politischen Entscheidungen wie der Französischen Revolution bis zu kultureller Identität. So nur kann von einer „Grande Nation“ gesprochen werden, nicht nur von einem „Großen Volk“, was vielleicht ja, in politischer Arroganz, sogar rassische Vorzüglichkeitsvorstellungen begünstigen könnte. Der Nationalsozialismus war denn auch nicht bereit, „deutsche Traditionen“ als solche anzuerkennen, in denen „Jesuiten, Juden, Freimaurer“ vordere Plätze belegt hätten: Rassenbiologisch sollte auch im Bereich der historischen Tradition „selektioniert“, ausgeschieden und ausgemerzt werden. Man mag den erwähnten französischen Entwicklungen heute nur mehr mit Vorsicht folgen, in ihnen vor allem Restaurationsversuche einer „überholten“ Nationalstaatlichkeit sehen; dass sie gerade in einer Europäischen Union noch lange lebendig und wirksam bleiben werden, ist dennoch zu erwarten. c) Darüber hinaus stellt sich aber die – unabweisbar – drängende Frage nach der Tradition gerade als Inhalt der Verfassungswerte. Tradition – wie immer im Einzelnen verstanden – zeigt im Recht doch an, dass gewisse Regelungsgegenstände und -formen in der Vergangenheit nicht nur „existiert haben“, ,,gedacht“, „diskutiert“ worden sind. Dies alles muss jedenfalls mit einer gewissen Intensität geschehen sein, die sich dann aber gerade in Richtung auf jenes „Bekennen“ bewegt, in dem „Werte“ gesetzt und erkannt werden. Was sich also dergestalt heraushebt aus der geschichtlichen Erscheinungen Fluss136, darin zu Pfeilern wird für die Brücken einer Tradition, das hat sich darin zugleich, ja vor allem, in seinem „Bekenntnisgehalt“ bewährt – als Wert; denn was könnte denn sonst jene moralische Überzeugungskraft ausstrahlen, die einem Wert als solchem doch wesentlich eigen sein soll? Hier gerade zeigt sich, dass „Tradition“ dem „Recht“, seinem Zwang mit der manus militaris, etwas genuin Ethisches hinzufügen soll: die Bindungskraft der inneren Selbstverpflichtung. Tradition bedarf nicht des hoheitlichen Zwangs zur Durchsetzung; sie ist letztlich das „wesentlich Gewaltblinde“ im Recht, par excellence, als „Gehorsam ohne Gewalt“. Sie „ist da“, als Rechtstatsache, „drängt sich 135

64, 65. 136

Zur Souveraineté Nationale, insb. im Sinne von Raymond Carré de Malberg, vgl. FNen Zum Fluss geschichtlicher Erscheinungen vgl. oben C.

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D. Tradition und Grundgesetz

auf“ als solche, aber bereits mit rechtlicher Wirkung. Darin liegt nicht nur die ganze Kraft, es findet sich hier die inhaltliche Unentrinnbarkeit der Wertvorstellungen, für den, der von beidem überzeugt ist, von Tradition und Wert, Tradition als Wert. d) In einer „Tradition als (herkömmlichem) Wert-Inhalt“ vollzieht sich allerdings auch etwas wie eine „Ent-Moralisierung der Verfassungswerte“. Diese erscheinen hier nicht mehr nur als Gegenstände eines Bekennens, in Form von „Glaubensartikeln“ für ein „Gewissen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Tradition will sich eben vor allem (auch) historisch, faktisch fundiert verstanden sehen, und belegbar. Sie ist zu rationaler Erkenntnis, damit zur Diskutabilität voll geöffnet. Sie „steht“ nicht (nur), sie „kann auch anders“ – jeweils anders begründen, als Fundament tragen – oder ein solches zerbrechen – all das, was moralische Überzeugung sich versagen muss. Von ihr fällt damit aber auch jene Bestreitbarkeit ab, welche die „Verfassungswerte“ so oft zu einer Belastung für die demokratische Staatsform werden lässt, vor allem für ihre Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Hier sind nun nicht mehr die religiösen Zweifel spürbar, unter welchen das Naturrecht stets zu leiden hatte. Der Rationalismus der Aufklärung, der großen geistigen Bewegung vor allem in der Entwicklung des Staatsrechts, setzt sich durch in der historischen Feststellbarkeit der Traditionsinhalte als Werte. Die besondere Bedeutung und damit zugleich das „Wertepotenzial“ der Tradition liegt dabei in der bereits erwähnten „historischen Demokratizität“. Sie bezieht Entscheidungen vieler früherer Generationen ein, wie dies nach Art. 20 a GG zugunsten der künftigen Generationen geschehen und damit „wertkonstitutiv“ wirken soll. Zugleich wird hier eine Flexibilität in der Inhaltsbestimmung der Werte möglich, ein weiteres, zugleich rechts-technisch wirkendes Traditions-Charakteristikum; damit entgeht das Herkommen dem Vorwurf eines „engen, glaubensmäßigfundamentalistischen Wertediktats“. Alles ist ja im Grunde „traditionsfähig“ in der Gemeinschaft, und zu jeder Zeit. Eine weitergehende Gewährleistung der „Offenheit“ als die der „Übernahme“, der Weiterführung von Traditionen ist kaum möglich. Tradition transformiert „grundsätzlich alles“ in eine Werthaltigkeit rechtlicher Regelungsgegenstände, mit einem Bedeutungsrang, der eben der Normstufe der Verfassung entspricht. In all dem zeigt sich Tradition also als ein geradezu idealer Weg der Inhaltsbestimmung von „Verfassungswerten“.

3. Grenzen der Bestimmung von Verfassungswerten durch Tradition „Tradition“ ist jedenfalls ein „Anhalt“ im wahren Wortsinn, für die so problematische Inhaltsbestimmung von „Verfassungswerten“. Dabei sollte aber nicht verkannt werden, dass dem auch verfassungsimmanente Grenzen gesetzt sind.

V. Exkurs: „Verfassungswerte“ und Tradition

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a) „Tradition“ darf nicht zu einer demokratischen Form der „historischen Divinisierung“ durch Verfassungswerte werden. Sie zeigt immer nur (mögliche) Gegenstände einer fortgesetzten, breiten, mehrheitsübergreifenden Akzeptanz. Das fundamentale, allseitige Änderungsrecht der politischen Mehrheit in der Demokratie darf nicht unterlaufen werden, indem „Tradition“ zu etwas gerät wie einer fortwirkenden Institutionalisierung einer (angeblichen) „schweigenden Mehrheit“ als Verfassungsorgan, welche in Form eines fortdauernden „historischen Konsenses“ spricht, der dann vielleicht gar gegenwärtigen Mehrheitswillen überspielt. Von diesem politischen Willen muss zwar stets Ausdrücklichkeit, Klarheit und Festigkeit verlangt werden, wenn er „mit Tradition bricht“, ausgeschlossen darf seine Wirkung aber nicht werden durch die Tradition als solche; allenfalls geht von ihr ein Zwang auf die Mehrheit aus, Änderungen derselben mit einer besonders hohen Majorität zu beschließen, sie in Eindeutigkeit zu vollziehen, womit dann übrigens einem Gebot der Rechtsstaatlichkeit entsprochen wird. Änderungsresistenz von Verfassungswerten darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der – weit geringeren – Festigkeit und Eindeutigkeit der Traditionen. b) „Verfassungswerte“ lassen sich nicht wesentlich, überwiegend oder gar ausschließlich in Tradition bestimmen; dies schlösse – realitätsfern – jede Art von Revolution aus rechtlicher Betrachtung aus. Herkommen hat zwar stets ein, oft wesentlich zeitbestimmtes, Gewicht. Es wird jedoch in Grenzen gehalten, ja verdrängt durch neue Überzeugungen, in denen veränderte Umstände zu berücksichtigen sind. Die Überzeugungskraft „neuer Werte“ zeigt sich allerdings gerade erst, in voller Klarheit, auf der Folie des Hergebrachten. Darin ist diesem eine kontrollierende, ja konstrastierende Werthaltigkeit eigen, bis hin zu einer „negativen Wertebedeutung der Tradition“. Dies wird, in vielen Fällen, zu einem „in dubio pro traditione“ führen, in welchem eben das Gewicht des Bewährten wirkt. Darin mag auch Ermüdung sich zeigen, ja Dekadenz137, sie darf aber nicht von vorneherein vermutet werden, sie ist zu beweisen; denn Geschehenes hat seinerseits im Recht, schon nach dessen allgemeinen Grundsätzen, stets die besondere Beweiskraft der Tatsachenwirkung, sie muss sich im Einzelfall durch einen „Nachweis der Ungleichheit der Lagen“ für die Zukunft widerlegen lassen. Gerade in ihren Entstehungsvorgängen zeigt aber die Tradition doch durchgehend eine Flexibilität, die sie sich zwar stets bewahren muss, die aber ihren Einsatz nicht grundsätzlich als eine Antithese zur „Offenheit“ erscheinen lässt, gerade nicht auf der hohen Ebene der Verfassungswerte. c) Diese Erkenntnisse bewahren auch davor, das Herkommen allein oder auch nur in der Regel als eine Gefahr des rechtlichen Immobilismus zu sehen, vor allem in ihrer Wirkung über „Verfassungswerte“. Diese sind, gerade im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 137 Ein Niedergang, dem der Fortschritt belebend entgegenwirkt, vgl. dazu oben A. III. 1., C. II. 2.

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D. Tradition und Grundgesetz

GG, in bisheriger Staatspraxis derart zurückhaltend bemüht worden138, dass nicht zu besorgen ist, es könne damit „Demokratie entdynamisiert werden in Traditionalismus“. In einer Zeit immer radikalerer Ökonomisierung139 aller menschlicher Bezüge steht schon allgemein nicht zu befürchten, es würden Verfassungsprinzipien oder gar Verfassungswerte dem drängenden Fortschritt in rasch wechselnden (wirtschaftlichen) Interessenlagen blockierend entgegenwirken. Hier liegen auch die eigentlichen, die überaus effektiven Schranken der Wirksamkeit einer Tradition als Verfassungsbegriff: Gerade über jene Verfassungswerte, die doch zunehmend in wirtschaftlicher Interessenwahrnehmung aufgehen oder von dieser überspielt werden, lässt sich „der Fortschritt ohnehin nicht aufhalten“ – allenfalls grenzkorrigieren. An einer oft beklagten Traditionslosigkeit kann keine verfassungsrechtliche Wertewelt mehr ändern als – gelegentlich – etwas von einigem grundsätzlichen Gewicht …

VI. Verfassungsgrundentscheidungen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie) und Tradition 1. Vorbemerkungen zum Folgenden: Grundfragen an Regelungen des geltenden Verfassungsrechts zu ihrem „Traditionspotenzial“ a) Tradition hat sich, auf Grund der bisherigen Ergebnisse, mehr eingrenzend ja negativ beschreiben als positiv definieren lassen, in ihren möglichen, typischen Inhalten. Immerhin sind solche ebenso deutlich geworden wie Grundzüge ihrer Wirkungen im Rechtsbereich140. Diese inhaltlichen Konstitutiv- wie wirkungsmäßigen Effektivelemente der „Tradition im Staatsrecht“ sind nun auf dessen Regelungen nach geltendem Verfassungsrecht anzuwenden, die grundgesetzliche Ordnung als Beispiel. Hier kann dies nur bei schwerpunktmäßig-exemplarisch ausgewählten Normkomplexen und in allgemeinerer Form versucht werden. b) Das so zu bestimmende „Traditionspotenzial“ des jeweiligen Regelungsbereichs ist dabei jeweils in einer gegliederten Fragestellung zu untersuchen: – Die einzelnen Regelungsbereiche, Inhalte, Aspekte der verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind jeweils darauf zu überprüfen, wie weit sich gerade bei ihnen „Traditionsnähe“, Traditionsoffenheit zeigt, ausgehend selbst von einzelnen ihrer (Unter-)Begrifflichkeiten. Dies ist sodann in seinem Gewicht für den jeweiligen Gesamtbereich zu überprüfen und es ist dessen Traditionsneigung als solche auf diesem Wege festzustellen. Hier kommt eindeutig Induktion zum Einsatz. 138

Zur Zurückhaltung beim bisherigen Einsatz von „Verfassungswerten“ im geltenden Recht über Art. 79 Abs. 3 GG vgl. FN 126. 139 Zu Tendenzen einer „Ökonomisierung“ des Staatsrechts s. Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip, S. 18 ff. m. Nachw. 140 Vgl. oben B. III.

VI. Verfassungsgrundentscheidungen und Tradition

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– Der jeweils als Untersuchungsgegenstand gewählte oder bereits, vor allem in wissenschaftlicher Tradition, vorgegebene größere Gesamt-Bereich ist sodann darauf zu überprüfen, ob sich für ihn als solchen „Traditionsentwicklungen“ bereits, oder gar seit langem, von jeher erkennen lassen. Dies wiederum kann als Ergebnis der eben erwähnten Induktion aus Einzelbereichen festgestellt werden, wie auch in einer Globalbetrachtung; diese letztere wird in einer gewissen Deduktion zu erfolgen haben. c) Induktive wie deduktive Methode141 verbinden sich so bei der Ermittlung des jeweiligen Traditionspotenzials der staatsrechtlichen Regelungsbereiche. Diese lassen sich, wiederum „stufenmäßig“, „hochrechnen“ zu einer größeren, weiter ausgreifenden staatsrechtlichen Traditionsbedeutung des Herkommens als solchen. Auf dieser dritten Stufe ist mit besonderer Vorsicht und Zurückhaltung zu verfahren. Ob darüber eine vierte Stufe erreichbar ist, in der Aussagen „über eine Traditionsneigung des Staatsrechts“ als solchen, oder doch der grundgesetzlichen Ordnung, möglich erscheinen, muss an dieser Stelle noch offen bleiben. Letztlich kann es sich nur als ein Ergebnis einer Vielzahl von staatsrechtlichen Einzeluntersuchungen zeigen. Sie müssen in klarem Traditionsbewusstsein in der Sache durchgeführt werden, nicht aber in politisch geprägtem „Traditionalismus“ oder in einer (anti-) traditionalistischen Voreingenommenheit. Diese methodischen Leitlinien gelten für alle im Folgenden angesprochenen Bereiche.

2. Rechtsstaatlichkeit a) Die Anwendung dieser Grundsätze auf das Rechtsstaatsprinzip zeigt bereits eine typische Problematik, zugleich aber auch die Bedeutung einer Untersuchung der Tradition als eines möglichen Verfassungsbegriffs, oder doch eines rechtlichen Beurteilungskriteriums für die grundgesetzliche Ordnung142. Gerade das Rechtsstaatsprinzip wird ja gemeinhin, neuerdings auch im Europäischen Recht, als eine typisch „deutsch-rechtliche Rechtsfigur“ angesehen; dies kann nun auch, wenn nicht gar schwerpunktmäßig, als ein Verweis auf eine „deutsche Rechtstradition“ verstanden werden, in der sich gerade diese Rechtskategorie entwickelt habe. Eine Betrachtung in diesem Sinn zeigt jedoch, dass hier Zurückhaltung, jedenfalls Differenzierung, wenn nicht gar grundsätzliche Traditionsskepsis angebracht ist. b) Der Annahme eines Traditionspotenzials der Rechtsstaatlichkeit als solcher stehen nicht so sehr fehlende Dauer und Kontinuität im rechtlichen, ja zunehmend 141

Zum Methodenproblem von Induktion und Deduktion, auch in diesem Zusammenhang, vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 82 ff. 142 Zur Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit vgl. den Überblick über die grundgesetzliche Entwicklung und die Inhalte dieses Prinzips bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. A., 2010, Art. 20 RN 226 ff. m. Nachw.

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D. Tradition und Grundgesetz

auch „rechtstechnischen“ Einsatz dieser Rechtsfigur entgegen. Immerhin wird der Begriff ja seit mehreren Generationen zumindest in gleicher Begrenzungs- und Grundlegungstendenz verwendet, und auch in einer dogmatischen Prinzipialität, welche ihn wenn nicht einer formalen, so jedenfalls einer Verfassung im materiellen Sinn zuordnen lässt143. In diesem langen, insgesamt jedenfalls ausreichend „traditionsbildenden“ Zeitraum ist auch eine – mit kürzeren Unterbrechungen – kontinuierlich zunehmende rechtliche Überzeugungskraft der Rechtsstaatlichkeit im deutschrechtlichen Verfassungsraum feststellbar. Es fehlt ihr jedoch bereits eine inhaltliche Geschlossenheit in ihrer rechtlichen Wirksamkeit, wie sie zur Entfaltung einer „Tradition der Rechtsstaatlichkeit als solcher“ unabdingbar wäre. Dies zeigt sich bereits äußerlich in den Versuchen, den Begriff auf verschiedene Aussagen im Verfassungstext zurückzuführen, ihn aus einer „Zusammenschau“ von Bestimmungen des Grundgesetzes abzuleiten. Deutlicher noch ergibt es sich aus der Entwicklungsgeschichte des Rechtsstaats144, die diesen geradezu als einen „Begriff in fieri“ erscheinen lässt145, schon vor dem Erlass des Grundgesetzes: vom allgemeinen Bezug auf die Ordnungskraft des Rechts (Robert von Mohl) über die Betonung von dessen gesetzlichen Grundlagen im Parlamentsrecht (Rudolf von Gneist), über die Erkenntnis der – verschiedenen – „Komponenten“ der Rechtsstaatlichkeit nach 1945 (Richard Thoma). Nach der „Konstitutionalisierung der Rechtsstaatlichkeit“ verstärkte sich noch entscheidend die Differenzierung dieser Elemente und ihre Konkretisierung, in Verfassungsdogmatik und vor allem Verfassungsjudikatur. Genannt seien nur die Bindung der Verordnungsgewalt (Art. 80 GG), „Gesetzliche Grundlagen“ und „Vorbehalt des Gesetzes“, Klarheit und Bestimmtheit des Rechts, Vorhersehbarkeit und Rückwirkung. In all dem mag eine größere Tendenz erkennbar sein: Verstärkung von Wirkung und Klarheit des Gesetzes, Legalität also in einem weiten Sinn. Doch diese Wirkungen sind derart verzweigt, ihre Aspekte so heterogen, in beidem ist Rechtsstaatlichkeit derart in Bewegung, dass allenfalls die Entfaltung verschiedener Traditionen rechtsstaatlicher Begrifflichkeiten konstatiert werden kann, nicht aber „eine Tradition der Rechtsstaatlichkeit als solcher“. d) Bestätigung findet dies in einer Betrachtung einzelner Komponenten oder (auch nur) Elemente dieses Global-Begriffs: Ein gewisses „Traditionspotenzial“ mag noch in der Entwicklung der Bindungskraft von „Zweck-Inhalt-Ausmaß“ gegenüber der Verordnunggebung146 feststellbar sein, unter Rückgriff auf längere 143

Vgl. Sommermann (FN 142), RN 232 ff. Zur rechtlichen Geschlossenheit s. Sommermann (FN 142), RN 227, unter Hinweis auf Kunig, Ph., Das Rechtsstaatsprinzip, 1986 sowie die „Zusammenschau-Judikatur“ des BVerfG. 145 Sommermann (FN 142), RN 228 ff. 146 Zur Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit im Bereich von Art. 80 GG (Zweck, Inhalt, Ausmaß) vgl. Brenner, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 6. A., 2010, Art. 80 RN 36 ff. – Tradition kann hierbei Bedeutung gewinnen vor allem insoweit, als der Gesetzgeber ein „Programm“ vorzugeben hat (vgl. etwa BVerfGE 58, 257 (277)), so dass die Wirkungen der 144

VI. Verfassungsgrundentscheidungen und Tradition

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Entwicklungen der „Legalität“ im französischen und deutschen Verwaltungsrecht. Schon die Gebote rechtlicher „Bestimmtheit und Klarheit“147 verlieren weithin ihre Konturen in einer Allgemeinheit, welche sich auch auf immer neue Rechts-, insbesondere Gesetzgebungsschübe, vor allem auf unvorhergesehene technisch-naturwissenschaftliche Entwicklungen einzustellen hat148. Hier erhebt sich geradezu die Grundsatzfrage, ob aus derart heterogenen Konstellationen überhaupt noch Induktion zu einem „Rechtsstaatsbegriff“ möglich ist. Umgekehrt wird (damit) dessen deduktiv-direktive Ordnungskraft ebenfalls zunehmend problematisch. Der zentrale Gesetzesbegriff als solcher folgt immer spezielleren Entwicklungen des Gesetzgebungs-Verfahrens-, ja des Parlamentsrechts. Die Gewaltenteilung verschiebt sich mit jeder verfassungsorganisatorischen Reform, in immer rascherer Kadenz, ja sogar entsprechend der Rechtsprechungsbedeutung der Verfassungsjudikatur. e) Fast mag es also scheinen, als sei hier nicht „Tradition in Auflösung“, als habe es vielmehr insoweit „Tradition nie gegeben“, stets nur einzelneVerfassungsentwicklungen. Traditionspotenzial könnte sich dann, allenfalls, entwickeln aus einer immer stärkeren Systematisierungskraft der Verfassungsdogmatik149 in Richtung auf eine Induktion aus Komponenten der Rechtsstaatlichkeit, die dann sogar in Deduktion umschlägt. Wer darauf hofft, muss auf verstärkte verfassungsrechtliche Schulenbildung setzen, vor allem aber auf energische, systematisierende Verfassungsrechtsprechung, die sich vor allem bei Abschwächung politischer Gesetzgebungskraft entfalten könnte. Da mag Hoffnung sein auf Traditionspotenzial, vielleicht auch nur auf institutionelle Ermüdung der Parteien- oder parlamentarischen Demokratie. Eines aber ist – gegenwärtig zumindest – hier nicht feststellbar: Verfassungsrechtliche Klarheitsverstärkung durch „rechtsstaatliche Tradition“ als solche.

3. Demokratie a) Dem Demokratieprinzip wird zwar eine gewisse verfassungsrechtlich-normative Verbindlichkeit weithin zuerkannt150, die sich sogar in ihrem Begriffskern bis Verordnung vorhersehbar sein können und müssen (vgl. etwa BVerfGE 56, 1, (12)). Dies lässt sich eben, vor allem, auch unter Rückgriff auf das Herkommen ermitteln. 147 Zur besonderen Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die notwendige Klarheit und Bestimmtheit des Rechts s. Sommermann FN 142, RN 294 ff. 148 Hier stellen sich all die bereits oben A. II. 1. angesprochenen Fragen. 149 Dafür mag das verfassungsrechtliche Denken in „Folgerichtigkeit“, aber auch die Entfaltung von Gesetzgebungstraditionen Ansatzpunkte liefern – induktiv. Der Begriff der „Grundentscheidung des Gesetzgebers“ findet sich neuerdings vor allem im Steuerrecht, etwa bei der Frage der Anerkennung eines „objektiven Nettoprinzips“, vgl. dazu Leisner, A., Finanzrecht 2006, 2018; dies. DStZ 2010, 185; 673. 150 s. dazu grdl. Böckenförde, E.-W., Demokratie als Verfassungsprinzip, HBStR3 Band 2, 2004, § 25.

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D. Tradition und Grundgesetz

zu rechtlicher Unabänderlichkeit steigern soll151. Doch selbst ihr („traditioneller“) Verdeutlichungsversuch im Text des Grundgesetzes – „alle Gewalt geht vom Volke aus“ – ist, formal-kompetenzmäßig wie inhaltlich, derart allgemein152, dass sich das rechtliche Gewicht des Grundsatzes schwer auch nur mit einiger Präzision bestimmen lässt. Je weiter eine „Demokratietheorie“ vorzudringen versucht – oder ausufert –, in Staatsrecht und Politik, desto weniger klar lässt sich diese Staatsform verfassungsrechtlich bestimmen, und sei es auch in der rechtlich erforderlichen elementaren Verdeutlichung. Dies mag Demokratie zwar wiederum als besonders konkretisierungsbedürftig, damit „zur Tradition geöffnet“ erscheinen lassen, zugleich aber erschwert es entscheidend ein derartiges Roots-Seeking, bei dem meist nicht einmal Bedeutung und Wesentlichkeit der einzelnen Wurzeln noch erkennbar ist. Soll hier geforscht werden nach Traditionen „direkter“ oder „repräsentativer“ Volksherrschaft, parlamentarischer oder Präsidialdemokratie? Wenn denn Wahlen und Abstimmungen entscheidend sind – in welchem Verfahren, in welchen überstaatlichen, föderalen, kommunalen Räumen soll sich all dies bestimmen? Gerade die historischen Mutterländer der Demokratie, Schweiz und England, USA und Frankreich, zeigen zu fast all dem derart unterschiedliche, neuerdings „floatende“ staatsrechtliche Traditionen, dass es als fraglich erscheint, ob ein verfassungsrechtliches Herkommen hier je mehr und anderes sein kann als Ergebnis einer wahrhaft terrible simplification. Neueste Versuche, „Demokratie“ als weltumspannenden Überbegriff in politischer Reklame einzusetzen, haben diese Verunklarungen eher noch gesteigert. Wer beruft sich heute nicht auf Demokratizität, mit welcher Begründung immer? Hier sind alle Flexibilitätsgrenzen längst überschritten. Allenfalls gibt es noch „Demokratie im Sinne von …“ einer Vielzahl von Traditionen. Kann Tradition dann aber überhaupt noch ihre zentrale Funktion erfüllen, die einer rechtlichen Verdeutlichungsquelle, wird sie nicht eben hier zu einem – weiteren – politischen Zankapfel in der „Demokratiediskussion“? b) Die Demokratische Staatsform bietet in ihrem zentralen inhaltlichen Gebot, der Souveränität (auch) des ständig sich wandelnden, alles jederzeit in Frage stellenden oder ändernden Volkswillens, geradezu eine prinzipielle Gegenthese zu Traditionalität. Dies wurde bereits deutlich153. Es gilt dies zwar vor allem für die inhaltlichen Ergebnisse ihrer Machtausübung, schließt Herkommen hinsichtlich von deren Äußerungsformen nicht grundsätzlich aus, etwa Kombinationen von Wahl- und Abstimmungsdemokratie. Doch auch dieses Wahlrecht steht grundsätzlich zur Disposition des Volkssouveräns, wie auch dessen nähere Bestimmung im „Volksbe151

Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 79 RN 43 ff. Die Formulierung „geht vom Volke aus“ stellt die beiden Grundfragen: Wer ist dieser Macht-Ursprung – und damit der Machtträger? Und: Wie geht die Macht von ihm aus? Vgl. dazu Leisner, W., Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän?, 2005, zum ersteren Problemkreis S. 42, zum letzteren S. 106 ff. 153 Vgl. oben A. III. 2. Inwieweit eine gewisse Verstetigung allerdings nicht doch durch „Parteientraditionen“ – bis hin zur Ideologie – erfolgt, ist eine Frage von Gewicht; sie muss aber gesonderter Behandlung vorbehalten bleiben. 152

VI. Verfassungsgrundentscheidungen und Tradition

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griff“154. Gerade hier haben sich besonders deutliche „antitraditionalistische Entwicklungen“ gerade im vergangenen Jahrhundert gezeigt; erinnert sei an „Vermögenswahlrecht“, Frauenwahlrecht, Wahlalter, Ausländerwahlrecht. Es gibt nur wenige Bereiche des Staatsrechts, in denen „Herkommen“ so wenig Eindeutiges bedeutet (hat) wie gerade im demokratiezentralen Wahlrecht. Insgesamt ist Demokratie eindeutig weit eher eine „Staatsform grundsätzlicher Gegenwärtigkeit“, ja Diskontinuität155 als eine traditionsoffene oder gar -geneigte Regierungsform. Ihre Angleichungsfähigkeit an, Aufnahmefähigkeit von „modernen Entwicklungen“ wird denn auch allgemein anerkannt und als solche besonders geschätzt. Dass dem gegenüber der ihr wesentliche Verfassungsbegriff doch eine gewisse normative Festigkeit gewährleistet, ja zum Auffangbecken auch vielfältiger Traditionsströmungen werden kann156, mag dieser antitraditionalistischen Verfassungsgrundstimmung in ihrer Wirksamkeit Schranken ziehen; es macht Demokratie als solche aber nicht zu einer „Staatsform der Tradition(en)“, eher zeigt sie sich eben doch als deren Gegenbild. Wo immer in ihr auf Hergebrachtes zurückgegangen wird, geschieht dies mehr in ideengeschichtlicher Rechtfertigung als in staatsrechtlichinstitutionell verfestigtem Rückgriff. c) Die demokratische Staatsform bedeutet jedenfalls eine eindeutige Absage an jede Form dessen, was als „Feudalismus“ in einem weiten Sinn, bis hin zur historischen Aristokratieformen, bezeichnet werden kann. Dies gilt insbesondere auch in Verbindung mit einem, wie immer näher zu bestimmenden, Begriff eines „Republikanismus“157. Dabei mag offen bleiben, ob dieses letztere „Verfassungsprinzip“ Erblichkeit in der Funktion des Staatsoberhaupts im Sinne einer Monarchie begrifflich ausschließt, oder es nur unter den Vorbehalt eines demokratisch gesetzten Verfassungsrechts stellt. Jedenfalls zeigt historische Betrachtung klar: Das monarchische Prinzip ruht seinem Wesen nach auf Tradition, wie sie sich in familiärem Herkommen zeigt. Nicht aus der Existenz eines Familienverbunds als solchem allein zieht zwar die fürstliche Gewalt ihre Rechtfertigung, wohl aber, grundsätzlich sogar primär, aus der in diesem weitergetragenen Tradition. Dass „Demokratie“ rechtlich einem solchen Herkommen in volkssouverän bestimmtem Verfassungsrecht normativ übergeordnet ist, mag die Wirksamkeit des Hergebrachten im Staatsrecht nicht völlig ausschließen; das Gewicht der Tradition als solcher wird aber durch „Demokratisierung der Monarchie“ oder gar radikal eine solche ausschließenden Republikanismus jedenfalls entscheidend beeinflusst. Gleiches gilt für alle „aristokratisierenden“ staatsrechtlichen Formen, wie etwa organrechtliche Kooptationsgestaltungen, ja auch abgeschwächte Mitwirkungsmöglichkeiten von Organträgern 154

Zum „Volksbegriff“ vgl. Leisner (FN 152), S. 42 ff. Zur Demokratie als Staatsform der Diskontinuität vgl. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 390 ff. 156 Vgl. oben A. IV. 157 Zum „Republikanismus“ s. näher Gröschner, R., Die Republik, Handbuch des Staatsrechts3 Band 2, 2004, § 23. 155

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D. Tradition und Grundgesetz

in der Funktion einer Bestellung von weiteren „Kollegen“, von Hochschulen bis zu Gerichten. In all diesen Bereichen entfaltet „Bisheriges“ eine im Einzelnen meist gar nicht erkannte Bedeutung. Was ist dies anderes als ein Wirken von Tradition, positiv oder auch negativ? All dies bleibt aber eben dann doch in der Demokratie in engen, oft sogar zufällig-organisationsrechtlichen Formen. d) Die Gleichheit erreicht in der demokratischen Staatsform ganz allgemein besondere staatsrechtliche Bedeutung158, sie steigert sich in ihr ständig, geradezu notwendig, im überwiegenden Wahlgewicht der Schwächeren; daraus entfaltet sich dann dynamisch ein „Schwächerenschutz“, unter Berufung auf eine einebnend verstandene Sozialstaatlichkeit159. Gleichheit bringt gewiss auch traditionell verfestigte Regelungselemente zum Tragen; beschworen wird ja hier, sozialpolitisch sogar besonders intensiv, die „Tradition der Arbeiterbewegung“ gerade mit ihrem normativen, notwendigen Entwicklungsanspruch, bis hin zu Vorstellungen einer Einbahnstraße zu immer mehr Egalität. Dennoch verläuft dies im Wesentlichen in Fortentwicklungen, nicht (so sehr) in Rückkoppelung auf eine wie immer verstandene konkretere staatsrechtlich bereits wirksame Tradition160 ; hier öffnen sich eben doch Einbahnstraßen, nicht Rundblicke (auch) auf Hergebrachtes. Diesem ist stets eine Differenziertheit eigen, die sich in den „Ablagerungen einer Tradition“ aufbauen mag, insgesamt aber eben auch Unterschiede verfestigt, sie nicht nur in Tendenzen zusammenfasst und aufhebt. Die Gleichheit als eine wesentlich mit der Demokratie verbundene Grundentscheidung des Grundgesetzes, die sich in dieser Ordnung über Wahlen immer mehr durchsetzt, verstärkt also jedenfalls nicht eine „wesentliche Traditionsneigung“ dieser Staatsform, wirkt ihr vielmehr deutlich entgegen. Zu den staatsformbestimmenden Grundentscheidungen des Grundgesetzes lässt sich also insgesamt feststellen: Sie mögen gewisse Traditionen in sich und diese auch weiter-tragen; als solche begünstigen sie aber nicht, wesentlich oder gar entscheidend, eine „Traditionalität“ der grundgesetzlichen Ordnung im Sinne einer prinzipiellen Potenzialität. Eine solche kann sich jedoch aus einzelnen, insbesondere „systemtragenden“ verfassungsrechtlichen Regelungen ergeben und daraus auch auf die gesamte Ordnung des Grundgesetzes ausstrahlen.

158 Zur Selbstverstärkung des „Dynamik der Gleichheit“ vgl. Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, 1989, S. 110 ff. (Herrschaftsverstärkung mit egalisierenden Mitteln), durch Normativismus (S. 117 ff.), in Gleichheitsstufen (S. 136 ff.), über Chancengleichheit (S. 143 ff.), 2. A., in: ders. Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 199 ff. an entspr. Stellen. 159 Obwohl dies keineswegs ihre einzige „Komponente“ ist – vgl. Sommermann zum Sozialstaat (FN 142), RN 103 ff.: zur Freiheitlichkeit in diesem Zusammenhang. 160 Egalität steht dem Fortschritt weit näher als der Tradition, vgl. etwa Art. 3 Abs. 2 Satz 2, den Auftrag zur Änderung bestehender Verhältnisse. Eine Durchsetzung der Gleichheit mit staatlicher Macht, in diesem Sinn, bedeutet eine Frontstellung gegen bisherige Tradition; in Zukunft sollen Frauen eben „nicht mehr benachteiligt werden“.

VII. Grundrechtstraditionen

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Vor den folgenden Abschnitten zu einzelnen Regelungsbereichen des geltenden Verfassungsrechts ist zu bemerken: Hier kann keine Einzelanalyse des jeweiligen Traditionspotenzials geboten werden. Die Darstellung muss sich auf Beispiele beschränken und Ordnungslinien aus allgemein anerkannten dogmatischen Feststellungen zu den einzelnen Bereichen zu Grunde legen.

VII. Grundrechtstraditionen 1. Allgemeines: „Grundrechtstraditionen“ als „Verfassungs-Traditionen“ a) Die Frage nach „Tradition im Verfassungsrecht“ muss sich begrifflich auf das Traditionspotenzial gerade der „Normstufe Verfassung“ konzentrieren und auch beschränken. Wo von einer Verfassung – in welchem Verständnis immer – nicht die Rede sein darf, kann auch eine Tradition nichts zu deren Geltungsformen und -inhalten beitragen, eine solche „Rechtslage des politischen Machtrechts“ jedenfalls nicht bestimmen. Nun mag man zur „Entstehung“, zu „Vor- und Vollformen einer Verfassung“ unterschiedliche Auffassungen vertreten. Für die grundgesetzliche Ordnung jedenfalls ist aber von einem Begriff der Verfassung im formellen Sinn auszugehen: Besondere Verfahrensformen ihres Erlasses wie ihrer Fortentwicklung bestimmen den Verfassungsbegriff (Art. 79, 146 GG), insbesondere in seinem, entscheidenden, normativen Rang, damit in der ihm eigenen Rechtswirkung, grundsätzlich im Sinn der kelsenianischen Stufentheorie. b) Von einer „Verfassung des Staates im materiellen Sinn“ mag, jenseits eines solchen materiellen Verständnisses, zwar auch die Rede sein, vor allem in historischer Betrachtung. Abgesehen davon aber, dass dieser Begriff, gerade in letzter Zeit eher zurücktritt, jedenfalls keine überzeugende Verdeutlichung (mehr) hat gewinnen können161: von unterschiedlichem Gewicht ist er gerade mit Blick auf die beiden – traditionellen – Hauptbereiche verfassungsrechtlicher Regelungen: Staatsorganisationsrecht und Grundrechte. Während von einer Verfassung im organisationsrechtlichen Sinn unter Umständen auch (schon) überall dort gesprochen werden kann, wo eine Ordnung öffentlicher Macht in der Gemeinschaft in rechtlich fassbaren Formen feststellbar ist, stellt eine „Verfassung in Form von Freiheitsschutz“ eben doch eine rechtstechnisch besondere Gestaltung dar. Sie kann, muss aber nicht begriffsnotwendig, mit einer Verfassung im organisationsrechtlichen Sinn einhergehen, welche auch als solche bereits einen gewissen Freiheitsschutz gewährleisten mag. Verfassung im organisationsrechtlichen Sinn ist also eindeutig der weitere Begriff, vor allem in historischer Sicht. Und dies gilt auch etwa für eine „Verfassung 161 Zum Begriff der „materiellen Verfassung“ s. etwa Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre, 3. A. 1929, S. 534; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. A. 1984, S. 72 f.; Unruh, P., Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 13 ff.

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D. Tradition und Grundgesetz

im materiellen Sinn“: auch sie erscheint auf einem viel weiteren Begriffsfeld, historisch wie „rechtstechnisch“ betrachtet, wenn „Verfassung“ sich (bereits) als ein organisationsrechtlich fassbarer Zustand begreifen lässt, der einen Schutz von Menschen- und Bürgerrechte jedenfalls nicht notwendig beinhaltet. c) „Grundrechtstraditionalität“ kann also – jedenfalls in dieser, weithin ihrerseits traditionellen verfassungsrechtlichen Sicht – nicht der erste und wohl auch nicht der zentrale Anknüpfungspunkt sein bei der Suche nach einem „Traditionspotenzial im Verfassungsrecht“. Nur wenn man den Verfassungsbegriff speziell auf ein Zentrum des Freiheitsschutzes ausrichtet162, sind die Grundrechte die primären, jedenfalls die wichtigsten Träger einer „Traditionspotenzialität“; bei ihnen muss dann die Suche nach einer Verfassungstradition einsetzen. Ein derartiges Verständnis muss allerdings der grundgesetzlichen Ordnung nach der Präambel unterlegt werden; deshalb ist auch zunächst die Untersuchung bei den Regelungsbereichen der Grundrechte zu beginnen. Dabei muss aber bewusst bleiben, dass sich „Traditionalität“, jedenfalls in historischer Sicht, ganz im Gegenteil, wohl leichter und historisch primär für und in staatlichen Gesamtordnungen feststellen lässt, die den Schutz von Bürgerfreiheiten nicht als solchen gewährleist(et)en; die „Feudalregime“ mit ihrem wesentlichen Bezug zur Familientradition, ja die meisten aristokratischen Regierungsformen im aristotelischen Sinn bieten für Letzteres hinreichend Beispiele.

2. Traditionspotenzial der Grundrechte nach deren freiheitsschützendem Gehalt a) Historischer Horizont der Grundrechtswirkungen aa) Bei der Beurteilung der Zeitlichen Dauer als Voraussetzung für ein Herkommen ist zunächst das rechtliche Wesen der Grundrechte zu bestimmen, für welches eine derartige temporäre Bedeutung angenommen werden soll. Hier kann nur die Abwehrfunktion der Freiheitsrechte in deren „liberalem Verständnis“ eines Schutzes des Bürgers gegen einseitig-hoheitliche Staatsgewalt zugrunde gelegt werden. In diesem Sinn, in welchem, von jeher, die h. L. den Primat des Status negativus für den Grundrechtsschutz163 zugrunde gelegt hat, gewinnt dieser hier einen spezifischen dogmatischen Sinn: Diese Grundrechtsfunktion ist der engste,

162 Vgl. etwa die Grundrechtserklärung vom 03. 09. 1791 in der damaligen Französischen Verfassung, Art. 16, in welcher ausdrücklich festgestellt wird, dass eine Gesellschaft, in welcher die Grundrechte nicht garantiert seien und die Gewaltenteilung nicht festgelegt sei, „keine Konstitution“ hat. 163 Zum Primat des Status negativus, der Abwehrfunktion der Grundrechte, vgl. grdl. Jellinek, G., System der subjektiven Öffentlichen Rechte, 2. A. 1919, S. 87, 94 ff.; Remmert, B., in: Maunz/Dürig, GG Stand 2012, Art. 19 Abs. 2 RN 42 ff.

VII. Grundrechtstraditionen

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zugleich aber auch der am besten fassbare Rahmen für die Bestimmung eines Traditionspotenzials im Grundrechtsbereich. bb) Im Sinne einer bewussten, ja gezielten Erfassung und Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes in einem Status negativus mögen Ausgangspunkt und Beginn einer „Grundrechtstradition als solcher“ – wieder mit verbreiteter Anschauung – in der Magna Charta von 1215 gesehen werden. Weitere wesentliche Entwicklungsstationen werden herkömmlich in der Bill of Rights von 1689, den amerikanischen Grundrechten sowie, und vor allem, bei den Französischen Revolutionsverfassungen nach 1789 angenommen. Von allgemeinem, verfassungsgeschichtlichem wie -dogmatischem Konsens getragen ist ferner die traditionsbildende Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung164 für die Grundrechte allgemein. Letzteres gilt besonders für die Suche nach einer „Deutschen Grundrechtstradition“, auch im Sinne der grundgesetzlichen Ordnung, welche als solche bereits mit den Grundrechten in den Verfassungen der Einzelstaaten ab 1818 (Bayerische Verfassung) einsetzt. cc) Die Suche nach einer verfassungskräftigen Tradition der Grundrechte führt also wohl, jedenfalls aus deren (Entwicklungs-/ Geltungs-)Dauer, zu einem positiven Ergebnis: Selbst unter Ausblendung individualschützender Rechtsphänomene in der Antike165 oder zu Beginn christlicher Traditionen166 und unabhängig von bedeutenden freiheitsschützenden einfach-gesetzlichen Regelungen, gibt es, zumindest in der Entwicklung einer Gerechtigkeitssuche durch unabhängige Gerichte, eine lange, politisch wirkmächtige Tradition des rechtlichen Freiheitsschutzes über viele Jahrhunderte. Spätestens seit der Renaissance steht dieser in der unbestritten bis in die Gegenwart sich fortsetzenden Tradition der Aufklärung. Im Sinne eines historisch feststellbaren, geistesgeschichtlichen Hintergrundes gibt es also etwas wie eine „allgemeine grundrechtliche Tradition“ in den sog. westlichen Ländern. b) Formen der rechtlichen Grundrechtsgewährleistung – „Grundrechtssystem“ Für die Feststellung einer Grundrechtstradition gerade im verfassungsrechtlichen Sinn kann dies jedoch nicht ausreichen. Hier muss auch, ja vor allem, nach einem Herkommen von Geltungsformen der Grundrechte gefragt werden, in denen sich eine derartige Grundrechtstradition entfaltet. Diese Suche kann sich an unterschiedlichen 164 Die sich ja nicht auf die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ beschränken muss. Immerhin hat die Grundrechtsdogmatik nach 1949 grundsätzlich und umfangreich an die am Ende der Weimarer Zeit herausgearbeiteten Grundsätze (vgl. Nipperdey, H. C., Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3 Bände 1929 ff.) angeschlossen. 165 Um nur den Prozess des Sokrates zu nennen, die Behandlung der geistigen Freiheit in Platons Apologie und Kriton. 166 Christus zu seinem Peiniger: „Habe ich aber recht geredet – warum schlägst du mich?“, Joh. 18, 22 f.

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Kriterien orientieren: Aufzählung oder übergreifende Systematik, Sanktionsformen der Normenkontrolle (i. Folg. c)), hinzu tritt dann noch eine Beurteilung nach dem jeweiligen inhaltlichen Geltungsbereich des Freiheitsschutzes. Die Katalogform der Aufzählung schützenswerter Freiheitsbereiche hat als solche eindeutig Tradition – unabhängig von den einzelnen Schutzzonen, welche jeweils gesichert werden sollen. Gerade die grundgesetzliche Ordnung folgt insoweit, seit nahezu zwei Jahrhunderten, angelsächsischen und französischen Vorbildern. Es mag sich damit die Frage stellen, ob mit dieser „Aufzählungsform“ eine „Tradition des Verzichts auf systematische Geltung der Grundrechte“ verbunden ist, also eine herkömmliche Absage gegenüber einem „Grundrechtssystem“. Eine solche Schlussfolgerung könnte sogar bis zu Vorstellungen von einem notwendig restriktiven Verständnis der Wirkung der Grundrechte als Folge des Ausnahmecharakters von deren inhaltlicher Geltung führen. Eine derartige Argumentation würde jedoch verkennen, dass die Problematik eines Grundrechtssystems nicht (allein) nach der Katalogform von deren Gewährleistung beurteilt werden darf. Entscheidend ist vielmehr, was eine dogmatische Durchdringung (jeweils) aus diesen Aufzählungen entfalten kann – eben in stärkerer oder zurückhaltender Systematisierung. Hier hat das deutsche Staatsrecht bereits in der Weimarer Zeit eine Führungsrolle übernommen167. In Günter Dürigs Konzeption eines verfassungsrechtlichen „Wert- und Anspruchssystems“, gegründet primär auf den Freiheitsrechten, ist schon eine Systematisierung der Grundrechte angelegt, damit die Überwindung eines selektionierend-einschränkenden Verständnisses der Freiheitsrechte168. Das Bundesverfassungsgericht hat dies, vor allem in seiner systematisierenden Rechtsprechung zur „freiheitlichen Grundordnung“169, ständig fortgesetzt. Für das Deutsche Staatsrecht jedenfalls ist also bereits von einer grundsätzlich eindeutigen Tradition systematisierter wie die Verfassungsordnung ihrerseits systematisierender Grundrechtlichkeit auszugehen.

167 Vgl. FN 164, sowie die neuen Impulse der Allgemeinen Staatslehre in der Weimarer Zeit, dazu Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 29 ff. Dies gilt auch für Carl Schmitt, jedenfalls negativ für seine kritischen Bemerkungen zu den Fragestellungen nach Grundrechten als Grundentscheidungen. 168 Vgl. Dürig in der Erstbearbeitung des Kommentars zum Grundgesetz von Theodor Maunz/Günter Dürig, Art. 1 Abs. 1 RN 5: „Das Wert- und Anspruchssystem des Grundrechtsteils der Verfassung“. 169 Eine überzeugende Systematisierung der Begriffe der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Art. 18, 21 Abs. 2 GG, von der h. L. gleichgesetzt mit der verfassungsrechtlichen Ordnung nach Art. 9 Abs. 2, ist allerdings bisher der Rechtsprechung nicht gelungen. Der Hinweis auf „Strukturprinzipien des Grundgesetzes“ (BVerfGE 69, 315 (345 f.)) kann hier nicht genügen, ebenso wenig reicht ein abgrenzender Verweis auf die Vorstellungswelt des Nationalsozialismus aus.

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c) Geltungswirkung der Grundrechte – Sanktionen durch Normenkontrolle Entscheidend kommt es nun aber, zur Bestimmung eines verfassungsrechtlichen Traditionspotenzials der Grundrechte, auf die rechtliche, normative Geltungswirkung an, die ihnen gerade in der deutschen Entwicklung in deren Ausprägungen in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt: als Programm, „politische Direktiven“, bindende Rahmen oder inhaltliche Vorgaben im Einzelnen. aa) Im angelsächsischen Bereich wurde den Grundrechten stets, beginnend mit der Magna Charta, eine normative Bedeutung zuerkannt, und zwar mit einer rechtlichen Bindungswirkung, welche gegenwärtigen Vorstellungen von einer Verfassungskraft entspricht. In den Vereinigten Staaten hat dies denn auch bald zur Entfaltung einer Verfassungsgerichtsbarkeit geführt, als deren Sanktion. Hier, und entsprechend der rechtspolitischen Ausstrahlungskraft dieser Lage auf andere Verfassungsordnungen, kann also von einer einigermaßen festen Geltungstradition der Grundrechte kraft Verfassungsrecht gesprochen werden: Alles übrige Recht verliert bei Widerspruch zu den Grundrechten seine Geltung170. Das kontinentaleuropäische Verfassungsrecht ging, unter französischem Einfluss, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings von einer lediglich „politischen“, rechtstechnisch betrachtet: nur einer programmatischen Wirkung der Grundrechte aus, nicht von abrogatorischen Effekten derselben. In Österreich entfaltete sich jedoch bereits unter kelsenianischen Einfluss171 volle, verfassungsgerichtlich sanktionierte abrogatorische Grundrechtswirkung. Im übrigen deutsch-rechtlichen Raum (Schweiz, Reichsgerichtsrechtsprechung) kam es zunächst nur zu Ansätzen einer verfassungsgerichtlichen Rechtswirksamkeit der Grundrechte als Rahmen der übrigen Bestimmungen der Rechtsordnung. Erst die grundgesetzliche Ordnung hat ab 1949 eine gerichtlich voll sanktionierte normative Grundrechtswirkung gebracht, gleichzeitig hat Italien 1948 dieses Modell übernommen, welches später auf andere europäische Länder gewirkt hat, vor allem in der spanischen Verfassung. In Frankreich dagegen bildeten die Grundrechte lediglich einen normativen Maßstab in der Wirksamkeit eines Bekenntnisses der Verfassung zu den Freiheitsrechten von 1789172. Für das deutsche Staatsrecht wird man immerhin, selbst bei vorsichtig-zurückhaltender Beurteilung, von einer gewissen Verfassungstradition der abrogatorisch 170 In der Sicht einer „Grundrechtstradition“ ist es dabei nur von einer eher rechtstechnischen Bedeutung, wie die Rechtswirkungen einer normativ klar übergeordneten Normebene auf nachgeordnetes Recht (im Einzelnen) ausgestaltet sind: in deren Nichtanwendung, im Einzelfall oder ihrem normativen Außerkrafttreten durch Richterspruch. 171 Zur Entwicklung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1919 vgl. Heller, K., Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2010. 172 Zur Verfassungskontrolle in Frankreich vgl. Spies, A., Verfassungsrechtliche Normenkontrolle in Frankreich: Der Conseil Constitutionnel, NVwZ 1990, 2040.

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sanktionierten normativen Grundrechtswirksamkeit ausgehen können, welche die Grundrechte als solche als Maßstab nachgeordneten Rechts anerkennt. bb) Das verfassungsnormative Gewicht dieser sanktionierten Grundrechtsgeltung hängt dabei allerdings einerseits vom Inhalt der Grundrechte als verfassungsrechtlichen Maßstäben ab173, zum anderen, und ebenfalls entscheidend, von den Kontrollmöglichkeiten eines Verstoßes gegen jene. Kann eine gerichtliche Verfassungskontrolle am Grundrechtsmaßstab nur von Staatsorganen beantragt werden, so ist der Freiheitsschutz für den Bürger weit geringer, als wenn er durch Verfassungsbeschwerde von den privaten Gewaltunterworfenen geltend gemacht werden darf, um deren Rechtspositionen es hier ja wesentlich geht. Da also die Geltungskraft der Grundrechte entscheidend von der Möglichkeit der Erhebung einer solchen Beschwerde abhängt, ist eine „GrundrechtsGeltungs-(Wirksamkeits-) Tradition“ auch im Lichte dieser „Bürgerkontrolle“ zu beurteilen. In Deutschland gibt es diese Verfassungsbeschwerde seit Jahrzehnten. Sie hat allerdings auch bereits bedeutsame Veränderungen erfahren: Der kollegialgerichtliche Rechtsschutz wurde durch vorgeschaltete Kammerprüfungen erschwert, nach allgemein-praktischer Wahrnehmung damit auch wesentlich eingeschränkt. Eine Praxis teilweise begründungsloser Ablehnungsentscheidungen hat sich entwickelt. Insgesamt aber mag dennoch von einer durchgehenden „Grundlinie der Verfassungsbeschwerde“, im Sinne geradezu eines „Deutschen Modells“ gesprochen werden; dieses ist auch als solches im Grundgesetz verankert. Man wird also doch wohl insoweit eine verfassungsprozessuale Tradition jedenfalls für die grundrechtliche Ordnung anzunehmen haben. Der Einwand, dies sei nur eine Spielart einer Grundrechtsgeltung, die stets im Rahmen (auch) ganz anderer, übergreifender Vorstellungen über die Geltungskraft von Freiheitsrechten zu sehen sei, überzeugt also nicht. d) Traditionell inhaltliches Ausmaß des Grundrechtsschutzes Ob bei einer spezifischen „Grundrechtstradition“ das begrifflich für eine solche erforderliche Ausmaß der Geschlossenheit erreicht wird174, mag im Einzelfall zweifelhaft sein. Bei einer derartigen Prüfung ist von der Unterscheidung zwischen einer allgemein-internationalen und einer spezifisch deutschen Grundrechtslage auszugehen, mit welcher Letzteren die Prüfung zu beginnen hat. Sodann ist zu untersuchen, ob sich aus einer Traditionalität im ersteren Sinn übergreifend, entsprechend ihrer Normhöhe, Korrekturen für eine deutsche Grundrechtstradition ergeben. Zwischen beiden liegt die Normebene der Europäischen Grundrechte, die zunächst, nach einer Analyse der Lage in Deutschland, zu prüfen sind. Angesichts 173 174

Vgl. dazu näher im Folg. d). Vgl. oben B. I.

VII. Grundrechtstraditionen

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der Vielschichtigkeit dieser Problemstellungen und der Vielfalt der Einzelfragen können hier nur die wichtigsten Kriterien genannt und allgemeine Einschätzungen geboten werden. aa) Was eine „deutsche inhaltliche Grundrechtstradition“ anlangt, so mag eine weitgehende textliche Konstanz seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts für hinreichende Geschlossenheit in den meisten Fällen sprechen. Sie reicht von den Verfassungen der Einzelstaaten über die Kataloge von 1848 und 1919 bis zum Grundgesetz. In dieses wurden weithin nicht nur Kern-Inhalte, sondern sogar einzelne Formulierungen aus früheren Texten übernommen. Seither sind die Inhalte der Grundrechtsverbürgungen, trotz tiefgreifender Verfassungsänderung des Grundgesetzes, weitgehend konstant geblieben. Die Textfassung des Art. 19 Abs. 2 GG („Unantastbarkeit des Wesens des Grundrechts“) spricht deutlich für eine letzte Geschlossenheit der Grundrechts-Inhalte175. Für die Gesamtgeltungszeit des Grundgesetzes wird es, mit Blick auf ein deutsches freiheitsrechtliches Herkommen, entscheidend darauf ankommen, wie die Rechtsentwicklung in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu beurteilen ist. Werden hier – im Wesentlichen nur – Konkretisierungen und Präzisierungen geboten, oder ist es bereits zu tiefgreifenden wenn nicht Änderungen, so doch Neuorientierungen gekommen? Letzteres könnte inhaltlich allenfalls mit Blick auf eine Entfaltung „sozialer Grundrechte“176 in der grundgesetzlichen Ordnung anzunehmen sein. Überwiegende Gesichtspunkte sprechen hier allerdings für eine Ergänzung, die sich noch als eine „Traditionsentfaltung des Freiheitsschutzes“ einordnen lässt177, also als „Tradition in Entwicklung“. Denn allenfalls wirkt sich diese „soziale Grundrechtlichkeit“ bisher nur als eine gewisse Verengung der „liberalen Freiheitsrechte“ aus; sie lässt deren „Garantiekerne“ unberührt. Selbst jene „Sozialstaatlichkeit“, welche meist als eine Art von „Mutterrecht“ sozialer Grundrechtlichkeit angesehen wird, kann ihrerseits wiederum liberal-freiheitsrechtlich gedeutet werden178. Das Bundesverfassungsgericht selbst ist sichtlich bemüht, die Konstanz seiner Judikatur hervorzuheben; ständig wird sie in – auch weit zurückreichenden – Zitatketten deutlich. Über eine solche „Rechtsprechungstradition“, die hier weit mehr

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Eine letzte Geschlossenheit aller Grundrechtsinhalte ergibt sich aus der Formulierung des Art. 19 Abs. 2. Dass dabei stets der konkrete Norminhalt des jeweiligen Grundrechts zunächst zu ermitteln ist (vgl. BVerfGE 109, 133 (156); 117, 71 (96)), ist dafür Voraussetzung, stellt also keinen Widerspruch zu dieser Forderung dar. 176 Eine grundsätzliche Veränderung der „Grundrechtstradition“ als solcher käme allenfalls in Betracht über einen grundsätzlichen und globalen Veränderungseinfluss „sozialer Grundrechtlichkeit“. Davon kann jedoch – bisher jedenfalls – kaum die Rede sein; vgl. dazu Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 159 ff. m. Nachw. 177 Vgl. oben B. I. 4. („Tendenz“ – Tradition in Entwicklung). 178 Vgl. die liberal-freiheitsrechtliche Geltung der Sozialstaatlichkeit bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 20 RN 103 ff.

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praktiziert als grundsätzlich179 dogmatisiert wird, muss man wohl von einer Kerntradition bei den „liberalen“ Grundrechtsinhalten unter dem Grundgesetz grundsätzlich ausgehen. Sie hat sich in hinreichender Dauer und eben auch in einer übergreifenden Geschlossenheit herausgebildet. Ob sich eine derartige Tradition durch eine (weitere) solche im Sinne eines sozialen „Schwächerenschutzes“ ergänzen (lassen) wird, bleibt abzuwarten; es ist dies, bei (sozial-)politischen Entwicklungen in diese Richtung wohl zu erwarten. Im Bereich der Renten und der Gesundheitsvorsorge hat dies doch bereits Dauer und Geschlossenheit einer auch verfassungsrechtlich relevanten Tradition erreicht180. Von einer „deutschen Verfassungstradition“ ist also wohl für die grundgesetzliche Ordnung im gesamten Grundrechtsbereich nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auszugehen. bb) Die deutsche Tradition ist, und zwar von ihren Anfängen an, mit Blick auf die außerdeutschen, weithin zeitlich vorhergehenden181 Bemühungen um rechtliche Freiheitssicherung(en) zu beurteilen. Das deutsche Verfassungsrecht hat aus ihnen vielfache Impulse empfangen, diese aufgenommen und inhaltlich zu einer eigenständigen deutschen Grundrechtstradition entfaltet. Rechtsvergleichung bleibt dennoch weiter stets Aufgabe, aber eben zu messen an einem bereits fassbaren Maßstab deutscher Grundrechtstradition. cc) Europäische Grundrechtswirkungen auf die deutsche Grundrechtstradition stehen in voller Entwicklung, vor allem in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Insgesamt wird hier sorgfältig zu beobachten sein, ob diese Instanz sich insgesamt das „Traditionsverständnis“ des Bundesverfassungsgerichts zu eigen macht (vgl. oben aa). Bleibt sie, im inhaltlichen Ergebnis ihrer Rechtsprechung, in diesem Rahmen, so sind mehr als Randkorrekturen einer deutschen Grundrechtstradition kaum zu erwarten. Manche Entwicklungen, etwa zur Gleichberechtigung182, könnten hier allerdings zu neuen Traditionstendenzen allgemeinerer Art führen. Deutlicher noch gilt dies für die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, etwa zum Streikrecht im Öffentlichen Dienst183. 179

Vgl. FN 115. Mit dem Ziel, „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sicherzustellen“ (BVerfGE 40, 121 (144); 110, 412 (445 f.)), eine „Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens“ (BVerfGE 28, 324 (348 ff.)). 181 Vgl. dazu Ipsen, J., Staatsorganisationsrecht (Staatsrecht I.)23 2011, S. 267 f. 182 Zur Rechtsprechung des EuGH zur Gleichberechtigung vgl. Di Fabio, U., Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, AöR 122 (1997), 404 ff.; Körner, M., Der Dialog des EuGH mit den deutschen Arbeitsgerichten – das Beispiel der Gleichbehandlung, NZA 2001, 1046 ff.; Nishihara, Hiroshi, Das Recht auf geschlechtsneutrale Behandlung nach dem EGV und GG, 2002. 183 Vgl. etwa EGMR v. 12.11.2008 – 34503/97, NZA 2010, 1425; v. 21.04.2009 – 68959/01. NZA 2010, 1423. s. dazu Lindner, J. F., Dürfen Beamte doch streiken? DÖV 2011, 305; Fütterer, P., EuZA 2011, 505. 180

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dd) Welche Bedeutung der Entfaltung völkerrechtlicher Menschenrechtsstandards184 für die deutsche Grundrechtstradition zukommen kann, lässt sich noch nicht absehen. Für die nächsten Jahr(zehnt)e ist wohl eher damit zu rechnen, dass etwaige (Grenz-)Korrekturen deutscher Verfassungsstandards mit Wirkung auf deren Herkömmlichkeit allenfalls über Europäisches Recht zu Impulsen auf die deutsche Rechtsordnung führen werden.

3. Tradition im Bereich rechtsinstitutionell verfestigter Grundrechte a) Allgemeines Einzelanalysen des jeweiligen Traditionspotenzials im Bereich der Einzelgrundrechte würden, wie bereits erwähnt, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Eine wichtige allgemeinere Leitlinie für die Beurteilung des jeweiligen Traditionsgewichts ergibt sich aber aus dem Grad institutioneller Verfestigung des Schutzbereichs eines Grundrechts. Zu dessen Ermittlung kann auf die verfassungsrechtliche Dogmatik der Rechtsinstitute und institutionellen Garantien zurückgegriffen werden. Das deutsche Staatsrecht ist gerade hier seinerseits – durch Herkommen getragen185. Für die Ermittlung des Gewichts des Traditionspotenzials in einem Grundrechtsbereich wirkt sich dies wie folgt aus: Über die „Institution“ fließen bestimmte Elemente in das Grundrechtsverständnis ein, welche dessen Inhalt (mit-) konstituieren. Diese Inhaltselemente ergeben sich normstufenmäßig aus unterschiedlichen Ebenen, vom lokalen bis zum Völkerrecht, sowie aus deren jeweiligen Anwendungen. All dies wird aber in seiner inhaltsbestimmenden Potenzialität für das jeweilige Grundrecht rechtlich hervorgebracht und zur Inhaltsbestimmung zusammengeführt durch – Tradition; es ist daher nach deren Konstitutivkriterien zu bestimmen186. Der Institutionsbegriff ist also insoweit, und er ist weithin, getragen durch die jeweilige Traditionspotenzialität der Schutzbereiche der betreffenden Grundrechte. Wesentlich ist hier vor allem die Dauer der Geltung, deren Geschlossenheit wenigstens in Kernbereichen und die Vielfalt der herkömmlichen Stützen, auf denen sie sich rechtsanalog aufbaut187. Aufzusuchen sind also jeweils diejenigen Grund184 Zu den völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards vgl. Ipsen, K., Völkerrecht5, 2004 § 50 RN 2 ff. 185 Zu einer grundsätzlichen Institutionenlehre in diesem Sinn vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012 S. 58 ff. 186 Wie sie oben in B. näher herausgearbeitet wurden. 187 Insoweit kommt gerade hier der Rechtsanalogie in ihrem Einsatz im Staatsrecht über die Allgemeine Staatslehre besondere Bedeutung zu, vgl. dazu Leisner (FN 185), S. 91 ff.

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rechtsbegrifflichkeiten, denen bei institutioneller Verfestigung spezielle Bedeutung zukommt. b) Beispiel: Ehe, Familie, Kindererziehung (Art. 6 Abs. 1 GG) Das wohl nächstliegende Beispiel bieten die tragenden Verfassungsbegriffe in Art. 6 Abs. 1 GG. Was sie an rechtlicher Bindungskraft in die gesamte Rechtsordnung hinein ausstrahlen, lässt sich – jedenfalls zunächst, am Ausgangspunkt der begrifflichen Inhaltsbestimmung – aus ihrem institutionellen Gehalt, dieser sich wieder aus weithin früheren, in der Gesellschaft fortgetragenen, traditionsgeprägten Gehalten (i. S. v. oben a) bestimmen. Bei der christlich orientierten Einehe liegt dies auf der Hand: Tradition bestimmt Inhalt und Grenzen der grundsätzlich lebenslangen Verantwortungsübernahme der Eheleute für einander188. Hier hat allerdings die Aufgabe der katholischen Tradition durch die Zulassung der Scheidung189 bereits einen entscheidenden Einbruch gebracht. Durch deren Ausuferung könnte in absehbarer Zeit die lebenslange durch die Zeitehe ersetzt werden. Dies wäre dann vielleicht der schwerste gesellschaftliche Traditionbruch, der in einer staatlichen Verfassungsordnung überhaupt vorstellbar ist, mit völlig unabsehbaren Auswirkungen auf alle Bereiche, insbesondere auf Erziehung und Bildung. Erheblich traditionsverändernde Auswirkungen treten überdies auch ein durch eine Gleichstellung von homo- mit heterogeschlechtlichen Verbindungen190. Wie immer man sachlich die Auswirkungen dieser „Traditionsveränderungen“ beurteilen mag – sie müssen wohl als bedeutende Traditionsbrüche gesehen werden, jedenfalls in ihren Ergebnissen: Hier stellt sich die Frage, wenn nicht nach einem generellen finis traditionis, so doch nach einer nun wirklich tiefstgreifenden Veränderung bisheriger Traditionswirkungen: Diese werden durch rechtliche Setzungen umgeprägt, die ihrerseits allerdings gesellschaftliche Veränderungen mehr ratifizieren als hervorrufen. Vor allem in Folge der Abschwächung religiöser Bindungen sowie der Effekte des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts191 laufen Traditionen aus, neue entstehen. Juristen bedauern nicht, sie ordnen neue Welten.

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Zu den „Konstituierenden Merkmalen des verfassungsrechtlichen Schutzgutes Ehe“ (lebenslange Verantwortungsübernahme der Ehegatten für einander) vgl. Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 6 RN 38. 189 Zur Scheidung in Anwendung des Zerrüttungsprinzips vgl. Robbers (FN 188), Art. 6 RN 62 ff. 190 Zum Traditionsbruch durch Gleichstellung der „Homo-Ehe“ verweist Robbers hier auf den Sinn des Art. 6 Abs. 1 GG (als) „Bewahrung des Herkömmlichen“ (FN 188, RN 47 m. Nachw.): ein Abgehen davon bedürfe einer Verfassungsänderung. 191 Vgl. oben A. II. III.

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c) Eigentum – Erbrecht (Art. 14 GG) aa) In einem anderen traditionellen Bereich institutioneller Verfestigung des Freiheitsschutzes, der verfassungsrechtlichen Eigentumsordnung, sind manche vergleichbare Entwicklungen zu beobachten. Hier hatte das Römische Recht bekanntlich eine absolute und „individualistische“ Rechtstradition begründet, ausgehend vom Grundstücks-Nachbarschaftsrecht einer agrikulturell bestimmten Wirtschaftsordnung. Immerhin ist es, im Laufe vieler Jahrhunderte, zu Einbrüchen in diese rechtliche Vorstellungswelt gekommen. Am bedeutsamsten waren für Deutschland die weithin als „deutschrechtlich“ bezeichneten Entwicklungen zunächst des gestuften Lehn-Eigentums, später genossenschaftsrechtlich ausgestaltete, vor allem auch begrenzte Besitzvorstellungen. Dieser historische und grundsätzliche Antagonismus zwischen individuell-ausgrenzendem und „gesellschaftlich“ (sozial) ausgestaltetem, darin (teilweise) vergemeinschaftetem Eigentum hat sich in der grundgesetzlichen Ordnung fortgesetzt, in der wahrhaft „unendlichen Geschichte“ der Diskussionen um die Sozialbindung des Eigentums192. Sozialpolitische, insbesondere sozialisierend-umverteilende Entwicklungen haben im demokratischen Gleichheitsstaat193 zu einer Einebnung der Besitzverhältnisse geführt, an der Vermögenshäufungen in ganz wenigen Händen, wenigstens in Deutschland, nichts Wesentliches mehr ändern: Gesellschaftlich können sich derart eigentumsmäßig bestimmte Lebensformen immer weniger offen zeigen – sie ziehen sich an ferne Meere und in Steueroasen zurück. Ihr politischer Einfluss mag gelegentlich noch erheblich sein, durch Parteispendenrecht und „Korruptionsbekämpfung“ wird er in immer engeren Grenzen gehalten. Mehr an Eigentumsgenuss wird er dann nicht mehr bringen, wenn Besitzende zunehmend ihr „Eigentum wie Diebesgut verstecken“ müssen. bb) Dieser gesellschaftliche Befund ist – in Deutschland jedenfalls – seit langem durch das zunehmend enger begrenzende Recht der Sozialbindung aufgenommen und entscheidend verstärkt worden, in drei mächtigen Zügen vor allem: im Arbeitsund Sozial-, im Umwelt- und vor allem im Steuerrecht. Damit ist rechtlich eine neue Eigentumsordnung entstanden; in ihr sind bisherige traditionelle „Herrschaftsrechte“, bei Betriebseigentum vor allem, aber auch anderen Abwehrwirkungen von Grundrechten, entscheidend, teilweise radikal (Mitbestimmung, Umweltrecht) eingeschränkt worden. Sämtliche „traditionell eigentumsbestimmten“ Rechtslagen, neuerdings bis hin zum „geistigen Eigentum“, stehen in derart und tiefgreifenden, ja grundsätzlichen Entwicklungen, dass rechtlich von größerflächigen Traditionen des Eigentums kaum noch gesprochen werden kann. Allenfalls im Bereich des Grundeigentums haben sich traditionelle Abwehrbefugnisse (noch) erhalten; deshalb muss 192

Zum Streit um die Sozialbindung des Eigentums vgl. Leisner, W., HBStR3 Band 8, § 73 RN 127. 193 Als Einebnung der Besitzverhältnisse, vgl. Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung. 1980, S. 304 ff.

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D. Tradition und Grundgesetz

jedenfalls eine rechtliche Traditionssuche vor allem hier ansetzen194, Ergebnisse sodann auf andere Eigentumsgewährleistungen zu übertragen suchen. Obwohl insgesamt der Eigentumsschutz in Deutschland verfassungsrechtlich – noch immer – stärker verfestigt sein dürfte als in vielen anderen, auch europäischen Ländern, kann also von „einer deutschen Eigentumstradition“ im Sinn rechtlich fassbarer Abwehransprüche kaum (mehr) die Rede sein. Im Entstehen sind allenfalls, auf einzelnen rechtsbegrifflichen Grundlagen, gewisse neue Traditionen im Bereich eines insgesamt weitgehend sozial gebundenen Eigentums. Ob sich dies dann zu einer rechtlich fassbaren Tradition eines „Sozialen Eigentums“ zusammenschließt, ob darin nicht nur eine „Traditionsströmung eigentumsrechtlicher Umverteilung“ entsteht, bleibt abzuwarten. cc) Noch deutlicher ist dieser „in sozialer (nicht nur „gesellschaftlicher“ sondern umverteilender) Entwicklung flutende Befund“ beim verfassungsrechtlichen Schutz des Erbrechts feststellbar. Hier vollzieht sich die dargestellte Entwicklung in der „Weiterwirkung des Eigentums über den Tod hinaus“ in zwei Strängen vor allem195: zum einen über die Auswirkungen der tiefgreifenden Veränderungen im Familienbereich (oben b), zum anderen über die Erbschaftsteuer196. Ob sich im ersteren Strom eine Tradition in einigermaßen gleichgewichtigen Formen eines Testaments- und/ oder Verwandtenerbrechts197 fortsetzen lässt, wird davon abhängen, wie weit der „Sozialstaat“ bei seinen Sicherungen auf familiäre Bindungen zurückgreifen will – und kann. Bei der Erbschaftsteuer haben sich bereits gewisse rechtliche Ausgestaltungsformen traditionshaft verfestigt (Verwandtschaftsgrade, Vermögensstufen der Belastungen). Hinsichtlich der inhaltlichen Wirkungen ist jedoch – mit tiefgreifenden Rückwirkungen auf die Eigentumsordnung – noch alles offen. Hier eröffnet sich jedenfalls ein besonders wichtiges Feld sozialer Umverteilung; sie beruft sich übrigens auf Traditionen gerade erbschaftsteuerlicher Umverteilungsabsichten und -ergebnisse. d) „Institutionelles Fazit“ zur Tradition Insgesamt sind also in den traditionell institutionell verfestigten Grundrechtsbereichen einerseits entscheidende Abschwächungen bisheriger Traditionswirkungen feststellbar, zum anderen öffnen sich damit neue Horizonte für „Traditionen in fieri“; diese werden notwendig in den Bahnen der unter A bis C dargestellten verfassungsdogmatischen Vorgaben zu verfolgen sein. An ihrem Ende dürfte allerdings eine weithin veränderte, wenn nicht eine ganz andere gesellschaftliche und staatliche 194 Ein Schwerpunkt bei der Suche nach einer Tradition im Eigentumsrecht ist sicher beim Grundeigentum zu setzen, vgl. Leisner (FN 192), RN 191 ff. 195 Zum Erbrecht s. Leisner, W., HBStR3 Band 8, § 74, RN 1 ff. 196 s. Leisner (FN 195), RN 24 ff. 197 Familienrechtliche Auswirkungen ergeben sich eindeutig aus dem Erbrecht, etwa in der Weiterführung einer Tradition der Gleichgewichtigkeit von Testaments- und Verwandtenerbrecht, dazu Leisner (FN 195), RN 18 ff.

VII. Grundrechtstraditionen

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Ordnung stehen als die, welche das Grundgesetz in Tradition vorgefunden hat, in dieser aber wohl nicht lange mehr forttragen kann.

4. Traditionen im Bereich weiterer Freiheitsrechte Unabhängig von den Wirkungen einer Verfestigung des Freiheitsschutzes in einzelnen Grundrechtsbereichen ergeben sich gewisse Traditionspotenziale auch zu Inhalten und Durchsetzungsformen bei nahezu allen einzelnen Freiheitsrechten. Jedenfalls sind deren tragende Ordnungsbegriffe jeweils darauf zu untersuchen. Dabei stehen – gerade auch herkömmlich – zwei Bereiche im Vordergrund: Grundrechtsschutz im Bereich des Strafverfahrens und die – vor allem politisch wirksame – Meinungsfreiheit. Für beide ergeben sich gewisse, grundrechtlich und allgemein wirksame, Grundlinien der Bedeutung der Tradition. a) Justizielle Traditionen (Art. 101 bis 104 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) Diese Habeas-Corpus-Rechte haben als solche, in ihren Einzelheiten wie in ihrer Zusammenschau, einen besonders hohen Freiheitsgehalt, nach Dauer, Geschlossenheit, Überzeugungskraft, die hier auch in gesetztem Recht verankert sind, vom einfachen Gesetzesrecht bis zum zwischenstaatlichen und Völkerrecht. Nach Sanktionsformen wie Inhalten hängen jedoch ihre Wirkungen weithin von strafprozessualen und strafvollzugsrechtlichen einfachgesetzlichen Ausgestaltungen ab. Dies gilt etwa für Begriffe wie „Tat“ und „(mehrmalige) Bestrafung“ in Art. 103 GG, „Freiheitsbeschränkung“, „Polizei“, „Verdacht“, „Festnahme“ u. a. Begriffe in Art. 104 GG, vor allem aber für „Gericht“ und „Richter“198. Was mit derartigen Begriffen gemeint ist, wird im Wesentlichen durch die einfachgesetzlichen Regelungen des Straf- und Sicherheitsrechts definiert. Insoweit und in dessen Formen ist das Verfassungsrecht zu Traditionen geöffnet und einer Konkretisierung gerade durch diese auch, ganz offensichtlich, in besonderem Maße bedürftig. Andernfalls könnten die grundrechtlichen Direktiven, Fundamente einer freiheitlichen Rechtsordnung, beliebig vom einfachen Gesetzgeber, in der Demokratie also von wechselnden Mehrheiten, unterlaufen, ja außer Kraft gesetzt werden. Hier verlangt das geradezu staatsformtragende Grundsatzgewicht der Begriffe und Regelungen des Grundgesetzes nicht nur eine gewisse Kontinuität, sondern die volle Überzeugungskraft einer Tradition in großen begrifflichen Kernbereichen, welche weitestgehend Unabänderlichkeit von deren Inhalten gewährleistet. Dies bedeutet hier: 198

Zahlreiche Begriffe der Habeas-Corpus-Rechte in den Art. 103 und 104 GG (vor allem „Richter“, „Gericht“) müssen verfassungsrechtlich festgelegt sein. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, in Abgrenzung zu Organen der Exekutive (vgl. BVerfGE 107, 395 (407)), wie auch innerhalb der gerichtlichen Verfahrensgänge (einstweiliger Rechtsschutz, BVerfGE 65, 227 (233 ff.)).

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D. Tradition und Grundgesetz

Grundrechtlichkeit nach Strafrechtstradition, Beschränkung ihrer Änderungen auf Randkorrekturen nach der Entwicklung der technischen Feststellungs-, Hilfs- und Vollzugsmittel und Effizienzvorstellungen, welche für die Gerichte aber deren – traditionell zu bestimmende – Unabhängigkeit199 zu wahren haben. Die Habeas-Corpus-Rechte sind also wohl die am stärksten durch Traditionspotenziale bestimmten Verfassungsregelungen im freiheitlichen Rechtsstaat. Daraus ergibt sich eine wichtige Leitlinie für Traditionswirkungen im Verfassungsbereich des Grundgesetzes: Bei gerichtlichen Prozessregelungen tritt generell die Bedeutung von wirtschaftlich-technischen Entwicklungen (vgl. oben A. II. 1.) gegenüber den Wirkungen des rechtlichen Herkommens zurück; erstere beschränkt sich vor allem auf den kommunikationstechnischen Bereich. b) Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) aa) Die Tragweite dieses für die freiheitliche Grundordnung fundamentalen Grundrechts hängt vor allem vom Inhalt des Begriffs der geschützten „Meinungen“ ab: er ist ein überaus weiter200, umfasst alles, was von Relevanz sein kann in gesellschaftlichen wie Staat-Bürger-Beziehungen. Über die Wechselwirkungslehre“201 bestimmen sich damit auch die Einschränkungsmöglichkeiten der Meinungsfreiheit seitens der Staatsgewalten. Nicht nur die inhaltliche Weite, sondern vor allem das jeweilige Gewicht der Meinungsäußerung ist hier entscheidend. Es ergibt sich in einer eigenartigen Form „gesamt-politischer“ Betrachtung und Wertung, die nach allgemeinen Kriterien vorzunehmen und im einzelnen Fallzusammenhang zu konkretisieren ist. Hier liegt eine gefährliche Einbruchsstelle für staatsformbedingt-politische Relativierungen: „Autoritäre“ Regime nehmen völlig andere Gewichtungen vor als „freiheitliche“; selbst innerhalb des (weiten) Rahmens „demokratischer“ staatsrechtlicher Gestaltungen kann es zu sehr bedeutsamen Unterschieden kommen, die ihrerseits wieder den freiheitsrechtlichen Charakter der gesamten Staatsordnung bestimmen. bb) Weite des Meinungsbegriffs und – grundsätzlich bedeutsames – Gewicht jeder Meinung prägen die sog. „freiheitliche Staatsordnung“ des Grundgesetzes. Von entscheidender Bedeutung wird hier eine Tradition sein, die sich in Gerichtsentscheidungen und Verwaltungspraktiken zeigt: Je weitergehend jeder Meinungsäußerung, nach ihrer Form wie ihrem Inhalt, „Staatsschutzbedeutung“ zugesprochen wird, desto freier ist die Staatsgewalt in deren Beschränkung. 199

Zur Unabhängigkeit der Gerichte aus dem Gerichtsbegriff als solchem vgl. Leisner, W., Das letzte Wort. Der Richter späte Gewalt, 2003, insb. S. 79 ff. 200 Zu dem weiten Meinungsbegriff vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 5 RN 22. 201 Zur Wechselwirkungslehre bei Art. 5 GG s. BVerfGE 66, 116 (150); 71, 206 (214).

VII. Grundrechtstraditionen

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Für die grundgesetzliche Ordnung geht es dabei vor allem um die Abgrenzung von „politisch relevanten“ und „privaten“, insbesondere wirtschaftlich-geschäftlichen Meinungen. Damit stellen sich Fragen des Wettbewerbs-, insbesondere des Werbungsrechts. Je „traditionsbewusster“ diese Rechtsbereiche sich in Rechtssetzung und Rechtsanwendungen entwickeln, desto deutlicher fassbar werden sie als Schranken der Meinungsfreiheit, wird damit auch diese selbst durch derartige Grenzziehungen traditionsbestimmt202. Im Ergebnis sind es also zwei Stränge vor allem, über welche Tradition den Schutzbereich der Meinungsfreiheit (mit)bestimmt: einerseits die durch die jeweilige Staatsform bestimmten Wertigkeiten der Meinungsinhalte für einerseits die Staatsexistenz, aber auch für eine freie private Rechts- und Gesellschaftsordnung, deren Bestand und Weiterentwicklung – zum anderen die „rechtstechnischen Ordnungsformen der Äußerungen der Bürger in deren Privatbereich“, welche diesen „Meinungswertigkeiten“ bereits Schranken setzen, sie damit rahmenmäßig prägen. cc) Technische Kommunikationsformen der Meinungsäußerungen, damit wesentlich auch die Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG, stehen demgegenüber wesentlich im Fluss technischer Entwicklungen; dies schließt insoweit ein Traditionspotenzial von Gewicht im Bereich dieses Grundrechts aus. dd) Im Ergebnis sind es also nicht so sehr spezifische Einzeltraditionen, denen ein bestimmendes Einflusspotenzial bei der Bestimmung dieses Schutzbereichs zukommt, als vielmehr allgemein-grundsätzliche Entwicklungen der Staatsform und der Abgrenzungen öffentlicher und privater rechtlicher Ordnungssphären. Und dies gilt in ähnlicher Weise auf für andere Grundrechte, wie etwa die Vereinigungs-, die Versammlungs- und sogar die Wohnungsfreiheit.

5. Ergebnisse zur „Grundrechtstradition“ a) Im Ergebnis lässt sich also für Deutschland ein deutliches „Traditionspotenzial“ von Grundrechtlichkeit mit verfassungsrechtlicher Wirkung in der grundgesetzlichen Ordnung feststellen: – Formal gelten die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte mit voller Traditionswirkung als normativer Verfassungsmaßstab für alles niederrangige Recht. Einzelne Wirkungsformen (Nichtigkeitsentscheidung, Nichtanwendung) werden durch die allgemeine Tradition nicht erfasst. – Eine „Verfassungstradition der Verfassungsbeschwerde“ lässt sich für Deutschland ebenfalls bereits feststellen. 202 „Privatsphäre“ als Grenze der Meinungsfreiheit – aber auch als Schutz des geschäftlichen Bereichs (vgl. BVerfGE 71, 162 (175); 95, 173 (182); 102, 347 (359)). Dies führt zur Wettbewerbs/Werbungsfreiheit als einer „Grenzbestimmung aus Tradition“ – damit auch zu einer traditionsbestimmten Wirkung der Meinungsfreiheit.

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D. Tradition und Grundgesetz

– Inhaltlich wirkt Tradition über die „liberalen“, abwehrend-freiheitsschützenden Grundrechtsgehalte. In Einzelheiten ergeben sie sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses stellt seine Judikatur deutlich in eine – gewisse – Rechtsprechungstradition. Eine Verfassungstradition des „Schwächerenschutzes“ ist jedoch im Sozialbereich im Entstehen. – Grundrechtssicherung in außerdeutschen Ländern ist in Rechtsvergleichung zu berücksichtigen. – Europäischem Grundrechtsschutz kommt bisher allenfalls eine die deutsche Tradition grenzkorrigierende Bedeutung zu. – Völkerrechtliche Menschenrechtsstandards wirken darüber hinaus (noch) nicht wesentlich auf deutsche Grundrechtstradition(en) ein. b) Inhaltsspezifisch hat sich bereits, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in Ansätzen eine „deutsche Grundrechtstradition“ gebildet, die allerdings in konkretisierender Entwicklung steht. Herkömmlich ist für deren wirkungsmäßige Konsistenz die jeweilige institutionelle Verfestigung der grundrechtlichen Schutzbereiche von wesentlicher Bedeutung. Für Ehe, Familie, Kindererziehung (Art. 6 GG), war dies bisher, gerade in der Öffnung zu gesellschaftlichen Traditionen, in besonderem Maße verfassungsrechtlich wirksam. Auflösungserscheinungen ehelicher Bindungen lassen hier allerdings das Entstehen gänzlich neuartiger Traditionen erwarten. Ähnliches gilt für den Schutz des Eigentums Privater, im Übergang von agrikulturell-grundstücksgeprägten zu mobilien-unternehmensbestimmten Schutzgegenständen und -formen des Eigentums (Art. 14 GG). Die Tradition ausgrenzenden Eigentumsschutzes könnte sich zu einer solchen von Traditionen staatlicher Besitz-Umverteilung entwickeln. Alt-Traditionen erhalten sich vor allem (noch) im Bereich des Grundeigentums. Eine „Erbrechtstradition“ verschiebt sich über familienrechtliche Veränderungen; in ihrer Bedeutung wird sie zunehmend durch erbschaftsteuerliche Entwicklungen bestimmt, in welchen wiederum umverteilende Sozialpolitik an Gewicht zunimmt. Ob sich diese bereits tiefgreifenden Veränderungen in den bisher tragenden Bereichen einer Grundrechtstradition noch in einen Verfassungsbegriff des Herkommens werden einordnen lassen, oder ob damit neue Verfassungstraditionen mit prägender Wirkung für den Gesamtbereich des Herkommens entstehen, bleibt abzuwarten. c) In den Bereichen der übrigen, nicht vergleichbar verfestigten traditionellen Grundrechtsinhalte stehen Traditionspotenziale vor allem bei den Habeas-CorpusRechten (Art. 103, 104 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) im Vordergrund. Hier wirken bisher klare Traditionen eines vor allem strafprozessual ausgestalteten Herkommens sowie Garantien richterlicher Unabhängigkeit. Ein weiterer traditionsbedeutsamer Grundrechtsschwerpunkt liegt bei der demokratiekonstitutiven Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). Hier ist eine grundsätzliche

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

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Weite des Meinungsbegriffs bereits von Herkommen getragen. Die jeweilige „staatsrechtliche Wertigkeit“ von Meinungsäußerungen, damit auch ihre Beschränkbarkeit durch Staatsgewalt, hängt vor allem ab von der Abgrenzung eines „privaten“ von einem „öffentlichen“ (politisch relevanten) Schutzbereich dieses Grundrechts. Gegenwärtig steht die Traditions-Entwicklung bei einer relativ hohen freiheitsrechtlichen Schutzbewertung privater Meinungsäußerung. d) Insgesamt bieten also Grundrechtstraditionen ein plural differenziertes Bild vielseitiger Traditionspotenziale. Ob sich darin „eine deutsche Grundrechts- oder gar Verfassungstradition“ sehen lässt, hängt vor allem von sozialpolitischen Entwicklungen ab.

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich 1. Die „Änderungsintensität“ in der Staatsorganisation des Grundgesetzes Gerade die Betrachtung der grundgesetzlichen Ordnung unter dem Gesichtspunkt ihrer verfassungsrechtlichen Traditionspotenziale zeigt einen bedeutsamen Unterschied zwischen dem Grundrechtsteil und dem Staatsorganisationsrecht des Grundgesetzes: Die Freiheitsrechte sind, bei allen Differenzierungen inhaltlicher Art, in zeitlicher Dauer wie auch grenzüberschreitend, doch auch heute noch „traditionsgetragen“, in bedeutsamem Umfang wie in der Intensität ihrer Bindungswirkungen. Im Staatsorganisationsrecht dagegen, jedenfalls in weiten Bereichen desselben, haben sich, vor allem in Deutschland, seit Generationen immer wieder wahre Traditionsbrüche größten Ausmaßes vollzogen, zuletzt nach 1945 und gerade mit der Errichtung der grundgesetzlichen Ordnung203. Während seither im Bereich der Grundrechte weitestgehende Geltungskonstanz festzustellen ist, getragen sogar von verbreiteten Geltungsüberzeugungen, ist es im Staatsorganisationsrecht zu zahlreichen Änderungen gekommen204. Neuerdings sind hier zentrale Normkomplexe, wie die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und die Finanzverfassung, tiefgreifend verändert worden. Im Zug einer Europäischen Einung werden vielleicht bald weitere Änderungen folgen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob staatsorganisationsrechtlich überhaupt noch für das Grundgesetz von wesentlichen Traditionspotenzialen die Rede sein kann. Denn selbst wenn die Grundstrukturen des parlamentarischen Systems und der Staatsrepräsentanz unverändert bleiben sollten, so könnten sich jedenfalls deren Aufgabenbereiche, damit ihr rechtlich bestimmtes Machtgewicht, derart 203

Vgl. zu diesem Traditionsbruch durch das GG oben I. Bei der großen Zahl der Änderungen des GG seit 1949 (Überblick bei Jarass/Pieroth, GG, 12. A., Einleitung 4) zeigt ein Überblick, dass der weitaus größte Teil ders. das Staatsorganisationsrecht betrifft. 204

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D. Tradition und Grundgesetz

verändern, dass sich damit erneute Traditionsbrüche in zentralen Räumen der Staatsorganisation vollzögen. Kann für ein Staatsorganisationsrecht, das sich so „von Traditionsbruch zu Traditionsbruch bewegt“, überhaupt noch von einem tragenden, legitimierenden Herkommen die Rede sein?

2. Rückzug in und Primat der „Verfassungsrechtstechnik“ a) Die deutliche Abschwächung grundsätzlicher Traditionalität im Staatsorganisationsrecht schließt zwar Entstehung und Entfaltung kleinerer, institutionell verfestigter Traditionen auch in diesem Bereich nicht aus205. Sie führt jedoch, gerade auch bei diesen letzteren, zu einer zunehmenden „Rechts-Technisierung des Verfassungsrechts“. An Komplikation kaum mehr zu übertreffende Bespiele dafür bietet die Neufassung der Finanzverfassung des Grundgesetzes (Art. 105 ff., vor allem in Art. 115 Abs. 2). Hier zeigt sich übrigens auch eine Tendenz, in welcher die „begriffstechnische Mechanisierung“, wie sie etwa den Art. 83 ff. GG in der Verwaltungsorganisation zugrundeliegt, sogar noch weiter wirkt: Ausgegriffen wird auch auf außerrechtliche, vor allem ökonomische Begrifflichkeiten. Ihnen mag zwar in wirtschaftlichen Bereichen bereits ein gewisses Traditionspotenzial eigen sein; dieses wirkt jedoch in das Staatsrecht hinein, dort aber nicht „herkommensverstärkend“, sondern im Gegenteil dynamisierend. Denn mit ihm finden die traditionsauflösenden außerrechtlichen Entwicklungen206 erst recht laufenden Eingang in den Verfassungsbereich. Immanenten „Rechtstechnisierungsneigungen“ im Öffentlichen Recht207 kommt dies entgegen. b) Einhergeht mit dieser „Technisierungsentwicklung“ im Verfassungsrecht dort eine Entwicklung, welche ein Effizienzkriterium immer mehr in den Mittelpunkt organisationsrechtlicher Gestaltungen rücken lässt. Da dieser Begriff zwar, nach wie vor, keinen klaren verfassungsrechtlichen Topos bezeichnet208, zugleich aber doch auf eine „Wirkung“ abhebt, welche auch bei der „Tradition“ zu beurteilen ist, führt dies dazu, dass auch diese letztere nur nach der Intensität ihrer jeweiligen Effekte auf das geltende Recht beurteilt wird. Dies darf aber nicht die Betrachtung verkürzen:

205 Wie ja überhaupt gerade das Staatsorganisationsrecht im besonderen Maße durch Institutionalität geprägt ist (vgl. dazu Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 58 ff.) – was aber eben nicht durchgehend mit Traditionalität gleichzusetzen ist. 206 s. oben A. II. 207 Zu den Rechtstechnisierungsentwicklungen im Verfassungsrecht vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012 (im Vordringen der Politologie S. 35 ff., im Rahmen des Rechtspositivismus, S. 41 f., in der Annäherung an Vorstellungen von einem „Privaten Staat“, S. 124 ff.). 208 s. neuerdings Mathis, K., Effizienz statt Gerechtigkeit? 2. A. 2006.

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

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Gerade bei der Beurteilung der Wirkungen der Tradition209 muss deren unterschiedlichen Formen in Abwägung210 differenzierend Rechnung getragen werden. Eine „Traditionalität allein nach gegenwärtiger Wirkungsintensität“ könnte vor allem die Bedeutung einer Dauer des Herkommens vernachlässigen.

3. „Entideologisiertes“ Staatsorganisationsrecht a) Diese für das Staatsorganisationsrecht bereits traditionelle „Verfassungstechnisierung“ und „Beurteilung nach jeweiliger (Anwendungs-)Effizienz“ muss also den Blick auf Tradition(en) in diesem Bereich leiten; sie sprechen jedenfalls für eine Zurückhaltung in der Annahme „organisatorischer Traditionsstränge“ außerhalb des unmittelbaren Geltungsraums grundrechtlicher Freiheitsverbürgungen. Diesen letzteren ist, wie sich oben unter VII. ergeben hat, ein doch noch immer nicht unbeträchtliches Traditionspotenzial eigen; es weist sogar, gerade neuerdings, geradezu ideologieträchtige Züge auf, damit eine spezielle Überzeugungskraft, die gerade die Wirkungen des Herkommens charakterisiert. Eine solche Integrationskraft im Grundsätzlichen ist jedoch im Bereich der Staatsorganisation nicht mit vergleichbarer Allgemeinheit wirksam. Vielmehr wird sie dort allenfalls insoweit erreicht, als eben auch „staatsorganisatorischer Freiheitsschutz“ geboten wird. Verfassungsrechtliche Grundlinien sind hier das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit der Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip in seiner Forderung einer freiheitssichernden Teilhabe der Gewaltunterworfenen an der Ausübung staatlicher Macht. Insoweit ist hier auf die Ergebnisse zu diesen normativen Gestaltungen (oben VI.) zurückzugreifen. b) Die spezifisch organisationsrechtlichen Wirkungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratizität in der grundgesetzlichen Ordnung sind immerhin beträchtlich; über sie fließt Traditionalität auch in das Staatsorganisationsrecht, und zwar durchaus auch mit „ideologischer“ Intensität und damit spezieller Überzeugungskraft ein. Dies gilt jedenfalls für die Dritte Gewalt in Gestaltungen, welche deren Unabhängigkeit sichern (sollen), aber auch für Ausprägungen der Kontrollrechte der Ersten über die Zweite Gewalt, damit für zentrale Rechtsfiguren des Parlamentsrechts. Zitierrechte gegenüber der Regierung etwa, parlamentarische Beratungs- und Ausschussentscheidungen sind damit prinzipiell und nicht allein in ihren einzelnen rechtstechnischen Ausprägungen traditionsgetragen „in der Demokratie als solcher“. Allerdings werden sie laufend und zunehmend überlagert durch die (oben 2. beschriebene) „Verfassungsrechtstechnik“; dabei fällt der Blick, in Gesetzgebung wie Normanwendung, bisher nicht immer mit der erforderlichen Sorgfalt auf die Bedeutung der jeweiligen Veränderungen oder eben doch nur Fortentwicklungen der 209

Zur Beurteilung der Wirkungsweisen der Tradition s. oben B. II. Unter Zugrundelegung der hier zu beachtenden Probleme, vgl. allgemein Leisner, W., Der Abwägungsstaat. Abwägung als Gerechtigkeit? 1997, insb. bei der Abwägung des „Unvergleichbaren“ S. 72 ff. 210

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D. Tradition und Grundgesetz

Regelungen für die Grundstrukturen der gewaltenteilenden demokratischen Ordnung. Dies zeigt etwa ein Blick auf die Rechtsprechung zu den „Reservatrechten“ der Regierung gegenüber parlamentarischer Kontrolle211. Hier vor allem sollte sich das Traditionsbewusstsein im Staatsorganisationsbereich verstärken. c) Die eigentliche große Einbruchstelle, auch im allgemeinen Bewusstsein, in das Staatsorganisationsrecht liegt aber in den Entwicklungen einer Europäischen Union. In deren Namen steht bereits eine übergreifende Gesamtgestaltung auf der Tagesordnung, welche das nationale Verfassungsrecht in seinem organisatorischen Bereich, in seinen bisher traditionsgetragenen Gestaltungen, nicht verändern, sondern schlechthin aufheben könnte: in der Haushaltshoheit des Parlaments. Dies würde ja das Ende der innerstaatlichen Gewaltenteilung bedeuten, in einer Verlagerung der traditionsgetragenen nationalen Strukturen auf eine überstaatliche Ebene. Offen wird hier sogar allgemein bereits die Lösung normativer Bindungen der nationalen Regierungen an innerstaatliche parlamentarische Einflüsse gefordert. Dies wäre im Ergebnis das Ende fundamentaler Traditionen in der nationalstaatlichen Verfassungsorganisation212. Es mögen dies Zukunftsaussichten – für ihre Befürworter Visionen – sein. Vieles spricht dafür, dass sie gerade auf jenen leisen Sohlen Eingang ins Verfassungsrecht finden werden, auf denen sich Tradition von jeher bewegt. Dann wird es nicht mehr nur „immer mehr Verfassungstechnik“ geben im Staatsorganisationsrecht, „Entideologisierung“ vielleicht desselben in all seinen nationalstaatlichen Strukturen. „Tradition“ wird dann in der Staatsorganisation nur mehr bedeuten: „Neubeginn eines Herkommens“. Wie weit dieses überhaupt noch an bisher Herkömmliches anknüpfen wird, ist völlig unabsehbar.

4. Tendenz zu „Traditionen in Einzelbereichen“ a) Kehrt die Betrachtung zurück zu den (noch) bestehenden innerstaatlichen Grundstrukturen des Staatsorganisationsrechts, so zeigt sich, in dessen zunehmender „Rechtstechnisierung“ und „Entideologisierung“, hinsichtlich der Traditionspotenziale vor allem eines: ein Zug zu Einzeltraditionen. In ihnen hält sich – vorläufig noch und gerade hier sogar für längere Zeit – herkömmliches Organisationsrecht im Nationalstaat. Die erwähnte Technisierung vor allem führt dazu, dass dort immer weniger systemtragende Bezüge dieser einzelnen Traditionspotenziale bewusst sind – was wiederum eine Abschwächung größerer, „globaler“ Traditionen zur Folge hat. Nur einzelne Beispiele mögen dies hier verdeutlichen. Sie zeigen übrigens ein Weiteres: In diesem „Zug zur Einzeltraditionalität“ im Staatsorganisationsrecht vollziehen sich nicht etwa notwendige Verfestigungen der Tradition; gerade hier stehen Veränderungen derselben schon in der Tür, sie vollziehen sich bereits: 211

Der „Kernbereich der Exekutive“ ist insb. gegenüber parlamentarischer Kontrolle geschützt; vgl. zu der „Kontrollfestigkeit“ dieses Bereichs BVerfGE 67, 100 (139); 110, 199 (214 ff.). 212 Allgemein bereits angesprochen oben unter A. II. 3.

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

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b) Im Bereich des organisationskonstitutiven Wahlrechts (Art. 38 GG) kann nur mehr eingeschränkt von fortwirkenden Traditionen die Rede sein. Die „Allgemeinheit der Wahl“213 hat sich durch die Abschaffung des Vermögens-, und die Entwicklung des Frauen- und Jugendlichen-Wahlrechts bereits tiefgreifend verändert; sie ist zu einer Ausgestaltungsform der allgemeinen Gleichheit geworden. Verfassungstraditionen sind in dieser von einfacher Wahlrechtsgesetzgebung beherrschten Materie kaum mehr ersichtlich. In der Entwicklung eines Europäischen und eines Migranten-Wahlrechts wird sich dies voraussichtlich bald fortsetzen. Eine „deutsche Wahlrechtstradition“, wie sie das Grundgesetz mit der Kombination von Persönlichkeits- (Stimmkreis) und Verhältniswahlrecht (Listenwahl) gebracht hat, trägt zwar noch fortdauernd traditionelle Grundzüge. Durch die Verfassungsrechtsprechung zu den Überhangmandaten214 setzt sich aber zunehmend die „französische Tradition“ gegenüber einer „englischen“ durch, die ihrerseits laufend im selben Sinn korrigiert wird. Die „Persönlichkeitswahl“ beschränkt sich in ihrer traditionellen Wirksamkeit immer mehr auf Effekte im Bereich der Kandidatenaufstellung seitens der Parteien; und hier herrscht im Wesentlichen nicht Verfassungstradition, sondern politische Praxis. c) Bei den Rechten des Staatsoberhaupts hat sich zwar eine gewisse bereichsmäßig beschränkte Übung entwickeln können. Doch auch hier sind die Ausgestaltungen mehr Ausdruck laufender Praxis als grundsatzgetragener Tradition. Die nähere Bestimmung eines Kontrollrechts des Bundespräsidenten im Verhältnis zum Parlament ist bisher gerade deshalb nicht gelungen, weil sich dazu eine überzeugende Tradition bisher nicht entwickelt hat215. Die gesamte Gewichtung der Regelungen der Kompetenzen des Staatsoberhaupts ist überdies gewissermaßen „aufgehängt“ in der Problematik von dessen Volkswahl. Mit einer solchen würden hier alle bisherigen Traditionsansätze Makulatur. d) Ein Zentralbereich des Staatsorganisationsrechts, mit Ausstrahlungswirkungen vor allem auf die Organisationsstruktur im Bereich des Bundes, ist die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, welche bereits die Brücke darstellt zur Problematik des Traditionspotenzials des Föderalismus (i. Folg. 5.). Sie sind aber auch allgemein ein Beispiel für die Wirkungsweise des Herkommens allgemein im Staatsorganisationsrecht. Hier werden nicht Katalogaufzählungen

213 Zur Prägung des Begriffs der „Allgemeinheit der Wahl“ in Art. 38 Abs. 1 GG durch die Gleichheit vgl. Achterberg, N./Schulte, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 38 RN 120. 214 Zur Einschränkung der Überhangmandate als einer Form der Durchsetzung des Verhältniswahlrechts vgl. neuerdings BVerfGE 121, 266 (299 ff.). 215 Die Kontrollrechte des Bundespräsidenten gegenüber dem Parlament (Prüfungsrecht der Gesetze) sind nach wie vor weithin ungeklärt, vgl. Brenner, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 82 RN 20 ff.; von einer „Tradition“ kann hier wohl kaum gesprochen werden.

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D. Tradition und Grundgesetz

geboten, welche mit denen der Grundrechte vergleichbar wären216 ; letztere haben sich vor allem in zunehmender Konkretisierung, Verfestigung und Erweiterung ihrer Inhalte entwickelt, was ihr Traditionspotenzial verstärken konnte. Gesetzgebungszuständigkeiten werden dagegen verändert, zum Teil „hin- und hergeschoben“ – wie „das Beamtenrecht“ zeigt – je nach Entwicklungen von Ökonomie, Technik und Überstaatlichkeit, also entsprechend gegenwärtigen „Grundstimmungen“ (s. oben A. II.), die zur Zeit vor allem gegen Traditionspotenziale sprechen. Die politische Beliebigkeit überdies, mit der solches ein Gegenstand von Verfassungsreformen gerade in Deutschland war, schon seit 1949, zeigt hier die Problematik von Traditionswirkungen in deutlicher Form. Sie finden sich allenfalls noch in Versuchen systematischer Zusammenfassungen, die etwa, als übergeordnete Kriterien, den Ländern eine „Kulturhoheit“217 oder eine „Polizeikompetenz“ zuerkennen wollen; diese letztere ist allerdings bereits auf eine „Landes-Örtlichkeit“ beschränkt worden, und erstere steht in vielfältiger ständiger Erosionsgefahr. Hier mag noch immer „Tradition“ bemüht werden; nur in einem sehr weiten – und wirkungsschwachen – Sinn kann davon aber die Rede sein.

5. Insbesondere: „Traditionsgetragener Föderalismus“ a) Historische Betrachtung: Heterogene Tradition in Abschwächung? aa) „Der Föderalismus“ wird zugleich als zentrales Beispiel für das Wirken einer Tradition in der grundgesetzlichen Ordnung betrachtet – und er zeigt deren Probleme, wenn er nicht gar zum Stein des Anstoßes wird für ihre verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Entstehung einer Gesamtdeutschen Staatsordnung wird rechtlich in einem föderalen Zusammenschluss gesehen, auch wenn sie sich 1871 historischtatsächlich als Ergebnis preußischer Machthegemonie vollzog. Geschichtlich konnte man ja im Heiligen Römisch-Deutschen Reich Bundesstrukturen entdecken und entsprechende Gestaltungen im II. Reich wie in der grundgesetzlichen Ordnung als deren staatsrechtliche Fortsetzungsformen dogmatisch einzuordnen versuchen. Allerdings ist eine derartige Traditionssicht – von Anfang an – mit der Problematik belastet, dass die „föderalen“ Zusammenwirkungsformen in der Zeit vor dem Ende des I. Reiches weder denen im Deutschen Bund noch denen nach 1919 oder 1949 entsprachen, welche letzteren wieder untereinander erheblich differieren. Von 216

Vgl. oben VII. 2. b). Die katalogmäßigen Aufzählungen der Grundrechte sind grundsätzlich unvergleichbar mit denen der Gesetzunggebungszuständigkeiten. 217 Zur Kulturhoheit der Länder s. Eiselstein, C., Verlust der Bundesstaatlichkeit? Kompetenzverluste der Länder im kulturellen Sektor vor dem Hintergrund von Art. 79 GG NVwZ 1998, 323; Geis, M.-E., Die „Kulturhoheit der Länder“, DÖV 1992, 522; Häberle, Peter, Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, AöR Band 124 (1999) 549.

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

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einer geschichtlich betrachteten Tradition des Föderalismus bleibt für diesen also allenfalls die höchst allgemeine Vorstellung eines „irgendwie“ organisierten staatsrechtlichen Bündniszustandes; in ihm erhält sich dann, vielleicht nicht in seiner jeweils gegenwärtigen Form, aber doch in einer gesamtgeschichtlichen Betrachtung, nach wie vor etwas von der alt-kritischen Einschätzung des Reiches als eines monstro simile – in der Problematik der rechtlichen Fassbarkeit der Wirkungen des Föderalismus, auch als Grundprinzip der grundgesetzlichen Ordnung: Jedenfalls in der „flutenden Bewegung“ föderaler Kooperationsformen findet eine im Schwerpunkt eben doch historische Betrachtung eher Problembereiche als Wirkungsfelder für direktive rechtliche Strukturvorstellungen. Ist dann aber föderale Tradition nicht mehr verdämmernder historischer Hintergrund als bindende Geltungskraft? Wirken daher ihre hier so oft beschworenen Erscheinungen nicht eher im Ergebnis global abschwächend sogar auf jeden verfassungsrechtlichen Traditionalismus? bb) Ein eher generell traditionsabschwächendes Wirkungspotenzial erwächst der Verfassungsgrundentscheidung für einen Föderalismus, jedenfalls in Deutschland, aus der traditionellen Frontstellung „zentralistischer“ und „föderalistischer“ Grundeinstellungen im Staatsrecht. Dass sich hier, seit nahezu zwei Jahrhunderten, geradezu wissenschaftliche Schulen wie Strömungen politischer Praxis bei zahllosen Einzelanlässen der Gesetzgebung, der Normanwendung, neuerdings der Verfassungsrechtsprechung in deutlicher, oft grundsätzlicher Gegensätzlichkeit gegenüberstanden, bedarf keines Beleges. Berufungen auf ein unterschiedliches „Verständnis des Föderalismus“ haben dies überdecken, den fundamentalen Antagonismus zwischen „Zentralisten“ und „Föderalisten“ aber nicht aufheben, ja nicht einmal wesentlich entschärfen können. Es äußert sich all dies häufig in so engen Detailbereichen, dass es gar nicht gelingen kann, es in seiner Wirksamkeit insgesamt aufzudecken, geschweige denn es bis in die Bereiche möglicher Traditionseffekte hochzurechnen. Verschleiert wird hier, nicht selten bewusst, auch über Auftraggeberschaft bei Vorfelduntersuchungen, oft unter größerer finanzieller Potenz zentralistischer Interessen. b) Technisch-ökonomische Entwicklungen contra Traditions-Potenziale Technische wie ökonomische Entwicklungen begünstigen eindeutig ländergrenzenüberschreitende Steuerungs- und Regulierungsevolutionen, die das Grundgesetz als solche nahezu vollständig ignoriert. Es beschränkt sich auf die Trennung von Bundes- und Landesgesetzgebung und vor allem -verwaltung(en)218. Zusammenarbeit der Länder auf einer „Dritten Ebene“, bis hin zu teilweise bereits verfestigten

218 s. Schnapp, F. E., Mischverwaltung im Bundesstaat nach der Föderalismusreform, Jura 2008 S. 241 ff.; Huber, P. M., Das Verbot der Mischverwaltung, DöV 2008, S. 844 ff.

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D. Tradition und Grundgesetz

Formen eines kooperativen Föderalismus219, sind als solche nicht Gegenstände grundgesetzlichen Ordnens. Hier mögen sich durchaus neue Traditionen bilden, ja solche bereits im Entstehen sein. Auch sie unterliegen aber laufend Einflüssen der technisch-ökonomischen Entwicklung; diese führt auch hier zumindest zu einem dynamischen Fluktuieren, welches den „ruhigeren“ Effekten einer rechtlichen Tradition entgegenwirkt. Tradititonsabschwächung ist also generell auch darin die Folge der bereits dargestellten allgemeinen Grundstimmungen (A. I.) für den Bereich des Föderalismus, dessen Potenziale so jedenfalls grundsätzlich in ihrer Wirkung reduziert werden. c) EU-Entwicklungen und nationale Tradition Der Föderalismus in seinem „deutschen Modell“ – wenn man ein solches denn, angesichts der erwähnten Probleme, (noch) annehmen will – ist tiefgreifenden Veränderungseinflüssen durch Entwicklungen im EU-Bereich ausgesetzt. Mit ihnen kann es hier zu einem „Zweistufigen Föderalismus“ kommen, in dem sämtliche innerstaatliche materielle Aufgabenverteilungen und formalen Kompetenzabgrenzungen neu zu bestimmen sind. Ob sich damit der „deutsche Föderalismus“ zu einem Regionalismus wandeln, welches Gewicht einem Kommunalismus zukommen wird – um nur diese Grundsatzprobleme anzusprechen – ist noch völlig unabsehbar. Bei den Mitwirkungsrechten der Länder nach Art. 23 GG wird es wohl zu grundlegenden formalen Veränderungen kommen; dementsprechend muss dann vielleicht das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis von Bund und Ländern, vor allem auch in seiner „Schaltstelle Bundesrat“, gänzlich neu konzipiert werden. Es wird kaum mehr möglich sein, das bisherige föderale Gleichgewicht von Bund und Ländern zu erhalten, schon weil der Oberstaat entscheidend an Gewicht verlieren könnte – und/ oder (auch) die Gliedstaaten. Dies alles ist bereits als eine – gar nicht mehr so weit entfernte – Möglichkeit, derartig gravierend in seinen Auswirkungen auf Wirkungszentren des deutschen Föderalismus erkennbar, dass eine generell-grundsätzliche Bestimmung von dessen Traditionspotenzial(en) gegenwärtig kaum mehr vorstellbar erscheint. Allenfalls können hier im Folgenden einzelne Aspekte nach geltendem Verfassungsrecht behandelt werden, für welche auch zukünftig noch von gewissen Wirkungen eines nationalstaatlichen „deutschen Herkommens“ auszugehen sein mag.

219 Zum kooperativen Föderalismus, wo unter Umständen der Beginn einer gewissen Traditionalität festzustellen ist, s. neuerdings Kropp, S., Kooperativer Föderalismus und Politikverflechtung, 2010; Buscher, D., Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, 2010, S. 76 ff.

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d) Grundgesetzliche Verbürgungen des Föderalismus: Der herkömmliche Territorialbestand der Länder Traditionspotenziale des Föderalismus können sich in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ergeben einerseits aus Garantien für den herkömmlichen Territorialbestand von dessen Trägern, also für die Länder, andererseits aus traditionellen Rechtsformen von deren rechtlichen Wirkungsmöglichkeiten auf Verfassungsebene (i. Folg. e)). aa) Der herkömmliche Territorialbestand der Länder wird in der Präambel angesprochen. Damit ist jedoch eine entsprechende Bestandsgarantie schon deshalb nicht verbunden, weil sich der Vorspruch bei der Nennung der Länder lediglich auf historische Fakten beim (damaligen) Verfassungserlass durch die „Deutschen in ihnen“ bezieht. 1945 war es hinsichtlich gerade des Territorialbestandes zu tiefstgreifenden Veränderungen in Deutschland gekommen. Dieses „verfassungsrechtliche Vakuum“220 wurde in der Besatzungszeit schon durch die Auflösung Preußens, aber auch andere Veränderungen, etwa die Trennung der Pfalz von Bayern, in einer Weise „aufgefüllt“, die sich über deutsche Traditionen eines „Länderbestandes“ weitestgehend hinwegsetzte. Hier mag allenfalls vom Beginn einer neuen Tradition, nicht aber von der Fortführung eines früheren Herkommens gesprochen werden. Überdies steht die Präambel unter einem generellen Änderungsvorbehalt entsprechend der Tragweite der jeweiligen grundgesetzlichen Verfassungsrevisionen nach Art. 79 GG221, wie dies bereits bei der Wiedervereinigung praktiziert worden ist. bb) Nach Art. 79 Abs. 3 GG finden solche Verfassungsänderungen im föderalen Bereich ihre Grenze lediglich darin, dass es jedenfalls weiterhin „Länder“, also jedenfalls zwei derartige Gebilde222 geben muss. Dies bedeutet nun allerdings nicht eine grundsätzliche rechtliche Absage an ein prinzipielles verfassungsrechtliches Traditionspotenzial des territorialen Länderbestandes, wie er dem Grundgesetz zugrunde liegt und eben in der Präambel zum Ausdruck gekommen ist. Klargestellt ist damit lediglich, dass jedenfalls dem Pouvoir constituant, aber auch schon dem Pouvoir constitué der Verfassungsrevision nach Art. 79 Abs. 1, 2 GG, ein letztes Änderungsrecht hinsichtlich des föderalen Traditionspotenzials zukommt. Ein solches ergibt sich generell aus der „Volkssouveränität“, und es wirkt im Föderalbereich nicht anders als bei den übrigen in Art. 79 Abs. 3 GG angesprochenen Grundentscheidungen223, schon wegen der notwendigen Verbindung der Tradition mit ge220

Zum „verfassungsrechtlichen Vakuum“ s. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Präambel RN 17, unter Hinweis auf Theodor Maunz. 221 Zu den Änderungen der Präambel Starck, Chr. (FN 220), RN 32. 222 Die h. L. geht davon aus, dass Art. 79 Abs. 3 GG jedenfalls das Bestehen(bleiben) von zwei Ländern verlangt, Nachweise bei Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 79 RN 132, der seinerseits aber die jeweilige Mindestzahl „situationsabhängig“ bestimmen will. 223 Zu den Wirkungen des Pouvoir constituant auf die Grundentscheidungen vgl. oben VI. 2. zur Rechtsstaatlichkeit.

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setztem Recht224. Nicht eine prinzipielle Frontstellung gegen, sondern sogar eine Garantie „inhaltlicher Traditionswirkungen im Länderbestand und durch diesen“ ist also darin zu sehen, lediglich unter dem Vorbehalt gesamtstaatlich-demokratischer Bürgerentscheidungen. Dogmatisch wird darin eine Verfestigung dieses Traditionspotenzials in seiner jeweiligen territorialen Wirkungsausdehnung in den Ländern feststellbar. Ihm muss dann, selbst bei Verfassungsänderungen, immerhin eine erhebliche Abwägungsbedeutung zukommen225. Die Wirkung eines Herkommens ist allerdings insoweit nach dessen Inhalten (vgl. dazu i. Folg. f)) und deren bindenden Normwirkungen zu bestimmen. cc) In diesem Zusammenhang kommt Art. 29 GG mit seinen Bestimmungen über eine mögliche Neugliederung des territorialen Länderbestands erhebliche Bedeutung zu, in einem doppelten Sinn: Einerseits steht auch er unter dem demokratischen Änderungsvorbehalt der Verfassungsrevision (vgl. vorsteh. bb)). Darüber hinaus stellt das Grundgesetz hier aber demokratisch ausgestaltete spezielle verfassungsrechtliche (Änderungs-)Mechanismen für den jeweiligen traditionellen Landesbestand zur Verfügung. In stark ausdifferenzierter Form werden die Interessenlagen in den bisher bestehenden „abgebenden“ und „aufnehmenden“ Ländern, aber auch die in den umzugliedernden Landesteilen berücksichtigt. So zeigt sich, dass die volkssouveräne demokratische Mehrheitsgewalt, der auch hier das letzte Wort zusteht, bereits außerhalb von Verfassungsrevisionen jedenfalls in spezielle Änderungsformen rechtlich eingebunden ist. Diese rechtfertigen sich aus einer verfassungsrechtlich verankerten besonderen Bedeutung dessen, was im jeweiligen Landesbestand an Interessenlagen in der Bevölkerung wirksam ist. Dies Letztere wird nicht näher im Grundgesetz angesprochen; es muss sich hier aber jedenfalls vor allem um Traditionspotenziale handeln. Art. 29 GG bringt daher, wenn auch nur in unausgesprochener Wirksamkeit, das Herkommen in seinen vielfachen Wirkungen zum Tragen, wie es eben in der lebendigen Zusammengehörigkeit der Bürger in ihrem Land (i. Folg. f)) zum Ausdruck kommt. e) Die föderalen (Mit-)Wirkungsformen bei der Gesetzgebung Revisionsfest gegenüber Grundgesetzänderungen ist ferner die „grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes“ (Art. 79 Abs. 3 GG). Der Bindungsgehalt dieser „Ewigkeitsentscheidung“ zum Föderalismus wird im All-

224 Zu dieser notwendigen Einbindung der Traditionswirkung in das gesetzte Recht, vgl. oben B. II. 1. 225 Schon wegen der Notwendigkeit einer solchen Einbindung der Tradition in das gesetzte Recht ist jedenfalls von einer erheblichen Abwägungsbedeutung der Tradition im Bereich des jeweiligen territorialen Landesbestandes auszugehen. Dies gilt jedenfalls in einem „Vorfeld“ einer radikalen Verfassungsänderung, auf dem dann auch die Mindestzahl der Länder situationsabhängig zu bestimmen sein könnte (vgl. FN 222).

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gemeinen gering eingeschätzt226. Mit Blick auf Verfassungstradition(en) bedarf dies der Korrektur. „Mitwirkung bei der Gesetzgebund des Bundes“ kann nicht im Sinne „irgendeiner“ Kooperationsform verstanden werden, die lediglich „nicht völlig gewichtslos“ wäre; eine solche Vorstellung ist schon mit den elementaren Gehalten einer Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar. Anzuknüpfen ist vielmehr an bisherige Formen der Mitwirkung. Hier aber stellt sich die Frage nach einem Traditionspotenzial derselben. Für das Verständnis der „Gesetzgebung“ bezieht sich dies, nach deren herkömmlicher Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, auf die verfassungsrechtlichen Formen der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes sowie insbesondere auf die Ausgestaltung dieser letzteren. Diese beinhaltet ihrerseits die Frage nach einer abwägungsrelevanten Bundesratstradition, aber auch nach dem Traditionsgehalt von dessen „Einspruchs-“ oder „Zustimmungsformen“. In all diesen Bereichen lassen sich, in mehr „föderalistischer“ oder „zentralistischer“ Perspektive, (Ansätze oder Entwicklungen von) Traditionen im Grundgesetz feststellen. Sie können hier nicht vertieft werden. Festzuhalten bleibt aber: Art. 79 Abs. 3 GG ist nicht als durchgehende Absage an die Wirksamkeit von verfassungsrechtlichen föderalen Traditionspotenzialen zu verstehen, sondern als Aufgabe, diesen jeweils in sorgfältiger Untersuchung nachzugehen, selbst, ja gerade unter dem Vorbehalt eines letzten Änderungsrechts der demokratischen Mehrheit. f) Die „Zusammengehörigkeit“ in den Ländern als Traditionspotenzial Hier scheiden sich die Geister im föderalen Traditionsverständnis: Gibt es (noch) eine „Zusammengehörigkeit“ der Bürger auf jeweiliger Landesebene, mit (auch nur einigem) Verfassungsgewicht? Lässt sich dieses auf rechtlich fassbare Norm(aus)wirkungen einer Tradition insgesamt, oder auch nur von einigen ihrer institutionell verfestigten Potenziale zurückführen? Nach den oben227 entwickelten „Traditionselementen“ ist dies im Einzelnen zu beurteilen. Dabei sind von Bedeutung historisch (noch) wirksame gemeinsame Schicksale einer Gruppe, Sprache, Religion, ethnische Gemeinsamkeiten, Kulturund Bildungsentwicklungen in einem weiten Sinn, und vor allem wirtschaftliche Verflechtungen – aber eben auch Dauer und Geschlossenheit staatlicher Ordnungsvorstellungen, jeweils mit eigenständigem Gewicht. Dies alles wirkt jedoch in 226 Der revisionsrechtliche Gehalt der Mitwirkungsrechte der Länder an der Gesetzgebung des Bundes wird allgemein (zu) gering eingeschätzt; gemeint kann wohl nur sein: ein Einfluss, der „in der Regel“ von einem solchen Gewicht ist, dass noch von einem zweiten Kammersystem gesprochen werden kann – eben traditionell –, muss jedenfalls bleiben. Vgl. zur Problematik Hain, K.-E. (FN 222), RN 133 f., der hier eine „Offenheit“ annimmt, die allerdings nicht unproblematisch sein dürfte. 227 B. II. – nach den Traditionskriterien (Dauer, Geschlossenheit usw.) ist dies zu beurteilen, vgl. B. I. IV.

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einer kombinierten Form, eben in jener Zusammengehörigkeit, in der sich deren einzelne Bestimmungsfaktoren vielleicht getrennt gewichten, nicht aber (völlig) isolieren lassen. Das Herkommen zeigt sich gerade in diesem Föderalbereich in seiner eigenartigen Wirkungsweise – und zugleich in seiner vollen Problematik: Quellen lassen sich bestimmen, Schwerpunkte ausmachen, eine verfassungsrechtliche Gewichtung kann aber nur über die Feststellung erfolgen, wie weit all dies bereits in gesetztem Recht seinen Ausdruck gefunden hat. Und dabei müssen vor allem noch die einzelnen Entwicklungspotenziale dieser Traditionselemente bestimmt und zusammengeordnet werden. Diese vielfältigen, komplexen Vorgänge müssen schließlich in ihrer (möglichen) Rechtswirksamkeit beurteilt werden. Aus all dem entsteht dann ein Denken, in dem Tradition im Begriff eines „landsmannschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls“ eher verniedlicht als rechtlich definiert zu werden pflegt. Hier geht es gewiss auch um Gefühle, bis hin zu Sentimentalitäten, ja Nostalgien, fernen Zukunftsvisionen. Ihre Einbindung in die Rechts-, sogar in die Verfassungsordnung finden sie im Begriff einer „föderalen Solidarität“. Sie muss aber bereits auf Landesebene entstehen und wachsen, sodann in höherstufigen Gemeinsamkeiten sich in die Bundesebene hinein-, hinaufentwickeln. Hier wird nicht nur die verfassungsrechtliche Problematik der Tradition, sondern vor allem auch die eines Solidaritätsbegriffs deutlich. Er wächst aus ihren Wirkungen im föderalen Bereich wie in dem der gesamten staatlichen Sozialpolitik. „Zusammengehörigkeit“ soll ja sowohl Landesorganisationen tragen wie wirtschaftliche Gestaltungen durch „soziale Gewalten“. So nahe es liegen mag, überall rechtliche Traditionswirkungen „zu hinterfragen“, sie „auf den Prüfstand zu stellen“, so sicher ist: Eine Zusammengehörigkeit wächst in diesen Traditionen, fassbar in föderaler wie wirtschaftsverbandlicher Pluralität228 ihrer Träger und Interessen. g) Grundgesetzliche traditionelle Rahmen der „Zusammengehörigkeit“: Gleichwertige Lebensverhältnisse – Finanzausgleich aa) Der Begriff der „Lebensverhältnisse“229 in Art. 72 GG beinhaltet einen Verweis auf einen globalen Sachverhalt, der als solcher zwar nicht wesentlich aus In228 Die Bedeutung der Pluralität für die Bundesstaatliche „Zusammengehörigkeit“, bei Trägern wie Interessen des Föderalismus, spielt denn auch für die Tradition eine gewichtige Rolle, vgl. dazu Leisner, A., Vielfalt – ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004, S. 123 ff. 229 Gleichwertigkeit besteht, solange sich die Lebensverhältnisse nicht in „erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben“, oder sich dies „konkret abzeichnet“ (BVerfGE 112, 22 (244)) – eher eine Leer- als eine Verdeutlichungsformel, wenn nicht eine Tautologie, krit. zutr. Oeter, St., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 72 RN 101 ff.

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halten der jeweiligen Traditionen aufzufüllen ist. Vielmehr spielen gerade hier technisch-ökonomische Fortschrittsentwicklungen eine entscheidende Rolle, wie schon der Begriff der „Gleichwertigkeit“ belegt. Dennoch ist der jeweilige Zustand nicht nur auf dem Hintergrund früherer Situationen, sondern auch nach deren weiterwirkenden Traditionalität zu bestimmen. Nicht selten kommt letzterem eine gewisse Abschwächungsbedeutung gegenüber ökonomischen Fortschrittseffekten zu: Kulturelle Zustände etwa entfalten sogar etwas wie „Genusspotenziale“ für den Bürger, welche wirtschaftliche Nachteile zwischen Ländern in Kauf nehmen lassen. Die „Gleichwertigkeit“ ist also nicht allein nach ökonomisch-technischen Maßstäben zu bewerten. Der Wortlaut des Grundgesetzes zeigt auch („oder“), dass die Wahrung der Einheit(lichkeit) der Rechtsordnung als solche dieser Gleichwertigkeit gegenüber ein eigenständiges Kriterium darstellt; es ist diese Einheit als ein Maßstab zu verstehen, dessen Beachtung die übergreifende nationale Identität Deutschlands begründen und sicherstellen soll. Nur soweit diese ihrerseits Gegenstand eines feststellbaren Herkommens ist, spielt die rechtliche Ordnung als solche hier eine Rolle mit Traditionspotenzial. Die in Art. 72 GG der föderalen Vielfaltsordnung – welche sich weithin aus kombinierten Traditionspotenzialen ergibt – gestellten Aufgaben zeigen praktische Auswirkung im Wesentlichen in einem: ökonomischen Effekten auf die Entwicklung eines landesbezogenen Zusammengehörigkeitsgefühls. Hier liegen auch Grenzen, und Schnittstellen, zwischen den Wirkungen einer „Wirtschafts-“ und einer wie immer verstandenen „Kulturstaatlichkeit“230: Die Auffüllung dieses letzteren Begriffs hat jedenfalls in besonderer Intensität unter Rezeption wie Regelung traditioneller Lebensverhältnisse zu erfolgen. bb) Diese Traditionsbezogenheit des Verfassungsbegriffs der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ ist nun aber in Beziehung und Spannung zu sehen zu dem einer wirtschaftlichen Solidarität im Gesamtstaat. Sie findet ihren Ausdruck in der Verfassungsdogmatik des Finanzausgleichs, die ihrerseits auch bereits eine gewisse „Tradition hat“; diese Verbindung sollte mehr als bisher und nun wirklich – „grundsätzlich“ betrachtet werden. Die Formen des Finanzausgleichs231 zwischen den Ländern unterliegen allerdings im Einzelnen einem häufigen und weitgehenden Wechsel. Hier kommt auch „Rechts-“, ja „Landesverfassungstechnik“ in solchem Maße zum Einsatz, dass von fester formierten „Traditionen“ kaum (mehr) gesprochen werden kann. Auch variiert dieser Finanzausgleich laufend mit der Entwicklung der Länderaufgaben im Ver230

Zur Kulturstaatlichkeit eingehend Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 329 ff. Zu ihrem Erscheinungsbild insgesamt vgl. EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“, Schlussbericht, BT-Dr. 18/7000 insb. Abschn. 2.4 Staatsziel Kultur, S. 68 ff. 231 Überblick zur Entwicklung des föderalen Finanzausgleichs bei Siekmann, in: Sachs, M., GG, 6. A. 2011, Vor. Art. 104a RN 34 ff.

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hältnis zu den Bundeskompetenzen. Der Finanzausgleich erscheint also weithin als eine Funktion dieser Entwicklungen, bei denen, wie erwähnt, von wirksamer Traditionalität allenfalls in allgemein-grundsätzlicher Art („Kulturhoheit der Länder“) die Rede sein kann. Immerhin hat jedoch der Finanzausgleich insoweit bedeutsame Wirkungen auf Traditionspotenziale im Föderalsystem, als über ihn vor allem gleichgewichtsstörenden Auswirkungen technisch-ökonomischer Entwicklungen entgegengewirkt wird, diese jedenfalls in einer gewissen föderalen Balance gehalten werden. Dies aber stärkt, im Gegenzug, die Traditionspotenziale, vor allem im Bereich der kulturellen „Landeswertigkeiten“. Insgesamt führt der Finanzausgleich auf diesem Weg sogar zu etwas wie einer Bewahrung, ja Entwicklung gesamtstaatlicher Traditionszustände, wenn auch unter Einbußen für länderstaatlich eigenständige Traditionspotenziale. h) Fazit zur „Tradition im deutschen Föderalismus“ Insgesamt zeigt sich also in jenem Föderalismus, der oft so leichthin als eine „Domäne von Traditionalitäten“ im Staatsrecht gesehen wird, in Deutschland heute ein höchst differenziertes Bild: weithin großflächige Traditionsabschwächungen, andererseits aber, in Einzelbereichen wie auf speziellen Wegen, doch auch fortdauernd, punktuell sogar zunehmend Verstärkung von Traditionspotenzialen. Über dieser Gesamtlage des deutschen Föderalismus – wenn man überhaupt noch von einer solchen sprechen will – hängt aber das Damoklesschwert Europäischer Entwicklungen. Man mag immerhin hoffen, dass sich gerade hier „Traditionen auf innerstaatlich-föderaler Normstufe“ nicht nur erhalten, sondern verstärken werden. Ob dies aber von auch nur einigem Gewicht sein wird gegenüber einem massiven unionsrechtlichen Traditionsabbau, lässt sich gegenwärtig ebenso wenig vorhersehen wie die Formen, in denen dieser sich vollziehen könnte.

6. Kommunaltradition, Selbstverwaltung a) Ein Bereich zentraler Traditionsentwicklung im öffentlichen Organisationsrecht Die Gemeinden sind, in historischer Sicht, eindeutig Ausgangs- und Mittelpunkt „öffentlicher Organisation“ schlechthin, damit auch ein Prototyp für die Entstehung des Staatsorganisationsrechts als solchen. Das galt bereits für die Antike, von Athen bis Rom, trifft aber in besonderem Maße für das Alte Deutsche Reich zu. Gewissermaßen in nuce hat sich in den kulturell höherentwickelten Kommunen all das entfaltet, was in späteren Zeiten des Territorialfürstentums auf die anderen, umliegenden Gebiete administrativ erstreckt wurde, bis hin zu Herrschaftsformen von

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gewählten Räten und Stadtparlamenten – aristokratischen Vorläufern späterer Demokratisierungen. Dies wird als solches zu wenig gewürdigt in seiner Bedeutung für die Entstehung der Volksherrschaft. Diese unterbelichtende Einschätzung des Kommunalrechts als eines Prototyps demokratischer Staatsorganisation – und zwar geradezu „traditionell“, seit fast zwei Jahrhunderten – hat in Deutschland dazu geführt, dass die Städte, die Gemeinden als solche, als „staatsrechtliche Traditionsträger“ verfassungsrechtlich nicht entscheidend in Erscheinung traten: Die zunächst ungebrochene Kraft des Territorialfürstentums wirkte, zusammen mit rezipierten zentralistischen Einflüssen aus dem revolutionären und napoleonischen Frankreich, im Sinne einer „Abstufung des Kommunalismus ins Verwaltungsrecht“. Daran hat auch das Verfassungsgewicht der „Stadtstaaten“ wenig geändert: ihnen kommt „verfassungsrechtliche Typusprägung“ kaum zu. Neuerdings verstärkt sich diese Tendenz als Folge technisch-ökonomischer Entwicklungen: Die Gemeinden sind eben letztlich doch nur „örtliche Erfüllungsinstanzen“ bei weiträumig verflochtenen Aufgabenstellungen. So hat sich denn ein Kommunalismus, anders als der Föderalismus, als eine tragende Säule deutscher Staatsorganisation nicht entfalten können. Damit wurden auch viele staatsrechtliche Traditionen verschüttet, die nun zu einer Wirksamkeit allenfalls auf Landesebene, in den unter 5. dargestellten Formen, vor allem aber auch in deren Grenzen, kommen können. Dass hier allerdings Rückgriffe auf Kommunaltraditionen bis zu renaissancehafter Wiederbelebung von Staatsorganisationsformen führen (können)232, ist gegenwärtig kaum absehbar.

b) „Föderale Traditionalität“ und Kommunalrecht aa) Im kommunalen Bereich sind die gleichen Entwicklungseinflüsse auf das Staatsrecht über Traditionspotenziale festzustellen wie in föderalen Strukturen, allerdings in unterschiedlicher Wirkungsintensität und eben nicht in staats-, sondern in verwaltungsrechtlichen Formen. Zentralistische und föderalistische Grundhaltungen (vgl. oben 5. a) bb)) wirken sich hier allerdings meist in „umgekehrter Betonung“ aus, gegenüber dem Föderalismus, jedenfalls in der herkömmlichen Praxis: Wo eine föderale Grundeinstellung vorherrscht, müssen die Gemeinden in strenger Kontrolle in die Verwaltungsorganisation des Landes eingebunden werden233 ; zentralistische Vorstellungen werden hier dagegen weniger restriktiv organisieren lassen, schon weil dort die Landes- gegenüber der Bundesgewalt als solche in einer schwächeren Ausprägung tätig wird. – Ökonomische Entwicklungen führen zwischen den Gemeinden zu vielfältigen Kooperationsformen, wie im Föderalismus zwischen den Ländern (vgl. oben 5. b)); in ihnen entwickeln sich bereits gewisse Traditionen, auch 232

Dazu grdl. Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Rückkehr der guten Staatsformen, 1987, S. 281 ff., 2. A. in: ders. Das demokratische Reich, 2004, S. 298 ff. 233 Wie etwa in der „Montgelas-Tradition“ in Bayern, vgl. dazu Seydel, M. v./Piloty, R., Bayerisches Staatsrecht, 3. A. 1913.

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sie sind aber grundsätzlich nicht Regelungsgegenstände von Landesverfassungen –. EU-Recht erreicht, über Veränderungen föderaler Strukturen in den Mitgliedstaaten (vgl. oben 5. c)), auch das Kommunalrecht234, wobei im Ergebnis dessen innerstaatsrechtliche Bedeutung sogar eine gewisse Aufwertung erfahren mag; die Entfaltung neuer Traditionen ist hier aber ebenso wenig schon absehbar wie im Bundesstaatsrecht. bb) Auch die herkömmlichen föderalen Problemlagen des Bundesstaatsrechts hinsichtlich des Territorialbestandes der Gemeinden (vgl. oben 5. d)) finden sich im Kommunalbereich, wenn auch nicht in staats-, sondern in verwaltungsrechtlichen Regelungsformen. Hier spielen lange und überzeugende Traditionen regelmäßig eine bedeutsame Rolle, als Abwägungsgesichtspunkte235 bei gemeindegebietlichen Neugestaltungen. Die Gemeindeordnungen enthalten entsprechende Neugliederungsregelungen. Kommunale Mitwirkungsformen bei der Landesgesetzgebung, entsprechend der föderalen Lage (vgl. oben 5. d) aa)), sind jedoch nicht von vergleichbarer Bedeutung wie im Bundesstaatsrecht. Eine „Tradition“ ist hier allenfalls rein politisch in der herkömmlich starken Stellung der Kommunallobby sowie parteienintern in den Entwicklungsstrukturen des demokratischen Führungspersonals erkennbar. c) Traditionsgewicht der „örtlichen Angelegenheit“ Nur bei einem Regelungsgegenstand treten kommunale Traditionen auch verfassungsrechtlich wieder in Erscheinung: Im Begriff der Regelungsautonomie der Gemeinden für ihre örtlichen Angelegenheiten, gesteigert zu einem grundsätzlichen Ordnungsmonopol, wenn auch im Rahmen staatlicher Gesetze. Hier wirkt sogar eine bundesverfassungsrechtliche normative Direktivkraft in den Landesbereich hinein, über Art. 28 Abs. 2 GG236. Inhaltlich haben sich darin gewisse Begriffskategorien in der Konkretisierung dessen entwickelt, was jeweils als eine „Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft“ nach Bundes- und/oder Landesverfassungsrecht zu verstehen ist237. Bei der Bestimmung der Inhalte kommt es zu einer Verschränkung „von unten wirkender“ Traditionsvorstellungen in den jeweiligen Gemeinden und einer 234 Zur Stellung der Kommunen im Europäischen Unionsrecht s. Knemeyer, F.-L., Kommunale Selbstverwaltung in Europa, BayVBl. 2000, 449; Meyer, Hubert, Kommunen als Objekte und wehrlose Verwalter Europas? NVwZ 2007, S. 20; Stirn, I., Kommunen sind unverzichtbare Gestalter der Einigung Europas! KommJUR 2012, S. 251. 235 Zu Traditionen als Abwägungsgesichtspunkt bei Ordnung des kommunalen Gebietsbestandes s. B. II. 5. 236 Zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, vgl. Tettinger, P. J./Schwarz, Kyrill, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. A. 2010, Art. 28 RN 168 ff. 237 Das BVerfG hat in der Rastede-Entscheidung (BVerfGE 79, 127 (145)) ausdrücklich betont, die gemeindlichen Aufgaben seien auf den herkömmlich gesicherten Bestand beschränkt.

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bereits weit entwickelten „Begrenzungstradition“ hinsichtlich von Gegenständen und Intensitäten staatlicher Beschränkungs-Gesetzgebung. Diese letztere nimmt aber eben auch ihrerseits wiederum Rücksicht auf vielfältige Kommunaltraditionen. Hier also zeigt sich eine grundsätzliche, wesentliche und weite Öffnung im deutschen Staatsrecht zu örtlichen Traditionen aller Art. Grenzziehungen unterliegen zwar auch hier einem Letztentscheidungsrecht übergeordneter demokratischer Mehrheiten in Bund und Ländern, die sich ihrerseits vor allem an technisch-ökonomischen Entwicklungen orientieren; damit kommt es (vgl. oben A. II.) zu einer Zurückdrängung lokaler Traditionen im Gefolge nivellierender Verflechtungen. Immerhin ist die verfassungsnormative Direktivkraft der „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“, dank verfassungsgerichtlicher Verfestigungen zu einer „Institutionellen Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung“, noch immer ungebrochen – und mit ihr erreichen Traditionspotenziale auf breiter Front staatsrechtliche Bedeutung:

7. Selbstverwaltungstraditionen im Staatsrecht a) Hohe Grundsatzbedeutung für die Wirksamkeit von Traditionen Selbstverwaltung ist, in der gegenwärtigen Lage gerade des deutschen Staatsrechts, der wohl grundsätzlich bedeutendste und praktisch wirkungsmächtigste Bereich, in dem sich Traditionspotenziale im organisatorischen Staatsrecht immer weiter entfalten, in wahrhaft „lebendigem Herkommen“. Gerade hier wirken sie zunehmend auch hinein in einen gesellschaftlichen Bereich – aus dem sie zugleich kommen. Eine echte „Wechselwirkung“ einer Bürger-Freiheit, in der sich dies vollzieht, mit staatlich begrenzenden Ordnungsfunktionen ist hier seit langem im Lauf. Auf sie können durchaus und sollten verstärkt Grundsätze der grundrechtlichen Wechselwirkungslehre Anwendung finden238. Diese zeigt sich hier in einer organisationsrechtlichen Einkleidung – weil eben Selbstverwaltung eine Form organisationsrechtlichen Freiheitsschutzes darstellt. b) Geschichtliche Entwicklungsströme verfassungsrechtlicher Autonomiebedeutung Dies gerade entspricht einer langen Geschichte und einer in ihr entfalteten Tradition. Beginnend mit Kantonalen Regierungs- und Verwaltungsformen in der Schweiz sowie dem Local Government in England haben sich Formen dieser „Freiheitsverwaltung in eigener Bürgerregie“ als lebendige Ausprägungen einer 238 Zur grundrechtlichen Wechselwirkungslehre vgl. FN 201; sie sollte gerade hier im organisationsrechtlichen Zusammenhang eingesetzt werden.

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„Betroffenheitsdemokratie“ in demokratischen Wahlformen entwickelt; hier wurde die heutige Demokratie auch politisch maßgeblich entwickelt, längst vor ihrem Durchbruch in eine Staatlichkeit auf größeren Flächen. Die „eigenen Angelegenheiten“ waren stets der bleibende, grundsätzliche Ausgangspunkt; sie ergaben sich – in Tradition – „von unten“, mussten nicht in übergeordneter Normsetzung diktiert werden. Dies entfaltete sich in wahlgetragenen Mitbestimmungsformen der Bürgerschaft, die erst mit dem Hinaufwachsen der Selbstverwaltung in größere staatliche Dimensionen in demokratischen Strukturen verfeinert wurden, allerdings auch unter immer weiterer Verallgemeinerung der „eigenen Angelegenheiten“. Nun ersetzte immer mehr eine Ideologie systematischen Freiheitsschutzes die Grundlagenwirkung der Traditionspotenziale in den „eigenen Angelegenheiten der Bürger“. Weiter lief die staatsrechtliche Selbstverwaltungstradition aber in jenem Genossenschaftsrecht, welches sich – „neben der Demokratie“239 und neben den Traditionen der Aufklärung – weiterentwickelte und in der Ständestaatlichkeit240 grundsätzliche Dimensionen der Staatsgrundlegung und Staatsrechtfertigung erreichte. Aufklärerisch-ideologische und ständisch-autonomiebegründete Formen des Freiheitsschutzes traten zwar in harten Gegensatz, in der französisch-revolutionären Entwicklung mit deren Versuchen, „Zwischengewalten“ (pouvoirs intermédiaires) als Freiheitsbestrebungen zurückzudrängen. Vor allem in Deutschland laufen aber staatsgrundsätzlicher und autonomiegetragener organisationsrechtlicher Freiheitsschutz in großen Verfassungs-Traditionen nach wie vor nebeneinander. Die Selbstverwaltung entfaltet sich, in besonderem Maße traditionsgeprägt, in eigenständig fortentwickelten Formen weiter. Zwar erfolgt dies normativ nicht so sehr „unter“ als vielmehr „außerhalb“ der Verfassungsebene, in „gesellschaftsrechtlichen“ Räumen; es wirkt aber, und mit ihm wirken vielfältige Traditionspotenziale, bis in die Verfassungsebene hinauf. Hier konstituiert sich sogar etwas wie neue Formen einer „materiellen“, gesellschaftsproduzierten Verfassung. Allenthalben wirken vielfältige Traditionspotenziale – verfassungsrechtlich rezipiert. c) Von der kommunalen zur funktionalen Selbstverwaltung In deutlicher Anknüpfung an die kommunale Selbstverwaltung haben sich die einzelnen Formen berufsständischer Funktionaler Selbstverwaltung entwickelt. Sie konnte neuerdings als solche bereits systematisiert werden241. In besonderer Weise zeigt sich hier die Bedeutung der Tradition in der Fortentwicklung berufsständischer 239 Und durchaus in einer gewissen Demokratieskepsis, wie sie deutlich wird bei Gierke, O. v., Deutsches Genossenschaftsrecht, Nachdruck 1954, Band 1, 2 in der Darstellung des Zusammenwirkens von Genossenschaftsrecht und Herrschaftsrecht. 240 Ständestaatliche Vorstellungen können ja durchaus als eine „verfassungsrechtliche Potenzierung“ einfachgesetzlicher genossenschaftlicher Gesetzestraditionen verstanden werden, in deren ganzer, auch aus dem Außerrechtlichen übernommenen Vielfalt. 241 Kluth, W., Die funktionale Selbstverwaltung. Verfassungsrechtlicher Status – verfassungsrechtlicher Schutz, 1997.

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Organisationen. Prototypisch ist die Entwicklung des Handwerks242, bis in die Gegenwart. Zünftische Organisationsformen leben, in fast nur „randkorrigierter“ Tradition, in den Innungen fort243, weiterentwickelt in den stärker staatlich geprägten Organisationsformen der Kammern, diese nun mit Organisationsgewicht für die gesamte gewerbliche Wirtschaft. Auch das IHK-Recht hat rasch Traditionalitäten übernommen und in eigenständigem Herkommen fortentwickelt. Besonders bemerkenswert ist bei diesen berufsständischen Traditionen ihre – eben sehr deutlich herkömmliche – Verbindung zu kommunalen Selbstverwaltungsvorstellungen. Diese sind im Verlauf staatsrechtlicher Organisationssystematisierung über die kommunale Selbstverwaltung zu Konstitutivelementen des Verfassungsrechts geworden – und sie wirken nun weiter, „zurück“ wieder in die einzelnen, liberal verselbstständigten berufsständischen Selbstverwaltungs-Bereiche. Diese bildeten ja in der Historie lange Zeit ein einheitliches Ordnungssystem mit den kommunalen Regelungsräumen. Nun befruchten sich diese beiden Traditionsströme, nach wie vor, gegenseitig in der Über- und Wechselwirkung von Selbstverwaltungsvorstellungen in Kommunalverwaltungen und in der funktionalen berufsständischen Selbstverwaltung d) „Soziale Selbstverwaltung“ Autonomie wird in den Trägerorganisationen der Sozialversicherung seit über einem Jahrhundert praktiziert, in wechselnden Staatsordnungen. Hier scheint sich geradezu etwas entwickelt zu haben, wie ein „deutsches Modell“, gerade darin in deutlicher Nähe zu den ebenfalls im deutschsprachigen Raum entfalteten Selbstverwaltungsvorstellungen im Handwerk (oben c)). Weniger deutlich sind hier allerdings institutionelle Verbindungen zur Kommunalautonomie. Immerhin mag es schon die gleiche Begrifflichkeit nahelegen, hier ebenfalls nach Traditionspotenzialen zu suchen, was sich zugleich auf die Geltungsdauer der Regelungen stützen lässt. In der historisch belegbaren und politisch oft beschworenen „Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung“ finden sich hier auch Traditionen, welche (bereits) für ein „Herkommen“ dieser Sozialen Selbstverwaltung sprechen. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass das praktische Gewicht dieser Autonomie sich laufend abschwächt, schon durch die Herkunft der von ihr verwalteten Mittel aus öffentlichen Kassen und den damit verbundenen Einfluss öffentlicher Organisationsträger. Was also zunächst – weithin noch immer – erscheint als eine Traditionsform, könnte dann eben doch, wie in den meisten anderen Ländern, enden in sozialpolitischen Demokratisierungsformen der staatlichen Organisationen. Allgemein bleibt dennoch die Erkenntnis, dass Kommunale Selbstverwaltung im Organisationsrecht der Öffentlichen Verwaltung Traditionspotenziale zum Tragen 242

Zur Tradition im Handwerk s. Leisner, W. G., Die körperschaftliche Rechtsform bei Innungen usw., Ludwig-Fröhler-Institut 2012, S. 20 ff. 243 Zu den Innungen als speziell traditionsgeprägten Gebilden, in der Nachfolge der früheren Zünfteordnungen, s. Leisner, W. G. (FN 242), S. 25 ff.

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D. Tradition und Grundgesetz

bringt, welche dort, aber auch darüber hinaus im Begriff der Selbstverwaltung, jedenfalls in deren freiheitssicherndem Gehalt, verfassungsrechtliche Bedeutung erlangen. Hier wirkt noch immer, in lebendiger, auf Dauer absehbarer Wirkungsstärke, vielfältiges Herkommen, sogar in „typischen deutschen Rechtsformen“, im Staatsorganisationsrecht.

8. Ergebnisse zur „Tradition in der Staatsorganisation“ a) Das Staatsorganisationsrecht bietet, als solches grundsätzlich, aber auch in seinen grundgesetzlichen Ausprägungen, ein noch stärker differenziertes Bild der Bedeutung des Herkommens im Verfassungsorganisationsrecht als im Grundrechtsbereich. Frequenzen und Intensitäten von Veränderungen, bis hin zu Brüchen gegenüber einzelnen, ja globalen Traditionen, sind hier wichtiger als bei Freiheitsverbürgungen, wo sich immerhin auch historisch betrachtet gewisse Entwicklungsstränge herausbilden konnten. Das Deutsche Staatsrecht bleibt aber insgesamt, gerade in neuester Zeit, von Traditionsbrüchen geprägt, die es vor allem im Organisationsbereich wohl nicht gestatten, von einer „Deutschen (Gesamt-)Tradition“ zu sprechen. b) Allgemein ist im Staatsorganisationsrecht, trotz dessen (auch) freiheitsschützender Bedeutung, eine gewisse „Rechtstechnisierung“ zu beobachten, welche weiterreichender Wirkung von Traditionspotenzialen nicht förderlich ist, vielmehr systemschwache Veränderungen, unter ökonomisch-technischen Einflüssen, begünstigt. Damit geht eine „Entideologisierung“ einher, welche Grundsatzwirkungen der Tradition auf Entwicklungen des Demokratie- und Rechtstaatsprinzips (Gewaltenteilung) beschränkt und überdies generell einer organisationsrechtlichen Reduktion auf „Einzeltraditionen“ Vorschub leistet. c) In den zentralen Einzelbereichen der grundsätzlichen Staatsorganisation sind in Deutschland (noch) wirksame Traditionspotenziale nur in eingeschränktem Maß feststellbar, es mag hier etwa das Verhältniswahlrecht genannt werden; schon bei den Präsidialrechten ist Wesentliches durch Gestaltungstechnik im Einzelnen bestimmt, steht überdies unter dem Vorbehalt grundlegender Veränderung bei Einführung einer Volkswahl. Bei der Ausgestaltung der Gesetzgebungskompetenzen beschränkt sich Traditionalität auf gewisse Rechtsformen der Teilung der Zuständigkeiten und des organisatorischen Zusammenwirkens von Verfassungsorganen. d) Ein organisationsrechtliches Traditionsreservoir wird herkömmlich im „Deutschen Föderalismus“ gesehen. Hier ist es immerhin zu gewissen verfassungsformalen grundsätzlichen Verfestigungen gekommen (Art. 79, 29 GG), die aber in ihrer praktisch wirksamen Ausgestaltung keine bedeutenden Effekte entfalten. Von weit größerem Gewicht, wenn auch institutionell schwer fassbar, sind die kombinierten Wirkungen vielfältiger einzelner föderaler Traditionspotenziale im Sinne einer „territorialen Zusammengehörigkeit“. Dabei kommt dem Finanzaus-

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

133

gleich, in Verbindung mit dem Ziel der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ durchaus Bedeutung zu. e) Kommunaltraditionen wirken in ähnlicher Weise, vor allem im Verwaltungsrecht, über die Garantie der Selbstverwaltung, auch mit verfassungsrechtlichem Gewicht; dabei ist der Begriff der „örtlichen Angelegenheiten“ speziell traditionsbestimmt. Autonomietraditionen prägen auch weitere staatliche Regelungsbereiche, in der Funktionalen, vor allem der berufsständischen Selbstverwaltung. f) Sämtliche organisationsrechtliche Traditionswirkungen werden jedoch mit Sicherheit tiefgreifend, vor allem organisationsrechtlich, verändert (werden) durch Europäische Unionsrechtliche Entwicklungen. Ob sich dann neue Traditionen entwickeln, was an früheren (in sie) rezipiert wird, ob ferner globalwirtschaftliche Entwicklungen zu einem „finis traditionis in deren traditionellen Formen“ führen – all das sind politische Visionen, Ängste – einfach Zukunft.

9. Exkurs: Verfassungswirkungen der „Tradition“ über das Staatskirchenrecht a) Religiöse Betätigung ist ein Entstehungs-, Entwicklungs- und Wirkungsfeld für Traditionen von zentraler Bedeutung in jeder staatlich organisierten Gemeinschaft. Historische Betrachtung, wie sie unter C. angesprochen wurde, findet nirgends Traditionspotenziale von vergleichbarem Ausmaß, ähnlicher Intensität. Das Gewicht ihrer Einflüsse auf die Verfassungsordnung hängt ab von der religiösen Einheit oder Vielfalt in der jeweiligen Gemeinschaft, von der inhaltlichen „Rezeptionsfähigkeit“ herkömmlicher Inhalte religiöser Überzeugung im säkularen Bereich, vor allem aber von der bereits im religiösen Raum erreichten „Verrechtlichung“ der Überzeugungsinhalte. Besonders weit ist die Entwicklung dort gediehen, wo es zu „Kirchenvorstellungen“ christlicher Prägung gekommen ist, in exemplarischer Geschlossenheit in den Glaubensordnungen und kanonistischen Organisationsstrukturen der Katholischen Kirche; hier haben sich geradezu prototypische Gestaltungen für die Staatlichkeit entwickelt, gerade für deren normative Festigkeit, ja Unverbrüchlichkeit im Verfassungsbegriff; dieser ist ja letztlich geradezu „religiös gedacht“, wie dies für das Grundgesetz die „Bekenntnisformulierung“ in der Präambel belegt. In der Verfassungsdogmatik setzt sich dies fort in der Lehre von „Verfassungsvoraussetzungen“244, welche allem Verfassungsrecht vorausliegen und damit rein positivistisch-säkular nicht vollziehbar sind. All dies setzt von vorne herein und grundsätzlich eine unvergleichliche Bedeutung der „Tradition als solcher im Kirchenrecht“ voraus, das seinerseits dem Staatsrecht eine geradezu systematische Prototypik von Traditionspotenzialen bietet. Davon war bereits eingangs allgemein

244 Zu den „Verfassungsvoraussetzungen“ als Orientierungen „jenseits des Positivismus“ vgl. oben V., sowie im Folg. VIII. 9.

134

D. Tradition und Grundgesetz

die Rede245. Es wurde dort aber auch auf Traditionsabschwächungen hingewiesen, als Folgen des Niedergangs religiöser Überzeugungskräfte. b) Hier sollen nur noch einige grundsätzliche Bemerkungen zu verfassungsrechtlichen Grundlinien die Betrachtungen konkreter Traditionspotenzialität für die grundgesetzliche Ordnung abschließen. Das in dieser rezipierte Staatskirchenrecht zeitigt Traditionswirkungen aus dem kirchlichen in den staatlichen Bereich, welche teilweise an die Ergebnisse zum Grundrechtsteil, vor allem aber auch an solche zu den organisationsrechtlichen Inhalten der Verfassung anschließen. Beide Traditionsstränge sind gegenwärtig noch durch christliche Kirchlichkeit maßgeblich geprägt, bis in all ihre Einzelheiten hinein. Migrationsströme können, säkularisiertes Denken wird dies aber wohl auf Dauer ändern, jedenfalls in Einebnung oder „Verweltlichung“, Laisierung abschwächen. c) Im Staatskirchenrecht des Grundgesetzes wirkt verfassungsrechtlich nicht eine staatskirchenrechtliche Tradition als solche246 ; es sind bereits durch das – mit Traditionalität seit 1919 wirksame – „Verbot einer Staatskirche“ jahrhundertelange Traditionen endgültig abgebrochen worden (Art. 137 Abs. 1 WRV, Art. 140 GG). Das kirchliche Herkommen prägt jedoch, und dies auf breiter Front, das Verfassungsrecht in einer „institutionellen Inhaltsbestimmung“, welche zugleich rechtliche Formenwirksamkeit der Tradition als solcher im Staatsrecht zum Tragen bringt247. Dies zeigt sich im Wesentlichen auf zwei Ebenen: auf der grundrechtlichen der Art. 136 und 138 WRV i. V. m. Art. 140 GG, und auf der organisationsrechtlichen des Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Innerkirchliche Traditionen wirken in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenartiger Intensität in diesen beiden Räumen. d) Was religiöse Grundrechtsbegrifflichkeit anlangt, insbesondere deren Verbürgungsinhalte als solche, so unterliegen diese weithin, und unabhängig von ihrer Ausgestaltung durch das staatliche Recht, als solche einer fortdauernd wirkenden kirchen-rechtlichen Prägung. Dies gilt für alle Inhalte und Formen der hier in ihrer Freiheit geschützten Betätigung der religiösen Überzeugung, vor allem aber hinsichtlich der Inhalte derselben. Hier ergeben sich allerdings die bekannten Abgrenzungsprobleme zwischen dem von Verfassungswegen auch religiösen Überzeugungen gegenüber zu wahrenden ordre public, welcher durch Freiheiten anderer und andere Verfassungswerte bestimmt ist. Kulthandlungen248, wie Schächtungen und Beschneidungen, liefern Beispiele, ebenso auch andere kirchlich bestimmte Gebote, wie etwa die Beachtung der Sonn- und Feiertagsruhe (Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG), Probleme des Glockengeläuts und anderes mehr. – Kirchliche Prägungen von Verfassungsbegriffen zeigen sich darüber hinaus in der Wirkung von 245

Vgl. oben A. II. 2. BVerfGE 19, 1 (11 f.); 206, 223 f. 247 Das gilt insbesondere für die kirchliche Prägung im Bereich von Ehe, Familie und Bildung, s. oben VI. 3. b). 248 Zu Kulthandlungen als Bestandteil der Religionsfreiheit vgl. bereits BVerfGE 104, 337 (346), neuerdings die Diskussion um die Beschneidung. 246

VIII. Traditionen im Staatsorganisationsbereich

135

höchst bedeutsamen Traditionspotenzialen insbesondere in den Bereichen von Ehe, Familie, Erziehung/Bildung. Die Ehe etwa als Verantwortungsgemeinschaft wird noch immer weitestgehend aus kirchlichen, vor allem katholischen, Grundvorstellungen heraus verstanden, auch im Verfassungsbereich. Die Erziehung beinhaltet kraft ausdrücklicher Verfassungsbestimmung den „Religionsunterricht“ (Art. 7 Abs. 3 GG), der „in Übereinstimmung mit den Grundgesetzen der Religionsgesellschaften zu erteilen ist“. Da dieser infolge christlicher Prägung weitgehend traditionelle Inhalte vermittelt und in herkömmlichen Formen erteilt wird, entsteht hier weitestgehend eine auf diesem Weg durch kirchliche Traditionen bestimmte Verfassungsbegrifflichkeit. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Begriff des „Gewissens“ in Art. 38 Abs. 2 GG wohl nicht mehr (entscheidend) christlichkirchlich geprägt ist249, so spielen doch auch hier religiöse Traditionen noch eine nicht unwesentliche Rolle. In vielen Bereichen wird also das staatliche Recht nur im Wege einer Abwägung zwischen verfassungsrechtlichen Belangen aus religiöser Tradition und anderen Verfassungswerten inhaltlich bestimmt und angewendet werden können. Hier erreichen verfassungsgerichtliche Entscheidungen grundsätzliche Bedeutung für „Tradition und Verfassung“. e) Nicht von gleicher grundsätzlicher Brisanz, aber doch von vergleichbarer Bedeutung für das Gewicht von Traditionen im Staatsrecht ist es, wie wichtige verfassungsrechtliche Begriffe des Organisationsrechts (Art. 137, 138 WRV i. V. m. Art. 140 GG) im Licht ihrer kirchlich-traditionsbestimmten Potenziale zu verstehen sind. Schon der Begriff der „Religion(sgesellschaft)“ ist, wie die tragenden Begriffe des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, nicht nur nach den Inhalten des jeweiligen Bekenntnisses, sondern auch was die organisatorischen Formen des Zusammenschlusses zu solchen Vereinigungen anlangt, weithin durch Tradition(en) bestimmt, und zwar durch die Entwicklung des Herkommens in diesen Zusammenschlüssen als solchen. Die „eigenen Angelegenheiten“ dieser rechtlichen Gebilde ordnen diese selbst, wenn auch im Rahmen der „für alle geltenden Gesetze“. Jenes Kompetenzreservat der Kirchen bedeutet praktisch weitestgehend einen Verweis auf kirchliche Traditionen, allgemein, ja sogar auf Einzelheiten der kirchlichen Organisation250, speziell in deren Amts- und Dienstrecht. Hier wird dann die bereits erwähnte Abwägung stattzufinden haben251. In der Praxis muss es dabei häufig, wenn nicht regelmäßig, zu „Traditionskollisionen“ kommen, zwischen kirchlichem und allgemein-gesellschaftlichem oder staatlichem Organisationsherkommen. Staatlich-gerichtliche Entscheidungspraxis kann gerade hier Aufschluss auch über allgemeinere Wesenszüge der „Wirksamkeit von Traditionspotenzialen“ allgemein im Verfassungsrecht geben. 249 250 251

Vgl. BVerfGE 12, 45 (55); 48, 127 (173). „Als innere Angelegenheiten der Kirche“, s. BVerfGE 66, 1 (20); 72, 278 (289). Zur Abwägung für Viele BVerfGE 53, 366 (404); 70, 138 (167).

136

D. Tradition und Grundgesetz

Insgesamt ist also das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes von erheblicher Bedeutung für das Thema dieser Untersuchung. Die Gretchenfrage „Wie hält Sie’s mit der Religion?“ stellt sich hier also vor allem in einer Form: Wie hält es das Grundgesetz mit der Tradition?

E. Gesamtergebnis zu den Traditionswirkungen im Grundgesetz I.

Die Grundstimmungen, in denen ein, wie immer geartetes, Herkommen im geltenden Staatsrecht rechtliche Wirkungen entfalten kann, mögen insgesamt für dessen Abschwächung sprechen; vor allem europarechtliche Entwicklungen können hier ein noch nicht absehbares Änderungspotenzial entfalten, bis hin zu Traditionsbrüchen, sie können aber auch zu Neuformierungen eines Herkommens führen (Teil A). II.

1. Die möglichen Wirkungsweisen der Tradition im Staatsrecht (Teil B) sind deutlich geworden: Fest umrissene, inhaltlich eindeutig bestimmbare Inhalte von möglichen oder durch verfassungsrechtliche Setzung bestimmten Traditionen gibt es nicht. Wohl aber muss eine solche (frühere) Übung bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Geschlossenheit, zeitliche Nähe zum jeweiligen Regelungsgegenstand ihrer Normwirkung, Dauer als rechtliche Wirkungsverstärkung, Überzeugungskraft rechtlicher Wirkungsmächtigkeit, inhaltliche Offenheit zu Außerrechtlichem. 2. Die rechtliche Bindungswirkung der Tradition entfaltet sich in Formen von Rechtssetzung(en): Diese rezipieren entweder früher geltende Norminhalte in aktuell bindendes Recht, oder sie setzen dessen bereits traditionelle Wirkungen durch neue Rechtsetzung fort. Die Traditionswirkungen von (typischen) Inhalten des Herkommens ergeben sich in einer Auslegung des Rezipierten oder neu Gesetzten, in einer Kombination von subjektiver und objektiver Interpretation. 3. Rechtstradition unterscheidet sich bereits dadurch vom Gewohnheitsrecht, dass sie als solche nicht Rechtssetzung darstellt. Der Niedergang des Gewohnheitsrechts, angesichts des Vordringens des formellen Gesetzesrechts, bedeutet also nicht an sich schon Gleiches für die Tradition. Diese kann auch, anders als Kontinuität, über Unterbrechungen hinweg wirken. 4. Die Bindungsformen der Tradition nach deren normativer Intensität lassen sich aus den Inhalten des Herkommens, in deren Verhältnis zu anderen Bestimmungsfaktoren der Normwirkungen, bei dem betreffenden Regelungsgegenstand ermitteln. Dies hat in Abwägung der jeweiligen sachlichen Ordnungsgewichte zu erfolgen. Die Bindungsintensität einer Tradition kann dabei reichen von Legitimations-Wirkungen einer bestimmten Rechtsgeltung gegenüber anderen Norminhalten, über in-dubioGeltungseffekte, bis zu einer ausschließlichen Normgeltung nach Herkommen.

138

E. Gesamtergebnis III.

Schon aus dieser Vielfalt von Wirkungsinhalten und Wirkungsweisen der Tradition ergibt sich, auch und vor allem für den Verfassungsbereich allgemein, ein höchst differenziertes Gesamtbild der rechtlichen Bedeutung des Herkommens. Seine Züge im Einzelnen müssen nachgezeichnet werden. Dabei spielt verfassungsgeschichtliche Betrachtung (Teil C) in der Erfassung des Materials eine entscheidende, bei dessen rechtlicher (Wirkungs-)Bewertung nur eine nachgeordnete Rolle gegenüber den jeweiligen verfassungsordnenden Rechtssetzungen; bereichsspezifisch kann sich dies jedoch bis zu einer vollen rechtlichen Verfassungsbindung nach verfassungsgeschichtlichem Herkommen steigern. IV.

Unter dem Primat des Regelungsrechts der demokratischen Mehrheit in der Demokratie, sowie (in Zukunft) der Mitgliedsstaaten in einer Europäischen Union, stehen alle inhaltlich zu konkretisierenden, rechtlichen Wirkungen der Tradition. Bei all diesen Entscheidungen ist aber stets, in sorgfältiger Einzeluntersuchung, zu ermitteln, wie weit Europarecht herkömmliche verfassungsrechtliche Norminhalte weiterträgt oder (erneut) rezipiert. V.

Die Verfassungslage in der grundgesetzlichen Ordnung ist nach diesen Grundsätzen zu bestimmen (Teil D), was im vorliegenden Zusammenhang nur umrisshaft geschehen konnte. Bei einer – naturgemäß nicht unproblematischen, laufend korrekturbedürftigen – Gesamtbewertung spricht vieles für folgende Feststellungen: 1. Eine „große, einheitliche Deutsche Verfassungstradition“ gibt es nicht, auch nicht in einzelnen systembestimmenden Grundzügen. Allenfalls könnten solche in (Formen eines) Föderalismus gesehen werden, jedoch nur in sehr allgemeinen, weithin formalen Rechtsformen. Gerade hier könnten Europarechtliche Entwicklungen noch Vieles verändern. 2. Gerade das Grundgesetz steht in etwas wie einer „Tradition von Traditionsbrüchen“, welche sich in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer von neuem vollzogen haben. „Darunter weiterlaufendes Herkommen“ ist dadurch grundsätzlich in seiner Verfassungswirksamkeit relativiert. Vom Grundgesetz als einer „Staatsverfassung in Tradition“ oder gar „der Traditionen“ kann insgesamt nicht ernstlich die Rede sein. Herkommen wirkt vielmehr wesentlich über einzelne Traditionspotenziale, insbesondere in den jeweiligen verfassunginstitutionell verfestigten Regelungsbereichen. 3. Zu unterscheiden sind dabei die „Traditionslagen im Grundrechts- und im Staatsorganisationsbereich“. Freiheitsrechtliche Verbürgungen weisen bei den Habeas-Corpus-Rechten, vor allem aber auch im Bereich von Ehe, Familie und Erziehung, ferner in der demokratisch bestimmten Weite des Schutzes der Meinungsfreiheit, bedeutsame Traditionsprägungen auf. Im Staatsorganisationsrecht stehen Traditionspotenziale des Föderalismus und der Kommunalen Selbstverwal-

E. Gesamtergebnis

139

tung im Vordergrund; letztere strahlen aus bis in die herkömmlichen Formen berufsständischer, allgemein Funktionaler Autonomie. 4. Die Europarechtliche Öffnung der grundgesetzlichen Ordnung kann zu völlig unabsehbaren Verschiebungen der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Tradition führen, zum Ende einer Tradition wie zum Beginn einer neuen. VI.

1. Der Untertitel „zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft“ fordert zu einer Gesamtgewichtung der Tradition im Verfassungsrecht heraus, jedenfalls in globaler Wirkungsbetrachtung der Traditionspotenziale. Dabei muss Vielfalt und vor allem rechtliche Vielschichtigkeit der zahlreichen hier erkannten, präzisierten und neu aufgedeckten Fragestellungen zu Bescheidenheit, wenn nicht Resignation führen: Tradition ist nicht nur „immer noch“, sie ist auch (in) immer neu(en Formen) verfassungsrechtlich wirkungsmächtig. Beschränkt man ihre Potenziale nicht auf Gestaltungen in historisch erstarrter Statik, sieht sie vielmehr – und schon für die Vergangenheit – in all ihrer entwicklungsmäßigen Dynamik, so führen Wege von der im Untertitel angelegten Antithese zu einer Synthese, wie dies dem Verfassungsrecht ja grundsätzlich vor- und aufgegeben ist252 : Gerade die Verfassung bedeutet, in der gesteigerten Deutlichkeit ihres historischen Hintergrundes wie in ihrem zeitübergreifenden Geltungsanspruch, eine Aufforderung zur Kombination von Entwicklungsdynamik und Vergangenheitsstatik, die ja auch als Gegenwartsstatik dem Recht immanent ist. 2. Der Untertitel stellt also eine Fortschrittsfrage, die politisch legitim sein mag, dogmatisch aber dem im Recht zentralen normativen Geltungsbegriff nicht Rechnung trägt: In ihm gibt es die Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht, auch diese letztere ist im Recht – immer Gegenwart. Die zeitliche Herkunft von Norminhalten wird in deren entzeitlichender Geltung aufgehoben. Einer „Fortschrittshemmung“ wird rechtsdogmatisch schon dadurch grundsätzlich entgegengewirkt, dass „Tradition“ stets unter dem Geltungsvorbehalt des Primats der jeweiligen demokratischen Rechtssetzung steht. Soweit diese eine Tradition rezipiert, kann ein legitimer Fortschritt nicht „von dieser getrennt bestimmt“ werden. Er findet in der Wirkung der Traditionspotenziale vielmehr laufend seinen Ausdruck. 3. In der Überzeugungskraft liegt die „eigentliche Problematik der Tradition im Verfassungsrecht“, dies wird in der Demokratie immer deutlicher. Es kommt auf das Gewicht des „Bewährten“ an, einschließlich dessen ständiger Korrekturbedürfnisse und Evolutionstendenzen. Hier aber kann es keinen generellen Vorrang, keine allgemeine Gewichtungsregel geben. Alles wird immer bereichsweise zu beurteilen, im Hinblick auf Tradition zu bewerten sein. Daher war hier laufend nach (einzelnen) Traditionspotenzialen zu fragen. Denn die Frage nach der „Verfassungsbedeutung der Tradition“ als solcher ist als solche falsch gestellt, allenfalls zielt sie auf Sys252

861 ff.

s. grds. Leisner, W., Antithesen – Theorie für eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998,

140

E. Gesamtergebnis

tematisierungstendenzen und -kräfte vielfältiger einzelner (möglicher) Herkommenswirkungen. Die – politisch wirksame, allerdings oft offen demagogische – Gegenüberstellung von Traditionalismus und Fortschrittsfreude ist im Verfassungsrecht nichts als eine terrible simplification. VII.

Einzelergebnisse zu staatsrechtlichen Wirkungen der Traditionspotenziale in der grundgesetzlichen Ordnung finden sich für die Grundrechte in D. VIII. 5., für das Staatsorganisationsrecht in D. VIII. 8. und 9.

F. Ausblick: Sterbend-unsterbliche Tradition im Staatsrecht 1. Die Tradition und der allgemeine Autoritätsverlust im Gleichheitsstaat a) Allgemein politische, religiöse, naturwissenschaftlich-technische, ökonomische Entwicklungen schwächen die Überzeugungskraft der Tradition grundsätzlich – das wurde schon eingangs deutlich253. Dahinter steht eine größere Bewusstseinsentwicklung in der Gegenwart: ein rascher und massiver Wirkungsverlust dessen, was seit der Antike „Autorität“ genannt wird. In diesem Wort liegen von jeher Vorstellungen von einer „Urheberschaft“ und einer Potenzierungskraft (augere) als Wesenselemente des Ordnens, insbesondere in dessen rechtlichen Durchsetzungsformen. Diese geheimnisvolle menschliche Mächtigkeit steht, vielfach verschleiert, hinter allen Formen jener Geltung, die das Wesen und die besondere Ordnungsbedeutung der Verfassung ausmacht. Hier gerade wird auch die Norm als solche mächtig, das „Recht“, kraft seiner zwar „abstrakten“, darin aber wahrhaft geistigen – Autorität. b) „Autorität“ und „Tradition“ weisen weithin eine inhaltliche und bedeutungsmäßige Nähe auf, mit Blick auf das Staatsrecht. Autorität wirkt wesentlich auch mit dem Gewicht der Tradition, die sie ihrerseits begründet; Tradition (ver)stärkt Autorität, kompensiert deren Verluste. In einem gewissen, wenn auch rechtlich kaum exakt fassbaren Überschneidungsbereich mag sogar eine Identität beider Erscheinungen, jedenfalls wirkungsmäßig, anzunehmen sein. Von Autorität ist in Staatsrecht und Politik ebenso viel die Rede wie meist völlig unklar bleibt, wie sich ihre Wirkungen näher bestimmen lassen. Politologie und Psychologie verfolgen ihre Wirkungen bis in die „Charismatik“, wo sie dann rechtlich völlig verdämmern. Autorität ist jedenfalls noch weit weniger rechtlich fassbar als jede Form von Tradition. c) In der Gegenwart findet, vor allem in Deutschland seit 1945, ein rascher und massiver, in seinen Erscheinungsformen bisher ungekannter Autoritätsverlust statt. Seine Gründe sind vielfältig, sie reichen von verlorenen Kriegen, untergegangenen Regimen, deren moralischer Verurteilung und dem wachsenden Selbstbewusstsein demokratischer Bürger bis hin zu zahllosen Effekten der technisch-ökonomischen Entwicklung der Arbeits- und Erziehungsbedingungen, dies alles potenziert in der neuen Medienwelt. Bisherige Autoritätsbegründungen wie Alter, Familienstellung, 253 s. oben A. im Rahmen des Versuchs einer Gesamtschau der „Rahmenbedingungen“ für eine Behandlung des Themas.

142

F. Ausblick

Bildungs- und Kenntnisstand, vermögensrechtliche Positionen, Direktionsfunktionen in Unternehmen, ja in den Streitkräften – all dies verbunden mit einem entsprechenden „Corpsgeist“ – verlieren in rascher Entwicklung an gesellschaftlichem Gewicht. Ein analoger Niedergang erfasst den staatsrechtlichen Bereich, wirkt dort sogar noch grundsätzlich-rechtlich formiert, in Tendenzen eines Freiheitsstrebens zum staatlichen Gewaltabbau in der Demokratie. In der freiheitlichen Diskussionsgesellschaft sind – das lässt sich mit einer hier erforderlichen Allgemeinheit sagen – gegenwärtig kaum irgendwo nennenswerte Ansätze für neue Autoritätsbildungen ersichtlich; denn VIP-Bewunderung kann sie nicht ersetzen. In all dem wirkt unwiderstehlich der Gleichheitsstaat254. Wenn aber „Autorität kaum mehr in Sicht ist“ – muss sich dann Tradition nicht verstecken – auf Dauer verschwinden?

2. Das Ende von Monarchismus und Aristokratismus – Mutation des „traditionellen Gemeinwohls“ a) Die Monarchie war die traditionelle Stütze und Quelle der Tradition im Deutschen Staatsrecht. Familientraditionen, fortgeführt in den Regierenden Häusern255, trugen die staatliche Ordnung insgesamt, in der Systematik einer Staatsferne; ihr Abglanz legitimierte autoritätsschaffende und -getragene Rechtsgestaltungen im Staatsrecht, trug diese in all dessen „feudale“ Institutionalisierungen hinein, von den Kammern bis zum Berufsbeamtentum. Staatstradition blieb über viele Jahrhunderte Familientradition, damit rechtlich verbunden mit dem wichtigsten Ursprung allen Herkommens. b) Das Ende der Monarchie hat in Deutschland staatsrechtlich auch den Aristokratismus untergehen lassen, mit all dessen adligen und bürgerlichen, ja auch kirchlich geprägten Traditionen. Damit wandelten sich vollständig auch Grundvorstellungen eines „Gemeinwohls“, des von allen Verfassungsorganen wie von den Bürgern stets zu verfolgenden Bonum commune. Dieses fand, über viele Jahrhunderte, herkömmlichen Ausdruck in den familiär geprägten Interessenlagen der herrschenden Familien oder der, wiederum herkunftsgeprägten, Oberschichten. Es war geradezu deren gemeinsamer Nenner, welcher in Tradition(en) bestimmt wurde. Die periodische allgemeine Interessenfeststellung und deren wahlmäßige Kontrolle in kurzen Abständen in der Volksherrschaft hat dies auf Beurteilungsergebnisse für kurze Zeiträume reduziert. Ein „Bonum commune“ ist schlechthin nicht mehr aus längerfristigen, familiär-aristokratischen Interessenlagen definierbar, damit auch nicht mehr als ein nationales Interesse. So erfährt „Tradition“ einen tiefstgreifenden 254

Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, 1980, zum Autoritätsabbau S. 24 ff.; 2. A. in: ders., Demokratie, 1998, S. 99 ff. 255 Zu dem monarchischen Hausrecht als rechtliche Regelungsform aus Tradition, vgl. Leisner, W., Monarchisches Hausrecht in demokratischer Gleichheitsordnung, 1968.

F. Ausblick

143

Wirkungs- und Bedeutungswandel. Sie ist eine Form der Verfolgung, nicht mehr eine solche der Bestimmung des „Gemeinen Wohls“.

3. Traditionsgewinn aus Moral? a) Monarchie- und aristokratietragende Traditionsvorstellungen stützten sich entweder unmittelbar auf religiöse Gebotsinhalte, oder sie entsprangen doch Familientraditionen, welche jedenfalls von moralischen Überzeugungen getragen waren; diese hatten wieder familiäre Bindungen als Gegenstand und Grundlage. In der demokratischen Staatsform stellt sich also die Frage, ob sie die beschriebenen Traditionsverluste durch etwas wie eine „Gemeinschaftsmoral“ kompensieren kann. b) Auf eine wie immer definierte „Staatsmoral“ als solche kann dabei nicht zurückgegriffen werden; es gibt sie ebenso wenig wie eine „Staatswahrheit“256. In einer Demokratie kann derartiges wesentlich nur aus der Bürgerschaft herauswachsen. Rechtlich wirksame Moral ist allenfalls als „gesellschaftliche Moral“ vorstellbar. c) Eine Gesellschaftsmoral mag sich gegenwärtig – noch – aus (Minimal-)Übernahmen religiöser Vorstellungen speisen, wenn auch mit schwer im Einzelnen feststellbaren Inhalten. Mit deren (weiterer) Abschwächung kann allenfalls noch aus einem Begriff der „Solidarität“257 heraus der jeweilige Inhalt eines staatstragenden Gemeinwohls bestimmt werden. Solidarität wird damit zu einem Kernbegriff einer „Gemeinschaftsmoral“; als solche wird sie denn auch nicht nur staatsrechtlich in sozialistischer Tradition seit langem beschworen, sondern neuerdings auch überstaatlich im Sinne einer „Europäischen Schicksalsgemeinschaft“. Hier mag dann auf eine „Zusammengehörigkeit“ zurückgegriffen werden, hier als Erscheinung in föderalen und kommunalrechtlichen Zusammenhängen bereits behandelt258. Ob daraus allerdings moralische Wirkungskräfte sich entbinden werden, ob etwa die früheren Klein- und Großfamilien zu einer „Bürgerschafts-, ja zu einer Staatsfamilie“ in Moralisierung zusammengeschlossen werden können – das muss hier offen bleiben. Moralwirkungen sind – traditionell – doch so eng mit religiösen Inhalten und deren strengen Bindungswirkungen verbunden, dass an einer solchen „Gesellschaftsmoral als Ersatz für Familienbindungen“ ernsthafte Zweifel bestehen. Die Traditionsdefizite aus dem Ende von Monarchismus und Aristokratismus werden sich also jedenfalls kaum moralisierend ausgleichen lassen. 256 s. dazu Leisner, W., Die Staatswahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, 1999: auch der „Moral“ fehlt die entsprechende Systemkraft (vgl. für die Wahrheit S. 43 ff.). Sie lässt sich auch nicht auf den Wegen der Staatswahrheit durchsetzen, vgl. S. 61 ff. 257 Zum Begriff der Solidarität grdl. Isensee, J., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HBStR3, Band 4, 2006, S. 62 (Solidarität als eine verbandsmäßig organisierte Form des Gemeinsinns). 258 Zur Zusammengehörigkeit im Föderalismus s. oben D. VII. 5., 6.

144

F. Ausblick

Entscheidend wird sein: Wird das gesellschaftliche Bonum in gleicher gemeinschaftstragender Gesinnung aller Bürger gesehen – oder in deren maximaler wirtschaftlicher, materieller Gleichheit, herzustellen über unablässige (Um-)Verteilung? Moral verlangt gleiche menschliche Grundeinstellung, nicht gleiches Vermögen. Nur wenn Traditionen der Gesinnung gepflegt werden, neu entstehen, verleiht ihnen Moral gestaltende Kraft.

4. Neue Traditionen aus internationalen Verflechtungen – „Weltbürgertum“? Die immer wieder zu erwähnenden grenzüberschreitenden Verflechtungen aller Art, der damit einhergehende Abbau der Nationalstaatlichkeit und ihrer – bisher weit überwiegend rechtlich wirksamen Traditionen259 werden vielleicht neue, überstaatliche, ja internationale Traditionen begründen. Allerdings hat dies im Völkerrecht des 20. Jahrhunderts eher zum Abbau der Wirksamkeit des Gewohnheitsrechts geführt, in den Formen einer dort zunehmenden Vertragsstaatlichkeit260 ; auch über sie mag es allerdings zu „neuen Traditionen“ kommen. Insgesamt ist eine derartige Entwicklung jedoch noch nicht in Sicht. Die Internationalisierung führt allenfalls zur Entfaltung gegenständlich begrenzter Traditionspotenziale in rechtlich zwischenstaatlichem Ordnen, welches Anarchisierungen verhindern soll. Vor allem ökonomische Entwicklungen erfolgen in derart raschem Lauf, mit solcher Änderungsfrequenz, dass eine weitgehende Entdynamisierung aller öffentlich-rechtlichen Traditionen, wenn nicht deren Veränderungen bis zum Bruch, wohl wahrscheinlicher sein dürfte. In einem Endzustand von Weltstaatlichkeit und Weltbürgertum könnten allerdings Rechts-Visionäre die Rückkehr einer – der alten – Traditions-Ruhe erhoffen, wenn dann „zwischen Gleichen nur mehr kleine(re) Bewegungen stattfinden“. Skeptiker mögen dem nicht höhere Chancen einräumen als der Erreichung eines „Endzustandes des Absterbens aller Staatlichkeit“, wie es der Kommunismus versprach. Doch dorthin kann, wenn überhaupt, nur eine lange, vielleicht eine „Unendliche (Verfassungs-)Geschichte“ führen. Sie wird immer wieder „Traditionen als Stationen“ zeigen. An ihnen kehrt dann Ruhe ein ins Staatsrecht, welches durch politische Passionen bewegt wird. Sie wandeln sich in Verliebtheit in frühere oder gegenwärtige Augenblicke. Dann wird man der Tradition zurufen: „ O bleibe doch, du bist so schön“, und wo sonst wäre denn „Schönheit im Recht“, im Staat, als auf VerfassungsThronen?

259

Vgl. oben A. I. 3. zum Niedergang der Nationalstaatlichkeit. Zur Verstärkung einer auch vom Völkerrecht getragenen Vertragsstaatlichkeit s. Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine Grundform des Öffentlichen Rechts, 2009, S. 58. 260

F. Ausblick

145

Tradition mag immer wieder im Sterben liegen. Doch sie ist so unsterblich wie das Streben der Menschen nach Unsterblichkeit – auch, ja vor allem im Recht, in dieser größten menschlichen Bemühung um Überleben des Lebens.

Sachwortverzeichnis Absolutismus 47 f. Abwägung 40, 115 Allgemeine Staatslehre 3, 40 Anarchie 59 Ancien Régime 37 Antifaschismus 71 Arbeiterbewegung 25 Aristokratie 142 f. Aufklärung 14 Auslegung 42, 49, 70, 72 Autorität 141 f. Berufsbeamtentum, Hergebrachte Grundsätze, 72 ff., 99, 118 Bildungsinhalte 51 Bundesrat 123 Bundesverfassungsgericht – und Grundrechtsschutz – und Richterrecht 82 – und Tradition 80 ff. – und traditionelle Bereiche 80 f. Demokratie 65, 93 ff., 115 – Arten 94 – Diskontinuität 95 – und Eigentum 107 – und Mehrheit 89 – als Rechtsprinzip 93 ff. – und Religion 20 – gegen Tradition? 24 – und Verfassung 25 ff. – und Werte 86 ff. Deutsche Einheit 75 f. „Deutschland“ (Staatsgebiet) 75 ff.. Dezisionismus 39 f. Direkte Demokratie 59 Droit coutumier 47 Effizienz 114 f., 32 f., 35 f. Ehe 106 f. Eigentum 107 ff.

Einheit der Rechtsordnung 125 Erbrecht 108 Erziehung 51 Europarecht 84 f., 116, 120, 126, 128 – Allgemeine Rechtsgrundsätze 21 – Grundrechte 104 f. – Öffentlicher Dienst 104 Evolution und Tradition 58 Experimentelles Denken 61 Experimentiergesetze 33 Familie 36 f. – und Monarchie 39 Favor legis – und Tradition 44 f. Feudalismus 13 ff., 45 f., 58 – und Demokratie 95 Finanzausgleich 125 f. Finanzverfassung 114 Föderalismus 70, 118 ff. – und Geschichte 76 f. – kooperativer 120 – Zusammengehörigkeit 123 ff. Folgerichtigkeit 93 Fortentwicklungsklausel 74 Fortschritt 22 f. Französische Revolution 48, 56, 65 Gemeinwohl 142 Genossenschaftsrecht 130 Gesetz – Gesetzesabfolge 58 – und Gewohnheitsrecht 48 – traditionelle Regelungsmaterien 83 f. Gesetzgebungszuständigkeiten 117 Gewaltenteilung 93 Gewohnheitsrecht 47 ff. Gleichberechtigung 104 Gleichheit 72, 142 – und Tradition 31, 96 – in der Zeit 31 f.

Sachwortverzeichnis Grundentscheidungen 28, 52 Grundordnung, freiheitlich-demokratische 100, 110 Grundrechte – Abwehrfunktion 98 f. 103 f. – Drittwirkung 85 – Entwicklung 99, 103 – Kataloge 100 – Normenkontrolle 101 f. – System 99 f. – und Tradition 25 f., 97 ff. – und Verfassung 97 f. Grundsätze, hergebrachte – des Berufsbeamtentums 72 ff. Handwerk 131 Hedonismus 57 f. Herkunft 72 Herrschaft 38 Historia Magistra 55 ff. Ideengeschichte 60 Induktion 68, 91 Institution(en) 56 – und Tradition 105 f. Institutionelle Garantien – und Tradition 105 ff. Invocatio Dei 77 f. Kantianismus 15 Kanzlerdemokratie 70 Katholische Kirche 19 f. Kommunen 126 ff. – Eigene Angelegenheiten 130 – Gebietsbestand 128 – Örtliche Angelegenheiten 128 f. – Selbstverwaltung 129 f. Konkordanz, politische 32 Konsens 32, 35 Kontinuität 52, 69, 82 – Deutschlands 76 ff. Künftige Generationen 78 Kulturhoheit der Länder 118 Kulturstaatlichkeit 125 f. Länder – Mitwirkung bei der Bundesgesetzgebung 122 f.

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– Solidarität 124 – Territorialbestand 121 f. Lebensleistung 23, 51 Lebensverhältnisse, gleichwertige 124 f. Legalität 31, 37, 59 Marktwirtschaft 17 Meinungsfreiheit 110 f. Menschenrechte 85 Monarchie 95, 142 – siehe auch Feudalismus Moral 143 f. – siehe auch Staatsmoral Nationalsozialismus 70, 87 Nationalstaat 21 f. Normative Kraft des Faktischen 41, 44 f. Normativismus 42 Öffentlicher Dienst 73 „Offenheit“ 14, 43, 50, 54, 89 Opinio necessitatis 48 – siehe auch Gewohnheitsrecht Organisationsrechtlicher Freiheitsschutz 26 – siehe auch Staatsorganisationsrecht Parteien, politische 14, 94 Plebiszit, tägliches 39 Politik 22 f. Präambel 75 ff. „Privater Staat“ 58 Privatheit 57 f., 111 Pouvoir constituant 121 Prognose 63 Protestantismus 19 Rechtsgeltung 41 ff. Rechtsprechung – ständige 18 Rechtsprechungstradition 82 Rechtsstaatlichkeit 13, 30, 34, 49, 89, 115 – und Bestimmtheit 43 f. – Entwicklung 91 f. – und Tradition 91 ff. – und Verordnungen 92 f. – siehe auch Legalität, Übergangsvorschriften Rechtsvergleichung 104

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Sachwortverzeichnis

Reine Rechtslehre 42 Religion 19 f., 77, 86 – und Tradition 36 Religionsgesellschaft 135 Religionsunterricht 135 Republik 95 Restauration(en) 31, 64 Revolution 62 Revolutionäre Tradition 59 f. Richterrecht 48 f., 82 Richtlinien der Politik 70 Risiko 17, 63 Römisches Recht, Rezeption 44, 47 f. Rückwirkung 33, 79 Scheidung 106 Schöpfung 77 f.. Schutzpflichten, verfassungsrechtliche 26 Schwächerenschutz 104 Selbstverwaltung – funktionale – soziale 131 – siehe auch Kommunen Solidarität 65, 143 Souveränität, nationale 37 f., 87 – siehe auch Nationalstaat Sozialismus 25 Sozialstaatlichkeit 29, 96, 103 Staat und Gesellschaft 14 Staatsformen 64 f. Staatsgrundsatznormen 84 Staatskirchenrecht und Tradition 133 ff. – und Grundrechte 134 f. – Staatskirche 19 f. – siehe auch Religion Staatsmoral 85, 88 f. Staatsorganisationsrecht 26, 97 ff., 113 ff. Staatsrenaissance 66 Ständestaatlichkeit 130 Strafverfahren – Traditionen 109 f. System – und Tradition 50 f.

Tatsachenwirkung 16 Tendenz – und Tradition 40 f. Tradition passim Traditionalismus 13 Traditionsbruch 13, 69 ff. Übergangsvorschriften 78 ff. – siehe auch Rechtsstaatlichkeit Überhangmandate 117 Überpositives Recht 82 Verfassung – Ausstrahlungswirkungen 85 – Begriffsentwicklung 54 f., 68 f. – formelle und materielle 28, 97 – Inhalte 97 ff. – und Kontinuität 86 – und Normstufen 27 – und Tradition 25 ff. – siehe auch Werte Verfassungsänderung 27 f., 45 Verfassungsbeschwerde 102 Verfassungsgeschichte 16, 54 ff. Verfassungsgrundsätze 27, 52 Verfassungsvoraussetzungen 38, 133 Vermutung – und Tradition 40 Vertragsstaatlichkeit 144 Vertrauen 79 Volk 24, 74 f. Volkssouveränität 13, 24, 38 Vorsokratiker 13 Wahlrecht 94 f., 117 Wechselwirkungen 28, 110, 129 Weimarer Verfassung 70 Werte – und Tradition 84 ff. Wettbewerbsrecht 111 Wissenschaftsfreiheit 60 Zeit 35, 38 Zeiträume, traditionsbildende 73, 75