Postkoloniale Literatur in Italien: Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen 9783839437735

Contemporary Italian literature beyond the canon - Maria Kirchmair considers representations of 'space' and mo

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Postkoloniale Literatur in Italien: Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen
 9783839437735

Table of contents :
Inhalt
I. Intro
II. »[…] solo quando accetti di specchiarti in altri occhi puoi vedere e misurare te stesso« – Erzählen als kulturelle Raumpraktik in Gabriella Ghermandis Regina di fiori e di perle
III. »Bleiben ist nirgends. Restare è senza dove.«1 Stationen einer italosomalischen Odyssee: Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola
IV. »Vivere in mezzo a tutto«1: Existenzielle Grenzerfahrungen in Garane Garanes Il latte è buono
V. Fluchtort Mogadishu. Überleben zwischen inneren und äußeren Abgründen in Mario Domenichellis Lugemalé
VI. Selbstverortung im diasporischen ›Raum‹ der Relationen: Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah
VII. Figuration eines Farbverlusts. Oltre Babilonia von Igiaba Scego als Überlebenserzählung zwischen Italien, Somalia und Argentinien
VIII. Resümee
IX. Bibliografie
Ringraziamenti

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Maria Kirchmair Postkoloniale Literatur in Italien

Lettre

Maria Kirchmair (Dr. phil.) promovierte am Institut für Romanistik der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind italienische Literatur- und Kulturwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts, Postcolonial Studies, Literatur und Raum sowie literarische Mittelmeerdiskurse.

Maria Kirchmair

Postkoloniale Literatur in Italien Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen

Diese Publikation wurde mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und des Dekanats der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Kaikoro / fotolia.com Lektorat & Satz: Tanja Jentsch, http://www.7silben.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3773-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3773-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt I.

Intro  | 9

I.1 I.2 I.3 I.4

›Imperiale Nostalgie‹ und Wegkreuzung im Mittelmeer | 10 Eine Literatur der Fluchtlinien im Kontext | 24 Die postkoloniale Gegenwartsliteratur in Italien und ihre Narrative | 33 ›Raum‹ und Bewegung | 44

II. »[…] solo quando accetti di specchiarti in altri occhi puoi vedere e misurare te stesso« – Erzählen als kulturelle Raumpraktik in Gabriella Ghermandis Regina di fiori e di perle | 53 II.1 Erzählerische Gestaltung einer (post-)kolonialen Verflechtungsgeschichte | 54 II.2 Postkoloniale Darstellungen individueller und kollektiver Geschichte(n) | 63 II.3 Bildungsroman und ›neue Räume‹ | 85

III. »Bleiben ist nirgends. Restare è senza dove.« Stationen einer italosomalischen Odyssee: Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola | 93 III.1 Romanzo meticcio: Metanarrativität und ›Genrekonvention‹ | 94 III.2 Fiktion und faktuale Erzählung | 102 III.3 Familiäre Diskontinuitäten oder: »[…] un familiare disagio« | 113

IV. »Vivere in mezzo a tutto«: Existenzielle Grenzerfahrungen in Garane Garanes Il latte è buono | 129 IV.1 Erkundungen diskursiver Handlungsspielräume | 130 IV.2 »Made in Italy.« Raumwahrnehmung postkolonialer Großstädte | 140

IV.3 Entlang entstehender Routen | 154 IV.4 Mogadishu 1991 oder Nel mezzo del cammin di nostra vita/Mi ritrovai per una selva oscura | 159

V.

Fluchtort Mogadishu. Überleben zwischen inneren und äußeren Abgründen in Mario Domenichellis Lugemalé | 165

V.1 Spiegelbilder eines Romans oder Mise en abyme | 166 V.2 Überleben zwischen Trauer und Melancholie | 176 V.3 »Pareva il Titanic« – Europa 1989. Postkoloniale Betrachtungen einer weltpolitischen Wende | 182 V.4 Intertextuelle Referenzen: Eine Frage oder Parzival postkolonial | 190

VI. Selbstverortung im diasporischen ›Raum‹ der Relationen: Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah | 201 VI.1 Vertextung und Vernetzung ›des Raums‹ | 203 VI.2 Figuration eines Selbstverlusts und Bewegung zwischen Nicht-Orten | 212 VI.3 Passagen einer Selbst(be)schreibung und postkoloniale Road Novel | 221

VII. Figuration eines Farbverlusts. Oltre Babilonia von Igiaba Scego als Überlebenserzählung zwischen Italien, Somalia und Argentinien | 231 VII.1 Montage einer Familiengeschichte in Fragmenten | 233 VII.2  »Una sfumatura di rosso?«:  Körper, ›Identität‹ und Sprache | 245

VIII.  Resümee | 257 IX.  Bibliografie | 269 Ringraziamenti | 285

»Wir persönlich weigern uns, das Problem nach dem Modus des Entweder-Oder zu stellen … […] Warum nicht einfach versuchen, den anderen zu berühren, den anderen zu spüren, mir den anderen zu offenbaren. Ist mir meine Freiheit denn nicht gegeben, um eine Welt des Du zu errichten?« F rantz Fanon , S chwarze H aut, weisse M asken

I. Intro

TOFDAU Wo soll ich denn hin? Das ist auch unsere, das ist doch auch meine Geschichte! […] Ich habe ein Recht darauf, hier vorzukommen. Wer hört mich denn sonst? Wo soll ich von mir erzählen, wenn nicht hier? PELLNER Was weiß ich. Lassen Sie mich in Ruhe! Sie kommen hier jetzt nicht vor! Verschwinden Sie! TOFDAU Ich werde jetzt meine Geschichte erzählen. Ich erzähle jetzt meine Geschichte! Wolfram L otz , D ie lächerliche F insternis (2013, S zene 25) »Egli/ella, loro [i migranti], decidono […] di giocarsi, di rischiare e avventurare la propria unica vita, senza assicurazioni e garanzie. Solo dal migrante – se ci siamo educati all’ascolto e alla riforma imprevedibile del nostro destino – si può venire a sapere che valore abbia oggi l’esistenza umana. […] Solo il migrante può narrare e cantare il ›caso umano‹ del nostro tempo con una lingua che possa essere tradotta in tutti i mondi.« A rmando G nisci, C reolizzare l’E uropa (2003, 106)

In seinem berühmt gewordenen einflussreichen Text Von anderen Räumen (1984 [1967]) umreißt Michel Foucault unsere Epoche als »Zeitalter des Raumes, […] der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten« (Foucault 2006, 317). Auch Homi Bhabha beschreibt das jüngste Fin de siècle als einen »Moment des Übergangs, wo Raum und Zeit sich kreuzen und komplexe Konfigurationen von Differenz und Identität, von Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen, Einbeziehung und Ausgrenzung erzeugen« (Bhabha 1997, 123). Die Welt lässt sich heute eher erfassen als Netz, dessen Fäden sich kreuzen und Punkte verbinden. ›Raum‹ bietet sich somit in Form von Relationen der Lage dar, die im globalen Spannungsfeld von Nähe und Ferne unterschiedlichste Elemente in

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Beziehung setzen (cf. Foucault 2006, 318). Solche Konstellationen werden vor allem in der Literatur ausgelotet, die besonders geeignet scheint, verschiedene Räume aufeinander zu beziehen und hegemoniale Raumdiskurse umzuschreiben. Die kulturelle und soziale Produktion und Veränderbarkeit von ›Raum‹ und Raumwahrnehmung erzählen insbesondere die zeitgenössischen postkolonialen Literaturen, äußern sich diese doch von bislang marginalisierten Positionen des Machtdiskurses und stellen Armando Gnisci zufolge »la migliore traduzione del mondo e verso il mondo«1 (Gnisci 2007, 82) dar. Entlang dieser im Folgenden näher zu präzisierenden Ausgangsüberlegungen will die vorliegende Studie anhand eines repräsentativen Textkorpus der postkolonialen Erzählliteratur Italiens die Fiktionalisierung und ästhetische Gestaltung der Relation von ›Raum‹ und Bewegung im Kontext von Kolonisierungs-, Dekolonialisierungs- und Globalisierungsprozessen herausarbeiten. Zunächst folgen eine historische und literaturgeschichtliche Kontextualisierung sowie eine literaturtheoretische Standortbestimmung der postkolonialen Literatur in italienischer Sprache, darüber hinaus soll ein Blick auf die derzeitige Forschungslage sowie auf einige raumtheoretische Prämissen den Zugang zu den Textanalysen bahnen.

I.1 ›I mperiale N ostalgie ‹ und W egkreuzung im M it telmeer Wie kaum ein anderes Land in Europa blickt Italien auf eine wechselvolle Migrationsgeschichte: Historisch eine Wegkreuzung verschiedenster Kulturen des Mittelmeerraums, nach der staatlichen Einigung 1861 bis weit ins 20. Jahrhundert von zuweilen massiver Emigration betroffen, schreibt sich die Geschichte der Migration bis in die Gegenwart fort, in Form der Binnenwanderung von Süd- nach Norditalien und des Wandels in ein Transit- und Zielland globaler Migration seit Mitte der 1980er Jahre. Die rezente Immigration hängt primär mit den infolge der Globalisierung entfes­selten sozioökonomischen Disparitäten und weniger mit der kolonialen Vergangenheit Italiens zusammen. Im Unterschied zu Frankreich oder Großbritannien war Italien zu keinem Zeitpunkt eine Destination größerer postkolonialer Migrationsbewegungen, sondern diente eher als Transitort für die Weiterreise nach Kanada, in die USA, nach Australien oder in andere europäische Länder. Eine Ausnahme bildete in den 1960er Jahren die Immigration vorwiegend eritreischer meist hoch gebildeter Frauen, die schon in Eritrea häufig für italienische Familien gearbeitet hatten

1 | Soweit nicht anders vermerkt wurden sämtliche Hervorhebungen bei den in dieser Arbeit angeführten Zitaten bereits im jeweiligen Originaltext verwendet.

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und diesen – um ihren Arbeitsplatz (oft als Hausangestellte) zu behalten – bei deren Rückkehr nach Italien folgten; mit ihren Einkommen finanzierten sie nicht nur ihre Familien in Eritrea, sondern auch den bis 1993 dauernden Guerillakampf für die Unabhängigkeit von Äthiopien. Sie repräsentieren neben sporadischen Ankünften junger äthiopischer Intellektueller und somalischer StudentInnen die Anfänge der postkolonialen Migration nach Italien (cf. Le Gouez 2006, 458; Lombardi-Diop/Romeo 2012, 6). Im Kontext der zeitgenössischen globalen Migration in die reichen und umzäunten Länder ›des Westens‹ und deren zunehmender gesellschaftlicher Vielfalt bildet sich schließlich zögerlich der italienische ›Postkolonialismus‹ heraus. Migration wird dadurch – vor allem in Hinblick auf die Präsenz von MigrantInnen aus den ehemaligen Kolonien Eritrea, Somalia, Äthiopien und Libyen – zur Impulsgeberin für eine postkoloniale Auseinandersetzung mit der imperialen und kolonialen Vergangenheit. Der Begriff »postkolonial« wurde und wird von verschiedenen KritikerInnen problematisiert, die entgegenhalten, damit würden die vielfältigen Traditionen und Geschichten der einst kolonialisierten Länder verleugnet bzw. verkürzt – als seien sie erst mit dem Kolonialismus entstanden und nur dadurch bedeutsam. Wenngleich die präkolonialen Geschichten heute schwer nachzuzeichnen sind, wirkten sie zweifellos in die kolonialen Strukturen hinein. In diesem Zusammenhang spricht Shalini Randeria von »geteilten Geschichten«2 oder »entangled histories« (Conrad/Randeria 2002, 17) und beschreibt damit eine relationale Perspektive, welche die Unmöglichkeit aufzeigt, eine Geschichte ›des Westens‹ ohne die Geschichte der Kolonialländer zu schreiben und vice versa. Stuart Hall bemerkt, dass nicht alle Gesellschaften »auf die gleiche Art ›postkolonial‹« (Hall 1997, 225) sind, und argumentiert, ›Postkolonialismus‹ beziehe sich auf einen allgemeinen »Prozeß der Entkolonialisierung, der, wie die Kolonisation selbst, die kolonialisierenden Gesellschaften so machtvoll geprägt hat wie die kolonialisierten (wenn auch natürlich auf andere Weise)« (Hall 1997, 226). Anhand verschiedenster Entwicklungen demonstriert der ›Postkolonialismus‹, wie »sich die Kolonisation keineswegs nur außerhalb der Gesellschaften der imperialen Metropole vollzog« (ibid.), sondern vielmehr tief in sie eingeschrieben war, während 2 | Im Englischen oszilliert der Begriff zwischen den Konnotationen von »shared« und »divided« und reflektiert die Ambivalenzen der Kolonialgeschichte: »Einerseits kann man die Entstehung und Entwicklung der modernen Welt als ›gemeinsame Geschichte‹ lesen, in der verschiedene Kulturen und Gesellschaften eine Reihe zentraler Erfahrungen teilten und durch ihre Interaktionen und Interdependenz die moderne Welt gemeinsam konstituierten. Andererseits brachte die zunehmende Zirkulation von Gütern, Menschen und Ideen nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern zugleich Abgrenzungen hervor, das Bedürfnis nach Partikularität und die Hypostasierung dichotomischer Strukturen, die das verbreitete Geschichtsbild nach wie vor dominieren.« (Conrad/Randeria 2002, 17)

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sie auch die kolonialisierten Kulturen irreversibel prägte. Diese »doppelte Einschreibung« (Hall 1997, 227) rücken die Postcolonial Studies in den Vordergrund. Hinsichtlich der Periodisierung wohnt dem Begriff eine gewisse Ambiguität inne, da er nicht nur zeitlich die Postunabhängigkeit als entscheidende Phase des Wandels in den globalen Beziehungen bezeichnet, sondern auch eine epistemologische ›Verschiebung‹ bedeutet, insofern der ›Postkolonialismus‹ eine alternative Betrachtungsperspektive bietet und andere Zusammenhänge historischer Ereignisse als die Geschichte der europäischen Moderne fokussiert. In der »neuinszenierten Narrative des Postkolonialismus« (Hall 1997, 231) fungiert die Kolonialisierung als das zentrale welthistorische Ereignis. »Kolonisation« bezeichnet laut Stuart Hall im ›Postkolonialismus‹ nicht nur die »direkte Herrschaft imperialer Mächte über bestimmte Gebiete der Welt« (ibid.); sie impliziert darüber hinaus den gesamten Prozess von Expansion, Erforschung, Eroberung und Hegemoniestreben der europäischen und später der westlichen kapitalistischen Moderne seit 1492 (cf. ibid.).3 Der Terminus »postkolonial« bezieht sich in seiner weit gefassten literatur- und kulturtheoretischen Verwendung somit nicht nur auf beide Seiten der imperialen Beziehung – (ehemalige) KolonisatorInnen wie Kolonisierte – sondern auch auf beide Phasen des imperialen Prozesses – Kolonialismus sowie Postkolonialismus. Diese veränderte Erzählperspektive dezentriert die Geschichte der kapitalistischen Moderne von ihrer eurozentris­tischen Interpretation an die bislang marginalisierten ›Ränder‹ des Machtdiskurses. Im ›Postkolonialismus‹ geht es also um das retrospektive Umschreiben der Moderne im Kontext der ›Globalisierung‹ – von der Überquerung des Indischen Ozeans durch die Portugiesen und der Eroberung Amerikas bis hin zur Internationalisierung der Finanzmärkte und der Informationsströme (cf. Hall 1997, 232). In dieser Hinsicht markiert der ›Postkolonialismus‹ einen entscheidenden Bruch mit den »großen Erzählungen«4 der europäischen Mo3 | Ähnlich äußert sich Armando Gnisci zum Begriff »postkolonial«: Das Präfix »post« versteht er im Sinne einer chronografischen Geschichtsbetrachtung als »a partire dall’inizo di una vicenda« (Gnisci 2007, 60), da ein Ereignis von Beginn an erinnert und mit Sinn aufgeladen wird und nicht erst ab seinem (häufig hypothetischen) Ende; das »post« markiert eine Zäsur und einen Epochenbruch. Der Postkolonialismus würde demnach mit den Anfängen der Kolonialgeschichte beginnen, auch müssten die postkolonialen Studien 1492/1503 ansetzen, um den Kolonialismus adäquat zu erfassen und kritisch zu reflektieren. Die Erkenntnis, dass es sich bei den von Kolumbus ›entdeckten‹ Gebieten um eine ›neue Welt‹ handeln musste, ist Amerigo Vespucci zuzuschreiben (Kolumbus war bekanntlich der Ansicht, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben und glaubte sich auf den Westindischen Inseln), der diese 1503 in einem Brief an die ­M edici-Familie explizit als »Mundus Novus« bezeichnete (cf. Gnisci 2007, 28f.). 4 |  Der Begriff der »großen Erzählungen« oder »grands récits« wurde von Jean François Lyotard geprägt, der »die Moderne als ein Geflecht von großen Erzählungen« (­M üller-

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derne, die der globalen Dimension keine angemessene Position einräumten. Die große Herausforderung für den ›Postkolonialismus‹ liegt somit in der Neuorientierung der Theorie und »des Macht-Wissen-Komplexes an den Beziehungen von globaler Dimension und deren verschiedenen historischen Formen« (ibid.). In Anlehnung an Peter Hulmes (1995) akzentuiert Stuart Hall das produktive Spannungsverhältnis des ›Postkolonialismus‹ zwischen der temporalen Dimension, die auf eine zeitliche Beziehung beispielsweise zwischen einer Kolonie und einem postkolonialen Staat verweist, und der epistemologischen Dimension, in der etwa eine postkoloniale Theorie aus der Kritik an einem theoretischen System resultiert. Wie in anderen theoretischen Kontexten folgt auf die Dekonstruktion von Kernkonzepten durch so genannte ›Post‹-Diskurse nicht deren Auf hebung, sondern ihre Ausweitung, im Falle des ›Postkolonialismus‹ »allerdings an einer ›dezentrierten‹ Position des Diskurses« (Hall 1997, 230).5 Funk 2008, 63) verstand. Seiner Auffassung nach basiert Geschichte »als zielgerichtetes Unternehmen eines Mega-Subjekts namens Menschheit […] auf narrativen Grund­m ustern, die letztlich philosophischer und religiöser Natur sind« (ibid.). ›Große Erzählungen‹ sind die »Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns oder die Emanzipation des vernünftigen und arbeitenden Subjekts« (Müller-Funk 2008, 66, in Anlehnung an Lyotard 1979). In seiner Schrift La condition postmoderne (1979) diagnostizierte Lyotard sowohl der Erzählung der Aufklärung mit ihrem Fortschrittsoptimismus als auch der hegelmarxistischen Geschichtsphilosophie eine Krise. Insofern Narrative legitimieren, »was kulturell jeweils selbstverständlich ist, Wissenschaft zum Beispiel« (Müller-Funk 2008, 66), bedeutet die Fragilität der grands récits, dass auch »die Wissenschaft in ihrer bisherigen Selbstverständlichkeit ins Wanken« (ibid.) gerät. Das ›postmoderne Wissen‹ emanzipiert sich von den ›großen Erzählungen‹: Es geht nicht mehr um Legitimation, sondern um die Vermittlung von Performanz und Verfahren. Wissen ist nicht nur ein Machtinstrument, sondern erhöht auch Sensibilitäten, ermöglicht feinere Differenzierungen wahrzunehmen und das Inkommensurable eher auszuhalten. Lyotard ging es darum, ›die Moderne‹ nicht durch eine neue ›große Erzählung‹ von ihrem Ende zu überwinden, sondern sie umzuschreiben (cf. Reese-Schäfer 2008, 449f.). 5 | Der Begriff »Kolonialismus« bezieht sich auf eine spezifische historische Epoche, aber zugleich auch auf eine Art und Weise, Geschichte zu inszenieren oder zu erzählen. Der ›Postkolonialismus‹ kommt nicht nur zeitlich ›nach‹ dem Kolonialismus, sondern er geht auch erkenntnistheoretisch ›über ihn hinaus‹, wie auch der Poststrukturalismus sowohl chronologisch auf den Strukturalismus folgt als auch epistemologisch auf dessen Erkenntnissen aufbaut. Hall zufolge lässt sich dieser Wechsel zwischen den Paradigmen nicht als erkenntnistheoretischer ›Bruch‹ begreifen, sondern eher, mit Gramsci, als Bewegung der Dekonstruktion und Rekonstruktion; es geht also um »die Vorstellung eines Wandels oder Übergangs, der eher als Rekonfiguration eines Feldes verstanden wird denn als Bewegung linearer Transzendenz zwischen zwei sich gegen-

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In der deutschsprachigen Forschung betont insbesondere Doris Bachmann-Medick, ähnlich wie Stuart Hall, die Reichweite, aber auch die Problematik des Begriffs »postkolonial«: Als kritische historische Kategorie bezeichnet der Terminus einerseits die nachhaltigen globalen Veränderungen infolge von Kolonialismus, Dekolonialisierung und neokolonialistischen Ten­denzen, forciert andererseits aber über die historische Verortung hinaus eine diskurs­ kritische Kulturtheorie, die eurozentrische Wissensordnungen und Repräsen­ tationssysteme hinterfragt (cf. Bachmann-Medick 2006, 184). In einem historischen Kontext wird »Postkolonialismus« also zunächst als weitgehend gleichbedeutend mit dem Kampf um politische Unabhängigkeit von kolonialer Herrschaft verstanden. Mit der Herausbildung der Postcolonial Studies in den 1980er Jahren beginnt sich die Begriffsbedeutung zu verändern:6 »­Postkolonial« wird zu einem politisch aufgeladenen Begriff, der für eine grundsätzliche Kritik an der modernen Wissensordnung und am universalisierenden Machtdiskurs ›des Westens‹ steht. In den Blick genommen werden dabei sowohl die epistemische Gewalt hegemonialer Diskurse als auch Selbstrepräsentationen bisher marginalisierter Positionen (cf. Bachmann-Medick 2006, 185). Ähnlich verstehen Sebastian Conrad und Shalini Randeria den Terminus »postkolonial« als spezifische historische Periodisierung wie auch als »besondere Form des theoretischen Ansatzes und der Analyse« (Conrad/Randeria 2002, 24). Mit dem formalen Ende der Kolonialzeit und den vorwiegend in den 1960er Jahren proklamierten Unabhängigkeitserklärungen der postkolonialen Staaten seitig ausschließenden Zuständen« (Hall 1997, 239). Der ›Postkolonialismus‹ kann somit als eine im Entstehen begriffene Erkenntnistheorie beschrieben werden (cf. Hall 1997, 237ff.). 6 |  Bachmann-Medick spricht in Zusammenhang mit dem Aufkommen der Postcolonial Studies von einem »postcolonial turn«, da sich der Terminus »postkolonial« von einem »imperialismuskritischen historischen Epochenbegriff« (Bachmann-Medick 2006, 185) zu einem »politisch programmatischen und diskurskritischen Begriff« (ibid.) wandelte. Das postkoloniale Projekt versucht, kritische Analysekategorien zu entwickeln, um die problematische Konstruktion des ›Anderen‹ (›Othering‹) aufzuarbeiten. Eva Hausbacher unterscheidet in ihrer Studie zwischen den Begriffen »Postkolonialismus« und »Postkolonialität«: Während die Postcolonial Studies »die Auswirkungen kolonialer Strukturen auf eine Kultur und […] die geopolitischen Machtverhältnisse und Hierarchien zwischen Kulturen ebenso wie die durch ethnische Differenzen charakterisierten innerstaatlichen Zentrum-Peripherie-Verhältnisse [fokussieren], […] arbeiten Postkolonialitäts-Studien auf einem höheren Abstraktionsniveau an der Dekonstruktion von kulturellen Hierar­c hien, ungeachtet ihrer geopolitischen Verortung, machen sich dabei aber jene Methodik und jenes Vokabular zu eigen, welche in den traditionellen Postcolonial Studies und damit am Beispiel der Überseekulturen entwickelt wurde« (Haus­ bacher 2009, 123f.).

Intro

ging nicht notwendigerweise das Ende des kolonialen Einflusses einher, so wurden z.B. koloniale Verwaltungsstrukturen, Lehrpläne und Schulsysteme sowie die Sprachen der (ehemaligen) KolonisatorInnen zumeist übernommen, wie die im Rahmen dieser Studie analysierten literarischen Texte vergegenwärtigen. Die Ungleichgewichte der kolonialen Epoche sind in den unabhängig gewordenen Nationen keineswegs vorbei, auch bestehen kolonialistische Denk- und Handlungsmuster fort. Infolge des Bestrebens der einstigen Kolonialmächte, ihre wirtschaftliche Macht und politische Einflussnahme auszudehnen, entstanden neue, neokoloniale Abhängigkeitsverhältnisse; dies wird gemeinhin als »Imperialismus« bezeichnet (cf. Burtscher-Bechter 2004, 277). Homi Bhabha spricht angesichts der Kontinuitäten zwischen der kolonialen und nachkolonialen Ära gar von einer »voranschreitenden kolonialen Gegenwart« (Bhabha 1994 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 84). Die Begriffsgrenze zwischen »Imperialismus« und »Kolonialismus« verläuft daher fließend: Imperiale Tendenzen im Sinne einer ökonomischen Ausbeutung einzelner Regionen der Welt bestanden schon lange vor der Epoche des neuzeitlichen Kolonialismus, der demnach nur eine Phase des Imperialismus darstellt, die durch Eroberung und Besiedelung, also durch die direkte politische Beherrschung eines Landes gekennzeichnet ist, während die imperiale Abhängigkeit über das offizielle Ende der Kolonialzeit hinaus bestehen bleibt (cf. Burtscher-Bechter 2004, 277f.). Den Grundstein der imperialen Kolonialgeschichte Italiens bildete formal das Jahr 1882, als die Regierung unter Agostino Depretis die von der italienischen Schifffahrts­gesellschaft Rubattino gehaltenen Rechte an der Bucht von Assab am Roten Meer infolge wirtschaftlichen Misserfolgs und Inanspruchnahme staatlicher Subventionen er­warb. Zu Beginn der Expan­sion in Ostafrika war Italien alles andere als eine stabile Nation. Der Einigung 1861 folgten schwerwiegende ökonomische und innenpolitische Probleme, die den sozialen Zusammenhalt gefährdeten. Als die europäischen Kolonialmächte auf der Konferenz von Berlin (1884-1885) den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, u.a. um einen Machtausgleich in Europa zu erzielen,7 versuchte Italien seine verspätete koloniale Expansion durchzusetzen und bekundete Interesse an den bis dato nicht kolonialisierten Gebieten am Horn von Afrika, die als neutrale Zone zwischen den britischen und den französischen Einflusssphären galten. Mit Unterstützung Großbritanniens wurden diese Ambitionen schließlich realisiert. Titus Heydenreich datiert den Beginn des italienischen 7 |  Ein drastisches Beispiel für das damals so bezeichnete ›scrambling for Africa‹ stellte die somalische Halbinsel dar, die in fünf Zonen aufgeteilt wurde: Somalia Italiana, British Protectorate of Somaliland, Côte Française des Somalis, Ogaden (Westsomalia) im Einflussbereich Äthiopiens und schließlich Northern Frontier District im von Großbritannien kolonialisierten Kenia.

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Italienischer Besitz 1918 Bis 1939 erworbene Gebiete Zeitweilig besetzte Gebiete Außenpolitische Unterstützung durch Italien

1 : 60 000 000 0

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Ziele des faschistischen Imperialismus Britischer Besitz Französischer Besitz

Abb. 1: Italienische Expansion und Expansionspläne um 1940 (Quelle: Cornelsen et al. 2002, 218)

  500    750     1000  1250 km

Intro

Kolonialismus auf den 5. Februar 1885, als Truppen im Hafen von Massawa in Eritrea an Land gingen (cf. Heydenreich 2011, 15).8 Die Chronologie der italienischen Expansion lässt sich nach Sandra Ponzanesi (2004b in Anlehnung an Tekeste Negash 1987) in drei Phasen einteilen: Markierte die Gründung der Kolonien Eritrea, der offiziell 1890 proklamierten »colonia primogenita«, und Somalia (1889)9 die Anfangsphase der kolonialen Bestrebungen, ersteckte sich diese bis zur Schlacht von Adwa am 1. März 1896, jener vernichtenden Niederlage, die Italien zu einer Revision der Kolonial- und Außenpolitik zwang. Während die Niederlage von Adwa aus italienischer Sicht als »Schande« (D’Annunzio) betrachtet wurde, nimmt der historische Sieg unter Kaiser Menelik II bis heute eine herausragende Stellung im kollektiven Gedächtnis Äthiopiens ein und gilt als Symbol des antikolonialen Widerstands in ganz Afrika. Äthiopien gelang es, wie auf dem afrikanischen Kontinent sonst nur noch Liberia, erfolgreich die koloniale Aggression abzuwehren (cf. Mattioli 2006, 258). Die zweite Phase der italienischen Expansion umfasste die Zeit nach Adwa bis Anfang der 1930er Jahre und charakterisierte sich durch koloniale Besiedelung und die Errichtung von Infrastruktur. Die mediale Konstruktion eines positiven 8 |  Abgesehen von den Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent dehnte Italien seinen Einflussbereich bis nach Istrien, Albanien, die Dodekanes Inseln und auf Teile Kroatiens bzw. Dalmatiens und weiter bis nach Anatolien aus; italienische Kolonialinteressen bezogen sich zudem auf Malta, Tunesien, den Sudan, den Jemen, den Golf von Aden, den Oman, Katar und schließlich Ägypten, ohne jemals realisiert zu werden. Nicola ­L abanca zufolge forcierte Italien primär in den afrikanischen Überseegebieten eine direkte koloniale Machtausübung, also die Beherrschung von Territorien und Bevölkerungen (cf. Labanca 2002, 57ff., 178ff., 473). In Albanien dauerte die faschistische Militärbesatzung durch Italien von 1939 bis 1943; zuvor war das Land von 1917 bis 1920 ein italienisches Protektorat. Mussolini und Ahmed Zogu, ab 1928 König von Albanien, einigten sich auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, zudem wurde 1933 an den albanischen Schulen Italienischunterricht eingeführt. Ab den 1960er Jahren, während der Diktatur unter Enver Hohxa, fungierte das italienische Fernsehen für die Bevölkerung Albaniens als Verbindung zur Außenwelt. Die kulturellen Nachwirkungen überdauerten also bei weitem die Okkupation. Nach dem Fall des Kommunismus Anfang der 1990er Jahre wurde Italien zur terra promessa albanischer EmigrantInnen; die ökonomischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern weisen teils neokoloniale Strukturen auf, wie auch der Film Lamerica (1994) von Gianni Amelio thematisiert. 9 | Im Jahr 1889 vereinbarte die Regierung Crispi mehrere Abkommen, die italienische Ansiedlungen an den nördlichen Küsten Somalias erlaubten. Über eine Handelsgesellschaft verwaltete Italien 1893 die Region Benadir; die Präsenz italienischer Unternehmensgruppen und Gesellschaften sollte sich als Konstante in der Geschichte Somalias herausstellen. Direkte politische Kontrolle übte Italien ab 1905 aus (cf. Camilotti 2012, 125).

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Selbstbildes war für die verspätete Kolonialnation Italien, die aus ökonomischer Sicht wenig verlockende Gebiete okkupierte, unerlässlich. So verbreiteten die Zeitungen ein Porträt der italienischen KolonisatorInnen, die das Gewehr gegen einen Spaten tauschten, um Straßen, Krankenhäuser und Schulen zu bauen.10 Francesco Crispi versuchte das Land mit einer offensiven Kolonialpolitik zu konsolidieren, die Italien ein internationales Profil und Prestige verleihen sollte – die Entstehung der Nation spiegelte sich gewissermaßen in ihrem Aufstieg zur Kolonialmacht (cf. Labanca 2002, 15ff.; Ponzanesi 2004b, 105-119). Mit dem Ziel, die Expansion voranzutreiben und seine Position im Mittelmeerraum zu stärken, attackierte Italien unter Giovanni Giolitti die damals zum osmanischen Reich gehörenden Gebiete Tripolitanien und Cyrenaika, provozierte den Libyenkrieg (1911-1912) und war in den darauf folgenden Jahren stets mit einem hartnäckigen Widerstand konfrontiert, so dass sich die koloniale Herrschaft auf die Küstenstädte beschränkte.11 Wurde die koloniale Unternehmung u.a. von Literaten wie Giovanni Pascoli oder Gabriele D’Annunzio ideell unterstützt, galt vor allem 10 |  Insbesondere während des Faschismus wurde in Italien der Mythos eines ›proletarischen Imperialismus‹ konstruiert, der das marxistische Konzept des Klassenkampfes auf die Beziehungen zwischen den europäischen Nationen zu übertragen versuchte. In der Folge wurde die Idee der Revolution durch jene des Krieges ersetzt. Diese Sichtweise, die reiche und mächtige Kolonialnationen wie Großbritannien oder Frankreich von Nationen wie Italien unterschied, forderte die junge Nation auf, sich wenn nötig mit Gewalt an der imperialen Expansion zu beteiligen, um beim ›scrambling for Africa‹ nicht leer auszugehen; in diesem Kontext bildete sich die Begriffskombination »proletarischer Imperialismus« heraus, dessen Ideologie auf den nationalistischen Schriftsteller Enrico Corradini (1865-1931) zurückging, der als Herausgeber von Zeitschriften wie Il Regno und L’Idea Nazionale einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung ausübte (cf. Verheyen 2004, 54ff.). 11 | Omar al-Mukhtar, der bekannteste Widerstandskämpfer der Cyrenaika, wurde am 13. September 1931 in Benghasi öffentlich gehängt (cf. Heydenreich 2011, 20). Die italienische Invasion Libyens war mit der Zustimmung Frankreichs, Großbritanniens und Russlands erfolgt. Wirtschaftliche Interessen spielten eine wichtige Rolle, da Libyen ein an Phosphaten, Schwefel und anderen Bodenschätzen reiches Land ist. Trotz der 100.000 Soldaten, die Italien zwischen 1911 und 1921 nach Libyen entsandte, und der exorbitanten Kosten der Unternehmung von über 1 Milliarde Lire wurden die angestrebten Ziele nicht erreicht. Die Annexion stellte sich vor allem im Landesinneren angesichts des Widerstands als schwierig heraus. Schließlich konnten die KolonisatorInnen aufgrund der modernen technischen Ausstattung und der Luftwaffe die Cyrenaika erobern und bis zur Oase Kufra vordringen; dabei wurden etwa 80.000 HalbnomadInnen in Lager an der Küste um Syrte deportiert. 1931 wurde ein 270 km langer Stacheldrahtzaun quer durch die Wüste entlang der Grenze zu Ägypten errichtet, um den Widerstand zu brechen (cf. Caspar 2011, 29f.).

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D’Annunzio als prononcierter Befürworter des Libyenkrieges und konnte über die Veröffentlichung seiner Canzoni della gesta d’oltremare (1912) im auflagenstarken Corriere della Sera entsprechende politische Inhalte an ein Massenpublikum kommunizieren. Ein einflussreicher Kolonialmythos jener Zeit bezog sich auf die grüne Cyrenaika, die neben Tripolitanien wegen ihrer römisch-antiken Vergangenheit und ihrer Fruchtbarkeit als terra promessa italienischer EmigrantInnen gepriesen wurde.12 Immer deutlicher kristallisierte sich die Forderung nach Erneuerung der ruhmreichen römischen Vergangenheit heraus, die verlorenen Provinzen der lateinischen Vorfahren sollten ›zurückerobert‹ und die römische Herrschaft an der »quarta sponda« (neben den Küsten des adriatischen, tyrrhenischen und ionischen Meeres) wiederhergestellt werden. Die italienischen Faschisten stilisierten den Mittelmeerraum als ›natürlichen Ort der Latinität‹, um ihre Kolonialbestrebungen in Nordafrika zu legitimieren. Die Eliten wogen sich in der Hoffnung, Libyen – wie es Frankreich mit dem benachbarten Algerien getan hatte – in eine Siedlungskolonie zu verwandeln. Jedoch wurde die massenhafte Ansiedlung italienischer Bauern als Alternative zu der vom Regime 1927 gestoppten Emigration nach Amerika nicht erreicht. So lebten in Libyen zu jener Zeit nicht mehr als ca. 35.000 ItalienerInnen (cf. Verheyen 2004, 45-60; Luraschi 2009, 3; Heydenreich 2011, 20).13 Die dritte Phase schließlich setzte mit den Vorbereitungen zum Abessinienkrieg ein und dauerte bis 1941 bzw. 1943, als die italienischen Kolonialgebiete im Zuge des Zweiten Weltkrieges in britische Protektorate umgewandelt wurden.14 Der Einsatz von Giftgas und chemischen Waf12 | Der Mythos der Grünen Cyrenaika leitete sich von der Vorstellung Nordafrikas als antiker Kornkammer Roms her, was die Provinz Africa, in etwa das heutige Tunesien, auch tatsächlich war, aber nicht das Gebiet zwischen der kleinen Syrte und dem Nil (cf. Verheyen 2004, 52). 13 | Lombardi-Diop/Romeo (2012, 4) heben die Komplexität der kolonialen Beziehungen und der transmediterranen Migration hervor und sprechen von »indirect colonialism« (Lombardi-Diop/Romeo 2012, 4) in Hinblick auf Länder wie Tunesien, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts ca. 80.000 italienische EmigrantInnen lebten. Die Zahlen änderten sich in den 1930er Jahren im Zuge der von den Faschisten forcierten Auswanderung in die Kolonien: Ende des Jahrzehnts lebten etwa 100.000 ItalienerInnen in Libyen und mehrere Hunderttausend in den ostafrikanischen Kolonialgebieten (cf. Labanca 202, 377). 14 |  Der Historiker Aram Mattioli widerspricht jener Periodisierungskonvention, die den italienisch-äthiopischen Krieg von Oktober 1935 bis Mai 1936 datiert. Dieser Konflikt dauerte in Wirklichkeit von Beginn der italienischen Aggression bis zur Rückkehr von Kaiser Hailè Selassiè nach Addis Abeba am 5. Mai 1941. Mattioli erklärt diese Periodisierung damit, dass der sich mittels einer Guerillataktik organisierende ä­ thiopische Widerstand gegen die Kolonialbesatzung nie ganz zusammenbrach und Italien das ostafrikanische Land zu keinem Zeitpunkt vollständig kontrollierte. Diese Neuperspekti-

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ven sowie die Verletzung der Genfer Konvention durch die Faschisten blieben ohne Sanktionen seitens des Völkerbundes, dem auch Äthiopien als einziges afri­kanisches Land angehörte. Nachdem Kaiser Hailè Selassiè ins Exil nach England geflüchtet war, proklamierte Mussolini die ›Wiedergeburt des Imperiums‹ und verlieh Vittorio Emanuele II. die Kaiserwürde über Africa Orientale Italiana (AOI). Aram Mattioli wertet die italienische Aggression als »Schlüsselereignis in der Gewaltgeschichte der Weltkriegsepoche« (Mattioli 2006, 257), vor allem weil die Zivilbevölkerung systematisch in die Kampfhandlungen involviert war.15 Keiner der hauptverantwortlichen Generäle, namentlich Pietro Badoglio und Rodolfo Graziani, musste sich jemals einem Kriegsverbrechertribunal stellen (cf. Labanca 2002, 15ff.; Ponzanesi 2004b, 105-119). Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Paris (1947) verzichtete Italien gänzlich auf seine ehemaligen kolonialen Besitzungen, kehrte jedoch von 1949 bis 1960 ein weiteres Mal an das Horn von Afrika zurück, ausgestattet mit einem Treuhandmandat der UNO, der Amministrazione Fiduciaria Italiana della Somalia (kurz: AFIS),16 bevor Somalia schließlich am 1. Juli 1960 politisch unabhängig wurde (cf. Calchi Novati 1999, 100-116; Luraschi 2009, 9). Armando Gnisci (2007, 99f.) plädiert in seinen engagierten und kritischen Schriften wiederholt dafür, die spezifisch italienische Verantwortung in dem von der europäischen Moderne und den Seefahrernationen seit Beginn der neuzeitlichen Kolonialisierung einseitig bestimmten Geschichtsverlauf festvierung ist notwendig, um nicht die »Tradition der faschistischen Selbstinterpretation, in der euphemistisch stets nur vom ›Krieg der sieben Monate‹ die Rede war« (Mattioli 2006, 257) zu bestätigen. 1936 wurden mindestens 350 hochrangige Mitglieder des äthiopischen Adels getötet oder nach Italien deportiert, um ein Anwachsen des Widerstands gegen die italienische Kolonialbesatzung zu verhindern (cf. Luraschi 2009, 5). 15 | Die äthiopische Opferzahl in den fünfeinhalb Jahren der Okkupation zwischen Oktober 1935 und Mai 1941 liegt Schätzungen zufolge zwischen 330.000 und 380.000 Menschen. Mattioli gelangt zu folgendem Schluss: »Der Abessinienkrieg war der erste von einer faschistischen Macht entfesselte Großkrieg, in dem genozidale Gewaltformen zur Anwendung gelangten. Adäquat erfasst werden können die Geschehnisse am Horn von Afrika nur dann, wenn man sie als eine Generalprobe für die Gewalteruptionen des Zweiten Weltkrieges interpretiert« (Mattioli 2006, 267). 16 | Mit dem UN-Mandat der AFIS wurde Italien u.a. die Aufgabe übertragen, ein System an Sekundarschulen aufzubauen, das in der Kolonialzeit nur unzureichend realisiert worden war; um dieses Ziel zu erreichen, entstanden ab 1950 sekundäre und postsekundäre Bildungseinrichtungen, einige wenige somalische AbsolventInnen studierten auch an italienischen Universitäten. Die Verwaltung des postkolonialen Somalias blieb in den Jahren der AFIS überwiegend in den Händen italienischer Beamter, die am Entwurf der neuen Verfassung für den unabhängigen demokratischen somalischen Staat mitwirkten (cf. Lombardi-Diop/Romeo 2012, 7).

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zustellen. Denn die (ehemalige) westliche Metropole habe, so auch Homi Bha­ bha, ihrer (post-)kolonialen Ge­schichte »as an indigenous or native narrative internal to its national identity« (Bhabha 1994, 6) zu begegnen. Aber ähnlich wie in Frankreich wurde auch in Italien die koloniale Vergangenheit über Jahrzehnte aus dem kollektiven Bewusstsein, der nationalen G ­ eschichtsschreibung und der politischen Verantwortung verdrängt und banalisiert. Bis heute entzieht sich der italienische Staat einer kritischen Aufarbeitung der Kolonialge­ schichte nicht zuletzt unter dem Vorwand der – verglichen mit Frankreich oder Großbritannien – begrenzten geografischen Ausdehnung und der kurzen his­ torischen Dauer von rund 60 Jahren (1882-1941 bzw. 1943). So erscheint die Kolonialgeschichte in der offiziellen Historiografie als ein Narrativ der Auslassungen und des (Ver-)Schweigens. Die Postkolonialismusfor­schung für den italienischen Kontext sieht sich nach wie vor einer romantisierenden Erinnerung an ›den (ehemaligen) Kolonisator‹ als wohlmeinenden Bruder und Freund der Kolonisierten sowie einer Ver­harmlosung der Kolonialverbrechen gegenüber. Der stilisierte Mythos des buon italiano oder der italiani brava gente spielt(e) laut Nicola Labanca für die Erinnerungskultur der Kolonialerfahrung eine nicht zu unterschätzende Rolle, evozierte er doch das Selbstbild eines gütigen, wohlmeinenden Nationalcharakters, wurde medial konstruiert und zog sich quer durch alle Gesellschaftsschichten und über das gesamte politische Spektrum.17 Ponzanesi zufolge scheint die Selbstwahrnehmung Italiens, 17 | Diese hartnäckigen Überzeugungen verhinderten in Italien über Jahrzehnte eine ernsthafte Diskussion sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Meinung und den Institutionen. Nicola Labanca zufolge hing die Erinnerung an die ehemaligen Kolonien in einer ersten Phase zunächst sehr stark davon ab, ob ein persönlicher Bezug gegeben war oder nicht, denn nur relativ wenige ItalienerInnen (allen voran Soldaten, Kolonialbeamte, Kolonialisten und ihre Familien) hatten Africa Orientale Italiana besucht oder längere Zeit dort gelebt. Nicht einmal zwei Prozent der italienischen Emigrant­I nnen wanderten in die Kolonien aus. In Eritrea lebte mit etwa 100.000 BürgerInnen die größte italienische Gemeinde in Afrika (cf. Labanca 2004, 163; Luraschi 2009, 9). Nach ihrem Ende verschwand die Kolonialzeit in Italien nahezu aus der Historiografie, den Schulbüchern und dem kulturellen Gedächtnis – geblieben sind die kolonialen Mythen im Interesse einer politischen Klasse, die lange Zeit den Zugang zu historischen Archiven blockierte. Auch wurde der Mythos der italiani brava gente weiterhin inszeniert: In der populären Wochenzeitung Domenica del corriere etwa erschienen noch Mitte der 1960er Jahre illustrierte Publikationen in Serie, die sich dem Thema »Italien in Afrika« widmeten. Die Betonung eines in der Vergangenheit guten Verhältnisses zu den Kolonisierten wurde nach wie vor als Ideologie der Dekolonialisierung instrumentalisiert: »l’Italia si illudeva di auto-assolversi con la ›brava gente‹« (Labanca 2004, 169; cf. Luraschi 2009, 4; Camilotti 2012, 128). Von 1953-1963 förderte das italienische Außenministerium die mehrbändige Publikation L’Italia in Africa unter der Federführung eines

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­ ngeachtet einer aggressiven Kolonialvergangenheit, noch immer diejenige u eines kolonisierten Landes und nicht einer (ehemaligen) Kolonialmacht zu sein. Die massiven Emigrationsbewegungen nach Amerika und Nordwesteuropa seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre sowie die bis heute andauernde tiefe Nord-Süd-Spaltung erschweren zusätzliche die Imagination als Nation und somit die kritische Aufarbeitung des Kolonialismus als Teil der nationalen Geschichte. Im Unterschied zu anderen (Ex-)Kolonialmächten fehlten in Italien die Brisanz und Präsenz von Dekolonialisierungsprozessen oder antikolonialistischen Unabhängigkeitskämpfen, die z.B. in Großbritannien in Zusammenhang mit der Suezkrise oder in Frankreich während des Algerien­ krieges die mediale Berichterstattung dominierten – »fu quindi più facile, ma non meno storicamente inesatto, dipingersi come ›Italiani brava gente‹«, be­merkt Nicola Labanca (2004, 175; cf. Labanca 2004, 167f.).18 Erst ab den 1960er Jahren wurde Italien wiederholt mit der kolonialen Vergangenheit konfrontiert: Äthiopien forderte die Restitution der Stele von Axum,19 Siad Barre hoffte auf italienische Investitionen in Somalia,20 während in Eritrea geKomitees bestehend aus zuvor in den Kolonien tätigen Funktionären und Beamten; in dieser Publikationsreihe wird der Kolonialismus Italiens im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten als human und gütig mythisiert (cf. Bouchard 2013, 296). 18 | Das Ende des italienischen Kolonialismus infolge militärischer Niederlagen im Zweiten Weltkrieg und die damit einhergehende Umwandlung der Kolonialgebiete (mit Ausnahme Äthiopiens) in britische Protektorate implizierte einen Prozess der Dekolonialisierung in Form einer ›externen Dekolonialisierung‹; nicht Italien als ehemalige Ko­l onialmacht, sondern in erster Linie Großbritannien ermöglichte die Unabhängigkeit für die Gebiete am Horn von Afrika und Libyen, wobei Eritrea 1950 von der UNO in eine über Jahrzehnte konfliktreiche Föderation mit Äthiopien gedrängt wurde. Die Umwandlung Eritreas in eine äthiopische Provinz 1960 löste schließlich den bis 1993 dauernden Unabhängigkeitskampf aus (cf. Andall/Duncan 2005, 18f.; Luraschi 2009, 9). Die äthiopisch-eritreische Grenze wurde während des Kolonialismus festgelegt, nachdem Äthiopien der italienischen Expansion mit der Schlacht von Adwa 1896 ein Ende setzen konnte. 19 | Silvia Camilotti bemerkt, die Geschichte rund um den Obelisken von Axum zeige emblematisch die historische Verdrängung: Am 31. Oktober 1937 anlässlich des 15. Jahrestages des ›Marsches auf Rom‹ eingeweiht, wurde der Obelisk auf der Piazza di Porta Capena in Rom vor dem damaligen Kolonialministerium als Symbol der kolonialen Unternehmung zur Schau gestellt. Im Friedensvertrag von 1947 wurde dessen Rückgabe an Äthiopien innerhalb von 18 Monaten vereinbart, jedoch sollte der Restitutionsprozess erst Ende der 1990er Jahre eingeleitet werden (cf. Camilotti 2012, 129). 20 | Insbesondere in Somalia behielt Italien politischen und ökonomischen Einfluss bis in die 1990er Jahre. Luraschi weist auf die engen Verbindungen zwischen Siad Barres anfänglich sozialistisch ausgerichteter Politik und die ökonomischen Interessen Ita-

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rätselt wurde, warum Rom sich dermaßen desinteressiert an den Entwicklungen in der inzwischen von Äthiopien annektierten einstigen »colonia primogenita« zeigte. Muammar al-Ghaddafi wies 1970 alle in Libyen lebenden italienischen SiedlerInnen aus, verlangte eine offizielle Anerkennung der kolonialen Verantwortung sowie Entschädigungszahlungen. Eine komplexere Phase in der Kolonialerinnerung eröffnete sich Ende der 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren, als eine postkoloniale Verantwortung zögerlich anerkannt wurde und das Eingeständnis folgte, dass der italienische Kolonialismus weder anders, noch humaner oder toleranter als jener anderer Länder war, wie dies diverse Kolonialmythen lange Zeit zu suggerieren versuchten. Die öffentliche Meinung reagierte schon frü­her auf Ereignisse des antiimperialistischen Widerstands sensibel. Häufige Solidaritätsaktionen zeigten das breite Interesse der Bevölkerung an den zahlreichen Krisen und Konflikten im postkolonialen Afri­k a, ohne jedoch deren koloniale (und neokoloniale) Ursachen, insbesondere in den einstigen italienischen Kolonialgebieten, zu reflektieren. Ende der 1990er Jahre kam es erstmals zu engagierten Stellungnahmen von höchsten staatlichen Autoritäten: Der systematische Einsatz von Giftgas im Äthiopienkrieg wurde 1996 vom damaligen Verteidigungsmi­nister Domenico Corcione offiziell bestätigt, Oscar Luigi Scalfaro erklärte in seiner Funktion als Staatspräsident 1997 bei seinem historischen Besuch in Addis Abeba vor dem äthiopischen Parlament, dass Italien während des Kolonialismus schwere Verbrechen begangen habe, und auch der ehemalige Ministerpräsident Massimo D’Alema verurteilte auf einem Staatbesuch in Libyen die koloniale Vergangenheit.21 Die Beteiligung an den letztendlich gescheiterten multinationalen UN-Missionen 1992-1993 in ­Somalia (Operation Restore Hope) stellte nach der kolonialen Okkupation und der neokolonialen AFIS ein weiteres Aufeinandertreffen zwischen Italien und den Ländern am Horn von Afrika dar. Die Brüchigkeit des kollektiven Gedächtnisses zeigte sich rund um den 100. Jahrestag der Schlacht bei Adwa (1896/1996) erneut: Weder gab liens in Somalia hin, die in den 1980er Jahren von Parteien wie dem Partito Socialista Italiano (PSI) und dem Partito Comunista Italiano (PCI) getragen wurden (cf. Luraschi 2009, 9). 21 | Mit der Restitution der Stele von Axum an Äthio­p ien setzte der italienische Staat 2005 ein wichtiges Zeichen zur Versöhnung, ebenfalls mit der 2008 erfolgten offi­z i­ ellen Entschuldigung für die zwischen 1911 und 1943 in Libyen begangenen Kolonial­ verbrechen und der Verpflichtung zu Reparationszahlungen in Milliardenhöhe; dieser Friedens-, Freundschafts- und Entschädigungsvertrag sah zudem den Bau einer Küsten­ autobahn zwischen Tunesien und Ägypten, Erdöl- und Erdgaslieferungen sowie Kon­ trollen der internationalen Migrationsrouten an der libyschen Küste vor, wurde jedoch von Muam­mar al-Ghaddafi im Zuge der arabischen Revolutionen 2011 aufgekündigt (cf. Hey­d enreich 2011, 22).

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es ein offizielles Gedenken noch beteiligten sich politische VertreterInnen in diesem Kontext an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen (cf. Labanca 2004, 171ff.; Carroli 2010, 205). Nicola Labanca bewertet die Stellung des Kolonialismus im italienischen kollektiven Gedächtnis wie folgt: »[P]er la memoria collettiva italiana, il passato coloniale non ha il carattere aspro e divaricante ad esempio di quello del fascismo, né l’ethos compattante o divaricante della Resistenza, né trascina con sé i grandi temi dell’identità nazionale, come accade col ricordo della Grande Guerra. Si presenta come qualcosa di al tempo stesso più ›lungo‹, meno ›connotato‹ ideologicamente, più ›normale‹ e più coinvolgente […], ormai più lontano. La sua è una memoria ormai più imprecisa, meno specifica, più generica.« (Labanca 2004, 173)

I.2 E ine L iter atur der F luchtlinien im K onte x t Die zunehmende innere Differenzierung und Komplexität der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft tendiert nicht nur zu der von Welsch (1997) konzeptualisierten transkulturellen Verfasstheit zeitgenössischer Kulturen, sondern bildet auch den Kontext für die Entstehung einer transkulturellen Literatur in italienischer Sprache. Armando Gnisci zufolge eröffnet die planetarische Migration der Gegenwart eine neue Phase der »Kreolisierung Europas« (cf. Gnisci 2006b, 33). Die globalen Migrationsbewegungen der vergangenen 30 Jahre diversifizieren über erfinderisches Verhandeln des Unvorhersehbaren die europäischen Gesellschaften und bahnen einer Kreolisierung Europas den Weg, die allgemein die Möglichkeit einer Veränderung und für die Literatur potenziell eine Mondialisierung literarischer Traditionen bedeutet. Die Antwort darauf sei eine progressive Dekolonialisierung Europas; diese von Gnisci so bezeichnete »Via della Decolonizzazione europea« (2006a, 15) beschreibt eine Mondialisierung »fatta a casa« (Gnisci 2006a, 16). Im Zentrum sollte eine mentale Dekolonialisierung infolge postkolonialer Begegnungen, die heute eher in Europa stattfinden, stehen. Gnisci zielt also auf eine Dekolonialisierung der EuropäerInnen von sich selbst und plädiert für ein Denken und Agieren jenseits des Eurozentrismus, der nicht länger die einzige Basis für Konzepte europäischer ›Identität‹ darstellt (cf. Gnisci 2006a, 34).22 22 | Conrad/Randeria verstehen unter »Eurozentrismus« die mehr oder weniger explizite Annahme, »daß die allgemeine historische Entwicklung, die als charakteristisch für das westliche Europa und das nördliche Amerika betrachtet wird, ein Modell darstellt, an dem die Geschichten und sozialen Formationen aller Gesellschaften gemessen und bewertet werden können. Die Spezifität und historischen Unterschiede nichtwestlicher Gesellschaften werden dementsprechend in einer ›Sprache des Mangels‹ beschrieben

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Auch Stuart Hall schlägt vor, die Kolonialisierung als Teil eines im Wesentlichen transnationalen und transkulturellen »globalen«23 Prozesses neu zu lesen, wodurch ein Umschreiben der traditionellen Kolonialgeschichten mit den europäischen Metropolen als Zentrum von den so genannten ›Rändern‹ aus forciert wird (cf. Hall 1997, 227); hierbei handelt es sich in erster Linie um die Randbereiche des eurozentristischen Machtdiskurses. Wie Gay­atri Spivak in ihren erhellenden Analysen zeigt, geht es nicht um die Sprachlosigkeit ›der Subalternen‹, sondern vielmehr darum, dass das Hören hegemonial strukturiert ist. Literatur bietet eine Artikulationsmöglichkeit für die Handlungsfähigkeit und den Widerstand subalterner Gruppen in postkolonialen Gesellschaften. Damit wirkt Literatur symbolisch dem Vergessen der Marginalisierten in den hegemonialen Erzählungen und nationalen Geschichtsschreibungen entgegen (cf. Spivak 1988 zit. Castro Varela/Dhawan 2005, 78). Und eben von diesen mit epistemischer Gewalt vom Machtdiskurs ausgegrenzten Positionen gestaltet sich die postkoloniale Literatur als ein Schreiben von den ›Rändern‹ in der Sprache des ›Zentrums‹. In diesem Sinne werden Kulturen im Postkolonialismus zunehmend liminal produziert, d.h. von ihren kulturell dynamischen Grenzräumen aus gestaltet. Die Biografien von SchriftstellerInnen, die »sich kosmopolitisch zwischen den Kulturen bewegen und ihre mehrfache Zugehörigkeit produktiv machen bzw. kreativ entfalten« (Bachmann-Medick 2006, 200), akzentuieren zwar ihre kulturelle Hybridität, aber nicht primär aus diesem Grund gelten sie als VertreterInnen einer postkolonialen Literatur, wie in den Literatur- und Kulturwissenschafund als Defizite behandelt« (Conrad/Randeria 2002, 12). Es werde kaum reflektiert, »daß auch ›Europa‹ und ›der Westen‹ diskursive Konstruktionen sind, die zahlreiche interne Unterschiede und Differenzen einebnen« (ibid.). Konstitutiv für den Eurozentrismus erweisen sich zum einen die Annahme, die Geschichte der Moderne sei eine Diffusion europäischer und ›westlicher‹ Errungenschaften, so dass die einzig denkbare Zukunft der Welt in einer globalen Verwestlichung zu liegen scheint, zum anderen die Auffassung, die europäische Entwicklung könne gänzlich innerhalb der Traditionen und Geschichte Europas erklärt werden. Die Geschichte der Modernisierung erscheint demnach als eine Geschichte der Expansion vom ›europäischen Zentrum‹ in die weltweite ›Peripherie‹. Diese Sichtweise ignoriert nicht nur die Komplexität der Moderne an den ›Rändern‹ der kapitalistischen Zentren, sondern auch deren Verflechtung mit der europäischen Moderne (cf. Conrad/Randeria 2002, 12f.). 23 | Im ›Postkolonialismus‹ bedeutet »global« nicht universal, auch nicht nationenoder gesellschaftsspezifisch; es bezeichnet vielmehr »die Art und Weise, wie die kreuz­ weise quer und längs verlaufenden Wechselbeziehungen […] den Zentrum-PeripherieGegensatz ergänzen und gleichzeitig [deplatzieren] und wie das Globale und Lokale einander wechselseitig reorganisieren und umgestalten« (Gilroy 1993 zit. in Hall 1997, 228).

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ten manchmal verkürzt dargestellt. Der Begriff der »Hybridität« fokussiert die Ambivalenzen von Kulturen auf der Basis von diskursivem Handeln und Intervention und legt den »Äußerungsprozess von Kultur« (Bhabha 2000, 51) offen: Kulturelle Selbstbehauptungen und Konzeptualisierungen sozialer wie historischer Praktiken können diskursiv verhandelt werden. Damit ist ein unabschließbarer Prozess des Aushandelns und der Neuaufladung unterschiedlicher, sich überlappender und teils widersprüchlicher Diskurse gemeint (cf. Bachmann-Medick 2006, 198f., in Anlehnung an Bhabha 2000). Kultur – wie auch ›Identität‹ oder ›Raum‹ – äußert sich über Diskurse. Der Verortung von Kultur in den diskursiven Handlungs- und Veränderungsspielräumen wohnt also ein innovatives Potenzial inne,24 und wie auch Armando Gnisci argumentiert, kommt der »nuova letteratura creola transnazionale scritta nelle varie lingue di arrivo« (Gnisci 2003 zit. in Sinopoli 2006, 100) dieses Innovationspotenzial zu. Mit seinem kritischen Standpunkt verdeutlicht Gnisci zudem die Notwendigkeit einer Aktualisierung des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums angesichts eines europäischen kulturellen Kontexts in Bewegung, in dem Kanon und Methodologien der Literaturanalyse neu zu bestimmen sind. Diese Revision erfolgt ›von unten‹, d.h. direkt vom Geschichtsverlauf der Welt ausgehend und nicht von einer Literaturwissenschaft eurozentristischer Prägung (cf. Sinopoli 2006, 101). Die von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1975) entworfene Konzeption einer deterritorialisierten ›kleinen‹ Literatur scheint m.E. geeignet, postkoloniale Literatur in ihren Strukturen zu beschreiben, handelt es sich doch um die Literatur einer ›Minorität‹, die sich einer ›großen‹ Sprache bedient, das Individuelle mit dem Politischen verknüpft und dabei kollektive Aussagen trifft – eine hybride Literatur auf der ständigen Suche nach eigenen Fluchtlinien. Dabei qualifiziert das Adjektiv ›klein‹ nicht »bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer so genannten ›großen‹ (oder etablierten) Literatur befindet« (Deleuze/­Guattari 1976, 27). In diesem Sinne geht es hier nicht um die Literatur einer nationalen,

24 |  Diese diskursiven Handlungsspielräume entsprechen anders gesagt den Bhabha’­ schen Treppenhäusern, cf.: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozess symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt.« (­B habha 1997, 127)

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ethnischen oder sozialen ›Minderheit‹, sondern um eine noch nicht etablierte Literatur an den diskursiven ›Rändern‹ des Literaturbetriebs, somit um die literarische Produktion allenfalls einer pop-, gegen- oder subkulturellen, diskursiven ›Minderheit‹, die sich im postkolonialen Kontext – historisch, biografisch oder familiär bedingt – häufig gleichzeitig transnational oder transkontinental verortet. Wie andere literarische Strömungen jenseits des Kanons (z.B. Pulpoder Jugendliteratur) äußert sich die postkoloniale Literatur also von Randbereichen in einer diskursmächtigen Sprache in der Hoffnung, sich Gehör zu verschaffen, individuelle Identitätsfragen mit politischer Kritik und kollektiver Verantwortung verknüpfend. Mit ästhetischen Mitteln wie z.B. Mehrsprachigkeitsaspekten oder Elementen mündlicher Erzähltraditionen versucht diese ›literarische Minderheit‹ oder ›unkonventionelle‹ Literatur Kanongrenzen aufzubrechen. An diesem Prozess der ›Kreolisierung‹ jenseits des gängigen Literaturkanons beteiligen sich selbstverständlich auch in Italien sozialisierte AutorInnen; das prominenteste Beispiel ist Wu Ming (2), aber auch Igiaba ­Scego oder Mario Domenichelli, deren postkoloniale Romane in der vorliegenden Studie untersucht werden. Zugleich prägen nach Italien migrierte SchriftstellerInnen die postkoloniale Literaturproduktion in italienischer Sprache. Die Entscheidung, in der vormals kolonialen Sprache zu schreiben, erklärt sich z.T. aus dem Wunsch, mit dem italienischen Publikum in Kontakt zu treten, von der ehemals kolonialisierenden Gesellschaft gehört zu werden sowie die gemeinsame Kolonialgeschichte und daraus resultierende Identitätskonflikte zu thematisieren; die Sprachwahl ist zudem dadurch bedingt, dass die Texte der AutorInnen sonst kaum publiziert würden. Das Auf brechen der rigiden Grenzen des italienischen Literaturkanons und das Aushandeln von Positionen ebendort wie in der literarischen Öffentlichkeit und dem Verlagswesen stellen sich für diese junge literarische Strömung als wegweisend heraus. Die Texte postkolonialer SchriftstellerInnen legen sozusagen eine neue ›Zone‹ der italienischen Literatur frei (cf. Gnisci 2003, 76); im zuvor skizzierten postkolonialen Sinne repräsentieren sie ›globale Texte‹, aktualisieren das Konzept einer »Weltliteratur«, mondialisieren ›nationale‹ Geschichte(n), Sprache(n) und Kultur(en) und ähnlich der Weltmusik tragen sie zu einer Kreolisierung Italiens und Europas bei. Die Existenz einer lebendigen italienischen Gegenwartsliteratur – unabhängig davon, ob ihre AutorInnen in Italien geboren oder sozialisiert wurden, dorthin einwanderten oder auswanderten wie die großteils vergessenen Literat­Innen der Emigration – stellt ein von diversen Literaturgeschichten festgelegtes, Kanon basiertes Literaturmodell infrage (cf. Gnisci 2003, 109). Gnisci schlägt vor, die im Kontext der zeitgenössischen Migration und der transkulturell verfassten Gesellschaft entstehende Literatur mit einem transnationalen Modell zu betrachten und in Relation zur historischen Emigration aus Italien, »[una] vicenda che è stata rimossa dalla memoria collettiva e non costituisce

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un elemento significativo della coscienza nazionale« (Susi 1995 zit. in Gnisci 2003, 83), sowie der weitgehend unbekannt gebliebenen italienischsprachigen Emigrationsliteratur zu setzen. Entwickelte sich die unmittelbar nach der Einigung Italiens (1861) beginnende Emigration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer dramatischen Massenauswanderung vornehmlich in die USA, nach Argentinien, Australien und später in andere europäische Länder,25 entfaltete die Präsenz Italiens in erster Linie auf dem amerikanischen Kontinent eine besondere transkulturelle Wirkungskraft, allen voran in der populärkulturellen Musik- und Filmbranche, etwas weniger in der Literatur.26 25 | Mitunter von der Politik der savoyischen Könige provoziert, setzte nach der staatlichen Einigung Italiens, als der koloniale Imperialismus Europas seinen Höhepunkt erreichte, eine massive transatlantische und transmediterrane Migration ein: Schätzungen zufolge verließen zwischen 1876 und 1976 etwa 26 Millionen Menschen das Land. Die historische Emigration und der italienische Kolonialismus waren insofern zusammenhängend, als sich für den Aufbau der nationalen Ökonomie im jungen Staat Italien transnationale Verflechtungen als notwendig herausstellten. Antonio Gramsci zufolge war die vom italienischen kapitalistischen System forcierte koloniale Unternehmung hauptsächlich ideologisch motiviert, um die nationale Einigung auf Kosten des ­M ezzogiorno zu erreichen (cf. Lombardi-Diop/Romeo 2012, 3, 5). Schriftsteller wie beispielsweise Verga, de Roberto, Pirandello, Carlo Levi, Silone und Tomasi di Lampedusa erzählen und demaskieren in ihren literarischen Texten die infolge des Risorgimento in einen ökonomisch erfolgreichen Norden und einen desolaten Süden gespaltene Nation. Der Film ­N uovomondo (2006) von Emanuele Crialese thematisiert die historische Emigration als das Resultat eines faktisch nicht existierenden Staates (cf. Gnisci 2007, 83f.). 26 | Auf diese in der Italianistik bislang kaum berücksichtigte Literaturproduktion der transatlantischen Migration kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden. Mit ihrem Plädoyer Italo-America. Transatlantic Connections and Italian (Cultural) Studies/Für eine transatlantisch-italianistische Literatur- und Kulturwissenschaft (2015) weisen Sabine Schrader und Daniel Winkler auf dieses Desiderat in einer Themennummer der Internetzeitschrift lettere aperte hin (cf. http://www.lettereaperte.net/?page=2, 02.05.2017). Erwähnt sei zudem die von Jean-Jacques Marchand an der Universität Lausanne eingerichtete Datenbank zur italienischsprachigen Emigrationsliteratur: Banca dati sugli Scrittori di Lingua Italiana all’Estero (BASLIE); in diesem Kontext entstand die Zeitschrift Altre Italie (cf. http://www.altreitalie.it/, 02.05.2017), auch edierte Marchand einen umfassenden Band: La letteratura dell’emigrazione. Gli scrittori di lingua italiana nel mondo. Torino, Edizioni della Fondazione Agnelli 1991. Zeitgenössische AutorInnen wie Giosuè Calaciura (Sgobbo, 2002) oder Melania Mazzucco (Loro, 2003; Io sono con te, 2016) fiktionalisieren einerseits die Immigration nach Italien, andererseits die Geschichte der italienischen Emigration, z.B. Melania Mazzucco in ihrem inzwischen vielfach übersetzten Roman Vita (2003, ausgezeichnet mit dem Premio Strega) von ihrer eigenen Familiengeschichte ausgehend und vor allem

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Gegenwärtig wird die italienische Migrationsgeschichte durch die nach wie vor andauernde interne Migration von Süd- nach Norditalien und insbesondere durch die Transformation in ein Land der Immigration geprägt. Im Kontext der zeitgenössischen globalen Mobilität und Migration bildet sich seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine in italienischer Sprache verfasste Literatur von in Italien lebenden SchriftstellerInnen aus aller Welt heraus, wodurch die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung einer postkolonialen Literatur schlussendlich auch in Italien gegeben waren. Sichtbar wurde diese junge, noch im Entstehen begriffene Literatur erstmals Anfang der 1990er Jahre, als einige AutorInnen ihre Migrationserfahrungen literarisch verarbeiteten und veröffentlichten, häufig in Kooperation mit italieni­schen JournalistInnen und/oder SchriftstellerInnen, die für die sprachliche Realisation als Ko-AutorInnen fungierten.27 Auch erkannten einige bedeutende italienische Verlagshäuser das breite kulturelle Interesse für die von der globalen Migration artikulierten Fragen. Kurzfristig tra­fen sich somit die sozialen und kommerziellen Interessen der Verlage, die die abenteuerlichen Lebensge­schichten von MigrantInnen als ›exotische Autobiografien‹ auf dem Buchmarkt platzierten, wobei die italienischen Ko-AutorInnen den Absatz sichern sollten.28 Diese »scrittura a quattro mani«, das kollektive Schreiben, mar­kierte den Beginn der so bezeichneten »letteratura italiana della migrazione« (Gnisci), die in dieser ersten Phase vom Literaturbetrieb forciert wurde.29 Laura Pariani (Di corno o d’oro, 1993; Quando Dio ballava il tango, 2002; La ­s traduzione, 2004; Il paese dei sogni perduti, 2004; Dio non ama i bambini, 2007; Le montagne di don Patagonia, 2012; Il piatto dell’angelo, 2013 u.a.). 27 | Die Entstehungsphase wurde zudem durch ein tragisches Ereignis geprägt: die Er­m or­dung des südafrikanischen Erntearbeiters Jerry Essan Masslo in der Nacht vom 24. auf 25. August 1989 in Villa Literno in der Provinz Caserta (Kampanien). Einige Autor­ Innen referieren in ihren Texten explizit auf dieses Er­e ignis, z.B. der in Frankreich lebende Autor Tahar Ben Jelloun in der Erzählung Villa Literno seines Erzähl­b andes Dove lo stato non c’è. Racconti italiani (1991; in Kooperation mit dem Journalisten und Schriftsteller Egi Volterrani) und Saidou Moussa Ba in La promessa di Hamadi (1991) (cf. ­G nisci 2003, 84f.). 28 | Bekannte Beispiele sind Io, venditore di elefanti. Una vita per forza fra Dakar, Parigi e Milano (1990) von Pap Khouma und seines Ko-Autors Oreste Pivetta, Immigrato (1990) von Salah Methnani und Mario Fortunato, Chiamatemi Alì (1990) von Mohamed Bouchane (Ko-AutorInnen: Carla de Girolamo und Daniele Miccione), La pro­m essa di Hamadi (1991) von Saidou Moussa Ba (Ko-Autor: Alessandro Micheletti) und Pantanella. Canto lungo la strada (1992) von Mohsen Melliti (Ko-Autorin: Monica Ruocco). 29 | Die italienische Literaturkritik reagierte erstmals 1991 auf die entstehende transkulturelle Gegenwartsliteratur, als Remo Caccia­t ori in einem kurzen Beitrag für den Tu­ riner Verlag Einaudi die autobiografischen Romane von Salah Methnani und Pap Khouma

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Angesichts der männlich dominierten italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts erscheint es bemerkenswert, dass die ­transkulturelle Literatur der Gegenwart von Schriftstellerinnen pari­tätisch mitgestaltet wird, sowohl die Erzählliteratur als auch die Lyrik (cf. Gni­sci 2003, 89, 111).30 In der zweiten Phase dieser noch kurzen Literaturgeschichte folgte der Rück­zug jener im Rahmen der »scrittura a quattro mani« engagierten Verlage mit der Begründung: »il mercato ›non tirava più‹« (Gnisci 2003, 90). Wie Gnisci erläutert, verschwand diese literarische Strömung da­raufhin nicht einfach wie eine flüchtige Modeerscheinung, sondern entfaltete ihre schwierige, fast unsichtbare, jedoch eigenständige Geschichte in Strukturen außerhalb der Verlagsin­dus­trie: im Bereich des Volontariats und der Non-Profit-Organisationen, der nicht-kommerziellen Lokal- und Straßen­k ultur sowie des Internets, die ihre unabhängige Entwicklung garantierten.31 Spielen für die Etablierung dieser deterritorialisierten Literatur verschiedene Kulturplattformen (z.B. Eks  & Tra) und Literaturwettbewerbe (allen voran der Concorso­ ­Lingua Madre) eine bedeutende Rolle,32 scheint sich das Internet als Medium für d ­ eren Produktion und Verbreitung besonders zu eignen.33 Viele AutorInnen, die persönlich eine Migrationsgeaus Sicht des Verlagsmarktes rezensierte, der, so Cacciatori, das Ereignis eines ›in der Sprache Dantes‹ schreibenden Immigranten bewusst in Szene setzte. 1992 erschien der erste literaturkritische Band von Armando Gnisci, Il rovescio del gioco (Teil der Ausgabe Creolizzare l’Europa, 2003, 15-71), der auf die Texte dieser neuen Literatur in Form wechselseitigen Fragens und Zuhörens zu antworten versuchte (cf. Sinopoli 2006, 89). 30 | Als frühe Autorinnen gelten Nassera Chora (Volevo diventare bianca, 1993; in Kooperation mit der Journalistin Alessandra Atti di Sarro), Ribka Sibhatu (Aulò. Canto-­ poesia dall’Eritrea, 1993) und Shirin Ramzanali Fazel (Lontanto da Mogadiscio, 1994; Nuvole sull’equatore. Gli italiani dimenticati. Una storia, 2010). 31 | Stellvertretend erwähnt seien Zeitungen und Zeitschriften wie Nigrizia (http:// www.nigrizia.it/sito/copertina.aspx, 02.05.2017), Lo straniero (http://lostraniero.net/, 02.05.2017), Africa e Mediterraneo (http://www.africaemediterraneo.it/, 02.05.2017); für weitere und detaillierte Ausführungen in diesem Zusammenhang siehe Gnisci 2003, 91. 32 | Der Concorso letterario nazionale Lingua Madre wurde 2005 von der Journalistin Daniela Finocchi gegründet und adressiert mit Unterstützung des renommierten Salone Internazionale del Libro di Torino speziell weibliche Autorinnen, cf. http://concorsolin guamadre.it/ (02.05.2017), cf. http://www.eksetra.net/ (02.05.2017). 33 | Allen voran sei auf die Internetzeitschrift El Ghibli, geleitet von einer Autor­ Innen­g ruppe um Pap Khouma, verwiesen: http://www.el-ghibli.provincia.bologna.it/ (02.05.2017). Die 2001 von Armando Gnisci gegründete Internetzeitschrift Kúmá. Creolizzare l’Europa wird derzeit laufend aktualisiert (Stand: Juni 2017); nähere Informationen sind auf der Website der Zeitschrift Patria Letteratura zu finden: http://www.pa trialetteratura.com/kuma-limm-ripartiamo/ (02.05.2017). Zu erwähnen im Kontext postkolonialer Studien sind darüber hinaus die Zeitschriften Studi culturali (mit einem

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schichte erlebt haben, verfassen in ihrer literarischen Frühphase Autobiografien oder autobiografi­sche Romane, mitunter eine notwendige Stufe der Selbstreflexion und der Identitäts(de)kon­struktion im Exil, und wechseln in einer zweiten Schaffensphase das Genre, schreiben fiktive E ­ rzählungen, Romane, Gedichte, zuneh­mend auch Essays und Theaterstücke.34 Häufig als »MigrationsautorInnen« bezeichnet, suchen sie Anerkennung als SchriftstellerInnen im eigentlichen Sinne; ihre Rezeption sollte auch über die Etikette »Migrationsliteratur« hinausgehen, um die SchriftstellerInnen und ihre Texte nicht in Kategorien festzuschreiben, wie z.B. vom moldawischen Erfolgsautor Nicolai Lilin vehement gefordert, »[…] perché suona strano: è frustran­te e addi­r ittura maleducato [definire così] chi comunque dà un c­ ontributuo alla letteratura ita­ liana« (Lilin zit. in Sica 2009, 49). Solcherart von der Literaturkritik geprägten Sammelbegriffen standen beispielsweise die sich in den 1980er Jahren etablierenden so genannten »giovani scrittori« ebenfalls ablehnend gegenüber.35 Ihre Literatur charakterisierte sich über Merkmale wie einer Rückkehr zum Schwerpunkt auf Gender und Antirassismus) sowie Scritture migranti. Rivista di ­s cambi interculturali (im Fokus stehen Migration und Transkulturalität im zeitgenössischen Italien). 34 | Einige der bekanntesten AutorInnen sind Nicolai Lilin (Educazione siberiana, 2009; Caduta libera, 2010; Il respiro del buio, 2011; Storie sulla pelle, 2012; Il serpente di Dio, 2014; Un tappeto di boschi selvaggi, 2015; Spy story love story, 2016; Favole fuorilegge, 2017), Amara Lakhous (Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio, 2006; Divorzio all’islamica a viale Marconi, 2010; Un pirata piccolo piccolo, 2011; Contesa per un maialino italianissimo a San Salvario, 2013; La zingarata della verginella di Via Ormea, 2014), Hamid Ziarati (Salam Maman, 2006; Il meccanico delle rose, 2009; Quasi due, 2012), Younis Tawfik (La straniera, 1999; La città di Iram, 2003; Il profugo, 2006; La sposa ripudiata, 2011; La ragazza di piazza Tahrir, 2012), Yousef Wakkas (L’uomo parlante, 2007; Opera 99 – L’autobus dei sogni, 2016), Christiana de Caldas Brito (500 temporali, 2006), Tahar Lamri (I sessanta nomi dell’amore, 2006), Gëzim Hajdari (Poema dell’esilio, 2007; Corpo presente/Trup i pranishëm, 2011; Nur. Eresia e besa/Nur. Herezia dhe besa, 2012; I canti dei nizam/Këngët e nizamit, 2012; ­E vviva il canto del gallo nel villaggio comunista/Rroftë kënga e gjelit në fshatin komunist, 2013; Delta del tuo fiume/Grykë e lumit tënd, 2015), Jadelin Mabiala Gangbo (Rometta e Giulieo, 2001; Due volte, 2009), Ornela Vorpsi (Il paese dove non si muore mai, 2005; Vetri rosa, 2006; La mano che non mordi, 2007; Bevete cacao van Houten!, 2010; Fuorimondo, 2012; Viaggio intorno alla madre, 2015), Ron Kubati (Va e non torna, 2000; M, 2002; Il buio del mare, 2007; La vita dell’eroe, 2016) u.v.a. (cf. auch Gibellini 2013). 35 | Zu diesen Autoren zählen v.a. Andrea de Carlo, Alain Elkann, Daniele del Giudice, Gianfranco Manfredi, Aldo Busi, Roberto Pazzi sowie Stefano Benni und Antonio Ta­b ucchi. Italo Calvino und Umberto Eco kam gewissermaßen eine Vorläuferfunktion dieser »giovane narrativa« zu.

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Erzählen, zur Handlung und zur Gattung des Romans (cf. Rajewsky 2002, 83). Dabei bildeten sich Erzählverfahren wie die Montage, episodisches oder fragmentarisches Erzählen, sprachliche, kulturelle, intertextuelle und intermediale Kombinatorik wie etwa das Spiel mit Zitaten heraus, Genrekonventionen wurden ironisch reflektiert, Metanarrativität und Metafiktionalität erschienen beinahe als Norm. Demzufolge liegt es nahe, so Irina Rajewsky, von einer ›postmodernen‹ Literatur zu sprechen, »die vom Gefühl der Relativität, des stets Vorläufigen und Fragmentarischen geprägt ist, somit von Symptomen einer allgemeinen Orientierungslosigkeit und eines Werte- und Sinnverlusts« (Rajewsky 2002, 85). Wenn die 1980er Jahre die »Epochenschwelle zur Gegenwartsliteratur« markieren, charakterisiert durch eine Rückkehr zum Erzählen und »eine, wenn auch ironisch, ›wissend‹ gebrochene und reflektierte und somit immer nur scheinhafte Rückkehr zu einer referentiellen Funktion der Literatur« (Rajewsky 2002, 87), möchte ich angesichts ähnlicher ästhetischer Gestaltungsmerkmale, wie die Romananalysen dieser Studie zeigen, für eine literaturgeschichtliche Einordnung der postkolonialen Literatur in die italienische Gegenwartsliteratur plädieren.36 Auch Andrea Gazzoni besteht darauf, die in den Romanen inszenierte Poetik legt eine erweiterte Perspektive in der Rezeption und Literaturkritik jenseits der Kategorie »Migrationsliteratur« nahe und »[…] Italian literature is the first field within which they have to be included« (Gazzoni 2013, 232).

I.3 D ie postkoloniale G egenwartsliter atur in I talien und ihre N arr ative Die transkulturelle Verfasstheit der heutigen italienischen Gesellschaft äußert sich u.a. in einer Pluralisierung von Erinnerungskulturen, manifest beispielsweise in der postkolonialen Literatur. Konnte sich in anderen ehemaligen eu36 | In diesem Zusammenhang informativ erweist sich der begriffliche Überblick im 2013 bei Königshausen & Neumann von Martha Kleinhans und Richard Schwaderer herausgegebene Sammelband zur transkulturellen italophonen Literatur, in dem einführend die unterschiedlichen Akzentuierungen der teils miteinander konkurrierenden Begriffsbezeichnungen für diese literarische Strömung aufgelistet und kommentiert werden (cf. Kleinhans/Schwaderer 2013, 10ff.). Die HerausgeberInnen wählen die Bezeichnung »transkulturelle italophone Literatur«, da diese die zeitgenössischen Texte »der Generation 2 wie auch […] transnationaler italienisch schreibender Autoren erfasst und ferner auch die Bereiche der italienischsprachigen Migrationsliteratur und der Postkolonialen Literatur darunter subsumiert werden können« (Kleinhans/Schwaderer 2013, 12).

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ropäischen Kolonialnationen – Portugal, Spanien, England und Frankreich – schon seit längerem eine postkoloniale Literatur etablieren, während eine mit der globalen Migration korrelierende transkulturelle Literatur erst in jüngster Zeit Konturen annimmt, bildet diese in Italien, wie zuvor in groben Zügen umrissen, den Entstehungskontext der postkolonialen Literatur (cf. Gnisci 2007, 90). Die AutorInnen bewegen sich »auf den Kreuzungen von Geschichtlichkeiten und Erinnerungen« (Chambers 1996, 8), weshalb sie in ihren postkolonialen Texten neben Diaspora- und Migrationserfahrungen auch die italienische Kolonialvergangenheit, ihre Kontinuität und Folgen in den jeweiligen Ländern und Gesellschaften (der ehemaligen Kolonien und der ehemaligen Metropole), die daraus resultierenden transnationalen und transkulturellen Beziehungen sowie die vielfach absente, undifferenzierte oder problematische Auseinandersetzung Italiens mit der (post-)kolonialen Geschichte zum Thema machen. Dadurch tragen sie wesentlich zur Dekonstruktion eurozentristischer Repräsentationen und im kollektiven Gedächtnis nach wie vor verbreiteter kolonialer Mythen und Stereotype bei. Wie Aleida Assmann akzentuiert, übernimmt Literatur in der Erinnerungskultur eine Kritik- und Reflexionsfunktion, denn »künstlerische Schöpfung hat einen wichtigen Anteil an der Erneuerung des Gedächtnisses, indem sie die fest gezogene Grenze zwischen dem Erinnerten und Vergessenen infrage stellt und durch überraschende Gestaltungen immer wieder verschiebt« (A. Assmann 2000 zit. in Erll 2005, 72). Sandra ­Ponzanesi spricht angesichts der jahrzehntelangen Verdrängung aus dem kollektiven Bewusstsein von einem »inconscio postcoloniale« (Ponzanesi 2004a, 26), von einem »postkolonialen Un­bewussten«, das heute mitunter in der Literatur zutage tritt. An dieser »Poetik der Dekolonialisierung« (Gnisci) beteiligen sich zeitgenössische AutorInnen, die in Italien oder den ehemaligen italienischen Kolonialgebieten geboren oder sozialisiert wurden, zwischen diesen Räumen migrierten und die Kolonialzeit nicht in der ersten Person, sondern aus einer zeitlichen Distanz erfahren. Dennoch durchdringen deren Nachwirkungen ihre Biografien und ihr literarisches Schaffen. Ali Mumin Ahad schlägt eine innovative Definition der italienischsprachigen postkolonialen Literatur vor, die ein dialogisches Literaturverständnis sich wechselseitig bespiegelnder Texte und eine transnationale wie transkulturelle Perspektive forciert: »Non si tratterebbe, nemmeno, soltanto di una letteratura fatta da italiani sull’esperienza coloniale, ma precisamente di un terreno comune, uno spazio particolare di confronto tra scrittori/scrittrici letterati italiani con scrittori/scrittrici letterati delle ex-colonie italiane.« (Mumin Ahad 2007, 94) Postkoloniale Literatur wird hier konzeptionell verstanden als kultureller und literarischer ›Raum‹, »dove […] può avere luogo un colloquio alla pari« (Gnisci 1992 zit. in Mumin Ahad 2007, 94) – ein Antidot gegen die koloniale Verdrängung.

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Wurde dieser imaginierte Dialog bereits in den 1990er Jahren ­angebahnt,37 spricht Armando Gnisci erst in Hinblick auf Garane Garanes Roman Il latte è buono (2005) als »il primo romanzo postcoloniale italiano. […] la prima voce decolonizzata africana che ci riguarda e racconta« (Gnisci zit. in Garane 2005, Klappentext). In der Tat scheint die postkoloniale Literaturproduktion in Italien ab dem Jahr 2005 in eine neue Phase überzugehen, evident nicht nur in der Quantität, sondern vor allem in der ästhetischen Komplexität der publizierten Texte. Vermitteln mitunter Kurzerzählungen38, Märchennovellen39, Autobiografien40, Lyrik41, Film42 und Medienkunst43 die symbolische Verarbeitung kolonialer und postkolonialer Erfahrungen, fokussiert diese Studie die Gattung des Romans. In Hinblick auf die Zusammenstellung eines repräsenta­ tiven Textkorpus zeitgenössischer postkolonialer Romane beziehe ich mich auf die von Ansgar Nünning vorgeschlagene Typologie einer narrativ-fiktionalen Geschichtsdarstellung und treffe die Auswahl der zu untersuchenden 37 | Was die Erzählliteratur im postkolonialen Kontext um 1990 betrifft, sind die Romane Asmara addio (1988) und L’abbandono (1991) von Erminia Dell’Oro hervorzuheben. Ersteren bezeichnet Dagmar Reichardt als »Auftaktroman« (Reichardt 2013, 125) der postkolonialen Literaturproduktion in Italien. In jenen Jahren erschienen überdies der Roman Hakim. Quasi quasi torno in Eritrea (1994) von Niky Di Paolo sowie der autobiografische Roman Lontano da Mogadiscio (1994) von Shirin Ramzanali Fazel. 38 | Exemplarisch genannt sei die Kurzerzählung von Ali Mumin Ahad »Vecchi coloni al Savoia« (Teil der Anthologie Nuovo planetario italiano. Geografia e antologia della letteratura della migrazione in Italia e in Europa, hg. v. Gnisci 2006, 280-290). 39 | Cf. Habté Weldemariam, La terra di Punt: miti, leggende e racconti dall’Eritrea (1996). 40 | Cf. Martha Nasibú, Memorie di una principessa etiope (2005). 41 | Cf. Ribka Sibhatu, Aulò: canto-poesia dell’Eritrea (2004); cf. Elisa Kidané, Parole clandestine (2008). 42 | Cf. das Filmschaffen von Haile Gerima, allen voran Adwa – An African ­V ictory (1999) und Teza (2009), darüber hinaus den Spielfilm Il leone del deserto (1981) des syrisch-amerikanischen Regisseurs Moustapha Akkad über den libyschen Widerstandskämpfer Omar al-Mukhtar, in Italien nahezu 30 Jahre bis 2009 (!) zensiert mit der Be­ gründung des ehemaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, der Film beleidige die Ehre der italienischen Armee; cf. weiters die Dokumentarfilme von Dagmawi Yimer Come un uomo sulla terra (2008, in Kooperation mit Andrea Segre) und Va’ Pensiero, storie ambulanti (2013). 43 | Cf. das ambitionierte Kunstprojekt von Annalisa Cannito In the belly of fascism and colonialism. For a collective process of re-elaboration of the Italian colonial and fascist past and for the evisceration of the contemporary oppressive systems of imperialist powers in Europe and the global world, siehe http://nelventredelfascismo.no blogs.org/ (04.05.2017).

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Primärtexte über die Gattungsmerkmale »metahistorischer Romane« und »historiographischer Metafiktionen«44, deren zentrales Interesse es ist, die bislang überwiegend monolithisch gestalteten Repräsentationen der Kolonialvergangenheit, die Konstruktivität und Textualität von Geschichtsdarstellung zu thematisieren, zumeist über metafiktionale Erzählverfahren.45 In Anlehnung 44 | Cf. hierzu ausführlich Ansgar Nünning 1995, bes. Kap. 3.3.4, »Selbstreflexive Geschichtsfiktion: Merkmale des metahistorischen Romans«. 45 | Und eben aus gattungsrelevanten oder genrespezifischen Gründen sind folgende literarische Texte nicht Teil meines Untersuchungskorpus: Shirin Ramzanali Fazel, Nuvole sull’equatore. Gli italiani dimenticati. Una storia (2010); Carla Macoggi, La nemesi della rossa (2012); Mauro Curradi, Cera e oro (2002); Stefano Rizzo, Mohammed (2003); Paola Pastacaldi, Khadija (2005); Fabrizio Coscia, Notte abissina (2006); Gianfranco Manfredi, Volto nascosto (2007-2008); Enrico Brizzi, L’inattesa piega degli eventi (2008). Einige dieser Texte reproduzieren selbst im 21. Jahrhundert noch koloniale Stereotype, wie auch Simone Brioni (2013, 111) kritisch anmerkt. Luciana C ­ apretti fiktionalisiert in ihrem Roman Ghibli (2004) die Ereignisse rund um die Ausweisung jener 20.000 in Libyen lebenden ItalienerInnen im Jahr 1970 nach der Machtergreifung von Muammar al-Ghaddafi. Es erscheint bemerkenswert, dass laut BASILI&LIMM bis dato kein italienischsprachiger post­ kolonialer Roman zur Kolonialzeit in Libyen vor­liegt, obwohl das Land von 1911 bis 1943 eine italienische Kolonie war. Kaha Mohamed Aden verfasste mit ihrem Text Fra-intendimenti (2010) eine Selbstbeschreibung in Form verschiedener Kurzerzählungen. Der Band berichtet mitunter von den Gewalteruptionen in Mogadishu während des Bürgerkrieges, blindwütigen Plünderungen und Tötungen. Diese für Gewalt und Tod verantwortlichen Personen leben z.T. unter uns und sind uns nicht unähnlich, so Mohamed Adens Kritik. Darüber hinaus bilden zeitgenössi­s che histo­r ische Kriminalromane im kolonialen Kontext m.E. ein eigenständiges, bislang nicht erforschtes Textkorpus: Davide Longo, Un mattino a Irgalem (2001); Luciano Marrocu, Debrà Libanòs (2002); Carlo Lucarelli, L’ottava vibrazione (2008). Ebenfalls wäre das Œuvre von Erminia Dell’Oro eigens zu untersuchen. Aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens mit postkolonialen SchriftstellerInnen und der hier gewählten synchronen Untersuchungsperspektive kann auch auf folgende Autoren und ihre in Ansätzen bereits kolonialismuskritischen Texte nicht näher eingegangen werden: Luciano Zuccoli, Kif tebbi. Romanzo africano (1923); Riccardo Bacchelli, Mal d’Africa. Romanzo storico (1934); Ennio Flaiano, Tempo di uccidere (1947); Mario Tobino, Il deserto della Libia (1952); Enrico Emanuelli, Settimana nera (1966) (cf. Ponzanesi 2003, http://www. sagarana.net/rivista/numero10/ibridazioni2.html  [04.05.2017]). ­­ A ngesichts der zeitlich beschränkten italienischen Okkupation Albaniens hält Andrea Gazzoni die Bezeichnung »postkolonial« für die Literatur von auf Italienisch schreibenden albanischen AutorInnen der Gegenwart nicht für angemessen (cf. Gazzoni 2013, 217). Maria Grazia Negro stellt fest, bei der italoalbanischen Literatur der Gegenwart handelt es sich nicht um postkoloniale Texte, umfasst der Erzählgegenstand doch nur vereinzelt die italienische Präsenz in ­ egro 2015, 50f.). In Anlehnung Albanien und vielmehr die kommunistische Diktatur (cf. N

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an diese gattungsspezifischen Überlegungen und an den von Ali Mumin Ahad (2007) imaginierten postkolonialen Dialog sind m.E. einzelne Romane von Garane Garane, Gabriella Ghermandi, Cristina Ubax Ali Farah, Igiaba Scego, Mario Domenichelli, Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola für die He­ rausbildung einer postkolonialen Erzählliteratur seit 2005 in Italien besonders prägend und bilden ein repräsentatives Untersuchungskorpus.46 Ein wiederkehrendes Narrativ in diesen Romanen ist die häufig von Familiengeschichten ausgehende Erzählung der kolonialen wie postkolonialen Geschichte als transnationale Verflechtungsgeschichte, welche die Verwobenheit der Welt und die Hybridität von ›Identitäten‹ in den Blick nimmt. Determiniert durch die Öffnung der Kolonialarchive, die Ausbildung einer postkolonialen Perspektive in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die Verbreitung der Postcolonial Studies, eine anhaltende Migration aus den früheren Kolonien sowie die Entstehung einer transkulturellen Literatur- und Filmproduktion konstituierte sich in den vergangenen Jahren in Italien ein ›Raum‹ für Erzählungen und Geschichten, die mit der offiziellen Kolonial­ erinnerung an diese Überlegungen werden zeitgenössische Romane mit Bezügen auf die italienische Expansion in Albanien im Rahmen dieser Studie nicht abgehandelt. 46 |  Der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah erreichte schon Ende der 1970er Jahre internationale Bekanntheit. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Chandigarh (Nordindien) kehrte er nach Somalia zurück, das er jedoch angesichts der politischen Verhältnisse und des Militärputsches von 1969 wieder verlassen musste. Nuruddin Farah verfasst seine Romane in englischer Sprache; die star­ke Durchdringung mit Elementen italienischer Kultur veranlasst Ali Mumin Ahad indessen, ihn als Vorläufer der postkolonialen Literatur Italiens zu bezeichnen: »Nella sua scrittura di romanziere, anche se scrive in inglese, traspare un forte elemento di contaminazione di cultura italiana (fosse anche per la descrizione degli ambienti di una Somalia già italiana) ciò che basterebbe a farne un precursore del fenomeno post-coloniale italiano.« (Mumin Ahad 2007, 94) Obwohl Nuruddin Farah auch nach über 30 Jahren im Exil seine Fiktionen stets in Somalia verortet – einzig die Reportage Yesterday, Tomorrow: Voices from the Somali Diaspora (2003, dt. Yesterday, tomorrow. Stimmen aus der somalischen Dias­­p ora) spürt der Diaspora somalischer Geflüchteter nach –, habe er wie kaum ein anderer Autor jegliche Regionalität überwunden und vertraue dem Peripheren, das sich durch Zusammenflüsse ständig formt, wodurch ihm das Exil ›Heimat‹ werden könne, so Ilija Trojanow (2010, 11) über seinen Schriftstellerkollegen. Die wichtigsten Romane Nuruddin Farahs, der immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, sind: From a Crooked Rib (1970, dt. Aus einer gekrümmten Rippe), A Naked Needle (1976, dt. Wie eine nackte Nadel), Sweet and Sour Milk (1979, dt. Bruder Zwilling), Sardines (1981, dt. Tochter Frau), Close Sesame (1983, dt. Vater Mensch), Maps (1986, dt. Maps), Gifts (1992, dt. Duniyas Gaben), Secrets (1998, dt. Geheimnisse), Links (2004, dt. Links), Knots (2007, dt. Netze), Cross­ bones (2011, dt. Gekapert) und Hiding in Plain Sight (2014).

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in Konflikt stehen. Der Roman Regina di fiori e di perle 47 (2007) von Gabriella Ghermandi stellt einen der Schlüsseltexte postkolonialer Erzählliteratur dar und wird als Auftakt der Textanalysen meines Untersuchungskorpus in Kapitel II näher beleuchtet. Gabriella Ghermandi wurde 1965 in Addis Abeba geboren und lebt seit 1979 in Bologna. Mit der Erzählung Il telefono del quartiere gewann sie 1999 den Eks  &  Tra-Literaturpreis. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift El-­Ghibli und als Sängerin und Performance-Künstlerin erfolgreich (cf. allen voran ihr Atse-Tewodros-Project). Regina di fiori e di perle rekonstruiert die Geschichte Äthiopiens seit den 1930er Jahren und inszeniert über Verfahren des mündlichen Erzählens die im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Erinnerungen an den Befreiungskrieg und den Widerstand gegen die italienische Kolonialbesatzung wie auch gegen die Militärdiktatur (1977-1991) unter Mengistu Hailè Mariam. Die Erzählung der gemeinsamen Kolonialvergangenheit als Verflechtungsgeschichte aktualisiert im Sinne einer »Poetik der Dekolonialisierung« das kollektive Gedächtnis und das Geschichtsbewusstsein der italienischen Gesellschaft, insofern der Roman vermittels fiktionaler Potenziale kulturelle Ordnungen und Raumwahrnehmung performativ zu verändern versucht. Auch der im dritten Kapitel fokussierte Roman Timira 48 (2012) von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola entfaltet durch die fiktionale Darstellung faktualer Ausgangspunkte im Kontext des Kolonialismus, des postkolonialen Somalia und des Umbruchs der 1990er Jahre in Italien eine Dynamik mit performativem Potenzial. Ästhetisch innovativ im Stil der New Italian Epic 49 verschränkt der Text Archivmaterial mit Fiktion aber auch individuelle mit kollektiver Erinnerung sowie die kolonialen und postkolonialen Verflechtungen zwischen Italien und Somalia mit einer Familiengeschichte über drei Generationen. Im Zentrum steht die Figur Isabella Marincola, die 1925 im damaligen Italienisch-Somalia geboren und von ihrem Vater, zu jener Zeit Militäroffizier in Mogadishu, nach Italien gebracht wurde. Aus der Perspektive einer Italienerin schwarzer Hautfarbe vermittelt sie über sieben Jahrzehnte Geschichte von den Anfängen des Faschismus bis zum Ende des Kalten Krieges sowie ihre Erfahrungen als Flüchtende vor dem Hintergrund des allgemeinen sozialen und politischen Wandels im Italien der 1990er Jahre. Wu Ming 2, »un cantastorie italiano dal nome cinese«, wie auf dem Klappentext zu lesen ist und hinter dem sich Giovanni Cattabriga verbirgt, publizierte bereits mehrere Romane, u.a. Guerra agli umani (2004), Il sentiero degli dei (2010) und Il sentiero luminoso (2016). Antar Mohamed Marincola, »un   

47 | Ghermandi, Gabriella: Regina di fiori e di perle. Roma, Donzelli 2007; cf. die Website der Schriftstellerin: http://www.gabriella-ghermandi.it/ (22.06.2017). 48 | Wu Ming 2/Mohamed, Antar: Timira. Romanzo meticcio. Torino, Einaudi 2012. 49 |  Cf. die Website des Bologneser SchriftstellerInnenkollektivs Wu Ming: http://www. wumingfoundation.com (06.05.2017).

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esule somalo con quattro lauree e due cittadinanze« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, Klappentext) lebt seit 1983 in Italien. Er arbeitet als Mediator, Übersetzer und Lehrer, Timira ist sein erster Roman. Familienkonstellationen spiegeln nicht nur in Timira historische, politische, soziale und globale Entwicklungen, auch der in Kapitel IV untersuchte Roman Il latte è buono50 (2005) von Garane Garane thematisiert Exil und Bewegung zwischen den postkolonialen Großstädten sowie in globalen Räumen und damit verbundenen Transformationsprozessen von ›Identität‹ – ein zentrales Narrativ aller Romane des Untersuchungskorpus. Die Figuren folgen dabei einer doppelten Bewegung, welche sie sowohl hinsichtlich ihrer Verortung im sozialen und kulturellen Kontext als auch sich selbst gegenüber dezentriert (cf. dislocation nach Stuart Hall). In Somalia als Angehöriger eines alten Adelsgeschlechts geboren, studierte Garane Garane in Florenz Politikwissenschaften und promovierte an der Universität Grenoble mit einer Dissertation über Dante, Petrarca und Boccaccio, zudem schloss er ein weiteres Studium in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft ab. In den USA absolvierte er ein Ph.D.-Studium an der University of Iowa, leitete über Jahre das Humanistische Seminar an der Allen University in South Carolina und lehrt gegenwärtig an der Fakultät für Fremdsprachen der University of South Carolina Lancaster. Sein Roman Il latte è buono reflektiert angesichts der zeitgeschichtlichen Tragödie des Bürgerkrieges in Somalia postkoloniale und postmoderne Identitätskonzepte, ästhetisch beispielsweise realisiert über transnationale Intertextualität mit Bezügen auf Dantes Inferno. Ähnlich transponiert Lugemalé 51 (2005) von Mario Domenichelli den mittelalterlichen Perceval in einen postkolonialen Kontext, um für einen empathischeren Umgang mit Leid zu plädieren, wie Kapitel V u.a. herausarbeitet. Mogadishu wird als Fluchtort aus den beengenden, normativen Strukturen westlicher Gesellschaften resemantisiert, wo die im universitären Milieu der italosomalischen cooperazione handelnden Figuren den Schatten ihrer Vergangenheit zu entfliehen suchen. In der Kombination postmoderner und postkolonialer Elemente liegt die ästhetische Originalität dieses Romans, der mittels psychologisch komplexer Figurenkonzeptionen existenzielle Fragen beleuchtet und zudem relevante Ereignisse der Weltpolitik und der italosomalischen (Post-)Kolonialgeschichte sowie den Umgang des offiziellen Italiens mit derselben aus einer globalisierungs- und diskurskritischen Perspektive thematisiert. Der Autor Mario Domenichelli lehrte englische und vergleichen50 | Garane, Garane: Il latte è buono. Isernia, Iannone 2005. 51 | Domenichelli, Mario: Lugemalé. Firenze, Polistampa 2005. Für detaillierte bio­ bibliografische Informationen über Mario Domenichelli und seine literatur­w issen­s chaft­ liche Forschungstätigkeit siehe die Website des European Network for Comparative Literary Studies: http://encls.net/?q=profile/mario-domenichelli (22.06.2017).

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de Literaturwissenschaften an den Universitäten Florenz, Urbino, Bologna, Cagliari, Mogadishu, Middlebury College und Pisa, publizierte umfangreich zur englischen Renaissance, zu Modernismus und Postmodernismus sowie zu kulturtheoretischen und -historischen Fragen. Neben zahlreichen Arbeiten als Übersetzer und Herausgeber veröffentlichte er 1991 unter dem Pseudonym Anthony Lostmann den Gedichtband Il Cantare della Decima Classe. Domenichelli ist Redaktionsmitglied der international angesehenen Zeitschrift Moderna. Erzählt der in Kapitel VI analysierte Roman Madre piccola52 (2007) von ­Cristina Ubax Ali Farah das notgedrungene oder freiwillige Unterwegssein im Kontext der somalischen Diaspora, repräsentiert der Text als zentrales Sujet das Gefühl der inneren Zerrissenheit, sich weder der somalischen noch der italienischen Gesellschaft jemals vollständig zugehörig zu fühlen. Anhand fiktionaler Figuren in Bewegung lotet Madre piccola die Effekte des im Poststrukturalismus theoretisierten allgemeinen Stabilitäts- und Sinnverlusts aus, ein häufiges Narrativ der Gegenwartsliteratur und in Kombination mit Selbstverlust und Melancholie insbesondere ihrer postkolonialen Ausprägung. Cris­tina Ubax Ali Farah wurde 1973 in Verona geboren. Im Alter von drei Jahren übersiedelte sie mit ihrer Mutter nach Somalia, in das Land ihres Vaters, wo sie im postkolonialen Mogadishu der 1970er und 1980er Jahre aufwuchs, bevor sie 1991 infolge des Bürgerkrieges zunächst in die ungarische Stadt Pécs flüchtete und schließlich nach Italien zurückkehrte. 2014 erschien ihr zweiter Roman Il comandante del fiume. Ali Farahs Literatur ist mehrfach als »scrittura femminile« (Ali Farah zit. in Comberiati 2011b, 55) bezeichnet worden, nicht nur wegen der zumeist weiblichen Protagonistinnen, sondern allen voran aufgrund der in den Texten dargestellten femininen Intimität und Maternität, Aspekte, die Beziehungsnetzen zwischen Frauen gerade in Diasporasituationen eine besondere Bedeutung zusprechen. Bereits mehrfach setzte sich die Schriftstellerin Igiaba Scego mit den Verflechtungen insbesondere der italosomalischen Kolonialgeschichte und der postkolonialen Gegenwart auseinander. So verfasste sie z.B. den autobiogra­ fischen Text La mia casa è dove sono (2010) sowie in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Rino Bianchi eine literarische Topografie kolonial aufgeladener Orte in Rom, Roma negata. Percorsi postcoloniali nella città (2014), und die Romane Oltre Babilonia (2008) und Adua (2015). Igiaba Scegos Familie flüchtete nach der Machtergreifung Siad Barres nach Italien, wo die Autorin 1974 in Rom geboren wurde. Nach einem Literaturstudium an der Universität »La Sapienza« promovierte sie an der Università degli Studi Roma Tre. Sie schreibt u.a. für L’Unita, Interazionale und la Repubblica. Schon 2004 publizierte sie ihren Erstlingsroman Rhoda. Der in dieser Studie abschließend in 52 | Ali Farah, Cristina: Madre piccola. Milano, Frassinelli 2007.

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Kapitel VII untersuchte Roman Oltre Babilonia53 kombiniert metafiktionale Elemente wie die Suche nach geeigneten Vertextungsverfahren mit der Erzählung einer global verstreuten postkolonialen Familienkonstellation. Spiegelt die polyphone Struktur des Romans auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Somalia, Italien und Argentinien, werden primär dennoch nicht die Ereignisse in ihrer historischen Dimension thematisiert, sondern deren traumatische Aus­w irkungen auf die Individuen und ihre Körper. Die narrativ gestaltete Identitätssuche und Traumabewältigung der Figuren reflektiert Körper und Sexualität, Sprache und Subjektivität und weist darin Parallelen zu Madre ­piccola auf. »These postcolonial textures have hardly entered the field of Italian literature and literary criticism and, broadly speaking, of Italian studies in Italy«, resümiert Roberto Derobertis (2011, 265) mit Blick auf die Romane von Igiaba Scego und Cristina Ubax Ali Farah. Stellt die literatur- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit postkolonialer Literatur in Italien auch ein re­zentes Phänomen dar – der erste themenspezifische Sammelband wurde 2004 von Laura Vitali und Tiziana Morosetti herausgegeben54 – kann etwa ab 2005 doch ein gewisses Forschungsinteresse, das sich in vereinzelten Publikationen widerspiegelt, beobachtet werden. Auch Dagmar Reichardt betont den Erfolg der italienischsprachigen transkulturellen Literatur, die »nach zwei Jahrzehn­ten moderater Aufmerksamkeit seitens der Kritiker und Rezensenten nun doch produktiven Eingang in die akademische Rezeption findet« (Reichardt 2013, 130). Allen voran ist die Pionierarbeit von Amando Gnisci hervorzuheben, der seit den 1990er Jahren die italianistische Forschung zur transkulturellen Gegenwartsliteratur mit seinen kritischen Schriften maßgeblich prägt.55 Wiederholt veröffentlichte Gnisci seine Forschungen in Z ­ usammenarbeit mit F ­ ranca Sinopoli und Nora Moll, die 53 |  Scego, Igiaba: Oltre Babilonia. Roma, Donzelli 2008. Die Entscheidung, warum ich Oltre Babilonia und nicht Adua für das Untersuchungskorpus wählte, begründet sich in der ästhetischen Komplexität des erstgenannten Romans. 54 | Vitali, Laura/Morosetti, Tiziana (Hg.), La Letteratura Postcoloniale Italiana. Dalla letteratura d’immigrazione all’incontro con l’altro (2004). 55 |  Armando Gnisci setzte schon 1997 mit der Einrichtung der Datenbank BASILI (­B anca Dati Scrittori Immigrati in Lingua Italiana) und der Gründung der Zeitschrift Kúmá. Creolizzare l’Europa wichtige Schritte für die Etablierung dieses Forschungsgebietes; kürzlich wurde die Datenbank zu BASILI&LIMM (Banca dati degli Scrittori Immigrati in Lingua Italiana e della Letteratura Italiana della Migrazione Mondiale) erweitert und aktualisiert, cf. http://basili-limm.el-ghibli.it/ (06.05.2017). Folgende Publikationen von Armando Gnisci gelten als richtungsweisend: Creolizzare l’Europa. Letteratura e migrazione (2003); Mondializzare la mente. Via della decolonizzazione europea n. 3 (2006); Decolonizzare l’Italia. Via della Decolonizzazione europea n. 5 (2007); L’educazione del te (2009); Via della Transculturazione e della Gentilezza (2013); ferner gab

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inzwischen ebenfalls regelmäßig im Bereich der transkulturellen und postkolonialen Literatur publizieren.56 So bündelt etwa der 2013 von Franca Sinopoli herausgegebene Sammelband Postcoloniale italiano. Tra letteratura e storia aktuelle literaturwissenschaftliche Forschungsperspektiven zum Thema. Als weitere zeitnahe Publikationen zum italienischen Postkolonialismus erschienen 2012 der von Cristina Lombardi-­Diop und Caterina Romeo edierte und betont inter­ disziplinäre Band Postcolonial I­ taly. Challenging National Homogeneity sowie 2015 der von Martine Bovo Romoeuf und Franco Manai herausgebrachte Sammelband Memoria storica e postcolonialismo: Il caso italiano. Die bislang umfangreichste Veröffentlichung zu kolonialen und postkolonialen Aspekten der Gegenwartsliteratur haben S ­ ilvia Contarini, Giuliana Pias und Lucia Quaquarelli als Themennummer der Zeitschrift Narrativa herausgegeben (2011/2012, Coloniale e Postcoloniale nella letteratura italiana degli anni 2000); der Band enthält mehrere Einzelstudien (z.B. zu Igiaba Scegos Oltre Babilionia und Kaha Mohamed Adens Fra-intendimenti). Darüber hinaus ist besonders die Forschung von Sandra Pon­ za­nesi zu würdigen, deren Fokus auf postkolonialer Kritik aus komparatistischer und feministischer Perspektive mit spezieller Berücksichtigung ›kleinerer‹ Kolonialmächte liegt.57 Schließlich bereichert die rege Vortrags- und Publikationstätigkeit von Daniele Comberiati die wissenschaftliche Erforschung der transkulturellen und insbesondere der postkolonialen Literatur Italiens.58 Die bislang umfassendste Untersuchung zur italienischsprachigen postkolonialen Literatur ist 2015 erschienen von Maria Grazia Negro: Il mondo, il grido, la p­ arola. La questione linguistica nella letteratura postcoloniale. Die Monografie bie­tet einen äußerst präzisen Überblick über die Entstehungsgeschichte der von ihr mit dem Kürzel Gnisci eine programmatische Anthologie heraus: Nuovo planetario italiano. Geografia e antologia della letteratura della migrazione in Italia e in Europa (2006). 56 | Cf. exemplarisch Armando Gnisci/Franca Sinopoli/Nora Moll, La letteratura del mondo nel XXI secolo (2010); darüber hinaus Nora Moll, L’infinito sotto casa. Letteratura e transculturalità nell’Italia contemporanea (2015). 57 | Cf. folgende Publikationen in Hinblick auf den italienischen Kontext: Sandra Ponzanesi, Paradoxes of postcolonial culture. Contemporary women writers of the Indian and Afro-Italian Diaspora (2004), sowie »Il multiculturalismo italiano.« (2003), http:// www.sagarana.it/rivista/numero10/ibridazioni2.html (06.05.2017); cf. für den internationalen Kontext die Website der Wissenschaftlerin: http://www.uu.nl/hum/staff/SPon zanesi/0 (06.05.2017). 58 | Cf. die themenrelevanten Monografien Daniele Comberiatis: Scrivere nella ­l ingua dell’altro: la letteratura degli immigrati in Italia (1989-2007) (2010); »Affrica«. Il mito coloniale italiano attraverso i libri di viaggio di esploratori e missionari dall’Unità alla sconfitta di Adua (2013); als Herausgeber: La quarta sponda. Scrittrici in viaggio dall’ Africa coloniale all’Italia di oggi (2011); für weitere Publikationen siehe: http://www. univ-montp3.fr/llacs/membres/daniele-comberiati/ (06.05.2017).

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PLIL bezeichneten letteratura postcoloniale in lingua italiana; unter den Aspekten Mehrsprachigkeit, Oralität und Verhältnis zur italienischen Sprache analysiert sie verschiedene literarische Texte von Autor­Innen aus Eritrea, Somalia und Äthiopien, die auf Italienisch schreiben (cf. Negro 2015, 8f.). Ebenfalls 2015 publizierte Mario Rossi seine Studie Il nome proprio delle cose. Oggetti narranti in opere di ­scrittrici postcoloniali italiane. Im Unterschied zu den Monografien von Maria Grazia Negro und Mario Rossi fokussiert meine Arbeit, wie zuvor dargelegt, eine bewusst exemplarische Untersuchung postkolonialer Romane metahistorischer ­Gattungsausprägung; dabei arbeite ich über detaillierte Einzelanalysen sowohl thematische als auch formale Gestaltungsmerkmale heraus und kombiniere in ­metho­­di­scher Hinsicht postkoloniale Ansätze mit raumtheoretischen Perspektiven. In der deutschsprachigen Romanistik59 widmet sich das Themenheft Italien in A ­ frika – ­Afrika in Italien der Zeitschrift Zibaldone (52/2011) geschichtlichen, soziologischen und kulturellen Gesichtspunkten der Beziehung zwischen Italien und dem afrikanischen Kontinent. Einige Beiträge skizzieren den ­Entstehungskontext der transkulturellen und postkolonialen Gegenwartsliteratur, so enthält die Ausgabe einige Einzelstudien etwa zur Poetik von Cristina Ubax Ali Farah. Der bislang einzige deutsch- und italienischsprachige Sammelband zur transkulturellen italophonen Literatur wurde 2013 von Martha Kleinhans und Richard Schwaderer herausgegeben, die damit zu einer Standortbestimmung dieser Literatur beitragen und aktuelle Positionen in der Forschung vorstellen möchten, wie die HerausgeberInnen in der Einführung betonen.60 59 | Cf. den Artikel von Elisabeth Arend mit Fokus auf den Maghreb: »Eine neue italienische Literatur? Die italophone Literatur« (2009); cf. die Monografie zu Aspekten der Mehrsprachigkeit in der transkulturellen Gegenwartsliteratur Italiens von Christiane Kiemle: Ways out of Babel. Linguistic and Cultural Diversity in Contemporary Literature in Italy. Exploring Multilingualism in the Works of Immirgrated Writers (2011); cf. zudem den Beitrag von Maria Kirchmair: »›La nostra casa la portiamo con noi‹ – Zur Literatur der Migration und des Postkolonialismus im gegenwärtigen Italien« (2012). 60 | Kleinhans/Schwaderer begründen die Bezeichnung »transkulturelle italophone Literatur« in erster Linie über die Sprache: »Wir verstehen unter dem von uns gewählten Begriff eine Literatur von Autoren, deren Vorfahren Italienisch nicht oder nur partiell als Muttersprache hatten, die ihre Werke nun aber in italienischer Sprache verfassen. Sie müssen nicht unbedingt persönlich Migration im strengen Wortsinn erlebt haben, sind aber meist familiär bedingt geprägt von solchen Erfahrungen. Diese ›transkulturellen‹ Autoren zeigen sich nicht nur von der italienischen, sondern auch von einer oder mehreren anderen Kulturen geprägt. Es kommt also zu einer Vermischung und Verflechtung der Kulturen, nicht zu einer Konfrontation. […] Die zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die der vorliegende Band behandelt, wählten die Sprache Dantes, obgleich sie nicht (oder nicht ausschließlich) ihre Muttersprache war, um derartige Erfahrungen zu schildern und ästhetisch zu gestalten.« (Kleinhans/Schwaderer 2013, 13)

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Ausgehend von klassifikatorischen und komparatistischen Überlegungen wie auch thematischen Aspekten bis hin zu poetologischen und sprachlich-sti­ listischen Fragen nähern sich die Beiträge diesem aktuellen Forschungsfeld an; ein thematischer Schwerpunkt befasst sich mit der dokumentarisch-faktualen und narrativ-fiktionalen Verarbeitung der kolonialen Vergangenheit Italiens.61 Wie die skizzierte Forschungslage zeigt, zielt die postkoloniale Gegenwartsliteratur auf einen ästhetischen Diskurs, der vermittels einer transkulturellen und transnationalen Auseinandersetzung mit der (post-)kolonialen Vergangen­ heit und ihrer multiplen Verflechtungen zu einer Erneuerung des italienischen Literaturkanons beiträgt. Da in der deutschsprachigen italianis­ tischen Forschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur wenige profunde Untersuchungen zur fiktionalen Darstellung kolonialer und postkolonialer Erfahrungen in der italienischen Gegenwartsliteratur vorliegen, scheint die Notwendigkeit von einschlägigen Monografien gegeben. Meine Studie möchte zur Erforschung dieses Themas beitragen, wobei methodisch über die Ansätze postkolonialer Theorie hinaus raumtheoretische Aspekte in die Romananalysen einfließen, wie dies die dominierenden Narrative und Erzählstrategien des zuvor präsentierten Textkorpus nahelegen. Die sich daraus ergebenden, in den Romananalysen 61 | Die italienische Historiografie beschäftigt sich seit Mitte der 1980er Jahre mit einer kritischen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Der Journalist, Historiker und Gelehrte Angelo del Boca dokumentierte erstmalig die Kolonial­g eschichte in Äthiopien, Eritrea und Somalia mit umfassenden Studien, cf. sein vierbändiges Werk Gli Italiani in Africa Orientale (1976-84). Del Bocas kritische Rekonstruktion des Kolonialismus brach mit der etablierten Geschichts­w issenschaft und ihrer verharmlosenden Interpretation der kolonialen Unternehmungen Italiens. Infolge seiner historiografischen Konsequenz wurde del Boca in den 1980er Jahren Ziel einer Diffamierungskampagne der konservativen und nationalistischen Presse sowie der associazioni dei reduci, auch erfolgte lange Zeit keine offizielle Anerkennung seiner fundamentalen Arbeiten, wie Nicola Labanca wiederholt kritisiert (cf. Labanca 2004, 170f.). Labanca lehrt an der Universität Siena und positionierte sich inzwischen als führender Historiker der italienischen Kolonialgeschichte, bahnbrechend seine Monografie Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana (2002). Alessandro Triulzi (Università di Napoli L’Orientale), Tekeste Negash (Università di Bologna), Mario Isnenghi (Università Ca’ Foscari Venezia), Ali Mumin Ahad (La Trobe University Melbourne) und der inzwischen verstorbene Giampaolo Calchi Novati tragen mit ihren Publikationen ebenfalls zu einer kritischen Reinterpretation der italienischen Kolonialvergangenheit bei und forcieren dadurch eine breitere Rezeption innerhalb der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft. Im deutschsprachigen ›Raum‹ repräsentiert der von Immacolata Amodeo und Claudia Ortner-Buchberger herausgegebene Sammelband Afrika in Italien – Italien in Afrika: italo-afrikanische Beziehungen (2004) eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Thematik aus geschichts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive.

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jeweils unterschiedlich akzentuierten zentralen Forschungsfragen lassen sich wie folgt zusammenfassen: • A usgehend von der sowohl repräsentierenden als auch performativen Dimension literarischer Raumdarstellungen stellt sich die Frage, wie die kulturelle und soziale Produktion und Veränderbarkeit von ›Raum‹ in den Texten inszeniert wird. Wie werden Potenziale für eine veränderte Raumwahrnehmung in den postkolonialen Romanen erzählerisch entfaltet? • Darüber hinaus gehe ich von der Annahme aus, dass im Kontext von Kolonisierungs-, Dekolonialisierungs- sowie Globalisierungsprozessen der Re­ lation von ›Raum‹ und Bewegung eine besondere Bedeutung zukommt, weshalb deren ästhetische Gestaltung ins Blickfeld rückt. Wie gestaltet sich zudem die Selektionsstruktur der erzählten historischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und Räume und wie werden diese in den untersuchten Romanen fiktional konfiguriert? Wie werden reale und imaginäre Orte und Räume erzählerisch repräsentiert und semantisiert? • Ü berdies versuche ich die Hypothese nachzuweisen, dass die durch Bewegung in globalen Räumen respektive zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten ausgelösten Transformationsprozesse von ›Identität‹ in postkolonialen Texten besonders klar vor Augen geführt werden. In welchem Zusammenhang steht Bewegung mit Selbstbestimmung und individueller Suche nach ›Identität‹? Mit welchen Erzählverfahren und Figurenkonzeptionen arbeiten die Texte für die Narrativierung dieser Prozesse?

I.4 ›R aum ‹ und B e wegung Für die Textanalysen greife ich auf einen von Hanne Birk und Birgit Neumann (2002) vorgeschlagenen relationierenden Ansatz bzw. hybriden Entwurf einer postkolonialen Erzähltheorie zurück, der den primär formal orientierten Ansatz strukturalistischer Narratologie mit den überwiegend thematisch und kontextuell ausgerichteten postkolonialen Theorieansätzen verknüpft und dadurch interdisziplinär erweitert, denn erst »die Berücksichtigung formaler und inhaltlicher Aspekte literarischer Texte erlaubt es, die vielfältigen Funktionen der Repräsentation des Fremden und des Eigenen aufzuzeigen und sie schließlich kulturhistorisch zu kontextualisieren«, so Birk und Neumann (2002, 119). Methodisch fokussiere ich über die gängigen Ansätze postkolonialer Theorie hinaus eine raumtheoretische Analyse, weshalb im Folgenden die für den in meiner Untersuchung angewandten Raumbegriff relevanten Konzepte skizziert werden. Die symbolische Repräsentation von und Auseinandersetzung mit Räumen fungiert in der postkolonialen Literatur als ästhetisches Darstellungsmittel, um Fragen nach kulturellen Hierarchien, Normen und politischer Macht

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sowie Selbst- und Fremdbilder zu verhandeln; literarische Raumrepräsentationen sind also eng mit kulturellen Raumordnungen verwoben. Raumdarstellungen in der Literatur gestalten erlebte Räume, in denen örtliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungen zusammenwirken (cf. Hallet/Neumann 2009, 11; Neumann 2009, 135). Literatur repräsentiert in ihrer Eigenschaft als Kunstwerk die unbegrenzte äußere Welt im begrenzten ›Raum‹ eines Textes, so der Semiotiker Jurij M. Lotman, der Texte in Relation zur Kultur beschreibt. Den symbolischen ›Raum‹ der Literatur begreift er als Produkt kulturell bedingter Zeichenverwendungen. Mit dem Begriff des semantischen ›Raumes‹ bzw. Feldes illustriert Lotman, dass räumliche Relationen häufig der Darstellung von Relationen »mit keineswegs räumlichem Inhalt« (Lotman 2006, 530) wie etwa Regeln oder Normen dienen. Die konstitutiven Elemente von Erzählungen wie beispielsweise Figuren oder Handlungsorte werden semantisch determiniert über ihre Oppositionsbeziehung zu anderen Elementen. Die Sprache der räumlichen Relationen erweist sich nach Lotman als eines der grundlegenden Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit (cf. Gröne/Kulessa/Reiser 2007, 147f.; Hallet/Neumann 2009, 17). Ausgehend von Lotmans literarischem Textverständnis als Raum- und Kulturmodell entwickelt Bernhard Teuber jenen Gedankengang des New Historicism weiter, demzufolge neben der Geschichtlichkeit eines Textes immer auch die Textualität von Geschichte zu beachten ist (cf. Montrose 2001, 67f.; Burtscher-Bechter 2004, 271ff.). Gehen die New Historicists von Geschichte als Produkt oder Effekt einer Textgestalt aus, gibt es, so argumentiert Teuber mit Lotman, neben der Räumlichkeit des Textes entsprechend eine Textualität von ›Raum‹; eine bestimmte Raumordnung ist demnach »Produkt oder Effekt eines Sprachspiels«, so Teuber (2001, 177). Literarisch erzählte Räume sind auf reale Orte bezogen und strukturiert durch kulturell vorherrschende Raummodelle. Insofern Raumordnungen sich vorwiegend im kulturellen Imaginären verorten, tragen auch fiktionale Texte zu deren Konstruktion maß­ geblich bei. Wie Neumann erläutert, hat Literatur im Spektrum der kulturellen Raumpraktiken einen besonderen Status inne, als sie potenziell auf ihre eigene Konstruiertheit, d.h. auf das »Wie« der Raumproduktion verweisen kann: Sie inszeniert mit ihren ästhetischen Verfahren nicht nur Schau- und Handlungsplätze, sondern kann diese Prozesse auch reflexiv widerspiegeln und produktiv in kulturelle Raumpraktiken ­eingreifen (cf. Neumann 2009, 116f.). Somit vermitteln literarisch erzählte Räume als Repräsentationen Zugang zu kulturell hegemonialen Wissensordnungen und kollektiven Imaginationen über Eigenes und Fremdes; als Konzeptionen kultureller Ordnungen hingegen bestätigen sie reale Machtverhältnisse oder unterlaufen diese. Literarische Raumdarstellungen sind also nicht nur kulturell produziert, sondern auch kulturell produktiv. Gayatri Chakravorty Spivak zufolge kann Literatur somit einen ›rhetorischen Raum‹ auch für subalterne Gruppen schaffen, der es

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ermöglicht, Geschichten des Widerständigen zu erzählen (cf. Spivak 1988 zit. nach Castro Varela/Dhawan 2005, 78).62 Das Verhältnis von ›Raum‹ und Repräsentation, die symbolische Dimension oder kulturelle Gemachtheit ›des Raumes‹ steht im Zentrum des so genannten Spatial Turn, dessen Ansätze in den Untersuchungen der Romane meines Textkorpus reflektiert werden. Die Neukonzeptualisierung des Raumbegriffs im Zuge des Spatial Turn basiert allen voran auf den raumbezogenen Arbeiten Michel Foucaults63 und Henri Lefebvres64, die mittlerweile als Vordenker 62 | Gayatri Spivak wirft in ihren kritischen Schriften immer wieder die Frage auf, »wie Subalterne repräsentiert werden können, ohne vereinnahmt oder instrumentalisiert zu werden – ohne sie also westlichen Wissensregimes unterzuordnen« (Castro Varela/Dhawan 2005, 80). 63 | Mit dem Begriff der »Heterotopie« formulierte Michel Foucault eine Kategorie, »welche die verräumlichte Struktur von (epistemologischen) Ordnungen beschreibt, denen eine strukturelle Spaltung inhärent ist« (Hallet/Neumann 2009, 13, in Anlehnung an Foucault 1984). Heterotopien sind reale Orte, die zugleich innerhalb und außerhalb von Gesellschaften verortet sind und die Diskursordnungen vorstrukturieren. Nach Foucault formiert und stabilisiert sich eine soziale Wissensordnung topologisch durch die Aus­ grenzung eines über die Zeit veränderlichen ›Anderen‹, also durch ein ›konstitutives Draußen‹, das zu einem bestimmten historischen Moment in einer Kultur nicht mit den bestehenden Diskursen erfassbar ist und daher außerhalb der Diskursordnung angesiedelt wird (cf. Foucault 2006, 320ff.; Hallet/Neumann 2009, 13, in Anlehnung an Foucault 1984). 64 | In Henri Lefebvres Studie Die Produktion des Raums (1974) verschiebt sich das Erkenntnisinteresse ebenfalls von den Dingen ›im Raum‹ zur Produktion ›des Raumes‹ selbst. Sowohl die ›im Raum‹ verorteten Dinge als auch das Reden ›über den Raum‹ verweisen auf diesen Produktionsprozess, der u.a. »Bezeichnungsprozesse [processus signifiants]« (Lefebvre 2006, 334) enthält. Es geht Lefebvre somit nicht um einen näher zu bestimmenden ›Raum‹, sondern um den ›Raum‹ als Globalität, der durch die und in der theoretischen Erkenntnis erst hervorgebracht wird. Die Theorie reproduziert in einer Verkettung von Begriffen den Hervorbringungsprozess, sozusagen von innen heraus und nicht nur von außen (d.h. beschreibend), mit ständigen Übergängen vom Vergangenen zum Aktuellen und umgekehrt. Die Geschichte und ihre Nachwirkungen, das Orte und Plätze verändernde historische Geschehen, schreiben sich diachron in den Raum ein. Die Spuren der Vergangenheit sind im ›Raum‹ der Gegenwart sichtbar. Die Produktion und das Produkt stellen sich Lefebvre zufolge als zwei untrennbare Seiten dar (cf. L­ efebvre 2006, 334). Lefebvre begreift ›Raum‹ also nicht als ›Behälter‹ oder neutralen Rahmen, innerhalb dessen die historischen Ereignisse ablaufen, sondern er konzipiert ›Raum‹ sowohl als »Teil der Produktionsmittel als auch als Produkt einer sozialen Praxis, die aufs Engste mit kulturellen Machtverhältnissen verwoben ist« (Hallet/ Neumann 2009, 14).

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der räumlichen Wende gelten (cf. Soja 1996; Foucault 2006; L ­ efebvre 2006; Dünne/Günzel 2006; Döring/Thielmann 2009; Hallet/Neumann 2009). In den 1990er Jahren analysierte der US-amerikanische Geograf Edward W. Soja in seiner Studie Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places (1996) in Anlehnung an Foucault und Lefebvre, die bei der sozialen Konstitution von ›Raum‹ operierenden Mechanismen und prägt seitdem entscheidend den raumtheoretischen Diskurs. Soja sieht im Spatial Turn der Kultur- und Sozialwissenschaften eine Entwicklung, die rückblickend als eine der wichtigsten intellektuellen Erneuerungen des späten 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann, haben WissenschaftlerInnen doch damit begonnen, ›den Raum‹ und die räumlichen Aspekte des Lebens mit dem gleichen kritischen Verständnis zu erforschen, wie sie es traditionell mit der Zeit und der Geschichte, d.h. der historischen Dimension der menschlichen Existenz sowie mit den sozialen Beziehungen und der Gesellschaft, also der sozialen Dimension des Daseins, praktizierten. Die räumliche Dimension unseres Lebens war Soja zufolge noch nie von einer größeren praktischen und politischen Relevanz als heute: Ob wir versuchen, das zunehmende Eindringen der elektronischen Medien in unseren Alltag zu bewältigen oder politisch gegen Armut, Rassismus, sexuelle Diskriminierung und Umweltzerstörung aktiv zu werden oder die zahlreichen geopolitischen Konflikte rund um den Globus zu verstehen – wir werden uns immer mehr bewusst, dass unsere Existenz, immer schon, an sich räumlich ist, und die uns umgebende Räumlichkeit von uns als aktiv Beteiligte sozial konstruiert wird. Macht – und die Politik der kulturellen Differenzmarkierung, welche unter ihrem Einfluss entsteht – wird in der (sozialen) Produktion des (sozialen) ›Raums‹ kontextualisiert und konkret. Hegemoniale Macht produziert und reproduziert ›Differenz‹ als Schlüsselstrategie, um Formen sozialer und räumlicher Spaltung zu schaffen und aufrechtzuerhalten, welche ihrer Machterhaltung und Autorität zuträglich sind: ›Wir‹ und ›sie‹ werden dichotomisch verräumlicht und in abgegrenzten Gebieten wie Townships, Barrios, ›Lagern‹, Reservaten, Kolonien, Festungen, Metropolen, Zitadellen und anderen durch die ›Hier-Dort-Polarität‹ determinierten Orten lokalisiert. In diesem Sinne universalisiert und kontrolliert hegemoniale Macht ›Differenz‹ in realen und imaginierten Orten und Räumen. Nach Foucault ist die Relation zwischen ›Raum‹, Wissen, Macht und Politik sowohl repressiv als auch voller Potenzial, da sie nicht nur Machtausübung, sondern immer auch die Möglichkeit für gesellschaftlichen Widerstand und emanzipatorische Veränderung bedeutet. Die Auflösung von ›Diversität‹ innerhalb binärer Strukturen und die Rekonstitution von ›Differenz‹ als Basis für eine Politik der kulturellen Vielfalt und strategischen Allianz zwischen all jenen, die von der sozialen Konstruktion des ›Anderen‹ marginalisiert und unterdrückt werden, sind Schlüsselprozesse für die Ausbildung einer ›postmodernen‹ – und auch ›postkolonialen‹ – Subjektivität (cf. Soja 1996).

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Die wissenschaftliche Geografie in Europa schreibt sich seit Alexander von Humboldt (1769-1859) eine besondere Kompetenz für ›das Räumliche‹ zu und versteht sich als empirische Raumwissenschaft, weshalb es m.E. in einer Raumaspekte fokussierenden kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchung naheliegt, das zeitgenössische geografische Raumverständnis, wenn auch »in missverständlicher Kürze« (Hard 2009, 267), in den Blick zu nehmen. Denn Benno Werlen hat mit seiner handlungszentrierten Sozialgeografie eine Neuformulierung der Geografie angeboten. Werlens Räume des alltäglichen »geography making« konstruieren sich aus der Verbindung von Subjekt und Handeln (cf. Hard 2009, 291). Seiner Ansicht nach besteht das Grundproblem der postmodernen sozial- und kulturwissenschaftlichen ›Neuentdeckungen des Raums‹ (der so genannte Spatial Turn) darin, dass deren Raumverständnis auf der Vorstellung basiert, es gebe einen Raum an sich, auf dem Sozial- und Kulturtheorien aufgebaut werden können, ohne zu reflektieren, »dass Raum an sich selbst ein theoretisches Konstrukt ist« (Werlen 2009, 370). Dadurch werde »eine physikalische Theorie des Raumes mit der Wirklichkeit« verwechselt (cf. Schmid 2005 zit. in Werlen 2009, 370). Wie Werlen erläutert, kann davon ausgegangen werden, dass räumliche Vorstellungen aus der Erfahrung der eigenen Körperlichkeit entstehen und »damit auf die körpergebundene Welterfahrung verweisen, auf die Relationierung des eigenen Körpers mit anderen körperlichen Dingen« (Werlen 2009, 379). Demzufolge liegt die Erfahrung der Räumlichkeit der Welt in der eigenen Körperlichkeit begründet, wobei der eigene Körper als Koordinatennullpunkt der Welterfahrung fungiert. Was im geografischen Sinne mit »Raum« bezeichnet wird, verweist laut Werlen somit auf die »eigene Körperlichkeit im Kontext der ausgedehnten physisch-materiellen Gegebenheiten« (Werlen 2009, 380). Aus dieser Sichtweise folgt, »dass Raum kein Gegenstand sein kann, über keine materielle Existenz verfügt und somit nicht selbst das Materielle ist« (ibid.).65 ›Raum‹ 65 |  Werlen zufolge ist daher jede Rede vom materiellen ›Raum‹ nichts anderes als Ausdruck dessen, was er als »cartesianischen Fehlschluss« (Werlen 2009, 380) bezeichnet: Im Rahmen des »Leib-Seele-Dualismus« unterscheidet René Descartes bekanntlich zwischen der Welt »des Ausgedehnten (res extensa)« und »des Geistigen (res cogitans)«. Diese »Konzeptualisierung von Raum bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen ausgedehnten Körpern und geistigen Gegebenheiten« (ibid.). Wie Werlen erläutert, ist Des­ cartes zufolge »jede materielle Substanz durch ihre Ausdehnung zu charakterisieren […] und die Ausdehnung der Substanz [ist] dieselbe […] wie jene des Raumes, [weshalb] der Raum auch eine materielle Substanz [sei]« (ibid.). Wie problematisch der Schluss von der Ausgedehntheit der Körper auf die Körperlichkeit von ›Raum‹ ist, demonstriert die Fachgeschichte der Geografie (cf. hierzu den aufschlussreichen Beitrag von Gerhard Hard, »Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet« in dem von Döring/Thielmann herausgegebenen Sammelband Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur-

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als begriffliches Konzept thematisiert »die Relationierung der Körper der Handelnden mit anderen körperlichen Gegebenheiten« (Werlen 2009, 382). Die Konzeptualisierung von ›Raum‹ als begriffliches Konzept ermöglicht sowohl die Überwindung der problematischen Implikationen eines kausal wirksamen Containerraums als auch jener Sichtweise, welche die Bedeutung räumlicher Aspekte für menschliches Handeln bisher negierte. ›Raum‹ wird nicht mehr als materielles Behältnis verstanden, sondern als Begriff, der körperbezogene Relationierungen thematisierbar macht. Im Zentrum dieses geografischen Denkmodells steht nicht mehr der (Alltags-)Raum, sondern das agierende Subjekt, der soziale Akteur (cf. Werlen 2009, 382f.). Es geht nicht mehr um die Frage, welche Dinge und Personen aus welchen Gründen auf bestimmte Weise im Behältnis ›Raum‹ angeordnet sind. Die Frage lautet vielmehr, »wie die Subjekte die Welt auf sich beziehen und welche Bedeutung in dieser Bezugnahme Raum- und Zeitbegriffe spielen« (Werlen 2009, 283). Werlen versteht unter »Raum« also »ein begriffliches Mittel der Repräsentation von etwas, das tatsächlich eine materielle Existenz hat, aber das Materielle ist nicht der Raum, sondern eine Objektkonstellation, zu der auch der eigene Körper zählen kann« (ibid.). Somit konstituiert sich ›Raum‹ im Handeln bzw. als Effekt von Handlungen und über Handlungen werden Dingen Bedeutungen zugewiesen. Deutlicher könnte die Nähe zu Michel de Certeaus raumtheoretischen Überlegungen kaum sein, konzeptualisiert dieser ›den Raum‹ doch als ein Geflecht von beweglichen Elementen, als Resultat von (sozialen, kulturellen) Aktivitäten oder Interaktionen. Erzählungen beschreiben und jede Beschreibung repräsentiert zugleich einen »kulturell schöpferische[n] Akt« (Lotman 1976 zit. in de Certeau 1988, 228); diese performative Dimension von Erzählungen schafft und verändert Raumwahrnehmung, bestätigt, unterläuft oder verschiebt Grenzen und legt zudem die transkulturelle Vielschichtigkeit der (post-)kolonialen Kulturkontakte frei (cf. de Certeau 1988, 218, 228). Michel de Certeau lotet u.a. die Topologie der Grenze in Erzählungen aus: »[Narrativierte] Grenzziehungen sind transportierbare Grenzen und Transporte von Grenzen.« (de Certeau 1988, 236) In den Romananalysen werden wiederholt Figurationen der Grenze fokussiert, um herauszuarbeiten, inwiefern Erzählungen vermittels fiktionaler Potenziale diskursive Grenzen verschieben und Raumwahrnehmung performativ verändern können, etwa durch die Subversion dominanter Geschichtsbilder. Die Postcolonial Studies akzentuieren ebenfalls die Bedeutung von Räumen für die Subjektkonstitution; sie zentrieren die räumliche Dimension sozialer und Sozialwissenschaften [2009, 263-315]). Das Problem besteht darin, »dass Raum nicht als Mittel der Beschreibung von Konstellationen des Nebeneinanders koexistenter Körper, sondern als materieller Gegenstand betrachtet wird, der mehr ist als die Summe der einzelnen Körper, die sich angeblich in ihm befinden« (Werlen 2009, 380).

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Ein- und Ausschließungsprozesse und demonstrieren, »wie über räumliche Strukturen gesellschaftliche Hierarchien produziert und legitimiert werden« (Hallet/Neumann 2009, 26). Transnationale Mobilität, Globalisierung und heterogene Bevölkerungsstrukturen beförderten einen Raumbegriff, der die für den Kolonialismus charakteristische binäre Opposition von Eigenem und Anderem auflöst und neue, von transkulturellen Verschiebungs- und Übersetzungsprozessen geprägte Räume entstehen lässt (cf. Neumann 2009, 129). In den postkolonialen Romanen meines Untersuchungskorpus gestaltet sich die fiktionale Subjektkonstitution nicht nur über die Erzählung individueller und kollektiver Geschichte(n), sondern zudem in einer gegenwartsorientierten Auseinandersetzung mit Räumen; die zeitliche Strukturierung menschlicher Erfahrung und damit das Kontinuität stiftende Erzählen erscheinen auch hier nicht mehr als primärer Modus der Subjektbildung. Anstelle von Entwicklung und Fortschritt betont die Raumkategorie unterbrochene Konstellationen, Gleichzeitigkeit und Bewegung und macht »die Subjektkonstitution als offenen Prozess der räumlichen Verortung und Identifikation beschreibbar« (cf. Hallet/Neumann 2009, 25): Figuren werden nach der Art und Weise charakterisiert, in der sie ›räumlich‹ handeln, Grenzen überschreiten, bewegliche oder unbewegliche Figuren sind. Die wechselnden Verortungen der Charaktere sind selbst »bedeutungs- und identitätsstiftende Akte, bei denen die kulturellen Wissensordnungen und gesellschaftlichen Hierarchien, die mit diesen Räumen verbunden sind, ständig neu gesetzt, reflektiert oder transformiert werden« (ibid.); Räume werden in diesem Prozess zu Bezugsgrößen der figural inszenierten Subjektivität gemacht und mit individueller Bedeutung aufgeladen. Räumliche Verortungen korrelieren zumeist mit orientierenden oder explorierenden Bewegungen, mittels deren Räume angeeignet, erkundet und durchquert, Grenzen erforscht und überschritten werden. ›Raum‹ verwandelt sich auf diese Weise in eine dynamische, prozessuale Konfiguration (cf.  ­Hallet/Neumann 2009, 20f., 25). In meiner Argumentationsstruktur folge ich jenen Richtungen innerhalb der Postcolonial Studies, die dem Poststrukturalismus verpflichtet sind, und beziehe mich wiederholt auf Konzepte von Stuart Hall und Homi K. Bhabha. Stuart Hall (1998, 146f.) knüpft mit seinem Identitätsbegriff an Jacques Derrida an, nach dessen Auffassung die in der modernen europäischen Philosophie benutzten Begriffe unter ›Ausstreichung‹ stehen. Begriffe wie ›Identität« sind in gewisser Weise ›durchgestrichen‹ und können nicht länger so benutzt werden wie in den klassischen philosophischen Diskursen, gleichzeitig existieren aber keine Begriffe, die sie ersetzen könnten. Wenn Begriffsdefinitionen nicht länger möglich sind, kann der Begriff der ›Identität‹ nur noch dadurch beschrieben werden, »dass er mit anderen Begriffen wie Individuum, Subjekt, Subjektivität und so weiter ein Begriffsfeld bildet« (Hall 1998, 147). Stuart Hall versteht »Identität« als Identifikation und somit als einen andauernden Pro-

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zess des Werdens (cf. Hall 1999, 410). Diese Gedankengänge werden von Homi Bhabha in seinem bereits erwähnten Konzept der kulturellen Hybridität theoretisch entfaltet, das den Ambivalenzen von Kulturen auf der Basis von diskursivem Handeln verstärkt Raum gibt: »Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist die Notwendigkeit, […] sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden.« (Bhabha 1997, 124) »Hybridität« entwickelte sich zu einem Schlüsselbegriff postkolonialer Literaturtheorie und beschreibt den Kulturkontakt als unaufhörliche wechselseitige Durchdringung, lokalisiert in einem Zwischenraum, den Bhabha auch als Third Space bezeichnet. Dieser konzeptuelle Handlungs(spiel)raum bildet die diskursive Voraussetzung dafür, dass kulturelle Symbole neu verhandelt, d.h. mit neuen Bedeutungen aufgeladen und damit reinterpretiert werden können (cf. Bhabha 2000, 57). Aus einer postkolonialen Perspektive bedeutet dies das erneute Aushandeln jener Zeiten, Begriffe und Traditionen, mit denen die Gegenwart in die Zeichen der Geschichte verwandelt wird (cf. Bhabha 1997, 173; Burtscher-Bechter 2004, 284). In postkolonialen Romanen wie beispielsweise Timira, Il latte è buono oder Madre piccola verorten sich die Hauptfiguren häufig als ›Nomaden‹, Reisende oder Geflüchtete gewissermaßen ›glatt‹ in gekerbten Räumen, um das von Gilles Deleuze und Félix Guattari (2006 [1980]) geprägte Begriffsinstrumentarium aufzugreifen. In ihren Ansätzen wurde »Nomadismus« zu einem Inbegriff ›postmoderner Subjektivität‹ und verweist in erster Linie auf eine historisch nicht verankerte Subjektivität oder: »Deterritorialisierung« als Widerstandsform. Der glatte ›Raum‹ entspricht nach Deleuze/Guattari (2006, 436ff.) einer nomadischen Struktur, während der gekerbte ›Raum‹ sesshaften Ordnungen entspricht. In beiden Räumen gibt es Punkte, Linien und Oberflächen. Im glatten ›Raum‹ sind die Punkte der Bahn untergeordnet (---o---), NomadInnen ordnen also ihren Wohnraum der Wegstrecke, dem Parcours, unter, im gekerbten ›Raum‹ bewegt man sich hingegen von einem Punkt zum nächsten (o---o). Der glatte ›Raum‹ ist »direktional«, ein ›Raum‹ der Entfernungen, nicht der Maßeinheiten, der gekerbte ›Raum‹ eher »dimensional«, metrisch. Der glatte ›Raum‹ wird eher von »Ereignissen« besetzt, nicht von wahrgenommenen Dingen; er entspricht eher einem »Affekt-Raum«, einer haptischen Wahrnehmung, keiner optischen. Die Wahrnehmung besteht also mehr aus »Symptomen und Einschätzungen als aus Maßeinheiten und Besitztümern« (Deleuze/Guattari 2006, 437). Das Meer (aber auch die Wüste oder die Luft) wird von Deleuze/Guattari als glatter ›Raum‹ par excellence beschrieben. Indem das Meer von Rastern (etwa geografischen Einkerbungen wie Längenund Breitengraden) überzogen wurde, veränderte es sich von einem glatten zu einem gekerbten ›Raum‹, das Dimensionale überlagerte immer mehr das Direktionale. Das Glatte verfügt aber über ein »Deterritorialisierungsvermögen, das dem Gekerbten überlegen ist«, so die Theoretiker (2006, 440). Denn

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im glatten ›Raum‹ entwickelt sich die »Kriegsmaschine« (im Sinne von Widerstand), während der gekerbte ›Raum‹ vom »Staatsapparat« erzeugt wird, hierarchisch strukturiert ist, ein Machtraum, eingekerbt von den Gesetzmäßigkeiten des Geldes, der Arbeit, des Wohnungsbaus und der Landwirtschaft. Die Stadt stellt den eingekerbten ›Raum‹ par excellence dar. Während sich der gekerbte ›Raum‹ ständig in einen glatten ›Raum‹ zurückverwandelt, wird der glatte ›Raum‹ unaufhörlich in einen gekerbten ›Raum‹ übertragen; und diese Übergänge und Überlagerungen finden heute in den unterschiedlichsten Richtungen statt (cf. Deleuze/Guattari 2006, 434-443). Die fiktionalen Figuren in den Romanen des im Folgenden untersuchten Textkorpus praktizieren häufig eine nomadische Lebensweise im Sinne einer Bewegung außerhalb fester gesellschaftlicher Strukturen oder zwischen Orten und loten das Potenzial dieser ›beweglichen Räume‹ für den Entwurf neuer Lebenskonzepte aus.

II. »[…] solo quando accetti di specchiarti in altri occhi puoi vedere e misurare te stesso«1  – Erzählen als kulturelle Raumpraktik in Gabriella Ghermandis Regina di fiori e di perle

Perspektiviert Gabriella Ghermandi in ihren Texten die Verflechtung der italienischen mit der äthiopischen Geschichte in einem postkolonialen Sinne neu, zielt sie auf die performativen Potenziale des Erzählens: Zum Thema gemacht werden sowohl die Gewalt der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit als auch das Kolonialgedächtnis respektive der Erinnerungsverlust im gegenwärtigen Italien. Ghermandis 2007 erschienener Roman Regina di fiori e di perle entfaltet die Geschichte einer äthiopischen Großfamilie über mehrere Generationen und verschränkt dabei individuelle Erfahrungen mit der kolonialen und postkolonialen Geschichte des Landes. Die in den Roman eingelassenen Erzählungen fiktionalisieren Zeugenberichte über die Zeit des faschistischen Impero in Äthiopien, vermitteln somit eine ›Gegengeschichte‹ und geben den ehemals kolonisierten Stimmen ihre Subjektposition zurück, nachdem diese über Jahrzehnte von der kolonialen Rhetorik und den hegemonialen Diskursen als sprachlose ›Objekte‹ dargestellt worden sind (cf. Bouchard 2013, 292). Fokussiert Ghermandis Roman in erster Linie die Schrecken der faschistischen Kolonialambitionen in Äthiopien, werden darüber hinaus auch andere folgenschwere Entwicklungen in den Blick genommen, etwa die Rückkehr Hailè Selassiés auf den äthiopischen Thron 1941 mithilfe der Alliierten, die Machtübernahme durch den sozialistischen Derg 1974 oder der bis 1991 dauernde Unabhängigkeitskampf zwischen Eritrea und Äthiopien. Die literarische Repräsentation der kolonialen und postkolonialen Geschichte als Verflechtungsgeschichte demonstriert die Konstruiertheit von na­tionalen und kulturellen Grenzen sowie die Veränderbarkeit von Raum­ 1 | Ghermandi 2007, 130.

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wahrnehmung und Diskursräumen. Narrationen beschreiben, aber jede Beschreibung ist zugleich »ein kulturell schöpferischer Akt« (de Certeau 1988, 228, in Anlehnung an Lotman 1976); diese performative Dimension von Erzählungen schafft und verändert ›Raum‹ und Raumwahrnehmung, wie ich am Ende dieses Kapitels in Anlehnung an Michel de Certeau (1988) am Beispiel von Regina di fiori e di perle aufzeigen werde. In der zuvor erfolgenden narratologischen Analyse werden neben der Erzähl- und Zeitstruktur in den Text transponierte Elemente der amharischen mündlichen Erzähltradition sowie die angewandten Erzähl­strategien näher beleuchtet. Den S ­ chwerpunkt dieses Kapitels bildet eine aus­f ührliche Untersuchung der in Regina di ­fiori e di perle dargestellten Repräsentationen individueller und kollektiver Geschichte in den kolonialen wie postkolonialen Kontexten Äthiopiens und Italiens insbesondere unter den Aspekten Kolonialismus und Narzissmus, antikolonialer Widerstand und Potenzialen der Subversion. Im letzten Teil dieser Romananalyse werde ich zusätzlich zu der raummetaphorischen Lesart eine gattungstheoretische Einbettung von Regina di fiori e di perle als postkolonialen Bildungsroman vorschlagen.

II.1 E rz ählerische G estaltung einer (post-) kolonialen   V erflechtungsgeschichte Für die fiktionale Tradierung der im kollektiven Gedächtnis2 Äthiopiens gespeicherten Erinnerungen wählt Gabriella Ghermandi die literarische Tradition der Rahmenerzählung. Wie seltene Blumen und wertvolle Perlen sammelt die Protagonistin die unzähligen Geschichten ihres Landes, worauf das Incipit des Romans anspielt: »Raccolgo fiori e perle. Fiori di tutti i tipi: grandi, piccoli, invisibili, anonimi, fiori con colori sgargianti come il sole imperioso 2 |  Der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« wurde von Maurice Halbwachs geprägt; Gedächtnis ist ihm zufolge nie nur etwas Individuelles, es bedarf stets des Zeugnisses anderer. Das kollektive Gedächtnis speichert die Ereignisse und Werte, die für eine Gruppe bedeutsam sind. Maurice Halbwachs ging von der Beobachtung aus, dass nicht nur einzelne Menschen über eine Erinnerung verfügen, sondern auch Gesellschaften und alle Formen von sozialen Gruppen ein kollektives Gedächtnis ausbilden, das der eigenen Identitätssicherung und -stabilisierung dient (cf. Halbwachs 1991 zit. in Erll 2005, 16). Diese These eines kollektiven Gedächtnisses bestimmt bis heute die Ge­ dächtnisforschung, so beziehen sich auch Aleida und Jan Assmann wiederholt auf Halbwachs (cf. Halbwachs 1985; Assmann 1988; Assmann 2005).

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle e altri con colori tenui, come brezze di primavera. Fiori profumati e fiori la cui fragranza segreta racconta storie all’anima. Raccolgo perle e fiori. Perle di tutti i tipi: lucenti, perfette, imperfette, bianche, rosa, nere. Perle nascoste e perle evidenti. Raccolgo fiori e perle del giardino incantato della mia terra.« (Ghermandi 2007, incipit)

Bildet das Sammeln von Geschichten in Regina di fiori e di perle die Erzählstruktur aus Rahmen- und Binnenhandlung, fungiert als Speichermedium dieser Geschichten und als Kristallisationspunkt des Romans die autodiegetische Erzählinstanz der Rahmenhandlung namens Mahlet, die inmitten einer Großfamilie in Debre Zeit, einer Kleinstadt etwa 30 km von Addis Abeba entfernt, aufwächst. Scheinbar ins Spielen vertieft, lauscht sie schon als Kind unentwegt den Gesprächen der Erwachsenen und wird dabei von den drei Familienältesten aufmerksam beobachtet; sie erkennen in Mahlets Neugier ihr Potenzial zur cantora, um die Geschichte(n) der im kollektiven Gedächtnis lebendig erinnerten kolonialen Vergangenheit sowie des äthiopischen Widerstands zu sammeln und nach Italien zu transferieren, in den Worten des alten Abba3 Yacob, Mahlets Vertrautem unter den drei Familienältesten: »Tienila stretta quella curiosità e raccogli tutte le storie che puoi. Un giorno sarai la nostra voce che racconta […] e porterai le nostre storie nella terra degli ­italiani. Sarai la voce della nostra storia che non vuole essere dimenticata.« (Ghermandi 2007, 6) Die Repräsentation der Kolonial­geschichte als italoäthiopische Verflechtungsgeschichte akzentuiert die Verwobenheit der modernen Welt, die von Shalini Randeria als »komplexes Geflecht von geteilten Geschichten« (Conrad/Randeria 2002, 17) beschrieben wurde. Das Konzept der modernen Geschichte als Verflechtungsgeschichte stellt eine alternative Betrachtungsperspektive zu dem seit dem 19.  Jahrhundert charakteristischen nationalgeschichtlichen Paradigma dar (cf. Conrad/Randeria 2002, 17f., 42). Ein transnationales Geschichtsbild impli3 |  Ghermandis Roman enthält zahlreiche Fußnoten, um den LeserInnen die im Text ent­­­ haltenen transliterierten amharischen Begriffe zu erläutern. Zum Teil werden die amha­ rischen Lexeme auch im Text erklärt, einige wenige bleiben offen. Zum Paratext des Ro­ mans gehört ein kurzes Vorwort, das die wichtigsten Ausspracheregeln des Amharischen darlegt und häufig gebrauchte Anredetitel übersetzt: »Abba« beispielsweise bedeutet »padre« oder »Woizero« adressiert eine »signora, cono tono rispettoso« (Gher­m andi 2007, avvertenza). Schließlich werden die Monatsnamen des äthiopischen Kalenders aufgezählt, der auf dem julianischen Kalender basierend aus 13 Monaten besteht (zwölf Monate mit je 30 Tagen und ein Monat mit fünf Tagen) und etwa acht Jahre hinter dem in Europa üblichen gregorianischen Kalender zurückliegt (cf. ibid.).

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ziert eine Auffassung von Geschichte als einem »Ensemble von Verflechtungen […], als entangled histories« (Condrad/Randeria 2002, 18).Diese relationale Perspektive legt den Fokus auf die konstitutive Rolle der Interaktion zwischen Europa und den weltweit kolonialisierten Gebieten;4 Europa entstand mitunter im Kontext der imperialen Unternehmungen, besonders Italien,5 während die Kolonialzeit zugleich von zahlreichen Konflikten in Europa bestimmt war. Da der Grad der Verwobenheit variiert, nimmt eine Verflechtungsgeschichte eher fragmentarisch konkrete Fragen und Zusammenhänge in den Blick; zudem ermöglicht sie, nationale und kulturelle Grenzen zu durchbrechen sowie den Austausch von Ideen, Institutionen und Praktiken als Ausgangspunkt von Untersuchungen zu wählen (cf. Conrad/Randeria 2002, 18). Und so setzt die Handlung in Regina di fiori e di perle mit einer Episode aus Mahlets Kindheit ein, an die sie sich als Erwachsene nicht mehr erinnern wird: Von Abba Yacob ermutigt in seinen privaten Sachen zu stöbern, verschränkt sich für die junge Protagonistin das kindlich neugierige Suchen nach Geheimnissen aus seiner Vergangenheit mit ersten Erfahrungen kolonialer Geschichte. Schicht für Schicht ergründet Mahlet die in Abba Yacobs Truhe gestapelten Stoffe, bevor sie die relevante »Erinnerungsfigur« (Assmann 1988, 12) – das Foglio di sottomissione 6 – freilegt, Ausgangspunkt von Yacobs Geschichte, der 4 | Das Paradigma der Interaktion dürfe die Reziprozität der Beziehungen allerdings nicht zu einem »Ideal von Gleichberechtigung und Äquivalenz stilisieren«, so Conrad/ Randeria (2002, 18). Denn die große Mehrzahl der kolonialen Kulturenkontakte ereignete sich unter ungleichen Voraussetzungen, die Interaktionen waren meist hierarchisch oder repressiv. Die Kolonialpolitik stabilisierte zumeist das Ungleichgewicht. »Die Betonung der Verwobenheit sagt zunächst noch nichts über die Modalitäten der Interaktion aus, die von erzwungener Übernahme, freiwilliger Assimilation, gewaltsamer Zerstörung bis zu wechselseitiger Umstrukturierung reichen können.« (Conrad/Randeria 2002, 18) 5 | Zu Beginn der imperialen Expansion am Horn von Afrika in den 1880er Jahren war Italien alles andere als eine stabile Nation. Der Einigung 1861 folgten schwerwiegende ökonomische und innenpolitische Probleme, die den sozialen Zusammenhalt ge ­f ährde­ ten. Die Expansion in Ost- und Nordafrika ist nicht unabhängig von der Konstitution des italienischen Staates zu denken: Die fehlende nationale ›Identität‹ sollte durch koloniales Bewusstsein ersetzt werden, weshalb sich die Konsolidierung der jungen Nation gewissermaßen in ihrem Aufstieg zur Kolonialmacht spiegelt. Über Zeitungen, Radio und Kino wurde von der liberalen und mehr noch von der faschistischen kolonialen Propaganda die Ausbildung eines ›Kolonialbewusstseins‹ forciert (cf. Ponzanesi 2004b, bes. 105-119). 6 | Cf. die in Abba Yacobs Rede montierte Erklärung des Schriftstücks: »[…] Foglio di sottomissione: quando il nostro paese era occupato dagli italiani dovevi averlo sempre con te. Dovevi mostrarlo ai soldati italiani che te lo chiedevano. Se non l’avevi potevi anche venire ammazzato.« (Ghermandi 2007, 11)

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

einst keine andere Wahl hatte, als den italienischen Kolonisatoren seine L ­­ o­ya­lität auszusprechen. Das zwischen den Stoffen versteckte vergilbte Dokument steht sinnbildlich für die italienische Kolonialvergangenheit, die unter einem dichten Gewebe verborgen liegt – Erzählstoff der Binnenhandlungen. Mahlet sammelt ihre erste Geschichte, jene von Abba Yacob, der sie um das Versprechen bittet, seinen Bericht aufzuschreiben und in Italien zu erzählen: »›Allora prometti davanti alla Madonna dell’icona. Quando sarai grande scriverai la mia storia, la storia di quegli anni e la porterai nel paese degli italiani, per non dare loro la possibilità di scordare‹. Promisi.« (Ghermandi 2007, 57) Dieses Versprechen bildet die Rahmenhandlung des Romans: Die Protagonis­tin wird also mit der Aufgabe betraut, als Er­wachsene nach Italien zu reisen, um die gemeinsame Kolonialgeschichte aus Sicht ehemals Kolonisierter zu erzählen und das kollektive Gedächtnis Äthiopiens zu tradieren.7 Diese Episode eröffnet den ersten Teil des Romans mit dem Titel La promessa und weist gleichzeitig auf die Handlungsentwicklung voraus. Insofern die Zeitstruktur in Regina di fiori e di perle einer anachronischen Darstellung des Geschehens entspricht, werden in langen Analepsen und Zeit­ sprüngen über 70 Jahre äthiopische Geschichte fiktionalisiert, vom Widerstand gegen die italienischen Kolonisatoren über die Derg-Diktatur bis zu deren Fall und dem Auf bau demokratischer Strukturen.8 Die Episoden aus Mahlets 7 |  In ihrer Jugend verblasst Mahlets Erinnerung an das feierlich gegebene Versprechen, worüber sie in folgendem Passus retrospektiv reflektiert: »Se gli anni dell’infanzia erano stati quelli del cuore, dell’amore verso l’interno, ora arrivavano gli anni dei sensi e della passione per l’esterno. […] In quel periodo la storia del vecchio Yacob, assieme alla promessa solenne, scomparve dalle mie orecchie e dal mio presente. E se della sua storia rimase solo una vaga presenza, mantenuta in vita dalle chiacchiere serali dei miei zii e dei miei genitori, della promessa non rimase alcun ricordo. Qualcosa di me l’aveva scacciata in un angolo della stanza della memoria. Ben nascosta. In un baule invisibile e introvabile, sepolto sotto una catasta di cianfrusaglie.« (Ghermandi 2007, 61) 8 | Initiierte Hailè Selassié mit Unterstützung der USA ein breites Programm zur Mo­ dernisierung Äthiopiens, verfolgte er gegenüber Eritrea, einem Land mit strategisch be­ deutender Lage am Roten Meer und reich an Mineralvorkommen, imperiale Am­b i­t ionen. Die Vereinten Nationen erklärten Eritrea 1952 zu einem Treuhandgebiet Äthi­o piens. Im Zuge der äthiopischen Expansionspolitik wurde in den eritreischen Schu­len beispielsweise verpflichtend Amharisch-Unterricht eingeführt. 1962 wurde das eritreische Parlament aufgelöst und das Land von Äthiopien annektiert. Längst überfällige wirtschaftliche und politische Reformen sowie die zunehmend imperialistische Monarchie Hailè Selassiés stärkten Anfang der 1970er Jahre mehr und mehr die äthiopische marxistische Bewegung, die 1974 durch einen von der Sowjetunion unterstützten Putsch an die Macht gelangte. Der letzte äthiopische Kaiser wurde entmachtet, Mitglieder seiner Regierung exekutiert. Zum Vorsitzenden des sozialistischen und militärischen Rates, dem Derg (= »Komitee«

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J­ ugend verorten sich im Kontext des prosowjetischen Derg-Regimes, das 1974 errichtet wurde und erst 1991 mit der Entmachtung des Diktators Mengistu Hailè Mariam durch die GuerillakämpferInnen der Ethiopian ­People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) ein Ende fand.9 In jenem Jahr reist Mahlet, selbst Zeugin des Widerstandskampfes geworden, nach Italien. Denn im Friseurladen ihres Cousins, wo sie sich gelegentlich etwas Taschengeld verdient, kommen ihr nicht nur Geschichten über die GuerillakämpferInnen und die Organisation des politischen Widerstands zu Ohren, sondern auch über jene junge Erwachsene, die in Europa studieren oder für die Vereinten Nationen arbeiten und nach dem Ende der Diktatur das Land wiederauf bauen wollen. Es sind die von Woizero Almaz und ihren Freundinnen geschilderten und kommentierten Geschichten, die in Mahlet den Wunsch erwecken, für ein Universitätsstudium nach Italien zu gehen: »Tutti e­ rano finiti negli Stati Uniti, in Canada, in Inghilterra, in Svezia … a studiare. Poi ­c’erano alcuni, pochi, che erano andati in Italia con delle borse di studio ottenute direttamente in Etiopia.« (Ghermandi 2007, 91f.) Sie bewirbt sich erfolgreich für ein Stipendium an der Universität Bologna und kehrt erst gegen Ende ihres Studiums nach Äthiopien zurück, wird jedoch ihren geliebten Abba Yacob nicht wiedersehen. in der historischen Gelehrtensprache Ge’ez), wurde Mengistu Hailè Mariam ernannt (cf. Bouchard 2013, 296). 9 | Der bewaffnete Widerstand gegen den Derg organisierte sich im Untergrund. Im Nor­d en Äthiopiens etwa kämpften tigrinische Widerstandsgruppen Seite an Seite mit der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF ), während in Zentraläthiopien und im Hochland amharische, im Süden oromische GuerillakämpferInnen aktiv waren. In Regina di fiori e di perle fiktionalisiert Gabriella Ghermandi diesen historischen Moment des Zusammenschlusses zwischen eritreischen und äthiopischen AktivistInnen im ge­m ein­ samen Befreiungskampf und Widerstand gegen die Diktatur von Mengistu (cf. Ghermandi 2007, 82). Mahlets Erinnerungen umfassen Beschreibungen der primär von der Sowjet­ union finanzierten massiven Militarisierung des Landes, furcht­e inflößender Patrouillen der mit Kalaschnikows bewaffneten Soldaten und das Schlittern in einen Bürgerkrieg, der Hunderttausende Menschen zwang, das Land zu verlassen. 1991 setzte sich Men­g istu schließlich nach Simbabwe ab und Eritrea erhielt nach konfliktreichen drei Jahr­z ehnten die Unabhängigkeit. Addis Abeba wird von Mahlet als Kriegsschauplatz geschil­dert: »Spari, raffiche di mitra, fumo, fuoco ed esplosioni dei depositi di armi […]. Il dodici di Genbot, Mengistu lasciò il paese. Per una settimana il suo primo ministro ne prese il posto in un paese in semianarchia. Gli anziani della nostra famiglia fecero chiudere il cancello e stabilirono dei turni di guardia tra gli uomini di casa. Noi femmine ci barricammo tra la casa, il cortile posteriore e le stanze di servizio.« (Ghermandi 2007, 103) Der zwischen 1998 und 2000 erneut militärisch ausgetragene Konflikt zwischen Eritrea und Äthiopien wurde durch einen Streit über den während des italienischen Kolonialismus entworfenen Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten entfacht.

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Mahlets Rückkehr nach Äthiopien Anfang der 2000er Jahre markiert den Beginn des zweiten Teils des Romans – Il ritorno. Die inzwischen junge Frau betrauert den Tod ihres großväterlichen Vertrauten und während sie im Garten der Kirche von Giorgis in Addis Abeba auf Abba Chereka, einen Eremiten, wartet, wird sie scheinbar zufällig zur Sammlerin von »storie sul tempo degli italiani« (Ghermandi 2007, 233). In Hinblick auf die Identitätsformation der Protago­nistin erfüllt Abba Chereka eine zweifache Funktion: zum einen ihre Trauer über Yacobs Tod zu überwinden, zum anderen die Erinnerung an das vergessene Versprechen zu aktivieren. Stehen Abba Yacob und Mahlet in einer emotionalen Vertrauensbeziehung zueinander, verhilft die Begegnung mit Abba Chereka der Protagonistin zu einer spirituellen und historisch-kritischen Bewusstseins­bildung; aber auch zwischen dem weisen Eremiten und Abba Yacob besteht eine lange zurückliegende Verbindung, wie die LeserInnen im vorletzten Kapitel des Buches erfahren, denn Abba Chereka ist Hailè Teklai, ­Yacobs Mitstreiter im antikolonialen Widerstand, der nach der Befreiung Äthiopiens sein Leben als Eremit verbrachte. Mahlet, Abba Yacob und Abba Chereka bilden denn auch die zentrale Figurenkonstellation in Regina di fiori e di perle. Gabriella Ghermandi widmet in ihrer literarischen Produktion dem Verhältnis zwischen Oralität und Schriftlichkeit besondere Aufmerksamkeit, so kombiniert sie ihre narrativen Texte häufig mit Elementen oder Erzählver­fahren der amharischen mündlichen Erzähltradition; die Nähe zur gesprochenen Sprache äußert sich in Regina di fiori e di perle beispielsweise durch eine zirkuläre Erzählstruktur, fingierte Mündlichkeit oder die Einfügung trans­li­te­ rierter amharischer Begriffe in den italienischsprachigen Text, allen voran Inter­jektionen, idiomatische Wendungen und Sprichwörter.10 Im Gespräch mit Daniele Comberiati erläutert die Schriftstellerin eine in der amharischen Literatur verbreitete Gattung namens ghitm, eine rhythmusbasierte Form der Stegreifdichtung, die zum Erzählen von Geschichten und Anekdoten des All­ tags verwendet wird. In Anlehnung daran inszeniert die Autorin in Regina di fiori e di perle die Figur eines Griots, Aron l’azmari11, und auch in Mahlet erkennen die drei Familienältesten das Potenzial zur Geschichtenerzählerin und vertrauen ihr die Tradierung des kollektiven Gedächtnisses an: »Sarai la nostra cantora.« (Ghermandi 2007, 5) Als die erwachsene Mahlet vorerst nicht in der Lage ist, sich an ihr Versprechen zu erinnern und Yacobs Geschichte zu rekonstruieren, kommt ihr Aron l’azmari zur Hilfe, der in Form eines ghitm 10 | Cf. zur exemplarischen Illustration: »›Woi gud anchi lij! Facciamo così, che te ne svelo uno, piccolo. Il mio baule contiene qualcosa che tu non sei riuscita a trovare‹.« (Ghermandi 2007, 11); »Scoppiai a ridere e lui continuava a saltare su quelle zampette da uccello, che gli spuntavano dallo shemmà, e a parlare in quella strana lingua.« (ibid.) 11 | Die Erklärung der amharischen Bezeichnung erfolgt in der Fußnote: »Cantore e ­p oeta, che ha il suo corrispondente nel griot dell’Africa occidentale.« (Ghermandi 2007, 18)

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jene Geschichte, der sie eine Stimme geben soll, rezitiert – somit kommen Dichtung und Oralität auch eine metanarrative Funktion zu (cf. C ­ omberiati 2011b, 152f.). Nachdem es Aron aber nicht gelingt, mit seinem Rezitativ und Spiel auf der masinko12 Mahlets Gedächtnis aufzufrischen und ihre blockierten Erinnerungen zu lösen, erhält sie von Abba Chereka jenes alte Schreibheft, in das Yacob einst die Daten, Ereignisse und Orte seiner Geschichte notierte und das Mahlet schließlich die Erinnerung an ihr Versprechen zurück­bringt: »Conoscevo quel quaderno, lo agguantai con mano tremante. ›Il quaderno delle battaglie – dissi con un filo di voce. – Me ne ero scordata‹. […] Dentro una scrittura minuta riportava dei nomi: Tecazze, Demaguina, Enda Selassié, Tembien … Mi misi a piangere. Un pianto liberatorio. ›La promessa. L’avevo dimenticata. Ecco cosa devo fare. Mantenere la mia promessa‹.« (Ghermandi 2007, 244)

Die Erfüllung ihres Versprechens macht aus Mahlet schließlich eine ­cantora, eine Griotte oder Geschichtenerzählerin, Schlüsselfigur der amharischen Erzähltradition, in der überlieferte Geschichten mittels Gesang vorgetragen werden. Die Bezeichnung cantora, also Sängerin, Dichterin oder Erzählerin, verbindet die Vorstellung von Oralität mit Epik, so Gregoria Manzin (2011, 117): Als cantora berichtet Mahlet die Erzählungen ihrer Landsleute in Italien, wobei sie für die erfolgreiche Realisierung dieser transnationalen Überlieferung die gesammelten Geschichten verschriftlicht und zugleich die amha­ rische mündliche Erzähltradition evoziert. Im letzten Kapitel des Romans erfahren die LeserInnen den Ausgangspunkt von Mahlets eigener Geschichte, die all die verstreuten Erzählungen, die sie über die Zeit ›gepflückt‹ hat, zusammenfügt. Das Ende ihrer Geschichte ist gleichzeitig ihr Anfang, insofern sich der Kreis der Rahmenerzählung schließt und Erzählzeit und Schreibprozess zusammenbringt. In dieser zirkulären Erzählstruktur schreibt und berichtet die Protagonistin von Debre Zeit, dem Haus ihrer Familie und den drei Ältesten, Selemon, Y ­ ohanes und Yacob, bevor in den letzten Sätzen des Romans einige bereits aus den ersten beiden Kapiteln bekannte Textsequenzen widerhallen: »E loro, i tre venerabili anziani di casa, me lo dicevano sempre negli anni dell’infanzia, durante i caffè delle donne: ›Da grande sarai la nostra cantora‹. Poi un giorno il vecchio Yacob mi chiamò nella sua stanza, e gli feci una promessa. Un giuramento solenne davanti alla sua Madonna dell’icona. Ed è per questo che oggi vi racconto la sua storia. Che poi è anche la mia. Ma pure la vostra.« (Ghermandi 2007, 251)

12 | In der Fußnote wird der/die LeserIn informiert: »Si tratta di un violino tradizionale monocorde.« (ibid.)

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Indem Mahlet in der Schlusspassage vorgibt, die Geschichte zu schreiben, deren Figur sie ist, wird ästhetisch eine Metalepse gestaltet: Der gedoppelte oder gespiegelte Blick durch die explizite Hinwendung der Ich-Erzählerin an die LeserInnen repräsentiert die erzählte Geschichte nicht nur als jene der Pro­ tagonistin oder ihres großväterlichen Vertrauten oder Äthiopiens, sondern als gemeinsame, geteilte äthiopische und italienische Geschichte. Zudem bildet dieser finale Teil des Textes das dargestellte Geschehen in einer Art Spiegelung noch einmal ab, also den literarischen Produktionsprozess des Schreibens mündlich tradierter Erzählungen über den italienischen Kolonialismus in Äthiopien, weshalb eine Mise en abyme vorliegt. Erzähltechnisch arbeitet Gabriella Ghermandi vorrangig mit fingierter Mündlichkeit13 und Multiperspektivität14, inszeniert also eine Vielzahl von Stimmen, die »ein Geschehen, eine Epoche, eine Figur oder ein Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln« (Nünning/Nünning 2000, 13) erzählerisch (re-)konstruieren. Wendet sich Mahlet als Erzählinstanz der Rahmenhand­ lung an den/die LeserIn des Textes, treten nacheinander verschiedene fiktionale Figuren auf und berichten der Protagonistin über die Auswirkungen und Verflechtungen der italienischen Kolonialzeit in Äthiopien. Mit ihren fingierten mündlichen Erzählungen eröffnen diese Figuren jeweils eine neue Text­ ebene, stellen somit intradiegetische Erzählinstanzen dar, wobei sie nicht immer selbst Teil der Binnenhandlungen sind. Die eingelassenen Erzählungen bringen eine serielle Hauptfigur hervor, die eine sich permanent verändernde oder verschiebende Identifikation für die LeserInnen bewirkt. Wechselt die Rolle des Protagonisten oder der Protagonistin von einer Figur zur nächsten, 13 | Fingierte Mündlichkeit bezeichnet die Imitation figürlicher Rede im Dialog der Figuren oder in Passagen erlebter Rede. Als realistische Erzähltechnik soll die fingierte Mündlichkeit auch die ›Authentizität‹ der Darstellung suggerieren. Mündlichkeit kann im Medium des schriftlichen Erzähldiskurses gar nicht anders als fingiert erscheinen: Dies »gilt summa summarum auch für den Dialog in der Erzählung, der vorgibt, eine wortwörtliche Transkription des (in der fiktionalen Welt) Gesagten zu sein« (Fludernik 2011, 33). Das simulierte mündliche Erzählen oder die verschriftlichte mündliche In­ teraktion blendet Überlappungen, Dazwischenreden, Wiederholungen etc. aus und er­ möglicht so eine sprachlich effektive Weitergabe von Informationen. Der fiktionale Dia­l og ist also eine Simulation oder Imitation, »die Mündlichkeit in bereinigter und allgemein verständlicher Form transportiert« (ibid.). 14 | In Anlehnung an Vera Nünning und Ansgar Nünning fokussiert multiperspek­ti­ visches Erzählen nicht nur das ›Wie‹ der erzählerischen Vermittlung, sondern es geht auch um das ›Was‹ der narrativierten Inhalte bzw. dargestellten Perspektiven (cf. Nünning/ Nünning 2000, 20). Als Form der narrativen Vermittlung stellt multiperspektivisches Erzählen denselben Sachverhalt »aus zwei oder mehreren Sichtweisen bzw. individuellen Standpunkten unterschiedlich [dar]« (Nünning/Nünning 2000, 13).

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i­mpliziert diese serielle Erzählerfigur den Effekt einer Vervielfachung von Identifikationen innerhalb des Textes (cf. Coburn 2013, 94f.). Eine serielle Hauptfigur betont den Identifikationsprozess als sich ständig wiederholend oder zeitversetzt und spiegelt in formaler Hinsicht diskursive Signifikationsprozesse. Die Selektion der Quellen folgt den literarischen Strategien und Anforderungen des mündlichen Erzählens, richten die Binnenfragmente in Regina di fiori e di perle den Blick doch weniger auf eine Rekonstruktion von Geschichte auf Basis der offiziellen Historiografie als vielmehr auf die subjektiven und alltäglichen Erfahrungen der ehemals kolonisierten Bevölkerung. Die erzähl­ten Ereignisse werden als Zeugenberichte, als Bezeugung persönlicher Erfahrung historischer Begebenheiten akzentuiert. Ambivalenzen und Widersprüchlich­ keiten werden enthüllt und stellen die bislang dominierenden eurozentris­ tischen Repräsentationen der Kolonialgeschichte infrage, deren k ­ onstruierte ›Bedeutung von damals‹ die Ich-Erzählerin offenlegt und neu auflädt, symbolisch verdeutlicht an ihrem Vornamen: »Figliola, il tuo nome è quasi un qene 15. Se togli l’acca e cambi un po’ l’accento, Malet sta per ›significato‹ e Ma’let sta per ›quella volta‹, dunque ›il significato di quella volta‹.« (Ghermandi 2007, 126) Als Erzählerin von Geschichte(n) aktualisiert Mahlet somit das ­italienische Kolonialgedächtnis und die ihr anvertraute kollektive Verantwortung »fa di Regina di fiori e di perle un romanzo corale«, so Cristina Lombardi-Diop im Nachwort. Handelt es sich einerseits um einen kollektiven Roman, weil das differenzierte Bild Äthiopiens in den (von) der Protagonistin erzählten Geschichten entworfen wird, richten sich diese Berichte gleichzeitig an eine ganze Kollektivität – die italienischsprachigen LeserInnen (cf. Lombardi-Diop 2007, 259). Hinsichtlich der Relation zwischen Oralität, Kollektivität und Erinnerung bemerkt Lombardi-Diop weiter, das Sammeln mündlich erzählter Geschichten sei nicht nur das Strukturprinzip des Romans, sondern auch dessen zentrale Metapher, denn ihre Vermittlung ermögliche den zeitgenössischen LeserInnen, die Kolonialvergangenheit retrospektiv wahrzunehmen und neu mit Bedeutung aufzuladen. Die LeserInnen beteiligen sich auf diese Weise aktiv an der kollektiven Erinnerungskultur (cf. Lombardi-Diop 2007, 261; ­Coburn 2013, 107; Margara 2013, 155).

15 | Eine Fußnote informiert über die amharische Trope: »Figura retorica che consiste nel dire una cosa implicandone un’altra allo stesso tempo e nella stessa frase.« (Gher­ mandi 2007, 126)

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

II.2 P ostkoloniale D arstellungen individueller und  kollek tiver G eschichte (n) Regina di fiori e di perle nimmt mit Bezug auf die von Aleida und Jan Assmann getroffene Unterscheidung zwischen kommunikativem oder ›Alltagsgedächtnis‹ und kulturellem Gedächtnis eine Position des Übergangs ein. Unter dem Begriff des »kommunikativen Gedächtnisses« fasst Jan Assmann »jene Spielarten des kollektiven Gedächtnisses zusammen, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen [...] und den Gegenstandsbereich der Oral History bilden« (Assmann 1988, 10). Diese Art der Kommunikation ereignet sich zwischen GesprächspartnerInnen, die jederzeit ihre Rollen vertauschen können. Wer demnach eine Erinnerung, eine Geschichte oder ein Erlebnis erzählt, wird im nächsten Moment der/die ZuhörerIn sein und umgekehrt. Wie zuvor erläutert, wechselt die Protagonistin in Regina di fiori e di perle zwischen ihrer Rolle als Zuhörerin der Binnengeschichten und als Erzählerin der Rahmenhandlung; der Roman fiktionalisiert demnach jene von Assmann beschriebene Kommunikationsweise, aus der sich im Einzelnen ein sozial vermitteltes und gruppenbezogenes Gedächtnis bildet, denn »[j]edes individuelle Gedächtnis konstituiert sich in der Kommunikation mit anderen« (ibid.).16 Der Begriff des »kulturellen Gedächtnisses« wird bei Assmann hingegen folgendermaßen beschrieben: »[…] de[r] jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlich[e] Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von […] Eigenart stützt.« (Assmann 1988, 15) 17 16 | Hier sind Gruppen gemeint, die »ein Bild oder einen Begriff von sich selbst, d.h. [...] ihrer Eigenart haben und dies auf ein Bewußtsein gemeinsamer Vergangenheit stützen« (Assmann 1988, 19), Beispiele sind Familien (z.B. Kindheitserinnerungen, Großeltern), Nachbarschaften, Parteien etc. bis zur Nation. Das wichtigste Merkmal des »kommunikativen Ge­dächt­n isses«, so Jan Assmann, ist ein beschränkter Zeitraum von etwa 80 bis 100 Jahren, also drei bis vier Generationen. Das Alltagsgedächtnis ist zudem informell, lebendige Kommunikation. Der Gruppen- und Gegenwartsbezug verleiht diesem Wissen den Charakter einer kollektiven Erinnerung (cf. Assmann 1988, 11). 17  |  Während das kommunikative Gedächtnis durch seine »Alltagsnähe« gekennzeichnet ist, ist das kulturelle Gedächtnis Assman zufolge durch seine »Alltagsferne« gekennzeich­ net. Alltagsferne bezieht sich zunächst auf seinen Zeithorizont, denn das kulturelle Gedächtnis hat seine »Fixpunkte, sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit« (Assmann 1988, 12). Diese Fixpunkte sind »Ereignisse der Ver­ gangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird. Wir nennen das ›Erinnerungsfiguren‹.« (Ibid.)

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Ein Übergang aus dem Bereich der Alltagskommunikation in den Bereich der objektivierten Kultur bringt laut Assmann (1988, 11) grundlegende Änderungen mit sich: Lebendige Kommunikation geht über in die Formen der objektivierten Kultur, z.B. in Texte (auch Bilder, Riten, Bauwerke, Denkmäler, Städte, Landschaften). Genau dieser Übergang – das Verschriftlichen mündlich erzählter Geschichte(n) – bildet das strukturelle Bauprinzip des hier untersuchten Ro­ mans. Demgemäß fiktionalisiert Regina di fiori e di perle, so meine These, den symbolischen Übergang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Kollektiv geteiltes Wissen und kommunizierter ›Sinn‹, so Assmann (1988, 14), können nur in objektivierter Form (als Objektivationen) in den kulturellen Institutionen einer Gesellschaft weitergegeben werden, z.B. über Texte, in Regina di fiori e di perle durch die fiktional dargestellte Verschriftlichung der mündlich tradierten Erzählungen. Diese werden im ersten Teil des Romans von Abba Yacob, im zweiten Teil von einem alten Bischof, einem früheren Fernsehmoderator, einer ehemaligen Sklavin, einer Dame in Begleitung einer Schildkröte und schließlich einer postkolonialen Migrantin erzählt, die ihre Erinnerungen und Geschichten an die Protagonistin Mahlet weitergeben. Das kollektive Gedächtnis speichert jene Ereignisse und Werte, die für eine Gruppe bedeutsam erscheinen und äußert sich über individuelle Erinnerungsakte. Insofern also jedes individuelle Gedächtnis »ein ›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis« (Halbwachs 1991 zit. in Erll 2005, 16) ist, erscheint es sinnvoll, diese individuellen Erinnerungsakte im Folgenden genauer in den Blick zu nehmen, um zu erschließen, welche historische Ereignisse in den Erzählungen erinnert werden und inwiefern dadurch die offizielle italienische Historiografie unterlaufen wird.

II.2.1 Kolonialismus und Narzissmus Schauplatz des Geschichtenerzählens im zweiten Teil des Romans ist der Garten der Kirche von Giorgis in Addis Abeba,18 wo Mahlet auf die genannten 18 | Barbara De Vivo (2013, 129) weist darauf hin, dass die Wahl einer Kirche als Ort des Erinnerns in Regina di fiori e di perle einen starken Symbolwert aufweist: Im Versuch, jegliche Rebellion gegen die faschistische Herrschaft in Äthiopien auszuschalten, ließ Mussolini gezielt Ordensleute, Griots, WahrsagerInnen, Eremi­ten und SchamanInnen töten, die in Kirchen und Klöstern lebten. Sie wurden als gefährliche Bedrohung der öffentlichen Ordnung eingestuft, da sie das Ende der italienischen Kolonialherrschaft voraussagten, eine Nachricht, die sich rasch in der Bevölkerung verbreitete. Am 19. Mai 1937 wurde eines der wichtigsten äthiopischen Klöster von libyschen und somalischen Ascari im Dienste des faschistischen Italiens belagert und zerstört: Debrà Libanòs. Die in der Klosteranlage lebenden Mönche, Priester, StudentInnen und Ordensschwestern wurden getötet (cf. De Vivo 2013, 129, in Anlehnung an Del Boca 2005; cf. in diesem Zusammenhang den historischen Kriminalroman von Luciano Marrocu: Debrà Libanòs.

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Figuren trifft. Die erste Geschichte wird ihr von einem alten Bischof erzählt, der zunächst auf die Komplexität der kolonialen Gesellschaft verweist, in der es neben KolonisatorInnen und Kolonisierten zahlreiche interne Unterschiede gab. Diese Heterogenität der Kolonialgesellschaft strukturierte in der Folge die Zusammensetzung der postkolonialen Erinnerung (cf. De Vivo 2013, 130f.).19 In den unterschiedlichen Binnenerzählungen des Romans spiegelt sich denn auch diese Ambivalenz und Ambiguität des postkolonialen Erinnerungsprozesses. Mit folgender Beschreibung der faschistischen KolonisatorInnen leitet die intradiegetische Erzählerfigur zur ersten Binnenerzählung, der Storia dello stupido leone con la scimmia, über, die Mahlet die narzisstische Komponente des Kolonialismus vor Augen führen wird: »[…] stavano sempre così, con la mano rivolta verso se stessi e con in bocca una sola parola: ›Io‹. Si sentivano superiori, e non accettavano di guardarsi dall’esterno, con gli occhi degli altri. E cara figliola mia, solo quando accetti di specchiarti in altri occhi puoi vedere e misurare te stesso. Ma loro non ne erano capaci, così hanno fatto la fine dello stupido leone con la scimmia.« (Ghermandi 2007, 130)

Nuoro, Il Maestrale 2002). Die Wahl des Schauplatzes für das Geschichtenerzählen in Regina di fiori e di perle könnte auch eine implizite Kritik an der moralischen Ambi­ guität der römisch-katholischen Kirche während des Faschismus darstellen: Beteiligte sich die koptische Kirche Äthiopiens federführend am kollektiven Widerstand gegen den Faschismus, unterzeichneten in Rom Mussolini und Papst Pius XI 1929 die La­t eranverträge. 19 | De Vivo zitiert die Historikerin Irma Taddia, die hervorhebt, dass für die Rekon­ struktion des italienischen Kolonialismus als Quellen vor allem Berichte italienischer Armeeangehöriger, militärischer Eliten und Soldaten verwendet werden, während die Stimmen der Kolonisierten und der italienischen ArbeiterInnen, die in den Kolonien der Misere in Italien entkommen wollten, fehlen. Taddia versucht in ihren Untersuchungen die historischen Erinnerungen dieser EmigrantInnen zu erfassen. Ihr zufolge seien die politische Indoktrinierung und Profitgier nicht die Hauptinteressen der italienischen ArbeiterInnen in den Kolonien gewesen, vielmehr charakterisierte sich deren Existenz als Überlebenskampf in extremer Armut. Die Hauptgründe für ihre Emigration in die Kolonien waren mit kleinen ökonomischen Anreizen verbunden und nicht mit großen Profiten; diese Schicht der italienischen Bevölkerung lebte zudem Seite an Seite mit der kolonialisierten Bevölkerung, wodurch ethnische Grenzziehungen transgrediert und relativiert wurden. Aus diesen Erinnerungen, vor allem Erzählungen des Alltagslebens, geht auch eine Distanz zum faschistischen Regime hervor. In ihren Berichten schildern die ArbeiterInnen ihre Nähe, ihr Zusammenleben und ihre Solidarität mit der lokalen Bevölkerung und die Übertretung der von den Bürokraten des Regimes betriebenen ethnischen Segregation (cf. Taddia 2005 zit. in de Vivo 2013, 130f.).

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Verblüfft über Mahlets Frage »›Quale leone?‹« (Ghermandi 2007, 130) und angesichts ihrer offensichtlichen Unkenntnis der zitierten Fabel beginnt der Bischof sogleich mit deren Erzählung: Ein sich für überlegen haltender, selbstherrlicher Löwe unterjocht seine Untergebenen, die ihm eines Tages eine Falle stellen und ihm berichten, am Fluss behaupte ein furchterregendes Ungeheuer der Löwe sei ein Niemand. Wutentbrannt will der Löwe seine Macht verteidigen und dem Rivalen entgegentreten. Am Ufer des Flusses, wo die Schreckgestalt aufgetaucht sein soll, sieht er jedoch niemanden, nur sein eigenes Spiegelbild. Da sich der Löwe jedoch niemals zuvor von außen betrachtet hat, glaubt er sich seinem Rivalen gegenüber und stürzt sich mit Gewalt auf ihn, also auf sich selbst. Er fällt in den Fluss, die Strömung trägt ihn davon und er ertrinkt.20 Wie die Geschichte suggeriert, spiegelt den Löwen nur sein eigener Narzissmus. Der Blick in den Spiegel ausschließlich auf der Suche nach seinem eigenen Abbild zog in der kolonialen Begegnung fatale Folgen nach sich. Für die meisten KolonisatorInnen blieben die Kolonialgebiete in der Tat ›im Dunkeln‹, unverständlich und unergründlich und daher nur durch vollständige Ablehnung beherrschbar. Die Rechte der kolonisierten Bevölkerung auf Sprache, Religion und Kultur wurden seitens der Kolonisator­Innen zumeist negiert oder exotisiert. Insbesondere die afrikanischen Kolonien repräsentierten lange Zeit sowohl reale als auch z.B. in der Literatur imaginäre Räume fataler Anziehung für europäische Reisende und KolonisatorInnen, stellten sich in Wirklichkeit aber häufig als Orte narziss­ tischen Untergangs heraus, wie die erzählte Geschichte illustriert (cf. Margara 2013, 141f.). Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ergründeten Schriftsteller wie Kipling, Conrad, Flaiano oder auch der Regisseur Francis Ford Coppola mit Apocalypse Now die Dimension des Unbewussten in der kolonialen Erfahrung; der männliche Held erscheint nicht mehr als Forscher, Abenteurer oder ›Überbringer der Zivilisation‹, sondern als entfremdeter Mensch, häufig verroht durch den Kontakt mit einer fremden Welt, die als feindselig, weil im Eigenen abgelehnt und verdrängt, empfunden wird. Die europäischen KolonisatorInnen realisierten kaum eine Begegnung mit den aus ihrer Perspektive ›Anderen‹, vielmehr erlebten sie eine Art narzisstische Kränkung, die ihre Augen gegenüber der äußeren Wirklichkeit gewissermaßen verschloss; dadurch wurden sie in der Einsamkeit des fremden Landes mit ihrem ›inneren Dunkel‹, dem Unbewussten, also sich selbst in Kontakt gebracht (cf. Domenichelli 1997 zit. in Margara 2013, 142). Mario Domenichelli betont, die Texte der europäischen Kolonialliteratur sind voll von weißen europäischen Män20 | Auf einer Metaebene kommentiert die Erzählerfigur die Binnengeschichte mit den Worten: »›Vedi figliola, così è la vita. La non conoscenza non guarisce da nulla, dice il proverbio, e io aggiungo: la mancanza di conoscenza di noi stessi può portare alla nostra stessa distruzione‹.« (Ghermandi 2007, 133)

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

nern in den Kolonien; erzählt oder berichtet werden stets die Geschichten weißer Männer und Kolonisatoren, während ›die Anderen‹ buchstäblich ausgelassen oder zum Hintergrund gemacht werden, funktionalisiert als Spiegel der ›Verrohung‹ oder ›ideales Endstadium‹ exotischen Begehrens oder als in eine arkadische Natur zurückgekehrte ›edle Wilde‹. Die Kolonisierten werden als ›sprachlos‹ oder als ›Objekte‹ der Blicke weißer männlicher Kolonisatoren repräsentiert. Das wichtigste Element des Bruchs mit dieser Erzähltradition und nahezu allen postkolonialen Texten gemeinsam ist die radikale Umkehr dieses Blickpunkts; anders als im kolonialen Diskurs werden die fiktionalen Figuren nicht mehr exotisiert, sondern realistisch dargestellt als aktive, komplexe und widersprüchliche Subjekte, die sich im kollektiven Widerstand gegen die koloniale Unterdrückung engagieren (cf. Domenichelli 1997 zit. in Margara 2013, 125f.). Die Fabel, in der die List und die Defensive der Untergebenen über das arrogante Machtgehabe des Löwen gewinnen, betont als Akt des Verhandelns den Blick in den Spiegel. Dabei reflektiert der Spiegel der Vergangenheit das gewaltvolle Bild der kolonialen Begegnung (cf. LombardiDiop 2007, 259). Diese wurde bislang immer nur einseitig wahrgenommen, weshalb postkoloniale Texte wie Regina di fiori e di perle darauf zielen, über die Lektüre das Geschichtsbewusstsein der zeitgenössischen LeserInnen zu verhandeln.

II.2.2 Antikolonialer Widerstand und Subversion Die Kolonialbesatzung Äthiopiens begann 1935, als italienische Truppen unter Emilio De Bono den Fluss Mereb an der Grenze zu Eritrea überquerten, und dauerte bis 1941. In jenen Jahren war die Zustimmung der italienischen Massen für die imperiale und totalitäre Expansion Mussolinis am stärksten. Für Äthiopien bedeutete die italienische Invasion einen Angriff auf seine nationale Souveränität, war es doch eines der wenigen unabhängigen, noch nicht vom europäischen Kolonialismus erfassten Länder Afrikas. Der antikoloniale Widerstand ist im äthiopischen kollektiven Gedächtnis tief verankert als Moment großer Solidarität auch hinsichtlich der Mobilisierung der Zivilbevölkerung (cf. Lombardi-Diop 2007, 261f.). Gabriella Ghermandi inszeniert in Regina di fiori e di perle die erste Phase der Gegenoffensive unter Hailè Selassié, die ab Dezember 1935 im Norden des Landes von mehreren Generälen der kaiser­ lichen Armee gestartet wurde: Ras Imiru, Cousin von Hailè Selassié und dessen Vertrauter, Ras Seyoum und Ras Kassa, Befehlshaber in der östlichen bzw. westlichen Tigray-Region sowie Ras Mulugheta, damaliger Verteidigungs­mi­ nister und Anführer des Mahel Safari, des zentralen Armeekorps. Es sind diese Militäroperationen, von denen etwa Abbaba Igirsà Salò, ein früherer Moderator und Geschichtenerzähler im äthiopischen Fernsehen, berichtet. Er trifft als zweite intradiegetische Erzählinstanz in Giorgis auf Mahlet; in folgenden

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Textauszügen informiert er sie nicht nur über die koloniale Aggression, sondern auch über die Giftgaseinsätze, die grausame Auslöschung seiner Familie und die Ankunft der Faschisten in Addis Abeba: »Qualche giorno dopo il Meskel, precisamente cinque, gli italiani oltrepassarono il ­fiume Mereb e occuparono alcuni villaggi nel nord-est del Tigrai, dichiarandoci in tal modo i loro intenti. […] Le notizie sui primi scontri furono foriere di festa. Gli uomini di Ras Imiru avevano at­ traversato il Tikazze e vinto, erano giunti a Dembeguina e vinto, a Enda Selassié e vinto … e si preparavano ad oltrepassare la frontiera ed entrare in territorio italiano, nella colonia eritrea, e le armate del nord-est avevano attaccato e respinto gli italiani sul Tembien. […] Poi d’improvviso il vento cambiò direzione e cominciarono ad arrivare notizie funeste. Gli italiani si erano messi a usare un’arma che noi non conoscevamo. […] Era una nebbiolina avvelenata, dentro a grandi contenitori che venivano lanciati dagli aerei. Arrivati al suolo i contenitori si infrangevano lasciandola fuoriuscire. Una nebbiolina quasi invisibile che si adagiava nelle valli, nei crepacci, nelle gole, e ammazzava i nostri uomini bruciandoli da dentro, dai polmoni. […] Passavano con dieci, quindici aerei alla volta e seminavano veleno e morte, morte e veleno. […] Ormai era chiaro, stavamo per perdere. Avremmo perso il nostro paese, la nostra libertà. […] arrivarono notizie per me e mia zia da Harar: la nostra famiglia era stata sterminata. […] Così seppi che mia madre era stata falciata da una raffica di mitra, mio padre era morto sul campo di guerra, prima di mia madre, sotto ai suoi occhi, i miei zii impiccati, la nostra casa, la casa in cui ero nato, distrutta, perché la mia famiglia non aveva accettato di tendere le mani all’esercito di Graziani. […] Poi ricordo l’arrivo degli italiani a Debre Brehan e quella terribile scritta che incisero su una parete di roccia: ›Viva il Duce‹, e ancora, la fuga di Hailè Selassié, e infine il loro arrivo nella capitale – un mare di bianchi vestiti di nero e un’infinita fila di camion.« (Ghermandi 2007, 142-146)

Cristina Lombardi-Diop erläutert den historischen Kontext des in der Episode fiktionalisierten Angriffs im Dezember 1935, als die äthiopische Offensive in der Gegend des Dembeguina-Passes (in der heutigen Tigray-Region), der einzigen Verbindung der italienischen Truppen mit den Nachschubgebieten in Eritrea, einen anfänglichen Erfolg über eine Ascari21-Kolonne erzielte. Dieses Ereignis wird als zentrales Moment im Leben Abba Yacobs dargestellt, der unter dem Kommando von Ras Imiru im Tal des Tekezze-Flusses im Norden des 21 | Als Ascari wurden die überwiegend eritreischen Kolonialsoldaten bezeichnet, die bei der Eroberung der Gebiete am Horn von Afrika und in Libyen an der Seite Italiens kämpften.

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Landes erstmals an antikolonialen Kampfhandlungen teilnahm, wie er Mahlet schon im ersten Teil des Romans berichtet. Bis Ende März 1936 wurden weitere Gefechte unter Ras Kassa, Ras Seyoum und Hailè Selassié ausgetragen, der selbst die kaiserliche Garde befehligte. Um die äthiopischen Truppen und Aufstände in der Bevölkerung zu stoppen, ordnete der italienische Befehlshaber Pietro Badoglio, trotz des 1925 von der Genfer Konvention beschlossenen Verbots, den Einsatz von Giftgas an. Darauf hin rückten italienische Formationen Richtung Addis Abeba vor, wo sie am 5.  Mai 1936 einmarschierten (cf. Lombardi-Diop 2007, 263f.). Gabriella Ghermandi transferiert die Giftgaseinsätze mehrfach in ihren Roman, wie dies die zitierten Textstellen aus der Storia di Abbaba Igirsà Salò zeigen aber etwa auch der qualvolle Alptraum des jungen Yacob während des Besuchs seiner Schwestern in den Wäldern von Menageshà nahe der zentraläthiopischen Kleinstadt Holetà, wohin sich seine Widerstandsgruppe zurückgezogen hat. Dem Historiker Aram Mattioli zufolge markiert die italienische Invasion des äthiopischen Kaiserreichs die Bruchstelle der 1919 errichteten Friedensordnung. In Übereinstimmung mit der äthiopischen Geschichtsschreibung und entgegen der eurozentristischen Periodisierung des Konflikts vom 3.  Oktober 1935 bis zur Proklamation des ›Impero‹ am 9. Mai 1936 vertritt Mattioli die These, der Äthiopienkrieg dauerte über fünfeinhalb Jahre, von der Überquerung des Mereb durch italie­ nische Armeekorps bis zur Rückkehr von Hailè Selassié aus dem englischen Exil nach Addis Abeba am 5. Mai 1941. Für diese Periodisierung spricht vor allem der permanente äthiopische Widerstand, der auch nach der kolonialistischen Unterwerfung des Landes nicht zusammenbrach, auch konnte Italien das ostafrikanische Land militärisch nie vollständig kontrollieren, wie Mattioli betont. Mit der italienischen Expansion am Horn von Afrika begann eine neue Dimension organisierter Kriegsgewalt, die frühere, in ihren Ausmaßen begrenzte Kolonialkriege hinter sich zurückließ, so der Historiker.22 Dem militärischen Konflikt und der italienischen ­Okkupation fielen von 1935 bis 1941 zwischen 350.000 und 380.000 Menschen zum Opfer, auch die Zivilbevölkerung wurde massiv und systematisch in die Kampf handlungen involviert. Neben Luftangriffen auf zivile Ziele und Giftgaseinsätzen kam es wiederholt 22 |  Der Äthiopienkrieg war der erste Angriffskrieg, den eine europäische faschistische Macht im »Katastrophenzeitalter« (Hobsbawm) zur Durchsetzung ihrer imperialen Ex­ pansion führte. Auf den ersten Blick erscheine der Krieg als verspäteter Feldzug in der langen Geschichte des Kolonialismus, jedoch handelte es sich laut Mattioli um einen »mit ausgeklügelter Logistik, immensem Aufwand und moderner Technologie geführte[n] Eroberungskrieg« (Mattioli 2006, 257f.). Italien beantragte in der Folge die Anerkennung der Annexion durch den Völkerbund, dem auch Äthiopien angehörte, und erhielt die Zustimmung aller Mitglieder mit Ausnahme der Sowjetunion (cf. Bouchard 2013, 293).

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zu schweren Übergriffen gegen die lokale Bevölkerung, ­historische Quellen berichten von ›Säuberungsaktionen‹, Repressalien, Vergewaltigungen, Hinrichtungen und Massakern; die faschistische Kriegsführung zielte zudem auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung, so wurden landwirtschaftliche Nutzflächen in Brand gesteckt oder Viehherden ausradiert (cf. Mattioli 2006, 260ff.). Trotz dieses Besatzungsterrors befand sich im Mai 1936 nicht mehr als ein Drittel Äthiopiens in italienischer Hand und während sich zu Kriegsbeginn zwei Armeen gegenüberstanden, entschied sich der Widerstand ab 1937 für eine Guerillataktik, wovon auch der weitere Verlauf der Binnenerzählung von Abbaba Igirsà Salò handelt: Ein italienischer Arzt rettet ihm während der Okkupation das Leben und fortan arbeitet Igirsà Salò in dessen Krankenhaus, wo er auf die im Widerstand engagierte Woizero Worknesh trifft. Scheinbar angepasst versorgen sie äthiopische GuerillakämpferInnen mit Me­­ dikamenten aus dem italienischen Hospital. Der Eintritt in den politischen Widerstand markiert für Igirsà Salò den Bruch mit seiner selbstentfremdeten Assimilation an die herrschende Macht. In folgenden Textpassagen reflektiert er über seine Identitätskrise und berichtet von der Begegnung mit einem fingierten Mönch, der die koloniale Mimikry explizit als Strategie der Subversion praktiziert: »Purtroppo, anche se guarito fisicamente, il mio male, germogliato da un’anima spez­ zata da eventi storici e personali troppo grandi, per un giovane quale ero, non era scomparso. Aveva messo radici infilandosi tra i cocci della mia interiorità e mi aveva reso debole, senza una volontà compatta. Così finii per cedere agli italiani, accettando la loro occupazione e imparando a convivere tra la benevolenza del dottor Quiniti e i calci in culo del camicia nera. E i miei giorni si riempirono di ishi getoch, sì va bene padrone. Poi un giorno venne ricoverato un giovane monaco, di una decina di anni più grande di me. Un amico dell’infermiera Worknesh. […] ›Ricorda – disse – l’Etiopia è nostra. Solo nostra. Non consegnare loro la tua anima come stai facendo. Puoi fare finta di accettare il loro governo [Hervorhebung M.K.], ma il tuo cuore devi mantenerlo libero. Non devi diventare una loro proprietà‹. […] ›Non sono un monaco – mi sussurrò – sono un guerriero‹. Era un arbegnà 23! In preda a una lieve frenesia causata dallo stupore, cominciai a guardarmi attorno in cerca dell’infermiera Worknesh. Il finto monaco comprese e quando tornai con lo sguardo sul suo volto annuì. Anche l’infermiera Worknesh era una arbegnà. […] 23 | In der Fußnote wird arbegnà mit »patrioti guerrieri« übersetzt. Und weiter: »Wst arbegnà: infiltrati nel sistema italiano, con la funzione di messaggeri e staffette per i rifornimenti di armi e cibo.« (Ghermandi 2007, 8) Die arbegnà werden als Figuren zwischen dem Mythischen und dem Realen repräsentiert, ähnlich den me­ridio­n alen BrigantInnen (cf. Lombardi-Diop 2007, 262).

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle Il nostro paese era come un grande formicaio, di cui non si nota nulla sopra la terra, se non qualche piccolo foro nel suolo, ma sotto vive un intero universo. Guerrieri, ­informatori, organizzatori … si movevano invisibili in ogni parte del paese e della capitale. […] Di notte, quando la città veniva inghiottita dal sonno, io e [l’infermiera Work­ nesh] andavamo a incontrare i messaggeri e consegnavamo medicine e informazioni. Fino al termine dell’occupazione abbiamo consegnato medicine e informazioni, senza essere mai scoperti.« (Ghermandi 2007, 148f.)

Das Konzept der Mimikry als eine Form kolonialer Kontrolle wurde von Homi Bhabha theoretisch entfaltet. Es beschreibt, wie ein koloniales Subjekt hergestellt wird, »welches wie ›der Kolonisator‹ selbst ist und doch anders« (Castro Varela/ Dhawan 2005, 90, in Anlehnung an Bhabha 1994). Die Kolonisatoren verlangen, dass die Kolonisierten die äußerlichen Formen annehmen und die Werte und Normen der beherrschenden Macht internalisieren; gleichzeitig werden sie mit einer ambivalenten Repräsentation ihres narzisstischen Selbst konfrontiert und dadurch verunsichert. Im erwidernden Blick ›der anderen‹ erkennen sie, dass ihre Kontrolle untergraben wird. Bhabha beschreibt die Mimikry deshalb auch als die »geheime Kunst der Rache« (Bhabha 1997 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 91). So untergräbt die von ­Igirsà Salò und Woizero Worknesh angewandte Mimikry subversiv die koloniale Autorität, die in ihrem Selbstverständnis als ›europäische Zivilisierungsmission‹ die kolonisierte Kultur in ihrem Sinne zu transformieren versucht. Wiederholung im kolonialen Kontext (z.B. Metropole → Kolonie) bedeutet stets eine Hybridisierung des angenommenen ›Originals‹, wodurch die ›Identität‹ und die Autorität der Kolonisatoren fragmentarisiert werden. Die daraus resultierende Ambivalenz in der kolonialen Beziehung – wie ›der Kolonisator‹ und gleichzeitig anders – stellt eine Form des Widerstands gegen koloniale Machtdiskurse dar. Durch die Imitation der Kolonisatoren wenden Worknesh und Igirsà Salò Mimikry als Strategie des Selbstschutzes an, die es ihnen ermöglicht, eine Gegenkraft zur hegemonialen Macht auszubilden (cf. ­Bhabha 1994 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 93, 100). Die Mahlet in Giorgis erzählten Geschichten über die Kolonialzeit gestalten sich immer komplexer, so erfährt sie in der Erzählung der als Sklavin24 geborenen Dinke von Farisa Alula, il Grande, der ebenfalls im äthiopischen Widerstand gegen die Kolonialbesatzung kämpfte. In diesem Binnenfragment werden mehrmals die Textebenen aufgebrochen, indem Dinke als homodiegetische Erzählinstanz der Binnenhandlung mittels des narrativen Verfahrens der Metalepse zwischen den Textebenen wechselt und die Grenze zwischen erzählter Welt und Welt des Erzählens verwischt, zuweilen thematisiert sie 24 | Die äthiopische Gesellschaft war bis ins 20. Jahrhundert eine Feudalgesellschaft, die Sklaverei wurde erst 1942 infolge internationalen Drucks von Kaiser Hailè Selassié formal abgeschafft.

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explizit den Akt des Erzählens: »Non faccio che parlare di me […]. Invece a te interessa il mio padrone con i talian. Allora ti racconto. La storia che ascolterai l’ho raccolta dalla bocca di Assebellet. […] Ecco. Comincio. Era l’inizio dell’invasione da tempo annunciata.« (Ghermandi 2007, 160) Im weiteren Handlungs­ verlauf spricht Dinke die Kämpfe im Norden an, allen voran Amba Alagi, wo Tausende Menschen verbrannten: »Sull’Amba Alagi sono morte bruciate 8000 persone. Woine, l’odore di carne arrostita. […] Pensa, 8000 persone bruciate, e quasi tutti dei nostri. È così che i talian hanno preso il paese. Dopo i nostri sono entrati nella resistenza. E nascosti nella boscaglia hanno lottato per cinque anni, fino a quando i talian non se ne sono andati via.« (Ghermandi 2007, 163)

Wie zuvor angedeutet fiktionalisiert Regina di fiori e di perle auch die zweite Phase der äthiopischen Gegenoffensive, die im Februar 1937 nach der Einnahme von Addis Abeba durch die Faschisten und infolge zunehmender Repressionen nach einem gescheiterten Attentat auf den italienischen Vizekönig in Äthiopien, Rodolfo Graziani, startete.25 Während dieser Phase organisierte sich der Widerstand weitgehend im Untergrund. Wie im Roman fiktional dargestellt, beteiligten sich an der Widerstandsbewegung unterschiedlichste Bevölkerungsschichten – Adelige, Bauern, Frauen jeden Alters, Priester, Militärs und sogar einige italienische Soldaten wie Daniel, in den sich Yacobs jüngste Schwester Amarech verliebt. Zehntausende Frauen waren im Widerstand aktiv, selbst als Kommandantinnen. Im Text inszeniert werden etwa Alemtsehay, eine Gefährtin Yacobs, die den Waffennachschub organisiert, oder Saba und ihre Schwester, die sowohl für die Lebensmittel- und Wasservorräte als auch für die Informationskanäle zuständig sind, oder die zuvor erwähnte Woizero Worknesh, die sich als Krankenschwester im Spital Duca ­degli ­Abruzzi um die Medikamentenversorgung kümmert. Eine im kollektiven Gedächtnis bis heute mythisierte Figur ist Kebedech Seyoum, die Witwe von Aberrà Kassa, dem Sohn des Ras (cf. Lombardi-Diop 2007, 262f.);26 nachdem die kolonialen Machthaber ihren Mann getötet hatten, übernahm sie 25 |  Um die Geburt des Thronerben von Vittorio Emanuele II zu feiern und die scheinbare Großzügigkeit der Kolonialregierung zu demonstrieren, beabsichtigte Graziani, einem Brauch Hailè Selassiés folgend, am zwölften Tag des Monats Yekatit an die BettlerInnen und die arme Bevölkerung Geld zu verteilen (cf. Ghermandi 2007, 182). Der Zwölfte des Monats Yekatit des äthiopischen Kalenders entspricht dem 19. Februar, hier des Jahres 1937, als zwei junge äthiopische Männer ein Bombenattentat auf Rodolfo Graziani verübten (cf. Lombardi-Diop 2007, 264). 26 | Im kollektiven Imaginären gilt Kebedech Seyoum als sagenumwobene Wider­ stands­­heldin und als Symbol der Mut und Stolz verkörpernden Kriegerin (cf. Margara 2013, 138).

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die Führung seiner Armee, der sich in der fiktionalen Darstellung im Roman Saba und ihre Schwester anschließen, wovon die Binnenfragmente Storia del­la signora della tartaruga und Kebedech Seyoum handeln. Die Geschichte der signora della tartaruga setzt mit einer autoreflexiven Betrachtung ihrer Langsamkeit ein: Schon immer ist ihr Rhythmus ein langsamer gewesen, ähnlich jener der Schildkröte, ihrer ständigen Begleiterin, wodurch zugleich aber eine sensible Wahrnehmung der Dinge möglich wird. Als Kind verbrachte sie ganze Tage im Schatten eines riesigen Maulbeerfeigenbaums mit dem Spinnen der Baumwolle und dem Zuhören von Geschichten, die ihre Mutter erzählte, allen voran über die legendäre äthiopische Kaiserin Taytu, die ihre eigene Armee anführte und in Adwa an der Seite ihres Mannes Menelik die italienischen Truppen bezwang und sich gegen eine von Menelik anfangs unterstützte, jedoch fragwürdige Handelsallianz mit Italien aussprach, die Äthiopien auf ein Protektorat reduziert und die wirtschaftlichen Vorteile allein Italien gesichert hätte. Die mündliche Tradierung von Geschichte und im kollektiven Gedächtnis fest verankerter historischer Ereignisse und Persönlichkeiten bilden also den Ausgangspunkt dieser Binnenhandlung: Als intradiegetische Erzählinstanz berichtet die signora della tartaruga Mahlet die Geschichte ihrer Mutter während deren Zeit als arbegnà im Gefolge der Widerstandskämpferin Kebedech Seyoum und eröffnet eine weitere Textebene, auf der ihre Mutter als metadiegetische Erzählinstanz dritter Stufe fungiert; in das Binnenfragment ist also eine weitere Erzählung – Kebedech Seyoum – eingelassen: »Ogni evento ha una storia, ogni storia un inizio. Oggi ti narrerò di me e dei tempi passati, quando il nostro paese era in mano agli italiani« (Ghermandi 2007, 173), so die Einstimmung der metadiegetischen Erzählerin auf ihren Bericht, der die Verwobenheit der Kolonialgeschichte mit persönlichen Erlebnissen akzentuiert. Als junge Frauen organisieren die Mutter der signora della tartaruga und ihre Schwester den Haushalt eines italienischen Majors, zunächst im Militärfort von Fiche und später in Addis Abeba. Im Zuge ihrer täglichen Einkäufe auf dem Markt erfahren die beiden Schwestern vom Widerstand gegen die Kolonialbesatzung, insbesondere von Kebedech Seyoum: »›Dopo che gli italiani hanno ammazzato suo marito, lei, nascosta tra le montagne, ha preso il commando dell’armata. […] dicono che sia un capo migliore degli uomini. Una combattente senza eguali‹.« (Ghermandi 2007, 181) Ausschlaggebend für die jungen Frauen, sich der Widerstandsgruppe um Kebedech Seyoum anzuschließen, sind die Pogrome gegen die Zivilbevölkerung von Addis Abeba nach dem Anschlagsversuch auf Rodolfo Graziani. Die darauf folgenden Vergeltungsmaßnahmen gehören zu den blutigsten Ereignissen der italoäthiopischen Geschichte; die LeserInnen erfahren die bestialischen Massaker aus der Perspektive der jungen Frauen: »Dopo i primi due giorni dall’inizio dell’inferno, nel cielo erano comparsi avvoltoi, e i falchi si erano moltiplicati. […] Come se queste avvisaglie non fossero sufficienti, il fetore

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Postkoloniale Literatur in Italien di corpi in decomposizione era trasportato da un soffio implacabile, di spiriti inquieti in attesa di sepoltura dei loro corpi. Era stata una decisione meditata quella di lasciare i cadaveri a marcire nelle strade: ›Sarà di ammonimento ai residui della gazzarra negussina‹, dicevano i graduati italiani. Ma nonostante la preparazione mentale, ciò che stava fuori dalla caserma, nelle strade, era così orribile che per anni mi causò incubi notturni. Non erano i cadaveri di uomini, donne, bambini o anziani ad avermi impressionato. E neppure le mutilazioni genitali e gli organi sparsi per terra. Quello che mi inforcò l’anima con un uncino ricurvo fu la vista di donne incinta, con la pancia squartata e il feto in mostra. Qualcosa di indescrivibile il cui ricordo ancora oggi mi è insopportabile. […] E quando varcammo nuovamente il cancello, una decisione era ben chiara nella testa mia e di Saba: scappare, unirci alla resistenza, unirci a Kebedech Seyoum.« (Ghermandi 2007, 184)

Bald darauf erreichen sie die von Kebedech Seyoum angeführte Widerstands­ armee. Eine in der Nähe von Debrà Libanòs angesiedelte Episode inspiriert sich an der Schlüsselszene aus Ennio Flaianos Hauptwerk Tempo di uccidere (1947), dessen Handlung ebenfalls in Äthiopien im Kontext der kolonialen Invasion spielt: An einem Wasserteich trifft ein italienischer Soldat auf eine badende junge Frau, die er nach einer sexuellen Begegnung durch eine fehlgeleitete Kugel ›aus Versehen‹ tötet.27 In einer Spiegelung der Perspektiven und traditionellen Geschlechterrollen loten Ghermandi wie Flaiano die koloniale Begegnung erzählerisch aus: Während die Figur des talian sollato, wie die italienischen Offiziere in Äthiopien genannt werden, bei Ghermandi aus 27 | In ihrer Danksagung betont Gabriella Ghermandi, die Idee ihres Romans kon­k re­ tisierte sich im Zuge der Lektüre von Ennio Flaianos Tempo di uccidere. Die sym­b olische Bedeutung postkolonialen Umschreibens kolonialer Prätexte wird an der von Ghermandi evozierten Szene aus Flaianos Roman besonders evident; diese gestaltet sich wie folgt: »La donna non si accorse della mia presenza. Era nuda e stava lavandosi ad una delle pozze, accosciata come un buon animale domestico. […] La donna alzava le mani pigramente, portandosi l’acqua sul seno e lasciandovela cadere, sembrava presa in quel giuoco. Forse era là da molto tempo, decisa a lavarsi senza fretta, per il piacere di sentirsi scorrere l’acqua sulla pelle, lasciando che il tempo scorresse egualmente. Non si accorgeva della mia presenza e restai a guardarla. […] Alzava le mani e lasciava cadere l’acqua, ripetendo il gesto con una melanconica monotonia. Era il suo modo di divertirsi e forse di volersi bene. […] Per lavarsi la donna aveva raccolto i capelli in una specie di turbante bianco. Ora che ci penso: quel turbante bianco affermava l’esistenza di lei, che altrimenti avrei considerato un aspetto del paesaggio […].« (Flaiano 2006, 16-17) Gefühle, Gedanken und Sprache werden der jungen Frau ausschließlich aus der Perspektive des Leutnants und seiner kolonialen Rhetorik zugeschrieben. Es sind diese Leerstellen in Flaianos Roman, die in Regina di fiori e di perle sichtbar gemacht werden (cf. Camilotti 2012, 154ff.).

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Sicht der jungen Frau als Inbegriff des Dämons und die Kolonisatoren allgemein – in Umkehrung des Stereotyps eurozentristischer kolonialer Diskurse – als selvaggi wahrgenommen werden, zudem die koloniale Unternehmung grundlegend unverständlich bleibt und sich in der Frage kristallisiert »Perché si erano mossi da un paese tanto lontano per venire a conquistare le nostre terre, a sottometterci?« (Ghermandi 2007, 175), symbolisiert die bleibende Verletzung an der Hand des Protagonisten in Tempo di uccidere die noch immer offene Wunde der italienischen Kolonialherrschaft in Äthiopien – eine Verletzung, die u.a. durch Ghermandis Roman als Teil einer zeitgenössischen Erinnerungskultur endlich vernarben könne, so Lombardi-Diop. Die Lektüre von Regina di fiori e di perle als postkolonialer Text etwa 60 Jahre nach und im Lichte von Tempo di uccidere verdeutliche, dass die beiden Romane komplementäre Realitäten wieder zusammensetzen, nachdem in Italien bislang immer nur eine Hälfte wahrgenommen wurde (cf. Lombardi-Diop 2007, 258). In der entsprechenden Episode in Regina di fiori e di perle agiert die junge Frau als aktive Protagonistin der Szene: Unweit des aufgeschlagenen Camps erfrischt sie sich an den Wasserfällen, genießt lustvoll das Wasser auf ihrem Körper und, im Gegensatz zum kolonialen Stereotyp ›der unterwürfigen Frau‹, widersetzt sie sich den zwei italienischen Soldaten, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen und ihrer Mitstreiterin Mamma Martha sowie dem kleinen Sohn der verwitweten Kebedech Seyoum gefährlich nahe kommen. Folgende Textpassage vergegenwärtigt die Gefühle und Gedanken der Figur, die einen Moment lang zögert und dem unbewaffneten, orientierungslosen Soldaten in die Augen blickt, bevor sie sich entscheidet zu handeln, in diesem Fall zu töten: »Io e il talian sollato ci guardammo negli occhi, un attimo, ma in quell’attimo quanti pensieri mi passarono per la testa! Quel talian sollato lo sapeva che era il figlio di Kebedech Seyoum? Certo poteva immaginarlo. Gli italiani sapevano che lei aveva avuto un figlio. Come noi, anche loro avevano spie e informatori. ›Sparagli per l’amor di Dio!‹, urlò nuovamente l’anziana. Imbracciai il fucile, gli occhi del talian sollato mi comunicarono disorientamento. Lui era disarmato. Tentennai. I suoi occhi si ripresero, ritrovarono la direzione, mosse qualche passo e si avvicinò al bambino. A quel punto un impulso che non mi apparteneva divampò in me, pensai alle parole di Kebedech Seyoum: ›Le preghiere contro di loro si dicono con i fucili‹. Pensai ai morti di Yekatit. Qualcosa dentro di me urlò: ›Fuori dalla nostra terra!‹. Presi la mira come mi avevano insegnato, chiusi gli occhi e sparai. Il contraccolpo mi feci perdere l’equilibrio. Caddi all’indietro. Riaprii gli occhi, mi sollevai pronta a sparare un’altra volta. Il talian sollato era a terra. Lo avevo colpito.« (Ghermandi 2007, 191f.)

Stellt die Episode primär die Handlungsmächtigkeit und die aktive Rolle der in vorderster Reihe kämpfenden Frauen der Widerstandsbewegung heraus, un-

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terscheidet sich Ghermandis Ausgestaltung der Szene auch formal wesentlich von Flaianos Referenztext: In Regina di fiori e di perle wird die Episode in der ersten Person vermittelt, die Protagonistin äußert sich mit ihrer eigenen Stimme, beschreibt ihre Gefühle und Gedanken und, angesichts der Gefahr, ihre Unsicherheit und schließlich ihr entschlossenes Handeln. Vermittels der aneinandergereihten Parataxen werden die Spannung der Szene sowie die Entschlossenheit der Frau in formaler Hinsicht zusätzlich gesteigert. Diese Figurenkonzeption dekonstruiert die bei Flaiano aus einer kolonialistischen Perspektive nahezu animalisch repräsentierte Sinnlichkeit und Objektivierung der weiblichen Hauptfigur. Ghermandis writing back oder Antwort auf einen kanonisierten Text der italienischen Literatur lässt sich als politische Handlung begreifen, insbesondere als sie das in der Kolonialliteratur häufig bemühte Stereotyp der wort­losen, instinkthaften, unterwürfigen abessinischen Frauen durch die Inszenierung historischer Figuren wie Kebedech Seyoum demontiert. Die Schriftstellerin fordert eine differenziertere Betrachtung der Position von Frauen, würde in Italien doch nach wie vor das Bild der »donna remissiva« (Ghermandi zit. in Comberiati 2011b, 155) in Ländern wie Äthiopien vorherrschen. Diese Sicht von außen sei sehr oberflächlich, kritisiert Ghermandi, die auf Taytu oder Kebedech Seyoum verweist, die diesen vereinfachenden Imaginationen exemplarisch widersprechen (Comberiati 2011b, 154f.; Camilotti 2012, 156ff.).

II.2.3 Grenzüberschreitungen in kolonialen und postkolonialen Kontexten Das negative Stereotyp, das den italienischen Kolonisatoren seit dem Äthio­ pienkrieg anhaftete, wird in Regina di fiori e di perle in einigen Schlüsselepisoden aufgebrochen, so etwa in Abba Yacobs Geschichte, der als autodiegetische Erzählinstanz zweiter Stufe der kleinen Mahlet schildert, wie ihm aus familiären Gründen einst keine andere Wahl blieb, als sich aus der antifaschistischen Widerstandsbewegung zurückzuziehen, nachdem sich seine jüngste Schwester Amarech in den italienischen Soldaten Daniel verliebt hatte und ein Kind erwartete. Der bereits angesprochene Besuch seiner Schwestern in den Wäldern von Menageshà sollte Yacob aber nicht nur hinsichtlich seines zukünftigen Schwagers besänftigen, sondern ihn vor allem dazu bewegen, nach Hause zu kommen, eine ausdrückliche Forderung der weiblichen Familienangehörigen, die die Abwesenheit der Männer sei es im Krieg oder im Widerstandskampf nicht länger akzeptieren wollen. Nach anfänglicher Rebellion kehrt Yacob resigniert nach Hause zurück und erkennt schließlich das Potenzial geistigen und spirituellen Widerstands: »›[…] Figlio, dobbiamo resistere nella speranza‹.« (Ghermandi 2007, 39) Gestaltet sich die Begegnung zwischen Yacob und Daniel als spiegelbildliche Imitation des jeweils anderen

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Begrüßungsrituals, unterläuft die Praktik der Mimikry in der ambivalenten Kolonialbeziehung vermeintlich feststehende Kräfteverhältnisse zwischen ›Ko­lonisiertem‹ und ›Kolonisator‹: »Mi sentivo un vinto: il nemico ci aveva occupato e si era impossessato del nostro paese fino ad essersi intrufolato nelle nostre famiglie. Me lo presentarono. ›Daniel‹. Lui in un gesto di riverenza che ricalcava le nostre usanze, piegò il busto in un mezzo inchino e allungò una mano, con il palmo dell’altra a sostenere l’avambraccio della mano tesa. Io, in un gesto di irriverenza che voleva ricalcare le loro usanze, rimasi dritto e con la mano sfiorai la sua in un gesto rapido e inconsistente.« (Ghermandi 2007, 41)

Der Textauszug zeigt, wie Yacob durch seine ironisierende Nachahmung der Begrüßungsgeste die koloniale Autorität untergräbt. Mimikry erweist sich erneut als eine aktive Widerstandsstrategie, als ein bewusster Versuch, die von der kolonialen Macht zugewiesene Subjektposition aufzulösen. Indem Yacob die Position des ›kolonisierten Subjekts‹ zurückweist und sich weigert, den Blick ›des Kolonisators‹ zu erwidern, also die zugeschriebenen Rollen zu bestätigen, wird die koloniale Ordnung destabilisiert (cf. Bhabha 1994 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 99f.). Aber auch Daniel durchlöchert die koloniale Macht und repräsentiert eine bewegliche Figur im Sinne Jurij Lotmans, da er durch seine aktive Teilnahme am äthiopischen Widerstand die semantische Grenze der erzählten Welt zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten überschreitet und figural als »Grenzgänger« charakterisiert werden kann.28 Die Konzeption der Figur Daniel unterläuft das stereotype Bild des Kolonialisten, wird er doch als höflich und aufgeschlossen, als Sohn armer Bauern aus dem Veneto und gegen seinen Willen in die faschistische Armee einberufen, repräsentiert.29 Im Handlungsverlauf fliehen Daniel und Amarech in die Wälder von Menageshà und treten Yacobs ehemaliger Widerstands28 | Jurij Lotman zufolge sind »GrenzgängerInnen« bewegliche Figuren, welche für ge­ wöhnlich als impermeabel geltende Grenzen überqueren und dadurch eine Sujetbewegung, ein Ereignis, auslösen; entscheidend hierfür ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes hinaus. Die erzählte Welt besteht demnach aus mindestens zwei komplementären semantischen Räumen, die durch eine undurchdring­ liche Grenze voneinander getrennt sind, die nur der/die HeldIn überschreitet (cf. Lotman 2006, 539). Die Grenzüberschreitung realisiert sich durch eine Abweichung von der Norm, beispielsweise wenn der/die HeldIn mit seinem/ihrem sozialen Milieu oder wie hier mit der kolonialen Ordnung bricht. 29 | Die komplexe Figurenkonzeption Daniels negiert eine allzu sehr vereinfachte Darstellung seiner ›Identität‹: Während Amarech ihren Geliebten nahezu poetisch erhöht, »Sembra che Dio gli abbia dato quegli occhi per farci vedere il cielo da vicino« (Gher-

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gruppe um Hailè Teklai bei, nachdem Daniel wegen seiner Beziehung mit Amarech aufgrund eines Dekrets, des berüchtigten decreto regio 880, eine Freiheitsstrafe in Italien droht, wie er in folgendem Textauszug Yacob gegenüber beklagt: »[…] lo sapevo che c’era quel maledetto decreto, ma non pensavo venisse applicato veramente. Ne ho visti tanti di soldati che andavano con le donne di qui, e tutti al forte ne erano a conoscenza. Credevo lo avessero promulgato solo per far contenti i fascisti in Italia. Invece no. Tu ci puoi andare con le donne di qui, ma devi trattarle da prostitute. Non puoi amarle, avere figli con loro, sognare una famiglia. Se fai una cosa del genere loro applicano il decreto. Capito Yacob! C’è una legge italiana che mi condanna perché amo tua sorella e avrò un figlio da lei. La grande Italia civilizzatrice. Ecco il suo vero volto. Oggi mi dovevano dare l’ordine di smobilitazione. Pensavo di tornarmene a casa vostra finalmente libero, invece il sergente mi ha comunicato che c’è un ordine di rimpatrio in arrivo e una condanna a cinque anni di reclusione che mi attende in Italia, per avere infranto il decreto regio 880.« (Ghermandi 2007, 44)

Den historischen Kontext dieser Episode bilden Entwicklungen der Segregation, die das faschistische Regime schon 1936 forciert hatte, als unmittelbar nach der Okkupation von Addis Abeba eine Reihe von Maßnahmen und Gesetzen erlassen worden sind, die zwischen den italienischen und äthiopischen BewohnerInnen eine regelrechte Apartheid errichteten (cf. Lombardi-Diop 2007, 264). Unterstützte die faschistische Logik die Prostitution, war eine Heirat untersagt. Der Textauszug thematisiert die in den Kolonien weit verbreitete Praktik des madamismo, die in erster Linie äthiopische Frauen betraf: Offiziell als Hausbedienstete geltend, war es ihnen möglich, mit italienischen Männern zusammenzuleben. Bekamen sie jedoch ein Kind, wurden sie häufig von ihren Partnern verlassen, die manchmal bereits eine Familie in Italien hatten und den Verlust ihres Arbeitsplatzes, eine Repatriierung oder auch das Gefängnis fürchteten. Infolge der faschistischen ›Rassengesetze‹ (1938) trennten sich ­v iele Paare, zudem hatten die strengen Kontrollen traumatische Folgen für die aus transnationalen Beziehungen hervorgegangenen Kinder. Die Praktik des madamismo verdeutlicht die Auswirkungen des Kolonialismus auf das familiäre, soziale und politische Leben in den ehemaligen Kolonien über Jahre und Generationen und zum Teil bis in die Gegenwart (cf. Comberiati 2011b, 155f.). Fiktionalisiert die Romanepisode die faktische Anwendung des am 19. April 1937 erlassenen königlichen Dekrets 880, das eine Ehe zwischen italienischen und äthiopischen BürgerInnen verbot und mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestrafte, gestaltet die Szene zugleich einen Wendepunkt des Plots, da sich der mandi 2007, 30), sieht ihr Bruder Yacob in Daniel einen »diavolo presuntuoso« (Ghermandi 2007, 41).

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Konflikt zwischen Yacob und Daniel zu entspannen beginnt und Yacob den beiden Liebenden schließlich zur Flucht verhilft: »›Io non ci andrò in Italia. Io voglio vivere qui, con Amarech e nostro figlio. Ho diritto di vivere con loro. Yacob, tu ci devi aiutare a scappare. Portaci dai tuoi amici, dai guerrieri. Ti giuro, combatterò con loro contro i fascisti‹. Per un attimo, solo per un barlume di secondo, il suo dolore me lo fece sentire uno dei nostri, anche lui subiva per colpa dei fascisti. Subito dopo tornò ad essere l’italiano, il sollato, quello che da noi ci era arrivato indossando la divisa dei nemici. Ma in quell’attimo di empatia promisi, con tutto me stesso. Una promessa che non potei più cancellare: ›Ti aiuterò. Ti farò scappare con Amarech! Vi porterò dai miei compagni‹.« (Ghermandi 2007, 45)

Das tragische Ende von Amarech und Daniel, die nach Aufdeckung ihrer politischen Aktivität erhängt bzw. erschossen werden, repräsentiert exemplarisch die Auswirkungen der rassistischen Praktiken in Africa orientale italiana, die das Leben sowohl italienischer als auch äthiopischer Individuen nachhaltig prägten. Auch Yacob erlebt eine Zäsur in seinem Leben: Durch die ihm anvertraute Verantwortung für Rosa, der Tochter von Amarech und Daniel, sieht er sich veranlasst, der Kolonialmacht seine Loyalität zu erklären und das Foglio di sottomissione zu beantragen. Yacobs Geschichte ist also markiert durch die Geburt von Rosa, die ihm die Konstruiertheit vermeintlich unumstößlicher Grenzziehungen wie jene zwischen Italien und Äthiopien vor Augen führt: »Nell’aria fredda si intrufolò un miagolio lieve. Qualcosa di così inatteso, da riuscire a incrinare il gelo e infilarvisi, fino a risollevare la mia attenzione. ›Yacob, loro sono morti ma tua nipote è viva […]‹. Una bimba, un incanto armonioso che mescolava i colori della terra e del cielo infilò i suoi occhi nei miei. In quell’istante, qualsiasi dubbio o rancore su quell’uomo bianco che era entrato nella nostra famiglia sconvolgendola scomparve.« (Ghermandi 2007, 55)

War Yacob zuerst nicht in der Lage, Daniel als Teil seiner Familie zu akzeptieren, bewegen ihn dessen Engagement im kollektiven Widerstand und die in seine Obhut gegebene Nichte letztendlich dazu, seinen Begriff von »Grenze« neu zu perspektivieren. Die Verschiebung und Überschreitung von Grenzen wird auch in der von Woizero Bekelech als intradiegetisch-autodiegetischer Erzählinstanz vermittelten Geschichte inszeniert, die sich teils im kolonialen Äthiopien, teils im postkolonialen Äthiopien und Italien verortet und chronologisch das letzte Binnenfragment des Romans bildet. Bekelech berichtet Mahlet von ihrem Leben in Italien, wo sie, wie schon zuvor in Addis Abeba, über zwei Jahrzehnte den Haushalt italienischer Familien organisierte und Signor Antonio

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kennen lernte, einen ehemaligen Unteroffizier der italienischen Kolonialarmee, bevor sie wieder nach Äthiopien zurückkehrte. Ihre Erzählung fiktionalisiert u.a. postkoloniale Entwicklungen der globalen Arbeitsmigration: Sind spezialisierte europäische Fachkräfte meist in privilegierten Positionen tätig, so unterrichteten etwa Bekelechs DienstgeberInnen an den italienischen Schulen in Addis Abeba, arbeiten viele postkoloniale MigrantInnen in Italien überwiegend in denselben Branchen wie während des Kolonialismus, allen voran im Haushalt, in der Altenpflege oder in der Kinderbetreuung. Auch Bekelech versorgt die rassistische alte Mutter der Signora Franca in einem winzigen Dorf nahe Bologna, wo die Überalterung der Bevölkerung, der graue Herbsthimmel und die unerträgliche Stille des abgelegenen Ortes bleibende Eindrücke in ihr hinterlassen.30 Was dieses Ambiente jedoch primär unmenschlich wirken lässt, ist die Verweigerung der Familie, Bekelech als gleichwertig und um ihrer selbst willen anzuerkennen. Angesichts dieser ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und rassistischen Erniedrigungen ent­scheidet sie sich schließlich, für eine Familie in Bologna zu arbeiten und dort trifft sie auf Signor Antonio, der während des Äthiopienkrieges bei der italienischen Armee als Übersetzer tätig war. Bekelech erlebt diesen Kontakt als Möglichkeit der Wiederaneignung von Geschichte, beide unterhalten sich auf Amharisch, ihre Gespräche handeln stets von Äthiopien 31 und bereits in ihrer ersten Begegnung werden die trans­k ulturellen ›Identitäten‹ beider Figuren evident: »L’anziano signore allungò la mano al modo etiope: ›Tenaistillin. Antonio ebalalehu‹.« (Ghermandi 2007, 211)32 Figural erscheint Antonio konzipiert als (ehemaliger) »Kolonisator, der sich verneint« (Memmi 1966, 35), der nicht aus faschistischer Überzeugung nach Ostafrika gelangte, sondern im Gegenteil mit dem italienischen Kolonialsys­tem in offenem 30 | Cf. Bekelechs retrospektive Beschreibung: »Non riuscivo a comprendere il verso della vita in quel posto. C’era qualcosa di terribilmente sbagliato. Sembrava un albero cresciuto all’incontrario, con le fronde nella terra e le radici per aria. Quel silenzio mi sembrava carico di cattivi presagi. Di morte, piuttosto che di vita. […] Ah! Gli italiani! Divisi tra comunisti, democristiani … tifosi della Juventus, dell’Inter … del Sud, del Nord … di Modena, di Bologna … Se fosse per metà di loro ogni tre persone ci sarebbe una nazione diversa.« (Ghermandi 2007, 206ff.) 31 | Antonios Erinnerungen an Äthiopien sind durchdrungen von Nostalgie und mal d’Africa, wie er in folgenden Worten zum Ausdruck bringt: »Chi non è mai stato lì non può comprendere la passione che ti sorge dentro. Piano piano, senza che neppure tu te ne accorga. Non può comprendere la nostalgia che ti afferra quando vieni via. E non per una donna che hai lasciato. No. Solo per quel qualcosa di magico che sta nell’aria, di cui neppure ti sai spiegare.« (Ghermandi 2007, 221) 32 | Cf. die Übersetzung in der Fußnote: »›Dio ci dà la salute. Mi chiamo Antonio‹.« (Ghermandi 2007, 211)

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Konflikt stand, war seine Motivation doch vielmehr die Suche nach Arbeit. In seiner Beziehung zu Bekelech scheint Antonio allerdings nicht gänzlich auf die Rolle des wohlmeinenden, paternalistischen »buon civilizzatore« (De Vivo 2013, 133) verzichten zu wollen und insistiert zuweilen darauf, ihr die amharische Schrift beizubringen, ein Angebot, das sie wiederholt ablehnt; so wird der ehemalige Übersetzer zum Schreiber ihrer Briefe auf Amharisch an ihre Familie in Äthiopien, die sie ihm diktiert. In der Binnenerzählung wird der italienische Text formal durch die Einfügung zweier in amharischer Schrift verfasster Brieffragmente gebrochen, hier eine Illustration:

Abb. 2: Regina di fiori e di perle: In den Text eingefügtes Brieffragment auf Amharisch (Quelle: Ghermandi 2007, 215) Die Übersetzung webt die Autorin narrativ in die Handlung ein: Bekelech vertraut Antonio zuerst nicht, befürchtet, er könnte den Text verzerren, weshalb sie sich die ersten zwei Briefe am Telefon vorlesen lässt, ohne dass sich ihre Bedenken jedoch bestätigen. Auf diese Weise erfahren die italienischsprachigen LeserInnen den Inhalt der Briefe, in denen Bekelech aus der Perspektive einer postkolonialen Migrantin mitunter ihre Wahrnehmung der italienischen Gesellschaft schildert.33 Am Ende entsteht der Eindruck vertauschter Positionen, als ob Antonio die ehemalige Kolonie repräsentieren würde, da er die amharische Schriftsprache beherrscht, nahezu als ob sich über die Schrift eine Identitätstransformation vollziehen würde, so Gabriella 33 | Der in die Binnenerzählung als Teil eines Telefongesprächs eingeflochtene trans­ literierte Briefauszug lautet wie folgt:»›[…] Cari tutti, l’Italia non è come l’immaginavo. È uno strano paese. Sembra il luogo della solitudine. La gente vive chiusa nelle proprie case. Non c’è il caffè tra i vicini, non ci sono le associazioni di quartiere. Gli anziani stanno soli, i bambini non escono ed entrano da una casa all’altra, chiamandosi l’un l’altro per giocare. Gli adulti vivono come uccellini, escono all’alba dal nido e tornano la sera tardi. Tutto avviene di corsa, sempre di corsa. Pare che a loro piaccia molto correre. La frase più tipica è non ho tempo, ho fretta. Ma tutta la loro corsa non ha una meta. In questo paese c’è la ricchezza, la luce nelle strade di sera, con file e file di lampioni, ci sono ospedali che ti guariscono, treni, autobus. C’è tanto cibo, tanto da poterne buttare senza preoccuparsi, e non ci sono mendicanti a cui dare gli avanzi del tuo pranzo, ma nonostante tutto ciò, nonostante il loro benessere, non sono felici. Non usano la loro ricchezza per allietarsi e ancora non ho capito cosa se ne fanno veramente … […]‹.« (Ghermandi 2007, 216)

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Ghermandi im Interview mit Daniele Comberiati (2011b, 148). Bei genauerer Analyse entschlüsselt sich die Komplexität der Episode: Bekelech diktiert ihre Briefe auf Amharisch, die Antonio verschriftlicht und ihr Bruder telefonisch für die italienischsprachigen LeserInnen rückübersetzt. Diese Verflechtung der Sprachen (Amharisch und Italienisch), Figuren (ehemals Kolonisierte und Kolonisator), Ausdrucksmedien (Oralität und Schrift) und Textsorten (Erzählerbericht und Brieffragment) verdichtet das narrative Gewebe der von Bekelech und Antonio geteilten, gemeinsamen Geschichte und verdeutlicht ihre immer schon transkulturelle ›Identität‹. In Anlehnung an Derrida (1999), demzufolge sich der Zugang zum Ich und die Entfaltung von Subjektivität erst mit dem Schreiben konstituiert, führt die Episode den italienischen LeserInnen die Verwobenheit Italiens mit Äthiopien als Teil ihrer ›Identität‹ vor Augen, exemplifiziert an der Figur des Übersetzers Antonio: Wiederholung und Übersetzung in andere(n) kulturelle(n), sprachliche(n) oder mediale(n) Kontexte(n) bedeuten stets Hybridisierung, wie Bhabha (1994; 2000) gezeigt hat. Durch den Prozess des Übersetzens – in der Romanepisode der schriftlichen Wiederholung der mündlich diktierten Briefe – dringt das bisher abgelehnte ›andere‹ Wissen in die dominanten Diskurse ein, dekonstruiert in Konsequenz Antonios ›Identität‹ als ehemaliger Kolonisator und legt zugleich die Hybridität seiner ›Identität‹ offen. Wie in den Romananalysen dieser Dissertation mehrfach herausgestellt wird, machen die Texte die Subjektkonstitution über das Schreiben in der Sprache ›des Anderen‹ wiederholt zum Thema: Handelt es sich beispielsweise in ­O ltre Babilonia um postkoloniale Subjekte, die in italienischer Sprache ihre Erzählungen vermitteln und dabei ihre ›Identität‹ neu entwerfen, kehrt Regina di fiori e di perle im letzten Binnenfragment dieses Sujet um und inszeniert anhand der Figur Antonio die hybride Subjektkonstitution eines Bewohners der einstigen kolonialen Me­ tropole. Als postkoloniales Ich konstituiert sich Antonio im Akt des Schreibens in amharischer Sprache, welcher zwischen beiden Welten vermittelt, Grenzen auf hebt und seine transkulturelle ›Identität‹ sichtbar macht (cf. Gronemann 2002, 18f.; Richter 2008, 155). Die Erzählung sucht und schafft dadurch einen ›Raum‹ des Kontakts: Erscheint das Unbekannte bei Freud noch unbegreiflich und unheimlich, weil als Un-Erkennbares oder Un-Heimliches wahrgenommen, wird hier erzählerisch die Möglichkeit inszeniert, die Angst vor ›dem Anderen‹ zu entkräften, indem das eigene Selbst als schon immer vom ›Anderen‹ durchdrungen (an-)erkannt wird (cf. in Anlehnung an Derrida Waldenfels 1998, 55). Durch eine Verschiebung der Perspektive oder des Blicks auf das eigene Selbst liegt ›das Fremde‹ oder ›Ferne‹ also nicht mehr an der Peripherie, sondern wird zu etwas Bekanntem. Der Roman erweitert oder verschiebt insofern die Grenzen des Diskurses, als er sozusagen dessen ›Ränder‹ (diskursiv) zentralisiert und dadurch den Leser­Innen einen neuen Blick auf sich selbst respektive eine veränderte Selbstwahrnehmung ermög-

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licht. Relativiert Antonio zunächst noch die Gegenerzählung Bekelechs über den antikolonialen Widerstand und verteidigt sein einseitiges Geschichtsbewusstsein,34 gesteht er schließlich die Unwahrheit seiner eigenen Schilderungen und bestätigt die historisch verfälschte Darstellung des Äthiopienkrieges in der italienischen Historiografie. Auch erkennt er die Erfolge des äthiopischen Widerstands an; die vergleichsweise geringe Zahl an getöteten italienischen Soldaten erklärt sich mitunter dadurch, dass die gefährlichsten und blutigsten Militäroperationen von den Ascari ausgeführt wurden. Am Ende hatten die »bravi colonizzatori« (De Vivo 2013, 134) entsetzliche Gräueltaten begangen: »[…] Dunque, ti ho sempre detto che con la vostra resistenza erano solo scaramucce. Non ti ho detto la verità. […] In Italia credevano che l’Etiopia fosse tutta nelle nostre mani. Nessuno sapeva che oltre i due terzi del paese era nelle mani della vostra resistenza. Quindi non si sarebbe saputo come giustificare delle morti di italiani senza rivelare la menzogna. Potevano morire gli ascari, tutti quelli che c’erano, ma gli italiani no.« (Ghermandi 2007, 230)

In der Schlussszene schlägt Bekelech eine gemeinsame Reise nach Äthiopien vor, eine Einladung, die Antonio jedoch vehement ablehnt. Als sie insistiert, »›E perché? – chiesi con un tono spigoloso. – Perché non siamo più una vostra colonia?‹« (Ghermandi 2007, 231), antwortet Signor Antonio aus einer veränderten Perspektive der Selbstwahrnehmung: »No Bekelech. Ti ho mentito anche su questo. Non vengo perché non riuscirei a guardare in faccia nessuno. In tutti questi anni, riflettendo su tante cose, tanti fatti accaduti mentre ero lì, ha iniziato a sorgere in me una grande vergogna. Bekelech, io mi vergogno. Mi vergogno di ciò che il mio paese ha fatto al vostro.« (Ghermandi 2007, 231) 35 34 | Cf. folgende Textpassage in diesem Zusammenhang: »Il signor Antonio, come una cipolla, si tolse strato dopo strato, arrivando al cuore morbido di quel suo incredibile legame con la nostra terra. Era proprio un malato d’Etiopia. Però c’era un argomento che non voleva mai toccare. Quando gli chiedevo della nostra resistenza, dei nostri arbegnà. Allora il mal d’Etiopia passava. Di colpo diventava un vero patriota italiano. ›Bekelech – diceva con enfasi – cosa vuoi potessero fare qualche migliaio di disgraziati contro il nostro esercito? Un esercito ben equipaggiato. Un esercito europeo del XX secolo? Giusto far esplodere piccole scaramucce senza grandi conseguenze‹.« (Ghermandi 2007, 229) 35 | Diese Szene inspiriert sich an der Biografie zwei realer, allerdings einander unbe­ kannter Personen, die Gabriella Ghermandi interviewte und deren Geschichten sie hier fiktionalisiert. In der Erzählung Incrociandosi per strada (2006) rekonstruiert die Autorin jenes zufällige Treffen mit einem älteren Herrn im Säulengang von San Luca in

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Mit diesen Worten unterläuft ›der ehemalige Kolonisator‹ selbst seine ›Identität‹ und legt die Fiktionalität einer einseitig konstruierten Geschichtsauffassung offen. Nicht ›die Subalternen‹ sind in postkolonialen Erinnerungsdiskursen sprachlos, sondern das Hören erweist sich als hegemonial strukturiert, und in der Tat bildet die Praktik des ausführlichen geduldigen Zuhörens in wechselseitigem Respekt für ihre jeweiligen Geschichten die Voraussetzung für die Beziehung zwischen Woizero Bekelech und Signor Antonio (cf. Spivak 1988 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 78). Identifikation basiert in der dargestellten Begegnung auf Solidarität und nicht auf einer Projektion des Ichs auf das Du. Woizero Bekelech und Signor Antonio vereinnahmen den ›Anderen‹/ die ›Andere‹ nicht mit eigenen Kategorien, vielmehr respektieren sie einander um ihrer selbst willen. Insofern sich die Freundschaft beider Charaktere auf dem interessierten Austausch von Geschichten gründet, liegt die Voraussetzung für Identifikation im Erzählen der eigenen Geschichte und simultan im Zuhören der Geschichte des Gegenübers. Die detaillierten Erzählungen ihrer Gleichheit und Differenzen, ihrer Eigenarten und Gemeinsamkeiten werden gehört und reflektiert, aber nicht um den ›Anderen‹/die ›Andere‹ dem eigenen Denken anzueignen, sondern um daraus zu lernen, sich selber besser zu verstehen. In dieser Metapher wird die ehrliche Begegnung mit der Vergangenheit und deren Anerkennung zum Fundament für das Projekt von Solidarität in der Gegenwart (cf. Coburn 2013, 102, 111). Eine zentrale Funktion des Vergangenheitsbezugs im Rahmen kollektiver Gedächtnisse ist Identitätsbildung: Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und konstruieren über die Generationenfolge hinweg eine ›Identität‹, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden (cf. Halbwachs 1991 zit. in Erll 2005, 16). Jan Assmann zufolge (1988, 16) wird eine Gesellschaft in ihrer kulturellen Überlieferung für sich und für andere sichtbar. Welche Vergangenheit eine Gesellschaft in ihrer kulturellen Überlieferung manifest werden und hervortreten lässt, sagt etwas darüber aus, worauf sie hinaus will. Als postkolonialer Roman repräsentiert Regina di fiori e di perle demnach eine Erinnerungsgattung oder Darstellungsform von Vergangenheit mit dem Interesse, die hegemoniale Erinnerungskultur zu aktualisieren. Angebahnt durch Abba Yacobs Geschichte und die erzählerische Verortung der Jugendjahre Mahlets im Kontext des Derg, verstärkt die letzte Binnennarration Bologna, der sich als Carlo Catalano vorstellt, als Offizier der italienischen Armee neun Jahre in Äthiopien verbracht hat und noch im Alter ein starkes Gefühl der Nostalgie für das Land am Horn von Afrika empfindet. Auf die Frage Gabriella Ghermandis, warum er denn nicht nach Äthiopien zurückkehre, antwortet er schließlich, »non ci torno perché dopo tutti questi anni mi vergogno pensando a quello che è stato, mi vergogno di quello che il mio popolo ha fatto al vostro e non riuscirei a guardare in faccia nessuno« (Comberiati 2011b, 150) – ein Bekenntnis, das die Schriftstellerin nahezu wortwörtlich in ihren Roman transferiert.

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

die ethische Wirkungskraft des Textes durch eine differenzierte Repräsentation, die koloniale wie postkoloniale Machtdiskurse auf bricht und gleichzeitig eine Ordnung des ›Friedens‹ imaginiert, die in der solidarischen Annäherung zwischen ›Selbst‹ und ›Anderem‹ gefunden werden kann (cf. Bouchard 2013, 298). Insofern stellt Antonios Eingeständnis am Ende seiner Erzählung symbolisch einen potenziellen Ausgangspunkt für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der italienischen Kolonialgeschichte dar und verweist auf die Möglichkeit der Produktion eines ›Raums‹ der Interaktion oder neuer diskursiver Räume.

II.3 B ildungsroman und › neue R äume ‹ Im Kontext einer literarischen Inszenierung kolonialer und postkolonialer Geschichte als italoäthiopische Verflechtungsgeschichte evoziert der Titel Regina di fiori e di perle das Bild der Königin von Saba – in der kolonialen Imagination des Westens ein Symbol exotischer Eroberung. Edward Said wies auf die der kolonialen Erfahrung inhärenten exotischen wie auch erotischen Stereotype orientalischer Frauen hin. Gregoria Manzin interpretiert den Buchtitel daher als Anspielung auf einen Akt der Wiederaneignung dieser im kolonialen Diskurs konstruierten Trope: Die Königin von Saba ist bekanntermaßen eine zentrale Figur im kulturellen Gedächtnis Äthiopiens; das Kebra Nagast (Ruhm der Könige) berichtet von Makeda, der Mutter des ersten äthiopischen Kaisers Menelik und Geliebten König Salomons, Meneliks Vater. In Regina di fiori e di perle tradiert Mahlet durch die Erfüllung ihres Versprechens die jüngere Geschichte Äthiopiens, sie wird zum Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses, »a renewed Queen of Sheba bringing to Italy a story in which the histories of the Ethiopian and the Italian peoples are intrinsically intertwined with each other« (Manzin 2011, 115). Aus dieser Perspektive verweist der suggestive Titel auf den transnationalen Charakter des Romans; die junge Frau repräsentiert die ›Königin des Erzählens‹, die die seit langem verdrängte koloniale Geschichte nach Italien transferiert (cf. Manzin 2011, 114f.). Insofern es der Hauptfigur darum geht, die Erinnerungen der Zeitzeugen nicht nur zu sammeln, sondern weiterzugeben, sie somit einen Transformationsprozess von der Zuhörerin zur Erzählerin durchläuft, handelt es sich bei Regina di fiori e di perle hinsichtlich des Genres um einen postkolonialen Bildungsroman.36 Mahlets innere Konflikte resultieren mitunter aus dem Ver36 | Als literaturwissenschaftliche Kategorie bezeichnet der Begriff »Bildungsroman« einen im späten 18. Jahrhundert in Deutschland entstandenen Romantypus, »in dem der Bildungsgang eines jugendlichen Protagonisten zumeist von der Kindheit bis zur

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such, zwischen zwei Imaginationen ›der Anderen‹ zu vermitteln, dem Blick von Äthiopien auf Italien und umgekehrt. Zudem findet sie in der von ihr fortlaufend erzählten Geschichte selbst einen Raum der Repräsentation: Die wiedergefundene Erinnerung an das vergessene Versprechen ihrer Kindheit ermutigt die erwachsene Mahlet zu schreiben und als cantora bringt sie nun ihre Erzählung in das Land, das sie während ihrer Studienjahre entdeckt – Italien (cf. Manzin 2011, 121). Die literarische Tradition des Geschichtenerzählens bildet somit nicht nur das zentrale Erzählverfahren des Romans, sondern auch den Kern der Identitätskonstruktion der Protagonistin. Die erzählten Geschichten verknoten Mahlets kulturelle ›Identitäten‹, die ein enges Geflecht zwischen Äthiopien und Italien erkennen lassen, und werden gleichzeitig von der Erzählerin zu einer Narration verwebt; Mahlets Geschichte funktioniert somit als Dispositiv, das einer Vielzahl an Stimmen einen ›Raum‹ der Repräsentation bietet. Die relationale Dynamik des kulturellen Gedächtnisses entfaltet sich in Regina di fiori e di perle sowohl auf Figurenebene, zwischen Mahlet und den intradiegetischen Erzählinstanzen, als auch zwischen den verschiedenen Zeitlichkeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen im Roman in zirkulärer Wechselbeziehung – und Räumen, wird der Protagonistin durch die in Giorgis tradierten Geschichten das Vergessen und Verdrängen der kolonialen Vergangenheit in Italien ebenso bewusst wie die anhaltende Konstruktion des Stereotyps vom wohlmeinenden Kolonisator und eines humanen Kolonialis­mus (cf. De Vivo 2013, 136f.). Stabilisierte der fehlende Prozess der Dekolonialisierung in der italienischen Kultur und Gesellschaft solcherart Stereotype, wird Mahlet diesen nun mit ihrem neu erworbenen Geschichtsbewusstsein, das ihr Handlungsfähigkeit verleiht, begegnen. In einem Gespräch mit ihrem Vater formuliert sie die Notwendigkeit einer Dekolonialisierung der in Italien vorherrschenden Geschichtsauffassung und artikuliert ihre Kritik am Paternalismus:

Berufsfindung oder Berufung zum Künstler thematisiert wird« (Gutjahr 2007, 7). Gat­ tungstypologisch erzählen Bildungsromane im Allgemeinen die ­­E nt ­w ick­lungs­g e­s chich­te von jugendlichen ProtagonistInnen bis ins Erwachsenenalter als Weg der Selbst­ fin­dung und der sozialen Integration. Der Bildungsgang gleicht dabei einem Reifungs­ prozess der Hauptfigur: »Nach den Kinder- und Jugendjahren unter spezifisch häuslichen Bedingungen und Erziehungsforderungen folgen Jahre der Welterkundung, in denen es durch Wanderschaft oder Reisen zur Begegnung mit bisher unbekannten so­ziokul­tu­ rellen Kontexten kommt.« (Gutjahr 2007, 8) In Bildungsromanen ist die nar­rative Dar­ stellung des Reifungsprozesses einer/s ProtagonistIn konstitutiv und die Frage nach Bildungsmöglichkeiten in kulturell innovativem Sinne zentral. Somit ist ein Bildungsroman sowohl ein Text über die Bildung der Hauptfigur als auch über die Möglichkeiten von Bildung und kulturellem Wandel in Gesellschaften (cf. Gutjahr 2007, 14).

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle »›A Giorgis in tutti questi giorni, mentre attendevo Abba Chereka, ogni mattina qualcuno è venuto a raccontarmi del tempo degli italiani!‹. ›E …‹, incalzò lui. ›E …! In Italia sono convinti di essere passati di qui in gita turistica e di aver abbellito e ammodernato il nostro paese pidocchioso con strade, case, scuole. Non sai quante volte me lo sono sentito dire‹. ›E tu che ne pensi?‹, chiese lui. ›Cosa vuoi che ne pensi! Non ho mai ­r isposto perché non sapevo come obiettare, ma oggi so cosa direi. Tutto ciò che hanno costruito lo abbiamo pagato. Anzi, abbiamo pagato anche le costruzioni dei prossimi tre secoli. Con tutti quelli che hanno ammazzato, ne avrebbero di danni da pagare!‹, e mentre parlavo sentii che un fuoco di rabbia mi si accendeva nello stomaco. Stentavo io stessa a riconoscermi. […] ›È passato, ma non tanto da non riparlarne. Bisognerebbe dargli la nostra versione dei fatti‹, risposi ora più quieta.« (Ghermandi 2007, 198)

Wut und der Wunsch, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zur Sprache zu bringen, motivieren Mahlet, die ihr erzählten Geschichten zu speichern. Im Textzitat widerspricht sie entschieden der Illusion einer von Italien während der Kolonialzeit finanzierten Modernisierung Äthiopiens mit Straßen, Krankenhäusern und Schulen, sei doch für jedes einzelne Bauwerk bezahlt worden und angesichts der begangenen Verbrechen hätte Italien geradezu Schäden zu ersetzen. Ihre Worte illustrieren das destabilisierende Wirkungspotenzial der Narration, die sich in ihrer Neuperspektivierung der historischen Ereignisse – im Gegensatz zu der in Italien verbreiteten Geschichtsversion – auf Erzähldokumente von Zeitzeugen stützt, »che [conferiscono] autorevolezza storica al testo« (Camilotti 2012, 130). Tradiert die Protagonistin als Griotte das Wissen von Generationen, also das historisch Entfernte, berichtet sie als transkontinentale Reisende über das Leben anderswo, also das geografisch Entfernte, somit trägt sie Züge der Erzählertypen nach Walter Benjamin, demzufolge die ›Handwerkerin‹, hier die Schreibende, schließlich beide Eigenschaften in sich vereinigt: Als wandernde Grenzgängerin sammelt Mahlet ›Welterfahrung‹ und als ›Königin des Erzählens‹ verfügt sie über Traditionswissen (cf. Lubkoll 2008, 387). Schlussendlich ist die Protagonistin in der Lage, gegenüber den AdressatInnen der gesammelten Geschichten ihre komplexe ›Identität‹ selbstreflexiv zu äußern. Sie setzt ihre kulturelle Hybridität dazu ein, »die soziale Vorstellungswelt der Metropole und der Moderne zu ›übersetzen‹ und dadurch neu einzuschreiben« (Bhabha 1997, 131), weshalb sie als Schwellenfigur oder »Grenzlage« (Bhabha 1997, 139) charakterisiert werden kann. Im Bereich des darüber Hinausgehenden zu leben, meint Homi Bhabha zufolge einen diskursiven Zwischenraum zu erkunden; in diesem Sinne wird der Zwischenraum des ›Darüber Hinaus‹ zu einem Raum der Intervention im Hier und Jetzt, u.a. um die gemeinsame Geschichte von einem gegenwärtigen Standpunkt aus neu mit Bedeutung aufzuladen (cf. Bhabha 1997, 131). Das Politische wird von Bhabha demnach in den wechselnden, teils unbewussten, affektiven Bereichen des ›Dazwischen‹ (in-between) der domi-

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nanten und dominierten Kulturen oder präziser der ›Zentren‹ und ›Ränder‹ von Machtdiskursen lokalisiert. In diesen Zwischenräumen lassen sich psychische Identifikationen und politische Neuverhandlungen beobachten (cf. Castro Varela/Dhawan 2005, 98). Die Protagonistin in Regina di fiori e di perle fügt in ihrer Vertextung der überlieferten Geschichten und Erinnerungen die Fragmente des äthiopischen kollektiven Gedächtnisses zusammen und konfrontiert gleichzeitig die italienischen LeserInnen mit einer kritischen Repräsentation der kolonialen Geschichte, die sie aus ihrem kulturellen Zwischenstatus heraus neu verhandelt. Für meine abschließende Argumentation beziehe ich mich auf Michel de Certeaus Raumbegriff, der zunächst zwischen Ort und Raum unterscheidet;37 ein ›Raum‹ entsteht de Certeau zufolge, wenn »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit« (de Certeau 1988, 218) in Verbindung gebracht werden. Der ›Raum‹ wird somit verstanden als ein Geflecht von beweglichen Elementen und als durch Interaktion produziert. Die Bestimmung eines ›Raumes‹ besteht demnach in einer Äußerungsproblematik, die nicht von einem dialogischen Prozess zu trennen ist. »Dadurch entsteht ein dynamischer Gegensatz zwischen jeder Grenzsetzung und ihrer Veränder­ lichkeit.« (de Certeau 1988, 232) Narrationen ziehen unentwegt Grenzen, als Interaktionen zwischen Charakteren und Dingen: Die Handelnden teilen sich Orte, Eigenschaften und Bewegungen. Grenzen bilden sich aus feinen Differenzierungen infolge von Begegnungen und Berührungen. Da sie durch Kontakte erzeugt werden, sind die Grenzen oder Differenz­punkte zwischen zwei Körpern zugleich auch ihre Berührungspunkte. Nach de Certeau sind Erzählungen »Durchquerungen des Raumes« (de Certeau 1988, 215), also des Handlungsspielraums, dessen Grenzen sich entsprechend der Begegnungen zwischen den Figuren und ihrer Interaktionen verschieben (cf. de Certeau 1988, 233, 236). Dies bedeutet, (metafiktionale) Erzählungen funktionieren

37 | Als »Ort« bezeichnet Michel de Certeau die Ordnung, »nach der Elemente in Ko­e xis­ tenzbeziehungen aufgeteilt werden« (de Certeau 1988, 217f.). Damit wird – klas­sisch strukturalistisch – »die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an der ­s elben Stelle befinden« (de Certeau 1988, 218). Die einzelnen Elemente werden neben den anderen angeordnet, jedes nimmt seinen ›eigenen‹ und diskreten Bereich ein, den es definiert. Ein Ort lässt sich demnach als »eine momentane Kon­s tellation von festen Punkten« (ibid.) beschreiben. Der »Ort« im Sinne de Certeaus entspricht dem »geometrischen Raum« bei Merleau-Ponty. Die Unterscheidung in einen »geometrischen« und »anthropologischen« Raum wurde von Merleau-Ponty getroffen, um »die ›geometrische‹ Eindeutigkeit von der Erfahrung eines ›Außen‹ zu trennen, die in Form des Raumes vorgegeben ist« (de Certeau 1988, 219, in Anlehnung an Merleau-Ponty 1964). Diese Erfahrung repräsentiert »das Verhältnis zur Welt« (ibid.).

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

wie Grenzzeichen und machen die (potenzielle) Veränderbarkeit von ›Raum­ wahrnehmung‹ deutlich. Die intradiegetischen Erzählinstanzen in Regina di fiori e di perle beschreiben in ihren Geschichten in erster Linie den äthiopi­ schen Widerstand gegen die italienische Okkupation, wobei sie die kolonialen Machtverhältnisse sowie die diskursiven Grenzziehungen und Fremdbilder dekonstruieren und die für den Kolonialismus charakteristische binäre Opposition von Eigenem und Anderem auflösen. Da jede Beschreibung zugleich auch »ein kulturell schöpferischer Akt« (de Certeau 1988, 228, in Anlehnung an Lotman 1976) ist, schafft die performative Dimension der Binnenerzäh­ lungen neue (soziale, kulturelle) Räume, bestätigt, unterläuft, verschiebt oder verän­dert Grenzen und legt zudem die Vielschichtigkeit der kolonialen Kulturenkontakte frei. Die kulturelle Praktik des Erzählens öffnet also Potenziale, um Raumwahrnehmung zu verändern; durch die Verflechtung der erzählten Geschichten ist die Protagonistin in Regina di fiori e di perle nicht nur in der Lage, ihre transkulturelle ›Identität‹ anzunehmen, sondern auch diskursiv konstruierte Grenzziehungen und damit Grenzen wie eben jene zwischen ehemaliger Metropole und Kolonie oder zwischen Erinnern und Vergessen zu verschieben und aufzuheben. In diesem Sinne ist die Grenze »ein erzählerisches Symbol des Austausches und der Begegnungen« (de Certeau 1988, 234); eine Grenze ist demnach auch ein Über­gang. Die Brücke etwa steht als Überschreitung einer Grenze symbolisch für »Auf ­bruch, die Auflösung eines Zustands, den Erobe­r ungswillen einer Macht oder die Flucht ins Exil [sowie die Subversion] einer Ordnung« (de Certeau 1988, 235). In Regina di fiori e di perle fungiert Mahlets Erzählung als Brücke zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole: Revidiert ihre Erzählung zum einen die verharmlosende Geschichtsauffassung des Kolonialismus in der offiziellen italienischen Historiografie, artikuliert sie zum anderen Positionen eines bislang marginalisierten Wissens und stellt hegemoniale Diskurse sowie Machtverhältnisse subversiv infrage. Die individuellen Erinnerungen werden in Regina di fiori e di perle in der Begegnung zwischen den verschiedenen Figuren diskursiv zugänglich gemacht: Nicht nur Abba Yacob vertraut Mahlet in seinem Begehren nach Repräsentation und Anerkennung seiner ›Identität‹, auch im zweiten Teil des Romans bewegen sich die Figuren auf die Protagonistin zu mit dem Wunsch zu erzählen. Die Einbettung eines Erinnerungsaktes in narrative Strukturen ist gleichbedeutend mit dessen Erzählung und insofern ein performativer Akt, denn in der geteilten Erinnerung wird evident, dass sich Gedächt­ nis nicht einfach auf die individuelle Psyche begrenzt, sondern sich in der Gesell­schaft, in der das traumatisierte Subjekt lebt, konstituiert. Über eine zweite Person, die gewissermaßen die Erzählung bezeugt, wird der Erinnerungsakt Aus­tausch und Relation (Bal 1999 zit. in de Vivo 2013, 137ff.). In der oralen Erzähl­tradition repräsentiert die individuelle Stimme ein relationales

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Element, das als politische Handlung betrachtet werden kann; auch in fingierten münd­lichen Erzählungen wird die Stimme, angesichts ihrer Funktion zu sprechen, zu einem Instrument des Handelns (cf. Manzin 2011, 120). Die letzten Seiten des Romans zeigen eine Protagonistin im Begriff zu schreiben: Für Mahlet bedeutet der Prozess des Schreibens der tradierten Erinnerungen über die koloniale Vergangenheit eine Strategie der Bewältigung ihrer Trauer über Yacobs Tod sowie ihrer Identitätskrise, auch überwindet sie ihren Gedächtnisverlust. Durch die Verschriftlichung der Binnenerzählungen legt Mahlet über­dies ihre eigene Geschichte dar, die sie als cantora ausweist: Sie vermittelt kollektive Geschichte in einer metaleptischen Vermischung der Textebenen an die Kollektivität der italienischsprachigen LeserInnen, die am Ende des Romans explizit angesprochen werden, wie schon im ersten Teil dieser Text­analyse erläutert wurde. Das Schreiben der mündlich erzählten Geschichten fungiert als Mittel der Wiederaneignung sozialer Räume und schafft die diskursiven Voraussetzungen für die Verschiebung von Grenzen und eine veränderte Raum­wahrnehmung. Schien es zunächst, dass die Geschichte, die sich weigert vergessen zu werden, jene Äthiopiens ist, erschließt sich den LeserInnen bei genauerer Betrachtung: Es ist ebenso jene Italiens. Für die Rekonstituierung kolonialer Erinnerung sowie des kollektiven ­Gedächtnisses zielt Regina di fiori e di perle auf ein dialogisches Zusammenwirken von Erzählerin und Leser­In: Wie zuvor skizziert wurde, ist ›der Raum‹ Michel de Certeau zufolge ein Geflecht von beweglichen Elementen, ein Effekt von Hand­lungen oder Inter­aktionen; im Verhältnis zum Ort entspricht ›der Raum‹ einem Wort, das ausgesprochen wird, oder einem Ort, der Gegenstand einer Praxis geworden ist. Demnach entspricht ein Zeichensys­ tem – der literarische Text – einem Ort, während ein Raum durch den praktischen Umgang – die Lektüre – entsteht (cf. de Certeau 1988, 218). Wie de Cer­teau erläutert, kommt Transportmitteln (griech. metaphorai) die Funktion der Raumorganisation zu; ähnlich funktionieren Erzählungen als ›Bewegungen des Raums‹; anders gesagt repräsentieren Erzählungen Potenziale für eine veränderte Raumwahrnehmung der LeserInnen (cf. de Certeau 1988, 215ff.). Hier geht es – metaphorisch – um die Übertragung von Bedeutung. Dies meint, der Text (analog zum Ort) ist das Transportmittel, transportiert oder überträgt medial Signifikanten (das Bedeutende, die Zeichensymbole). Erzählungen transportieren also Signifikanten, ohne jemals Sinn zu fixieren (cf. die Bhabha’schen Treppenhäuser). Erst in der Lektüre kristallisiert sich Bedeutung (also ›Raum‹). Erzählungen organisieren somit das Spiel der w ­ echselnden Beziehungen zwischen Orten und Räumen oder Text und Lektüre (cf. de Certeau 1988, 220). In diesem Sinne ist ›der Raum‹ von den LeserInnen bewohnt, in deren Lektüre sich die Polysemie des Textes kristallisiert. Aus dem »Untergrund des Diskurses« (Eagleton 1997, 127) verhandeln postkoloniale Erzählungen somit die Strukturen der Sprache und inszenieren

Gabriella Ghermandi – Regina di fiori e di perle

Positionen des Widerständigen. Die Rückkehr dieses ›anderen‹, verdrängten Wissens in das Zentrum des Macht­diskurses fordert etablierte Hierarchien und Hegemonien heraus und setzt auf die sowohl textuelle als auch ethische und transkulturelle Kooperation kritischer LeserInnen.

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III. »Bleiben ist nirgends. Restare è senza dove.«1 Stationen einer italosomalischen Odyssee: Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola

Spielte die koloniale Expansion in Ost- und Nordafrika für die Positionierung Italiens als eigenständige europäische Nation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine wesentliche Rolle, treffen Erzählungen der Kolonialgeschichte jenseits der offiziellen Historiografie einen empfindlichen Nerv im nationalen Selbstverständnis und im kollektiven Gedächtnis, wie der im vorangegangenen Kapitel analysierte Roman Regina di fiori e di perle von Gabriella Ghermandi aufzeigt. Ein weiteres aktuelles Beispiel des wachsenden Interesses für das Thema des ›(Post-)Kolonialismus‹ in der italienischen Erzählliteratur stellt der 2012 erschienene Roman Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola dar. Die zeitgenössische literarische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen repräsentiert zum einen »un fenomeno culturale e letterario che non è ormai più possibile ignorare o sminuire« (Brioni 2013, 112), zum anderen weist dieses Interesse für koloniale und postkoloniale Fragen auch eine politische Konnotation auf, bildete es sich doch im Kontext von Protesten gegen die Diskriminierung von MigrantInnen und die Beteiligung Italiens an den militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan heraus – Wu Ming 2 bemerkt hierzu: »raccontare il passato significa sempre evocare interrogativi sul presente. Mettere in scena l’impresa coloniale italiana vuol dire fare i conti con il razzismo e il colonialismo di oggi.« (Wu Ming 2 2008 zit. in Brioni 2013, 110) Der in diesem Kapitel untersuchte Roman Timira fiktionalisiert eine bis­ lang marginalisierte Vergangenheitsversion der italosomalischen Kolonialge1 | Cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 130. Der Vers ist der ersten Duineser Elegie (1912) Rainer Maria Rilkes entlehnt, die Übersetzung übernehmen die Autoren von Ranchetti/Leskien (2006), wie im Nachspann angemerkt.

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schichte und der Amministrazione Fiduciaria Italiana della Somalia (AFIS) der 1950er Jahre sowie der postkolonialen politischen Verflechtungen und verwebt diese erzählerisch mit der Familiengeschichte der zentralen Figur Isabella Marincola über drei Generationen. Im Text verschränken sich persönliche mit kollektiver Erinnerung, Familiengedächtnis mit Geschichtsschreibung, Archiv­material mit Fiktion. Die im Folgenden vorgeschlagene Romananalyse entfaltet sich in drei Schritten: Zunächst werden jene metafiktionalen Elemente und narratologischen Gestaltungsmerkmale herausgestellt, welche Timira als romanzo meticcio auszeichnen, wie die Genrebezeichnung am Buchcover programmatisch lautet. Der zweite Teil fokussiert die Textualität von Geschichte bzw. historiografischer Repräsentationen und legt anhand des Textes dar, wie postkoloniale Erzählungen das narrativ organisierte Geschichtsbewusstsein performativ zu verändern suchen, bevor schließlich im dritten Abschnitt die Lebensstationen der Protagonistin Isabella/Timira in Relation zu ihrer Identitätsbildung gesetzt werden und der Roman als engagierte Literatur im Stil der New Italian Epic beschrieben wird.

III.1 R omanzo meticcio : M e tanarr ativität und ›G enrekonvention ‹ Wie der Buchuntertitel und der Klappentext informieren, handelt es sich bei Timira in gattungsspezifischer Hinsicht um einen romanzo meticcio, einen »hybriden Roman«, der durch kollektives Schreiben entstand, »[s]critto da un cantastorie italiano dal nome cinese, insieme a un’attrice italosomala ­ottantacinquenne e a un esule somalo con quattro lauree e due cittadinanze« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, Klappentext). Publizierte Wu Ming 2 bereits mehrere Bücher,2 ist Timira Antar Mohamed Marincolas erster Roman. In Mogadishu geboren, lebt Antar Mohamed Marincola seit 1983 in Italien, seine Erstsprache ist Italienisch, ebenso seine Staatsangehörigkeit, 2 | Wu Ming 2 verfasste als Teil des Schriftstellerkollektivs Wu Ming u.a. die Romane Asce di guerra (2000, gemeinsam mit Vitaliano Ravagli), 54 (2002), Manituana (2007), Altai (2009), L’armata dei sonnambuli (2014), L’invisibile ovunque (2015), Cantalamappa (2015), Il ritorno di Cantalamappa (2016) sowie unter dem Pseudonym Luther Blissett den Erfolgsroman Q (1999), außerdem den Text New Italian Epic (2009). Weitere Romane von Wu Ming 2 sind Guerra agli umani (2004), Il sentiero degli dei (2010) und Il sentiero luminoso (2016). »Wu Ming« bedeutet auf Mandarin »ohne Namen«; die jeweilige Ziffer bezieht sich auf die einzelnen Mitglieder des Schriftstellerkollektivs in alphabetischer Ordnung, so verbirgt sich hinter Wu Ming 2 Giovanni Cattabriga (cf. http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]; http://www.wumingfoundation. com/italiano/libri.html [08.06.2017]).

Wu Ming 2 & Antar Mohamed Marincola – Timira

weshalb seine Zusammenarbeit mit Wu Ming 2 nicht mit jener zwischen den so genannten ›MigrationsautorInnen‹ und italienischen Ko-AutorInnen Anfang der 1990er Jahre verglichen werden kann, auf die im Einleitungskapitel verwiesen wurde. Diese Texte repräsentierten in erster Linie eine Antwort auf die politische Notwendigkeit, das Leben von MigrantInnen und Geflüchteten unter anderen Aspekten zu erzählen als die Massenmedien und deren häufig negative Darstellung von Immigration. Hatten die italienischen SchriftstellerInnen oder JournalistInnen bei diesen Kooperationen vor allem die Aufgabe, einen korrekten sprachlichen Ausdruck zu garantieren, während die Inhalte der Erzählungen von den ›MigrationsautorInnen‹ artikuliert wurden, gestaltete sich das Romanprojekt zwischen Antar Mohamed Marincola, Isabella Marincola und Wu Ming 2 gänzlich anders (cf. Brioni 2013, 93): Zunächst war es konzipiert »come lavoro a quattro mani« zwischen Isabella Marincola und Wu Ming 2, der über drei Monate Gespräche mit Isabella auf Band aufzeichnete, »[q]uindi la decisione di metterci a scrivere, il lavoro sulla scaletta, le discussioni su come e quanto romanzare la vicenda, cosa inventare e cosa no, quali episodi mettere sulla pagina« (Wu  Ming 2/­Mohamed Marincola 2012 zit. in http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]).3 Anfänglich intendierte Wu Ming 2, den Inhalt dieser Interviews eigenhändig in eine literarische Form zu bringen, jedoch erschien ihm dieses Vorhaben wie jenes eines Kolonisators: »[…] sono venuto alle tue coste come un europeo d’altri tempi, per trasformare le tue terre nella mia colonia« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 344). Formal wird diese in Timira akzentuierte 3 | Dem Romanprojekt ging eine etwa neunjährige Vorbereitungszeit voraus: Antar Mohamed Marincola lernte Wu Ming 2 im Jahr 2003 kennen und regte zunächst eine Narrativierung der Geschichte seines Onkels Giorgio Marincola, des vermutlich einzigen italosomalischen Partisans der Resistenza, an. Wu Ming 2 kontaktierte schließlich Isabella Marincola, um mehr über ihr Leben zu erfahren und es vergingen »tante ore di chiacchiere, interviste, pomeriggi passati insieme e registrati su nastro« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]) ohne klare Zielvorstellungen, bevor im September 2009 die Entscheidung fiel, »un romanzo a quattro mani« zu schreiben, und sie die ersten Kapitel skizzierten; cf. folgendes Textzitat, das den kollektiven Schreibvorgang schildert: »Abbiamo trascorso un anno a cercare la ricetta per un racconto comune: uno sbobina, l’altro corregge, uno ricerca, l’altro ricorda, uno inventa, l’altro contesta, uno legge, l’altro interrompe, uno scrive, l’altro riscrive. E poi scambiarsi libri, film, articoli di giornale e non disperarsi per un pomeriggio di lavoro insieme, conquistato e difeso tra mille impegni, e passato a discutere di politica, piedi gonfi, musica sinfonica ed eutanasia.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 346) Nach dem Tod seiner Mutter am 30. März 2010 trat Antar Mohamed Marincola an ihre Stelle als Ko-Autor, wodurch sich die Dynamik des Schreibprozesses änderte, nicht aber der Arbeitsmodus.

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Metanarrativität in vier Brieffragmenten an Isabella entfaltet, in denen Wu Ming 2 über seine Rolle als Teil des kollektiven Schreibprozesses reflektiert und Fragen der literarischen Repräsentation problematisiert, nach der Legitimität, jemand anderes Geschichte zu fiktionalisieren, also nach dem Verhältnis zwischen Schriftsteller und Protagonistin. Allen voran die Lettera intermittente n. 3 (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 342-346) thematisiert die Herausforderungen des Erzählens der Lebenserinnerungen einer Figur wie Isabella und die narrativen Strategien, die sich hierfür eignen, ohne ihre Geschichte zu vereinnahmen; die Vertextung durch die Autoren soll also Isabellas mündliche Erzählung nicht ›kolonialisieren‹.4 Isabella und Antar überzeugten Wu Ming 2 schließlich, »la scrittura e le fatiche, le lodi e gli insuccessi [a metà]« (ibid.) zu teilen; Isabellas Vita wird somit zum Gegenstand der Narration, während Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola als Autoren firmieren.5 Das kollektive Verfassen des Romans basierend auf den Erzählungen Isabella Marincolas sowie die partielle Interaktion konnten laut Wu Ming 2 vermeiden, dass Timira nicht eine problematische Darstellung geworden ist im Sinne von: »[L]a donna che porta una testimonianza di vita 4 | Die erwähnte Lettera intermittente n. 3 umschreibt den kollektiven Schreibprozess mittels einer Raummetapher: »Verrebbe da dire che l’unico modo per non essere colonialisti è quello di non sbarcare nemmeno, nella terra dell’altro, di non immischiarsi nei suoi affari: ma da qui a sostenere che ognuno deve stare a casa propria, il passo è breve, ed è un passo che la mia gamba rifiuta. D’altra parte, eravamo entrambi convinti che la tua terra avesse diritto a un posto sul mappamondo, e che naufraghi e naviganti in cerca di approdo avrebbero gioito nel trovarla dipinta sui loro portolani. Nondimeno, se avessi preso il mare e fossi tornato ai miei lidi – per star certo di non confondere esplorazione e conquista – tu di certo avresti lasciato perdere ogni cartografia. E non perché senza di me non saresti riuscita nell’impresa, ma perché non avresti voluto farlo da sola, come uno che salta la cena perché non ha voglia di cucinare, ma volentieri cucinerebbe, se si trattasse di mettersi a tavola con un amico.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 345f.) 5 | Warum auf dem Buchcover allein Wu Ming 2 und Antar Mohamed als Autoren angeführt sind, erläutert ersterer in einem Interview wie folgt: »Poi in copertina abbiamo scritto solo due nomi perché al momento di firmare il lavoro finito, l’autrice e protagonista Isabella Marincola/Timira Hassan non era più su questa terra, e non ci sembrava onesto attribuirle la co-responsabilità di uno scritto sul quale purtroppo non ha potuto dare un parere definitivo.« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]) Diese Entscheidung der Autoren scheint aus meiner Sicht nicht unproblematisch, wie auch Giuliana Benvenuti kritisch anmerkt: »Autori che in realtà sono tre, però in copertina ce ne sono scritti due, che sono due uomini, mentre la donna è la pro­t agonista del libro: questo mi ha posto qualche problema.« (Benvenuti 2012 zit. in http://www.wumingfoundation.com/giap/2012/07/timira-cut-n-paste/ [08.06.2017])

Wu Ming 2 & Antar Mohamed Marincola – Timira

e l’uomo esperto che la interpreta.« (Ibid.) Auch sollte dem Eindruck von »l’emarginato di pelle scura che può raccontare la sua storia solo indossando il costume del ›povero negro‹, per poi farsi prestare la voce da un ventriloquo di pelle bianca« (ibid.) entgegengewirkt werden, der womöglich entstanden wäre, hätte Wu Ming 2 den Roman allein verfasst. Somit teilten sich die Autoren den Schreibprozess auf: Wu Ming 2 gestaltete auf Basis der einzelnen Interviews mit Isabella ihre Erzählungen der Vergangenheit, während Antar über die rezenten Abschnitte des Lebens seiner Mutter schrieb. Wu Ming 2 ist sich kritisch bewusst, dass er als männlicher weißer Italiener und angesichts seiner literarischen Profession einen übermäßigen Einfluss bei der kollektiven Realisierung des Romanprojekts auszuüben riskiert, wie er explizit anmerkt: »Scrivere insieme, cinquanta e cinquanta, non è garanzia di nulla, e anzi può diventare lo schermo dietro il quale nascondere ulteriori soprusi, con l’aggravante della buona volontà.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 345) Diese metanarrativen Reflexionen über das kollektive Erzählen untermauern Simone Brioni zufolge die Wichtigkeit, Geschichten wie jener Isabellas Evidenz zu verleihen, auch um die rassistische und sexistische Diskriminierung früher wie heute zu demaskieren (cf. Brioni 2013, 95). Der programmatische Wille nicht allein über ›die Anderen‹, sondern kollektiv zu schreiben, verweist auf ein hybrides Gattungskonzept, und im Paratext legen die Autoren denn auch den kollektiven Charakter ihres Romans offen, indem sie dezidiert erklären: »Qualsiasi narrazione è un’opera collettiva.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 503)6 Timira fiktionalisiert also die Erinnerungen der wenige Monate nach Beginn des Romanprojekts verstorbenen Isabella Marincola, die aus der Perspektive einer Italienerin schwarzer Hautfarbe über sieben Jahrzehnte italosomalischer Geschichte von den Anfängen des Faschismus bis zum Ende des Kalten Krieges und dem Ausbruch der Unruhen in Somalia erzählt. Der Roman gliedert sich in drei Teile und entrollt eine auf zwei alternierenden Zeit­ebenen angelegte story, die als Abfolge relativ kurzer Episoden mit wechselnden Erzählperspektiven Gegenwart und Vergangenheit verschränkt: Vom fiktiven Zeitpunkt des Erzählens 1991/92 wird in Flashbacks Isabella Marin6 |  Zum hybriden Gattungskonzept von Timira bemerken die Autoren außerdem: »Tutti i romanzi sono meticci, proprio come gli individui. Eppure, così come ci sono persone che riescono a occultare questa loro caratteristica, allo stesso modo ci sono romanzi che negano la loro natura ibrida, che preferiscono non metterla in piazza. Questo, invece, è un romanzo programmaticamente meticcio, che dichiara di esserlo fin dalla copertina, che poteva presentarsi ai lettori solo rivendicando una lingua, una struttura e un autore esplicitamente ibridi. Ce lo imponeva la vicenda, anch’essa meticcia, che abbiamo raccontato.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012 zit. in http://www.scritturacollettiva. org [08.06.2017])

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colas Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit retrospektiv dargestellt. Die Handlung beginnt mit Isabellas Geburt 1925 in Mogadishu als außereheliche Tochter von Ashkiro Hassan (Aschirò Assan) und Giuseppe Marincola, zu jener Zeit Militäroffizier im kolonialisierten Italienisch-Somalia. Formal gestalten sich diese einleitenden Episoden über verschiedene in den Text montierte historische Archivmaterialien sowie einen fiktiven Brief Giuseppes an seinen Bruder Alberto und die in direkter Figurenrede berichtete Erzählung der Überfahrt von Mogadishu nach Neapel im Jahr 1927; hingegen werden die ab 1937 in Rom lokalisierten Episoden von Isabella als autodiegetische Erzählinstanz vermittelt. Giuseppe Marincola erkennt Isabella und den zwei Jahre zuvor geborenen Giorgio offiziell an und bringt seine beiden Kinder ins faschistische Italien. Verbringt Giorgio seine Kindheit bei Giuseppes Bruder in Kalabrien, wächst die kleine Isabella mit der Familie ihres Vaters in Rom auf, »tra odio e diffidenza o, nella migliore del­le ipotesi, curiosità« (Margara 2013, 129). Wie ihr Bruder besitzt auch Isabella die italienische Staatsbürgerschaft, obgleich sie aufgrund ihrer Hautfarbe zeitlebens diskriminiert wird. Als Erwachsene nennt sie sich Timira und wählt die italianisierte Version des Familiennamens ihrer Mutter »Assan«. Von Anfang der 1960er Jahre bis 1991 lebt Isabella in Mogadishu, bevor sie nach Ausbruch des Bürgerkrieges nach Italien zurückkehrt, wo sie die Erlangung des Flüchtlingsstatus aus politischen Gründen mit einer Vielzahl bürokratischer Hürden konfrontiert. Der episodische Bericht dieses mühevollen Neuanfangs in Italien bildet die Erzählgegenwart des Romans;7 die heterodiegetische Erzählinstanz dieser Textpassagen wendet sich zumeist in der zweiten Person Singular an die Protagonistin und beschreibt ihre Handlungen mittels Nullfokalisierung. Bei Timira handelt es sich somit nicht nur auf Grund der pluralen ›Autorschaft‹ um einen romanzo meticcio, sondern auch hinsichtlich der Erzählstruktur, der Figurenkonzeption, Erzählinstanzen, Plot und Sprache(n) sowie der zwischen den fiktionalen Erzählungen eingefügten faktualen Texte wie historischen Dokumenten, Archivmaterialien, Briefen und Fotografien. Mehrsprachigkeitsaspekte lassen sich tendenziell für die in Somalia verorteten Episoden stärker konstatieren: Wie in anderen postkolonialen Texten, etwa Il ­latte è buono oder Madre piccola, werden einzelnen Lexemen häufig somalische oder mit dem Italienischen hybridisierte Sätze, Syntagmen und idiomatische 7 |  Hinsichtlich der zeitgeschichtlichen Kontextualierung bemerkt Antar Mohamed Marincola in einem Interview: »Ci sembrava interessante porre l’accento sull’Italia di quel periodo: confusa, spiazzata dalla fine della Guerra Fredda e dall’inizio di Tangentopoli, spaventata dai profughi albanesi e dagli ›extracomunitari‹. In quest’Italia precaria, Isabella si ritrova profuga, anche se cittadina italiana, senza fissa dimora, Migrante da un tetto a un altro […].« (Ibid)

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Wendungen hinzugefügt (cf. Margara 2013, 156).8 In einigen Textabschnitten werden zudem verschiedene Dialekte inszeniert, so etwa Bolognesisch, das die von Isabella betreute Itala Venturoli spricht, oder das Sardische ihrer Stiefmutter Flora Virdis oder die Dialekte der Täler im Nordosten Italiens, wo Isabellas Bruder Giorgio als Partisan der Resistenza gekämpft hatte und wohin sie sich auf Spurensuche begibt. Die Verwendung von Dialekten trägt zusätzlich zu einer sprachlichen Hybridisierung bei und Wu Ming 2 spricht mit Blick auf die im Val di Fiemme/Fleimstal angesiedelten Episoden als »una sorta di grammelot fiemmese che nessun individuo parla davvero, in quelle zone« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.wumingfoundation.com/ giap/2012/07/timira-cut-n-paste/ [08.06.2017]). Dieses Erzählverfahren zielt demnach nicht primär auf einen Realitätseffekt, sondern evoziert ein Gefühl sprachlichen Fremdseins, um die LeserInnen »[lo] stesso spaesamento linguistico provato dalla protagonista« (ibid.) nachspüren zu lassen, wie folgender Gesprächsauszug zwischen Isabella/Timira und einem Barbesucher in Stramentizzo wirkungsvoll zeigt: »– Malendréta! Allora è per quello che parli bene la nostra lingua. La Somalia era nostra, sti agni, no? Ti l’às emparà a scola, l’italiano. – Perché, mi scusi, lei dove l’ha imparato? In famiglia?« (Wu Ming 2/Mohamed 2012, 151) Die am Ende des Romans angehängten Titoli di coda stellen ein paratextuelles Kennzeichen dar, das Genette zufolge die LeserInnen vor Missverständnissen bewahrt (cf. Genette 1992, 89): In der Tat informiert dieser Abspann detailliert über die unzähligen bibliografischen Quellen und intertextuellen wie intermedialen Zitate, präzisiert also das Vertextungsverfahren der Erzählung. Mehrere intertextuelle Referenzen in Timira beziehen sich auf im weitesten Sinne postkoloniale Texte der italienischen Literatur, z.B. auf Ennio Flaianos historischen Roman Tempo di uccidere (1947), der die Geschichte eines sich immer tiefer in Schuld verstrickenden italienischen Soldaten vor dem Hintergrund der kolonialen Invasion Äthiopiens fiktionalisiert; ein weiterer Querverweis zitiert den Roman Nuvole sull’Equatore (2010) von Shirin Ramzanali Fazel, der die Autoren für die Darstellung von Isabellas intern fokalisiert erzählter Raumwahrnehmung am Tag ihrer Ankunft in Mogadishu 1956 inspirierte, wie 8 | Die sprachliche Hybridisierung des Textes sei an folgenden Beispielen illustriert: »– Ecco. Ayaada waa hooyadada. Questa è tua madre, – disse ad alta voce, come per spezzare l’incantesimo […].« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 270) »Soprattutto sharmutta, puttana, un epiteto che ormai mi faceva l’effetto di un buonasera.« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 354) »– Lui era … – Si interrompe, richiama l’­a ttenzione di Abdeqassim. – See la dhihi kara? Nin … – e poi altre parole che scappano via. […] – Sì, lui era gentile, – conclude mia madre. – Però era anche madaax weeyne … – e di nuovo chiede aiuto al nipote, c’è un batti e ribatti, e alla fine Abdeqassim tira fuori la frase giusta.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 372f.)

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den LeserInnen in den Titoli di coda mitgeteilt wird (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 235, 516). Zudem begegnen in Timira intramediale Bezüge auf die somalische Literatur, beispielsweise in Form einer Sentenz zu Beginn des zweiten Teils oder vermittels einiger Dialoge und Reflexionen Isabellas9 oder das folgende Gedicht von Timiro Ukash, das den dritten und letzten Abschnitt des Buches eröffnet. Die LeserInnen erfahren in der Fußnote, dass die Dichterin für die Somali Youth League kämpfte und auf einer politischen Veranstaltung gegen die AFIS im August 1952 in Kisimayo als schwangere Frau verhaftet wurde und im Gefängnis eine Tochter zur Welt brachte: »Lascia che ci facciano la guerra e ci mettano sotto chiave lascia che ci brucino col fuoco e i proiettili, uomini e donne i pochi che resteranno, conquisteranno l’Indipendenza. Lascia che ci usino come portatori e che ci trattino come immondizia lascia che trattino i saggi della Lega come servitù. Finché l’Indipendenza per cui combattiamo non sarà reale non ci lasceremo turbare da quel che fanno gli italiani. [...].« (Ukash zit. in Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 349)

Inspiriert sich das Gedicht am unbestreitbaren Zorn von Timiro Ukash gegen die italienischen Kolonialherren, betont Wu Ming 2 die Wichtigkeit postko9 |  Cf. in diesem Zusammenhang folgenden Erzählerbericht der Protagonistin: »Imparai a strimpellare il banjo, poi feci a pugni col somalo, incapace di articolare certi suoni da carburatore ingolfato. Mi limitai alla grammatica, come si fa con il greco e le lingue morte, e il risultato fu l’assassinio di una lingua. La letteratura orale somala è ricca di leggende, favole e soprattutto poesie. Gabay, buraanbur, geeraar: ogni genere di composizione in versi ha le sue regole precise, basate sulla durata delle vocali e sulle allitterazioni. Donne e uomini se n’erano sempre serviti, e continuavano a servirsene, per protestare, corteggiare, lamentarsi. Ma io di tutto questo non sapevo nulla, lo avrei imparato solo molti anni dopo grazie a Bruna Galvani, l’italiana col passaporto della Repubblica somala. Mentre per me, mezza somala col passaporto italiano, le uniche poe­ sie degne di interesse erano quelle di Leopardi, García Lorca e Neruda.« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 358)

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lonialer Sichtweisen von Frauen, um die koloniale Expansion Italiens in Af­­rika präziser zu erfassen, »perché le colonie italiane furono per lo più ›colonie per ­maschi‹« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]), lebten dort doch vorwiegend Soldaten und Funktionäre und nur wenige Arbeiterfamilien. Daher sei es auch kein Zufall, dass die postkoloniale Literaturproduktion überwiegend der Feder von Schriftstellerinnen, allen voran Gabriella Ghermandi, Cristina Ubax Ali Farah, Igiaba Scego, Shirin Ramzanali Fazel oder Kaha Mohammed Aden zu verdanken ist. Neben den genannten intertextuellen Bezügen ist in Timira insbesondere das Theaterstück Lunga notte di Medea (1949) von Corrado Alvaro als signifikanter Referenztext hervorzuheben sowie als intermediale Einzelreferenz der Film Riso amaro (1949) von Giuseppe de Santis, in denen Isabella Marincola als Schauspielerin mitwirkte, worauf ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels eingehen werde. Einige Textpassagen evozieren überdies die Netzästhetik, so z.B.: »Ti immagino sulla corriera, là dove la strada lascia il torrente e il fondovalle si fa lago: alberi e montagne specchiati sull’acqua, come negli scatti da cartolina di Google Earth.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 150) In der Tat scheint das Internet jenen ›Raum‹ zu repräsentieren, wo sich der im Roman fiktionalisierte Diskurs entfaltet: Im sozialen Netzwerk Pinterest etwa stellen die Autoren auf einer virtuellen Pinnwand Fotografien aus Timira und Filmberichte zur Verfügung,10 zentrale Passagen aus Gesprächen mit JournalistInnen und WissenschaftlerInnen sind zudem auf der Website von Giap abruf bar.11 Für Silvia Camilotti stellt Timira einen überzeugenden Versuch des von Ashcroft/Griffiths/Tiffin (1995) theoretisierten Writing Back der postkolonialen Literaturen dar, denn der Roman antwortet »a un immaginario ancora molto intriso di pregiudizi nei confronti dell’altro da sé per eccellenza, il nero, e di ignoranza sul tema della storia coloniale italiana« (Camilotti 2012, http://www.il giocodeglispecchi.org/libri/scheda/timira-romanzo-meticcio  [08.06.2017]). Das in der italienischen Historiografie dominante Geschichtsbewusstsein, die Relation zwischen sozialem Selbstbild und kollektiver Erinnerung, wird in ­Timira infrage gestellt und korrigiert. In einem Interview betonen Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola, das Erzählen von Geschichte(n) stelle ein kollektives Moment dar, unabhängig davon, ob es allein, zu zweit oder in der Gruppe praktiziert werde, und darin machen sie eine Analogie zur ›Identität‹ aus, die ebenfalls eine Narration ist, »che costruiamo insieme agli altri e nella quale ci attribuiamo un ruolo« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 10 |  Cf. https://de.pinterest.com/einaudieditore/timira/ (08.06.2017). 11 | Wu Ming erklären: »Giap è il nostro blog, ma è anche una comunità di lettrici e lettori, [...] ed è molte altre cose« (cf. Wu Ming zit. in http://www.wumingfoundation.com/ giap/che-cose-la-wu-ming-foundation/ [08.06.2017]).

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2012 zit in. http://www.scritturacollettiva.org [08.06.2017]). In Timira treffen sich diese kollektiven Prozesse: Über das Erzählen von Geschichte(n) konstruiert die Hauptfigur Isabella Marincola/Timira Assan ihre ›Identität‹, wie im dritten Teil dieser Romananalyse herausgearbeitet wird. Ganz allgemein lassen sich personale und kollektive Identitätsbildung unterscheiden, wobei sich beide Dimensionen wechselseitig bedingen (cf. Assmann 2005, 130): Das Ich hängt vom Ganzen ab und gewinnt seine ›Identität‹ erst durch die Rolle, die es im Ganzen spielt, das wiederum erst durch die Interaktion der Individuen entsteht. Kollektive ›Identität‹ existiert nicht außerhalb der Individuen, die ein imaginäres »Wir-Bewusstsein« konstituieren und tragen; sie ist zu verstehen als »Bild, das eine Gruppe von sich auf baut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren« (Assmann 2005, 132). Kollektive ›Identität‹ existiert also immer nur in dem Maße, wie sich Individuen zu ihr bekennen; sie ist somit »eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen« ­ esellschaften erinnern Ereignisse der Vergangenheit in erster Linie (ibid.). G aus Gründen der Selbstdefinition. In der Historiografie wird demnach nicht eine vergangene ›Wirklichkeit‹, sondern in der pointierten Formulierung Reinhart Kosellecks »die Fiktion des Faktischen« (Koselleck 2007 zit. in Tiller 2014, 40) wiedergegeben. Postkoloniale Erzählungen wie Timira erhellen diese Textualität von Geschichte und bemühen sich, das narrativ organisierte Geschichtsbewusstsein performativ zu verändern, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

III.2 F ik tion und fak tuale E rz ählung »Questa è una storia vera […] comprese le parti che non lo sono« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 3, 5)12 – dieser dem Roman vorangestellte Satz akzentuiert die Wechselbeziehung zwischen Literatur und ›Realität‹, weshalb es naheliegt, die Relation zwischen Fiktionalität und Faktualität in den Blick zu nehmen.13 Isabella Marincolas Lebensgeschichte wird in Timira roman12 | Wie die Autoren im Nachspann erläutern, entlehnen sie diesen Satz dem Film ­B urke & Hare (2010) von John Landis. 13 | Cf. Genette, Gérard: »Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung«. In: Ders.: Fiktion und Diktion. München, Fink 1992, 65-94. In Anlehnung an Elena Esposito (2007) argumentiert Elisabeth Tiller, ›Realität‹ scheint sich »in der modernen Gesellschaft nicht nur über die Negation des Irrealen, sondern über die Spiegelung und den Austausch verschiedener Realitäten [zu definieren]« (Esposito 2007 zit. in Tiller 2014, 38). Die ­f iction funktioniert dadurch, dass ihr fiktiver Charakter offengelegt, also ihre Unterschiedlichkeit zur realen Wirklichkeit betont wird, sie sich aber auf der Grundlage realistischer Bedingungen entwirft. »Fiktionalität« bezeichnet allgemein den erfundenen Charakter

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haft ausgestaltet, wobei ihre autobiografische Erzählung die italosomalische Kolonialgeschichte symbolisch repräsentiert und als individuelles Gedächtnis einen »›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis« (Halbwachs 1991 zit. in Erll 2005, 16), das sich wiederum über individuelle Erinnerungsakte äußert, bietet. Die fiktionale wie ›reale‹ Hauptfigur Isabella/Timira verweist demnach auf die Komplexität dessen, was allgemein als »la Storia« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 7) bezeichnet wird und beansprucht keinen historischen ›Wahrheitsstatus‹ ihrer Erzählung. Als Theater- und Filmschauspielerin ist sich Isabella/Timira zudem bewusst, dass auch Erinnerung und Autofiktion Formen der Rezitation sind. Diverse Episoden in Timira sind fiktiv und mitunter symbolisch aufgeladen, andere durch den kreativen Prozess des Erinnerns fiktional rekonstruiert. Parallelen zur Fiktionalität finden sich auch in der Historiografie, insofern die Geschichtsschreibung wie das literarische Erzählen strukturell auf narrativen Vertextungsverfahren ­beruht. Die Textualität von Geschichte beschreibt die Erzählstrategien einer diskursiv vermittelten Vergangenheit, Reinhart Koselleck prägte in diesem Zusammenhang die schon erwähnte Formulierung von der »Fiktion des Faktischen« (Koselleck 2007 zit. in Tiller 2014, 40). ›Wirklich‹ in einem überprüf baren Sinne sind nach seiner Auffassung nur jene Zeugnisse, die von früher als Relikte erhalten sind. Hingegen sei die daraus abgeleitete ›Wirklichkeit‹ der Geschichte ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, kurz: eine Erzählung. Daraus resultiert, dass nicht eine vergangene ›Wirklichkeit‹ erinnert wird, sondern eben eine (historiografische) Fiktion des (historischen) Faktischen (cf. ibid.). Wu Ming 2 bemerkt in diesem Zusammenhang: »Sono convinto che la narrazione sia un metodo di ricerca della verità. Ovviamente il tipo di verità che può trovare non è lo stesso obiettivo del metodo storico o di quello scientifico. La verità narrativa consiste soprattutto nel selezionare gli eventi, pigiarli assieme e spremerne significati e contraddizioni. Quindi sono convinto che romanzi e der in einem literarischen Text erzählten Welt. Mimesis und Repräsentation von Wahrscheinlichkeit stellen grundlegende ästhetische Verfahren fiktionaler Literaturproduktion dar. Während verschiedene Fiktionstheorien des 20. Jahrhunderts dazu tendier(t)en, das Fiktionale kategorisch vom Realen zu trennen (und realen Sachverhalten einen ›Wahrheitsstatus‹ zuschrieben), charakterisiert Genette fiktionales Erzählen nicht mehr als »unwahre, sondern uneigentliche Rede […], die Nichtseiendes beschreibe: also fiktive Entitäten in einer fiktiven Welt, die […] realen, eigentlichen Entitäten in der realen Realität zumindest nach Raum-, Zeit- und Handlungskomponenten sehr ähnlich sind.« (Tiller 2014, 39 in Anlehnung an Genette 1991) Die gegenwärtige Erzähltheorie fokussiert zunehmend den Bereich des Hybriden, der nicht mehr die Grenze, sondern die Zone zwischen Fiktionalität und Faktualität meint und sich klassischen Gattungsregeln meist entzieht (cf. Tiller 2014, 40).

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Postkoloniale Literatur in Italien oggetti narrativi possano contribuire a mostrarci il senso del colonialismo: un senso, una direzione, che punta dritto sul nostro presente.« (Wu Ming 2 2012 zit. in http:// www.dinamopress.it/news/la-guerra-razziale-tra-af file-e-il-colonialismo-rimosso [08.06.2017])

Simone Brioni (2013, 104) weist außerdem darauf hin, dass Timira nicht »la verità-di-Isabella« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 505) narrativ i­n­szeniert, sondern angesichts des kollektiven Schreibprozesses allenfalls eine Interpretation oder Version derselben. Konkret inspiriert sich der Roman an der Vita Isabella Marincolas, fiktionalisiert also die autobiografische Erzählung einer ›realen‹ Person, und verwebt diese mit der Geschichte des faschistischen Impero sowie der italosomalischen postkolonialen Verflechtungen, die mit his­torischen Berichten und Archivdokumenten fragmentarisch rekonstruiert wird. Die politische und familiäre Ereignisgeschichte seit Mitte der 1920er Jahre findet sich in Form von neun als »reperti« bezeichneten »Erinnerungsfiguren« (Assmann 1988, 12) sowie einer Chronologie am Schluss in den Text implementiert; die Fragmente eröffnen jeweils die Textebene eines Archivio storico. Bei diesen Archivmaterialien handelt es sich um sehr unterschied­ liche Texte und Wissensbestände des kulturellen Gedächtnisses, wie folgender Überblick verdeutlicht: Reperto n. 1: Der faschistische Parteifunktionär Cesare Maria De Vecchi di Val Cismon fasst in seinem Bericht die von 1923-1927 in Somalia umgesetzte Kolonialisierung zusammen. Ein weiteres Textfragment in Form eines Tagebucheintrags (1939) von Gale­ azzo Ciano vermittelt Mussolinis Kritik an De Vecchi. Im dritten Textdokument, einem Gedicht (um 1925), beklagt der somalische Dichter Faarax Nuur den Kolonialismus (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 33-36). Reperto n. 2: Giuseppe Marincola erklärt in einem Notariatsakt (1925) die Vaterschaft seiner Tochter Isabella offiziell an, die in einer außerehelichen Beziehung mit Aschirò Assan gezeugt wurde (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 46f.). Reperto n. 3: Ein Artikel der Tageszeitung La Stampa (datiert mit 9. Mai 1937) berichtet über die Militärparade in Rom anlässlich des ersten Jahrestages der Gründung des Impero (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 105-107). Reperto n. 4: In einem Kommunikat (1952) wird Giuseppe Marincola die posthume Verleihung der goldenen Tapferkeitsmedaille an seinen Sohn Giorgio für dessen heldenhaften Mut als Partisan mitgeteilt (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 148f.). Reperto n. 5: Abdullahi Issa, Gründungsmitglied der Somali Youth League, erklärt die Position Somalias gegenüber der Amministrazione fiduciaria (1949) wie folgt: »È un fatto noto che la Lega dei giovani somali, […] si oppone alla restaurazione in qualunque forma dell’odiato dominio italiano sulla nostra terra […].« (Issa 1949 zit. in Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 256) Darüber hinaus thematisieren ein Artikel aus L’Unità (datiert mit 4. Februar 1950) sowie zwei transkribierte Kurzbeiträge aus ­Wochenschauen

Wu Ming 2 & Antar Mohamed Marincola – Timira (Settimana Incom sowie Pathé News, 1950) ebenfalls die AFIS (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 256-261). Reperto n. 6: In einem Artikel der Zeitschrift Rinascita (1958) zieht Isabellas zweiter Ehemann Lamberto unter dem Pseudonym Giorgio Assan (= Kompositum aus Giorgio Marincola, Isabellas Bruder, und Aschirò Assan, beider Mutter) Bilanz über zehn Jahre AFIS (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 325f.). Reperto n. 7: In einem Gedicht entlädt die somalische Poetin Timiro ­U kash ihren Hass auf die italienische Kolonialbesatzung. Darüber hinaus informiert der Beitrag einer Wochenschau (Caleidoscopio Ciac) über die am 1. Juli 1960 in Kraft getretene politische Unabhängigkeit Somalias (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 349f.). Reperto n. 8: Die L’Unità berichtet am 22. Oktober 1969 über die Ermordung des somalischen Präsidenten Ali Shermarke und den darauffolgenden Putsch durch Siad Barre. Ein Auszug aus dessen Revolutionsrede ergänzt das historische Archiv (cf. Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 382-385). Reperto n. 9: Ein Duplikat (1990) des im Jahr 1977 vom italienischen Generalkonsulat in Mogadishu erlassenen Notariatsaktes belegt, dass Isabella Marincola und Timira Assan dieselbe Person sind (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 482f.).

Die fiktional gestaltete story referiert wiederholt auf reale Ereignisse und historische Akteure, welche die erzählte Welt faktualisieren. Darüber hinaus illustrieren die in den Text eingefügten Briefe und Bilddokumente, überwiegend Familienfotos in Schwarzweiß, die in Timira dargestellte Geschichte der Familie Marincola und akzentuieren die Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, erhöhen mithin den Realitätseffekt der Erzählung. Diese Interferenzen fiktionaler und faktualer Elemente sind für Timira charakteristisch. Im Reperto n. 1 des historischen Archivs beispielsweise rühmt der Bericht de Vecchis die Stadtentwicklung in Mogadishu und eine Abbildung vermittelt einen visuellen Eindruck der vom Architekten Antonio Vandone entworfenen, am spätgotischen Dom von Cefalú in Sizilien inspirierten Kathedrale von Mogadishu, »la più vasta chiesa di tutta l’Affrica Orientale« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 35), wie er schreibt. In diesem Bauwerk kristallisiert sich die symbolische Repräsentation der kolonialen Machtverhältnisse. Henri Lefebvre spricht von Monumenten und Gebäuden als »Repräsentationsräumen« oder symbolischer Architektur (cf. Lefebvre 2006, 332f.).14 Die 14 |  Lefebvre erläutert die Begriffe »Raumrepräsentation« und »Repräsentationsraum« wie folgt: Mit »Raumrepräsentationen« ist der konzipierte ›Raum‹ (espace conçu) gemeint, »der Raum der Wissenschafter, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten, die ihn ›zerschneiden‹ und wieder ›zusammensetzen‹, der Raum bestimmter Künstler, die dem wissenschaftlichen Vorgehen nahe stehen und die das Gelebte und das Wahrgenommene mit dem Konzipierten identifizieren […]« (Lefebvre 2006, 336). Die

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Abb. 3: Die Kathedrale von Mogadishu (1920er Jahre) (Quelle: Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 34) Raumrepräsentationen haben eine praktische Bedeutung, so Lefebvre, denn sie fügen sich in ideologisch geprägte räumliche Texturen ein und verändern diese dabei. Die Raumrepräsentationen beeinflussen somit die Produktion des ›Raums‹. Und zwar durch das Bauen, durch die Architektur, sofern darunter nicht die Errichtung einer isolierten ›Immobilie‹ verstanden wird, sondern vielmehr eine Verräumlichung des Symbolischen (cf. Lefebvre 2006, 340). Die Kathedrale von Mogadishu repräsentiert als symbolische Architektur den italienischen Kolonialismus, der sich als Orte und Plätze veränderndes historisches Geschehen diachron in das Stadtbild von Mogadishu einschrieb. Die Spuren der Vergangenheit sind somit in Räumen der Gegenwart sichtbar. Jan Assmann (1988, 13) hat darauf hingewiesen, dass Erinnerungsfiguren wie Texte, Raumkonzeptionen tendieren zu einem System sprachlicher Zeichen. Unter »Repräsentationsraum« ist hingegen der gelebte ›Raum‹ (espace vécu) zu verstehen, der durch Bilder und Symbole vermittelt wird; es handelt sich um einen »Raum der ›Bewohner‹, der ›Benutzer‹, aber auch bestimmter Künstler, vielleicht am ehesten derjenigen, die beschreiben und nur zu beschreiben glauben: die Schriftsteller und die Philosophen« (ibid.). Ein Repräsentationsraum lädt räumliche Objekte symbolisch auf, er benutzt die Objekte physischer Räume symbolisch.

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Bilder, Bauwerke und Wissensbestände des kulturellen Gedächtnisses dieselben bleiben, aber jede Gegenwart sich dazu in Beziehung setzt, sich diese aneignet, sich damit auseinandersetzt, sie bewahrt und bestätigt oder verändert und revidiert. Das kulturelle Gedächtnis verfährt also »rekonstruktiv, d. h., es bezieht sein Wissen immer auf eine aktuell gegenwärtige Situation« (ibid.). Der Bezug auf die Kathedrale von Mogadishu in Timira wirft beispielsweise Fragen nach der Rolle der katholischen Institutionen während der Kolonialzeit auf, die allerdings nicht weiter problematisiert werden. Parallel zu den individuellen Lebensgeschichten der Figuren werden in Timira einige Episoden im Kontext der Resistenza und ihrer antikolonialen Politik inszeniert: Die Geschichte von Isabellas Bruder Giorgio Marincola etwa reflektiert implizit den gemeinsamen Kampf der italienischen Partisanen sowie der Kolonisierten gegen den Faschismus. Diese historischen Verflechtungen kristallisieren sich gerade in Isabellas Familie: »Pensai alla beffa di avere un fratello arruolato con gli inglesi, un padre che li combatteva in Africa Orientale e uno zio dubat costretto a servirli nella Somalia occupata.« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 127)15 Giorgio Marincola engagierte sich im antifaschistischen Widerstand, kämpfte in Rom, Viterbo und Biella, bevor er kurz vor Kriegsende gefangen genommen und ins Konzentrationslager Bolzano/ Bozen deportiert wurde. Er starb im Alter von 21 Jahren am 4. Mai 1945 im Val di Fiemme/Fleimstal im Zuge des letzten von den Nazis in Italien verübten Massakers.16 Insbesondere die in Stramentizzo und in Roda im Val Fiemme/ Fleims­tal in den Dolomiten angesiedelten Episoden entrollen das Reperto n. 4, eine Mitteilung des Servizio Commissioni Riconoscimento Qualifiche Partigiano (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 148), also eine »faktuale Nachricht ob eines realen Ereignisses« (Tiller 2014, 33), die über die offizielle Anerkennung der Verdienste Giorgio Marincolas als Partisan informiert. Dieser fak­ tuale Ausgangspunkt wird in Timira fiktional entfaltet und das in den Text 15 |  Cf. in diesem Zusammenhang die explizite Charakterisierung ihres Vaters durch die Protagonistin: »Giuseppe Marincola era nato a Pizzo il 16 marzo 1891 ed era entrato in fanteria a quattordici anni. Ne aveva quarantanove, e trentacinque di servizio, quando lo rispedirono in Africa a combattere gli inglesi. Me lo ricordavo robusto, col capoccione rotondo, alla Mussolini, la fronte alta e i capelli radi. […] Lo avevano catturato molto presto, in uno dei primi scontri a fuoco, e s’era fatto cinque anni di noia mortale e umiliazione, tra i blocchi e le baracche del campo di Gondar. Grazie alla buona condotta, fu tra i primi prisoners of war a tornare in Italia. Sbarcato a Napoli, salì sul treno per Roma e si presentò a Casal Bertone una sera di settembre, con la stessa uniforme che indossava alla partenza, ormai logora e troppo abbondante: sembrava che a restringersi, invece della stoffa, fossero state le ossa.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 142f.) 16 | Cf. die Biografie über Giorgio Marincola von Carlo Costa und Lorenzo Teodonio: Razza partigiana. Storia di Giorgio Marincola (1923-1945). Roma, Iacobelli 2008.

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montierte historische Dokument zudem in einem metatextuellen Erzähler­ kommentar thematisiert: »Parole sottovetro, scolpite in una lingua di marmo. Parole che non ti piacciono, ma non se ne trovano altre. La vita di tuo fratello è una traccia sottile, nella polvere degli archivi. Impronte di formica sopra una lacrima di retorica fossile.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 150) Timira demaskiert vielfach die einseitige und tendenziöse Darstellung der Kolonialgeschichte Italiens in der offiziellen Historiografie. Wu Ming 2 zufolge liegt eine Eigentümlichkeit des Kolonialgedächtnisses in seiner widersprüchlichen Verdrängungsdynamik, wofür Somalia exemplarisch sei: Das Gebiet der ehemaligen italienischen Kolonie wurde während des Zweiten Welt­ krieges 1941 britisch, bevor Italien mit einem UN-Mandat zur Treuhandverwaltung, der Amministrazione Fiduciaria Italiana della Somalia (AFIS), für weitere zehn Jahre nach Somalia zurückkehrte, um der ehemaligen Kolonie die Demokratie zu lehren, wie es offiziell hieß.17 Wu Ming 2 zufolge repräsen­tierte die Amministrazione Fiduciaria »una specie di colonia a tempo, con scadenza nel 1960« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.dinamopress.it/news/la-guerra-raz ziale-tra-affile-e-il-colonialismo-rimosso   [08.06.2017]).18   Das  Akronym  AFIS wurde in Somalia sogleich interpretiert als »Ancora ­fascisti italiani in Somalia« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 268), waren die BürokratInnen und FunktionärInnen doch dieselben wie vor dem Krieg, allen voran General 17 | Der Text fiktionalisiert diese faktuale politische Ereignisgeschichte vor allem in jenen Episoden, welche von der Begegnung Isabellas und Lambertos sowie ihrer Reise 1956 nach Mogadishu handeln: »[…] Lamberto era un esperto di questioni somale e in quel periodo si stava interessando agli intrallazzi del nostro primo ministro per ottenere dalle Nazioni Unite l’amministrazione fiduciaria della ex colonia. – Con la scusa di avviare la Somalia alla democrazia, quello vuole tenersela sotto i piedi per altri dieci anni almeno. E sai perché? Primo, per difendere gli interessi dei nostri bananieri e continuare a ingrassarli con i soldi dei contribuenti. Secondo, per dimostrare al mondo che la guerra ci ha ripulito l’anima e la camicia nera. Abbiamo imparato talmente bene l’arte della democrazia, che già siamo pronti a esportarla, e a guadagnarci i titoli per entrare all’Onu. Terzo e non ultimo, per trasformare gli africani in docili consumatori di prodotti italiani.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 238) Ein von Lamberto verfasster Artikel über die AFIS in der Zeitschrift Rinascita ist als Reperto n. 6 Teil des oben vorgestellten historischen Archivs. 18 | Zu dieser Entwicklung bemerkt der Autor weiter: »Tuttavia, questo ci permise di pensare che mentre gli altri paesi europei dovevano combattere contro le guerriglie di liberazione, noi invece andavamo d’accordo con i nostri ex-colonizzati, tanto che addirittura potevamo festeggiare con loro, a Roma, la tanto sudata indipendenza. E questo fu un altro macigno calato sopra i crimini del nostro colonialismo.« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.dinamopress.it/news/la-guerra-razziale-tra-affile-e-il-colonialismo-rimo sso [08.06.2017])

Wu Ming 2 & Antar Mohamed Marincola – Timira

Nasi, den die italienische Regierung anfänglich mit der Unternehmung beauf­ tragen wollte, wogegen Äthiopien Protest einlegte, da Nasi als mutmaßlicher Kriegsverbrecher eingestuft wurde. In den 1950er Jahren waren einige faschis­ tische Gesetze nach wie vor in Kraft, etwa den Status italosomalischer Kinder betreffend.19 Der konstruierte Mythos der italiani brava gente sowie Nostalgie und Stolz auf die vermeintlich freundschaftlichen Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und Kolonisierten bestimm­ten zusätzlich den Verdrän­ gungsprozess und verhüllten diverse Konflikte. Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg keine antikolonialen Unabhängigkeitskämpfe gegen Italien gab, wie etwa in Algerien oder Angola. Die Verdrängung der Kolonialerfahrung aus dem kollektiven Bewusstsein hängt Wu Ming 2 zufolge auch mit den Gründungsmythen der italienischen Nation zusammen, dem Risorgimento und der Resistenza, die politisch antikolonialistisch ausgerichtet waren. Wie im Einleitungskapitel näher erläutert, unterschied sich der italienische Kolonialismus, entgegen dem konstruierten Stereotyp der »italiani brava gente« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.wumingfoundation.com/giap/2012/07/timira-cut-n-paste/ [08.06.2017]), in seiner Brutalität jedoch nicht von jenem Frankreichs oder Großbritanniens, »e chi non vuole ammettere certi crimini (gas, deportazioni di massa, campi di concentramento, fucilazione di prigionieri, stupri, leggi razziste, ­discriminazioni, ecc.) dovrebbe essere chiamato negazionista come chi non vuole ammettere che Aush­witz fosse un campo di sterminio«, kritisiert Wu Ming 2 (cf. ibid.). Der PCI opponierte in der Nachkriegszeit gegen das AFIS-Projekt, betonte dabei aber stets: »non è in discussione il diritto dell’Italia ad avere o non avere delle colonie« (Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.dinamopress.it/news/la-guerra-raz ziale-tra-affile-e-il-colonialismo-rimosso  [08.06.2017])  –  hinterfragt  wurde also eine spezifische Praxis, nicht die koloniale Unternehmung als solche. Ein in 19 | Das in Timira inszenierte Gespräch zwischen Isabella und Piero Russo denunziert die prekäre Situation der Nachkommen aus Verhältnissen zwischen meist italienischen Männern und somalischen Frauen: »[…] so per certo che i figli meticci, i bambini come noi, sono ancora sottoposti alle leggi fasciste. – Cioè? Come sarebbe a dire ›sottoposti‹? – Sarebbe a dire che i padri non li riconoscono e alle madri è proibito ­t enerli. Finiscono al brefotrofio, come prima della guerra. Senza cognome, senza patria, ­f igli di nessuno. Non si sa nemmeno quanti siano.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 278) Im Anhang nennen die Autoren u.a. einen Bericht von Francesca Caferri, publiziert am 17. Juni 2008 in der Tageszeitung la Repubblica, als Referenztext, siehe auch: http://ricerca. repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/2008/06/17/bimbi-italiani-strappa ti-alla-somalia.html (18.05.2017). Trotz der Abschaffung der ›Rassengesetze‹ durch den Friedensvertrag von Paris (1947) wurden ›afroitalienische‹ Kinder bis 1975 nicht als rechtmäßige Nachkommen ihrer italienischen Väter anerkannt (cf. Bouchard 2013, 295).

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den Romantext zur historischen Dokumentation als Reperto n. 5 integrierter Artikel vom 4. Februar 1950 der kommunistischen Zeitschrift ­L’Unità fragt im Vorfeld der AFIS, wie eine Rückkehr Italiens von der somalischen Bevölkerung wohl wahrgenommen würde, denn »[l]a tradizione coloniale italiana gronda lacrime e sangue. Gli eserciti che il governo fascista ha inviato nelle terre africane hanno bruciato villaggi, trucidato popolazioni inermi, commesso eccidi feroci.« (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 258) Silvia Camilotti zufolge prägten mangelnde Vorbereitung, Oberflächlichkeit und Unkenntnis seitens der italienischen Verwaltung die koloniale wie die postkoloniale Geschichte Somalias. Konzentrierten sich politische Maßnahmen auf die militärische und administrative Reorganisation und nicht auf den Bildungs- und Gesundheitssektor, bedeuteten die zehn Jahre AFIS eine exzessive Aufrüstung der Streifkräfte. Am 1. Juli 1960 wurde Somalia schließlich unabhängig, die politischen Verhältnisse waren allerdings alles andere als stabil und die Armee blieb der effizienteste Apparat, der neun Jahre später mit Siad Barre nach der Macht griff. In jenen Jahrzehnten war der Kalte Krieg auf dem afrikanischen Kontinent insofern präsent, als die russische respektive US-amerikanische Regierung unterschiedliche Staaten und Regime unterstützten. Siad Barre positionierte sich anfänglich als sozialistisch und prorussisch, wechselte aber im Verlauf seiner über 20 Jahre dauernden Diktatur auf die Seite der USA (cf. Camilotti 2012, 126). Spiegelten diese Entwicklungen im postkolonialen Somalia die Machtverhältnisse des Kalten Krieges, bilden sie den historischen Kontext einiger in Timira fiktionalisierter Episoden, wie ein von Antar als homodiegetische Erzählinstanz geschilderter Bericht vermittelt: Er beschreibt den Schulbesuch während der Barre-Diktatur als Tortur und »[di] tutte quelle mattine inutili, la più inutile in assoluto era il mercoledì, con le sue tre ore di Cultura militare, tre ore di scuola passate a smontare e ingrassare le armi, costruire trincee, trattare gli esplosivi e altri addestramenti in vista dell’ennesima guerra con l’Etiopia« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 436). Als Ausdruck ihres Des­interesses zielen die SchülerInnen eines Morgens im Unterrichtsfach Cultura militare mit Steinchen auf ihren Lehrer, woraufhin sie in ein Militärlager transportiert und misshandelt werden, um jeglichen Widerstand gegen ›die Revolution‹ im Keim zu ersticken. Die intern fokalisiert erzählte Episode evoziert Antars Wahrnehmung der Schule als Folter des Barre-Regimes. Die während des Kalten Krieges mehr oder weniger explizite Unterstützung diverser autoritärer Regierungen zahlreicher afrikanischer Staaten löste bislang keine ernsthafte Debatte über die Rolle Europas und ›des Westens‹ in deren Versinken in Gewalt und Armut aus. 1991 nimmt Antar in den Studios von Radio Città Aperta an einer Sendung teil, seine Aufmerksamkeit gilt jedoch mehr den mitgebrachten Berichten, Flugblättern und Zeitungsausschnitten. Vermittels seiner fragmentarischen Lektüre werden diese faktualen Texte in den Roman transferiert. In den Fragen der Moderato-

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rin wird die Verantwortung Italiens im postkolonialen Somalia angesprochen, die  langjährige Unterstützung der Barre-Diktatur, zudem die Summe von 1600 Mrd. erwähnt, die Italien in den 1980er Jahren für Somalia ausgegeben haben soll. Der Text verwebt die formal im Stil eines Interviews gestellten Fragen mit Antars überblicksartiger Lektüre seiner Unterlagen, wodurch narrativ eine Antwort nahegelegt wird, etwa wofür die Geldmittel Verwendung gefunden haben könnten: »– Noi sappiamo che il nostro paese ha speso per la Somalia milleseicento miliardi in dieci anni. Secondo voi dove sono finiti? … Silos Fai: risultati negativi per clamorosi errori tecnici; Strada Garoe Bosaso: costo sproporzionato; Centrale elettrica Mogadiscio Nord: per garantire all’Ansaldo tutte le commesse possibili; Ospedale di Corioley: non entrato a regime; Progetto pesca oceanica: vari disastri e insuccessi clamorosi; Azienda zootecnica di Afgoi: di fatto nelle mani dell’azienda italiana Giza; Zuccherificio di Johar: abbandono del progetto; Impianto di urea: mai entrato a regime.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 165f.) 20

Die Frage, welche Erinnerung Italien in Somalia hinterlassen habe, beantwortet erneut Antars flüchtiger Blick auf einen Zeitungsartikel und der/die Leser­ In liest aus seiner Perspektive: »… tristi rimasugli dell’epoca coloniale. Partito socialista e Democrazia cristiana si sono spartiti l’ex impero del Corno d’Africa …« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 166)21 Bei der Frage nach der Herkunft der in Mogadishu verwendeten Waffen, fiktionalisiert der Text eine wissenschaftliche Publikation,22 die erneut aus Antars Wahrnehmungsperspektive intern fokalisiert berichtet, dass »… l’aiuto militare italiano fu generoso. Tra il 1979 e il 1985, importo stimato in cinquecentocinquanta milioni di dollari. Carri M-47, veicoli blindati M-133, trecento autoblindato Fiat, aerei da controguerriglia Siai Marchetti SF-260W, quattro aerei da trasporto G-222, quattro Piaggio P-166 da ricognizione, elicotteri Agusta AB-204, quattro aerei da addestramento SF-260, armi leggere e automezzi Iveco […].« (Wu Ming2/­ Mohamed Marincola 2012, 166)

20 | In den Titoli di coda wird folgende Quelle genannt: »Bulgarelli, M.: Proposta alter­­ nativa di documento conclusivo dell’indagine della Commissione parlamentare di inchiesta sulla morte di Ilaria Alpi e Miran Hrovatin. Camera dei deputati, Roma 2006.« (cf. Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 514) 21 | Die für dieses Zitat relevante Quelle wurde gemäß den Titoli di coda entnommen aus: »Botta, A.: L’avevan tanto amato, in ›L’Europeo‹, 25 gennaio 1991« (cf. ibid.). 22 | Der Referenztext lautet: »Leoni von Dohnanyi, G./Oliva, F.: Somalia. Crocevia di traffici internazionali, Editori Riuniti, Roma 2002« (cf. ibid.).

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Die Titoli di coda informieren die LeserInnen detailliert über die teils journalistischen, teils wissenschaftlichen Referenztexte der in diesen Passagen fiktional dargestellten faktualen Ausgangspunkte. Über die neu eröffnete Textebene dringt sozusagen ›reale Welt‹ symbolisch in den fiktionalen Text ein. Wie Elisabeth Tiller erläutert, lassen sich auf der Rezeptionsebene die Be­ obachtungen der fiktiven Welt auf die ›reale Welt‹ zurück übertragen, sie folgen demnach einem »Korrealitätsprinzip« (Bunia 2007 zit. in Tiller 2014, 39). Das in den Roman eingefügte Archivio storico scheint sich als Erzählverfahren in der Textmontage dieser in den Studios von Radio Città Aperta lokalisierten Episode strukturell zu wiederholen: Die Erzählung folgt hier also einem »Korrealitätsprinzip«, das einen »narrativen Lückenschluss des Realen« (Tiller 2014, 41) forciert. Mit fiktionalen Mitteln verweist Timira somit auf Defizite im gesellschaftlichen Umgang mit der Kolonialgeschichte sowie Entwicklungen der postkolonialen Wirklichkeit und versucht, diese nicht nur aufzuzeigen, sondern performativ zu entwickeln. Faktual basierte literarische Fiktion wird damit zur politischen Handlung (cf. Tiller 2014, 47). Über die Einbeziehung von »Erinnerungsfiguren« (Assmann 1988, 12) des Familiengedächtnisses wie Fotografien und Briefe, vor allem jedoch historischen Archivdokumenten, juristischen Texten und Medienberichten skizziert Timira einen ›realistischen‹ Gegenentwurf zu verbreiteten kollektiven Fiktionen und Imaginationen über die koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart. Als faktuale Fiktion zeigt Timira etwa politische Versäumnisse in der lückenhaften offiziellen Geschichtsaufarbeitung sowie die Absenz des Staates, mitunter sein Scheitern, auf,23 ein Punkt, der am Ende der Romananalyse nochmals ins Blickfeld rückt; im Folgenden gilt das Interesse zunächst der Protagonistin Isabella/Timira und ihrer figuralen Identitätskonstruktion.

23 | In der Tat wurde am 11. August 2012 (!) ein Monument für einen der hauptverantwortlichen Generäle und mutmaßlichen Kriegsverbrecher des italienischen Kolonialismus und Faschismus in Affile in der Region Lazio eingeweiht: Rodolfo Graziani. Während des Faschismus war Graziani Gouverneur der libyschen Cyrenaika, Befehlshaber bei der Invasion Äthiopiens und dort Vizekönig (1936-37) sowie Kommandant der Streitkräfte der Repubblica di Salò, »lo stato-fantoccio mussoliniano che de facto rappresentò un protettorato nazista, dal 1943-45« (Wu Ming 2/Santoro 2012 zit. in http:// www.dinamopress.it/news/la-guerra-razziale-tra-af file-e-il-colonialismo-rimosso [08.06.2017]). Erst nachdem der Blog von Wu Ming, Giap, die fehlende Skandalisierung in der italienischen Öffentlichkeit thematisierte, ging ein Aufschrei durch die Medien und das Denkmal wurde zu einem Symbol für die weitgehende Absenz postkolonialer Erinnerungskultur in Italien.

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III.3 F amiliäre D iskontinuitäten oder : »[…] un familiare disagio « 24 Im Sinne des poststrukturalistischen Theorieverständnisses gehe ich davon aus, dass ›Identität‹ in sozialen und kulturellen Aushandlungsprozessen diskursiv hervorgebracht wird, sich somit als Effekt von Diskursen unabschließbar konstituiert. Innerhalb des ›Ichs‹ werden grundsätzlich Aspekte individueller und personaler ›Identität‹ unterschieden. Das im Bewusstsein des Individuums erschaffene Bild der eigenen, sich von allen anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Körper entwickelte Bewusstsein von Einzigartigkeit wird als »individuelle Identität« bezeichnet; diese bezieht sich auf »die Kontingenz eines Lebens mit seinen ›Eckdaten‹ von Geburt und Tod«, auf die körperliche Dimension der Existenz und die individuellen Grundbedürfnisse, wie Jan Assmann (2005, 132), an dessen Ausführungen ich mich hier anlehne, erläutert. »Personale Identität« beschreibt hingegen die durch die Teilnahme an einem Sozialgefüge zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen und bezieht sich auf die soziale Anerkennung des Individuums. Sowohl der Prozess der Sozialisation, also der Einordnung des Einzelnen in eine Gemeinschaft und das Erlernen gesellschaftlicher Normen und Werte, als auch der Prozess der Individuation, der Selbstwerdung des Menschen, in dessen Verlauf sich das Bewusstsein der eigenen Individualität bzw. der Unterschiedenheit von anderen zunehmend verfestigt, verlaufen in kulturell vorgezeichneten Bahnen. Beide Identitätsaspekte korrelieren mit einem Bewusstsein, »das durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und Normen einer [oder mehrerer] Kultur[en] und Epoche« (ibid.) geformt wird. ›Identität‹ erscheint somit als »ein gesellschaftliches Konstrukt und [ist] als solches immer kulturelle Identität« (ibid.). Im Unterschied zur kollektiven ›Identität‹, die »reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit« (Assmann 2005, 134) meint, versteht Assmann unter kultureller ›Identität‹ »die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur« (ibid.). In Timira konstruiert sich Isabellas ›Identität‹ allen voran über ihre Identifikation mit der italienischen Sprache und Kultur. Ähnlich wie die Hauptfiguren in Madre piccola, Il latte è buono oder Oltre Babilonia fühlt sich die Protagonistin wiederholt veranlasst, die mündliche wie schriftliche perfekte Beherrschung ihrer Muttersprache zu demonstrieren, die sie in mehreren Textpassagen selbstbewusst den Vorurteilen jener SprecherInnen entgegenhält, die sich im Infinitiv oder einem rudimentären Italienisch an sie wenden, zuweilen korrigiert sie den grammatisch oder lexikalisch nicht präzisen Sprachgebrauch von Italienern. Als Instrument der Emanzipation und Identitätsformation kommt der Sprache auch eine soziale Funktion zu: 24 | Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 266.

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»Se sei italiano e hai la pelle scura, […] [d]evi dimostrare che sei davvero italiano, devi essere più italiano degli altri.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 449.) Zeitlebens rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, kämpft Isabella unermüdlich für ihre Anerkennung als italienische Staatsbürgerin. In folgendem Textzitat erinnert sie sich an den Rassismus der 1930er Jahre, den sie als »imperial« schildert: Menschen schwarzer Hautfarbe wurden weniger als ›bedrohlich‹, sondern eher als ›exotisch‹ wahrgenommen, Isabella von der paternalistischen Sichtweise jener Zeit zu einer symbolischen Figur des ›kolonialen Abenteuers‹ gemacht und als ›schöne Abessinierin‹ betrachtet, die Dante und Carducci rezitiert. Den Rassismus der Gegenwart empfindet sie hingegen als schroff und feindselig: »Il razzismo che ho conosciuto da ragazza era molto diverso da quello di oggi. La gente era più curiosa che ostile, almeno in apparenza. Negli anni Trenta, molti vedevano in me l’icona dell’avventura coloniale e mi vezzeggia­ vano come una bertuccia ammaestrata. Erano entusiasti di questa ›bella abissina‹ che parlava italiano e faceva la riverenza, ma si guardavano bene dall’invitarmi per una merenda con le figliole. Col tempo, quelle coccole zuccherose si evolsero in direzioni opposte: da una parte, l’approccio sessuale esplicito, offensivo; dall’altra, lo sguardo indiscreto, come filtrato dai rami di una siepe. A teatro, in tram, per la strada: ovunque andassi mi sentivo studiata, con gli occhi e con le parole.« (Wu Ming 2/Mohamed 2012, 169)

Als Italienerin schwarzer Hautfarbe erlebt Isabella aber nicht nur den Pater­ nalismus des Impero, sondern zugleich Formen sexueller und religiöser Aus­ grenzung: Rassistisch aufgeladenen Sexismus erfährt sie als junge Erwachsene in der Nachkriegszeit, als viele während des Kolonialismus und Faschismus sozialisierte Männer auf eine schwarze Frau nach wie vor Fantasien stets verfügbarer sinnlicher Sexualität projizieren. In Somalia hingegen fühlt sich Isabella wiederholt religiöser Diskriminierung ausgesetzt, wird sie doch häufig als »gaal«, ›Ungläubige‹, diffamiert. Der Rassismus der Gegenwart schmerzt die Protagonistin allerdings unvergleichlich, da in diesem Kontext ihre ›Identität‹ als italienische Staatsbürgerin im Namen der Gleichung ›italienisch = weiß‹ infrage gestellt wird. Im Unterschied zu anderen Fremdheitserfahrungen liegt die Gewalt dieser rassistischen Diskriminierung in ihrer Unvorhersehbarkeit. Isabella kam im Alter von zwei Jahren nach Italien, besuchte die Schule während des Faschismus, studierte, eignete sich die italienische Kultur an und niemals zog sie auch nur annähernd ihre italienische Staatsangehörigkeit in Zweifel – nicht weil ihr Vater sie 1925 als legitime Tochter anerkannte, sondern angesichts ihrer internalisierten und reflexiv gewordenen kulturellen ›Identität‹ (cf. Wu Ming 2 2012 zit. in http://www.dinamopress.it/news/la-guerra-razziale-tra-affile-e-il-colonialismo-rimosso [08.06.2017]).

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Als junge Erwachsene verlässt Isabella nach Jahren der Entbehrung und des Leidens das Haus und die Familie ihres Vaters, in erster Linie, um ihrer Stiefmutter zu entkommen, die ihr hasserfüllt begegnet und in Isabella stets die lebendige Verkörperung des Betrugs ihres Gatten sieht.25 Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, beginnt Isabella im Rom der 1940er Jahre als Aktmodell für den bulgarischen Bildhauer Assen Peikov zu arbeiten, posiert für Renato Guttuso, bevor sie als Theater- und Filmschauspielerin Erfolge feiert. In der zitierten Textpassage erzählt sie eine Episode in Peikovs römischem Atelier, wo eines Tages der bekannte Journalist Indro Montanelli erscheint und sie rassistisch beleidigt:

25 | Die Erinnerungen Isabellas an die Misshandlungen durch ihre Stiefmutter Flora Virdis schmerzen sie unverändert auch noch im Erwachsenenalter: »Fin dall’inizio mi aveva odiato proprio perché non poteva mimetizzarmi. Se avesse potuto dire in giro che ero figlia sua, forse, prima o poi, sarebbe riuscita perfino a volermi bene. Invece avevo la pelle scura, segno indelebile dell’avventura di mio padre con una mignotta africana. E in quanto femmina, dovevo pure somigliarle, a quella lì, ed ecco perché Flora mi picchiava tanto volentieri, mentre lasciava in pace Giorgio, oltre al fatto che lui era il primogenito, arrivato a Roma quando aveva ormai dieci anni, e non essendo abituato a incassare sberle, poteva pure saltargli il grillo di restituirle.« (Wu Ming 2/Mohamed 2012, 146) Kurz nach Kriegsende 1945 entscheidet sich Isabella, ein neues Leben zu beginnen, unabhängig von der Familie ihres Vaters, der bedauert, seiner Tochter nicht jenes Leben in Italien geboten zu haben, das er sich einst durch die offizielle Anerkennung seiner Kinder mit Aschirò Assan erhoffte: »– Pensavo di essermi comportato da gentiluomo, – disse mio padre. – E invece ho rovinato la vita a tutti quanti. Avrei voluto rispondere. Dirgli che i gesti nobili servono solo a chi li compie. Dirgli che una benda non basta per curare una ferita, ma alla lunga la nasconde e la fa incancrenire. Avrei voluto rispondere, ma non trovai le parole. Così lo abbracciai, di fretta, perché non volevo che scambiasse il saluto per un’assoluzione. Poi raccolsi la valigia, attraversai il cancello e cominciai a pensare a dove avrei dormito.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 147) Jahre später blickt Isabella kritisch auf das koloniale Patriarchat, das auch ihr Vater vertrat, wie folgender Textauszug vermittelt: »Anch’io, per lungo tempo, mi sono raccontata che mio padre è stato un gentiluomo, che ha fatto un gesto generoso, molto insolito per quei tempi. Darci il suo cognome, il nome dei nonni. Ma ora che ascolto mia madre, […] mi rendo conto che devo accettarlo: sono figlia di una violenza, e lo sarei anche se i miei genitori si fossero tanto amati, come in un bel fotoromanzo. L’amore ai tempi delle colonie è impastato di ferocia. Un pugnale affilato minaccia e uccide, anche se lo spalmi di miele. Sono la figlia di un razzista, uno che in tutti i modi ha cercato l’oblio per la sua avventura africana. Uno che con le sue bugie ha rovinato la vita di sei persone, compresa Flora Virdis.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 375)

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Postkoloniale Literatur in Italien »Se durante il lavoro qualcuno bussava alla porta dello studio, avevo a portata di mano un telo per coprirmi, e anche cosí, con quella toga improvvisata, era difficile non sentirsi in imbarazzo. L’uomo col cappello nero arrivò una mattina presto: avevo appena cominciato a mettermi in posa. […] Assen mostrò all’ospite i suoi pezzi più recenti, poi vennero verso di me e quello prese a studiare la scultura in lavorazione. – Questa come la intitolate? – domandò incuriosito. – La prima donna, – rispose l’altro. – Uhm … E la signorina, qui, sarebbe la modella? Assen annuì e l’ospite storse il naso, in un’imitazione riuscita delle ubbie da critico d’arte. – Le manca qualcosa, – disse alla fine. – Non mi direte la mela, vero? Questa è Lilith, non Eva. – No, non la mela. Piuttosto … una banana, eh? O magari delle noccioline … A voi piacciono le noccioline, vero, signorina? – A dire il vero non le ho mai mangiate, – risposi con voce asettica. – Ma se me ne compra un sacchetto, le assaggio volentieri. […] – Chi era quel cretino? – domandai non appena se ne fu andato. – Indro Montanelli. Non lo conosci? – Quello che scrive su ›La Domenica del Corriere‹? – Proprio lui. Gli piace scherzare, ma non è cattivo. Dicono che in Africa avesse una moglie bambina e che le abbia voluto bene. – Immagino, – dissi ripiegando il telo. – Come un cane da grembo.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 171f.)

Wie die Szene zeigt, gestehen selbst prominente Persönlichkeiten des kulturellen Lebens im Italien der 1940er und 1950er Jahre wie Indro Montanelli einer schwarzen Frau nur einen untergeordneten Platz in der Gesellschaft zu (cf. Brioni 2013, 95). Das Verhältnis Isabellas zu einigen Intellektuellen und KünstlerInnen der unmittelbaren Nachkriegszeit enthüllt mehrfach Kontinuitäten zwischen Italien unter Mussolini und de Gasperi: Navigieren die zumeist männlichen Hauptakteure des kulturellen Lebens das Land aus dem Faschismus in die Republik, scheint sich ihr Verhalten gegenüber einer jungen Frau mit schwarzer Hautfarbe nicht wesentlich von jenem während des Impero zu unterscheiden; von der heuchlerischen und bigotten, oftmals chauvinistischen und rassistischen Gesellschaft jener Jahre wird Isabella wiederholt als schwaches, willenloses ›Objekt‹ und Verkörperung des ›Anderen par excellence‹ wahrgenommen. Dieser Nexus zwischen Rassismus und Sexismus, der die kolonialen Diskurse charakterisierte und u.a. das Stereotyp der ›bella abissina‹, also der den europäischen Kolonisatoren gefügigen Frauen in den Kolonien, konstruierte, setzte sich in veränderter Form in der postkolonialen Gesellschaft fort (cf. Brioni 2013, 112). Timira thematisiert die-

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ses Überdauern des kolonialen Imaginären auch nach Ende der Kolonialzeit und insofern kann der Roman als politische Literatur mit antirassistischem Engagement gelten, worauf ich am Ende dieses Kapitels zurückkommen werde. Fühlt sich die Hauptfigur Isabella/Timira in Italien häufig als »ospit[e] a casa propria« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 459) oder als »contraddizione vivente« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 449), erkennt sie in Theater und Film das Potenzial für Widerstand: Insbesondere die Bühne ermöglicht der Protagonistin, den Fokus auf die Stimme und den Körper zu lenken und dadurch die aufgrund ihrer Hautfarbe erfahrene Ablehnung und die diskriminierenden Blicke herauszufordern. Isabella setzt sich bewusst den ZuschauerInnen aus, denn diese Position erlaubt ihr »[…] vedere la gente in platea, soggiogare i loro sguardi anche solo per pochi secondi. Nel cinema il rapporto col pubblico era troppo indiretto e quel che a me piaceva era proprio quel rapporto, finalmente rovesciato rispetto alla mia vita di tutti i giorni.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 236) Die Arbeit als Theaterschauspielerin bedeutet für Isabella also angesichts des direkten, körperlichen Kontakts mit dem Publikum eine Strategie der Selbstermächtigung. Im Rahmen einer Edipo Re-Inszenierung von Guido Salvini, in der sie neben bekannten Schauspielern wie Vittorio Gassman, Renzo Ricci oder Arnoldo Foà mitwirkt, geht Isabella mit der compagnia della Biennale auf Tournee nach London und Paris. Als Mitglied des Theaterensembles von Tatiana Pavlova spielt sie 1949 in Lunga notte di Medea von Corrado Alvaro die Rolle der Layalé, Medeas Sklavin, in einer prominenten Produktion mit Bühnenbild und Kostümen von Giorgio de Chirico und Musik von Ildebrando Pizzetti. In ihrer Erzählung rezitiert Isabella einen Monolog der Layalé, »che mi parve subito divinamente scritto« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 236): »Ora non puoi tornare là donde sei partita. Ora sai che la vita è la ricchezza adoperata come forza. La potenza come giustizia. Nei tuoi paesi, la ricchezza dorme custodita nelle miniere, difesa dai mostri e proibita a tutti. Ma già uno v’è arrivato e l’ha rapita. Questo lo chiamano un eroe. E te, una donna tradita. All’uomo basta una sola parola: Vittoria. Vi sarà sempre denaro per compensare chi canta le lodi del vincitore. E vi saranno sempre quelli che canteranno le lodi di chi perde. Con le parole si può rendere giusto l’ingiusto, diritto il torto, buono il malvagio. Ma chi canta il vinto sarà prediletto dagli Dèi. E così il mondo andrà avanti, facendo il male e lodando il bene.« (Alvaro 1949 zit. in Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 236)

Diese Neubearbeitung des antiken Mythos interpretiert die Figur der Medea nicht mehr als Rache suchende Frau, sondern schlägt eine Konzeption vor als »l’antenata di tutte le donne che hanno subito la persecuzione razziale, di tutte quelle che vagano senza passaporto, da una nazione all’altra, e abitano i campi di

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Abb. 4: Isabella Marincola (links) in einer Filmszene in Riso amaro (Quelle: http://dormirajamais.org/marcovaldo1/ [08.06.2017]) concentramento, i campi profughi« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 237). Medea tötet ihre Kinder nicht aus blinder Wut, so die in Timira narrativierte Interpretation Alvaros, sondern »[v]uole estinguere il seme di una maledizione sociale e di razza, e quindi li uccide, in qualche modo per salvarli, in uno slancio disperato di amore materno« (ibid.). Emotional berührt von Alvaros Werkerschließung imaginiert Isabella ihre Mutter Aschirò Assan als moderne Medea, die anstatt sie nach Italien zu schicken sie in der Wiege getötet hätte. Indes er­ obert die Protagonistin mit dieser Produktion nach und nach die italienischen Theater und gelangt schließlich nach Palermo, wo sie Lamberto, ihrem zweiten Ehemann begegnet, mit dem sie einige Jahre später Somalia besucht und ihre leibliche Mutter kennen ­lernt. Zum Leben der jungen Schauspielerin in Rom Ende der 1940er Jahre gehören regelmäßige Besuche im Antico Caffè Greco in der Via Condotti, einem der ältesten Künstlerlokale der Stadt. Ihre Hoffnungen auf eine Filmkarriere erfüllen sich allerdings nur ansatzweise, stellen sich doch die Versprechen auf Titelrollen zumeist als flüchtige Illusionen heraus: »Ennio Flaiano diceva che se avessero tratto un film da Tempo di uccidere […] avrebbe chiesto alla produzione di farmi interpretare la protagonista, una ragazza etiope. Ma erano promesse da Caffè Greco, impegnative come un sorso di vino […].« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 235) Ihre bedeutendste Film­ rolle spielt Isabella Marincola in Riso amaro (1949) in der Regie von Giuseppe De Santis und mit Silvana Mangano als Hauptdarstellerin; Isabella verkörpert eine Arbeiterin auf den Reisfeldern.

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Wie bereits erwähnt reist Isabella 1956 erstmals nach Mogadishu, den seit ihrer Kindheit affektiv aufgeladenen Sehnsuchts- und Wohnort ihrer Mutter Aschirò Assan.26 In literarischen Texten funktionieren Hallet/Neumann (2009, 25) zufolge die wechselnden Verortungen von Figuren zwischen erzählten Räumen als bedeutungs- und identitätsstiftende Akte, bei denen die individuelle Sinneswahrnehmung, kulturelle Wissensordnungen und die Materialität von Orten ineinander greifen, wie in Timira etwa in der intern fokalisiert dargestellten Raumwahrnehmung Isabellas am Tag ihrer Ankunft in der somalischen Hauptstadt: »La strada era un chiaroscuro macchiato di verde, ombre nere tagliate a coltello sui muri bianchi di edifici moreschi, porticati alla De Chirico, minareti, campanili gemelli, pale a vento, merletti di legno alle finestre. Molti palazzi sembravano sagome in cartongesso per un film italiano sui lontani tropici, altri non avrebbero sfigurato in un sobborgo di Roma. Le scritte sulle insegne erano in arabo e in italiano, a volte corretto, a volte misterioso. Caffè Nazionale Bar, Cinema Italia, Giocco di bibitto.« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 267)

Erzählte Räume repräsentieren darüber hinaus figurale Semantisierungsprozesse, bei denen raumspezifische kulturelle Bedeutungszuschreibungen und gesellschaftliche Hierarchien neu gesetzt, reflektiert oder transformiert werden. So reagiert Isabella beim Anblick des riesigen Epigrafs »A Umberto I. Romanamente« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 268) am Triumphbogen »in stile impero« (ibid.) im Stadtzentrum von Mogadishu zunächst irritiert, »[m]i domandai se una scritta del genere, in Italia, avrebbe resistito alla caduta di Mussolini e dei Savoia, e come mai i giovani somali non l’avessero presa a picconate« (ibid.); sogleich ersinnt sie aber eine Bedeutungsdekonstruktion des Bauwerks, um es widerständig neu zu semantisieren, »mi augurai che i somali lo lasciassero in piedi, per poi trasformarlo in un bel vespasiano. Romanamente« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 269) – ähnlich des spannungsreichen Umgangs und Prozesses der Resemantisierung, den das Vittoriano in Rom durchlief (cf. Hallet/Neumann 2009, 25). Wie zuvor dargelegt, sind Individuation und Sozialisation kulturell determiniert und beide Identitätsaspekte basieren auf einem Bewusstsein, das durch die Sprache(n), Vorstellungen und Normen mitunter mehrerer Kulturen geprägt wird. Die Gesellschaft erscheint demgemäß »nicht als eine dem 26 | Nachdem Isabella die Lüge über die wahre ›Identität‹ ihrer Mutter enthüllt, fungiert diese mehr und mehr als Projektionsfläche: »Quel che mi interessava era sapere tutto su nostra madre, visto che a me avevano fatto credere che fosse Flora Virdis (in somalo Aschirò Assan) e che la mia pelle fosse più scura per via del sole di Mogadiscio.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 103)

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Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seines Selbst« (Assmann 2005, 132). Die ›Identität‹ eines Ichs formt sich somit gesellschaftlich und wird zugleich kulturell geprägt. Bewegen sich Menschen zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Ordnungen, wird ihre ›Identität‹ durch den veränderten sozialen und kulturellen Kontext konstruiert – räumliche Bewegung bewirkt also eine Identitätstransformation. Insofern jegliche Raumerfahrung untrennbar an die individuelle Körperlichkeit gebunden ist, erlebt der/die Einzelne Orte und Räume nicht nur entsprechend kultureller Raumkonzepte, sondern über individuelle und sinnliche Raumwahrnehmung. Dabei fungiert der Körper für die räumliche Verortung des Individuums sowie für die Erfahrung von Räumen »als Orientierungszentrum, über das eine sinnhafte, sinnliche Beziehung zum Raum hergestellt wird« (Hallet/Neumann 2009, 27). In Timira wird, ähnlich wie in Il latte è buono, das figurale Raumerleben über Sinnesmodalitäten des Sehens, Hörens, Riechens und Tastens vorwiegend in den intern fokalisiert erzählten Episoden literarisch dargestellt: »Volevo scendere in strada, mescolarmi ai somali, sentire sulla pelle i loro sguardi e valutarne il peso.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 266f.) Die körperlich-sinnliche Dimension steigert den Effekt emotionaler Ergriffenheit beispielsweise in der Szene der ersten Begegnung Isabellas mit ihrer leiblichen Mutter Aschirò Assan in Mogadishu bis zur symbolischen Überhöhung des Wiedersehens als Wiedergeburt, wie folgender Textauszug schildert: »– Ecco. Ayaada waa hooyadada. Questa è tua madre, – disse ad alta voce […]. Fino a quel momento, la donna aveva fissato il suo bicchiere, il volto mezzo coperto da una stoffa azzurra che portava sui capelli. Alzò il capo e mi ritrovai di fronte Aschirò Assan, versione in carne e ossa di quella vecchia fotografia che avevo consumato con gli occhi, fino a perdermi nei lineamenti del ritratto. – Sono contenta, – disse mia madre. – Almeno uno dei due è tornato. Poi afferrò con le dita un lembo della stoffa che le copriva i capelli e se la tirò sugli occhi, mentre i singhiozzi le martellavano la schiena. Avrei voluto buttarmi ad abbracciarla, ma tra noi c’era il tavolo e le altre sedie bloccavano il passaggio. Così allungai le braccia sulla superficie di formica e le spinsi avanti finché non incontrai le sue mani. Le mani che per prime mi avevano accarezzato, lavato, nutrito. […] [M]a quando ci abbracciammo, fu come se la mia carne riconoscesse la sua, come se volesse farsi risucchiare e partorire di nuovo.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 270f.)

Wie das Zitat vermittelt, nimmt Isabella die Erfahrung der Körperlichkeit der Welt als Teil der Erfahrung ihres Selbst wahr. Insbesondere am Körper zeigt sich, dass die Grenze zugleich eine Schwelle, eine Kontaktfläche zum ›Anderen‹ ist (cf. Borsò 2004, 22, 25). Als »bewegliche Figur« (Lotman 2006, 539) er-

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fährt die Protagonistin durch den Eintritt in einen neuen sozialen, kulturellen, familiären Kontext das Überschreiten von Grenzen als Änderung ihres Selbst; hierbei handelt es sich um Schwellen oder Grenzzonen (cf. Waldenfels 1998, 31).27 In diesen erfahrenen Grenzsituationen oder Übergängen konkretisiert sich Isabellas/Timiras Identitätssuche, die angesichts der aus dem Kolonialismus resultierenden diskontinuierlichen Familienkonstellation mit einer stets präsenten Gefühlsambivalenz korreliert, worüber die Protagonistin in einem Gedankengang reflektiert: »Mi domandai se questo non fosse un vantaggio: la capacità di provare, in ogni situazione, un familiare disagio.« (Wu Ming 2/ Mohamed Marincola 2012, 266) Den drohenden Selbstverlust im vermeintlich Vertrauten während ihrer Kindheit nimmt sie im Erwachsenenalter als »Dezentrierung« ihres Selbst bewusst wahr und imaginiert das Potenzial eines offenen oder fragmentierten Identitätsbegriffs.28 Freiheit und Selbstbestimmung sind Isabellas/Timiras größte Begehren; figural lässt sie sich als willensstark, gebildet und von scharfsinniger Intelligenz charakterisieren. Sie beschließt nach der Trennung von Lamberto vorerst in Mogadishu zu bleiben, kehrt jedoch infolge einer ungewollten Schwangerschaft nach Rom zurück, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nach einer Ellipse von drei Jahren wird den LeserInnen in Form eines Briefes Isabellas an ihre Mutter mitgeteilt, dass sie den Somalier Mohamed Ahmed kennengelernt habe, der an der Universität Rom Politikwissenschaften studiert und sie heiraten möchte. Die Narration rafft nach einer weiteren Ellipse der 27 | Cf. Bernhard Waldenfels weiter: »Jenseits der Schwelle finden wir keine wohlunterschiedenen Sinnregionen, sondern ein ›Magma‹ sich wechselseitig spiegelnder Bedeutungen, wo der Tod des Schlafes Bruder ist, die Liebe eine Wiedergeburt bedeutet und das Erwachen des Selbst mit einem Fremdeln einhergeht.« (Waldenfels 1998, 32) 28 | Diesen Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung bezeichnet die postkoloniale Theorie als »Zerstreuung« (Hall 1999, 394) oder »Dezentrierung des Subjekts« (ibid.). Der Begriff der »Zerstreuung« (dislocation) wurde erstmals von Ernesto Laclau (1990) benutzt, auf den Stuart Hall referiert und erläutert, eine zerstreute Struktur zeichne sich dadurch aus, dass ihr »Zentrum verdrängt und nicht durch ein anderes, sondern durch ›eine Vielfalt von Machtzentren‹ ersetzt wird« (Hall 1999, 398). In der poststrukturalistischen Theorie gilt das Individuum (das Ich) als Produkt der Sprache. Infolgedessen zieht der Gebrauch sprachlicher Zeichen nach sich, dass die ›Bedeutungskonstitution‹ eines Ichs, also ›Identität‹, stets verstreut oder zersplittert ist, wie auch die Bedeutung in einem Zeichen nicht unmittelbar präsent, sondern der Signifikantenkette entlang verteilt ist. Ein Individuum kann somit nicht als Ausgangs- und Endpunkt von Bedeutung gesehen werden. Dies wird »Dezentrierung des Subjekts« genannt; ähnlich wie Bedeutung nicht fixiert werden kann, lässt sich auch ›Identität‹ niemals fixieren – eine stabile oder einheitliche ›Identität‹ ist daher eine Fiktion (cf. Eagleton 1997, 111ff., in Anlehnung an Derrida).

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erzählten Welt die von der Hauptfigur als autodiegetische Erzählstimme berichteten Ereignisse unbeschwerten Lebens im Mogadishu der 1960er Jahre: Isabella und Mohamed heiraten und bekommen ihr einziges gemeinsames Kind – Antar. Die Protagonistin nennt sich fortan Timira Assan, unterrichtet an den scuole superiori Michelangelo Buonarroti, gibt Nachhilfe in Latein und Griechisch und führt das Leben einer modernen emanzipierten Frau. Der Text informiert mitunter über das somalische Schulsystem sowie den Einfluss Italiens bei der Konzeption dieses elitären und im Wesentlichen italozentrischen Systems (cf. Margara 2013, 157).29 Insofern sich die politischen Verhältnisse in Somalia nach der Unabhängigkeit nur unzureichend stabilisieren, gelingt es Siad Barre, sich 1969 an die Macht zu putschen, ein für Isabella und ihre Familie folgenschweres Ereignis. Mohamed, ehemals Kabinettschef der gestürzten Regierung von Ali Shermarke, wird inhaftiert und wendet sich nach Jahren der Demütigung, Perspektivlosigkeit und Arbeitsmigration in Saudi-Arabien verstärkt dem Islam zu. Temporäre Medikamentenabhängigkeit und Suizidgedanken stürzen Isabella in eine Lebenskrise, auch das Verhältnis zu ihrer Mutter Aschirò Assan entwickelt sich nicht so innig, wie anfänglich erhofft. Irrtümer, Fehler und Scheitern zwingen zu ständiger Veränderung und würden daher wie Medizin gegen das Alter(n) wirken, so Isabella, denn » […] quando non cambi proprio piú, vuol dire che sei morto« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 480). Leben identifiziert die Protagonistin also mit Veränderung und Bewegung. Als 1991 der somalische Bürgerkrieg ausbricht, kehrt Isabella/Timira schließlich nach Italien zurück, eine unfreiwillige, aber alternativlose Remigration in ihre alte ›Heimat‹: »Quando l’alternativa al caos è la legge di Dio amministra29 | Cf. in diesem Zusammenhang das Gespräch zwischen Isabella und dem Kommissar von Mogadishu, Jama Ganni, der ihre Eleganz und Bildung bewundert und zugleich die mangelnden Investitionen ins somalische Schulsystem seitens der italienischen Kolonialpolitik beklagt und kritisiert. Die Szene spielt 1956 während Isabellas ersten Aufenthalts in Somalia im Rahmen eines Galadinners: »– Voi siete davvero fortunata, – mi disse il ›sindaco‹ soffiandomi nell’orecchio. Ebbi una vaga sensazione di già sentito e gli domandai se anche lui avesse per caso in mente la mia istruzione superiore. – Proprio così, – mi rispose. – Ve lo ha già detto qualcuno? Sì? E allora aspettatevi di sentirlo ripetere spesso. Per quelli della mia età questo è un grande, come si dice … fardello? Volevamo studiare, ma non ci era permesso. Potevamo arrivare giusto fino alla terza elementare. ›Un indigeno basta che sappia tenere in mano il fucile o la zappa‹, ci dicevano. Altre nazioni coloniali hanno fatto solo questo, di buono: istruire i sudditi, e adesso ci sono scienziati kenyoti e senegalesi che hanno studiato a Londra e a Parigi. Qui no. Nessun somalo ha fatto l’università in Italia. Non abbiamo scienziati. L’Italia poteva fare una cosa buona, una sola: ma non l’ha fatta.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 279)

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ta dagli uomini, allora è il momento di fuggire da entrambi.« (Wu Mung 2/­ ­Mohamed Marincola 2012, 41) Die in der Erzählgegenwart verorteten Episoden fiktionalisieren die von der faktualen politischen Krisensituation auferlegten und somit nicht frei gewählten Handlungen und Erfahrungen Isabellas, die angesichts sozialpolitischer, ökonomischer und familiärer Umstände notgedrungen unterwegs ist. Infolge des Ausnahmezustandes wird in Italien ein Gesetz erlassen, das aus Somalia geflüchteten italienischen Staatsangehörigen eine finanzielle Unterstützung in der Höhe von 11 Millionen Lire zuspricht. Die Auszahlung dieser Summe knüpft sich an drei formale Voraussetzungen, konkret an die Bescheinigung der Repatriierung durch das Außenministerium, eine amtliche Meldung in einer italienischen Stadt oder Gemeinde und schließlich die Ausstellung des Flüchtlingsstatus durch die Präfektur des Wohnortes. Bei der Suche nach einem dauerhaften Wohnsitz sowie der Bestreitung des Lebensunterhalts vertraut Isabella auf die leidliche Unterstützung ihres Sohnes Antar, der seit mehreren Jahren in Bologna studiert, sich selbst in prekären Lebensverhältnissen durchschlägt und seiner Mutter wiederholt nur provisorische Unterkünfte vermitteln kann. Isabella verbringt einige Monate in den Dolomiten, bevor sie, zurück in Bologna, aus existenzieller Notwendigkeit gezwungen ist, eine Arbeit in der Altenpflege anzunehmen und die 83-jährige Itala Venturoli zu betreuen. Ehe allerdings die offizielle Wohnsitzmeldung und ihr Personalausweis in der Via Treviso eintreffen, wird Isabella gekündigt und sie lebt vorübergehend in der WG ihres Sohnes. Erweisen sich die Erlangung des Flüchtlingsstatus aus politischen Gründen sowie des staatlich zugesicherten Geldbetrages in der Folge als mit einer Vielzahl bürokratischer Hürden verbunden, rätselt Isabella angesichts all der verwaltungstechnischen Widersprüche, welchen Status sie denn eigentlich inne hat: Ist sie eine italienische Staatsbürgerin, eine Vertriebene, eine Geflüchtete oder eine vor dem Krieg in Somalia nach Italien Evakuierte? Wie kann sie als Geflüchtete in einem Land gelten, dessen Staatsbürgerschaft sie zugleich besitzt? Mehr denn als Geflüchtete fühlt sie sich ohnehin als Flüchtende. Diese Reflexionen über die politischen Rahmenbedingungen Anfang der 1990er Jahre in Italien fungieren gewissermaßen als Folie der Identitätsbildung oder als »Oberflächenmarkierung der Selbst-Konstitution« (Tiller 2014, 34) der Protagonistin. Im Verlauf ihrer Recherche zu Begriffen wie »profugo«, »rifugiato« und »sfollato« stößt sie auf das Lemma für »cittadinanza«, deren Bedeutung das konsultierte fiktive Lexikon folgendermaßen definiert: »Sostantivo femminile, vincolo di appartenenza a uno stato, richiesto e documentato per il godimento di diritti e l’assoggettamento a particolari oneri. Può essere vista come un rapporto giuridico tra lo stato e una persona fisica.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 461) Wenn nun eine Person physisch existiert und alle Voraussetzungen für die italienische Staatsangehörigkeit erfüllt, jedoch in Wirklichkeit das Leben einer Geflüchteten führt, dann fehlt in dem als Staatsbürgerschaft bezeich-

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neten juristischen Verhältnis nicht der/die BürgerIn, sondern der souveräne Staat, so die Kritik der die Protagonistin aus der Du-Perspektive fokalisierenden Erzählinstanz. Als italienische Staatsbürgerin schwarzer Hautfarbe scheint Isabella/Timira paradoxerweise zu einer Flüchtenden im Land ihrer Staatsangehörigkeit zu werden, das zunehmend selbst in eine Krise schlittert. Im Italien der Jahre 1991/92 durchlebt Isabella/Timira in der Tat eine existenzielle Grenzerfahrung, in der sie simultan Geflüchtete und Staatsbürgerin ist, ohne von den Institutionen gehört zu werden. Schon Gayatri Spivak hat auf die hegemoniale Strukturiertheit ›des Hörens‹ hingewiesen. Dies wirft Fragen nach einer latenten Präsenz von Subalternität in europäischen Ländern wie Italien auf: Spivaks Aussage, dass Subalterne nicht sprechen können,30 ist dahingehend zu verstehen, dass sie, selbst wenn sie es immer wieder versuchen, nie gehört 30 | Gayatri Spivak aktualisierte das auf Antonio Gramsci zurückgehende Konzept der Subalternen für die postkoloniale Theorie. Der Begriff »subaltern« beschreibt einen sozialen ›Raum‹ bzw. Subjektpositionen, der/die innerhalb eines kolonialisierten Territoriums von allen Mobilitätsformen abgeschnitten ist/sind. Sie entlehnte den Begriff der »Subalternen« aus Antonio Gramscis Quaderni del carcere (1929-1935); als solche bezeichnet Gramsci jene Individuen, »die keiner hegemonialen Klasse angehören, die politisch unorganisiert sind und über kein Klassenbewusstsein verfügen« (Castro Varela/Dhawan 2005, 69, in Anlehnung an Gramsci 1999 [1934]). Gramsci ging davon aus, »dass das hegemoniale Unterdrückungssystem, das die Subalternen ausbeutet, durch [deren] Gewinnung eines Klassenbewusstseins und/oder durch das Eingehen einer Allianz mit der städtischen Arbeiterklasse gestürzt werden könne« (ibid.). Diese Vorstellung der Subalternen als potenzielle revolutionäre Kraft wurde von Spivak übernommen, kontextualisiert und weiterentwickelt. In ihrem einflussreichen Essay Can the Subaltern speak? (2008 [1988]) erörtert Spivak die Frage, ob die Subalternen für sich selbst sprechen können oder davon abhängig sind, dass für sie gesprochen wird – und sie mithin repräsentiert werden, anstatt sich selbst zu repräsentieren. Spivak kritisiert mit ihrem Text etwa die Positionen Michel Foucaults und Gilles Deleuzes: »Die Arbeit der französischen Intellektuellen vernachlässige mithin das Feld der Ideologie, welches dagegen in Spivaks marxistisch orientierter Analyse eine große Rolle spielt«, so María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2005, 72). Die Ablehnung ideologietheore­ tischer Positionen führt zu einer Sichtweise, welche die Subalternen als klassisch-humanistische Subjekte konstruiert, die sich ihrer sozialen Lage kritisch bewusst sind und entsprechend Widerstand leisten. Foucault argumentiert etwa, die Menschen seien durchaus in der Lage, für sich selbst zu sprechen und nicht auf die Intellektuellen angewiesen, um über ihre Lage zu reflektieren. »Die Intellektuellen selber, so Foucault, sind Teil bestehender Machtkonfigurationen, weswegen ihre Aufgabe darin bestehe, jene Formen der Macht zu bekämpfen, die sie zu einem Objekt und Instrument derselben transformieren. Die Rolle der Intellektuellen […] liegt nicht mehr darin, die ›erstickte Wahrheit‹ der Massen zu artikulieren.« (Castro Varela/Dhawan 2005, 73, in Anlehnung

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werden und dies trifft zweifellos auf Isabella/Timira während ihrer Odyssee durch die staatlichen Verwaltungsinstitutionen zu (cf. Spivak 1996 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 76). Von den Wechselfällen des Lebens, persönlichen Kompromissen und rassistischer Ausgrenzung gezeichnet, vermag die Protagonistin dennoch unermüdlich Fluchtwege zu öffnen und verhandelt widerständig ihre ›Identität‹ in ihrer alten neuen ›Heimat‹ als italienische Staatsbürgerin: »– È questo il mio paese, l’Italia. Ed è stato il governo italiano a portarmi qua: non la guerra, non i somali e nemmeno la speranza. Io sono italiana. Un’italiana dalla pelle scura.« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012, 395) Somalia wird auf planetarer Ebene häufig als Extrembeispiel eines so genannten Failed State zitiert. In der Tat implodierte der somalische Staat im Jahr 1991, aber auch in Italien vollzogen sich Anfang der 1990er Jahre grundlegende politische Veränderungen wie der Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik. In diesen Kontext kehrt die Protagonistin nach 30 Jahren in Somalia zurück, und am Ende ist es nicht der italienische Staat, der ihr ein Dach über den Kopf bereitstellt. Giuliana Benvenuti hinterfragt Konzepte wie Staatsbürgerschaft, wenn man als Staatsangehörige/r von einem Moment auf den anderen zu einer/m Geflüchteten werden kann und fragt: »Ma uno Stato che non riesce ad aiutare un suo cittadino in una situazione di emergenza, che altro è se non uno Stato fallito?« (Benvenuti 2012 zit. in http://www.wumingfoundation.com/giap/2012/07/timira-cut-n-paste/ [08.06.2017]). Fehlt der Staat, scheint kein anderer Ausweg zu bleiben, als sich an eine karitative Organisation zu wenden, worauf das letzte Kapitel in Timira durch die detaillierte Beschreibung der Prozession zu Ehren der Madonna di San Luca, »colei che mostra la via, protettrice dei viaggiatori e quindi anche dei profughi […]. Una Madonna nera, marroncina, mulatta« (Wu Ming 2/Mohamed Marincola 2012 489), anspielt. Timira problematisiert damit den allgemeinen sozialen und politischen Umbruch Italiens Anfang der 1990er Jahre und besonders die Krise der staatlichen Institutionen. Ihre Wanderungen führen Isabella zwar von einer persönlichen Demütigung zur nächsten, allerdings besteht kein Zweifel, wer dieses Debakel zu verantworten hat: Der italienische Staat, der Personen wie Isabella selbst Ende des 20. Jahrhunderts einfach nicht vorsieht und kein soziales Netz bietet. Demgegenüber wird die Protagonistin als ›Heldin des Alltags‹ inszeniert, die trotz widrigster Rahmenbedingungen nicht aufgibt und neue Räume freilegt bzw. gezwungen ist freizulegen, um zu überleben. Auf Vermittlung von Don Marino beziehen Isabella und Antar schließlich eine Wohnung in Bologna. Das Vertrauen auf Wohltätigkeit repräsentiert jedoch das Gegenteil von Rechtsstaat: »Di fronte all’elemosina si può solo ringraziare, perché la beneficenza è il contrario del diritto« (Wu Ming 2/ an Foucault 1977) Für Spivak geben Foucault und Deleuze damit ihre Verantwortung gegenüber den Entmächtigten auf (cf. Castro Varela/Dhawan 2005, 69ff.).

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Mohamed Marincola 2012, 491), so die explizite Kritik am italienischen Staat, der sich im Umgang mit (post-)kolonialen Biografien seiner Verantwortung zu entziehen scheint. Die Episoden dieses finalen Romankapitels spielen symbolisch aufgeladen am 23. Mai 1992 in Bologna; am selben Tag, so informiert die Chronologie am Ende des Textes, verübte die Cosa Nostra in Capaci nahe Palermo ein Attentat und tötete einen widerständigen Vertreter des R ­ echtsstaates: Giovanni Falcone. Zuvor wurde Timira als politische Literatur mit antirassistischem Engagement bezeichnet, fiktionalisiert der Text doch die Kontinuität des kolonialen Rassismus auch nach dem Ende der Kolonialzeit. Das Schriftstellerkollektiv Wu Ming setzt sich in seinen Büchern allgemein mit der Geschichte Italiens kritisch auseinander. In mehreren Manifesten erörtert Wu Ming die Anforderungen einer zeitgenössischen italienischen Erzählliteratur und konzipiert eine New Italian Epic.31 Innovationspotenzial und Impulse für eine literarische Erneuerung erkennen die AutorInnen in jener »fusione di etica e stile« (Wu Ming 2009, 26) faktualer Fiktionen. In Hinblick auf eine New Italian Epic fordert Wu Ming programmatisch u.a. »impegno etico nei confronti dello scrivere e del narrare, il che significa: profonda fiducia nel potere curativo della lingua e delle storie; un senso di necessità politica […]; sintesi di fiction e non-fiction diverse da quelle a cui eravamo abituati […].« (Wu Ming 2009, 108f.; cf. Tiller 2015, 48) Die New Italian Epic forciert somit ein narratives Aushandeln kultureller und politischer Themen; im Mittelpunkt steht dabei das Zusammenspiel von Medialität und ›Realität‹ im Narrativen oder anders gesagt, das performative Potenzial realitätsaffiner fiktionaler Texte (cf. Tiller 2014, 47f.). Im Sinne der New Italian Epic ermutigt Timira die LeserInnen, hegemoniale Repräsenta­ tionen kolonialer und postkolonialer Geschichtsdarstellungen mit einem Blick

31 | Der Begriff »New Italian Epic« wurde 2008 vom Autorenkollektiv geprägt und seither in der Kultur- und Literaturszene Italiens kontrovers diskutiert. Die New Italian Epic bezeichnet jene Texte »der zeitgenössischen italienischen Narrativik, die sich unter Distanznahme von postmoderner Beliebig- und Belanglosigkeit wieder einem sozialen und politischen Engagement verpflichtet fühlen« (Schaefer 2015, 191). Mit ihrem Plädoyer für einen »ritorno al futuro« akzentuiert die Gruppe die Bedeutung der Zukunft und fordert einen gesellschaftlichen und literarischen Wandel, den sie selbst anbahnen will (cf. Wu Ming 2009). Die neue engagierte Literatur positioniert sich kritisch zum einen auf politischer Ebene gegenüber den Entwicklungen in Italien und weltweit seit dem Ende des Kalten Krieges, zum anderen auf literarischer Ebene gegenüber der postmodernen Vernachlässigung ›des Politischen‹ und des Rückzugs ins ausschließlich ›Ästhetische‹. Im Konzept der New Italian Epic sind »narrative Komplexität« und »Subversion von Sprache und Stil« zentral; ein wesentlicher Punkt ist zudem, »Verantwortung für die Zukunft« zu übernehmen (cf. Schaefer 2015, 194).

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›von außen‹ wahrzunehmen und eine kritische ›Gegenöffentlichkeit‹ zu bilden. Wu Mings faktuale Fiktionen können mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement in der literarischen Tradition der littérature engagée Jean Paul Sartres gesehen werden. Sartre forderte die aktive Beteiligung von AutorInnen am gesellschaftlichen Leben gerade durch die schriftstellerische Tätigkeit, wolle man »zugleich die gesellschaftliche Auffassung vom Menschen und seine persönlichen Verhältnisse verändern« (Sarte zit. in Petronio 1993, 281). Wu Ming verleiht dem Konzept einer engagierten Literatur neue Aktualität und begreift Literatur als gesellschaftliche Aufgabe mit Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft.

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IV. »Vivere in mezzo a tutto«1: Existenzielle Grenzerfahrungen in Garane Garanes Il latte è buono

»Ich frage, was wird aus einer Person – ja sogar, was wird aus einem ›Volk‹ –, wenn dieses Land-als-­H ypothese zu funktionieren aufhört. Was für eine Tragödie voll unsagbaren Leides steckt in dem Augenblick, in dem jemandem dämmert, daß sein Land nicht mehr existiert, weder als Idee noch als physische Realität! Ich erinnere mich noch, wie Somalia, mein Geburtsland, im Konstrukt meiner Logik das Leben verlor, etwa so wie eine Annahme, die fallengelassen wurde. In diesem Augenblick fühlte ich mich gleichzeitig vertrieben und ungläubig, als wäre ein Spiegel zerbrochen. Schließlich fragte ich mich, ob ich im Licht der Ereignisse nicht ein anderer geworden war.« N uruddin Farah, Yesterday, Tomorrow (2003, 92)

Garane Garanes 2005 veröffentlichter Roman Il latte è buono, von Armando Gnisci als »il primo romanzo postcoloniale italiano« (Gnisci zit. in Garane 2005, Klappentext) bezeichnet, erzählt die Geschichte des in privilegierten Verhältnissen in Mogadishu sozialisierten Protagonisten Gashan. Durch die Erfahrung des Exils entwickelt dieser im Handlungsverlauf eine veränderte Selbstwahrnehmung und reflektiert Hybridität als postkoloniales Konzept einer ›Identität‹ in Bewegung. Der Plot gliedert sich in vier Teile: Nascita di una regina, Mogadiscio la noiosa, L’esilio und Il ritorno, il monologo e la morte. Während im ersten Romankapitel die Geschichte rund um Shakhlan Iman, Gashans Großmutter und Alter Ego, aufgerollt wird, entsprechen die übrigen Kapitel den verschiedenen Lebensabschnitten des Protagonisten: seinen von den Nachwir1 | Garane 2005, 62.

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kungen des italienischen Kolonialismus durchdrungenen Jugendjahren in der modernen Hauptstadt Mogadishu, den langen Jahren des Exils und schließlich der Rückkehr nach Somalia an der Schwelle zum Bürgerkrieg Anfang 1991. Die Bewegung des Protagonisten entlang der Routen des Exils gestaltet sich als zirkulärer Verlauf ausgehend von Mogadishu zunächst nach Rom und Florenz, schließlich nach Grenoble und über Devil in den USA zurück in die somalische Hauptstadt. Den Aspekten ›Raum‹ und Bewegung kommt in Il latte è buono somit eine besondere Relevanz zu, weshalb im zweiten Abschnitt dieser Romananalyse die figurale Raumwahrnehmung der postkolonialen Großstädte Mogadishu und Rom näher beleuchtet werden soll. Sodann wird der Fokus der Untersuchung auf die Narrativierung des Transformationsprozesses von ›Identität‹ infolge räumlicher Bewegung gelegt; Gashans autoreflexive Ausein­ andersetzung mit seiner hybriden ›Identität‹ sowie eine fiktive Debatte zur postkolonialen Situation Afrikas zwischen ihm und Thomas Sankara an der Universität Grenoble werden in den Blick genommen. Schließlich fokussiert der letzte Teil dieser Erzähltextanalyse die Rückkehr des Protagonisten in das vom Bürgerkrieg erschütterte Mogadishu und seine Parallelisierung des Handlungsortes mit Dantes selva oscura. Zunächst erfolgt jedoch eine Betrachtung des ersten Romankapitels, das von Shakhlan Iman und dem Aushandeln ihrer Position als Frau in der patriarchalen Clangesellschaft der Ajuran berichtet; dieser Exkurs bildet einen notwendigen Baustein für die Textanalyse, begegnen sich beide Figuren doch im letzten Teil des Romans in den verwüsteten Straßen von Mogadishu wieder.

IV.1 E rkundungen diskursiver H andlungsspielr äume Der erste Teil des Romans thematisiert in Form einer Exposition die Ahnengeschichte des Protagonisten, situiert in der präkolonialen Vergangenheit etwa um das Jahr 1700, »quando i somali avevano ancora la gloria« (Garane zit. in Gadaleta 2006, 1), in Azania, einer Region am afrikanischen Horn zwischen Somalia, dem östlichen Äthiopien und dem Nordosten Kenias, wie Garane Garane im Interview mit Giulia Gadaleta (2006) erläutert. Einleitend erzählt werden jene 24 Monate, die Shakhlan Iman, die künftige Königin der Ajuran2 und figural die Großmutter des Protagonisten, im Mutterleib verbringt, permanent 2 | Cf. die von der heterodiegetischen Erzählinstanz vermittelte direkte Charakterisierung der Ajuran: »Gli Ajuran erano un popolo unico nel loro genere nella storia africana. Erano un clan di rare qualità. Il clan era di una gentilezza squisita, assoluta, ed aveva un senso dell’ospitalità che celava con persistenza l’essenziale della loro anima: una dignità eccelsa, un rispetto meticoloso delle tradizioni immutabili ed un attaccamento viscerale alla terra degli antenati. Gli Ajuran, come tanti altri clan del Corno d’Africa,

Garane Garane – Il latte è buono

wach, um – sich körperlich und ihr Bewusstsein bildend – die äußere Welt zu erfühlen. Als Mädchen in eine patriarchale Clangesellschaft geboren, bedeutet ihre Existenz von Geburt an ein Verhandeln von Positionen. In Clansystemen sind die Frauen und Männern zugeordneten Bereiche präzise festgelegt und Shakhlan Iman ist es, die diese Rollen verwischt, die durcheinanderbringt und diese gesellschaftliche Ordnung verändern wird. Von Beginn an wird sie als Raum- und Zeitgrenzen überschreitende Figur mit panoptischem Blick inszeniert, wie hier im Incipit des Romans: »Il latte è buono in tempo di pace. Sì, in tempo di pace. Pace di tutto. Pace in tutto. Pace tra gli uomini e la natura. Shakhlan Iman era nata dopo ventiquattro mesi vissuti nel grembo di sua madre. Era lei che aveva fatto la scelta, perché voleva formarsi all’interno di una donna, di sua madre, in una terra dove gli uomini facevano il bello ed il brutto tempo. All’interno di sua madre aveva ascoltato le discussioni all’esterno del grembo. Sapeva tutto su tutti e su tutto, ma loro non sapevano che c’era una femmina nel corpo di una donna che non parlava quasi mai. Il grembo le diceva tutto. Sapeva tutto sul reame che un giorno lei avrebbe diretto. Nel grembo, lei non dormiva mai.« (Garane 2005, 5)

Il latte è buono spannt also den Bogen zur präkolonialen Ära rund um die Geburt von Shakhlan Iman, deren Geschichte sich im Romanverlauf mit jener ihres Enkels Gashan verwebt. Der Buchtitel, Il latte è buono, bezieht sich Abdourahman Waberi zufolge auf »il desiderio più caro nella vita di un nomade del Corno d’Africa, poiché quando c’è la pace, piena ed intera, il latte è più dolce, più schiumoso del solito« (Waberi 2005, 130). Der Titel wird den gesamten Text hindurch von der heterodiegetischen Erzählinstanz als eine Art Refrain in Ent­sprechung zu den jeweils erlebten Situationen der Hauptfigur wiederholt; im Incipit weist er auf ein Zeitalter des Friedens voraus, »la pace tra gli uomini e la natura«, auf die Akzeptanz einer Frau als zukünftige Königin in einer männer­dominierten Gesellschaft. Ihre Geburt erzeugt zunächst Desorientierung und Verwirrung, hebt ihr Geschlecht doch die etablierte Ordnung patriarchaler nomadischer und islamischer Traditionen auf. Die Narration entfaltet nach der Geburt des Mädchens eine lange polyphone und kontroverse Debatte zwischen den Weisen und Ältesten des Clans über die Hypothese, dass die Macht des Imams eines Tages auf eine Frau übergehen könne. Ästhetisch realisiert wird dieses Aushandeln von Positionen mittels einer dialogischen oder szenischen Darstellung, Erzähl­ zeit und erzählte Zeit stimmen nahezu überein; diese für das zeitdeckende Erzählen typische Isochronie gestaltet sich im dramatischen Modus, die Präsenz der Erzählinstanz ist kaum wahrnehmbar, tendenziell ›verschwindet‹ sie quasi pretendevano di essere di ›razza pura‹. Anche se la storia di Azania è la storia di un miscuglio di ›razze‹ e di popoli diversi.« (Garane 2005, 36f.)

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hinter den in direkter Rede diskutierenden Figuren (cf. Martínez/Scheffel 2012, 50ff.). Auf stilistischer Ebene verweist der wiederholte Einsatz von Anaphern3 und Exklamationen4 auf eine mündliche Literaturtradition, wie Stefano Zangrando (2006, 98) anmerkt, und in der Tat legt eine Äußerung des Autors im zitierten Interview den Schluss nahe, er inszeniere in der narrativen Verhandlung über das Shakhlan Iman rechtmäßig zustehende Amt eine traditionelle, aus der nomadischen Redekunst Somalias abgeleitete Erzählstruktur. Auf die Frage, in welcher literarischen Tradition sein Roman stehe, antwortet Garane: »[…] è un gabai, una lunga litania filosofica. La struttura è tradizionale, italo-somala … i somali nomadi raccontavano questa lunga storia che durava per pagine e pagine: quando ho cominciato a scrivere non ho potuto fermarmi prima di finirlo. I somali sono noti per l’arte del parlare, questo fa parte di quell’arte.« (Garane zit. in Gadaleta 2006, 3) 5

Wie gestaltet sich nun das diskursive Aushandeln von Shakhlan Imans Position als Symbol der Zukunft im Kapitel Nascita di una regina? Hierfür erweist sich Homi Bhabhas Third-Space-Konzept als hilfreich, das einen konzeptuellen (diskursiven) ›Raum‹ der Auseinandersetzung in und zwischen Kulturen bezeichnet, an dem Grenzziehungen destabilisiert werden können.6 Politisch entscheidend ist demnach die Notwendigkeit, »sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von […] Differenzen produziert werden« (Bhabha 1997, 124). In Garanes Roman lotet der die Debatte leitende weise Kana zunächst die Verfasstheit der Ajuran aus, eine Frau als Königin zu akzeptieren, denn »sapeva che in Azania bisognava cominciare ogni dibattito dal punto di vista dell’interesse degli uomini« (Garane 2005, 8). Aus diesen ›Zwischenräumen‹ heraus können Strategien ausgearbeitet werden, die 3 | Cf. »I vinti hanno sempre qualcosa da dire ai vincitori. Un vinto è forse meno guerriero, ma più intelligente. Un vinto può essere un futuro.« (Garane 2005, 28) 4 |  Cf. »Quel giorno non piangerò. Gli occhi della leonessa non me lo ­p ermetterebbe­r o!« (Garane 2005, 30) 5 | Tatsächlich ist im Roman zu lesen: »Kana, imperturbabile, infaticabile, continuava la sua lunga litania.« (Garane 2005, 26; Hervorhebungen M.K.) 6 | Im vielzitierten Interview mit Jonathan Rutherford erläutert Homi Bhabha sein Konzept wie folgt: »[F]or me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge. This third space displaces the histories that consti­ tute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives […]. […] the importance of hybridity is that it bears the traces of those feelings and practices which inform it, just like a translation, so that hybridity puts together the traces of certain other meanings or discourses.« (Bhabha 1998, 211)

Garane Garane – Il latte è buono »beim aktiven Prozess, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen. Im Entstehen solcher Zwischenräume – durch das Überlappen und De-plat­ zieren (displacement) von Differenzbereichen – werden intersubjektive und kollektive Erfahrungen von [Nation], gemeinschaftlichem Interesse und kulturellem Wert ver­ handelt.« (Bhabha 1997, 124)

Mit Blick auf den Roman wendet die Figur Kana verschiedene rhetorische Verfahren an, um die Zustimmung der versammelten Clanmitglieder für Shakh­ lan Iman zu erwirken. So erläutert er die gesamte Genealogie der Ajuran, denn »[il] clan è sacro come il Corano« (Garane 2005, 10), und versucht schließlich über die Religion, die durch die Jahrhunderte von der Tradition verzerrt wurde, die Legitimität einer Frau in der Nachfolge des Imams, ihres Vaters, einem Khuresh, eines Nachfahren des Propheten Mohammed, darzulegen. Shakhlan Iman soll also eine islamisch begründete Legitimität erhalten. Die Artikulation von Differenz lässt sich als ein komplexes, permanentes Verhandeln aus der Perspektive von Shakhlan Iman beschreiben, »welches versucht, kulturelle Hybriditäten zu autorisieren, die in Augenblicken historischen Wandels aufkommen« (Bhabha 1997, 125). Und in der Tat bewohnt sie den häufig zitierten »Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen« (Bhabha 1997, 127), bewegt sich ihre hybride ›Identität‹ doch zwischen Realität und Fiktion, »›[è] nata dopo ventiquattro mesi, per essere due cose ...‹« (Garane 2005, 12), zwischen Frauen und Männern zugeschriebenen Welten, »›... per essere due cose: una labeeb, un maschio ed una femmina!‹« (ibid.), sowie zwischen Tradition und Zukunft: »Sapevano che i saggi vedono il futuro. Sapevano che i saggi non vogliono distruggere il passato, ma che vogliono correggerlo. S ­ hak­hlan era la necessaria correzione.« (Garane 2005, 10)7 Die politische Machtaneignung Shakhlan Imans hängt davon ab, dass Fragen nach Solidarität und Gemeinschaft aus der Zwischenperspektive gestellt werden (cf. Bhabha 1997, 126). Soziale wie kulturelle Unterschiede verweisen laut Homi Bhabha auf »das Entstehen einer Gemeinschaft, welche als Projekt angesehen wird – als Vision und zugleich als Konstruktion –, das einen über sich selbst hinaus führt, damit man dann mit einer Haltung, die auf Revision und Rekonstruktion abzielt, zu den politischen Bedingungen der Gegenwart zurückkehrt« (Bhabha 1997, 126). 7 | Cf. in diesem Zusammenhang eine weitere Textstelle: »Lei, l’unica progenitura dell’Iman Omar. Il suo nome inglobava tutto: significava tatuata, completa. Shakhlan sapeva già dopo tre ore di vita che lei era la personificazione dell’uomo e della donna, ­d ella savana e dell’anima più resistente del mondo: il cammello. Era nata in una ­s truttura chiusa: lei sarebbe stata la chiusura e l’apertura della cultura dei nomadi. Non aveva forse gli occhi di una leonessa?« (Garane 2005, 12f.)

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Die Repräsentation von Differenz spiegelt nicht vorgegebene kulturelle Merkmale wider, die in der Tradition festgeschrieben sind, so Bhabha weiter. Indem Tradition »die Vergangenheit neu inszeniert, führt sie andere, inkommensu­ rable kulturelle Zeitlichkeiten in die Erfindung von Tradition ein« (Bhabha 1997, 125), interpretiert diese also performativ von den Bedingungen der Gegenwart aus. Dieser Prozess lasse »jeglichen direkten Zugang zu einer originären Identität oder einer ›überkommenen‹ Tradition zum entfremdeten Akt werden« (ibid.); dies versucht die Figur Kana in Il latte è buono der versammelten Gruppe klarzumachen: »›La nostra religione, la legislazione e gli usi e costumi nostri sono diventati una miscela inestricabile. Il passato non ci appartiene. Appartiene piuttosto alle diverse cause che l’hanno plasmato. Non prendete per realtà le vostre ossessioni. Bisogna scegliere tra il desiderio di demolire il passato ed il desiderio di conservarne dei testimoni. Niente è perenne e vero. Le tradizioni, in cui molti di noi credono, queste stesse tradizioni che ci forniscono la storia, sono così profondamente alterate e velate di incertezze, che sembrano a volte contraddirsi.‹« (Garane 2005, 26)

Im Verlauf der Auseinandersetzung thematisiert Kana indirekt jenen Third ­Space, der die diskursiven Bedingungen der Äußerung konstituiert, welche sicherstellen, »dass die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und dass selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können« (Bhabha 2000, 57).8 Und so steht am Ende des langwierigen Verhandelns bestehender Positionen innerhalb der Clangesellschaft der Ajuran die Akzeptanz einer weiblichen Königin gleichbedeutend mit einer sozialen und institutionellen Veränderung. Die Verwendung teils moderner politisch-ökonomischer Fachtermini schlägt den Bogen zu zeitgenössischen Gesellschaften, so äußern sich die Figuren parallel zu Shakhlans Position zur Rolle der Frauen, Homosexualität – Hassan Dirir wird repräsentiert als »coscienza nascosta di tutti gli oppressi« (Garane 2005, 15) –, kulturellen und politischen Aspekten des Islam, dem Gebrauch des Schleiers und der Frage der Infibulation. Stilistisch kombiniert der Text wiederholt rhetorisch-poetische Figuren wie z.B. Anaphern mit einer den dargestellten präkolonialen Kontext kontaminierenden Sprache der Gegenwart.9 8 | Cf. folgendes Textztitat: »Il saggio vedeva pochi visi compiaciuti, e molti uomini scettici che sapevano che ciò che diceva era giusto ma il cui cuore, a causa della tradizione, li tirava verso il senso opposto. Se si accettavano i diversi, bisognava accettare anche la supremazia di una donna?« (Garane 2005, 25) 9 | Darauf weist Stefano Zangrando (2010, 101) hin. Zur Exemplifizierung zitiert er folgenden Redebeitrag der Figur Kana, dessen sozialwissenschaftlich geprägte Sprache die Szene verfremdet: »›Lo commettono quelli che dispongono di potere politico e vogli-

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Dadurch wird eine Art Verfremdungseffekt erzeugt, der dem fingierten münd­ lichen Gespräch eine gewisse Ambiguität verleiht, wie Zangrando (2010, 101) am Beispiel der Infibulation darzulegen versucht: Indem Garane Garane die Handlung in präkolonialer mythischer Abgeschiedenheit ansiedelt, würde der Autor den Leser/die Leserin in die Lage versetzen, »di non poter giudicare, con gli strumenti della ragione odierna, l’approvazione della giovane Shakhlan, consapevole del proprio destino eccezionale […]«, so Zangrando (ibid.), der in seiner Interpretation die Infibulation Shakhlan Imans zu historisieren scheint.10 Insofern die heterodiegetische Erzählinstanz in der annähernd szenischen Darstellung hinter den Figurendialogen nahezu ›verschwindet‹, wirkt die Narration rund um die brisante Frage der Infibulation in einem ersten Moment tatsächlich ambivalent;11 die Erzählung nimmt im diskursiven Aushandeln der Positionen eine eher vermittelnde oder durch die Verortung in einer präkolonialen Clangesellschaft eine diese Ordnung repräsentierende Haltung ein, ohne figural eine klare Gegenposition zu inszenieren. Über die Akzeptanz einer Frau in der Machtposi­ tion der zukünftigen Königin entscheidet am Ende die Tradition, die Shakhlans Infibulation verlangt und die diese auch respektiert. Macht impliziert hier also die Aufgabe des Körpers. Aus meiner Sicht entschlüsselt sich dieses Kapitel erst in einem zweiten Moment respektive im letzten Abschnitt des Romans: Anhand ono renderlo eterno e assoluto. Lo commettono quelli che monopolizzano il diritto o interpretano in modo esclusivo la religione. Lo commettono quelli che hanno privilegi ed impongono le disparità generatrici di separazioni sociali. Lo commettono quelli che monopolizzano i mezzi di produzione e le risorse economiche. Lo commettono, infine, quelli che, affascinati dal potere, seguono in un modo passivo i quattro gruppi precedenti.‹« (Garane 2005, 16) Der Textauszug kombiniert auf formaler Ebene das Stilmittel der Anapher mit einer für das repräsentierte Ambiente unwahrscheinlichen modernen Fachsprache auf inhaltlicher Ebene. 10 | Die Argumentation Zangrandos (2010, 101) erscheint m.E. nicht unproblematisch, stellt die weibliche Genitalverstümmelung doch nicht nur »con gli strumenti della ragione odierna«, sondern einen überzeitlichen Akt der Zerstörung des Körpers und der Sexualität dar, ungeachtet damit verbundener sozialer Konsequenzen in Clansystemen (cf. hierzu die von Cristina Ubax Ali Farah in ihren literarischen Texten verarbeitete innere Zerrissenheit angesichts des Gefühls unvollständiger Zugehörigkeit, z.B. ihr Gedicht Strappo [Ali Farah zit. in Comberiati 2011a, 111f.] sowie die in Kap. VI dieser Studie, »Selbstverortung im diasporischen ›Raum‹ der Relationen: Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah«, vorgeschlagene Analyse des Romans Madre piccola). 11 | Cf.: »Anche il saggio Kana era d’accordo. Pensava tra sé: ›Un piccolo compromesso ci vuole se la voglio vedere come la regina d’Azania. Mediante l’infibulazione, Shakhlan Iman acquisterà un’identità all’interno dei nomadi e ciò sarà solennizzato con una grande festa preparata da tutti gli Ajuran.‹ Sapeva che un suo rifiuto sarebbe stata la fine della futura regina […].« (Garane 2005, 31)

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dieses expositorischen Einschubs kritisiert Il latte è buono symbolisch die gegenwärtige somalische Gesellschaftsordnung, die unterschiedlichen Positionen keinen Raum lässt. Die präkoloniale Geschichte wird im Text als ›Zeitalter‹ konstruiert, in dem es möglich war, auch noch so konträre Positionen diskursiv zu verhandeln und gesellschaftliche Ordnungen zu verändern; hingegen erscheint die im letzten Romankapitel thematisierte grenzenlose Gewalt des Bürgerkriegs ausweglos, worauf ich am Ende meiner Textanalyse zurückkommen werde.12 Nach der ausführlich dargestellten Debatte der unterschiedlichen Standpunkte der Clanmitglieder und einigen deskriptiven Passagen über die Mutter und den Vater Shakhlan Imans bricht gegen Ende des Kapitels die Kontinuität der Erzählung. Raffungen und Ellipsen, »I tempi cambiavano. […] I bianchi arrivavano sulle coste africane« (Garane 2005, 38), charakterisieren jetzt das Erzähltempo und erzeugen erzählerisch den Effekt einer größeren Dis­tanz zum Geschehen, gestreift werden beispielsweise die Anfänge des italienischen Kolonialismus oder konkrete historische Ereignisse wie die Schlacht bei Adua 1896: »[…] il Re dei Re e il Sultano dei Sultani, il Cristiano e il Musulmano, si riunirono per battersi contro l’invasore italiano. […] gli italiani persero una guerra memorabile ad Adua.« (Garane 2005, 38f.) Im Alter von 15 Jahren übernimmt Shakhlan Iman schließlich die Macht und angesichts der Expansion des äthiopischen Kaisers verfügt sie die kollektive Migration: »›Ci ritiriamo verso la costa dove un popolo chiamato ›somali‹ si sta formando.‹ […] Lei e altri partirono dunque verso la costa africana, dove uno strano stato stava per formarsi. Tutta l’Africa andava verso una nuova formazione.« (Garane 2005, 40f.) Wie im Textzitat anklingt, wird Shakhlan Iman in der gesamten Romanhandlung, vor allem ab dem zweiten Kapitel, als eine Figur in Bewegung konzipiert und verkörpert, mit Deleuze und Guattari (2006, 442f.) gesprochen, eine Nomadin, »weil sie einen glatten Raum [hält], den sie nicht verlassen [will] und den sie nur [verlässt], um zu erobern und zu sterben« (ibid.). Und in der Tat erscheint ihre Bewegung, »Shakhlan Iman camminava, camminava … tutti i giorni. Senza meta«, dadurch, dass sie den Wohnraum der Wegstrecke (dem Parcours) unterordnet, also den Ort in sich trägt, wie ein Reisen an Ort und Stelle, eine Nicht-Bewegung in dem Sinne, dass sie kein bestimmtes Ziel ansteuert, vielmehr im glatten Raum außerhalb gesellschaftlicher Normen gekerbter Räume verbleibt. Wie die Figuren Shakhlan Iman, ihr Sohn Kenadit und ihr Enkel Gashan anhand ihrer unterschiedlichen Lebensweisen demonstrieren, ist Nomadismus in die Erfahrung von Sesshaftigkeit 12 |  Im Interview mit Giulia Gadaleta bemerkt Garane Garane: »Volevo fare un inno alle donne somale: chi può in Africa parlare meglio di una donna, attraverso il suo corpo scalfito, distrutto … le donne africane sono sempre state diritte, gli uomini vacillano in Somalia; ancora oggi quelle che aiutano e che costruiscono scuole sono donne […].« (Garane zit. in Gadaleta 2006, 1)

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eingelassen, insofern er deren vorausgehende Phase wie deren Antithese bildet (cf. Mazierska/Rascaroli 2006, 111). Dabei ist es vor allem Gashan, der sich auf seinen Wanderungen in urbanen und globalen Räumen zwischen »dem Glatten und Gekerbten« (cf. Deleuze/Guattari 2006) bewegt und Züge eines »Stadt-Nomaden« (Deleuze/Guattari 2006, 442) entwickelt, worauf ich noch näher eingehen werde.13 Der zweite Teil des Romans, Mogadiscio la noiosa, spielt in der modernen Hauptstadt Somalias und gestaltet die Verflechtung der drei Generationen und der Epochen, die sie jeweils repräsentieren. Shakhlan Iman symbolisiert nun die Vergangenheit und betrachtet aus skeptischer Distanz die neue, von den italienischen Kolonisatoren geschaffene Ordnung und deren Folgen. Die Metapher des Kamels und des Esels setzt der Autor ein, um explizite Clanbezeichnungen zu vermeiden und dennoch die beiden Pole der somalischen Gesellschaft symbolisch darzustellen: Der Esel steht dabei für Teile der sesshaften Bevölkerung im Süden des Landes, das Kamel hingegen für die Nomaden im nördlichen und westlichen Somalia, so Garane (cf. Gadaleta 2006, 2). Narratologisch funktioniert diese Metapher als Prolepse, die neben Shakhlan Imans Scharf blick auf die im letzten Romankapitel fiktionalisierte Katastrophe des Bürgerkrieges der 1990er Jahre vorausdeutet: »Attraverso la smorfia di Shakhlan si intravedeva già il futuro conflitto tra i due animali: il cammello e l’asino. Il primo, nomade e camminatore di lunghe distese. Il secondo, sedentario e adatto alle piccole distanze. Tutt’e due con la forza unica dei trasportatori di armi. Uccidono senza rimpianti, per niente.« (Garane 2005, 47)

Im somalischen Bürgerkrieg prallen seit 1991 sozusagen Kamel und Esel aufeinander, wie das Textzitat kritisch vergegenwärtigt: Das Kamel repräsentiert symbolisch jene Nomaden, die sich in den Städten ansiedelten und eine Clankultur praktizieren. Dies lehnt die sesshafte Bevölkerung (symbolisiert durch den Esel) ab. Als weiteres Merkmal der erzählerischen Gestaltung des Romans lassen sich Aspekte sprachlicher Hybridisierung herausstellen, finden sich in dem auf Italienisch geschriebenen Text doch zahlreiche somalische Lexeme eingefügt, wie folgende Beispiele illustrieren: »Era come ascoltare il mocallim, l’insegnante del dugsi, la scuola coranica« (Garane 2005, 17), oder: »In questo dibattito nessuno voleva essere un precursore della taifiya, il settarismo.« (Garane 2005, 21) Die sprachlichen Elemente oder Einfärbungen in Somali, der Erstsprache des Autors, werden wie in den Textzitaten dem/der LeserIn überwiegend durch die heterodiegetische Erzählinstanz über erklärende Überset13 | Für eine ausführliche Erläuterung der hier angewandten Terminologie nach Deleuze und Guattari (2006) siehe Kap. I.4, »›Raum‹ und Bewegung« (letzter Absatz).

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zungen vermittelt. Der Gebrauch somalischer Lexeme kann insbesondere für den Kontext kultur­spezifischer Objekte oder Traditionen wie beispielsweise der Kleidung beobachtet werden, wie Christiane Kiemle (2011, 82f.) aufzeigt: »Nelle strade di Mogadiscio, il macawis, la futa tradizionale, stava diventando raro, da boscaglioso, si usavano ormai i pantaloni.« (Garane 2005, 46) Einige wenige Lexeme, z.B. »cilaan« (Garane 2005, 8) oder »jimbaar« (Garane 2005, 16, 18, 21, 26), werden ohne explizite Erklärung oder Übersetzung im Text verwendet, wohl aber erschließt sich dem/der LeserIn die Bedeutung aus dem Kontext, so bezeichnet das erwähnte »jimbaar« sehr wahrscheinlich ein Tuch aus Kamelleder.14 Verweisen die in den Text eingewebten somalischen Wörter vor allem in den ersten beiden Romankapiteln auf die in Azania und Mogadishu verortete Handlung, geht es beim Erzählverfahren der sprachlichen Hy­ bridisierung m.E. dennoch nicht um eine mimetische Abbildung der sprachlichen Lebenswelt der Figuren, wie dies Kiemle (2011, 129) annimmt,15 sondern, so auch Kleinert, um »eine literarische, politische und auf ein künftiges Publikum abzielende Intention« (Kleinert 2013, 208). Die Erzähltechnik des Einflechtens neuer linguistischer und kultureller Zeichen in den italienischsprachigen Text gilt als charakteristisch für eine transkulturelle Literatur, die weder eindeutig dem Italienischen noch ›anderen‹ sprachlichen Kontexten zuzuordnen ist. Können fremdsprachliche Elemente, insbesondere wenn auf eine erklärende Übersetzung im Text verzichtet wird, als Kritik an westlichen Gesellschaften verstanden werden, akzentuiert eine uneindeutige oder sich entziehende Bedeutung darüber hinaus die Komplexität von Kommunikation im Allgemeinen. 14 |  Auch für den Bereich »Essen und Trinken« stellt Christiane Kiemle fest, gelegentlich sei es für die LeserInnen schwierig, die Bedeutung bestimmter Lexeme aus dem Kontext abzuleiten: »[F]or instance, it is not completely clear if ›gabay‹ and ›hees‹ (Garane 2005, 65) refer to something to drink or to eat, and what exactly is meant by ›canjeera‹ (Garane 2005, 43).« (Kiemle 2011, 83) Ähnlich bleibe im Falle des Lexems »ginau« (Garane 2005, 39, 40) »unclear what exactly is meant by this term« (ibid.); der semantische Kontext, »[d]alla tomba nacque un nuovo albero, pieno di ginau« (Garane 2005, 39), ermögliche jedoch eine Schlussfolgerung auf die wahrscheinliche Bedeutung. Weitere Beispiele arbeitet Kiemle für das semantische Feld des Reisens heraus, das Erzählverfahren ist stets dasselbe: Die Bedeutung der somalischen Lexeme bleibt für den/die italienischsprachige/n LeserIn uneindeutig trotz des bekannten kontextuellen Rahmens (cf. Kiemle 2011, 83f.). 15 |  Kiemle zufolge würden die LeserInnen durch die fingierten mündlichen Dialoge der Figuren einen flüchtigen Eindruck der ›realen Sprache‹ ihrer Umgebung bekommen: »[…] can be seen as a textual strategy which aims to be a mimetic reflection of the linguistic surroundings of the characters: they allow the reader to catch a glimpse of the actual language of the fictional conversation.« (cf. Kiemle, 2011, 129)

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Wie erwähnt bildet das postkoloniale Mogadishu nach dem Putsch und der Machtergreifung Siad Barres im Jahr 1969 den Schauplatz des zweiten ­Romankapitels. Shakhlans Sohn Kenadit, Teil der neuen Führungselite im unabhängigen Somalia und Bürgermeister von Mogadishu, repräsentiert jene Generation des Übergangs, die die koloniale Überprägung des Landes, dessen Modernisierung sowie die damit verbundenen soziokulturellen Veränderungen in der ersten Person erlebt. Die Erzählung rafft vor allem zu Beginn des Kapitels weite Teile des Geschehens mit dem Effekt einer großen Distanz zur Figur Kenadit, über den der/die LeserIn nur sehr wenig erfährt; einzelne Episoden stellen ihn als Technokraten und Intellektuellen dar und alternieren mit Exkursen über jene historischen Umstände, die ihn zur Annahme eines Ministeramtes auf Seiten der Diktatur Siad Barres veranlassen. Kenadit, sich der destruktiven Auswirkungen der Militärdiktatur bewusst, ahnt, dass die Zukunft der jungen Generation außerhalb Somalias liegt, die Studienmöglichkeiten an italienischen Universitäten bleiben aber vorerst ein Privileg des entstehenden somalischen Bürgertums. Die Machtposition seines Vaters als »ministro dei Trasporti pubblici e aerei« (Garane 2006, 57) erlaubt dem Protagonisten ­Gashan schließlich die ersehnte Reise nach Italien. Wie schon die Generation Kenadits besucht auch Gashans Generation der Postunabhängigkeit italienische Schulen, wurde erstere jedoch in direktem Kontakt mit der kolonialen Wirklichkeit sozialisiert, konstruiert letztere ihre ›Identität‹ vielmehr in Relation zum ›Mythos Italien‹ und steht mit der Nomaden- und Hirtengesellschaft Somalias in Konflikt, wie im nächsten Abschnitt herausgearbeitet wird (cf. Mumin Ahad 2006, 250). Vor seiner Abreise nach Italien manifestiert sich in Gash­an ein Gefühl des Fremdseins in Somalia, in folgendem Textauszug formal mittels einer parataktischen Verdichtung gestaltet (cf. Zangrando 2010, 102): »Per adesso pensava a Roma. Era diventato uno zombi a Mogadiscio. Andava a piedi dappertutto. Da Wardhigley a Shangani, passando per Via Somalia. Andava al suo Liceo Scientifico Leonardo da Vinci, passando di fronte alla sua Scuola Elementare Guglielmo Marconi. Ne guardava le mura con gli occhi pieni di ammirazione. […] Non salutava nessuno. Gli sembrava di essere in una terra straniera. Per lui tutti i somali erano diventati degli stranieri.« (Garane 2005, 61)

Gashans gesteigertes Erhabenheitsgefühl resultiert mitunter aus der Spannung oder dem Bewusstsein seiner ›unvollständigen Zugehörigkeit‹. Sesshaftigkeit und Verwurzelung treten in zeitgenössischen Gesellschaften zugunsten von Bewegung tendenziell zurück, und wie in den anderen im Rahmen dieser Studie analysierten Romanen verbinden sich auch für die Hauptfigur in Il latte è buono Zugehörigkeitskonflikte mit der Erfahrung von Exil, Diaspora, Grenze und Grenzüberschreitung. Insofern sich der Protagonist von Mogadishu nach Rom und Florenz, sodann weiter nach Grenoble und Devil und schließlich

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wieder nach Mogadishu bewegt, lautete meine Eingangsthese, dass die Raumperspektive in Il latte è buono besonders relevant sei. Im Folgenden möchte ich deshalb die fiktional dargestellte Relation von ›Raum‹ und Bewegung zunächst unter dem Aspekt der Großstadtwahrnehmung untersuchen, bevor die im Exil erfahrene Identitätstransformation der Hauptfigur näher beleuchtet wird.

IV.2 »M ade in I taly.«16 R aumwahrnehmung postkolonialer G rossstädte Wie lassen sich, angesichts der Körperlichkeit von Raumerfahrungen, Sinnlichkeit und Raumwahrnehmung literarisch repräsentieren? Hallet/Neumann betonen, Figuren fiktionaler Texte nehmen Räume nicht nur entsprechend kulturell geformter Raumkonzepte wahr, wie z.B. Kolonie und Metropole, Nomadismus und Sesshaftigkeit oder Orte und Nicht-Orte, sondern auch entsprechend ihres individuellen Erlebens (cf. Hallet/Neumann 2009, 27). Der Körper vermittelt also Raumorientierung und ist »nicht ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für [die] Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt [der] Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn.« (Schütz 2003 zit. in Schroer 2009, 130)17 Wie im Einleitungskapitel skizziert, wird ›Raum‹ nicht als materielles Behältnis verstanden, sondern als Begriff, der körperbezogene Relationierungen thematisierbar macht; zentral sind also nicht mehr die (Alltags-)Räume, sondern das agierende Subjekt, der soziale Akteur (cf. Werlen 2009, 383). Zwischen ›Raum‹ und Bewegung besteht dahingehend eine Interdependenz, als Handlungsorte in literarischen Texten in einer Beziehung zu sich bewegenden oder zu wahrnehmenden Figuren stehen. Es geht somit um die Frage, wie handelnde Charaktere Räume auf sich beziehen und wie Raumwahrnehmung erzählerisch vermittelt wird (cf. Hallet/Neumann 2009, 20). In folgender Textpassage aus Il latte è buono beispielsweise fungiert der Körper für den Protagonisten als Koordinatennullpunkt seiner Welterfahrung, setzt er sich doch über sinnliches Erleben mit Räumen in Beziehung: »Dietro il Parlamento c’era ›Azan‹, dove Gashan prendeva regolarmente il cappuccino e le paste italiane. […] Gustare la pasta col cappuccino, era un modo di avere la sua 16 | Garane 2005, 62. 17 | Cf. hierzu auch Hartmut Böhme, der darauf hingewiesen hat, dass »Raum und Räumlichkeit […] um überhaupt gedacht werden zu können, erfahren werden [muss]. Dies bedeutet: die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.« (Böhme 2005 zit. in Hallet/Neumann 2009, 15)

Garane Garane – Il latte è buono propria isola. Era un modo di uscire da Mogadiscio l’afosa. Quando era ad ›Azan‹, si guardava in uno specchio alla sua destra: anche i suoi vestiti erano made in Italy. Tutto il suo corpo era made in Italy.« (Garane 2005, 61f.)

Über körpernahe Sinnesmodalitäten (wie Schmecken, Tasten oder Sehen) entstehen in Gashan an Orten wie bei Azan räumliche Vorstellungen, die »auf die Relationierung des eigenen Körpers mit anderen körperlichen Dingen« (Werlen 2009, 379) verweisen. Sinnlich-körperliche Raumwahrnehmungen werden, wie im Textzitat, vor allem mittels der Erzählmodi Beschreibung und Bewusstseinsdarstellung narrativiert. Die erzählerische Darstellung von Orten und Räumen erfolgt in Garanes Roman, häufig in dichtem Wechsel, aus der Perspektive der wahrnehmenden Hauptfigur, wie im oben angeführten Textauszug oder aus dem übergeordneten Blickwinkel der heterodiegetischen Erzählinstanz, z.B.: »Nelle strade di Mogadiscio, il macawis, la futa tradizionale, stava diventando raro, da boscaglioso, si usavano ormai i pantaloni.« (Garane 2005, 46)18 Erzählte Räume spiegeln zudem Semantisierungsprozesse, bei denen die individuelle Sinneswahrnehmung, kulturelle Wissensordnungen und die Materialität von Orten ineinandergreifen (cf. Hallet/Neumann 2009, 25). Mogadishu/Xamar wird etwa als »Little Italy« beschrieben, wo sich infolge der italienischen Kolonialzeit und der Amministrazione Fiduciaria die Spuren jener Vergangenheit unübersehbar in das kulturelle und gesellschaftliche Leben sowie in das Stadtbild eingeschrieben haben: »Mogadiscio era una ›Little Italy‹. Le vie, i negozi, le scuole, i cinema erano all’italiana. Molti nuovi nomi erano diventati parte della cultura somala: Via Roma, Corso Italia, Cinema Centrale, Liceo Scientifico Leonardo da Vinci …« (Garane 2005, 45) Erzählte Räume sind Raumrepräsentationen, sie geben daher Aufschluss über kulturell vorherrschende Ordnungen, so erfährt der/ die LeserIn im Textzitat, dass in Mogadishu auch im unabhängig gewordenen Somalia der 1960er Jahre die Straßen, Geschäfte, Schulen und Kinos »all’italiana« gestaltet und benannt wurden, auch tragen die bevorzugten Orte der Hauptfigur »nomi gloriosi: Sacro Cuore, Liceo Scientifico, Scuola Elementare, Stadio Coni, Fiat ...« (Garane 2005, 61) Diese Bezeichnungen illustrieren die symboli18 | Darüber hinaus werden Orte und Räume in Figurendialogen thematisiert, wie etwa in dem fiktiven Gespräch zwischen Thomas Sankara und Gashan an der Universität Grenoble: »›L’Africa è ad un bivio di tutto. Bisogna sopravvivere, perché siamo stati violentati, rapiti, distrutti. Nessuna società al mondo può sopravvivere se non si adatta alla sfida ed al cambiamento che si trova a fronteggiare.‹ […] ›L’Occidente è in te. Quando hai lasciato il tuo villaggio hai ucciso una parte dell’Africa in te. Potresti tornare e vivere come la gente del tuo villaggio?‹ Gashan non rispose. […] ›Ricordati di una cosa: quando sarai in Africa mitizzerai l’Occidente, il cappuccino italiano, e quando sarai in Europa mitizzerai l’Africa, il calcio che giocavi nei quartieri di Mogadiscio […].‹« (Garane 2005, 95f.)

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sche Aufladung vieler realer Orte der somalischen Hauptstadt infolge der kolonialen Überprägung. Die materiellen Gegebenheiten bzw. Orte sind Benno Werlen (2009) zufolge immer schon von kulturellen Symbolisierungen überlagert; diese kulturelle Gemachtheit von Orten und Räumen steht auch im Zentrum des Spatial turn, Edward Soja (1996) spricht deshalb von real-and-imagined places. Mitunter in Auseinandersetzung mit diesen erlebten und imaginierten Orten und Räumen vollzieht sich die Identitätskonstruktion des Protagonisten in Il latte è buono. Als Teil der urbanen und urbanisierten Elite erhält Gashan an den italienischen Schulen in Mogadishu eine westlich orientierte Bildung, auch hat er vermittels der Schulbücher und italienischen Zeitungen Italien lieben gelernt, das er als »terra plasmata da Dio« (Garane 2005, 57) idealisiert, und mit dessen Subkulturen wie Fußball19, Mode20, Kino21 und Musik 22 sich die Generation der Postunabhängigkeit tagtäglich identifiziert.23 Die Begeisterung des Protagonisten für Italien scheint grenzenlos, enthusiastisch internalisiert er die von den ehemaligen Kolonisatoren produzierten Mythen: den Mythos einer glorreichen Vergangenheit, den Mythos des antiken Rom, vom faschistischen Regime instrumentalisiert und propagiert, den Mythos der Kolonie Somalia, konzipiert als Abbild von Italien (cf. Mumin Ahad 2006, 249f.): »[…] credeva che Roma fosse il mondo. Viveva ancora nel mito di una storia creata per lui e per le colonie« (Garane 2005, 66). In Somalia wurden nicht nur die Verwaltungsstrukturen der (ehemaligen) Kolonialmacht, sondern häufig auch deren Sprache, Schulsysteme und Lehrpläne übernommen – Ecksteine im postkolonialen Nationalstaat.24 Die Konti-

19 | Cf. »Sarò all’Olimpico tra poche settimane! […] Aspettami Rivera, sto arrivando. Aspettami Gigi Riva, non segnare con il tuo proverbiale sinistro prima che io arrivi.« (Garane 2005, 61) 20 | Cf. »[…] anche i suoi vestiti erano made in Italy.« (Garane 2005, 62) 21 | Cf. »Imparò dai film americani tradotti in italiano a baciare sulle labbra, cosa inaudita.« (Garane 2005, 48) 22 | Cf. »Amava Totò, Sordi e altri. Ascoltava la musica di Morandi e di Mina.« (Garane 2005, 63) 23 | Die durch TV, Literatur und Kino – Instrumente des westlichen Kulturimperialismus – vermittelten und konstruierten Imaginationen erzeugen ein verfälschtes Bild des Westens als »dreamland of opportunities«, so Mazierska und Rascaroli (2006, 157f.), die von einer »anticipatory socialisation« durch die TV-Kanäle sprechen. Diese vorwegnehmende Sozialisierung erfolgt zweifellos auch über das Schulsystem, über Literatur, Kino, Musik, das Internet und die Medien im Allgemeinen. 24 |  Ähnlich wie in Eritrea wurde in Somalia seit der Amministrazione Fiduciaria in den 1950er Jahren die italienische Sprache als kulturelles Vehikel sowie als Verwaltungsund Bildungssprache neben Englisch und Arabisch genutzt. Aufgrund der mündlichen

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nuität kolonialistischer Denk- und Handlungsmuster kristallisiert sich in Il latte è buono in der Hauptfigur Gashan, der sein romantisch verklärtes Italienbild nicht zuletzt durch den italienischen Literaturkanon entwickelt; wie im Roman fiktionalisiert, stand beispielsweise Dantes Divina Commedia auch nach dem formalen Ende der italienischen Kolonialzeit auf dem Lehrplan. Die Identifikation Gashans mit dem in der selva oscura verirrten Dante (siehe hierzu den letzten Abschnitt dieser Romananalyse ab S. 159) und nicht mit einer Figur des somalischen kollektiven Gedächtnisses, kann als Ergebnis dieser kulturellen Hegemonie gesehen werden. Nach Jurij Lotman ist die Semantisierung von symbolischen Räumen untrennbar verbunden mit kulturhistorischen Kontexten und deren spezifischen Wertvorstellungen. Die »Sprache der räumlichen Relationen« (Lotman 2006, 530) dient dabei vielfach der Darstellung nicht räumlicher Relationen. So definiert sich Gashans Bewusstsein kultureller Zugehörigkeit in erster Linie über die italienische Sprache, »[f]aceva la corte alle ragazze parlando solo in italiano, anche se le somale non capivano cosa diceva. L’italiano, la lingua, lo trasportava in un modo leggero verso l’amore« (Garane 2005, 48),25 sowie seiner Partizipation am kolonial konstruierten Wissenssystem und kulturellen Gedächtnis Italiens. Stellt sich der Gebrauch der Sprache der einstigen Metropole gewissermaßen als notwendig heraus, um an der staatlichen Schulbildung und den neuen administrativen Organisationsformen der Gesellschaft teilzunehmen, imitiert der Protagonist geradezu die Perspektive ›des Kolonisators‹, »[era] fiero di essere un piccolo italiano« (ibid.), und bildet in Abgrenzung zur somalischen Nomaden- und Hirtengesellschaft eine kolonialistische ›Identität‹ aus, die er mit Blick auf seine Abreise aus Mogadishu entlang der Zentrum-Peripherie-Relation dichotomisch verortet: »›La prima classe me la sono meritata, perché ho studiato nelle scuole della lingua di Dante‹ pensava Gashan. ›Grazie Italia! Grazie Dea Italia! Sarò finalmente lontano da questi somari, da questi brutti ceffi, selvaggi, che adorano i cammelli, che associano

Erzähltradition und der erst 1972 erfolgten Verschriftlichung der somalischen Sprache blieb Italienisch bis zur Verstaatlichung des Schulsystems 1978 teilweise Unterrichtssprache (neben Englisch und Arabisch) und wurde auch im Rahmen der Studienprogramme der Cooperazione Internazionale allo Sviluppo an der Nationalen Universität Somalia verwendet (cf. Mumin Ahad 2007, 91f., 97). 25 | Wie das Zitat nahelegt, assoziiert Gashan das Thema der Liebe mit der italienischen Sprache, die er sogar verwendet, um mit somalischen Mädchen zu flirten, auch wenn diese kein Wort verstehen. Christiane Kiemle bestätigt, »[h]is understanding of sentimental issues is strongly influenced by his image of the Italian culture which was given to him by the colonizers – […] this image is completely idealized and far from real­ ity« (Kiemle 2011, 101).

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Postkoloniale Literatur in Italien la bellezza delle donne ai cammelli. […]‹, pensava Gashan, con dignità e disprezzo.« (Garane 2005, 57)

Gashans idealisierende bzw. diskriminierende Zuschreibungen determinieren Italien und Somalia semantisch über eine Oppositionsbeziehung. Im Textzitat trennt eine semantische Grenze die erzählte Welt in zwei Teilräume, die einander in verschiedener Hinsicht entgegengesetzt sind, konkret topografisch (Kolonie vs. Metropole oder Somalia vs. Italien), topologisch (innen vs. außen, zentral vs. dezentral) und semantisch (mit Bedeutungen aufgeladen wie etwa ›gebildet‹ vs. ›ungebildet‹ oder ›zivilisiert‹ vs. ›unzivilisiert‹). Diesem dualistischen Denkmuster verhaftet, resultiert die ›Identität‹ des Protagonisten zunächst aus Diskursen kultureller Hegemonie, in denen die italienische Kultur als überlegen vorgestellt wird. Extrem stereotyp konstruiert Gashan eine semantische Grenze zwischen ›Weiß und Schwarz‹ und wiederholt die rassis­tischen Zuschreibungen durch den hegemonialen Diskurs. Schon Frantz Fanon (1985 [1952]) wies auf die problematische Rolle der in den ehemaligen Kolonien verbreiteten Jugendmagazine, Comics, Literatur und Filme hin, in denen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Forschungsreisende und AbenteurerInnen weißer Hautfarbe überwiegend positiv gezeichnet wurden, während negative ›Gegenfiguren‹ oftmals von Personen schwarzer Hautfarbe dargestellt wurden. Da psychisch eine Identifizierung stets mit dem/der ›positiven HeldIn‹ erfolgt, nahm die schwarze Bevölkerung über Generationen subjektiv die Haltung von Weißen an. Mittels dieser fiktiven Stereotypik werden ›subalterne Subjekte‹ also nicht nur als die negativ besetzten ›Anderen‹ repräsentiert, sondern sie selbst verinnerlichen die ihnen zugeschriebenen Attribute und die eurozentristischen Werte des Machtdiskurses. In der Folge idealisiert das Individuum die vermeintlich ›zivilisierte‹ europäische Gesellschaft und tendiert dazu, seine als rückständig wahrgenommene Herkunftsfamilie auf imaginärer Ebene abzulehnen (cf. Fanon 1985, 106ff.; Birk/Neumann 2002, 125). Diese Internalisierung des ›Selbst als Anderer‹ und Assimilation an die hegemoniale Kultur thematisiert Il latte è buono anhand der italianisierten ›Identität‹ des Protagonisten und seiner kolonialen Mimikry (cf. Bhabha 2015 [1994]).26 26 |  Wie Homi Bhabha gezeigt hat, wurde das Konzept der Mimikry von den Kolonisatoren als eine Form kolonialer Kontrolle hervorgebracht; die Kolonisatoren erwarten von den Kolonisierten, sich äußerlich zu assimilieren und die Werte und Normen der dominanten Macht zu internalisieren. Dadurch konstruieren die Kolonisatoren ein »Subjekt [der] Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist« (Bhabha 2015, 114). In diesem Sinne kann Mimikry mitunter als Ausdruck der so bezeichneten ›europäischen Zivilisierungsmission‹ gelten, welche die kolonisierten Kulturen nach ihren Vorstellungen zu transformieren beabsichtigte. Bhabha zufolge wohnt der Mimikry aber auch ein

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Stehen sich die ehemalige Kolonie Somalia und Italien vor allem im zweiten Kapitel des Romans, Mogadiscio la noiosa, als semantische Felder gegenüber, werden sie im weiteren Handlungsverlauf durch die Mobilität des Protagonisten in eine Beziehung des Nebeneinanders gesetzt. Bewegung zwischen Orten respektive den Teilräumen und somit die Überschreitung der zwischen den semantischen Feldern gezeichneten Grenze markieren die zentralen Momente der Handlung (cf. Lotman 2006, 535ff.). Indem Gashan schließlich durch seine Flugreise von Mogadishu nach Rom sowohl die topografische als auch die semantische Raumgrenze überquert, löst er eine Sujetbewegung oder ein ›Ereignis‹ im Text aus und lässt sich als »bewegliche Figur« im Sinne Lotmans charakterisieren (cf. Lotman 2006, 539). Das Überschreiten dieser Raumgrenzen gestaltet sich für den Protagonisten zugleich als Moment des Bruchs in seiner Identifikation mit Italien, da er »sich durch den Eintritt in eine andere Ordnung selbst ändert« (Waldenfels 1998, 31). Die topologische Grenzverschiebung wird über die intern fokalisierte Erzählperspektive als inneres Raumerleben, als Überschreiten sozusagen »seine[s] eigenen Schatten[s]« (ibid.) für die LeserInnen nachvollziehbar. Bewegung zwischen verschiedenen Orten, Migra­tion, Exil und Diaspora, in geringerem Maße auch das Reisen, sind also eng an Fragen der ›Identität‹ geknüpft und lösen Prozesse der Identitätsveränderung aus. So wird die italianisierte ›Identität‹ des Protagonisten erstmals brüchig, als er sich für sein Studium nach Rom begibt. Der Kontakt mit der zuvor mythisierten italienischen Gesellschaft und Kultur ruft bereits bei seiner Ankunft am Flughafen von Fiumicino Irritation und Verunsicherung hervor: Wider Erwarten wird er nicht als »italiano d’oltremare« (Garane 2005, 65) erkannt, sondern von einem Polizisten an der Passkontrolle, der noch nie von jenem Land, das die Pässe seiner StaatsbügerInnen in italienischer Sprache ausstellt, gehört zu haben scheint, mit der Zuschreibung »›[p]er me siete tutti uguali. Siete tutti marocchini!‹« (ibid.) entindividualisiert.27 Gashan ist sich subversives Potenzial inne, denn ähnlich der militärischen Taktik der Camouflage können Assimilation und Nachahmung als aktive Widerstandsformen praktiziert werden und die koloniale Autorität durchlöchern. Aktiven Widerstand beschreibt Bhabha als bewussten Versuch, jene Subjektposition, die durch die koloniale Macht zugewiesen wird, zu verweigern (cf. Bhabha 1994 zit. in Castro Varela/Dhawan 2005, 99f.); cf. die literarische Inszenierung von Mimikry als Widerstandsstrategie in Gabriella Ghermandis Roman Regina di fiori e di perle und diesbezügliche Überlegungen in Kapitel II.2.2, »Antikolonialer Widerstand und Subversion«, und Kapitel II.2.3, »Grenzüberschreitungen in kolonialen und postkolonialen Kontexten«. 27 |  Da Somali erst 1972 ein Schriftbild erhielt, wurden die Pässe somalischer StaatsbürgerInnen bis Anfang der 1970er Jahre in italienischer Sprache ausgestellt; als der Polizist in Gashans Pass »Repubblica di Somalia« liest, mutmaßt er, es handle sich um eine Fälschung, zudem verwirren ihn Gashans exzellente Sprachkenntnisse. Aufgrund

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nicht bewusst, in Italien häufig als ›Fremder‹ wahrgenommen oder gar als »­negretto« (Garane 2005, 72) diffamiert zu werden, vielmehr begreift er sich angesichts seiner ausgezeichneten Sprachkenntnisse als italienischer Staatsbürger: »Cominciò a frugare nella sua borsa. Trovò il passaporto in cui era scritto Repubblica di Somalia. Lo guardò assorto. Era somalo, ma bianco dentro. Era un bianco dalla maschera nera. Il problema era che aveva sempre creduto che ciò che è interno può essere esterno anche. Credeva che il poliziotto l’avrebbe riconosciuto come diverso, come italiano d’oltremare.« (Garane 2005, 65)

Insofern Orte und Räume nicht nur als Schauplätze fungieren, sondern eine Erzählfunktion erfüllen, erscheint die Wahl eines Flughafens als Handlungs­ ort für diese grundlegende Fremdheitserfahrung der Hauptfigur bedeutsam. Der Flughafen, zuweilen als Nicht-Ort ohne Geschichte und ohne ›Identität‹ bezeichnet (cf. Augé 1994, 92f.), markiert für den Protagonisten in Il latte è buono den Ausgangspunkt seiner Identitätsdekonstruktion – eine Parallele zu Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah, verortet sich in diesem Roman die Metamorphose der Protagonistin doch ebenfalls am Flughafen.28 In Rom angekommen stellt Gashan sogleich fest, dass ihm jene Kultur, die er infolge (post-)kolonialer Politiken assimiliert hat, mit Ablehnung begegnet; in diesem Moment des Bruchs entsteht laut Frantz Fanon das psychische Trauma ›des kolonisierten Subjekts‹ und äußert sich als »Gefühl der Nichtexistenz« (Fanon 1985, 101; cf. Memmi 1966, 113f.). Alltägliche Erfahrungen von Fremdheit, Ausgrenzung, Rassismus führen Gashan vor Augen, wie sein Selbstbild eines italiano d’oltremare auf ein Fremdbild primär des d’oltremare trifft. Das ausbleibende »Benvenuto nell’impero romano che hai tanto ammirato« (Garane 2005, 66) am Flughafen repräsentiert nur die erste von vielen Fremdheitserfahrungen, vielfach spürt Gashan in Europa die diskriminierende Markierung einer Differenz auf Grund seiner Hautfarbe.29 Erweisen sich seine Imaginaseines Unwissens über die früheren italienischen Kolonien ist es dem Polizisten völlig unverständlich, wie jemand mit schwarzer Hautfarbe dermaßen perfekt Italienisch sprechen kann, cf. seine Gedankenrede: »E come mai parla un italiano così perfetto? Ha l’accento fiorentino … uhm … È nero oppure è un italiano che si è tinto la pelle di nero?« (Garane 2005, 65) 28 | Für nähere Ausführungen zu der von Marc Augé (1994) geprägten Differenzierung der Begriffe »Orte« und »Nicht-Orte« siehe Kapitel VI.2, »Figuration eines Selbstverlusts und Bewegung zwischen Nicht-Orten« der vorliegenden Studie (S. 212). 29 | Frantz Fanon berichtet von ähnlichen Erfahrungen vieler BewohnerInnen franzö­ sischer Überseedépartements, die erst in Frankreich auf ihre schwarze Hautfarbe zurück verworfen werden, cf. in diesem Zusammenhang folgende Reflexionen Fanons: »Mir, den

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tionen über Italien zunehmend als I­ llusionen, stellt er eine unüberwindbare Kluft zwischen der Literatur- und seiner Erfahrungswelt fest: Er findet sich nicht im glanzvollen Imperium Romanum wieder, im Gegenteil prägen dessen Ruinen seine spontanen Raumwahrnehmungen der Stadt, die er sich immer als »tutto l’opposto di Mogadiscio« (Garane 2005, 67) und entsprechend der Geschichtsbücher und der Literatur – Caesar und Dante – als moderne Metropole vorstellte, stattdessen trifft er auf unzählige Statuen aus Stein, die er mit Erstaunen und Unbehagen wahrnimmt, kennt die muslimische Tradition doch auch in Somalia keine Ikonendarstellung; seine Desillusionierung wird teils ironisch auf die äußere Realität projiziert: »›Per la prima volta in vita mia mi trovo nell’incertezza e nella paura‹, guardò fuori di nuovo, ›ho abbandonato l’infanzia e l’innocenza, per ritrovarmi in una civilizzazione di dhagax iyo sanam, sassi e statue! Che angoscia questa storia!‹« (Garane 2005, 69) Die Identitätsdekonstruktion des Protagonisten setzt sich fort, als er plötzlich eine Differenz zwischen ›den Italienern‹ der Geschichtsbücher bzw. der Literatur und jenen realen feststellt: »Senza Cesare si sarebbe sentito un miserabile qui a Roma, abbandonato in un clima così ostile e un dialetto strano. […] Non voleva accettare la realtà.« (Garane 2005, 71) Um seine ›Identität‹ und den Mythos des Imperium Romanum aufrechtzuerhalten, bedient sich Gashan zunächst der Illusion, in Wirklichkeit seien ›die Italiener‹ der Gegenwart gar keine ›Italiener‹, würden sie doch nicht einmal die Sprache Dantes beherrschen. Der Kontakt mit der Realität stellt sich jedoch mehr und mehr als ernüchternd heraus: Der Mythos bekommt Risse, Gashan öffnet die Augen und konfrontiert sich mit der sozialen Wirklichkeit in Italien wie auch mit sich selbst. Aska, sein Jahre zuvor nach Rom emigrierter Onkel, ruft ihm ins Bewusstsein, auch Somali und schwarz zu sein, »[un] invito a conoscere se stesso«, wie Ali Mumin Ahad (2006, 252) bemerkt, und klärt ihn über häufige Diskriminierungen in Italien und Europa auf. Oftmals dominiere die Vorstellung, MigrantInnen beherrschten kaum die italienische Sprache, so Aska: »›Ti parleranno sempre all’infinito. Non amano molto il nero che parla bene, quello intellettuale. […] Ti diranno anche alla fine che tu parli bene l’italiano per essere africano.‹« (Garane 2005, 68) Fühlte sich Gashan in Somalia der italienischen Kultur zugehörig, erfährt er sich in Italien unter vermeintlich seinesgleichen bald als ›Fremder‹, als ›Anderer‹, als ›Kolonisierter‹. Rassistische Fremdheitserfahrungen lösen im Protagonisten Gefühle der Enttäuschung man eigentlich hätte anflehen, umwerben müssen, mir versagte man jede Anerkennung? Da es mir unmöglich war, von einem angeborenen Komplex auszugehen, beschloss ich, mich als SCHWARZER durchzusetzen. […] bei mir erhält alles ein neues Gesicht. Mir ist keine Chance erlaubt. Ich bin von außen überdeterminiert. Ich bin nicht der Sklave der ›Vorstellung‹, welche die anderen von mir haben, sondern meiner Erscheinung.« (Fanon 1985, 83f.)

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aus, Frustration und Kränkung, aber auch Wut, Verachtung und Arroganz, Einsamkeit und Trauer. Er beginnt, seinen idealisierenden Blick zu revidieren: »›Ma che cosa ti aspetti da un popolo che ha trattato male Dante?‹, si pose la stessa domanda mille volte per esorcizzare la sua solitudine di uomo di diversa cultura« (Garane 2005, 81) – Gashans Identifikation mit Dante am Ende des Romans wird hier erneut antizipiert. Wiederholt begegnet der Protagonist in Italien einer sozial produzierten verräumlichten Struktur von Wissensordnungen entlang kultureller Hierdort-­Dichotomien: Einseitig konstruierte Erinnerungen an den Kolonialismus, stereotype Imaginationen sowie Projektionen auf die ehemaligen Kolonien strukturieren die Diskursordnung. Diese sprachliche Verräumlichung sozialer Ordnungen wird von einer diskursiv veränderlichen Grenze durchdrungen (cf. Foucault 2006, 320ff.; Hallet/Neumann 2009, 13). Ausgrenzung und Differenzmarkierung durch Teile der Gesellschaft äußern sich sprachlich beispielsweise in agrammatischen Wendungen: »›perché vi trucidare tra di voi? […].‹« (Garane 2005, 82), zuweilen über eine kolonialistisch-faschistische Geschichts­auffassung: »›Erano una nostra colonia. È grazie al Duce che hanno imparato tutto. Ha costruito le strade, gli ospedali, insomma tutto per loro‹ disse un vecchio signore, puntando il dito in direzione di Gashan« (ibid.), oder über offen rassistische Angriffe: »›Ciao, negretto! Si vive ancora sugli alberi da voi?‹« (Garane 2005, 70). Die fiktionale Repräsentation der sozialen Räume oder räumlich strukturierten Ordnungen erfährt der/die LeserIn über eine interne Fokalisierung aus der Perspektive der wahrnehmenden Hauptfigur. Neben der problematischen Verräumlichung sozialer Ordnungen vermittelt der Roman über Gashan als individuellen Akteur und seine Handlungen auch die diskursive Verschiebung der Grenzen ›des sozialen Raums‹ und die damit verbundene Veränderbarkeit dominanter Diskursordnungen. Die Episode in einer Bar am Bahnhof Roma Termini z.B. inszeniert dieses raumverändernde Handeln des Protagonisten: Als er erneut durch eine agrammatische Sprachverwendung rassistisch ausgegrenzt wird, widersetzt er sich aktiv der zugewiesenen Position, indem er den Blick auf die diskriminierende Machtposition zurückwirft und dadurch die Grenzziehung der dominanten Diskursordnung unterläuft. Dieser Aspekt postkolonialer Handlungsmacht wird in folgender Szene akzentuiert, in welcher der Kellner in besagter römischer Bar sich weigert, Gashans Bestellung anzunehmen und sich in rudimentärem Italienisch geringschätzig äußert: »›Ho chiesto un latte macchiato.‹ ›Lo so. Tu bere, non mangiare e non dare mancia.‹ Di colpo, il cameriere cominciò a parlare come un extraterrestre con questo essere fuori della norma. […] Gashan non ne poteva più. […]

Garane Garane – Il latte è buono Non era forse alla Stazione Termini? ›Ascoltate italiani! Capite l’italiano?‹ Tutti lo guardarono, intontiti. ›Sto cercando solo di bere un latte macchiato. Qui ho l’impressione che lo straniero sia colui che non biascica l’italiano e parla all’infinito.‹ Con queste parole si rivolse al cameriere: ›Capire, signore?‹ Tutti cominciarono ad applaudire. Un tipo con una pancia rotonda venne e disse: […] ›Le chiediamo scusa, signore. Il suo latte macchiato le sarà servito senza nessun problema. Sono il padrone di questo bar.‹« (Garane 2005, 79f.)

Die Textpassage thematisiert den kommunikativen Rassismus des Barkeepers, der eine vereinfachte Satzstruktur gebraucht und dem Protagonisten allein aufgrund seiner Hautfarbe mit Verachtung begegnet, sprachlich ausgedrückt durch die Verweigerung der höflichen Anredeform. Im Verlauf der Szene ironisiert Gashan diese vom Barmann benutzte Sprachebene des in der Linguistik so bezeichneten »Foreigner Talk« 30, wodurch er die Kommunikationssituation umkehrt und jenem impertinenten, rassistischen Sprachverhalten entgegenwirkt – dies verleiht ihm Handlungsmacht. Das Widerstandsmoment des Protagonisten besteht darin, »nein zu sagen zu denen, die ihn definieren wollen« (Fanon 1985, 29): In Anwesenheit der anderen Gäste verweist er auf die unkorrekte sprachliche Ausdrucksweise des Kellners und äußert sich ironisierend im »Foreigner Talk«, wodurch er die Absurdität dieses Sprachverhaltens deutlich macht. Mit seiner widerständigen Reaktion und Eloquenz gesteht Gashan 30 |  Christiane Kiemle verwendet den Begriff »Foreigner Talk«, um ein Sprechregister zu bezeichnen »used by native speakers when they speak in their first language with people whom they assume have a restricted ability of understanding their language« (Kiemle 2011, 104). Typische Merkmale des »Foreigner Talk« sind u.a. grammatische Vereinfachungen, v.a. im Bereich der Syntax durch den Gebrauch von Infinitivkonstruktionen, ein Fokus auf das ›Hier und Jetzt‹, ausgedrückt über eine nahezu ausschließliche Verwendung des Präsens, eine Auslassung von Artikeln sowie der Verzicht auf die Höflichkeitsform bei der Anrede. Die Native-Speaker stellen sich demnach auf ein niedrigeres Sprachniveau und kommunizieren mit mangelhafter Sprachkompetenz. Richtet man auf diese Art und Weise das Wort an jemanden, kann – selbst in der Absicht einer leichteren Verständigung – der Eindruck entstehen, der/die SprecherIn halte den/die Angesprochene/n für ignorant, wird letztere/r doch sprachlich wie sozial vorweg auf einer Stufe unzureichender Kompetenz verortet (cf. Kiemle 2011, 104f. sowie 142f.). Frantz Fanon lehnt jedes paternalistische Verständnis ab, dadurch würde eine Konfliktsituation nur stabilisiert, und äußert sich kritisch und klar: »[…] ›petit-négre‹ sprechen heißt, [den Angesprochenen] verletzen, denn er ist derjenige-der-petit-négre-spricht.« (Fanon 1985, 26)

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sich das Recht zu, »vom anderen ein menschliches Verhalten zu verlangen« (Fanon 1985, 164). Gashans Handeln aktualisiert die diskursive Raumkonstitution und es scheint beinahe, als würde er mit seinem Blick ›den (sozialen) Raum‹ krümmen. Um in diesem unfreundlich gestimmten Klima (emotional und psychisch) zu überleben, aktiviert der Protagonist eine nomadische Praktik: Er setzt sich in Bewegung und lebt als ›Stadtnomade‹ gewissermaßen ›glatt‹ im gekerbten urbanen ›Raum‹ (cf. Deleuze/Guattari 2006, 442). Seine innere Orientierungslosigkeit spiegelt sich im ziellosen Durchwandern der Straßen Roms: »Vagava per le strade di Roma. Senza bussola. Senza mappa. Senza niente. Senza la guida del cammello. Senza una Fiat 600« (Garane 2005, 71). Die Akzentuierung des Unterwegsseins verleiht den in Rom handelnden Episoden des Kapitels L’esilio einen dynamischen Rhythmus, ästhetisch über eine verdichtete Beschreibung des Zusammenhangs von ›Raum‹ und Bewegung gestaltet: »Camminava per le strade di Roma senza vedere i Romani. Vedeva solo un passato glorioso.« (Garane 2005, 72) »Scopriva pian piano Roma. […] Camminava per le vie di Roma. Attorno a lui, solo monumenti, macchine, chiasso e … caffè!« (Garane 2005, 75) »E Gashan camminava a Roma.« (Garane 2005, 79) »Camminò moltissimo, evitò le macchine, gli insulti, il brutto carattere.« (Garane 2005, 81)

Die erzählerische Darstellung der Raumdurchquerungen Gashans betont gleich­ zeitig den Prozess des Gehens. Es entsteht der Eindruck, er bewege sich entlang der urbanen Bahnen ähnlich wie die Nomaden Somalias die Wüstengebiete durchziehen – um zu überleben. Mit Michel de Certeau (1988, 189f.) gesprochen, eignet sich der Protagonist auf seinen römischen Parcours durch den Akt des Gehens zunächst das topografische System Stadt an und verwandelt durch seine Bewegungen den Ort in einen ›Raum‹.31 Insofern die Wechselbeziehung zwischen ›Raum‹ und Bewegung, wie eingangs dargelegt, daraus resultiert, »dass 31 | Der Akt des Gehens ist für das System Stadt laut Michel de Certeau das, was die Äußerung oder der Sprechakt für die Sprache ist. Jede Äußerung erfüllt eine dreifache Funktion: zunächst die »Aneignung des topografischen Systems durch den Fußgänger (ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder sich aneignet); dann eine räumliche Realisierung des Ortes (ebenso wie der Sprechakt eine lautliche Realisierung der Sprache ist); und schließlich beinhaltet er [der Akt des Gehens] Beziehungen zwischen unterschiedlichen Positionen, das heißt […] Bewegungen (ebenso wie das verba-

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Räume in literarischen Texten immer in einer Beziehung zu sich […] bewegenden oder zu wahrnehmenden Individuen stehen« (Hallet/Neumann 2009, 20), vermittelt Il latte è buono aus dem Blickwinkel Gashans die Erfahrung von ›Raum‹ als »eine relationale (An)Ordnung von Körpern, die unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert« (Löw 2001, 131).32 Der ›Raum‹ erschließt sich dabei in der erzählerischen Beschreibung einer Strecke oder eines Weges. Der Modus der Beschreibung spielt bei der literarischen Repräsentation von Räumen und Raumwahrnehmungen eine bedeutende Rolle, da Beschreibungen die erzählte Welt konkretisieren und durch die Schilderung und Ausgestaltung der fiktiven Welt wesentlich zum Realismus-Effekt eines literarischen Textes beitragen (cf. Nünning 2009, 45f.). Ein Parcours beschreibt also räumliche Bewegungen und Erkundungen, die sich in Il latte è buono mit den subjektiven Raumwahrnehmungen der Hauptfigur kreuzen. Folgende Textauszüge schildern intern fokalisiert aus der Perspektive des Protagonisten einige seiner Wahrnehmungen während des Gehens in der Stadt: »Era una strana città! Vecchie macchine, troppo chiasso. Gente che grida, che si sgrida, ma senza uccidersi. ›Dalle mie parti ci si batte e uccide in un baleno.‹ […] Fu felice di constatare che c’era un altro punto di concordanza tra Mogadiscio e Roma: ›La gente qui non si ferma di fronte ai semafori […]. […] Città piena di gente, come se fosse il giorno della nascita del Profeta Mohamed dalle mie parti! […]‹ Gli italiani hanno un profondo senso storico di tutto. Il caffè costa di più quando lo si beve di fronte ad un monumento. Il caffè costa di meno se preso in piedi, al banco. Seduti, comodi, il caffè costa di più in questo paese. Si esce dal caffè e ci si ferma alla fermata d’obbligo, dal giornalaio, dove si compra il proprio giornale, secondo l’affiliazione tribale, democristiana, socialista …« (Garane 2005, 76-77)

Der Protagonist durchwandert die Straßen Roms und, in den Textpassagen klingt es an, als ob das Gehen in der Stadt »den Raum für das Andere« (de Certeau 1988, 203) öffnen würde, als ob wahrgenommene Orte Abwesendes vergegenwärtigen würden, »[si] sentiva a Shabelle senza esserci. Era laggiù ed era qui. Diviso con un corpo liscio« (Garane 2005, 71; cf. de Certeau 1988, 205). Gashans Raumwahrnehmungen in Rom evozieren die imaginäre Präsenz von Mogadishu. Beide Großstädte werden auf vielfältige Weise zueinander in eine le Aussagen eine ›Anrede‹ ist […].« (de Certeau 1088, 189) De Certeau definiert somit das Gehen als »Raum der Äußerung« (ibid.). 32 | Martina Löw erläutert die gewählte Schreibweise des Begriffs der »(An)Ordnung«, welche betont, dass Räumen mit Blick auf gesellschaftliche Strukturen sowohl eine Ordnungsdimension als auch hinsichtlich des Prozesses des Anordnens eine Handlungs­ dimension innewohnt (cf. Löw 2001, 131).

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Beziehung des Nebeneinanders gesetzt, Unterschiede und Parallelen festgemacht, Erinnerungen an die gemeinsame Kolonialvergangenheit rekonstruiert, die sich beispielsweise in der rationalistischen Architektur des römischen Bahnhofs Termini und des Parlamentsgebäudes in Mogadishu materialisiert, wie das folgende Textzitat ironisch-kritisch reflektiert: »A Roma i suoi si riunivano nella ›più grande stazione ferroviaria d’Europa‹, la Stazione Termini. Alcuni romani ne sono fieri, poiché questa grande architettura è uno degli ultimi legami di Roma con un passato glorioso e in via di evaporazione. I suoi amavano questo monumento poiché storicamente è come il parlamento di Mogadiscio. Furono entrambi costruiti dall’uomo grazie al quale erano finiti in questo posto. […] Si vendeva lì il garbasar, il dirac, il rumay, i biglietti aerei, i passaporti di un paese inesistente, dato che, per la proprietà transitiva, l’ambasciata non esisteva. Tutto sotto lo sguardo benevolo del Duce, sotto il suo tetto, come nel parlamento di Mogadiscio …« (Garane 2005, 81)

Abb. 5: Stazione Termini, Roma (um 1950) (Quelle: https://en.wiki arquitectura.com/buildingromatermini-station/)

Abb. 6: Old Somali Parliament, Mogadishu (erbaut in den 1930er Jahren, vormals Sitz der Kolonialverwaltung) (Quelle: https://mogadishuimages.wordpr esscom/category/the mes/govt-buildings/)

Aber nicht nur architektonische Parallelen aus der Zeit des Faschismus, auch die raumzeitliche Überkreuzung historischer Plätze rufen im Protagonisten Erinnerungen an Mogadishu hervor und regen ihn zu kritischen Reflexionen über die aktuelle Situation in Somalia an.33 Die Gegenwart abwesender Orte

33 | Cf. folgenden in Fiesole verorteten Textauszug: »Si diresse verso una trattoria pizzeria all’angolo di fronte alla piazza dove Vittorio Emanuele e Garibaldi si salutavano, un modo per quest’ultimo di riconoscere il primo come re d’Italia. A Mogadiscio, invece, avevano scardinato tutto il tessuto sociale. ›Saccheggio, rapina, violenza fisica, denutrizione: ecco in sintesi la mia terra‹, si diceva Gashan, invaso da una pietà che era oramai inesistente in Somalia.« (Garane 2005, 84)

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und Räume wird zudem durch die Medien und ihre Berichterstattung über den somalischen Bürgerkrieg erzeugt, der Gashan angesichts der starrenden Blicke von Fahrgästen selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln einholt, oder vermittels auch in Somalia verbreiteter Zeitungen und Zeitschriften wie beispielsweise Epoca;34 ­darüber hinaus evozieren körpernahes Raumerleben35 sowie die wiederholte Erfahrung von Ausgrenzung36 eine imaginäre Kopräsenz von Mogadishu. Bildete der Flughafen den Ausgangspunkt für die Identitätsdekonstruk­ tion des Protagonisten, markieren weitere so genannte Nicht-Orte, der Bahnhof Termini, die endlosen römischen Straßen, historische Plätze oder auch Fortbewegungsmittel wie Züge und Busse Zwischenstationen auf den Routen seines Exils. Wie zuvor gezeigt wurde, durchquert und verändert der urbane Wanderer ›den Raum‹ kultureller Wissens- und Diskursordnungen, indem er diskriminierende Sichtweisen in der ehemaligen kolonialen Metropole um eine Außenperspektive erweitert, kolonialistische Denkmuster unterläuft sowie die konstruierten Grenzen bestehender Diskurse verhandelt, verschiebt und auflöst; zugleich verändert er sich im Zuge dieser Bewegung zwischen den verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten selbst – dieser Aspekt einer veränderten Selbstwahrnehmung wird im Folgenden herausge­arbeitet. 34 | Cf. die von italienischen Zeitungen ausgelösten Assoziationen des Protagonisten: »Vide due giornali vicino al suo tavolo, ›La Repubblica‹ ed ›Epoca‹. […] Di colpo si r­ icordò di suo padre che ne era un assiduo abbonato. […] Il giornale ›Epoca‹ gli ricordò di Xamar Cadde, di Shangani e di Xamar Weyne dove vivevano tribù di origine araba, persiana e bantù. A Shangani c’erano le più belle prostitute della Somalia e dell’Africa. Lui le conosceva tutte. Tutte erano infibulate, mutilate, come la Mogadiscio di oggi. Nella seconda pagina del giornale si vedevano immagini di Mogadiscio, di Shangani e di Xamar Weyne. Aveva l’impressione di mangiare al Cappuccetto Nero. Il latte è buonissimo …« (Garane 2005, 85) 35 | Ästhetisch in Form einer Synästhesie realisiert, werden in folgendem Textzitat Orte und Räume über körpernahe Sinneseindrücke zu Referenzpunkten der figural fokalisierten Subjektivität gemacht: »Faceva caldo. Un caldo torrido, diverso da quello della Somalia, dove la brezza che veniva dall’oceano rendeva più sopportabile il caldo. Gashan sudava moltissimo a causa dei problemi somali e dei mortai che distruggevano la Somalia. Questo caldo gli era insopportabile perché era un insieme di storia e di credenze popolari che avevano come scopo la fine di Mogadiscio.« (Garane 2005, 84) 36 | Cf. folgende Bewusstseinsdarstellung: »Si sentiva un po’ stanco di difendersi e di difendere la lingua italiana. Era stanco di dimostrare come era perfetto. Perfetto come Mogadiscio che aveva un museo e una buonissima biblioteca di storia. La città aveva trasmesso solo informazioni, ma mai giudizi. Mogadiscio era logorata come lui dalle bombe e dal genocidio. […] ›La guerra civile‹ pensava ›ci rimetterà nelle mani dell’Occidente […]. Saremo ricolonizzati.‹« (Garane 2005, 83)

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IV.3 E ntl ang entstehender R outen Mit der sukzessiven Dekonstruktion des Mythos »di una storia creata per lui e per le colonie« (Garane 2005, 66) geht für den Protagonisten in Il latte è buono die Verschiebung seiner Perspektive vom italianisierten Exzentriker in Mogadishu zum somalischen ›Grenzgänger‹ in Italien und anderen globalen Räumen einher. Das Bewusstsein, von der italienischen Gesellschaft genauso wie viele andere MigrantInnen als ›Kolonisierter‹ wahrgenommen zu werden, veranlasst Gashan, seine kolonial konstruierte ›Identität‹ kritisch zu betrachten, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt wurde. Er erkennt, dass die Sprache Dantes und der römische Mythos, den er seit seiner Kindheit internalisiert hat, nicht ausreichen, um sich in Italien, in Rom oder Florenz, zu Hause zu fühlen. »Sceglie quindi un altrove, uno qualsiasi«, wie Ali Mumin Ahad (2006, 252) treffend bemerkt, zunächst Frankreich, Grenoble, wo er sich an der Universität mit der postkolonialen Situation der afrikanischen Staaten auseinandersetzt, und schließlich Devil in den Vereinigten Staaten, »il paese della libertà e della tolleranza ufficiale« (Garane 2005, 97). Im Exil entwickelt Gashan eine veränderte Selbstwahrnehmung und reflektiert seine ›Identität‹ bewusst als Resultat mehrerer einander durchdringender Geschichten und Kulturen; die Chance, zwischen der nomadischen, somalischen und italienischen Kultur zu leben, empfindet er als immenses Potenzial: »Pian piano cominciò ad accettare la sua situazione di ibrido. Era un modo di a­ ccettarsi. Vivere in mezzo a tutto. Amava le tre culture. Ciò era una grande cosa, una nobile cosa: una meravigliosa tenerezza e un’immensa felicità bambinesca. Era un esiliato. ›Sono morto nella cultura dei nomadi da tempo. Mogadiscio l’ha distrutta. Ma l’altra cultura? Quale? La via dell’esilio, quella che noi prendiamo quando nasciamo e che non è che la momentanea via del nostro esilio.‹ L’esilio è reso facile da un corpo sempre liscio. Lui l’esilio l’aveva sempre seguito: infibulazione, circoncisione, la Scuola Elementare Guglielmo Marconi, Scuola Media e Liceo Scientifico ›Leonardo da Vinci‹. Lui era già esiliato a Mogadiscio, tanto diversa da Quallafo e Laweytile. E a Mogadiscio viveva in un altro mondo, aveva dei paraocchi culturali. ›È il mio destino, di partire sempre. Devo sempre trovarmi staccato da me stesso […].‹« (Garane 2005, 71f.)

Die Figuren in postkolonialen Erzählungen bewegen sich häufig auf kartogra­ fisch nicht verzeichneten Wegen entlang ungewisser, mit permanenten Richtungsänderungen geschaffenen Routen des Exils, der Diaspora oder der Flucht; ein alternatives Zuhause kann ›nirgendwo und überall‹ entlang der Route sein. Insofern der Protagonist in Il latte è buono den Wunsch entwickelt, sich auf ›das Andere‹ einzulassen, das vermeintlich ›Eigene‹ und ›Fremde‹

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in Relation zu setzen und eine Veränderung des Selbst durch ›das Andere‹ anzunehmen respektive sich zu entgrenzen, inszeniert der Text Reise und Fortbewegung, nicht Verwurzelung an einem spezifischen Ort, als Basis von ›Identität‹.37 Der zitierte Textauszug thematisiert die autoreflexive Bewusstwerdung der Hauptfigur darüber, dass ein ›Zuhause‹ im Sinne eines dauerhaften, fixen Zentrums nicht mehr länger existiert. Orte und Räume sowie Fragen kultureller Zugehörigkeit gestalten sich für den Protagonisten zunehmend widersprüchlich und ambivalent, fühlt er sich doch simultan mehreren Kulturen zugehörig, bildet darüber aber erst im Exil ein Bewusstsein aus. Räumliche Bewegung wird somit zur Voraussetzung für die innere Reifung seiner Persönlichkeit sowie der bewussten Reflexion seiner kulturellen Hy­ bridität, weshalb Il latte è buono in gattungstheoretischer Hinsicht einen Entwicklungsroman38 darstellt. Dezentrierung, Fragmentierung und Bewegung gewinnen in der so genannten ›Postmoderne‹ unvergleichlich an Bedeutung und auch der Protagonist in Il latte è buono repräsentiert, mit S ­ tuart Hall (1999, 434f.), jene weltweit entstehenden kulturellen ›Identitäten‹, die nicht fest verankert sind, sondern im Übergang zwischen unterschiedlichen Positionen schweben, gleichzeitig auf verschiedene kulturelle Traditionen rekurrieren und das Resultat komplexer Begegnungen und kultureller Kontakte sind. Gashan durchquert verschiedene Städte und verändert auf seinen Parcours ›den (sozialen) Raum‹, wie im zweiten Abschnitt dieser R ­ omananalyse gezeigt wurde,39 und simultan – aufgrund dieses Unterwegsseins zwischen 37 |  Cf. das von James Clifford (1999) entworfene Konzept des dwelling-in-travel sowie die Untersuchung zu literarischen Erzählungen im Kontext des Mittelmeerdiskurses von Burtscher-Bechter/Mertz-Baumgartner 2006, insb. 66ff. 38 | Die Gattungsbezeichnung »Entwicklungsroman« umfasst allgemein jene ­R omane, in denen die Lebensgeschichte einer Figur erzählt wird. Mit »Entwicklung« ist hier die kör­­perliche, geistige und seelische Entfaltung unter spezifischen gesellschaftlichen Be­­­dingungen gemeint. Meist werden Etappen eines Weges dargestellt, aber kein spe­ zi­fisches Ziel angegeben. Der Entwicklungsroman kann auch als Modell für eine im 18. Jahrhundert entstandene Erzählform gelten, so Ortrud Gutjahr, »bei der einer individuellen Lebensgeschichte paradigmatische Bedeutung für das neue Selbstverständnis des Einzelnen zugesprochen wird« (Gutjahr 2007, 12). Zentral in Entwicklungsromanen ist also die Darstellung des Entwicklungsverlaufs einer Figur, wobei exemplarisch private Erlebnisse geschildert werden, ohne den Anspruch historisch repräsentativ zu sein (ibid.). 39 | In erster Linie ging/geht es hier um Grenzen, die sich verschieben lassen. Waldenfels (1998, 31) zufolge gibt es Grenzen, »die man hat und erwirbt, indem man etwas tut und unternimmt. Hierbei handelt es sich um Grenzen eines Feldes, sei es ein Handlungs-, Rede- oder Gesichtsfeld.« (Ibid.) Diese Grenzen lassen sich verschieben, jedoch nicht überschreiten. Sie würden mitwandern, so Waldenfels weiter, »wie der ei-

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verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten – erfährt er seine sich wandelnde ›Identität‹; er überschreitet somit Grenzen, indem er sich »durch den Eintritt in eine andere Ordnung selbst ändert und gleichsam über seinen eigenen Schatten springt. Hierbei handelt es sich um Schwellen, […] Grenzzonen, in denen wir uns auf halten, an denen wir zögern, vor denen wir zurückschrecken oder die wir überschreiten« (Waldenfels 1998, 31). Diese doppelte Bewegung von »Schwellenerfahrungen« (Benjamin) wird im Text beispielsweise in der Aussage »›Si diventa altri altrove‹« (Garane 2005, 106) reflektiert. Im Exil verschränken sich also räumliche Grenzüberschreitungen mit dem »Fremdwerden der Welt und des eigenen Selbst« (Waldenfels 1998, 32), wobei der Protagonist das Potenzial entfaltet, die Grenzen zwischen dem ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ zu unterminieren und somit figural als ›Grenzgänger‹ oder Go-between charakterisiert werden kann.40 Schwellen­fi guren verorten sich im Dazwischen, in der Ortlosigkeit, so konkretisiert sich die Vorstellung von ›Zuhause‹ für den Protagonisten im Handlungsverlauf zunehmend als eine Form der Reise im Sinne einer Spannung zwischen hier und anderswo, als nomadische Bewegung zwischen Punkten, als Transit von Ort zu Ort. Zumal sich Italien als Ort des Konflikts und der Enttäuschung herausstellt, beschließt Gashan nach seinem Universitätsabschluss in Florenz, zunächst in Grenoble sein Studium zu vertiefen, wo er auf eine politisch engagierte afrikanische Studentenschaft trifft. Ethnische 41 und politische Konflikte lodern auf, und lebhafte kulturelle Debatten thematisieren ›den Postkolonialismus‹ und die afrikanische Einheit, jedoch: »Si parlava di tutto, ma senza fare l’autocritica. Tutti i problemi che l’Africa aveva venivano dal colonialismo. Ogni studente sempre voleva piazzare una parola anticolonialista. Era come se tutti si preparassero per essere qualcuno nella loro terra. Non era forse vero che molti […] erano diventanti membri dei governi reazionari d’Africa? Tutti si nascondevano dietro la fraseologia marxista per non rimettersi in causa. La maggioranza degli studenti […] facevano [sic!] parte della borghesia distruttrice africana. Potevano cambiare le cose? La fine del colonialismo e del neocolonialismo sarebbe stata la loro fine.« (Garane 2005, 92) gene Schatten, den man um sich verbreitet, wie die Horizonte, an denen unser Blick strandet. […] In diesem ›Feld der Freiheit‹ […] verbleibe ich im Raum persönlicher oder gemeinschaftlicher Möglichkeiten, die unsere eigenen Möglichkeiten sind.« (Ibid.) 40 | Birk und Neumann (2002, 137) bezeichnen als »GrenzgängerInnen« oder Go-betweens im postkolonialen Diskurs jene Individuen, die strikte Grenzen wie etwa zwischen dem ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ unterlaufen können. 41 | Cf. folgendes Textzitat: »Erano somali di fronte agli altri. In Africa i somali sono il solo popolo omogeneo. Erano un Issa e un Ajuran tra di loro. Erano fratelli di fronte agli altri, nemici tra di loro.« (Garane 2005, 89)

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Wie im Textauszug, der Gashans Figurenbewusstsein formal in erlebter Rede darstellt, bereits anklingt, fiktionalisieren die an der Universität Grenoble verorteten Episoden einen von politischer Aktion und Analyse eröffneten ­diskursiven ›Raum‹, der eine Artikulation sozialer Antagonismen oder Widersprüche ermöglicht, ohne diese eilfertig aufzuheben (cf. Bhabha 2000, 38). Dies verweist darauf, dass »Geschichte gerade geschieht« (ibid.) und sich in einer diskursiven Zeitlichkeit in die »Verhandlung widersprüchlicher und antagonistischer Momente« (Bhabha 2000, 39) verwandelt, erzählerisch gestaltet z.B. im Gespräch zwischen Thomas Sankara, dem späteren Präsidenten von Burkina Faso, und Gashan: »›Siamo stati messi in un’altra storia, in un’altra lingua e in un’altra cultura. L’Africa è ad un bivio di tutto. […] Nessuna società al mondo può sopravvivere se non si adatta alla sfida ed al cambiamento che si trova a fronteggiare.‹ […] ›Voglio cambiare tante cose nella mia terra, prendendo il bello in tutte le culture e buttare nel cestino il brutto …‹ gli disse Sankara. […] ›Per cambiare, bisogna essere pazzi, visionari e coraggiosi. Bisogna dimenticare una parte del passato e resistere ad una parte del futuro che i francesi hanno scritto per me e gli italiani per te.‹ ›Bisogna buttare tutto l’Occidente nel cestino‹ disse Gashan. ›Non puoi buttare te stesso nel cestino, ma una parte di te stesso sì‹ gli disse Sankara con un sorriso, tra il beffardo e il protettivo. ›L’Occidente è in te. Quando hai lasciato il tuo villaggio hai ucciso una parte dell’Africa in te. Potresti tornare e vivere come la gente del tuo villaggio?‹ Gashan non rispose. […] ›La cultura sei tu, il cambiamento, un modo di essere: sei all’interno e all’esterno di Azania e sinonimo di rottura con il passato. Devi accettarti. Hai una cosa unica che molti africani ed europei non hanno: conosci le due culture. Adattati a te stesso! […].‹« (Garane 2005, 95f.)

Dieses Textbeispiel macht den hybriden Moment politischer Veränderungen sowie historischer, sprachlicher und kultureller Übergänge zum Thema. Die Verhandlung liegt in der Artikulierung oder Übersetzung von Elementen, »die weder das Eine [...] noch das Andere [...] sind, sondern etwas weiteres n ­ eben ihnen, das die Begriffe und Territorien von beiden in Frage stellt« (Bhabha 2000, 42). Die Frage kultureller Differenz thematisiert nebeneinander existierende Kenntnisse oder Praktiken, wobei das Ziel der kulturellen Differenz nach Bhabha (1997, 182) darin besteht, die Summe der Kenntnisse aus der Perspektive der (diskursiven) Minorität, die sich der Totalisierung widersetzt, neu zu artikulieren; es geht hier um politische und diskursive Strategien, »in denen hinzufügen nicht etwas vervollständigt, sondern dazu dient, das Kalkül von Macht und Wissen durcheinanderzubringen, wodurch andere Räume subalterner Signifikation geschaffen

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werden« (Bhabha 1997, 182). Der zitierte Dialog zwischen Sankara und Gashan thematisiert kulturelle Differenz und verdeutlicht, dass der Äußerungsprozess »[…] introduces a split in the performative present of cultural identification; a split between the traditional culturalist demand for a model, a tradition, a community, a stable system of reference, and the necessary negation of the certitude in the articulation of new cultural demands, meanings, strategies in the political present, as a practice of domination, or resistance.« (Bhabha 1994, 35) 42

In Anlehnung an Fanon (1981 [1961]) beschreibt Bhabha die Zeit des Widerstands als eine Zeit der kulturellen Ungewissheit sowie der signifikatorischen Ambivalenz und er aktualisiert dessen Metapher einer »schwankenden Bewegung« bzw. »verborgenen Gleichgewichtsstörung«,43 um die Betrachtungsperspektive kultureller ›Identität‹ neu zu überdenken. Mit seinem Konzept der kulturellen Differenz fokussiert Bhabha die Ambivalenz kultureller Autorität, die selbst erst im Moment der Differenzierung produziert wird (cf. Bhabha 2000, 52f.). Und eben »jene Autorität der Kultur als Wissen der referentiellen Wahrheit steht beim Konzept und Moment der Äußerung (enunciation) zur Debatte« (Bhabha 2000, 53). Entsprechend der Struktur symbolischer Repräsentation wird Bedeutung über sprachliche Differenz produziert.44 Das ­Dazwischentreten des von Bhabha so be42 | Cf. die Textpassage von Homi Bhabha in deutschsprachiger Übersetzung: »Der Äußerungsprozess führt in die performative Gegenwart der kulturellen Identifikation eine Spaltung ein, die zwischen der traditionellen kulturalistischen Forderung nach einem Modell, einer Tradition, einer Gemeinschaft, einem stabilen Bezugssystem und der notwendigen Negation dieser Gewissheit durch die Artikulation neuer kultureller Forderungen, Bedeutungen und Strategien in der politischen Gegenwart als Praxis von Herrschaft oder Widerstand verläuft.« (Bhabha 2000, 53) 43 | Cf. die von Bhabha zitierte Textpassage aus Fanons Die Verdammten dieser Erde: »Es genügt nicht, sich mit dem Volk in jener Vergangenheit zu verbinden, in der es nicht mehr ist, sondern man muß sich ihm in jener schwankenden Bewegung anschließen, die es gerade angefangen hat und von der her alles plötzlich in Frage gestellt wird. An diesen Ort einer verborgenen Gleichgewichtsstörung […] müssen wir uns begeben […].« (Fanon 1981, 192) 44 | Cf. Bhabhas präzise Überlegungen in diesem Zusammenhang: »Die in jedem per­ formativen kulturellen Akt wirksame sprachliche Differenz wird auch in der geläufigen semiotischen Darstellung der Disjunktion zwischen dem Subjekt einer ­P roposition (énoncé) und dem Subjekt der Äußerung (enunciation) hervorgehoben, das in der Aussage nicht repräsentiert ist, in dem aber dennoch die diskursive Einbettung oder Ausrichtung (address) der Aussage, ihre kulturelle Positionierung, ihr Bezug auf eine gegenwärtige Zeit und einen spezifischen Raum zum Ausdruck kommt. Der interpretatorische Pakt besteht nie einfach in einem Akt der Kommunikation zwischen dem in der Aussage

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zeichneten Third Space der Äuße­rung macht »die Struktur von Bedeutung und Referenz zu einem ambivalenten Prozeß [und] zerstört diesen Spiegel der Repräsentation« (Bhabha 2000, 56), der Wissen als allgemeingültig und uniform darzustellen versucht, und legt mit­hin rassistische Praktiken offen. Ohne eine Anerkennung dieses unbestimmten Äußerungsraumes könnte Bhabha zufolge »Fanons Vision des revolutionären kulturellen und politischen Wandels als ›schwankende Bewegung‹ einer verborgenen Gleichgewichtsstörung« (Bhabha 2000, 57) nicht als kulturelle Praxis artikuliert werden. Jener Third Space schaffe gerade die diskursiven Voraussetzungen der Äußerung, damit kulturelle Symbole neu verhandelt, d.h. mit anderen Bedeutungen aufgeladen und reinterpretiert werden können. Im zitierten Textauszug scheint fast Fanon aus Sankara zu sprechen, der den jungen Protagonisten ermutigt, seine hybride ›Identität‹ anzunehmen oder, um Fanons Metapher weiterzuspinnen, der ›schwankenden Bewegung‹ als Gleichgewichtskünstler zu begegnen. Bewegung und Hybridität treten als Grundkonstituenten der ›Identität‹ des Protagonisten in Il latte è buono an die Stelle von Sesshaftigkeit und Verwurzelung. Auf seine im finalen Teil des Romans entfaltete Autoreflexion zu Fragen der ›Identität‹ beziehen sich meine abschließenden Ausführungen.

IV.4 M ogadishu 1991 oder N el mezzo del cammin di nostra vita /M i ritrovai per una selva oscura Gashans Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung sowie das Gefühl des Fremdseins an den verschiedenen Orten seines Exils fließen im K ­ apitel Il ­r itorno, il monologo e la morte zusammen, das von der Rückkehr des P ­ rotagonisten nach Mogadishu handelt, als Somalia 1991 nach der Entmachtung des Diktators Siad Barre in das politische und soziale Desaster eines Bürgerkriegs stürzt. Zwischen den Ruinen der zerstörten Hauptstadt begegnet Gashan seiner Großmutter Shakhlan Iman wieder, die ihre Standhaftigkeit und Sicht der Dinge auf ihrer endlosen Wanderung die gesamte Geschichte hindurch behält. Auf ihre nomadische Bewegung verweist in formaler Hinsicht erneut der Kehrreim »E ­Shakhlan Iman camminava, camminava, camminava …« (Garane 2005, 109), der mit »Il latte è buono« und dessen Varianten alterniert oder sich gemeinsam wiederholt mit dem Effekt einer Steigerung des Rhythmus und der Spannung festgelegten Ich und Du. Um Bedeutung zu produzieren, ist es erforderlich, daß diese beiden Orte in eine Bewegung versetzt werden, bei der sie einen Dritten Raum durchlaufen. Dieser Raum repräsentiert sowohl die allgemeinen Bedingungen der Sprache als auch die spezifische Implikation der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie, derer sich die Äußerung nicht ›in sich‹ bewußt sein kann.« (Bhabha 2000, 55)

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(cf. Z ­ angrando 2010, 106). Die Narration folgt den Parcours ­Shakhlans und Gashans durch die Straßen von Mogadishu und mündet schließlich in eine selbstreflexive Auseinandersetzung Gashans mit seiner ›Identität‹ sowie einem postkolonialen und postmodernen Identitätsentwurf im Allgemeinen. Angesichts der tragischen Evidenz, dass »[q]ui gli uomini sono andati al di là dei limiti« (Garane 2005, 126), zeichnet sich auf den letzten Seiten des Romans der Anbruch einer neuen Epoche ab: »›Non si parla più di colonialismo, di bianco e nero, di cose opposte. Si parla della creazione di un mondo nuovo dal nulla!‹« (Garane 2005 121) Der völlig gekerbte ›Raum‹ der S ­ tadt verwandelt sich zwischen den Trümmern und den Toten des B ­ ürgerkrie­ges in eine Wüste zurück, einem erneut glatten ›Raum‹, eine »tabula rasa post­coloniale« (Zangrando 2010, 107f.), und für den Protagonisten vergegenwärtigt sich die selva oscura aus Dantes Divina Commedia, über deren Bedeutung er viele J­ ahre zuvor auf dem Gymnasium rätselte. Inmitten dieser historischen Tragö­die, dieses Infernos, konzeptualisiert Gashan »Hybridität« als Identitätsbe­griff, der einen Weg aus dem Chaos des somalischen Bürgerkrieges bahnen könnte: »›Ho l’impressione che tu sia perduto in una riflessione profonda‹ disse sua nonna. ›Sì nonna. Di tanto in tanto bisogna scendere nel proprio inferno di dentro, e il mio è molto profondo e bruciante.‹ ›Pensa anche all’inferno di fuori!‹ fu la recisa risposta di sua nonna. ›Quando sei partito c’era speranza. Sei tornato, guardati attorno. Tutto è mutato, ma per il peggio. Scendiamo sempre nell’abisso …‹ ›… la selva oscura!‹ disse ad alta voce Gashan. Fu felice per un secondo di aver risolto … […] ›In questo abisso tu sei un uomo nuovo. Devi porti la domanda del come creare una società nuova che non mutili più l’uomo.‹ Gashan non disse niente. La nonna aveva ragione. Era una donna fuori del comune. Non aveva forse risolto la questione della selva oscura? ›Mia nonna ha ragione. Io sono l’uomo nuovo. Un ibrido non può mutilare, perché lui stesso è nato da tante culture che si sono mutilate tra di loro. Lui è la somma di tutte le culture, come il Sommo Poeta!‹ pensava.« (Garane 2005, 122)

Die intertextuellen Bezüge auf die einleitenden Verse der Divina Commedia, »Nel mezzo del cammin di nostra vita/mi ritrovai per una selva oscura«, transponieren den Prätext in einen postkolonialen Kontext, in dem sich G ­ ashan als viandante oder Weltenwanderer mit Dante identifiziert. Dabei kann der intertextuelle Bezug als konkretes Verfahren der Bedeutungskon­stitution von Il latte è buono in Relation zu Dantes Inferno betrachtet werden:45 ­Dante gebrauchte 45 | Irina Rajewsky spricht von einem »eingeschränkten, kommunikativ-semiotischen Begriff der Intertextualität, der auf markierte Bezüge zwischen Texten und deren Funk-

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das Motiv der selva oscura allegorisch für die Welt mit ihren Verfehlungen und Irrtümern; in einem komplexen Deutungsmuster markiert der Wald als Symbol für die Sündenverstrickung der Menschen den Übergang zur Unterwelt (cf. Gmelin 1988b, 26f.). Insofern »it is the ›inter‹ – the cutting edge of translation and negotiation, the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture« (Bhabha 1994, 38), wird Bedeutung nicht länger in einem diskursiven, kulturellen Zentrum generiert und festgeschrieben, sondern in intertextuellen Zwischenräumen immer wieder aufs Neue verhandelt: Die selva oscura bezeichnet eben nicht nur »[il] ­proprio inferno di dentro« (Garane 2005, 122), sondern auch das zeitgenössische »inferno di fuori« (ibid.). Tradierte Raumcodierungen werden somit symbolisch erweitert: Während Dante einen Weg aus dem individuellen »inferno di dentro« (ibid.) zeigen wollte, resigniert Gashan am Abgrund des »inferno di fuori« (ibid.) des Bürgerkriegschaos, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Shakhlan Iman vermochte ihre Position einst zu verhandeln, wie im ersten Abschnitt dieser Romananalyse herausgearbeitet wurde, Gashan hingegen wird sich verzweifelt bewusst, »che l’Africa era al precipizio storico. […] ›L’assassinio della Somalia sarà una morte culturale, la morte di una cultura regionalista, tribale ed europea. Le frontiere non esisteranno più‹« (Garane 2005, 127). Inmitten dieses Infernos erkennt Gashan einzig im hybriden Subjekt, das wie eine Summe der Kulturen alles in sich aufnimmt, symbolisch einen Weg aus dem Abgrund wechselseitiger Verstümmelung und Zerstörung, und als »somma di tutte le culture« (ibid.) verkörpert der Protagonist selbst jene Hybridität, die er auf den Routen des Exils als Grundkonstituente seiner ›Identität‹ wahrzunehmen begann.46 Il latte è buono schreibt sich sowohl durch die Identifikation der Hauptfigur mit dem sommo poeta und die intertextuellen Zitate als auch durch die fiktionale Darstellung eines postkolonialen ›Infernos‹ in die italienische Literaturgeschichte ein. Die in Trümmern liegende Hauptstadt spiegelt räumlich Gashans fragmentierte ›Identität‹, deren ›Deterritorialisierung‹ eine Widerstandsform dartion im Textganzen abhebt« (Rajewsky 2003, 38). In der Intertextualitätsdebatte unterscheidet sich diese Position von jener Julia Kristevas, die von einem weit gefassten, kultursemiotischen Intertextualitätsbegriff ausgeht, also von einer »Metaphorisierung des Textbegriffs und folglich einer Entgrenzung des Intertextualitätsbegriffs« (ibid.); durch die Ausweitung des Textbegriffs auf jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur scheinen alle Texte wie Teile eines unendlichen Gewebes miteinander in Beziehung zu stehen, jeder Text enthält zitathaft die anderen Texte, und die Bedeutungen einzelner Texte resultieren aus der Verflochtenheit mit der Gesamtheit aller Texte, so Kristeva (cf. Grewe 2009, 25). 46 | Cf. folgende explizite Charakterisierung der Hauptfigur durch die heterodie­­ge­ tische Erzählinstanz: »In questa terra, Gashan era della cultura dei cammelli, degli asini e di Dante.« (Garane 2005, 115)

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stellt, »che […] porta all’azione per rifiutare l’infamante sterilità della sconfitta intellettuale« (Garane 2005, 126). Der Protagonist widersetzt sich entschieden der Infamie dieses Machtraums, handelt somit entsprechend der nomadischen Praktik der Deterritorialisierung (cf. Deleuze/Guattari 2006, 440); diese fungiert für Gashan aber nicht nur als Strategie des Widerstands, sondern, wie schon in Rom, des Überlebens, evoziert sein Durchqueren der Straßen von Mogadishu doch den Eindruck einer ›existenziellen Bewegung‹,47 ästhetisch gesteigert durch die Verdichtung der Kehrreime »Gashan camminava, camminava, camminava …« (Garane 2005, 123) sowie »Il latte è buono ...« (ibid.). Die von Shakhlan Iman geäußerte Notwendigkeit der Schaffung einer neuen Gesellschaft, »che non mutili più l’uomo« (Garane 2005, 122), als Aufgabe des hybriden Subjekts, »nato da tante culture che si sono mutilate tra di loro« (ibid.), hält der Protagonist angesichts der katastrophalen Gewaltausübung fundamentalistischer Kräfte in Somalia augenblicklich allein in der Literatur für möglich. Die nomadische Praktik der Bewegung findet einen Widerhall in der Prozessualität des Übersetzens und des Schreibens, so begreift Gashan denn auch die ›Neuerfindung‹ der somalischen Gesellschaft und Kultur in der Literatur als Überlebensstrategie: »›[…] Bisogna trasportare tutto dall’oralità alla scrittura. Così la Somalia non sarà negata, persa.‹ ›La Somalia è distrutta, la sua memoria è intatta. Il mio viso è distrutto, la mia memoria è intatta, in cocci, plurale, ma intatta. La Somalia sarà la mia opera, non il mio m ­ estiere. La mia ferita sanguina delle parole. Bisogna vivere con un paese ferito, con un’anima ferita, con la ferita stessa, mai guarita della tristezza di un popolo.‹ Il latte è buono e insanguinato! Camminava a Mogadiscio.« (Garane 2005, 124)

Am Ende des Romans formuliert Gashan die Notwendigkeit eines Übergangs von der Oralität zur Schrift, um das Überleben Somalias zu sichern. Wie der Textausschnitt nahelegt, motiviert sich das Schreiben nicht nur aus dem Projekt einer ästhetisch-literarischen Verarbeitung von Exil, Diaspora oder Migration, sondern zugleich aus einer existenziellen Krisensituation, in der die Einführung »kreative[r] Erfindung in die Existenz« (Bhabha 1997, 134)48 in erster Linie 47 | Cf. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu Timira (bes. Kapitel III.3, »Familiäre Diskontinuitäten oder: ›[…] un familiare disagio‹«) und Madre piccola (bes. Kapitel VI.2, »Figuration eines Selbstverlusts und Bewegung zwischen Nicht-Orten«) im Rahmen dieser Studie. 48 | Bhabha bezieht sich hier auf Fanon: »Ich bin kein Gefangener der Geschichte. Nicht in ihr darf ich nach dem Sinn meines Schicksals suchen. In jedem Augenblick muss ich mich daran erinnern, dass der wahre Sprung darin besteht, die Erfindung in die Existenz

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Überleben bedeutet – Überleben der Erinnerung, des Wissens, der Kultur, des Individuums. Der Übergang zu Formen der objektivierten Kultur wie etwa ­Texten verdeutlicht darüber hinaus die Konstruiertheit aller Kultur, die als Überlebensstrategie sowohl transnational als auch ›translational‹ ist, wie Bha­ bha (1996, 346) gezeigt hat. Insofern zeitgenössische postkoloniale Diskurse von Erfahrungen kultureller Zerstreuung geprägt werden, wie beispielsweise der Bewegung von Geflüchteten in globalen Räumen oder dem gesellschaft­ lichen Umgang mit MigrantInnen in westlichen Ländern, gestaltet sich Kultur transnational. Das ›translationale‹ Kulturverständnis des Protagonisten in Il latte è buono äußert sich in der notwendigen Übersetzung von Oralität in Schrift – »La Somalia sarà la mia opera […]« (Garane 2005, 124) – und verdeutlicht zugleich, wie sehr Kultur, Nation und Tradition fiktionale Entwürfe sind und Wiederholung und Übersetzung stets Hybridisierung bedeuten (cf. ­Bhabha 1996, 346). Gashans literarisches Projekt gestaltet sich somit durchgängig hybrid, und die metafiktionalen Elemente weisen geradezu auf Il latte è buono selbst zurück, präsentiert sich der Erzähltext hinsichtlich Mehrsprachigkeitsaspekten (Italienisch und Somali), des Genres (Entwicklungs­roman und ­gabai) und der Hauptfiguren (Gashan und Shakhlan Iman) ebenso als hybrid. In seiner komplexen existenziellen Grenzlage demonstriert der Protagonist also sowohl den hybriden Charakter von Kultur und deren symbolischen Repräsentationen als auch die Hybridität seiner personalen ›Identität‹, die sich in der Welt des Fortschreitens, der Bewegung und des Exils, ständig neu konstruiert und dadurch »Erfindung in die Existenz« (Fanon 1985, 164) einführt.

einzuführen. In der Welt, in der ich fortschreite, erschaffe ich mich unaufhörlich.« (Fanon 1985, 164)

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V. Fluchtort Mogadishu. Überleben zwischen inneren und äußeren Abgründen in Mario Domenichellis Lugemalé

»[E] dal buio della memoria tornan due versi soltanto: ›Ché lascia il posto lo sconforto e nasce, qui, la speranza.‹« A nthony L ostmann, I frammenti del C antare della D ecima C lasse (1991, 24)

Im Einleitungskapitel wurde die postkoloniale Literatur in Anlehnung an Deleuze und Guattari (1975) als »kleine Literatur« beschrieben, die sich von den diskursiven ›Randbereichen‹ etablierter Hierarchien äußert und dabei individuelle Erfahrungen mit dem Politischen sowie mit kollektiver Verantwortung verknüpft. Ästhetisch versucht diese »literarische Minorität« oder Literatur der Fluchtlinien etwa durch translinguale Aspekte, den Rückgriff auf Elemente mündlicher Erzähltraditionen, durch die Kombination postkolonialer und postmoderner Elemente oder durch transkulturelle Intertextualität die Grenzen des italienischen Literaturkanons zu öffnen. An diesem Prozess beteiligen sich auch in Italien sozialisierte AutorInnen wie die im Rahmen dieser Studie untersuchten Romane von Igiaba Scego, Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola demonstrieren oder auch Mario Domenichelli mit Lugemalé, dem die vorliegende Analyse gewidmet ist. Aus einer postkolonialen Perspektive kann dieser Text als politische Kritik und Kommentar zum Umgang Italiens mit der kolonialen und postkolonialen Geschichte gelesen werden, so meine These, und ergänzt in diesem Sinne das Untersuchungskorpus. Domenichelli verortet seinen Erstlingsroman Lugemalé (2005) in den späten 1980er und frühen 2000er Jahren in Mogadishu und Rom. Die Haupthandlung ist in Somalia im Jahr 1989 angesiedelt, fokussiert also im Jahr des Berliner Mauerfalls einen Schauplatz abseits der Weltöffentlichkeit, und entrollt die Geschichte im Kontext der kurzen Zeitspanne zwischen dem Ende des Barre-Regimes und dem Ausbruch von Chaos und Bürgerkrieg 1991. Das Geschehen wird von

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Valerio berichtet, dem Ich-Erzähler der Rahmenhandlung, der das in den Text eingefügte Romanmanuskript Il sole fra le dita seines auf mysteriöse Weise in Mogadishu umgekommen Kollegen und Freundes Tomas Malredondo liest. Lugemalé weist somit eine komplexe Erzählstruktur auf, einen Roman im Roman, das Lesen einer Geschichte innerhalb der Geschichte einer Romanlektüre. Die primäre Funktion dieser Verschränkung der Textebenen liegt in der Schaffung eines konzisen Erzählrahmens durch eine besondere Zeitstrukturierung – in Lugemalé: Anfang der 2000er Jahre als Zeitpunkt des Erzählens –, die Gruppierung um eine Person – konkret: Tomas Malredondo – und die Thematisierung eines Grundgedankens, der in der Erzählung entfaltet wird – hier: der Umgang mit Leid (cf. Hess et al. 1989, 347f.; Manai 2012, 176). Der Roman stellt die Verflechtungen der postkolonialen globalisierten Welt fragmentarisch heraus und verwebt diese mit den existenziellen Grenzerfahrungen der aus unterschiedlichen Gründen in Mogadishu lebenden Charaktere. Ausgehend von einer narratologischen Untersuchung des Romans gilt das Interesse dieses Kapitels zunächst einer Figurenanalyse sowie dem angewandten Erzählverfahren der Mise en abyme. Inwiefern Mogadishu für die Hauptfiguren einen Fluchtort repräsentiert, wo sie den Schatten ihrer Vergangenheit zu entfliehen suchen, wird im zweiten Abschnitt in Anlehnung an Freuds Ausführungen zu »Trauer und Melancholie« herausgearbeitet. Die Wahl von Mogadishu als Schauplatz der Handlung begründet sich mit der klar kolonialismus- und globalisierungskritischen Position des Romans, der sich durch die Kombination postkolonialer und postmoderner Elemente als ästhetisch innovativ gestaltet, worauf ich im dritten Teil dieses Kapitels (s. S. 182) näher eingehen werde. Ein zentrales Motiv in Lugemalé ist der Umgang mit persönlichem und kollektivem Leid. In diesem Zusammenhang erweist sich aus der Vielzahl intertextueller Referenzen insbesondere jene auf den Perceval als relevant, den Domenichellis Text hinsichtlich postkolonialer Potenziale auslotet, wie ich im letzten Abschnitt meiner Romananalyse darlege (s. S. 191). Räumliche Bewegung äußert sich in Lugemalé mitunter als Bewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, evoziert die Romanlektüre in Valerio doch Bilder seiner Vergangenheit, aktiviert Erinnerungen und verweist auf die Zeitlichkeit der Dinge. Die ›Frage‹, inwiefern der fiktionale Leser dem in der Postmoderne thematisierten allgemeinen Sinnverlust zu begegnen vermag oder nicht, rückt abschließend ins Blickfeld.

V.1 S piegelbilder eines R omans oder M ise en abyme Lugemalé beginnt und schließt mit Valerios Erzählerbericht, der das fiktive Geschehen retrospektiv schildert. Der suggestive Titel des Romans – Lugemalé – bedeutet im gesprochenen ›Pidgin-Italienisch‹ Somalias »non c’è luce« (Domenichelli 2005, Klappentext), »light is bad« (Manai 2012, 173) oder »there is

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no power« (ibid.) in Anspielung auf die häufigen Stromausfälle in Mogadishu; rückblickend erscheint Valerio dieser Ausdruck »come un presagio di quello che sarebbe successo« (Domenichelli 2005, 21). Wie eingangs erwähnt wird die Rahmenhandlung von Valerio in der ersten Person erzählt, mit Genette gesprochen repräsentiert er eine extradiegetisch-homodiegetische Erzähler­figur, während die intradiegetische Textebene durch die Einfügung des Romanmanuskripts Il sole fra le dita von Tomas Malredondo eröffnet und von einer heterodiegetischen Erzählinstanz vermittelt wird (cf. Martínez/Scheffel 2012, 78f.).1 Ende der 1980er Jahre war die ehemalige Kolonialmacht Italien mit diversen Großprojekten der Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor am afrikanischen Horn präsent und im Rahmen dieser in Lugemalé fiktionalisierten cooperazione lehrten Valerio und Tomas Italienische Semantik an der Nationalen Universität Somalia in Mogadishu.2 Valerios Motivation, für ein Semester eine Linguistikprofessur an der Jamacaadda anzunehmen, lag primär an den ausgezeichneten Verdienstmöglichkeiten bei der cooperazione, die es ihm erlaubten, Hypotheken abzubezahlen und sich ökonomisch zu sanieren, wie er dem/der LeserIn mitteilt. Er lässt sich implizit charakterisieren durch seine Verachtung für die so genannten ›Länder des Südens‹ und insbesondere Somalias, wo er sich zeitweilig in eine von Dienstbezügen und Förderungen dominierte Welt flüchtete, die zu hinterfragen er sich stets weigerte. Valerio blickt auf eine beendete Ehe zurück, die Beziehung zu seinen zwei Kindern beschreibt er als nicht gerade stabil oder vertrauensvoll, zudem ist er hinsichtlich seiner politischen und sozialen Überzeugungen völlig desillusioniert, einzig seine Universitätskarriere verläuft erfolgreich. Seine Rede wirkt weithin mit Phrasen durchdrungen wie »io me ne fregavo« (Domenichelli 2005, 28), »chissà« (ibid.) oder »non so come dire« (Domenichelli 2005, 52), als ob er seine bewusste Gleichgültigkeit und seinen trivial verstandenen Hedonismus sprachlich bestätigen würde (cf. Manai 2012, 180). 1 |  Die Rahmen- und Binnenhandlung ist mittels unterschiedlicher Typografie kenntlich gemacht. Zudem sind die 30 Binnenfragmente nummeriert und jeweils mit einem Titel überschrieben, während die acht Abschnitte der Rahmenhandlung allein römisch be­ ziffert sind. 2 | Cf. die deskriptiven Erläuterungen zur italosomalischen cooperazione durch die he­ terodiegetische Erzählinstanz zweiter Stufe: »Lingue aveva la caratteristica di essere una facoltà per metà in cooperazione fra Italia e Somalia. In genere le facoltà umanistiche non erano in cooperazione, per ovvii motivi ideologici e politico-religiosi. Così non era in cooperazione Scienze Politiche. Lingue, invece lo era a metà. In cooperazione, par­z i­ almente gestita da docenti italiani, erano due dipartimenti della facoltà. Quello di Ita­ liano, ovviamente, e quello di Linguistica che però era trasversale e interessava anche gli altri tre dipartimenti, e cioè Arabo, Inglese e Francese con l’uso dell’inglese come lingua veicolare.« (Domenichelli 2005, 85)

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Ganz anders als der Ich-Erzähler »with his petty indifference« (Manai 2012, 177) ist die Figur Tomas Malredondo konzipiert, die den LeserInnen aus der Perspektive Valerios geschildert wird: »Nonostante il nome, Malredondo, era italianissimo. Il nome gli veniva da un bisnonno sudamericano, Paraguay, mi sembra, venuto in Italia durante la belle époque carico di denaro e di senso degli affari« (Domenichelli 2005, 10), so Valerios explizite Charakterisierung seines Kollegen, mit dem er in Mogadishu auch die Wohnung teilte. Der Name »Maldredondo« verweist im Spanischen auf etwas Unvollkommenes, auf etwas, »that has not come out well, and the character is largely malredondo, in the sense that he is constitutionally ill-equipped for the world around him«, so die Interpretation Manais (2012, 177). Valerio beschreibt Tomas als merkwürdigen Typen mit den Zügen eines Dandys, »[l]a giacca, diceva, bisognava portarla larga, di una misura in più« (Domenichelli 2005, 9), intellektuell und moralisch höchst integer, immer zur Stelle, wenn er gebraucht wurde, selbst Leprakranke berührte er ohne Angst. Neben mehreren europäischen Sprachen beherrschte Tomas Arabisch und lernte Somali, »[n]e faceva una questione di rispetto« (Domenichelli 2005, 13). Zudem besaß er ein unwiderstehliches Charisma und »il dono della simpatia« (Domenichelli 2005, 10f.). Für Valerio wirkte er manchmal wie ein Romanheld, »era sempre come se recitasse una parte. […] Lo conoscevi subito benissimo, per come voleva farsi conoscere, per la maschera che mostrava, e ti rendevi conto, un po’ alla volta, che non lo conoscevi affatto.« (Domenichelli 2005, 14, 28) Im Unterschied zu Valerio war Tomas’ Entscheidung in Mogadishu zu leben mehr eine existenzielle denn eine ökonomische, zog ihn doch eine ausschließlich persönliche Motivation nach Somalia, nämlich der Wunsch und auch die Notwendigkeit, seiner Vergangenheit zu entkommen. Für Franco Manai (2012, 178) verkör­ pert Tomas jenen »riflusso« der 1980er Jahre, jene Tendenz zum sozialen Rückzug großer Teile einer desillusionierten Generation, die sich angesichts ihrer gefühlten politischen Machtlosigkeit bewusst ins Private zurückzog, wo sich Unzufriedenheit, Ernüchterung und Ohnmacht lediglich reproduzierten. Dies gilt meiner Ansicht nach gleichermaßen, wenn nicht sogar mehr für die Figur Valerio, der sich privater wie politischer Verantwortung entzieht, worauf später zurückzukommen sein wird. Als die Gefahr der Bürgerun­r uhen in Somalia spürbar wurde, verließen alle im Dienste der cooperazione stehenden UniversitätsdozentInnen möglichst schnell das Land, während Malredondo in Mogadishu blieb, wo er im Januar 1990 scheinbar an einem Herzinfarkt starb, wie die offizielle Version lautet. Valerio enthüllt dem/der LeserIn jedoch die wirklichen Todesumstände: »[…] sapevo che era morto di infarto, anzi sapevo bene che era morto, per così dire, di buio […]« (Domenichelli 2005, 50) – inwiefern dieses ›Dunkel‹ eine Komponente der fiktionalen Subjektkonstitution von Tomas Malredondo darstellt, möchte ich im Verlauf der Romananalyse herausarbeiten.

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Im Rahmen einer »rimpatriata dei ›Somali‹« (ibid.), berichtet Valerio, lernte er im Spätwinter 1991 eine Frau kennen, Marcella, die einige Jahre zuvor ebenfalls an der Jamacaadda unterrichtet hatte und nach einer kurzen Affäre mit Tomas nach Italien zurückgekehrt war. Valerio und Marcella ließen sich auf ein tristes Verhältnis ein, das im Namen ihres toten Freundes begann und von dessen abwesender Präsenz bestimmt wurde: »[…] Malredondo era rimasto per entrambi, anche in vita, come un fantasma. Fatto più di silenzi, di cose non dette, di spazi vuoti, di assenza, che non di presenza. Si era sempre sottratto. E ciò che sempre ritrovavo io, o Marcella, io in lei, lei in me, era il senso di vuoto, quella sottrazione …« (Domenichelli 2005, 59) Nach Tomas’ Tod erhielt Marcella sein Romanmanuskript Il sole fra le dita zugeschickt, das sie Valerio am Ende ihrer Beziehung übergibt; es war in Tomas’ Wohnung in Mogadishu gefunden worden, in einer mit Arabesken verzierten Truhe, die er laut Valerio sehr mochte und in der er Notizen, Bücher, Dokumente und Tierfiguren aus Palmholz auf bewahrte. Diese präzise Beschreibung des Fundortes erscheint in formaler wie symbolischer Hinsicht relevant: Derselbe Schrankkoffer, in dem Tomas sein Vermächtnis hinterließ, kehrt im Binnenroman wieder, wodurch zum einen auf das korrelative Verhältnis zwischen den Erzählebenen verwiesen wird, zum anderen erkennt der Protagonist der Binnenhandlung in diesem Objekt ein Symbol seines Lebens als Reise zwischen unbekannten Dingen und Orten: »›[…] è una cassapanca da viaggio, un baule in effetti, e mi piacerebbe averla come mobile, mi pare un emblema della mia vita, di quello che vorrei che fosse, un viaggio fra cose nuove, fra luoghi mai visti […].‹« (­Domenichelli 2005, 204) In der Rahmenerzählung enthält der Schrankkoffer den Binnenroman, der jenes Objekt auf einer zweiten Erzählebene mit symbolischer Bedeutung auflädt – das Element bewegt sich also zwischen der Welt des Erzählens und der erzählten Welt, die sich quasi wechselseitig hervorbringen. In weiterer Folge berichtet Lugemalé die Geschichte von Valerios mehrmals unterbrochener Lektüre des Romans Il sole fra le dita von Tomas Malredondo – ein unfreiwilliges, gewissermaßen aber logisches Vermächtnis. Die intradiegetische Textebene wird durch das eingefügte Manuskript eröffnet und von einer heterodiegetischen Erzählinstanz in der dritten Person vermittelt. In seinem Roman fiktionalisiert Tomas über die Inszenierung zweier männlicher Hauptfiguren, Marco und Gigi, sein Leben in Somalia sowie einige mit Valerio geteilte Erfahrungen. Die beiden Charaktere in Malredondos Roman würden aber nicht dem (fiktiven) Rahmen entsprechen, wie die LeserInnen aus Valerios Erzählerkommentaren verstehen, vielmehr habe Tomas verschiedene Personen kombiniert, die Figuren erscheinen hybrid, werden doch Eigenschaften und Wesenszüge des einen mitunter dem anderen zugeschrieben und umgekehrt. Dennoch kommt Valerio nicht umhin, sich in den verzerrt dargestellten fiktionalen Figuren des Binnenromans wiederzuerkennen, die auch als Spiegelbilder oder Doubles für Tomas bzw. ihn selbst

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zu sehen sind. Spiegelbildlich funktioniert auch der Blickwinkel, aus dem die Rahmen- bzw. Binnenhandlung geschildert wird: Gilt Valerios Interesse als Erzählinstanz ganz klar Tomas und wird das Geschehen über eine externe Fokalisierung vermittelt, gestaltet sich die Erzählung im Binnenroman teils über eine Nullfokalisierung, überwiegend jedoch aus der Perspektive und dem ­Wissenshorizont Marcos, somit erfahren die LeserInnen primär seine Gedanken, selbst Gigi und die erzählte Welt werden zumeist intern fokalisiert aus Marcos Sicht beschrieben und wahrgenommen (cf. Martínez/Scheffel 2012, 66f.). Bilden Marco, Gigi und Helga im Binnenroman die zentrale Figurenkonstellation, fungieren Mino, Franca, Awesh und Sigbjørn als sekundäre Figuren. Als MitarbeiterInnen der cooperazione sind etwa Mino und seine Partnerin Franca als Charaktere konzipiert, die in aufrichtigem Engagement alles Ermessliche tun, um die sozioökonomische Entwicklung in Somalia voranzubringen und dem drohenden Bürgerkrieg entgegenzuwirken. Mino, Franca und auch Helga repräsentieren simultan Figuren des Erzählrahmens, Valerio wird Helga im letzten Romankapitel an einer amerikanischen Universität persönlich kennen lernen. In der Binnennarration begegnen sich Marco und Helga erstmals im Thalé, dem Treffpunkt der in Mogadishu lebenden Europäer­ Innen. Wie sich herausstellt, verloren beide Jahre zuvor ein Kind und leben seither im Schatten dieses Verlusts. Es ist primär diese Welt, die Lugemalé fiktionalisiert, also jene der in Somalia lebenden europäischen und amerikanischen UniversitätslehrerInnen, VerwaltungsbeamtInnen, DiplomatInnen und Expats. In der Binnenhandlung stechen zudem zwei somalische Charaktere besonders hervor, Omar Basaboordo und Ahmed Abdulkadir, auch Mani Grosse genannt, den ich an dieser Stelle näher beleuchten möchte: Gigi beginnt eine Beziehung mit der jungen Somalierin Aamina und trifft Vorkehrungen für ihre heimliche Ausreise nach Italien; Omar Basaboordo, ein korrupter Beamter, soll ihm bei der Beschaffung des gefälschten Visums für Aamina behilflich sein.3 Repräsentiert Omar Basaboordo eher einen Kleinkriminellen, operiert sein nicht weniger korrupter Freund Mani Grosse bei der Polizei auf höherer Verwaltungsebene, wo die Ausstellung von Dokumenten und Papieren in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Mani Grosse wird als auffallend italianisiert dargestellt: Sein exzellentes Italienisch weist einen regionalen Akzent der Emilia Romagna auf, wo er für zwei Jahre auf die Polizeischule von Cesena ging, wie er Gigi mitteilt, und als dieser ihm angesichts seiner Sprachkompetenz eine hohe Musikalität attestiert, lässt Ahmed Abdulkadir durchblicken, neben zahlreichen italienischen Schlagern auch das kolonialfaschistische Lied Faccetta nera zu kennen. Die angedeutete Allianz mit der ehemaligen Kolonial3 | Lautmalerisch ironisiert der Name Omar Basaboordo den italienischen Terminus »passaporto« und spielt auf das Fälschen von Pässen an.

Mario Domenichelli – Lugemalé

macht wird überdies durch seinen Besuch von Rocca delle Caminate untermauert, der Sommerresidenz Mussolinis, was Gigi irritiert zur Kenntnis nimmt; und auch wenn Gigi ihm nicht recht glauben will, dass sein Vater Italiener gewesen sei, kommt er nicht umhin ironisch einzugestehen: »Comunque, babbo o non babbo, questo qui è stato proprio generato dall’Italia, l’abbiamo fatto proprio noi. Un bel lavoro davvero […].« (Domenichelli 2005, 152) Ahmed Abdulkadir wird als heuchlerischer Geschäftsmann inszeniert, listig und flexibel, der frei nach Machiavelli agiert, wie es die Notwendigkeit erfordert. In dieser figuralen Konzeption steht der nicht zufällig italianisierte, mit dem Faschismus sympathisierende Mani Grosse symbolisch für die unersättliche Gier der ehemaligen Kolonialmächte und gegenwärtig der westlichen Welt und ihrer globalen Handlanger, während die breite Bevölkerung krepiert und Somalia »da mangiatoia poteva farsi pattumiera« (Domenichelli 2005, 154), auch daran werde jemand verdienen, wie die Episode kritisch vor Augen führt. Gigi imaginiert sich als Orpheus und Aamina als Eurydike, verhandelt er mit diesem Deal doch das zu zahlende ›Lösegeld‹ oder besser ›Erlösungsgeld‹, denn durch die ›Entführung‹ Aaminas verspricht er sich nichts Geringeres als die Errettung seiner Seele, die er mit den angestimmten Versen aus Monteverdis Arie, »Ahi, sventurato amante, / Sperar dunque non lice ...« (ibid.), tragisch auflädt. Dieser intermediale Bezug fungiert als impliziter Kommentar des Erzählrahmens, insofern Gigi die intradiegetische Gegenfigur zu Valerio repräsentiert, der sich im Verlauf der Romanlektüre an seine Zeit in Somalia entsinnt, als es ihm nicht gelungen war, seiner Geliebten Daabo zur Flucht zu verhelfen und er sie schließlich zurückließ. Lugemalé gestaltet sich weithin selbstreferentiell, manifest etwa in der fiktionalen Thematisierung der obsessiven Neigung Valerios/Gigis wie auch ­Tomas’/Marcos, mit literarischen Zitaten zu spielen oder in der Erzählstruktur. Etwa kritisiert Valerio als Erzählinstanz des Rahmens in folgender Textpassage Tomas’ Roman als mit kolonialistischen Gemeinplätzen durchdrungen: »Ripensavo alla storia di Malredondo, che non mi sembrava avere né capo né coda. Una serie di luoghi comuni coloniali. Al centro del quadro mica ci aveva messo i neri, ci aveva messo il suo Marco, la sua Helga, il suo Gigi. Mica ci aveva messo Awesh, Aamina, che c’erano, certo, ma come ›contorno‹, come figure secondarie destinate a subire ­l’azione, come che sia, delle figure in primo piano, disposte secondo la prospettiva di quel primo piano. Da Tomas mi sarei aspettato qualcosa di diverso, magari che rovesciasse la prospettiva, che tentasse di vedere con gli occhi di Aamina, con gli occhi die Awesh. E invece le solite cose.« (Domenichelli 2005, 115)

Wie aus Valerios Erzählerkommentar deutlich wird, zählt hinsichtlich der narrativen Gestaltung Metafiktionalität zu den charakteristischen Merkmalen von Lugemalé. Die Enttäuschung des Ich-Erzählers über den Binnen­roman ver-

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weist auf die Rahmenhandlung bzw. den Roman selbst zurück und scheint auf die Vergeblichkeit postkolonialer Kritik anzuspielen, bleibt am Ende doch alles gleich oder »›[p]lus ça change plus c’est la même chose!‹« (Domenichelli 2005, 22), so der wiederkehrende Tenor der Erzählung. Manai zufolge vertritt Domenichellis Text die Position, dass jeglicher Versuch eines europäischen Autors, die Geschichte von einem somalischen Standpunkt aus zu erzählen, nur eine Mise en scène der ehemals kolonisierten Bevölkerung sein könne und daher eine Farce mit imperialistischen und paternalistischen Zwischentönen (cf. Manai 2012, 185). Der Roman handelt, wie erwähnt, nicht primär von Somalia; Somalia fungiert vielmehr als Metapher »of the Western heart of darkness« (Manai 2012, 184), wo die infame Kehrseite der westlichen kapitalistischen und imperialistischen Entwicklung ans Licht kommt.4 In diesem Zusammenhang ist aus den zahlreichen intertextuellen Referenzen in unterschiedlichen Sprachen im Binnenroman insbesondere das Gedicht Botschaft5 von Ingeborg Bachmann 4 | Franco Manai (2012, 173) bemerkt, »[e]ven for readers who do not know that the author, Mario Domenichelli, is a long-time scholar of Joseph Conrad, Heart of Darkness stands out from the very beginning as the text underpinning Lugemalé, a novel which repeatedly confronts and reflects upon itself and is, in some respects, a dramatic update on Conrad’s classic text« (Manai 2012, 173). An dieser Stelle sei auf Manais Beitrag »Mario Domenichelli’s Lugemalé: Heart of Darkness revisited in Post-­c olonial Italy« in der Zeitschrift Arcadia (Bd. 47, H. 1, 2012, 173-188) hingewiesen, in dem er Domenichellis literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Joseph Conrads Heart of Darkness (1902) skizziert, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann. Erwähnt sei nur, dass im Unterschied zu dem von Chinua Achebe und Edward Said in der Diskussion um Heart of Darkness erhobenen Imperialismus- und Rassismusvorwurf gegenüber Conrad Domenichelli zufolge »Conrad demonstrates in Heart of Darkness the ability to formulate a powerful critique of the imperialistic system of European society through a literary form which society could still accept, a literary form capable of penetrating the ideological barricades erected in defence of Western false consciousness« (Manai 2012, 175f.). Zu dieser Schlussfolgerung gelangt Domeni­c helli, da seiner Ansicht nach Kritik stets in historisch gegebenen Kontexten, sozialen Strukturen, politischen Interessen und Machtdynamiken eingebettet ist. So sei zu Conrads Zeit seine kritische Sicht der Intellektuellen und KünstlerInnen genauso historisch vorgegeben gewesen wie das Rezeptionsvermögen seines Publikums. Deshalb war es Conrads Aufgabe als Schriftsteller, seine Kritik innerhalb eines Diskurses zu vermitteln, der von seinem Publikum akzeptiert oder zumindest anerkannt werden konnte. Andernfalls, so die These Domenichellis, wäre sein Aufschrei wirkungslos verhallt (cf. Manai 2012, 175). 5 |  Im Text wird der Titel des Gedichtes nicht explizit genannt; die von Marco im Original zitierten Verse sind der zweiten Strophe entnommen: »Und Glanz kehrt sich nicht an Verwesung, / Unsere Gottheit, die Geschichte, hat uns ein grab [sic!] bestellt, / Aus dem es keine Auferstehung gibt«; die darauffolgende figural vermittelte Übersetzung lautet:

Mario Domenichelli – Lugemalé

hervorzuheben, das Marco im Zuge einer Diskussion über die somalische Wirtschaft, die Korruption und baqshiish sowie die Veräußerung der Fischereirechte an Japan zitiert. Somalia exemplifiziere diese Verse, kommentiert er von einer Metaebene, außer dass Italien es war, das eine irreversible Geschichte nach Somalia gebracht habe: »[…] e anche per noi dalla tomba della storia non c’è resurrezione, ma noi […] abbiamo vinto tre campionati del mondo« (Domenichelli 2005, 73), so Marcos mit trockener Ironie geäußerte postkoloniale Kritik an der italienischen Gesellschaft und dem weit verbreiteten Vergessen der Kolonialvergangenheit. Inszeniert werden Figurendialoge wie diese in der Binnenerzählung häufig in öffentlichen Räumen wie dem Croce del Sud, dem legendären italienischen Kolonialhotel im Stadtzentrum von Xamar, oder wie die eben erwähnte Szene im Thalé6, in Bars, Restaurants oder an der Universität. Lassen die Gespräche zum einen zerbrechliche und manchmal kleinliche Charaktere erkennen, vermitteln sie zum anderen das Stimmungsbild eines dekadenten Milieus. Die wiederholt als leeres Gerede bezeichneten zahllosen Dialoge spiegeln in formaler Hinsicht die Zerstreuung und Desorientierung der Figuren (cf. Manai 2012, 183f., 186). Als extradiegetische Erzählinstanz erfüllt Valerio sowohl die Aufgabe des Lesens als auch des Berichtens, fungiert somit als Medium, worüber er bewusst reflektiert: »Ecco, ora è come se la voce di Malredondo parlasse attraverso la mia bocca.« (Domenichelli 2005, 46f.) Auf die Frage, inwiefern die These vom »Tod des Autors« (Barthes 1968) in Lugemalé durch den Tod von Tomas Malredondo, dem fiktiven Autor des Binnenromans, übersteigert inszeniert wird, komme ich im letzten Abschnitt meiner Romananalyse zurück. Malredondos Abwesenheit und zugleich imaginäre Präsenz konstruiert mehr und mehr Valerios ›Identität‹, der durch die Lektüre des Romans gewissermaßen von der Todesahnung seines Freundes ›infiziert‹ wird. Dessen Schrift erscheint ihm »come una lettera dall’altro mondo, quello perduto, del vuoto, della mancanza, il cui vuoto è amara presenza, […] la vertigine per la quale ti rendi conto di star precipitando, di non avere mai fatto altro, verso la bocca vorace« (Domenichelli 2005, 105). Das Lesen des Manuskripts gestaltet sich für Valerio als zunehmend mühsame Beschäftigung, der er nur ungern nachkommt »E lo splendore non si cura della corruzione, / la nostra divinità la storia una tomba ci ha donato / dalla quale non c’è resurrezione.« (Domenichelli 2005, 72) 6 | Das Thalé »[i]n termini somali era un albergo di gran lusso, gestito da un italiano, che aveva le sue ›entrature‹, come diceva lui, locali. Si stava sempre fuori, ai bordi della piscina, dove c’erano i tavolini del ristorante. C’era sempre un’orchestrina che suonava musica africana, forse mediorientale, una nenia disperante ad orecchie occidentali.« (Domenichelli 2005, 68) Die AmerikanerInnen besuchen hingegen ihren an die Botschaft angegliederten exklusiven Club, wie die heterodiegetische Erzählinstanz berichtet.

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und von der er sich dennoch nicht lösen kann. Mehrmals unterbricht er die Lektüre,7 zu sehr belasten ihn die dadurch evozierten Erinnerungen an Somalia, die er vergessen will. Er versteckt den Roman im Regal, wo er sich unter all den anderen Büchern bestenfalls eines Tages wie von selber verlieren sollte und er – ohne ein schlechtes Gewissen zu haben – sich nicht mehr damit beschäftigen bräuchte. Das Buch scheint jedoch seine Lektüre einzufordern, als es ihm am Weg zum Altpapiercontainer vor die Füße fällt. Mit den losen, nicht nummerierten und nunmehr durcheinander geratenen Seiten setzt Valerio die Lektüre schließlich fort, und trotz der einen oder anderen Lücke, merkwürdi­ gen Leerstellen, seinem Gedächtnis nicht unähnlich, »[i]l discorso pareva ­fi lare, ma dava come l’impressione di soffrire di strani vuoti. Proprio come la mia memoria« (Domenichelli 2005, 122f.). Die Rahmenhandlung variiert also das Motiv der unterbrochenen Lektüre respektive die Technik des fragmentarischen Erzählens. Die im Verlauf der Lektüre wachgerufenen Erinnerungen an Mogadishu holen Valerio selbst in seinen Träumen ein, insbesondere spiegeln sich in Marcos Alpträumen seine eigenen verstörenden onirischen Bilder. In den politischen, moralischen und philosophischen Ausführungen Marcos erkennt Valerio seine eigenen Über­zeugungen und Zweifel, aber auch seine Skrupel und Gewissensbisse. Dieses mit dem Erzählverfahren der Metalepse gestaltete »Spiel der Querverweise« (cf. Manai 2012, 179) zwischen Valerios Erzählerbericht und Tomas’ Roman setzt ästhetisch die Textebenen zueinander in Beziehung, z.B. als Marco nach seiner Tour mit Helga nach Jenaale hohes Fieber bekommt und er Gigi in einem ihrer typischen, mit Zynismus gespickten Wortwechsel ironisierend droht, ihn aufgrund seines mangelnden Mitgefühls in seinen Träumen heimzusuchen: »Senza carità, sei, Gi’; io sto per morire e tu imperversi. Uomo senza pietà! Pagherai per questo. Verrò a tormentarti nel sonno; ti tirerò i piedi. ›Tornerò dall’inquieta tomba Con gli occhi del buio Tornerà invitto lo spirto.‹ ›A rompere i coglioni, Marco, da vivo come da morto. Mi pare ovvio! Almeno non mi mancherà la tua brillante conversazione, anche se ti inventi le citazioni.‹« (Domenichelli 2005, 145)

In einer narrativen Metalepse, also dem Wechsel zwischen der intradiege­ tischen und der extradiegetischen erzählten Welt, verkehrt sich für Valerio in der Rolle des fiktionalen Lesers des Binnenromans Marcos ironische Drohung 7 | Das Lesen des Romans verstört Valerio, der gesteht, »[…] mi disturbava l’idea di ritornarci sopra. Era come entrare in una malattia; in una malattia contagiosa.« (Domenichelli 2005, 117)

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in bitteren Ernst, wird er doch in qualvollen nächtlichen Träumen von den Schatten seiner Vergangenheit eingeholt: »Sognai non so più che cosa. Non la Somalia … ombre, un sentore di ombre, ecco. Un vuoto. Dentro un vuoto. Una vertigine. Una figura della vertigine« (Domenichelli 2005, 103) – geträumte Schatten als dunkle Ahnung, eine Leere innerhalb einer Leere, ein Projizieren in die Unendlichkeit wie in einem Spiegelkabinett, ein Fallen ohne Ende, eine Figuration des Schwindels. In Heart of Darkness ist es letzen Endes die Leere, die Vorstellung der eigenen inneren Leere, die den halluzinatorischen ›Wahnsinn‹ von Kurtz auslöst (cf. Manai 2012, 180f.). Ähnlich ist es in Lugemalé eine dunkle Ahnung, welche die physische und mentale Verfasstheit von Tomas/ Marco wie auch von Valerio untergräbt. Lesend scheint Valerio in einen Spiegel zu blicken und sich zunehmend mit Tomas und dessen Fiktion zu identifizieren, Rahmen- und Binnengeschichte enthalten sich gegenseitig, formal realisiert mit dem Erzählverfahren der Mise en abyme, worauf die im Zitat imaginierte Figur einer Schattenahnung, eines Fallens ins Leere rekursiv anspielt. Tomas’ bzw. Marcos Angst vor der Dunkelheit gilt weniger dem äußeren als vielmehr dem inneren Dunkel; beider Schlaflosigkeit, ein wiederkehrendes Motiv der ersten wie der zweiten Erzählebene, hängt mit ihrer Angst vor der inneren Finsternis zusammen, wie Tomas Valerio einst anvertraute: »Sì, ho paura di qualcosa … di addormentarmi. […] qualcosa dentro di me rifiuta il sonno … il buio assoluto del sonno. Non ho paura delle immagini dei sogni. Forse ho proprio paura del buio puro e semplice […] Della luce, della penombra, di quel che si vede io non ho mai paura. Non ho mai paura, anzi. È solo che ho paura del buio, del buio dentro gli occhi, non di quello fuori.« (Domenichelli 2005, 38)

Schlafen bedeutete für Tomas Angst vor dem bodenlosen Fall ins Leere. Er entzog sich dem Schlaf wie jemand, der an Schwindel leidet sich vom Abgrund zurückzieht. Die Binnengeschichte bildet in Lugemalé als Spiegelung des Erzählten auf einer untergeordneten Ebene sowohl eine formale als auch durch die thematischen Ähnlichkeitsrelationen zwischen Rahmen- und Binnenhandlung eine inhaltliche Mise en abyme, wie in den nächsten Abschnitten aufgezeigt wird. In Anlehnung an die von Wolf vorgeschlagene Typologie kann die in Lugemalé ausgestaltete Form der Mise en abyme in funktionaler Hinsicht als »mise en abyme révélatrice« (Ricardou 1978 zit. in Wolf 2008, 503) beschrieben werden, durch die Leerstellen der übergeordneten Textebene tendenziell gefüllt werden; der Mise en abyme in Lugemalé kommt zudem eine implizit kommentierende, sinnstiftende und verdeutlichende Funktion zu, ähnlich einer gespiegelten Erzählinstanz (cf. Wolf 2008, 503).

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V.2 Ü berleben z wischen Tr auer und M el ancholie Als Voraussetzung für die Mise en abyme werden in Lugemalé neben figuralen auch räumliche Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Textebenen inszeniert: Aus Valerios Bericht erfährt der/die LeserIn, dass Mogadishu für Tomas ein Ort des ›Ankommens‹ war, wie eine Rückkehr nach Hause, wie ein Ort der Kindheit oder ein verloren geglaubter Ort, den er verzweifelt geliebt und an dem er sich niemals fremd gefühlt hatte. In Italien verspürte Tomas hingegen bereits am Flughafen von Fiumicino ein Fremdheitsgefühl und sympathisierte mit dem Gedanken, ins nächste Flugzeug zurück nach Xamar zu steigen.8 Marco, die intradiegetische Gegenfigur zu Tomas, bemerkt im Gespräch mit Helga, Mogadishu markiere für ihn den Eintritt in eine Schattenzone: »Chi viene a Mogadiscio, chi ci si trova, per una ragione o per un’altra, deve avere una qualche volontà di entrare, come dire, in un’ombra. Magari non per sempre. Per un poco, solo per riposarsi. Qui è come essere continuamente in viaggio, fra luoghi. In una zona franca, come dire. Mogadiscio è una pausa, un intervallo. La prima volta che ci sono venuto non vedevo l’ora di tornare. Poi, al ritorno, all’aeroporto di Fiumicino capii che non ero più al mio posto. Che volevo tornare qui, nella mia zona d’ombra. Qui c’è tutto il mio tempo! E non ne desidero altro.« (Domenichelli 2005, 100)

Der Schmerz über den Tod seines Sohnes war für Tomas und ist für Marco letztlich ein Symptom eines allgemeinen Zustands. In der Binnenerzählung spricht Marco explizit davon, »[i]n the shade of loss« (Domenichelli 2005, 156; cf. Manai 2012, 181), im Schatten des Verlusts, zu leben und Mogadi­shu erweist sich sowohl für Marco als auch für Helga trotz ihrer diametralen subjektiven Raumwahrnehmung der Stadt als heterotoper Fluchtort aus den einengenden, normativen Strukturen westlicher Gesellschaften. Im Umgang mit ihrem persönlichen wie auch dem gesellschaftlichen Leid sind beide Figuren spiegelbildlich konzipiert, so weigert sich Helga, das Leid in den Blick zu nehmen in der Hoffnung, ihm dadurch zu entkommen, für Marco hingegen löst gerade das nicht oder nicht mehr Sichtbare den größten Schmerz aus. Helga will leben, den Schatten der Vergangenheit entfliehen, eine Rückkehr ins Leben zumindest versuchen, während Marcos Entscheidung an einem tendenziell dystopischen Ort wie Mogadishu zu leben, sich aus seinem Willen erklärt, in eine Schattenzone einzutreten. Der Tod seines Sohnes ist für ihn in Mogadishu erträglicher, denn dort verbindet sich seine Trauer mit all 8 | Auch für Marco bedeutet Mogadishu eine Rückkehr nach Hause, cf. folgende Text­ stelle im Binnenroman: »[…] Mogadiscio era come un ritorno a casa, nel tempo. Questa doveva essere l’unica ragione per cui lui amava, assai irragionevolmente, quel posto. Lì c’erano, o lui ci aveva piantato, le proprie radici.« (Domenichelli 2005, 64)

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dem Leid rundherum zu einem einzigen ausweglosen Schmerz. Auf seltsame Weise ist ihm dies ein Trost, um weiterzuleben, während Helga die Stadt im Gegenteil entsetzlich findet und so schnell wie möglich fort möchte. Marco träumt auch Jahre nach Gabrieles Tod häufig von ihm,9 Helga hingegen träumt nicht, vergisst das Geträumte oder denkt nicht daran. Auch sie verlor ihren Sohn und ermahnt Marco, seine Trauer hinter sich zu lassen und »tirare avanti« (Domenichelli 2005, 101), worauf Marco verzweifelt entgegnet: »È quello che faccio, signora. Tiro avanti! Ma voglio che qualcosa mi rimanga; il senso del vuoto, il dolore, se non altro, che mi testimoniano che lui c­ ’era, che c’è stato.« (Ibid.) Marco widersetzt sich somit dem Vergessen seines S ­ chmerzes, entschlossen, seine Wunde offen zu lassen, deren Existenz die traumatischen Schuldgefühle lindert, unverletzt den Motorradunfall überlebt zu haben, bei dem sein kleiner Sohn starb. Sein Leben sei gewissermaßen eine permanente Entziehung gewesen, eine endlose Trauer, so Marco; vor Lärm und Chaos flüchtete er sich stets in eine Defensive, in eine paradoxe Welt der Stille, wo er wie ein Boot nach heftigen Gewitterstürmen in der relativen Ruhe im Auge des Zyklons treibe, so die metaphorische Beschreibung seines Rückzugs. Die symbolische Identifikation der Hauptfigur mit einem Boot reflektiert Michel Foucaults Konzept der Heterotopie, demzufolge »Schiffe letztlich ein Stück schwimmenden Raumes sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert« (Foucault 2006, 327). In erzählter Gedankenrede erinnert sich Marco, wie er in seiner Jugend mit einem Freund die Adria überquerte und in einen Bora­sturm geriet; nachdem jegliche Steuerung unmöglich schien, holten sie die Segel ein, warfen eine »ancora di fortuna« (Domenichelli 2005, 162) und gingen im Vertrauen »che passasse la buriana« (ibid.) schlafen. Dieses Zurückziehen in die Bootskabine, »[e] cioè a non far proprio nulla« (ibid.), und das Warten, bis der Sturm vorbei ist, aktualisiert sich für Marco in Somalia, das für ihn einen heterotopen Fluchtort – ähnlich dem Schiff – repräsentiert, wohin er sich, der Wogen seines Lebens müde, flüchtete, um inmitten des Chaos Ruhe zu finden. Entgegen Helgas Wahrnehmung, Marco habe den Weg verloren und würde ohne Richtung, ohne Entschlossenheit dahindriften, bevorzugt dieser 9 | Der Tod seines Sohnes Gabriele und seines Hundes Wyatt kehren als Motive in Marcos intern fokalisiert erzählten Träumen vielfach wieder; wiederholt erscheinen auch Orte wie Straßen, Strände, das Meer oder seine frühere Wohnung. Marco beschreibt die surreale Sphäre der Träume raummetaphorisch als Übergang in ein anderes Land: »Gli tornavano, la notte, voci e volti da un qualche luogo perduto. Lui li ascoltava, dia­l ogava con loro nell’ombra. Altre volte eran sogni più strani, qualche volta terribili. La chiamava ›la vita in sogno‹, perché se li ricordava quei sogni, che erano la metà della vita, il terrore e la consolazione. Addormentarsi era come entrare in un altro paese.« (Domenichelli 2005, 78)

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geradezu, ohne präzise Route zu navigieren, verzichtet bewusst auf Orientierungspunkte und Wegweiser, sucht sie nicht einmal, gibt sich vielmehr damit zufrieden, zwischen Orten in Bewegung zu bleiben. Zwischen Konfrontation und Entziehung alternieren mithin die Überlebensstrategien der Charaktere Marco und Helga, wobei sich Marco, anders als Helga, dem Leid stellt, während sie sich dem Leben annähert, das er vermeidet. Gleichzeitig beunruhigt beide Figuren ihre Begegnung, spiegeln sie sich doch im Blick des/der anderen selbst: »C’era qualcosa che riconosceva in quegli occhi. Era come guardarsi dentro.« (Domenichelli 2005, 100) Mit Bezug auf die von Freud getroffene Differenzierung zwischen Trauer und Melancholie als Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person könnte Marco, wenn auch nicht vollständig, so doch tendenziell, als Melancholiker charakterisiert werden, denn »[b]ei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst« (Freud 1999, 431).10 Ein/e MelancholikerIn stellt nach dem Verlust der geliebten Person eine Identifizierung mit derselben her. Der »Schatten des Objekts« (Freud 1999, 435) fällt so auf das Ich, welches durch die Identifizierung mit der geliebten Person eine Veränderung erfährt, wie Freud erläutert. Auf diese Weise verwandelt sich »der Objektverlust in einen Ichverlust« (ibid.). Marcos Identifizierung mit seinem toten Sohn funktioniert wie ein »Ersatz der Objektliebe« (Freud 1999, 436) mit der Folge, dass die Liebe nicht aufgegeben werden muss; eine Melancholie verhält sich wie eine offene Wunde und entleert nach und nach das Ich (cf. Freud 1999, 439f.). Infolge seiner melancholischen Grundkonstitution empfindet Marco also eine Hemmung, zu leben oder sich dem Leben nicht mehr zu entziehen. Die in der Geschichte zuweilen denkbare Verschiebung der Objektbesetzung auf den somalischen Jungen Awesh löst sich letzten Endes in nichts auf. Wie die Erzählung nahelegt, könnte die Liebe zu Helga Marcos Melancholie ein Ende bereiten, wovor er zugleich größte Angst hat und in eine Ambivalenz gerät, bindet ihn doch das melancholische Trauergefühl zeitlebens an seinen Verlust: »›È il timore che anche pensiero e 10 | Freud zufolge ist die Trauer eine »Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw. Unter den nämlichen Einwirkungen zeigt sich bei manchen Personen […] an Stelle der Trauer eine Melancholie. […] Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert. Dies Bild wird unserem Verständnis näher gerückt, wenn wir erwägen, daß die Trauer dieselben Züge aufweist, bis auf einen einzigen; die Störung des Selbstgefühls fällt bei ihr weg. Sonst aber ist es dasselbe.« (Freud 1999, 429) Schlaflosigkeit und Schlafresistenz gehören nach Freud ebenfalls zum Bild des Melancholikers (cf. Freud 1999, 431f.).

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r­ icordo e dolore se ne vadano. Questo non voglio. Sarebbe come se morisse un’altra volta!‹« (Domenichelli 2005, 100f.) Von den Voraussetzungen der Melancholie, konkret »Verlust des Objekts, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich« (Freud 1999, 446), ist es laut Freud ohne Zweifel die Ambivalenz, die nach Todesfällen die Triebfeder des Konflikts im Ich darstellt. In Marco wirkt dieser Konflikt, »den die Melancholie für den Kampf um das Objekt eintauscht« (ibid.), wie eine schmerzhafte, offene Wunde. Indessen bewegte die Emotion der Trauer Helga dazu, ihr verstorbenes Kind loszulassen, für tot zu erklären und ihr Überleben oder Am-Leben-Bleiben anzunehmen. In der Rahmenhandlung berichtet Valerio den LeserInnen, die Trauer über den Tod seines Sohnes sei in jeder von Tomas’ Handlungen und jedem seiner Worte zu erkennen gewesen: »Malredondo non era che il suo lutto.« (Domenichelli 2005, 39) All die großen Verluste seines Lebens ereigneten sich in merkwürdiger Wiederholung in der Morgendämmerung – der Tod seines Vaters, seiner Mutter, seines Sohnes und sogar seines Hundes. Deshalb zelebriert(e) Tomas respektive Marco zuweilen einen Ritus in der Morgenstimmung, indem er die Möwen am Strand an den Bajuni oder in Brava beobachtet(e), wie sie sich bei Sonnenaufgang während des Aufblitzens der ersten Strahlen im Gleichklang zum Flug erheben.11 Im Binnenroman erleben Helga und Marco den Flug der Möwen bei Sonnenaufgang in Brava, und dieses poetische Bild symbolisiert für Helga Erneuerung, Wiedergeburt, Unendlichkeit, Leben und Hoffnung.12 Der Ansatz zum Fluge, das Öffnen der Flügel im Moment des Aufblitzens der Sonne steht symbolisch für die Geburt der Liebe zwischen den beiden Figuren. Diese affektiv stark aufgeladene Szene spielt als intramediales Zitat auf den Flug der Kraniche in Dantes Francesca-Gesang oder in Brechts Gedicht Die Liebenden an, was implizit auf Marcos Angst vor dem Fall ins Leere hindeuten könnte, sollte 11 | Cf. die von Tomas in direkter Figurenrede vermittelte Schilderung der Szene in der Rahmenhandlung: »[…] ero sulla spiaggia e guardavo il mare. Stava per sorgere il sole. L’aria aveva quel rigore opaco che c’è prima dell’alba. E c’erano dei gabbiani. Tutti in fila. Tutti ad arruffare le penne nella brezza. Stavano là ad aspettare, nella miseria del buio. Poi il sole balzò su come fa sempre qui, come una palla che rimbalza fuori dall’acqua. D’improvviso. E col sole si levarono anche i gabbiani. E stridevano, stridevano, battendo le ali … Tutti insieme si levarono in volo […].« (Domenichelli 2005, 29) 12 |  Im Binnenroman wird das affektiv aufgeladene Bild des Fluges der Möwen hingegen intern fokalisiert aus der Sicht Helgas und Marcos erzählt: »I gabbiani in colonia erano appollaiati a centinaia su quello scoglio. Parevano essere tutti là, tutti ingobbiti, con il capo fra le ali richiuse, immobili. Poi il sole venne su. Fece presto. Una palla rovente, enorme, bassa nel cielo, con le nubi che parevano dei cherubini intorno, come un alone, una cornice. D’improvviso videro palpitare le ali; tutti insieme i gabbiani le aprirono sbattendole un poco, e si levarono in volo, stridendo forte, in un turbinio. E furono in alto a planare nel vento e nella luce livida e rosa.« (Domenichelli 2005, 210)

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der Liebesflug nicht von Dauer sein oder der Verlust der geliebten Person drohen. Brava repräsentiert vor dem Hintergrund des imminenten Bürgerkrieges für einen kurzen Moment den Ort der Liebe zwischen Helga und Marco und gleichzeitig den Ort des Todes, denn der Autor des Binnenromans stirbt in Brava. Wie die LeserInnen aus Valerios Erzählung wissen, hatte ihm Tomas einst anvertraut, er hätte in Brava, der portugiesischen Hafenstadt aus dem 15. Jahrhundert, im Morgengrauen auf den Stufen der Ruinen des alten Sultanspalastes in einer Art Vision einen Schatten wahrgenommen, vielleicht eine Halluzination. Ähnlich erfährt Marco im Binnenfragment dieselben Palast­r uinen als »ammasso d’ombra« (Domenichelli 2005, 208); er gesteht Helga, dieser Ort habe eine seltsame Wirkung auf ihn. Brava wird als Geisterstadt beschrieben, die Straßen menschenleer und gespenstisch. Die symbolhaft in den Ruinen verräumlichte Vergänglichkeit der Dinge, von Gesellschaften und Individuen findet ihren Widerhall in Marcos Raumwahrnehmung: »›Brava, così, di notte, fa pen­ sare a una specie di cimitero […]‹« (ibid.) – eine proleptische Vorausdeutung auf das unmittelbar bevorstehende somalische Inferno sowie eine auf den Tod des fiktiven Autors anspielende narrative Metalepse. Wie die extradiegetische Erzählinstanz schildert, praktizierte Tomas Malredondo einen weiteren Ritus, gleichsam eine spiegelbildliche Ergänzung zum Bild des Möwenfluges bei Tagesanbruch, beobachtete er doch fasziniert die untergehende Sonne durch den Spalt seiner gespreizten Finger; daran inspiriert sich auch der Titel des Binnenromans Il sole fra le dita: »›Per me‹ continuò a dire‹, ›guardare il sole che muore, è come un rito, come una preghiera. È come incontrare, ogni sera, l’Angelo. Guardarlo in volto attraverso la fessura delle dita divaricate. Come seconde palpebre, per non farmi abbacinare. Ecco, vedi, la luce la catturo fra le mie dita, non è un miracolo?‹« (Domenichelli 2005, 12)

Am Ende habe er verstanden, so Valerio, dass Tomas mit seiner täglichen Selbst­ inszenierung versuchte, jene Leere zu maskieren, jenes Dunkel, jenen Verlustschmerz und jene geöffneten Gräber seines Herzens, jenen Abgrund und Schwindel, den er tief in sich fühlte. Er spielte diese seine Rolle, um sich zu trösten und zu vergessen. Er rezitierte seinen Schmerz im Grunde, um weniger zu leiden, um das Leid aufzuheben, als ob er durch dessen Inszenierung hoffte, sein Schmerz sei nicht real. Tomas lebte konstant in einem Gefühl der Melancholie und fand keinen Ausweg aus dem Weltschmerz, der sich in seinen Augen auch im Leiden der Tiere manifestierte.13 Die Bedeutung all des Leids in der Welt versuchte er, in Somalia zu begreifen: 13 | Cf. in diesem Zusammenhang die von der extradiegetischen Erzählinstanz er­ innerten Episoden beispielsweise über die Kamele auf dem Weg zum Schlachthof, den gefangenen Falken, dem Tomas die Freiheit zurückgeben wollte oder die kranke Katze,

Mario Domenichelli – Lugemalé »›[…] questo paese, tutto questo dolore, che qui è così visibile, e da noi invece è spesso nascosto … tutta questa violenza … la morte che vedi dappertutto … hai mai fatto caso a tutti gli animali morti che ci sono lungo le strade qui? È un segno … Lungo la nostra strada, comunque, ci sono dei cadaveri … quanti … Dio buono … quanti … ai lati del nostro cammino … Ma qui si vedono bene ... Vedi, qui siamo nel cuore del mondo, qui la verità è nuda e cruda …‹« (Dominchelli 2005, 41)

Tomas kam mit dem Leid nicht klar, weder mit seinem eigenen noch mit jenem der anderen. Und die staubigen Straßen Somalias repräsentieren symbolisch den Ort im ›Herzen der Welt‹, wo die ›Wahrheit‹ nackt und klar sei, so Tomas’ Figurenrede im zitierten Textauszug. Die Verwobenheit der modernen Welt wurde von Conrad/Randeria (2002, 18) als komplexes Geflecht von »geteilten Geschichten« beschrieben und eine solche Perspektive öffnet den Blick auf die Ungleichheit der globalisierten Welt, die als Effekt der kolonialen Begegnung gesehen werden kann. Vor dem historischen Hintergrund des drohenden Zerfalls Somalias thematisiert Lugemalé von Mario Domenichelli nicht nur die bisher in Relation zu den Hauptfiguren der Rahmen- wie der Binnenhandlung fokussierten existenziellen Fragen, sondern auch eine Vielzahl neokolonialer Realitäten aus einer kritischen bis zuweilen polemisierenden postkolonialen Perspektive. Stuart Hall argumentiert, »Postkolonialismus« beziehe sich auf einen allgemeinen »Prozeß der Entkolonialisierung, der, wie die Kolonisation selbst, die kolonialisierenden Gesellschaften so machtvoll geprägt hat wie die kolonialisierten (wenn auch natürlich auf andere Weise)« (Hall 1997, 226). Nach Ansicht Halls sind die langfristigen historischen Auswirkungen dieses entanglements irreversibel. Die imperiale Kolonialgeschichte Italiens prägte insbesondere Somalia, ließ die junge Republik nach dem Verlust ihrer Kolonien im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nichts unversucht, um die afrikanischen Kolonialgebiete zurückzubekommen – mit Unterstützung der gesamten politischen Klasse von Croce über De Gasperi bis Togliatti; eine Ausnahme bildete der Sozialist Riccardo Lombardi, der als Antikolonialist einen selbstkritischen Umgang mit der Geschichte Italiens seit dem Risorgimento forderte (cf. Gnisci 2007, 116f.). Ausgestattet mit einem UNO-Mandat zur Treuhandverwaltung kehrte Italien schließlich für weitere zehn Jahre (1950-1960) nach Somalia zurück, um die frühere Kolonie auf die Unabhängigkeit vorzubereiten und ein demokratisches Staatswesen zu institutionalisieren, wie das Vorhaben aus Sicht der italienischen Regierungen lautete. Heute existiere die somalische Nation allenfalls in der Diaspora, während Somalia einen in Chaos und die er gesund pflegte und deren Verschwinden ihn in eine Depression stürzen ließ (cf. Manai 2012, 181), denn »[…] Malredondo vedesse nella sofferenza degli animali tutta l’insensatezza del vivere, il male di vivere, di soffrire verso la morte […]. Nel dolore degli animali ritrovava tutto il dolore degli uomini […].« (Domenichelli 2005, 19)

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Auflösung befindlichen ›gescheiterten Staat‹ repräsentiere, so Gnisci (cf. ibid.). Lugemalé fiktionalisiert neben einigen weltpolitischen Entwicklungen auch besonders relevante Ereignisse in der italosomalischen postkolonialen Geschichte sowie den Umgang Italiens mit derselben, wie ich im nächsten Abschnitt darlegen werde. Die narrative Verflechtung der existenziellen Grenzerfahrungen der ProtagonistInnen mit der globalisierten Welt verortet sich nicht ohne Grund an einem Schauplatz wie Mogadishu, Lugemalé kombiniert vielmehr postmoderne mit postkolonialen Elementen.

V.3 »Pare va il Titanic «14 – E uropa 1989. P ostkoloniale B e tr achtungen einer weltpolitischen W ende Armando Gnisci (2006a, 94) zufolge stehen Moderne und Kolonialismus gleichermaßen für europäische Expansion, Hegemoniestreben und Gewalt; diese Entwicklung ist niemals wirklich überwunden worden, mit der Ungerechtigkeit und Ungleichheit der globalisierten Welt vielmehr an einem Punkt infamen Ausmaßes angelangt und »il peggiore dei mondi possibili« (ibid.) geworden, wie Gnisci die vom Kapital dominierte und militärisch kontrollierte neue Weltordnung der so genannten ökonomischen und sozialen Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts provokant charakterisiert. Auch Helen Tiffin (1995, 95) ruft ins Bewusstsein, dass »over three quarters of the contemporary world has been directly and profoundly affected by imperialism and colonialism«. Mit Mogadishu 1989 fiktionalisiert Lugemalé im Jahr des Berliner Mauerfalls einen Schauplatz abseits des Rampenlichts der Weltöffentlichkeit und nimmt vielfach Bezug auf postkoloniale Entwicklungen, etwa den internationalen Giftmüll- und Waffenhandel oder das Verschwinden Somalias aus den italienischen und internationalen Medien. Wie die LeserInnen aus Valerios Erzählung erfahren, sah Tomas in seiner pessimistischen Weltsicht die schlechteste aller möglichen Welten heraufziehen. Im Stile eines globalisierungskritischen Pamphlets beklagte er, dreiviertel der so genannten freien Welt, des ›freien‹ Marktes würden krepieren, so dass er die allgemeine Euphorie über den Fall der Berliner Mauer nicht teilenn könne: »›Plus ça change plus c’est la même chose!‹ […] ›Qui, ad esempio, se nessuno avrà necessità di usare la Somalia a fini strategici, me lo dici chi avrà interesse a dare soldi? Finirà malissimo, e non solo qui. E, comunque, comunista non sono, lo sai, ma certo mi dispiace molto che sia finita la speranza di giustizia sociale, perché sai, ora, è proprio finita.‹ […] ›[…] il socialismo reale … Ma non ti accorgi del mondo in cui viviamo noi, quello, se vuoi, del capitalismo reale? […] E non lo sai, non lo sappiamo che nella libertà del mondo capitalista del libero mercato, tre quarti, o più, del mondo crepano 14 | Domenichelli 2005, 163.

Mario Domenichelli – Lugemalé letteralmente di fame? che tutto è diventato merce, che l’aria, l’acqua, sono divenuti merce, che il corpo è merce? […] Ma non lo vedi che stiamo vampirizzando il resto del mondo, che siamo una civiltà cannibalesca … [...] Ma vaffanculo, vaffanculo!!! Noi la gente la divoriamo viva. […] Libero mercato, già, perché di libero, in questo sistema, c’è solo il mercato! Pagheremo, mio caro, ­p agheremo per tutto questo. Non ho dubbi. E intanto viva la Germania unita. Nel frattempo vedrai che qualcos’altro si dividerà, e ci sarà da divertirsi nei prossimi anni, Insch Allah Akbar. […] Altro che Socialismo Reale, che è diventato un luogo comune che usiamo per tacere a noi stessi quello che siamo. Una gran volgarità, mio caro, volgarità …‹« (Domenichelli 2005, 22f.) 15

Tomas vertrat die Ansicht, der afrikanische Kontinent würde einen teuren Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Realsozialismus bezahlen. Seine in der Rahmenerzählung in direkter Figurenrede unter dem Eindruck minimaler Distanz deklamierte Globalisierungskritik kehrt im Binnenroman thematisch ähnlich, aber formal als Bewusstseinsbericht gestaltet wieder: »Marco, nell’attesa, si era scolato qualche vodka in più, e iniziò a salmodiare in conclusione a una sua analisi sul potere delle banche […]. Vedeva come un’utopia negativa prendere corpo nella realtà, iniziare a prendere corpo in quei giorni.« (Domenichelli 2005, 235) Als intradiegetische Gegenfigur wiederholt Marco inhaltlich Tomas’ Position, nicht der Realsozialismus wäre das Problem, sondern der Realkapitalismus und die Anti-Utopie absoluter Kontrolle, die Transformation der Welt in ein globales Unternehmen, die Macht der Banken, die den gesamten Nahrungsmittel- und Energiesektor sowie die Medien kontrollieren und Freiräume minimieren würden. Über die Geografie der Welt und die Funktion eines jeden ihrer Teile zu entscheiden, wäre der Alptraum der Menschheit, aber der Traum des Kapitals: die Macht zu bestimmen, wo es Frieden und wo Krieg, wo es Reichtum und wo Misere geben müsse, basierend auf Profit als einzigem Kriterium und einzigem Wert. Für Marco markiert 1989 »[il] Grande Avvento di Mammona« (ibid.). Argumentiert er in seiner pessimistischen Weltsicht, die Ko15 |  Jahre später erinnert sich Valerio an jenen Abend in der Casa d’Italia in Mogadishu und kommt nicht umhin zuzugeben, dass Tomas mit seiner emphatisch vorgetragenen Tirade in vielerlei Hinsicht recht behalten sollte, global gesehen sei die Welt seit dem Mauerfall nicht besser geworden, und Somalia kann als Quintessenz einer von Chaos aufgezehrten Welt begriffen werden. Die globalen Krisenherde würden keine Lichtblicke versprechen: »la guerra del Golfo, la Yugoslavia, le repubbliche islamiche dell’ex Unione Sovietica, la Cecenia, guerre endemiche, fame e pestilenze in Africa, altri sussulti nei Balcani, stragi e attentati terroristici, e poi l’11 settembre del 2002 [sic!], e le torri gemelle di New York, e poi l’Afganistan, l’Iraq che continuava lo sterminio iniziato con la guerra del Golfo e del resto mai interrotto, e in Israele e Palestina per tutto il tempo massacri, violenze, e cadaveri […] senza fine, senza ormai numero […].« (Domenichelli 2005, 53)

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lonialisierung durch das Kapital bedeute in letzter Konsequenz die mikrokapillare Kolonialisierung des Lebens, des Körpers, des Denkens, des Raumes und der Zeit, gehen die vermittelten Gedanken etwa in Gigis Kritik der Simplifizierung über den Reflexionsgrad der Figur Marco hinaus. 1991 brach nicht nur der somalische Bürgerkrieg aus, sondern auch der Golf­ krieg; laut Stuart Hall ein charakteristisches Beispiel für eine »bestimmte Art von politischem Geschehen unserer ›neuen Zeiten‹, die sowohl von der Krise des nicht zu Ende geführten Kampfes um ›Entkolonialisierung‹ als auch von der Krise des ›post-unabhängigen‹ Staates einschneidend geprägt werden« (Hall 1997, 223). Er stellt die Frage: »[…] [W]ar der Golfkrieg […] ein klassisches ›postkoloniales‹ Ereignis?« (ibid.). Aus realpolitischen Entwicklungen sind Komplexität und Ambiguität nicht einfach auszublenden, wie Hall betont, und die Krise des postkolonialen Staates leistete einer »bestimmte[n] Art von politischem Geschehen« auch in Somalia Vorschub, konkret dem Bürgerkrieg seit 1991, der nach der gescheiterten UN-Intervention Restore Hope die Extremsituation eines so bezeichneten Failed State nach sich zog. Lugemalé thematisiert wiederholt jene von den Vereinten Nationen gebilligte internationale Militär­operation in Somalia mit italienischer Beteiligung und fragt nach der Bedeutung jener ›Hoffnung‹ angesichts tausender und zehntausender Toter, als Somalia in der Folge sich selbst oder den Milizen der Warlords überlassen wurde. Die Romanlektüre evoziert in Valerio Erinnerungen an die im italienischen Fernsehen während Restore Hope gezeigten Reportagen, die Mogadishu als Stadt der Toten und der Verwesung oder gar wie einen Friedhof wirken ließen, wie Tomas einst formuliert hatte. Aber warum verschwand Somalia aus der internationalen Medienberichterstattung? Dadurch sei den Toten nicht einmal das Recht auf Medienpräsenz gewährt worden, beklagt die extradiegetische Erzählerfigur, als ob es sie niemals gegeben hätte, oder waren es zu viele? Die Frage, warum die Medien kaum mehr über Somalia berichten, kann sich Valerio nur ex negativo beantworten. Der Grund sei bestimmt nicht, dass sich die Situation stabilisiert habe, »[f]orse perché della Somalia meno si parla meno si sa, e meglio è …« (Domenichelli 2005, 241), so sein Erzählerkom­mentar in Anspielung auf die Ermordung der Rai-3-Journalistin Ilaria Alpi und ihres Kameramannes Miran Hrovatin, die 1994 unter mys­ teriösen Umständen in Mogadishu ums Leben kamen. Lugemalé nimmt Bezug darauf, ohne allerdings Namen zu nennen: »È stata uccisa una giornalista in Somalia … un’inviata della televisione, povera fi­g lia, è stata assassinata insieme al suo cameraman, perché aveva scoperto qualcosa a proposito di un traffico d’armi collegato allo smaltimento dei rifiuti tossici, insomma all’uso della Somalia come pattumiera.« (Domenichelli 2005, 241) 16 16 | Ein weiteres für die krisenhafte Entwicklung im postkolonialen Somalia symptomatisches Ereignis wird in Lugemalé fiktionalisiert: der Mord an monsignor Colombo,

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Im Juli 2003 wurde im italienischen Parlament ein Untersuchungsausschuss gebildet, um im Mordfall Ilaria Alpi und Miran Hrovatin zu ermitteln. Unter der Leitung von Carlo Taormina kam die Untersuchungskommission drei Jahre später zum Schluss, dass die JournalistInnen Opfer einer spontanen anti­ italienischen Attacke von Kriminellen geworden waren. Infolge der Debatten und Polemiken rund um den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses blieb ein Großteil der Presse wie der Öffentlichkeit davon überzeugt, dass die wahren Hintergründe für die Tötungen der Handel mit Giftmüll war, der sich in riesigen Mengen in Somalia ansammelt, ein in Lugemalé neben dem internationalen Waffenhandel mehrfach problematisiertes Thema (cf. Manai 2012, 176).17 Valerio kritisiert explizit den Umgang der italienischen Gesellschaft mit Somalia, insbesondere im Kontext von Restore Hope und der Ermordung von Ilaria Alpi und Miran Hrovatin: »[…] noi italiani siamo brava gente, e ci siamo comportati come meglio non avremmo potuto, o così si dice, sicché è tutto dimenticato e non se ne parla più. E poco si parla anche della giornalista ammazzata con il suo cameraman a Mogadiscio. Se se ne pardem Bischof von Mogadishu. Gerüchten zufolge wurde Colombo im Juli 1989 von ExtremistInnen oder der Geheimpolizei Barres umgebracht, nachdem er die Korruption und den Verkauf von über die Caritas eingetroffenen Hilfsgütern am Markt skandalisiert und diesen infamen Handel auf Kosten der subalternen Bevölkerung denunziert hatte. Dem Vorfall folgten Unruhen und ein vom Regime verübtes Massaker in einer Moschee, um gegen die so genannte ›islamistische Gefahr‹ vorzugehen; wer jedoch wirklich hinter dem Attentat steckte, wurde niemals aufgedeckt, so der extradiegetische Erzählerbericht. Eine nicht unwahrscheinliche Hypothese sah die Ermordung von monsignor Colombo und das Massaker in Verbindung mit dem Bürgerkrieg, der im Norden des Landes schon im Jahr zuvor begonnen hatte, unmittelbar nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Äthiopien unter Menghistu und Somalia, um einen 20 Jahre dauernden Konflikt beizulegen (cf. Domenichelli 2005, 19f.). 17 | Cf. in diesem Zusammenhang folgenden Textauszug: »›Un grosso affare, un affare magico, anche. Perché la Somalia, il Presidente Barre, mica ce li ha i denari per comprare le armi, eppure le ha comprate e le compra lo stesso; e con che soldi? Eh be’, con i soldi italiani che comprano armi italiane. Sicché noi gli diamo sia le armi che i soldi per comprarle. I soldi della cooperazione militare. Uno scherzetto notevole con un bel giro di tangenti, quattrini, commesse, percentuali. […] Così quando è finito quello che viene di solito pomposamente definito il mondo di Yalta […] ci voleva qualcosa di nuovo e stuzzicante; e la pacchia della guerra civile, coi tempi somali, e con le tradizioni somale, è un affare sicuro. […] Può durare in eterno. E così va il mondo. Le armi, se si fanno, bisognerà pure che qualcuno le usi. Così si vendono le armi e qualcuno ci guadagna, e quelle armi poi vengono vendute a chi difende gli interessi dei venditori, anche se non sempre va liscia. È un trucco interessante […].‹« (Domenichelli 2005, 126)

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Postkoloniale Literatur in Italien lasse come si dovrebbe si capirebbe bene quello che anche noi stiamo facendo nel nuovo progetto imperiale e neocoloniale.« (Domenichelli 2005, 264)

Lugemalé thematisiert also faktuale Ausgangspunkte wie den internationalen Giftmüll- und Waffenhandel, die korrupte Verwendung für die Entwicklungszusammenarbeit vorgesehener öffentlicher Gelder oder auch die Ermordung von Ilaria Alpi und Miran Hrovatin und verschränkt diese mit der Romanhandlung und den erzählten privaten Lebensgeschichten der Protagonist­Innen.18 Für Valerio konkretisiert sich in der Postdemokratie die Anti-Utopie des Mammons in immer deutlicheren Formen, kleine wie große Länder würden nicht nur von der 18 |  Der Binnenroman fiktionalisiert darüber hinaus den von den italienischen Faschis­ ten lancierten und während der Amministrazione Fiduciaria in den 1950er Jahren weiter forcierten Bananenanbau in Jenaale, Afgoy und Kisimayo. Wie in allen Kolonien stellte sich auch in Somalia die Frage nach dem Transport der Exportgüter in die großen Hafenstädte; dies bedeutete den Bau von Eisenbahnlinien und Straßen, die mitunter die Funktion erfüllen würden, den globalen Giftmüll zu deponieren, »strade che magari partivano da un nulla, attraversavano il nulla e arrivavano al nulla« (Domenichelli 2005, 125). Der Export von Bananen nach Italien und von Kamelen in die arabischen Länder bildeten die Säulen des somalischen Außenhandels der Postunabhängigkeit – so schien es. Allerdings, bemerkt Marco, hat er nie auch nur eine einzige somalische Banane in Italien gesehen. Zynisch polemisiert der Protagonist, in Somalia ließen sich rentable Geschäfte machen, und in erster Linie gehe es um Profite, im Grunde würden die Dinge dort nicht anders als in Italien laufen, »[è] una specie di parodia della situazione nazionale italiana, che è già una parodia … o una tragedia« (Domenichelli 2005, 126). Lugemalé scheint hier auf die Einigung Italiens anzuspielen; in Hinblick darauf bemerkt Armando Gnisci (2007, 78, 117), das Risorgimento spaltete die de facto inexistente Nation Italien in einen ökonomisch erfolgreichen Norden und einen desolaten Süden, der noch heute zerrüttet und von Abwanderung betroffen ist und zuweilen in Chaos zu versinken droht. Anstatt wegweisende Gesetze für den Aufbau eines Nationalstaates bereitzustellen, machten die piemontesischen Könige mit ihrer problematischen Politik unzählige BewohnerInnen des Südens, wohin sie die Hälfte der savoyisch-italienischen Armee verlegten, zu heimatlosen Flüchtenden. Nicht dem italienischen Staat galt das Interesse der Savoyer, des Adels und der großbürgerlichen politischen Eliten, sondern der Suche nach einem kolonialen ›Platz an der Sonne‹: an der Mittelmeerküste Li­b yens und am Horn von Afrika. Die koloniale Unternehmung Italiens begann unmittelbar nach dem Risorgimento, als weder die eigene Dekolonialisierung im Sinne einer Auseinandersetzung mit der über Jahrhunderte währenden Fremdherrschaft – Gnisci bezeichnet Italien als »Colonia Europae« (Gnisci 2007, 78) –‒noch der Aufbau als europäische Nation im Vordergrund standen, sondern die afrikanischen Eroberungen. Infolge des Risorgimento und der savoyischen Politik sah sich die italienische Bevölkerung in Massen gezwungen, als EmigrantInnen das Land zu verlassen (cf. Gnisci 2007, 83).

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Korruption beherrscht, sondern von den als ›nationale Interessen‹ maskierten persönlichen Interessen einiger weniger. Zudem scheinen die Informationsmedien gleichgeschaltet, JournalistInnen und R ­ ichterInnen ›gekauft‹ oder eingeschüchtert oder auf die ein oder andere Weise zum Schweigen gebracht. Diese bitteren Reflexionen des Ich-Erzählers werden den LeserInnen formal über einen inneren Monolog mitgeteilt, der stellenweise von selbstreflexiven Kommentaren seiner Gedankenrede unterbrochen wird, beispielsweise »[n]on so molto, io, ma questo credo d’averlo capito […]« (Domenichelli 2005, 264), wodurch stilistisch der Effekt einer größeren Distanz zum dargestellten Geschehen hervorgerufen wird. Mit der Metapher der untergehenden Titanic formuliert der Text schließlich emphatisch eine postkoloniale Kritik und appelliert an die (ehemaligen) europäischen Kolonialmächte, sich nicht der Illusion hinzugeben, mit den unzähligen postkolonialen Krisen und zeitgeschichtlichen Ideologien wie etwa dem radikalen Islamismus nichts zu tun zu haben. Die im Kontext des Kolonialismus und der Globalisierung hervorgebrachten extremen globalen Disparitäten lädt der Text postkolonial auf: »Noi tutto e loro niente! Noi avremo sempre di più, loro sempre di meno, loro saranno sempre di più e noi sempre di meno … e come può continuare?« (Domenichelli 2005, 164) In dieser Episode des Binnenromans reflektiert Marco im Modus der erlebten Gedankenrede auf einer Party über die tanzende Menge auf der Terrasse, die inmitten glitzernder Lichter und lauter Musik grotesk anmutet, wie folgende Raumwahrnehmung vermittelt: »Era come sospesa nel buio della notte, sopra la massa scura indistinta della città, con quei lampi lontani all’orizzonte. Quella terrazza era come sospesa nel cielo, sopra la miseria, i tuguri, i tetti di lamiera … Fluttuava con la sua luce e la sua musica, le sue voci e i suoi canti, la sua festa, sopra un oceano nero, e la pressione calava e si sentiva nell’aria la burrasca che stava arrivando, e la terrazza pareva fluttuare a suon di musica, con i ballerini e le ballerine, come delle figurine dell’assurdo … Quella terrazza a galla nel buio era come … Sì, era come l’Europa stessa … […] Musica e luci sopra il buio e il silenzio, il buio e il silenzio. Pareva il Titanic […].« (Domenichelli 2005, 163)

Evoziert die Terrasse der europäischen und somalischen Eliten in Marco das Bild der Titanic, vernimmt er in metaphorischer Gestalt bereits die Umrisse des Eisbergs mit der schneidenden Kante, jener inmitten des Dunkels der tropischen Nacht und des namenlosen Elends schwebenden Terrasse gefährlich nahe. Die in den Text montierten Verse von Hans Magnus Enzensbergers Der Untergang der Titanic19 verstärken die Perspektivierung des Erzählten aus 19 |  Cf. folgende im Binnenroman auf Deutsch zitierten Verse Enzensbergers: »Das Zwi­ schendeck / Versteht kein Englisch, kein Deutsch, nur eines / Braucht ihm kein Mensch zu erklären: / Daß die Erste Klasse zuerst drankommt, / Daß es nie genug Milch und nie genug Schuhe / Und nie genug Rettungsboote für alle gibt.« (cf. Domenichelli 2005,

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­ arcos Sicht: Europa treibe dahin, bis es ein Leck geben und ›die Terrasse‹ M sinken werde. Denn wie könne eine Entwicklung funktionieren, wenn immer weniger Menschen Zugang zur Terrasse erhalten, während es außerhalb immer mehr werden – Milliarden. Angesichts der Misere im postkolonialen Somalia artikuliert auch Cisse Libaax, Vorstand des Instituts für Linguistik an der Jamacaadda, im Gespräch mit Marco die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung. Und da Italien in der Vergangenheit stets die Tendenz hatte, sich in Somalia den Löwenanteil zu sichern, trage Italien nicht zufällig Verantwortung. Cisse positioniert sich klar für den Wandel und in Opposition zum Barre-Regime, denn »[p]eggio di come va non può andare […]« (Domenichelli 2005, 226). Für einen gewaltfreien Systemwechsel liege allerdings zu viel Wut in der Luft. Marcos Haltung ist von Skepsis geprägt, der Aufstand könnte in diverse Parteien, kabile, zerfallen, denn das Hauptproblem sei das Machtvakuum nach dem Fall des Barre-Regimes. Es gelte, die Situation ohne Traumata und ohne Tote zu verändern, denn sonst würden wieder jene bezahlen, die immer bezahlen: die subalterne Bevölkerung in den Bidonvilles. In Somalia stehe das Ende einer Ära bevor, das mit einer neuen Weltordnung koinzidiere; die lange gemeinsame Geschichte zwischen Italien und Somalia, die mit dem Kolonialismus begann und sich im Faschismus und später in der Amministrazione fiduciaria bis hin zur cooperazione fortsetzte, sei faktisch vorbei, Italien bleibe nur mehr seine Verantwortung anzuerkennen, denn »[q]uello che l’Italia aveva fatto in Somalia non era difendibile« (Domenichelli 2005, 228), mit Ausnahme der Universität, der Jamacaadda, eine Tommaso Campanellas città del sole materialisierende Utopie, gescheitert an der Zeit.20 Marcos bittere Erkenntnis »non si può far niente« (Domenichelli 2005, 246) zieht sich durch den Binnenroman, und er gesteht selbstkritisch: »e quel poco che si potrebbe si finisce per non farlo« (ibid.), sei es aus Unfähigkeit oder Willensschwäche und somit »[p]arliamo, parliamo … ma fare […] fra dire e fare c’è di mezzo il mare« (ibid.). In den aus dem Nichts ins Nichts verlaufenden Straßen Somalias erkennt Marco schließlich eine Metapher des Lebens 163) Im Geiste übersetzt sich Marco sogleich die Verse ins Italienische: »Sul ponte di Terza / Non capiscono l’inglese e nemmeno il tedesco / Ma non c’è bisogno di dirgli quel che già sanno; / Che la Prima vien prima / E che di latte e scarpe e scialuppe / Non ce n’è mai quanto basta per tutti.« (Ibid.) 20 | Wie im Einleitungskapitel erläutert, schlägt Armando Gnisci eine »Poetik der De­ko­lonialisierung Europas« vor, womit er eine geistige Dekolonialisierung der Euro­ päer­I nnen von sich selbst meint; er plädiert für ein Denken und Agieren jenseits des Eu­r ozentrismus und des Willens zur Macht (cf. Gnisci 2003, 125; 2006a, 15, 34). Gnisci bezieht sich u.a. auf Jean-Paul Sartre, der in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Die Ver­ dammten dieser Erde (1961) kritisch anmerkt, in Europa hätten alle von der kolonialen Ausbeutung profitiert.

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Abb. 7: Die Jamacaadda oder Somali National University, gegründet während der AFIS, 2014 wiedereröffnet (Quelle: cf. http://snu.edu.so/en/, Foto: http://31.media. tumblr.com/tumblr_m4jeauH8B41r9llg7o1_1280.jpg) mit allem, was man gemacht oder nicht gemacht hat, nicht wollte oder nicht konnte. Die einzige Kontinuität liege in der Unterbrechung. Verärgert schiebt Marco diese »pensieri senza senso« (ibid.), die weder Hand noch Fuß haben, »­interrotti« (ibid.) und »senza significato« (ibid.) sind, beiseite. In Marcos Bewusstsein seiner Ohnmacht spiegeln sich Aspekte der poststrukturalistischen Theorie, die Bedeutungs­konstitution als diffusen Prozess und losgelöst von ›festen‹ Signifikaten versteht.21 Im Poststrukturalismus gleicht die Spra21 | Seit dem Strukturalismus erscheint ›das Subjekt‹ als Resultat von sprachlichen Strukturen, semiotischen Systemen oder Diskursen, die es nicht beherrscht, sondern von denen es im Gegenteil erst hervorgebracht wird. Die strukturalistische Zeichentheorie geht davon aus, dass jedes Zeichen innerhalb eines Systems seine Bedeutung nur durch seine Verschiedenheit von anderen Zeichen gewinnt. Das sprachliche Zeichen als klare Einheit zwischen Signifikant und Signifikat wird im Poststrukturalismus infrage gestellt. Die Bedeutung entsteht vielmehr als Ergebnis der Differenz bzw. eines komplexen Zusammenwirkens zwischen Signifikanten. Bedeutung resultiert aus einem potenziell endlosen Spiel von Signifikanten, die niemals auf eine einzige Bedeutung reduziert werden können. Somit ist die Bedeutung in einem Zeichen nicht unmittelbar präsent: Vielmehr verstreut oder verteilt sich die Bedeutung über die ganze Signifikantenkette; sie kann nicht einfach fixiert werden und ist demnach niemals in einem Zeichen alleine vollständig präsent, sondern anwesend und zugleich abwesend (cf. Eagleton 1997,

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che einem sich aus­dehnenden Netz; diese netzartige Komplexität der sprachlichen Zeichen oder eben des Textes äußert sich über das »Vor und Zurück, das Anwesende und Abwesende, die Hin- und Her-Bewegungen der Sprache in ihren realen Prozessen« (Eagleton 1997, 115). Insofern Diskurse historisch bedingt und dem Wandel unterworfen sind, liegt die Möglichkeit für Widerstand in einer Veränderung der Strukturen der Sprache, worüber die fiktionalen Figuren in Lugemalé reflektieren: »›Se non si può fare, si può continuare a parlare. Non è vero che non serve a nulla. Bisogna continuare a parlare. Verranno altri momenti, anche se ora è tutto buio. Verranno altri momenti.‹ […] ›[L]e parole hanno una vita strana, possono essere dimenticate e poi, dopo chissà quanto, possono tornare a vivere. Non bisogna smettere di parlare.‹« (Domenichelli 2005, 209)

Dieser Figurendialog zwischen Marco und Gigi thematisiert als Vorausset­ zung für Handlungsfähigkeit die Sprache bzw. die über die Zeit veränderlichen diskursiven Bedingungen der Äußerung. Eine ästhetische Besonderheit von Lugemalé besteht wie erwähnt in der Kombination postkolonialer und postmoderner Gestaltungsmerkmale: In der erzählerischen Darstellung der italosomalischen Verflechtungen aus postkolonialer Perspektive werden verschiedenste Zitate, Figuren, Versatzstücke oder sonstige Elemente aus ihrem traditionellen Kontext herausgelöst und in einen anderen eingebettet und dadurch neu mit Bedeutung aufgeladen. Im Fokus meiner abschließenden Überlegungen stehen die in Lugemalé zitierten intertextuellen Bezüge auf den Perceval und deren Funktion für eine postkoloniale Bedeutungskonstitution des Textes.

V.4 I nterte x tuelle R eferenzen : E ine F r age oder Parzival postkolonial Wurden der Protagonist Tomas Malredondo und seine intradiegetische Gegenfigur Marco angesichts typischer Eigenschaften und Verhaltensweisen zuvor als melancholische Figuren charakterisiert, wird diese These durch die beinahe 110ff., in Anlehnung an Derrida). Mit dem Begriff »dissémination« bezeichnet Derrida das Aufflackern, das Auslaufen oder die Streuung der Bedeutung. Jegliche Form von Sprache weist Derrida zufolge über die wörtliche Bedeutung hinaus, ›der Sinn‹ ist also niemals fixiert (cf. Derrida zit. in Eagleton 1997, 118). Bedeutung wie auch ›Identität‹ lassen sich infolge ihrer Konstitution über den Gebrauch sprachlicher Zeichen nicht festlegen, bleiben unterbrochen oder unabgeschlossen und existieren nur als Spur (cf. Eagleton 1997, 113ff., in Anlehnung an Derrida).

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aufdringliche Mitteilsamkeit der beiden Charaktere, »die an der eigenen Bloßstellung eine Befriedigung findet« (Freud 1999, 433) und sich in einer ostentativen Neigung zur Auseinandersetzung mit akademischen KollegInnen äußert, zusätzlich untermauert. Insbesondere Tomas wollte seine Erkenntnisse nachdrücklich kommunizieren und aus diesem Grund ließ er Valerio auch seinen Gedichtband mit dem Titel Perceval zukommen, wie er in einem als fiktionalen Paratext in die Rahmenhandlung montierten Brief kommentiert: »Non so cosa valga quel che ti ho mandato. Io so che c’è là tutta la mia vita. Volevo che almeno uno, che almeno tu lo leggessi. È triste pensare di aver scoperto qualcosa e di non poterlo comunicare a nessuno. Quel che ti mando è quel che ho scoperto, e tutto quel che so, non molto.« (Domenichelli 2005, 46) 22

Insofern die poetischen Texte von einer Ausnahme abgesehen lediglich zitiert werden, entziehen sie sich einer Lektüre, die LeserInnen erfahren jedoch vermittels Valerios Erzählung, dass die Gedichtsammlung teils von denselben Themen wie der Binnenroman Il sole fra le dita handelt. Valerio sucht nach einer Interpretation und rätselt über Bezüge zur Figur des Parzival, dessen Drama in seiner Unfähigkeit liegt, die richtige Frage zur richtigen Zeit zu stellen, weswegen er dem leidenden König ohne Mitgefühl begegnet.23 Sein Respekt gegenüber 22 | Der Prätext dieses markierten intertextuellen Bezugs ist der unvollendet geblie­ bene Roman Perceval ou le conte du Graal (1181-90) von Chrétien de Troyes. Hierbei handelt es sich um eine kritische Revision des Artusromans: Das Reich von König Ar­ tus droht unterzugehen und kann nur durch einen edlen Ritter gerettet werden, so­fern dieser nicht an der heilbringenden Aufgabe scheitert. Um den Fortbestand der höfischen Welt zu sichern, müssen die weltlichen Tugenden amour und chevalerie mit der charité, der Liebe zu Gott und zum Nächsten, verbunden werden. Dies wird an der Figur des Percevals illustriert. Ob das im Titel genannte Gefäß auf die christliche Assoziation des Abendmahlkelchs anspielt, ist nicht erwiesen (cf. Becker 2006, 43f.). Die älteste deutschsprachige literarische Bearbeitung des Stoffes geht auf Wolfram von Eschenbach zurück (um 1200-1210). 23 |  Bei Chrétien de Troyes ist der ahnungslose Perceval zum Nachfolger des leidenden Gralkönigs Anfortas bestimmt. Die erlösende Frage ist jene nach der Bedeutung, nach dem Sinn des Grals, nach dem Grund für die Trauer am Hof, die der junge Ritter jedoch nicht stellt; dadurch missachtet er nicht nur das Caritasgebot, sondern macht sich auch schuldig, die Herrschaft des Reiches nicht erneuert zu haben, und in der Folge versucht er diese Verfehlung wieder gut zu machen. Zentral im Perceval ist der Umgang mit Sprache: Perceval verstummt angesichts des Grals, weil ihm zum einen von seinem Lehrmeister Gurnemanz als Grundregel höfischen Verhaltens vermittelt wurde, nie zuviel zu sprechen, wodurch der junge Held jedoch den situativen Kontext verkennt; zum anderen gibt Percevals Mutter Herzeloyde ihre eigene unzureichende Beherrschung

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höfischen Verhaltensregeln, die Vermeidung von Redseligkeit und Indiskretion halten ihn davon ab, mit seinem Gegenüber eine Beziehung der Solidarität und Empathie herzustellen, worauf Gesellschaften und Individuen jedoch basieren (cf. Manai 2012, 182). Die fiktional dargestellte Romanlektüre und insbesondere die Inszenierung seiner intradiegetischen Gegenfigur Gigi sowie dessen Liebesgeschichte mit der jungen Somalierin Aamina evozieren in Valerio Erinnerungen an seine somalische Geliebte Daabo, der er nicht zur Flucht aus Mogadishu verhelfen konnte und die er letztendlich im Stich ließ. Daabo gelangte in ein Flüchtlingscamp in Kenia und anschließend in den Jemen, mehr konnte Valerio über ihr vermutlich wenig erfreuliches Schicksal nicht in Erfahrung bringen. Er fühlt sich schuldig, wenn er an sie denkt, die nahezu obsessiv in seinen durch die Lektüre und die imaginäre Präsenz Tomas’ entfesselten Alpträumen wiederkehrt. Valerio scheint die mittelalterliche Figur des Parzival im postkolonialen Kontext der Globalisierung im 21. Jahrhundert zu aktualisieren, stellte er doch Daabo mangels Empathie die gebotene Mitleidsfrage nicht und dies macht ihm der Roman bewusst. Angesichts des drohenden Bürgerkriegschaos entzog sich Valerio seiner Verantwortung und spiegelt somit auf figuraler Ebene symbolisch die realpolitische Situation nach Restore Hope, als nicht nur die ehemalige Kolonialmacht Italien, sondern ›der Westen‹ Somalia sich selbst überließen.24 Die in Lugemalé formulierte Kolonialismus- und Globalisierungskritik adressiert somit die westliche Welt und deren nach wie vor lückenhaftes Verantwortungsbewusstsein darüber, dass die Ungleichheit zwischen »›dem Westen‹ und dem ›Rest‹« (Hall 1999, 430) nicht auf der Überlegenheit ›des Westens‹ und der Unfähigkeit aller anderen beruht, sondern sich im Verlauf eines historischen Prozesses herausbildete. Die westliche Welt praktizierte dabei eine brutale Strategie der Unterdrückung und der Ausbeutung anderer Weltgegenden, worauf sich ihr übermäßiger Wohlstand gründet (cf. Manai 2012, 183). Somalia sei ein Spiegel für die Entwicklungen anderswo, würde eine Welt ohne Mitleid doch den gesamten Planeten betreffen, so die überwiegend aus dem figuralen Wahrnehmungshorizont Marcos perspektivierte Binnennarrativon Reden und Schweigen, konkret: zum falschen Zeitpunkt zu schweigen, an ihn weiter (cf. Becker 2006, 44f.). »Alle Erklärungen für Percevals Frageversäumnis in der Grals­ burg betonen folglich seinen Mangel an Nächstenliebe und Gefühlsbildung, d.h. sein Desinteresse am Schicksal anderer als Ursache für die gescheiterte ­K ommunikation«, so Karin Becker (2006, 45). Der Text plädiert also für die Ausbildung einer Ge­s prächskultur und erzählt den Weg von jugendlicher Egozentrik zu einer Sensi­b ilisierung für das Leid der Menschen. 24 | Cf. in diesem Zusammenhang die Interpretation Franco Manais: »Daabo is ­S omalia, she is the whole of Africa, she is that world to which the West hoped to relegate its own heart of darkness, in the illusory hope of keeping it contained at a safe distance.« (Manai 2012, 183)

Mario Domenichelli – Lugemalé

on.25 Zumal der Realsozialismus die Hoffnung auf eine alternative Zukunft begraben hat, steht für den Protagonisten die weltweite Gewalt in direktem Konnex zu Geld und Profitgier. Man mache sich ›schuldig‹, wenn man das Leid erträgt, bedeutet dies doch, einer Welt ohne Mitleid Raum zu geben, was aber unvermeidlich die Realität sein wird, wenn Geld den einzigen Wert darstellt. ›Schicksalsergebenheit‹ und Resignation stünden demnach in Kontrast zu Mitgefühl und Caritas, so Marco, der sich diskursiv als ideeller Grenzgänger und Exzentriker konstruiert, wenn er etwa erklärt, er hätte zur Zeit der Französischen Revolution für die Enragés Partei ergriffen und würde agape, al-mahabbaa, caritas oder Solidarität zum ersten und wichtigsten Artikel aller Verfassungen erklären.26 Im letzten Kapitel des Binnenromans entfaltet Marco formal in erlebter Gedankenrede eine Reflexion über den Beweggrund der planetaren Kolonialisierung durch die EuropäerInnen, und er gelangt zu dem Schluss, die westliche Welt sei »[u]na civiltà di revenants, ossessi, posseduti … possessori … posseduti dal possesso … che dà l’illusione di permanere. Deve essere questo … ma che cazzate!« (Domenichelli 2005, 250) Die potenziell unendliche Anhäufung von Besitz würde demnach die Illusion der Dauer, Überwindung von Vergänglichkeit, Unsterblichkeit erzeugen – eine Zivilisation aus Besessenen, vom Besitz besessen und obsessiv Besitzende, die für ihre Illusion mitunter auch töten, »[l]a esportiamo, noi, la morte, come industria primaria« (ibid.). Diese Besitz­ obsession bahnt den Weg ins ›Herz der Finsternis‹.27 Sowohl für den soma25 | Marco bemerkt im Gespräch mit Helga: »›È il mondo che fa paura, signora! M ­ o­g a­ di­­scio è come tutto il resto. Anzi, qui, come è il mondo, lo si vede veramente!‹« (Domeni­ chelli 2005, 99) 26 | Cf. folgendes Textzitat, in dem Marco seine Position im Rahmen einer Konversation über postkoloniale Politik in direkter Figurenrede mit minimaler Distanz erläutert: »›A parte il fatto che come agape nel greco della Prima Lettera ai Corinzi, anche in arabo ­­almahabbaa significa sia amore che carità, e che il mio ragionamento potrebbe benissimo essere anche islamico, nel mio modo di ragionare di metafisico non vuole esserci niente. Io dico una cosa semplice, magari stupida. Che la carità, nel senso laico di solidarietà, dovrebbe essere il primo articolo di qualsiasi costituzione, dovrebbe essere legge ...‹« (Domenichelli 2005, 186) 27 | Cf. in diesem Zusammenhang Armando Gniscis Reinterpretation der italienischen Renaissance als Reaktion in neurotischer Gegentendenz auf den Anbruch der Moderne, als Leidenschaft für das Vergangene, die den von Amerigo Vespucci unerwartet an­g e­ kündigten Mundus Novus verdrängte (cf. Gnisci 2006a, 93). Diese in der Mensch­h eits­ geschichte einmalige ›Entdeckung‹ einer zweiten, einer ›neuen Welt‹ zu einer Zeit, in der sich in Europa die Reformation Luthers und das heliozentrische Weltbild in den Naturwissenschaften durchsetzten und ›den europäischen Geist‹ in eine Krise stürzten, löste nach Ansicht Gniscis zwei konträre traumatische Reaktionen aus: einerseits die Renaissance und die Gegenreformation in Italien, bedeutende Epochen vor allem für

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lischen Jugendlichen Awesh als auch für Marco erweist sich der Besitz des nötigen »baqshiish« als Überlebensfrage: Als Marco Awesh in einem Tumult verteidigt, aber kein Geld bei sich hat, um es einem Polizisten anzubieten, versetzt ihm dieser einen Schlag, Marco sinkt zu Boden und verliert das Bewusstsein. Er fällt in ein Todesdelirium, Helga und auch Gigi, Mino und Franca scheinen bei ihm zu sein, das Ende entzieht sich jedoch den Lesenden, selbst Valerio, dessen metanarrativer Kommentar den achten und letzten Teil der Rahmenerzählung wie folgt einleitet: »Non c’era altro, avevo finito di leggere. Ma forse la storia che Malredondo doveva raccontare era tutta là. […] Ma che avrebbe potuto scrivere d’altro? Certo c’erano delle cose irrisolte, anzi era tutto irrisolto, ma lo diceva anche Marco, era come nella vita, che non si risolve mai nulla, mai nulla finisce, tutto si interrompe, e l’interruzione è l’unica continuità, l’unica cosa che veramente persiste.« (Domenichelli 2005, 257)

Marcos Geschichte in Malredondos Roman bleibt am Ende »sospeso« (ibid.). Wie Valerio den LeserInnen im Schlusskapitel berichtet, lernte er Helga auf einem Empfang an einer amerikanischen Universität kennen. Sie trug ein Halskettchen mit einem Anhänger in Form eines goldenen Ahornblattes, das ihm Tomas’ Perceval in Erinnerung rief, finden sich darin doch folgende, aus der fiktiven Gedichtsammlung in die Rahmenhandlung eingefügten Verse: die schönen Künste, andererseits eine Strategie der ›obsessiven Inbesitznahme‹ des amerikanischen Kontinents durch die Konquistadoren Spaniens und Englands mit konfliktgeladener Unterstüt zung Por tugals, Frankreichs, Hollands und Dänemarks. Gnisci argumentiert, in beiden Reaktionen manifestiere sich ein Verdrängungsprozess: In der Renaissance wurde in der regressiven Rückbesinnung auf die antike Größe die Angst vor dem Neuen verdrängt, während in der extremen Eroberung Amerikas der Hoch­m ut und der Irrtum verdrängt wurden, Götter-EuropäerInnen und SchöpferInnen eines ›neuen Edens‹ sein zu wollen anstatt Menschen der ›Einen Welt‹ zu werden (cf. Gnisci 2007, 41, 45f.). Gnisci interpretiert den Rückzug Italiens in sich selbst und auf seine ruhmreiche Vergangenheit zunächst in der Renaissance und später während des Manierismus und der Gegenreformation als unbewussten Verzicht auf die Moderne; KünstlerInnen und PhilosophInnen, LiteratInnen und HerrscherInnen, Klerus und Gelehrt­ Innen hätten regelrecht auf die Moderne und eine eigene Nation (vorläufig) verzichtet. Und ähnlich Deutschland hatte Italien weder die Macht noch den Willen der atlantischen Nationen, über die ›neu entdeckte‹ Welt zu herrschen, weshalb die Entstehung der Renaissance in Italien und der lutherischen Reformation in Deutschland gleichzeitig und anstelle der ›Entdeckung der Neuen Welt‹ kein Zufall sei (cf. Gnisci 2007, 83ff.). Gerade als sich das Tor zur Welt, zum Planeten Erde unvermutet auftat, erneuerte die Renaissance die (reaktionäre) Utopie der Schönheit des längst Vergangenen und der Faszination des Toten, so Gnisci (2006a, 93).

Mario Domenichelli – Lugemalé »Dal buio, una foglia d’acero d’oro dentro una scatoletta. Una foglia d’acero d’oro, un dono accompagnato da una poesia scritta col lapis. E dal buio della memoria tornan due versi soltanto: ›Ché lascia il posto lo sconforto e nasce qui la speranza‹ Sì, una foglia d’acero d’oro! Per illuminare la notte, che incombe, oltre il meriggio l’inverno, che attende, oltre l’autunno, la notte.« (Domenichelli 2005, 261; Hervorhebungen M.K.)

Valerio lässt Helga schließlich Tomas’ Roman zukommen, die jedoch nicht darauf reagiert, so bleibt auch Malredondos Geschichte in der Rahmenerzählung offen oder unterbrochen. Die markierten Passagen im Textzitat sind für meine vorgeschlagene Schlussinterpretation von Lugemalé signifikant. Tomas Malredondo, der fiktive Autor der Binnennarration Il sole fra le dita und Verfasser der Perceval-Gedichte, wurde zuvor in Anlehnung an Freud (1999, 433) als Melancholiker mit einer gewissen Redseligkeit charakterisiert. Laut Valerio hat Tomas seine fiktionalen Figuren hybrid konzipiert und unterschiedliche Personen des Erzählrahmens kombiniert. Die Konfiguration resultierend aus dieser Vermischung der Charaktere wirkt auf Valerio als Leser der Binnen- und Erzähler der Rahmenhandlung zurück, formal gestaltet mit dem Erzählverfahren der Mise en abyme, wie im ersten Teil dieser Romananalyse herausgestellt wurde. Für Valerio funktioniert der Binnenroman mehr und mehr wie ein Spiegel und seine fortlaufende Lektüre wie ein Blick in diesen Spiegel. Der dadurch hervorgerufene Effekt einer zunehmenden Identifikation des Ich-­Erzählers mit dem Text seines Freundes impliziert, dass sich dieser als kritische Instanz oder Gewissensappell Valerio symbolisch gegenüberstellt. Vermittels seiner Texte versucht der fiktive Autor Tomas Malredondo also, dem Leser Somalia ins Bewusstsein zu bringen und Stimme seines Gewissens zu sein. In diesem Sinne ist meiner Ansicht nach der markierte intertextuelle Bezug auf den Perceval sowie die postkoloniale Aktualisierung dieser mittel­alterlichen Figur durch Valerio zu interpretieren; die Beschreibung Daabos im Alptraum der Schlusspassage von Lugemalé erinnert an eine Schattengestalt, sie repräsentiert die unvermeidliche Rückkehr des Verdrängten, all dessen, was zugunsten des unmittelbaren Vorteils, jenes in der westlichen Welt sozial akzeptierten Movens des Handelns, verleugnet wurde (cf. Manai 2012, 183):

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Das Ende des Romans korreliert m.E. mit den vorhin zitierten Versen aus dem Perceval von Tomas Malredondo: Ist es im Gedicht »un dono« (Domenichelli 2005, 261), welches »[d]al buio« (ibid.) hervortritt, konkretisieren sich in Valerios Traum Daabos Umrisse in der Dunkelheit. »E dal buio della memoria« (ibid.) treten im poetischen Text zwei Verse zutage: »›[c]hé lascia il posto lo sconforto / e nasce qui la speranza‹« (ibid.), die Valerio zu suggerieren scheinen, Hoffnung entstehe anstelle von Trostlosigkeit, würde er sich doch nur an die richtige Frage erinnern und Daabo, »un dono« (ibid.), mit Empathie, ohne kolonialistische Attitüden begegnen, seine verdunkelte Erinnerung erhellen, jedoch »[n]on potevo, non potevo« (Domenichelli 2005, 266) oder: »Lugemalé«. In der mittelalterlichen Literatur vermittelt die Figur des Parzival, dass die höfische Welt nur bestehen bleiben könne, wenn die weltlichen Tugenden amour und chevalerie mit der charité, der Liebe zu Gott und zum Nächsten, kombiniert werden (cf. Becker 2006, 42). Dieses christlich eingefärbte Sujet aktualisiert der Roman im postkolonialen Kontext der Gegenwart und formuliert die Fähigkeit zu Erinnerung und Mitgefühl als Hoffnung auf eine Welt jenseits von Leere und Trostlosigkeit. Die Evokation der Parzival-Figur appelliert somit zu Widerstand gegen eine Welt ohne Mitleid. Lugemalé zitiert mehrmals die im ersten Paulusbrief an die Korinther besungene Erhöhung durch die Liebe,28 worauf der Text auf individueller Ebene das Überleben des Ichs und auf kollektiver Ebene das Überleben der Gesellschaft zurückführt. Der dreimalige Hinweis auf »una foglia d’acero d’oro« (Domenichelli 2005, 261) im zitierten Gedicht aus Tomas’ Perceval verweist auf die drei Dimensionen der Liebe, »un dono« (ibid.), um aus dem inneren Dunkel herauszufinden. Das in Lugemalé ausgestaltete Bild der Möwen, die bei Tagesanbruch im Moment des Auf­blitzens der Sonne die Flügel öffnen und zum Fluge ansetzen, symbolisiert die Entstehung der Liebe, die den Menschen Erhöhung schenkt, wie auch der Name Daabo (= Geschenk) ausdrückt. Tomas fiktionalisiert in seinen Texten das mögliche Fallen nach dem Liebesflug oder genauer seine Angst vor einem Fall ins Leere oder ins Nichts, denn »senza l’amore, la carità, 28 | Cf. beispielsweise folgende Textstelle aus Valerios Erzählerbericht: »[…] mi citò la prima lettera ai Corinzi, quella che comincia, mi pare: ›Noi senza l’amore, la carità, non siamo nulla‹. Malredondo soffriva di ogni dolore del mondo, di tutto il dolore di quel suo mondo buio, luttuoso, cieco, di sopravvissuto senza speranza. E non credeva a nulla Malredondo, ma leggeva San Paolo, e trovava che aveva ragione.« (Domenichelli 2005, 57f.)

Mario Domenichelli – Lugemalé

non siamo nulla« (­Domenichelli 2005, 57) oder in den Worten von Emmanuel Levinas: »Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch über­lebt in ihr das Ich.« (Levinas 1984, 59) In diesem Sinne erinnert auch »Amor vincit omnia« (Domenichelli 2005, 189), wie der auf Vergil referierende Titel des 21. Binnenfragments lautet, den fiktiven Leser daran, dass die Liebe nicht nur einer Welt ohne Mitleid Widerstand leistet, sondern auch das Individuum dem Fall ins Leere respektive dem (melancholischen) Ichverlust zu entreißen vermag. Wie erwähnt repräsentiert Lugemalé in Form einer nach innen gerichteten Widerspiegelung des Erzählten eine postmoderne und postkoloniale Version der Rahmenerzählung oder Mise en abyme. Die Inszenierung eines fiktiven, noch dazu toten Autors in einer Rahmenerzählung legt die Frage nach der These vom »Tod des Autors« (Barthes 1968) geradezu nahe. Tomas wurde figural charakterisiert als jemand, der seinen Schmerz in der Hoffnung rezitierte, ihn dadurch aufzuheben oder dessen Realität zu fliehen, »[u]no senza illusioni che si comportava come se ne avesse« (Domenichelli 2005, 33). Die Mise en scène eines toten Autors als Aufhebung oder Relativierung der Entmachtung von ›AutorInnensubjekten‹ stellt sich natürlich als Illusion heraus,29 worauf der Text auch referiert, wie am Ende des vorangegangenen Abschnitts darge­legt wurde. Allerdings stellt der inszenierte »Tod des Autors« Barthes’ These übersteigert dar und lässt einen »Suizid des (fiktiven) Autors« Tomas Malredondo vermuten, der sich in einem Spiel der ›Identitäten‹ in ein Zeichen seines Selbst, also einen Signifikanten, verwandelt. Insofern Bedeutung nur in Relation zu anderen Zeichen desselben (Zeichen-)Systems entsteht, erhofft er sich – als individuelle Einheit eines Systems oder eben als Signifikant –, durch die Identifikation des Lesers – Valerio – mit seinem Text, durch diese Relation, an Bedeutung (zurück) zu gewinnen. Die Rahmenerzählung sowie die figurale Inszenierung eines fiktionalen Lesers und simultanen Ich-­Erzählers verweisen also auf eine Appellfunktion in der narrativen Struktur des Textes, »in der der Leser immer schon mitgedacht ist« (Winkgens 2008, 27), und auf einen sich im Lesevorgang konkretisierenden »Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten« (ibid.). Was Tomas mit seiner auf Englisch (re-)zitierten Aussage: »›Ultimately the meaning has no meaning unless the meaning is meaning in itself‹« (Domenichelli 2005, 31), sagen wollte, konnte Valerio nie entschlüsseln, jedenfalls nicht bei Ogden und Richards, in deren Schriften er das Zitat vermutet hätte.30 Diesen Satz hält er aber für die beste 29 |  AutorInnen können die Bedeutung(en) ihrer Texte nicht steuern und sind gewissermaßen ›entmachtet‹, insofern Signifikanten niemals auf eine einzige Bedeutung reduziert werden können; damit wird ein von einem/r AutorIn intendierter Textsinn obsolet (cf. Grewe 2009, 25, in Anlehnung an Barthes 1968). 30 | M.E. sind in Lugemalé überdies einige Parallelen zu Italo Calvinos Le cosmico­ miche unübersehbar, der ebenfalls poststrukturalistische Entwicklungen der Zeichen-

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Exemplifikation Malredondos, der in allem eine Bedeutung fand und zugleich alles für bedeutungslos zu halten schien. Die Referenz auf das Zeichenmodell von ­Ogden und Richards sowohl in der Rahmen- wie in der Binnenhandlung scheint allerdings symptomatisch:31 Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens konstituiert sich demzufolge nur in dessen Gebrauch durch eine/n SprecherIn. Valerio, der fiktionale Leser des Binnenromans, verkörpert als Erzählerfigur des Rahmens potenziell einen Zeichenbenutzer. Oder auch nicht. Insofern die Zuordnung zwischen Signifikant und Referent erst durch den dynamischen Prozess im Zeichenbenutzer geleistet wird, liegt die Bedeutungskonstitution somit im individuellen Ermessen zu handeln. Bedeutung als Ermessensfrage des Handelns, die sich Valerio an jenem kühlen römischen Morgen entscheidet, offen oder unterbrochen zu lassen. Legt die Appellstruktur des Textes einen gewissen »Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten« auch nahe, wenn wie jeden Morgen »gli uccelli hanno cominciato […] a cinguettare tutti insieme, e si è levata una bava di vento« (Domenichelli 2005, 266), würde sich die symbolische Bedeutung dieser Zeichen nur im Gebrauch durch den Leser, in seiner Zuordnung zwischen Signifikant und Referent aktualisieren, jedoch: »[…] sono tornato a dormire« (ibid.). Bedeutung entsteht also aus dem individuellen Ermessen zu handeln oder nicht – diese ›Gewissensfrage‹ scheint Tomas Malredondo selbst als ›toter Autor‹ seinem potenziellen Leser zu stellen. Der symbolische Spiegel, den der fiktive Autor des Binnenromans dem Leser hinhalten will, entspricht zugleich einer Suche nach Bedeutung, und im Bewusstsein als Autor ›entmachtet‹ zu sein, vertraut er dem dynamischen Zusammenwirken von Sprache, Text und Leser die Aktualisierung von Bedeutung an. Aus der Perspektive des fiktionalen Lesers reflektiert Lugemalé emblematisch, dass Bedeutung allenfalls von theorie literarisch verarbeitete, cf: »Non riesco più ad accettare altra situazione se non questa trasformazione di noi stessi nel messaggio di noi stessi.« (Calvino 1965, 342) 31 | Das Zeichenmodell von Ogden und Richards (1923), das so genannte semiotische Dreieck, bezieht zusätzlich zu Signifikat (Begriff, Bedeutung) und Signifikant (Symbol, das Bezeichnende, Zeichenkörper) den Referenten oder die außersprachliche Wirklich­ keit mit ein. Dieses Dreiecksmodell ist dynamisch und stellt einen Prozess dar: Für Ogden/Richards lässt sich die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens nur erfassen, wenn es von einer/m SprecherIn ausgesprochen wird, um damit ein Objekt der außer­ sprach­lichen Wirklichkeit zu bezeichnen, Wörter bedeuten demnach nicht ›an sich‹ et­ was, sondern nur, wenn sie von SprecherInnen benutzt werden. Es besteht also keine direkte, ›natürliche‹ oder logische Verbindung zwischen Signifikant und bestimmtem (konkret bezeichnetem) Referenten. Die Zuordnung wird erst durch den Prozess im/ in der ZeichenbenutzerIn geleistet, indem das individuelle Objekt und der abstrakte Begriff (sozusagen der Oberbegriff) einander zugeordnet werden. Stellt Saussures zweiseitiges Modell ein Zeichenmodell dar, handelt es sich beim Dreiecksmodell von Ogden/Richards um ein Bezeichnungsmodell (cf. Pelz 1998, 46f.).

Mario Domenichelli – Lugemalé

den LeserInnen geleistet werden kann oder, wie im Falle Valerios, auch nicht; dessen metanarrativer Kommentar zur unterbrochenen Bedeutungskonstitution, die sich ästhetisch zudem im Bruch der Textebenen spiegelt, entspricht einer Vorwegnahme seiner verlorenen Erinnerungsfähigkeit: »[…] c’è nella storia di Tomas, nel suo romanzo, qualcosa che continua a sfuggirmi; come una connessione, come una parola importante che ho dimenticato e che mi spiegherebbe tutto se solo potessi ricordarmene.« (Domenichelli 2005, 265) Lugemalé kombiniert also nicht nur ästhetische Gestaltungsmerkmale postmoderner Literatur mit postkolonialer Kritik, sondern reflektiert darüber hinaus Aspekte poststrukturalistischer Theoriebildung. Die Mise en abyme, die Erzählstruktur von Rahmen- und Binnenhandlung wie auch Valerios Träume und das Motiv der Melancholie markieren zentrale Elemente in der erzählerischen Repräsentation von individuellem wie kollektivem Leid und einer potenziell unabgeschlossenen Geschichtsaufarbeitung, die immer neue Fragen aufwirft und ähnlich wie Bedeutung nicht zum Abschluss kommen kann. Lässt sich der Roman überdies als Kommentar zum Umgang ›des Westens‹ und insbesondere Italiens mit der (post-)kolonialen Geschichte lesen, können die in der Binnenerzählung dargestellten Überlebensstrategien der Figuren Marco und Helga mit dem Verlust des Sohnes umzugehen – Melancholie und Trauer – auch als Strategien für die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit interpretiert werden. Verkörpert Marco eine Möglichkeit, mit Kolonialgeschichte umzugehen, lässt sich das ›unterbrochene‹ Ende seiner Geschichte zum gesellschaftlichen Umgang Italiens mit der Kolonialvergangenheit parallelisieren. Bedeutet Trauer Überwindung des Verlusts, umschreibt Melancholie gerade die verlorene oder vergessene Fähigkeit zu trauern und darin scheint das Problem einer gesellschaftlich ungelösten oder nicht aufgearbeiteten (post-) kolonialen Vergangenheit zu liegen, die sich nicht überwinden lassen will. Am Ende liegt es allein im Ermessen des Individuums, das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu aktualisieren, also das Vergangene von einem gegenwärtigen Standpunkt aus neu mit Bedeutung aufzuladen, für das Leid der Menschen zu sensibilisieren und damit einer Welt ohne Mitgefühl Widerstand zu leisten, den Objektverlust zu betrauern und dadurch dem Ichverlust zu entkommen.

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VI. Selbstverortung im diasporischen ›Raum‹ der Relationen: Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah

»The moment the insider steps out from the inside she’s no longer a mere insider. She necessarily looks in from the outside while also looking out from the inside.« Trinh T. M inh - ha , N ot You/L ike You (2004, 418)

Evoziert Cristina Ubax Ali Farah in ihrem Erstlingsroman Madre piccola (2007) die Zeit des Barre-Regimes in Somalia sowie das gefährliche Chaos nach dem Sturz des Diktators, als viele Menschen gezwungen waren das Land zu verlassen und die Strapazen einer Flucht auf sich zu nehmen, zeichnet sie zugleich ein Porträt der sich seit 1991 global verstreuenden somalischen Diaspora. Über erzählte Lebenserinnerungen verschränkt Madre piccola Ver­gangenheit und Zeitgeschichte und verwebt die Stimmen der Bevölkerung eines zerbrochenen Staates, die in der Diaspora weiterhin verbunden bleibt. In der erzählerischen Vermittlung existenzieller Grenzerfahrungen lotet der Roman hybride Lebens­entwürfe im Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und Sesshaftigkeit aus und fokussiert im Kontext einer zeitgenössischen Diaspora­situation die individuelle Identitätssuche der Figuren. Das Gefühl innerer Zerrissenheit, evident beispielsweise in sozialen, kulturellen, sprachlichen, religiösen und e­ thnischen Zugehörigkeitskonflikten, bildet ein zentrales Sujet, wie in der folgenden Romananalyse dargelegt werden soll. »Diaspora« ist ein nicht unproblematischer Begriff mit einer langen Geschichte, der in theoretischen und kritischen Diskursen unterschiedlich, manch­mal widersprüchlich verwendet wird.1 Im Folgenden beziehe ich mich 1 | Der Archetyp jeglicher Diaspora bezieht sich auf die jüdische Diaspora, jedoch be­ zeichnet der Begriff auch andere zeitnahe Exilsituationen wie beispielsweise jene der somalischen Diaspora. Die Diaspora Studies widmen sich Aspekten global verbreiteter

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auf die von Ewa Mazierska und Laura Rascaroli (2006, 137) vorgeschlagene Begriffsverwendung, die mit »Diaspora« ganz allgemein eine Entfernung zu einem Zentrum oder einem Herkunftsland bezeichnen. Diasporasituationen resultieren aus der Verstreutheit von Bevölkerungen infolge von Krieg, Unterdrückung, Armut, Versklavung oder der Suche nach besseren ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen, wodurch ihre Kultur unvermeidlich neue Einflüsse erfährt. Für eine Charakterisierung von »Diaspora« möchte ich nach Mazierska/Rascaroli die von Nicholas Van Hear (1998) formulierten Kriterien aufgreifen: »First, the population is dispersed from a homeland over two or more other territories. Second, the presence abroad is enduring, although exile is not necessarily permanent, but may include movement between homeland and new host. And third, there is a kind of exchange – social, economic, political or cultural – between or among the spatially separated populations comprising the diaspora.« (Van Hear 1998 zit. in Mazierska/ Rascaroli 2006, 137).

»Diaspora« weist zudem viele Gemeinsamkeiten mit dem Begriff »Exil« auf; beide Erfahrungen, seien sie erzwungen oder freiwillig gewählt, resultieren zumeist aus Gewalt oder Bedrohung. Bezeichnet »Exil« (lat. = in der Fremde weilend/verbannt) im Allgemeinen meist einen aufgrund »politischer Verfolgung und Verbannung bedingten Aufenthalt im Ausland« (Poole 2015, 21), wurde mit »Diaspora« (griech. = Zerstreuung) primär die Situation der außerhalb Palästinas lebenden Juden beschrieben. Während im Exil gewöhnlich die frühere ›Heimat‹ fehlt und eine tiefe Sehnsucht nach Rückkehr entsteht, impliziert »Diaspora« hingegen ein Leben fern der ›Heimat‹ ohne den unbedingten Willen zurückzugehen; im Falle Somalias ist infolge der Implosion des Erfahrungen von Exil und Diaspora und sprechen von einem »neuen Zeitalter der Di­ aspora« (Poole 2015, 21). Nach wie vor gilt William Safrans Definition des Begriffs als zentraler Bezugspunkt; Safran wendet das Konzept von Diaspora auf expatriierte Gemeinschaften von Bevölkerungen nach folgenden Kriterien an: Zerstreuung von ei­ nem »Zentrum in zwei oder mehrere fremde, periphere Regionen« (Poole 2015, 22, in Anlehnung an Safran 1991); Aufrechterhaltung eines kollektiven Gedächtnisses oder eines »Mythos vom Heimatland« (ibid.); mangelndes Akzeptanzgefühl im Gastland und Fremdheitserfahrungen; Betrachtung ihres Herkunftslandes als »wahre, ideale Heimat […], zu der sie oder ihre Nachfahren schließlich wieder zurückkehren sollten« (ibid.); kol­lektiver Wunsch nach »Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Heimat­lan­­des« (ibid.); auch aus der Ferne wird das Herkunftsland als »Bezugspunkt für ein ge­ meinschaftliches, ethnisches Bewusstsein« (ibid.) verstanden. Mittlerweile wird ins­ besondere der von Safran angeführte Punkt einer gebotenen Rückkehr in die ›Heimat‹ infrage gestellt (cf. Poole 2015, 22).

Cristina Ubax Ali Farah – Madre piccola

Staates eine reale Rückkehr so gut wie unmöglich geworden. Darüber hinaus betrifft das Exil einzelne Personen, »Diaspora« bezieht sich demgegenüber auf eine kollektive Erfahrung und verweist auf ein Netz realer oder imaginierter Beziehungen zwischen den Landsleuten. Die folgende Romananalyse fokussiert in erster Linie die individuelle und private Komponente des Prozesses diasporischer Zerstreuung, der gleichzei­ tig als kollektive Migrationsbewegung zu betrachten ist (cf. Mazierska/­­Ras­ca­­roli 2006, 139). Zunächst werden charakteristische erzählerische Gestal­ tungsmerkmale des Textes sowie die in einer zeitgenössischen Diasporasituation elementare Rolle der elektronischen Medien herausgestellt. Der zweite Abschnitt nähert sich der zentralen Hauptfigur Domenica Axad an, die infolge ihres kulturellen Zwischenstatus an Zugehörigkeitskonflikten zu zerbrechen droht und eine tiefgehende Identitätskrise durchlebt. Als Dokumentarfilmerin begibt sie sich auf die Spuren der somalischen Diaspora und montiert im Zuge ihrer fiktiven Filmarbeit gewissermaßen die Bruchstücke ihrer ›Identität‹ neu, weshalb im letzten Teil dieses Kapitels die Frage erörtert wird, ob Madre piccola in Hinblick auf das Genre eine Road Novel darstellt. Insofern zwei der drei Erzählerfiguren weibliche Protagonistinnen sind, die gegenüber der dritten, männlichen Erzählstimme als Charaktere zudem stärker überzeugen, markiert der Text eher einen weiblichen point of view und schreibt diasporischen Beziehungsnetzen zwischen Frauen eine grundlegende Bedeutung zu, worauf ich abschließend ebenfalls eingehen werde.

VI.1 V erte x tung und V erne t zung › des R aums ‹ Ohne Perspektivierung durch einen chronologisch und topografisch definierten Erzählrahmen, wie etwa im Falle von Regina di fiori e di perle, entfaltet sich die Romanhandlung in Madre piccola vor dem Hintergrund einiger Schlüsselmomente der somalischen Zeitgeschichte seit 1991 in Fragmenten. Die Gesamtgestalt des Plots ergibt sich aus der Vielstimmigkeit der geschilderten Geschichten, wobei sich die Handlung nur langsam auflöst und die fehlenden Fragmente über die Erzählungen der drei Hauptfiguren in Relation gesetzt werden. Der Roman erzählt primär die Erinnerungen und Erfahrungen der in einem liebevollen Familienkreis in Mogadishu nahezu symbiotisch aufgewachsenen und aus unterschiedlichen Gründen nach Italien emigrierten Cousinen Domenica Axad und Barni sowie des in den USA lebenden Taageere. Zentral in dieser Figurenkonstellation ist die Beziehung zwischen Domenica Axad und der mütterlich konzipierten Figur Barni, die in Rom als Hebamme arbeitet; bereits in der gemeinsamen Kindheit charakterisierte sich ihre Verbindung über eine schwesterliche Innigkeit und übernahm Barni, die früh ihre Eltern verloren hatte, eine Art Beschützerrolle für die nur wenig ­jüngere

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Domenica Axad.2 Was die drei ProtagonistInnen verbindet, die sich in der existenziellen, kulturellen, sozialen und politischen Übergangssituation der somalischen Diaspora ständig neu verorten, ist das Trauma der Trennung im Kontext von Flucht und Migration. Die Figuren suchen eine persönliche und zugleich kollektive Antwort auf die Frage, wie Individuen den Verlust ihrer Lebenswelt bewältigen können (cf. Kleinhans 2013, 181f.). Das anachronisch, polyphon und multiperspektivisch dargestellte Geschehen besteht einschließlich Präludium, Interludium und Epilog aus insgesamt neun Kapiteln, deren Titel jeweils mit dem Namen der erzählenden Figur korrespondiert. In allen Romankapiteln ist die Erzählinstanz in unterschiedlichen Abstufungen homodiegetisch konzipiert, berichtet somit als Teil der erzählten Welt das Geschehen in der ersten Person. Als Erzählstimmen kommen Domenica Axad, Barni und Taageere je drei Mal zu Wort und vermitteln das Geschehen intern fokalisiert. Diese narrativ gestaltete Multiperspektivität, also der konstante Wechsel des fiktionalen Blickwinkels – Genette spricht von variabler interner Fokalisierung (cf. Martínez/Scheffel 2012, 68f.) – spiegelt ästhetisch jene verstreute, diasporische Lageveränderung der Figuren, die Stuart Hall »dislocation« (Hall 1999, 394) nennt.3 Sind Dialoge im Text nahezu absent und besteht jedes Romankapitel aus einem langen figuralen Monolog, berichtet jede Erzählerfigur ihre Geschichte in jemandes Präsenz, wendet sich also an fiktive GesprächspartnerInnen, die teils der erzählten Welt angehören, teils extern verortet sind. Jede Erzählung findet sich in unterschied­ lichen relationalen Kontexten eingebettet, so gibt Barni einer Journalistin ein Interview, Taageere telefoniert mit seiner Exfrau und unterhält sich mit einem Mediator oder Übersetzer der Einwanderungsbehörde, Barni und Domenica Axad erzählen sich wechselseitig bei simultanem Zuhören und schließlich 2 |  Figural sind beide Figuren spiegelbildlich konzipiert und ergänzen einander wechselseitig: »[…] io e Axad insieme ci modulavamo. Lei addolciva il mio impulso, io ­e lettrizzavo la sua quiete. Lei moderava le mie iperboli, io riempivo il suo silenzio. Io ero l’avanguardia, lei la retrovia. Entrambe rischiavamo molto.« (Ali Farah 2007, 47f.) 3 | Stuart Hall beschreibt moderne ›Identitäten‹ als »dezentriert«, »zerstreut« und »fragmentiert« (Hall 1999, 393). »Moderne Gesellschaften« – von Hall in Anlehnung an Marx als solche des beständigen, schnellen und permanenten Wandels definiert, im Unterschied zu traditionellen Gesellschaften – werden seit dem späten 20. Jahrhundert durch einen strukturellen Wandel transformiert, »der die kulturelle Landschaft von Klasse, Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, ›Rasse‹ und Nationalität, in der wir als gesellschaftliche Individuen fest verortet sind, fragmentier[t]« (Hall 1999, 394). Diese Transformationen spalten auch die persönliche ›Identität‹ und untergraben mitunter die Selbstwahrnehmung von Individuen, so Hall weiter. »Dieser Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung wird […] Zerstreuung [dislocation] oder Dezentrierung des Subjekts genannt (Hall 1999, 394).

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vermittelt Domenica Axad ihrer Psychoanalytikerin in einer als Brief gestalteten Selbstreflexion Fragmente ihrer persönlichen Geschichte. Angesichts der Kombination verschiedener Erzähltechniken inszenierter Interaktion oder fingierter Mündlichkeit wie Interview, (Telefon-)Gespräch oder die Präsenz von AdressatInnen weist Madre piccola eine enge Beziehung zur Oralität auf. Als Erzählinstanzen vermitteln die Hauptfiguren implizit die Anwesenheit der externen GesprächspartnerInnen, z.B. adressiert Barnis Erzählstimme mehrfach die Journalistin als fiktives Gegenüber: »Ma si ricorda del naufragio di un mese fa?« (Ali Farah 2007, 14) Oder: »Il negozio di Qamar: le posso lasciare l’indirizzo se le interessa.« (Ali Farah 2007, 29) Ähnlich evoziert das aus dem Blickwinkel Taageeres dargestellte Telefonat im dritten Kapitel die Präsenz seiner ersten Ehefrau Shukri als externe Gesprächsteilnehmerin am anderen Ende der Leitung, etwa: »Perché ti parlo di lei? Improvvisamente ho sentito di nuovo il sogno, il desiderio di casa. Tu mi hai buttato fuori, l’ho finalmente accettato. Potevo rimanere ad aspettarti tutta la vita?« (Ali Farah 2007, 96) Auch in der formal als autonome direkte Figurenrede gestalteten Erzähl­situation zwischen Domenica Axad und Barni kommt letzterer die Rolle der fiktiven Gesprächspartnerin zu: »Barni mia, quello che sapevi di me, niente è rimasto uguale.« (Ali Farah 2007, 97)4 Diese inszenierte Interaktion von Mündlichkeit dient der Erzeugung des narrativen Rhythmus und der Evokation humoristischer Aspekte sowie der somalischen Tradition des Geschichten­erzählens, so Cristina Ubax Ali Farah im Interview mit Daniele Comberiati; sie schreibt Geschichten in italienischer Sprache, die sie auf Somali hört. In dieser Nähe zur Oralität erkennt die Schriftstellerin eine gesellschaftliche Funktion von Literatur und als Sprachrohr erachtet sie es als ihre Aufgabe, einen Teil der Gesellschaft zu repräsentieren (cf. Comberiati 2011b, 48, 66).5 Die Frage fiktiver GesprächspartnerInnen oder AdressatInnen erscheint nicht nur in Ali Farahs Roman, sondern auch in anderen postkolonialen Texten zentral und zielt durch die Kontextualisierung innerhalb einer Gemeinschaft auf eine Erweiterung des Spielraums individueller Geschichte, 4 | Zur literarischen Inszenierung der ersten Person und externer Gesprächspartner­ Innen in ihren Erzähltexten bemerkt Cristina Ubax Ali Farah: »Preferisco la prima persona perché mi dà la possibilità di far uscire la voce dei personaggi e mi interessa utilizzare l’interlocutore esterno, perché chi parla modula sempre il proprio linguaggio e il proprio comportamento in base a chi ha di fronte.« (Ali Farah zit. in Comberiati 2011b, 60) 5 | Cristina Ubax Ali Farah stellt eine Relation zwischen Oralität und Literatur als gesellschaftlicher Aufgabe her: »Considero la letteratura come una melodia a più voci che lo scrittore orchestra in maniera funzionale alla società, nel senso che lo scrittore restituisce alla società quello che da lei riceve. […] Mi sono interrogata molto su come ricreare questo legame [fra la società e chi narra, M.K.] e la vicinanza all’oralità mi è sembrata una strada da seguire.« (Ali Farah zit. in Comberiati 2011b, 66)

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gewissermaßen also auf eine Verwandlung individueller Erfahrungen in kollektive Geschichte (cf. Gazzoni 2013, 226f.). Entspricht ›Realität‹ jenseits linearer Geschichtsdarstellung einem Knotenpunkt oder einem Gefüge aus Relationen und Erzählungen, findet jedes ›Ich‹ seinen Anfang nur in Gegenwart eines ›Du‹: Diese Poetik übernimmt Cristina Ubax Ali Farah aus der somalischen mündlichen Erzähltradition und akzentuiert damit die dialogische Dimension von Literatur, die sie in ihren Texten durch die Gestaltung zeitgenös­ sischer mündlicher Erzählsituationen verarbeitet. Aus diesem Grund sind ihre Texte durch ›Oralitätsmarker‹ wie fiktiv anwesende GesprächspartnerInnen, Wiederholungen, Abschweifungen, Umformulierungen und spezifische Erzähltechniken, beispielsweise alternierende Erzählperspektiven oder Selbst­reflexionen, strukturiert (cf. Gazzoni 2013, 227). Die in Madre piccola präsenten intertextuellen Bezüge auf einige ins Italienische übersetzte poetische und dramatische Texte zeitgenössischer somalischer Literaten spiegeln ebenfalls die Dialogizität von Literatur: Im Präludium etwa wird aus dem Gedicht Yamyam (1977) von Cabdulqaadir Xirsi Siyaad zitiert, das die Notwendigkeit betont, auch in bitteren Zeiten Werte wie Gerechtigkeit und Gemeinschaft hochzuhalten (cf. Gagiano 2015, 190): »Sono la pelle tagliata, tagliata mentre pascolavo gli animali, chi l’ha tagliata è quell’uomo, ma il marchio è rimasto uno solo, è rimasto il dovere dell’unità, soomaali baan ahay.« (Ali Farah 2007, 12)6 Überdies findet sich in dem aus Taageeres Perspektive geschilderten Interludium ein bekanntes somalisches Lied von Axmed Naaji eingefügt, Xamar waa lagu xumeeyay, das den Ausbruch des Bürgerkriegs Anfang der 1990er Jahre beklagt; wie das dem Roman angehängte Glossar informiert, lautet der Titel in italienischer Übersetzung: »Mogadiscio sei stata rovinata« (Ali Farah 2007, 272). Der elegische Liedtext setzt sich in Taageeres gedachter Figurenrede im Stil eines inneren Monologs fort: »Xamar waa lagu xumeeyay, Xamar, ti hanno rovinata. […] Città mia, città dove hanno sepolto il mio cordone. Città dove tutti vivevamo in pace e in armonia, in sicurezza e in libertà. Città meravigliosa sulle coste del lato d’Africa. Ci vivevano i miei fratelli, genitori e cugini. Ma per sangue e conflitto gli stessi fratelli lottano tra di loro.« (Ali Farah 2007, 144) 7 6 | Die Lyrik von Cabdulqaadir Xirsi Siyaad, einem bedeutenden Dichter im sozialistischen Somalia, wurde zunächst über das Radio verbreitet und gehört zu den frühesten schriftlich verfassten Texten auf Somali, das erst 1972 zur Schriftsprache wurde (cf.Luraschi 2009, 11). 7 | An anderer Textstelle rezitiert Taageere die Anfangsworte der somalischen Nationalhymne, die während der Barre-Diktatur in den Schulen vor Unterrichtsbeginn kollektiv gesungen wurde: »Soomaaliyeey toosoo, toosoo isku tiirsada ee, hadba kiina taag daranee, taagera weligiinee« (cf. Ali Farah 2007, 189). Im Glossar findet der/die ­L eser­In

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Der Roman versucht u.a. mit intertextuellen Referenzen den von den internationalen Medien vermittelten Bildern gewaltbereiter somalischer ›Jugendbanden‹ und schwer bewaffneter ›Piraten‹ sowie einer Gesellschaft in Anarchie am Rande des sozialen Zusammenbruchs – »images that have become a kind of worldwide ›Somali brand‹« (Gagiano 2015, 191) – entgegen zu wirken, denn selbst in einem so genannten Failed State geht das alltägliche Leben weiter. Stellt Madre piccola vermittels intertextueller Bezüge solcherart reduzierende Eindrücke infrage und die Komplexität der dargestellten Situation heraus, spiegeln sich Identitätskonflikte und die innere Zerrissenheit der porträtierten Charaktere sprachlich allen voran in der Technik des code-switch­ings wider; der italienischsprachige Text ist weithin mit somalischen Le­xemen, Syntagmen und Sätzen durchdrungen, zudem äußern sich die Figuren in verschiedenen Sprachen, neben Italienisch und Somali zuweilen auch auf Englisch. Das code-switching lässt sich in drei bezeichnenden Erzählsituationen feststellen, wie Dagmar Reichardt nachweist (2013, 128): zunächst in der diskursiven Thematisierung der Vergangenheit, des Lebens in Somalia, sodann in Gesprächen über die somalische Kultur und schließlich im familiären Sprachgebrauch von Kosenamen.8 Im ersten Fall sind zumeist die Kleidung und die somalische Küche zentral, beispielsweise werden der diric9 oder der garbasaar 10 wiederholt genannt. Typische Gerichte der somalischen Küche wie etwa die sambuusi wecken in Domenica Axad und Barni Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit in Somalia. Im kulturellen Bereich resultieren als häufige somalische Wortverwendungen gaal für Personen nicht muslimischer Religion, indho-kuul, das übersetzt einen Kajal bezeichnet, tusbax, womit eine islamische Gebetskette gemeint ist, oder wadaad für einen islamischen Geistlichen. Reichardt zufolge lässt sich der Gebrauch dieser Le­ xeme durch den Prozess der Akkulturation erklären, würden sich bilinguale MigrantInnen doch mehr und mehr mit der sprachlichen Kultur, in der sie leben und die sie praktizieren, identifizieren. So wird eine Heirat mit einem gaal beispielsweise von Teilen der somalischen Gesellschaft als Skandal gesehen; diese soziale und affektive Konnotation der von den somalischen Begriffen vermittelten Werte ginge bei einer Übersetzung ins Italienische verloren. Wiederkehrende Kosenamen in Madre piccola sind Figurenbezeichnungen folgende Übersetzung: »Somali svegliatevi, appoggiatevi l’uno all’altro, aiutate il più debole, sostenetevi sempre.« (Ali Farah 2007, 272) 8 |  Die in Madre piccola verwendeten somalischen Lexeme sind am Ende des Buches in einem Glossar alphabetisch aufgelistet und auf Italienisch erklärt. 9 |  Im Glossar wird der Begriff wie folgt erläutert: »largo abito femminile di stoffa sottile, con ampie maniche« (Ali Farah 2007, 270). 10 | Cf. die entsprechende Erklärung im Glossar: »scialle femminile molto leggero con cui si coprono il capo e le spalle« (cf. ibid.).

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wie beispielsweise aabbe (Papa), abbaayo (Schwester), walaal (Bruder) oder dumaashi (Schwägerin). In diesen Erzählsituationen wird das code-switching gebraucht, da die somalischen Koseformen kulturell und emotional aufgeladen sind und dadurch ein persönliches Sujet von einem formalen abheben (cf. Reichardt 2013, 128). Neben dem code-switching kommt in Madre piccola auch die Technik des slang oder gergo zum Einsatz, also die Verwendung einer nicht standardisierten Ausdrucksweise, die nur einer bestimmten sozialen Gruppe verständlich ist und die sich mittels dieses Sprachgebrauchs von anderen Milieus abheben möchte. Die Figur Barni greift etwa auf einen Jargon zurück, wenn sie aus dem Italienischen abgeleitete Bezeichnungen wie beispielsweise barbaroni für peperoni, fasoleeti für fazzoletto oder draddorio für trattoria benutzt (cf. Reichardt 2013, 129): »I nostri luoghi, vecchi e nuovi, ruotano intorno a quel polo: il negozio di Qamar, il call center di Xassan, la draddorio e dintori.« (Ali Farah 2007, 29) Diese Einstreuung von italienischen Begriffen, die von der somalischen Bevölkerung verzerrt, angeeignet und der somalischen Sprache angenähert worden sind, verweist auf die in Madre piccola sowohl als Thema wie auch als sprachliches Referenzmodell reflektierte kulturelle Hybridität. Durch den Gebrauch des Jargons markieren die Figuren innerhalb der italienischen Sprache eine spezifische, aus der Kolonialgeschichte resultierende Ausdrucksmodalität.11 Zu11 |  Daniele Comberiati weist zudem darauf hin, dass Madre piccola mit der Wiederaneignung und Variation von Wörtern, die sich aus dem Italienischen der Kolonialzeit herleiten, versucht, einer Sprache zur Geltung zu verhelfen, die erst, wie bereits erwähnt, in den 1970er Jahren verschriftlicht wurde – Somali. Diese wird infolge des Bürgerkriegs und aufgrund ihrer spärlichen Verbreitung vom Großteil der somalischen GegenwartsautorInnen noch immer nicht benutzt (cf. Comberiati 2011a, 120). Im postkolonialen Somalia galt die italienische Sprache lange Zeit als Bildungssprache. So verbindet die Figur Taageere mit deren Verwendung eine gewisse Eleganz, cf. in diesem Kontext seine Aussage: »Ricordo quando mi sono iscritto al centro culturale italiano a Mogadiscio. […] Per imparare l’italiano! Andando in giro come uno studente, con il mio quaderno e la biro nella tasca dei pantaloni. A che cosa poteva servirmi l’italiano? […] Tutti uomini di classe, con un italiano che scorre, così abbondante da spuntare persino qua e là quando parlano in somalo. Qua e là, spesso. Anch’io voglio parlare così, ogni tre parole una italiana, pensavo. Fa elegante.« (Ali Farah 2007, 81f.) Hingegen schildert die Protagonis­t in Domenica Axad ihrer Psychoanalytikerin, dass sie als Kind häufig mit dem Ausdruck ciyaal missioni konfrontiert wurde und darüber entsprechend irritiert war: »Quand’ero piccola, in assoluta buona fede, non di rado c’era chi mi chiedesse se ero missioni, senza che né io né chi mi rivolgeva la domanda ne capissimo il significato implicito« (Ali Farah 2007, 227). Mit dem in Eritrea und Somalia gebräuchlichen Begriff missioni wurden jene Kinder bezeichnet, die während der faschistischen Kolonialisierung, vor allem nach dem Erlass der ›Rassengesetze‹ von 1938, weder von ihren italie-

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sätzlich zu den von der somalischen Gemeinsprache übernommenen italienischen Wörtern variieren im Text auch Sprachregister: Ein im Standarditalienischen formulierter Brief alterniert mit Alltagsprosa, tiefsinnige Reflexionen mit Telefongesprächen, während die fiktiven GesprächspartnerInnen unmerklich bis invasiv präsent gestaltet werden. Die unterschiedlichen Text­sorten setzen sich zu einem komplexen Mosaik zusammen, das die diasporische Zerstreuung sowie die sich verlierenden und wiederfindenden Figuren formal spiegelt. Vor dem realgeschichtlichen Hintergrund einer Diasporasituation erhalten Telefon und Internet eine existenzielle Bedeutung, insbesondere wenn es darum geht, den Alltag global zu organisieren.12 Werden Medien als »Verlängerungen des Körpers« (McLuhan) verstanden und beschreibt ›Raum‹ die »Relationierung von menschlichem Körper zu anderen (körperhaften) Objekten« (Werlen 2009, 384), dann wird die Bedeutung von Medien »als Vermittlungsinstanz der Erfahrung unter Abwesenheit des eigenen Körpers bzw. Organismus deutlich« (ibid.). Daraus resultiert die Grundbedeutung von »Medium als das Dazwischen« (ibid.). Die »Verlängerung des Körpers für die Relationierung mit Objekten [wird] vermittels elektronischer Übertragung über Distanz hinweg vollzogen« (ibid.). Mediale Kommunikation wird etwa über Telefonnetze weltumspannend ermöglicht. Über die Distanz nehmen mediale Mittel wie in Madre piccola das Telefon oder die Filmkamera die Position des Körpers ein, so wird räumliche Distanz kommunikativ in Gleichzeitigkeit überwunden (cf. Werlen 2009 384f.). Wie die LeserInnen aus Barnis Bericht erfahren, versucht etwa Shukri, wohnhaft in Rom, telefonisch die Scheidung von Taageere zu erwirken, der in Illinois lebt und weder für sie noch den gemeinsamen Sohn Sorge trägt: »Shukri era andata dal Santone con la sua ragione e il Santone le aveva detto che era semplice, bastava qualche telefonata. Il Santone voleva convincere Taageere per nischen Vätern noch ihren somalischen Familien mütterlicherseits akzeptiert worden sind. Nicht selten wurden sie ausgesetzt und von MissionarInnen aufgenommen, die sie allerdings oftmals als ›Kinder der Sünde‹ betrachteten, sie ausbeuteten und rassistisch behandelten (cf. Comberiati 2010, 210f.). Cf. in diesem Zusammenhang den in dieser Studie nicht behandelten Text von Shirin Ramzanali Fazel: Nuvole sull’equatore. Gli italiani dimenticati. Una storia. 12 | Im Gespräch mit Daniele Comberiati erläutert Cristina Ubax Ali Farah die soziale Verbindungsfunktion des Telefons für viele SomalierInnen: »I somali hanno un rapporto fortissimo con il telefono, quasi fosse una parte di sé, del proprio corpo: ci passano ore, chiacchierando con parenti e con amici lontani che magari non vedono da anni. Quello che viene fuori da queste telefonate sono i racconti del quotidiano. […] L’insieme di tutti questi dettagli è ciò che dà corpo alla vita, e comporli significa dar voce alla diaspora somala, a questa comunità sparsa ma in qualche modo tenuta insieme.« (Ali Farah zit. in Comberiati 2011b, 48)

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Postkoloniale Literatur in Italien t­ elefono. Certo, anche Shukri doveva fare la sua parte, doveva essere persuasiva. Non è facile strappare un sì, ti ripudio per tre volte al telefono. […] Alla fine – abbastanza rapidamente – erano riusciti a combinarlo il divorzio telefonico!« (Ali Farah 2007, 32)

Die Szene führt die Rolle elektronischer Medien in der interkontinentalen Kommunikation diasporischer Beziehungen vor Augen: Verschiedene Gesetze und Konventionen sind auch ohne Staat von Dauer, so werden Taageere und Shukri nach islamischem Ritus durch das dreimalige Aussprechen einer Scheidungsformel geschieden – via Telefon. Taageere beginnt das Telefongespräch im dritten Kapitel des Romans rituell mit den Worten: »Halow? Pronto, Shukri? Sono io Taageere, il tuo ex marito« (Ali Farah 2007, 57), also mit spezifischen Telefonwörtern, geht aber in der Folge rasch zur ›außertelefonischen Sprache‹ über. Er stellt resignierend fest: »Quasi non riconosci più la mia voce, sembra. Non chiamo? Certo che non chiamo. Ogni volta inizi così.« (Ibid.) Das Gespräch am Telefon ist in eine existenzielle Situation eingebettet, die »vom Grad der Enttäuschung des Anrufers wie der Überraschung [der] Angerufenen abhängt« (Flusser 2002, 189). Für die angerufene Person, hier Shukri, ist die Stimme des Sprechers, Taageere, nicht nur eine menschliche Stimme, sondern auch individuell erkennbar. Indem das Medium »Telefon« mit dem anderen identifiziert wird, entsteht aus dem telefonischen Dialog eine intersubjektive Beziehung, dennoch bleibt die Telekommunikation existenziell zeitweilig unbefriedigend, handelt es sich beim Telefon doch um ein Medium, dessen Präsenz spürbar bleibt (im Unterschied etwa zum TV oder so genannten ›Face-to-face‹-Medien wie Gespräche ›am runden Tisch‹, die den – stets täuschenden – Eindruck unmittelbarer und somit befriedigender Kommunikation erzeugen), so Vilém Flusser in seinem Text Die Geste des Telefonierens (2002 [1991], 189), auf den ich mich hier beziehe. Diese mangelnde existenzielle Befriedigung und Begrenztheit des Mediums Telefon beklagt in Madre piccola der Protagonist Taageere während seines langen Telefonats mit Shukri: »Shukri, Shukri, non mettere giù, ti prego. Non ho ancora detto le cose importanti. La ragione per cui ti chiamo. Il tempo va via, zucchero mio. Potevo forse aspettarti in eterno? Quello che è stato, è stato. Ora devo ricostruire. Minuti che scivolano. Anche il telefono, lo stesso. Compri una scheda di trecento minuti e credi che avrai tutto il tempo del mondo. Poi anche quei trecento minuti finiscono. Tutto lo sforzo che hai messo per ricordarti di comprare quella scheda. Devi aspettare che ti venga di nuovo quella stessa energia, un nuovo desiderio che ti fa comprare un’altra scheda. Non è per il prezzo. L’allegria di quando la scarto e gratto il numero segreto. Vedo quel numero brillare, inciso come a caratteri d’oro. Il numero segreto è il mio tesoro. Un numero segreto che rimette tutte le cose a posto. Poi: scheda che finisce, tempo che finisce. Non lasciare scorrere il tempo senza che abbia detto le cose importanti.« (Ali Farah 2007, 75)

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Jedem Kommunikationsmedium ist eine Dialektik immanent, da es diejenigen Personen verbindet und trennt, die durch das Medium kommunizieren. In dieser Dialektik liegt exakt die Bedeutung des Begriffs »Medium« (cf. Flusser 2002, 189). Am Telefon besteht demnach eine reziproke Anerkennung der dialogischen Spannung zwischen AnruferIn und HörerIn; so fungiert z.B. der/die AnfruferIn als AkteurIn während der/die Antwortende das Gespräch annimmt, wobei diese Beziehung die wechselseitige Anerkennung beider TeilnehmerInnen voraussetzt. Als Anrufende/r wählt der/die AkteurIn den Zeit­ punkt des Telefonats, etwa die Uhrzeit bei transkontinentalen Gesprächen, in Abhängigkeit zur/m Angerufenen, »versetzt sich also an dessen Stelle« (ibid.). In dieser strukturellen Dialogizität imaginiert Flusser Telefon- oder allgemein Kommunikationsnetze als Modelle für zukünftige Gesellschaften der Anerkennung des anderen und der Selbsterkenntnis im anderen (cf. Flusser 2002, 191).13 Bildet jeglicher ›Raum‹ die »Aktualisierung einer virtuellen Räumlichkeit« (cf. DeLanda 2002 zit. nach Doetsch 2006, 209), enthält »jeder aktualisierte Raum virtuelle Tendenzen einer Entgrenzung« (ibid.), wie u.a. in der Telekommunikation erfahrbar wird.14 Als BenutzerInnen von Kommunikationsnetzen nehmen sich die fiktionalen Figuren in Madre piccola »als Teil einer imaginären Community [wahr], die zum eigenen Raum wird« (Löw 2004, 55). Der ›Raum‹ der Diaspora ist mit virtuellen Tendenzen durchdrungen oder gar virtuell konstituiert und wird an je spezifischen Orten aktualisiert. In der zuvor evozierten Episode einer Scheidung via Telefon wird diese (soziale) Raumkonstitution als Effekt von Handlungen, die in einer zeitgenössischen Diasporasituation zunehmend über Medien wie dem Telefon und dem Internet realisiert werden, sichtbar. Elektronische wie räumliche Vernetzung fungiert in Madre piccola darüber hinaus als Matrix einer individuellen Identitätssuche der Figuren. Bleiben in der Diaspora teils starke Bindungen zu den Herkunftsorten und Traditionen aufrecht, allerdings ohne die Illusion zur Vergangenheit zurückkehren zu können, versuchen die Figuren mit den Kultu­ren, in denen sie leben zurechtzukommen, ohne ihre ›Identitäten‹ vollständig aufzugeben (cf.  Hall 1999, 435). Sie repräsentieren jene »Grenzlagen« (Bhabha 1997, 139), deren kulturelle ›Identitäten‹ nicht fixiert sind, die vielmehr simultan 13 | Allerdings erwähnt Flusser auch eine alternative Diagnose: jene der zentral gesteuerten und programmierten Massengesellschaft, gegenwärtig wahrscheinlicher, der aber Widerstand zu leisten sei (cf. Flusser 2002, 191. Flusser verfasste seinen hier zitierten Text Die Geste des Telefonierens im Jahr 1991). 14 | Denn: »Wo findet ein Telephongespräch statt?« Michel Serres theoretisiert seine Frage: »in Paris, in Florenz, irgendwo dazwischen oder in einem virtuellen Raum, der ebenso gut dort wie auch anderswo ist« (Doetsch 2006, 209, in Anlehnung an Serres 2005).

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auf verschiedene kulturelle Traditionen rekurrieren und »im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben« (Hall 1999, 434). Wie S ­ tuart Hall aufzeigt, kann ›Identität‹ im Zeitalter der Globalisierung nicht nur »entweder zu ihren ›Wurzeln‹ zurückkehren oder in der Assimilation oder Homogenisierung verschwinden« (Hall 1999, 435), vielmehr gibt es Identitätsbildungen wie jene der »Übersetzung« (ibid.), die von Individuen entwickelt und gelebt werden, die ohne Aussicht auf Rückkehr aus ihren Ländern zerstreut wurden. Sie tragen die Spuren jener Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, die sie prägten, mit sich, wie die Figur Barni im Epilog von Madre piccola bildhaft formuliert: »La nostra casa la portiamo con noi, la nostra casa può viaggiare. Non sono le pareti rigide che fanno del luogo in cui viviamo una casa.« (Ali Farah 2007, 263) Das diasporische Leben im Provisorium bedeutet für die Betroffenen häufig eine Verortung im Dazwischen, in der Ortlosigkeit oder an mehreren Orten gleichzeitig und damit zusammenhängend eine Dezentrierung ihres Selbst (cf. dislocation nach Stuart Hall 1999, 394). Diese doppelte Bewegung, welche Individuen sowohl hinsichtlich der Verortung in ihrer sozialen und kulturellen Welt als auch in Hinblick auf sich selbst dezentriert, löst mitunter schwerwiegende Identitätskrisen und Entfremdung von den alten wie auch den neuen ­Kulturen und Zugehörigkeiten aus. Die weiteren Ausführungen nehmen die in Madre piccola fiktionalisierte Identitätssuche der infolge von Bürgerkrieg und Zerfall des somalischen Staates global verstreuten Figuren in den Blick; im Fokus steht die Protagonistin Domenica Axad, die an den Widersprüchen ihres Zwischenstatus als »italosomala, iska-dhal, nata-insieme, nata-mescolata« (Ali Farah 2007, 95) und am Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung zeitweilig zu scheitern droht.

VI.2 F igur ation eines S elbst verlusts und B e wegung z wischen N icht -O rten Als Tochter einer Italienerin und eines Somaliers wächst Domenica Axad in Mogadishu in einem kulturell hybriden Kontext auf. Da ihre Mutter die somalische Sprache nur rudimentär beherrscht, übernimmt sie dank ihrer Bilingualität bereits als Kind die Rolle einer Übersetzerin und verwandelt sich »in una grande dissimulatrice, pronta a compiacere l’interlocutore adulto che di volta in volta mi trovavo davanti« (Ali Farah 2007, 233). Zuweilen erlebt Domenica Axad das Übersetzen »come un divertimento« (ibid.), vorwiegend aber »con un forte senso di responsabilità« (ibid.); retrospektiv betrachtet transformierte sie diese tagtägliche Übung in »una grande conoscitrice dell’animo umano« und zugleich in »una bambina ansiosa, sempre in pena per le possibili ripercussioni dei discorsi mal riportati« (ibid.). Die

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Möglichkeit kulturellen Widerstreits, die Fähigkeit, die Erkenntnisgrundlage zu verschieben, ist Homi Bhabha zufolge kennzeichnend für die Etablierung neuer Bedeutungsformen und Identifikationsstrategien: »Die von kultureller Differenz geprägten Signifikationen hinterfragen Formen von Identität, die wegen ihrer andauernden Verwobenheit mit anderen symbolischen Sys­ temen immer ›unvollständig‹ oder für kulturelle Übersetzung offen sind.« (Bhabha 1997, 183) Wie in den Primärtextzitaten anklingt, zersplittert Domenica Axads ›Ich-Identität‹ infolge translinguistischer Sinnentfremdung und Sinnverlusts gewissermaßen schon in ihrer Kindheit; Armando Gnisci spricht in Zusammenhang mit (kultureller und sprachlicher) Übersetzung von einer Haltung und Kunst, einer Disziplin und riskantem Spiel, denn »sich übersetzen« bedeutet, das Ich zum Du und das Du zum Ich zu verschieben, um sich am Ende seines ›alterierten‹ Selbst bewusst zu werden (cf. ­Gnisci 2007, 118f.). Nach der Scheidung ihrer Eltern kehrt Domenica Axad im Alter von neun Jahren mit ihrer Mutter nach Italien zurück und spricht fortan kein Somali mehr – mit massiven Folgen für ihre Identitätskonsti­ tution. Die verdrängte Trauer über die Trennung von ihrem Vater sowie der vertrauten Lebenswelt äußert sich bald als innerliche Erschöpfung, »come di tradimento subito« (Ali Farah 2007, 242). Allen voran beunruhigen sie die Abwesenheit von Barni, ihrer geliebten Schwester-Cousine, und die unerträgliche Einsamkeit, denn während sie in Somalia im lebhaften Ambiente einer Großfamilie mit zahlreichen AltersgenossInnen aufwuchs, findet sie sich in Italien in einer isolierten Wohnung mit seltenen Besuchen und als Einzelkind wieder. Rückblickend erachtet Domenica Axad diese Anonymität wie auch die ständigen ›Rechtfertigungen‹ ihrer Sprachkompetenz und Haut­ farbe als »la principale causa dell’amnesia che oscurò i miei dieci anni successsivi« (Ali Farah 2007, 243). Ähnliche Fragen in spiegelverkehrtem Sinne kannte sie bereits aus Mogadishu, während es sich dort aber mehr um eine Kenntnisnahme ihres Zwischenstatus handelte, verspürt sie in Italien stets die Markierung einer Differenz. Die Protagonistin erlebt eine angespannte Jugend, denn in der Annahme, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen, versucht sie als italienisches katholisches Schulmädchen stets alles richtig zu machen, im Bewusstsein, ihre Mutter an deren entfremdeten Ehemann, Domenica Axads Vater, zu erinnern. Angesichts des Schmerzes ihrer Mutter empfindet Domenica Axad ihre eigene Trauer dieser gegenüber als illoyal und unterdrückt über Jahre ihr elementares Verlustgefühl bzw. wehrt dessen Bewusstwerdung ab. Diese infolge der Trennung ihrer Eltern verspürte innere Zerrissenheit zwischen zwei verschiedenen Welten und Kulturen mündet schließlich in eine symbiotische Mutter-Tochter-Beziehung und evoziert in der Protagonistin Schuldgefühle, die sich wiederholt in Selbstverletzungen entladen (cf. Gagiano 2015, 188). Sprachlich äußert sich diese Symbiose in der Verwendung der ersten Person Plural durch ihre Mutter, weshalb sich

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Domenica Axad lange Zeit als plurales Subjekt begreift.15 Der Moment des Bruchs ereignet sich im Kontext des beginnenden Bürgerkriegs im Dezember 1990, als Domenica Axad von ihrer Mutter, die auf eine Versöhnung mit ihrem Exmann hofft, nach Mogadishu geschickt wird. Das ersehnte Wiedersehen mit ihrem Vater findet jedoch nicht statt. Sie entkommt wenige Tage später mit ihrem Cousin Libeen der inzwischen zu einem Kriegsschauplatz mutierten Stadt, reflektiert bewusst die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit und weigert sich fortan zu sprechen. Viele Jahre später erklärt Domenica Axad in dem bereits erwähnten Brief an ihre Psychoanalytikerin: »Il mio non era un silenzio traumatico, era un silenzio volontario, consapevole. Ma ­i nsieme al silenzio questa volta c’era qualcosa d’altro, assai più difficile da comprendere. I tagli riemersero. Erano il trauma del ritorno mancato, l’impossibilità di incontrare mio padre e la consapevolezza che io e mia madre eravamo due creature separate.« (Ali Farah 2007, 253)

In der Darstellung der psychischen Disposition der Hauptfigur sind Gefühle von Verlustschmerz und Melancholie auffällig dominant. Wie in Kapitel V erläutert, ist Freud zufolge die Trauer eine »Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion« (Freud 1999, 429), wobei sich bei manchen Personen »an Stelle der Trauer eine Melancholie« (ibid.) zeigt; von der Trauer unterscheidet sich die Melancholie allein in der »Herabsetzung des Selbstgefühls, [was] sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert« (ibid.). Domenica Axad kann als Melancholikerin charakterisiert werden, insofern das im Textzitat retrospektiv reflektierte traumatische Erlebnis des gescheiterten Wiedersehens mit ihrem geliebten Vater Taariikh und die Bewusstwerdung ein von ihrer Mutter getrennter, eigenständiger Mensch zu sein, in der Protagonistin das Gefühl eines erneuten Verlusts ihrer Familie und ihres Zuhauses evozieren, woraufhin sie beginnt, sich selbst zu verletzen. Der zeitweilige Rückzug in die innere Stille funktioniert für Domenica Axad als Überlebensstrategie, bewusst flüchtet sie sich ins Schweigen und entzieht sich jeglicher verbalen Kommunikation. Ihre instabile Selbstwahrnehmung sowie ihr zeitlebens als belastend empfundener kultureller Zwischenstatus bei simultaner Sehnsucht nach Zugehörigkeit kulminiert unmittelbar nach ihrer Ankunft am Flughafen von Fiumicino, dem Ort ihrer Metamorphose, wo sie mit ihrer fremdbestimmten Existenz bricht 15 | Cf. in diesem Zusammenhang folgendes Textzitat: »La prima persona plurale era d’obbligo in queste situazioni. Mia madre la usava abitualmente quando si trattava di noi due, quasi fossimo una stessa essenza, un’identica volontà, un soggetto solo. […] Accettavo di agire in nome di questo soggetto plurale senza troppo interrogarmi se quello che facevo corrispondesse davvero ai miei desideri.« (Ali Farah 2007, 249)

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und sich für ein Leben als Kriegsflüchtling in der somali­schen Diaspora an der Seite Libeens entscheidet, denn »[…] nei momenti difficili ci inventiamo ­appartenenze« (Ali Farah 2007, 111). Der Flughafen, nach Marc Augé (1994) ein klassischer Nicht-Ort ohne Geschichte und ohne ›Identität‹,16 markiert für die Protagonistin in Ali Farahs Roman den Ausgangspunkt ihrer Identitätsdekonstruktion, den Transitort ihres Ichs. Der identitätslose Nicht-Ort des Flughafens spiegelt symbolisch den Identitätsverlust der Protagonistin. Ein anderer Nicht-Ort, der Bahnhof Roma Termini, stellt eine weitere Station ihrer Migrationsroute dar, »[a] Termini, io partivo da zero insieme agli altri. Da quel crocevia, coagulo di dolore, anticamera dell’oblio« (Ali Farah 2007, 100), so ihre raummetaphorische Beschreibung. Roma Termini gilt als zentraler Treffpunkt der somalischen Diasporagemeinde der Stadt und zugleich als Handels- und Informationsdrehscheibe, der temporär »als illusionäres Substitut für Heimat« (Kleinhans 2013, 185) funktionalisiert wird. Barni beschreibt den römischen Bahnhof als »crocicchio, luogo delle nostre nostalgie« (Ali Farah 2007, 28).17 Als »Mikrokosmos einer veränderten italienischen Gesell16 |  Augé zufolge sind Orte durch »Identität, Relation und Geschichte« (Augé 1994, 92) gekennzeichnet; Räume ohne ›Identi­t ät‹, die »weder als relational noch als historisch« (ibid.) bezeichnet werden können, definiert er als »Nicht-Orte«. Da­b ei gilt sowohl für den Nicht-Ort als auch für den Ort, dass sie »niemals in reiner Gestalt« (Augé 1994, 93) existieren; viel­m ehr setzen sich in ihnen »Orte neu zusammen« (ibid.) und »Relationen werden rekonstruiert« (ibid.). Der Ort verschwindet also niemals voll­s tändig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her, so Augé, es seien vielmehr »Palimpseste, auf denen das ver­w orrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet« (Augé 1994, 94). Als »Nicht-Orte der Übermoderne« nennt Augé (1994, 93f.) etwa Orte des Reisens oder Fortbewegungsmittel wie Flugzeuge, Schiffe, Züge, Busse, Autos, Durchgangsorte wie Bahnlinien, Straßen oder Autobahnen, Stationen in den Städten wie Flughäfen, Bahnhöfe, Häfen mit auslaufenden Fähren und Verladedecks, Straßenkreuzungen, Supermärkte, aber auch Orte des flüchtigen Verweilens wie Bars, Restaurants, Hotels, Strände. Der Nicht-Ort erzeugt eine »provisorische Identität« (Augé 1994, 118), eine von PassagierInnen, KundInnen oder AutofahrerInnen mit anderen BenutzerInnen des Nicht-Ortes geteilte ›Identität‹ relativer Anonymität (cf. ibid.). Nicht-Orte erzeugen demnach »keine besondere Identität […], sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit« (Augé 1994, 121) – man ist allein, aber den anderen gleich. 17 | Cf. die aus Barnis Erinnerungsperspektive vermittelte Funktion des Bahnhofs für somalische Geflüchtete in Rom: »Bastava andare alla stazione Termini per incontrare il mondo. L’atmosfera vibrava per l’attesa di notizie, tutti ad aspettare tenendosi stretti. Pensavamo: tra un po’ si torna. Chi poteva mai immaginare. Allora andavamo alla draddorio a mangiare il riso con il capretto, prendevamo un defreddi al chiosco, compravamo bajiiye con il peperoncino fresco e rummay dalle ragazze. Ci procuravano i documenti per salvare tutti, proprio tutti quelli della famiglia. Si cercava un corriere

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schaft« (Kleinhans 2013, 186) repräsentiert der Bahnhof auch zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklungen, etwa durch die Umgestaltung der Bahnhofsgalerien in eine Shoppingmall. Diese baulichen Veränderungen spiegeln die neuen BesucherInnen und die in den Vordergrund tretende Funktion des Konsums für die BenutzerInnen dieses Nicht-Ortes wider (cf. ibid.). Mit einem topologischen Raumbegriff argumentierend könnte Augés Konzeption dahingehend ergänzt werden, dass Nicht-Orte, die keine ›Identität‹ besitzen und sich weder als relational noch als historisch beschreiben lassen (cf. Augé 1994, 92), sich über eine fließende Identität (beispielsweise Hybridität) charakterisieren, als Knotenpunkte Reise- und Migrationsrouten relational vernetzen und ihre Historie die Zeitgeschichte ist. In postkolonialen und/oder diasporischen Kontexten erscheinen sie somit für hybride Identitätsentwürfe existenziell bedeutsam, ermöglichen sie doch Bewegung in (globalen) Räumen und letztendlich Widerstand gegen vereinheitlichende Diskurse von Nation, ›Identität‹ oder Kultur. Gerade entlang der von Augé beschriebenen Nicht-Orte, Transiträume, Durchgangsorte, Hotels und Verkehrsmittel, gleichsam beweglichen Unterkünften, eine Welt der »einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und [Flüchtigen]« (Augé 1994, 93), bewegt sich die Protagonistin in Madre piccola, nachdem sie sich aus dem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Mutter befreien konnte und in die Niederlande reist, »[l]uogo di Libeen, così pieno della sua presenza, della sua protezione, del suo giudizio« (Ali Farah 2007, 113). Den Lebensabschnitt mit Libeen in den Niederlanden reflektiert Domenica Axad später als Befreiung und erneute Abhängigkeit, als Ausweg und gleichzeitige Immobilität.18 Räumliche Bewegung zwischen verschiedenen Orten stellt sich für Domenica Axad als weitere Überlebensstrategie heraus, ist sie doch vorerst nicht in der Lage, ihre Trauer über die Auflösung Somalias infolge des Krieges sowie die Leerstelle ihrer Eltern zu bewältigen. Begegnet sie ihrem Selbstverlust anfänglich wie eine »bolla di sapone trasportata dal vento« (Ali Farah 2007, 97) im Versuch »di ritrovare, a caso, i miei percorsi« (ibid.), äußern sich alsbald die unausgesprochenen Worte und chronisch unterdrückte Trauer über ihren Körper: che portasse i soldi a destinazione. […] I nostri luoghi, vecchi e nuovi, ruotano intorno a quel polo: il negozio di Qamar, il call center di Xassan, la draddorio e dintorni.« (Ali Farah 2007, 28f.) 18 | Cf. die retrospektive Schilderung Domenica Axads im Gespräch mit Barni: »Ho passato più di due anni dipendendo da lui. In bilico: affanni intermittenti. […] Pensavo che sarebbe stato sempre così, io e Libeen insieme. Vivere disgiuntamente da lui, per me significava tornare all’altra vita. Tu Barni non mi hai vista nel mese che ho passato assieme a lui a Roma. […] La mia era malattia di troppe solitudini. Libeen, dal primo momento, mi riparava. Complicità, ne avevamo troppa. Oggi penso che doveva essere così, di necessità. Io e la mia strada. Con Libeen mi sentivo in perpetua convalescenza. Dovevo guarire, leccarmi sola le ferite.« (Ali Farah 2007, 107, 108)

Cristina Ubax Ali Farah – Madre piccola »Qualsiasi oggetto appuntito mi serviva. A incidermi, a vedere il colore del sangue. Ragnatele di segni sulla mia superficie. Mi chiedevano cosa mi ero fatta, in molti. Sussultavo: segreti svelati. Ma sai, ero talmente separata. Non riuscivo a parlare. […] Fu perché mi sentivo eccentrica e indefinita che cominciai a torturarmi la pelle? Credevo, forse, di poter separare con la lametta l’ambiguità della mia essenza? […] Erano, per lo più, ferite lineari, tagli netti da cui osservavo il sangue defluire, incisioni che ripassavo meticolosamente, fino a disegnare una ragnatela di fili sottili sulla pelle.« (Ali Farah 2007, 99, 245f.)

Domenica Axad flüchtet sich in Selbstverletzungen, ritzt Netze, ragnatele, in ihre Haut, die ihr persönliches Trauma sichtbar machen. Die Schnittwunden ihres Körpers manifestieren aber nicht nur die Spuren qualvoller Ortswechsel, ein Spiegelbild ihrer inneren Orientierungslosigkeit »nella difficoltà di dover ricostruire una mappa geografica ed affettiva, dove passato e presente diventano instabili, a volte immateriali e a volte invadenti […]« (Barbarulli 2012, 3), sondern sie repräsentieren symbolisch auch die Folgen der gewaltvollen kolonialen Begegnung. Die in postkolonialen Romanen narrativierten Gewalt­aspekte begründen sich meist durch politische Konflikte (Krisen, Bürgerkrieg), durch die Kontingenz des Lebens mit seinen ›Eckdaten‹ (wie beispielsweise Geburts­ ort und/oder Familienkonstellation), Diskriminierung, Rassismus und Fremd­ heitserfahrungen (cf. Reichardt 2013, 122).19 In Madre piccola korreliert das vorwiegend aus weiblicher Perspektive dargestellte Thema der Gewalt allen voran mit traumatischen Lebenserfahrungen im Kontext des somalischen Bür­ ger­kriegs, wobei die Hauptfigur Domenica Axad sowohl gesellschaftlich und kulturell als auch persönlich von Gewalt geprägt ist. Ihr Körper fungiert als Ort, der die verdrängten Emotionen sichtbar macht und dadurch die bewusste Wahrnehmung ihrer selbst einfordert.20 Emotionale und psychische Konflikte äußern sich mitunter über den Körper, der Gefühle ausdrückt und ausspricht. Für die dargestellte Situation lässt sich Domenica Axads geritzter Körper somit als Ausdruck oder ›Materialisierung‹ unbewältigter Traumata beschreiben. Clotilde Barbarulli weist auf die unhintergehbare Macht des Körpers hin, die in seiner Fähigkeit zu begehren und somit zur Subjektivität besteht. Die Kör­ 19 |  Dagmar Reichardt weist darauf hin, dass sich das Trauma als Sujet in die italophone ›Migrationsliteratur‹ von Beginn an eingeschrieben hat. Das Gewaltmotiv erscheint in der zeitgenössischen Literatur nicht ausschließlich »an Krieg, koloniale Unterwerfung und physische Brutalität gebunden« (Reichardt 2013, 130), sondern äußert sich als epistemische Gewalt, ist subtiler, »tendenziell abstrakter, psychologischer geworden« (ibid.). 20 | Cf. in diesem Zusammenhang die Aussage Cristina Ubax Ali Farahs im Gespräch mit Daniele Comberiati: »[…] ero somala solo per metà. Ho pensato così a come tutto passi per il corpo, a come il corpo racchiuda tutto, dal colore della pelle alla mutilazione.« (Ali Farah zit. in Comberiati 2011b, 53)

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per sind sich des Werdens, der Leidenschaften und Metamorphosen bewusst und fähig, der von kapitalistischen Sprachcodes und Machtlogiken forcierten Nivellierung Widerstand zu leisten (cf. Barbarulli 2012, 3, 9). Domenica Axads vorübergehender Rückzug in die innere Stille scheint ein Begehren nach Aboder Loslösung von der Welt und des Verweilens in einer schützenden Umgebung auszudrücken, die sie im Unterwegssein, in der Bewegung als ›Raum‹ des Werdens und Wachsens findet, »come perennemente trasportati nella bolla d’aria« (Ali Farah 2007, 112). Die Durchquerung verschiedenster Nicht-Orte, von römischen Call Centern und dem Bahnhof Termini über die endlosen Straßen Deutschlands und der Niederlande bis zu nordamerikanischen Flughäfen, entfernen Domenica Axad vorübergehend vom Gewicht des Alltags und die augenblickliche Umgebung dieser Passagen stellt eine »Gegenwart der Reise« (Augé 1994, 122) her. Das Betreten von Nicht-Orten ermöglicht, gewohnten Bestimmungen zu entkommen. Als Transitpassagierin der Nicht-Orte macht sie die Erfahrung einer »ewigen Gegenwart und zugleich der Begegnung mit sich selbst« (Augé 1994, 123). In der Bewusstwerdung der Protagonistin »che io e mia madre eravamo due creature separate« (Ali Farah 2007, 253) ist, mit Michel de Certeau (1988, 207) gesprochen, die metaphorische Wiederholung einer entscheidenden Erfahrung zu erkennen: jene der Unterscheidung des Kindes vom Körper seiner Mutter. »Dabei entsteht die Möglichkeit eines Raumes und einer Lokalisierung des Subjektes« (de Certeau 1988, 207, in Anlehnung an Freud).21 Mit dem ›Raum‹ umzugehen bedeutet demnach, die Erfahrung der Kindheit zu wiederholen und dies meint, 21 | Michel de Certeau entfaltet seine weitere Argumentation wie folgt: Die Vergegenwärtigung des Herauslösens aus der »Differenzlosigkeit im mütterlichen Körper« (de Certeau 1988, 207), also das Verlassen der Mutter (»damit sie nach und nach verschwindet und damit das Kind sie verschwinden läßt« [ibid.]) erlaubt es, »das mütter­ liche Objekt ›verschwinden zu lassen‹ und sich selber verschwinden zu lassen (insofern man mit diesem Objekt identisch ist), also da zu sein (weil) ohne den Anderen, aber in einem notwendigen Verhältnis zum Verschwundenen« (ibid.). Dieser Vorgang veranschaulicht metaphorisch die Ausdehnung oder topologische Entstehung von ›Raum‹ und dessen stets relationale Struktur. Das Kind, »das sich vor dem Spiegel als eins (als ein überschaubares Ganzes) erkennt, dabei aber nur ein Anderes ist (nämlich Es, ein Bild, mit dem es sich identifiziert)« (ibid.), realisiert den Prozess dieser Aneignung von Raum, »der den Übergang zum Anderen als Gesetz des Seins und des Ortes festschreibt« (de Certeau 1988, 208). Diese Erfahrung der Kindheit ist die Erfahrung der ersten Reise, »der Geburt als Urerfahrung des Andersseins, der Erkenntnis seiner selbst als ich und als anderer«, so Marc Augé in Anlehnung an de Certeau; sie wird zunächst von der »Erfahrung des Gehens als der ersten Form des praktischen Umgangs mit dem Raum« (Augé 1994, 99f.) und schließlich von der »Erfahrung des Spiegels als erster Identifizierung des Selbstbildes« wiederholt (ibid.).

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»am Ort anders zu sein und zum Anderen überzugehen« (de Certeau 1988, 208). Im diasporischen ›Raum‹, einem ›Raum‹ der Entfremdung und der fernen Distanzen zwischen Dingen und Personen, gelingt es Domenica Axad, »zum Anderen überzugehen« und sich als Subjekt zu verorten, in der Bewegung allmählich ihren Ichverlust als ein Zuviel an Einsamkeit und Verlustschmerz zu reflektieren und so die Voraussetzung für dessen Überwindung zu schaffen. Die temporäre Sprachlosigkeit verwandelt sich später in eine als dringlich empfundene Notwendigkeit des Erzählens, Schreibens oder Schilderns von Geschichten – in die Mitteilsamkeit der Melancholikerin (cf. Freud 1999, 433; cf. Barbarulli 2012, 2). Die Entscheidung, primär in italienischer Sprache zu kommunizieren, nimmt Domenica Axad nun bewusst als Teil ihrer personalen Identität wahr, »la mia metà che è intera« (Ali Farah 2007, 1), wie es im Incipit des Romans heißt. Sie bestimmt also bewusst die Sprache ihrer Mutter, Italienisch, zur Sprache der Äußerung und schafft dadurch ihren eigenen, emanzipierten Raum, »also da zu sein (weil) ohne den Anderen, aber in einem notwendigen Verhältnis zum Verschwundenen« (de Certeau 1988, 207): »Tirai fuori la penna e cominciai a rispondere sulla carta. Scrivevo con le mie lettere fitte, usando consapevolmente parole desuete e fuori dal comune. Come ha potuto constatare, è un gioco che mi seduce, in continuazione. Parlo difficile, uso costruzioni contorte. Lo faccio soprattutto in principio di discorso, perché voglio dimostrare fino a che punto riesco ad arrivare con la lingua, voglio che tutti sappiano senz’ombra di dubbio che questa lingua mi appartiene. È il mio balbettio, è il soggetto plurale che mi ha cresciuto, è il nome della mia essenza, è mia madre.« (Ali Farah 2007, 253f.)

Zugehörigkeit definiert sich für die Protagonistin in erster Linie über die Sprache und es ist das Italienische, in dem sie sich verständlich machen kann und Zugang zu den Denkweisen ihrer GesprächspartnerInnen findet (cf. Augé 1994, 126f.): »[…] la mia lingua madre che, come ripeto a tutti, è l’italiano, perché non ve n’è nessuna che parlo con altrettanta disinvoltura« (Ali Farah 2007, 258f.). Die italienische Sprache markiert also jenes »rhetorische Gebiet« (Augé 1994, 126), das ihr vertraut ist und wo sie sich ›zuhause‹ fühlt. Gleichzeitig begreift sich Domenica Axad, deren transkulturelle ›Identität‹ sich auch in ihrem Doppelnamen spiegelt,22 als filigraner Faden eines ausgedehnten Netzes, als Spur 22 | Cf. in diesem Zusammenhang folgende Selbstreflexion der Protagonistin zu ihren zwei Vornamen: »Allora io le dico, abbaayo io non voglio più chiamarmi con questo nome che fa ridere tutti e lei dice, non ti preoccupare d’ora in avanti ti chiamerai Axad, come il principio. […] Barni ebbe nominato la mia seconda anima, lasciando un segno permanente nel mio stesso nome. Mi chiamò Axad, domenica, come la radice araba dell’uno. […] Di Domenica, ho provato vergogna. Recuperare un nome che tu, Barni, hai scelto per me, pensarti in ogni istante, quando qualcuno lo formulava. Non che io

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eines ›Raumes‹, mit dem sich die Freiheit aushandelt, zu einer transnationalen Gemeinschaft zu gehören, wie im Präludium des Romans poetisch artikuliert: »Soomaali baan ahay, come la mia metà che è intera. Sono il filo sottile, così sottile che si infila e si tende, prolungandosi. Così sottile che non si spezza. E il groviglio dei fili si allarga e mostra, chiari e ben stretti, i nodi, pur distanti l’uno dall’altro, che non si sciolgono.« (Ali Farah 2007, 1) 23

Die im Roman rekurrierenden Begriffe filo, nodi, aber auch legami oder involucri verweisen auf die Notwendigkeit des Verflechtens, Verbindens, Versammelns, Speicherns und Bewahrens, ohne sich dabei den Transformationen und dem provisorischen Status des diasporischen Lebens zu widersetzen (cf. Derobertis 2011, 270f.). Wie schon Gabriella Ghermandi in Regina di fiori e di perle (cf. Kapitel II dieser Studie) oder Igiaba Scego in Oltre Babilonia (cf. Kapitel VII) inszeniert auch Cristina Ubax Ali Farah in Madre piccola metaphorisch das Handwerk des Webens als textuelles Verflechten von Geschichten, symbolisch dargestellt als Verknüpfung von Handlungsfäden oder Vertextung jenes Stimmengewirrs der Diaspora, die Domenica Axad schließlich filmisch dokumentiert (cf. Curti 2011, 87). Erzeugt die Handlung der erzählerischen Montage von Geschichten einen ›Raum‹ der Kohärenz fragmentierter ›Identitäten‹, fungiert ihre im Text berichtete Filmarbeit zum einen als symbolische Repräsentation der zersplitterten Nation und zum anderen als Matrix für ihre Selbstsuche. Das Projekt dieses fiktiven Dokumentarfilms über die weltweit verstreute somalische Diaspora evoziert der Roman ohne eine neue Textebene zu eröffnen; es geht in erster Linie also nicht um den Plot, sondern um den erzählten Produktionsprozess des Films und dessen Bedeutung für die Hauptfigur. Der folgende Abschnitt fokussiert deshalb nicht eine Analyse des Filmprojekts, hingegen wird in einem ersten Schritt das mit der diasporischen Erfahrung korrelierende displacement herausgestellt und davon ausgehend abschließend die Frage erörtert, ob Madre piccola hinsichtlich des Genres eine postkoloniale Version der Road Novel darstellt. scegliessi. La domanda del nome è qualcosa a cui impariamo a rispondere subito. Io? Una doppia risposta: Domenica o Axad, come preferisci. […] Da qui a dieci anni, per tutti, sono stata Axad. Qualche volta mi mancava il nome che ha scelto mia madre. […] E forse è perché ero stanca di Axad che sono rimasta imbrigliata con Taageere: nessun somalo ha mai scelto, prima di lui, di chiamarmi Domenica.« (Ali Farah 2007, 3, 239, 128f.) Die Präferenz einer ihrer beiden Vornamen veranlasst Domenica Axad zu der Annahme, Taageere sehe in ihr vor allem ›die Europäerin‹. 23 | Die englische Übersetzung des Eröffnungsverses aus dem Somalischen lautet »Somali I am« und formt den Kehrreim des Gedichts Yamyam (1977) von Cabdulqaadir Xirsi Siyaad (cf. Ali Farah 2007, 272).

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VI.3 Passagen einer S elbst (be) schreibung und postkoloniale R oad N ovel Der Ausbruch des Bürgerkriegs 1991 ist gesellschaftspolitisch gesehen der Hauptfaktor für Flucht und Emigration aus Somalia; inzwischen lebt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung im Ausland, während die politische Realität im Land nach wie vor von einem die Religion instrumentalisierenden Fundamentalismus bestimmt wird. Armando Gnisci spricht von einer »nonnazione africana-italica infettata di caos e sparpaglio« (Gnisci 2007, 117), deren Konturen eher in der Diaspora vermessen werden. Gilt der Staat gegenwärtig als gescheitert, wird Somalia in der Erinnerung und Imagination der Menschen in der Diaspora konstruiert, insbesondere Mogadishu wird als beinahe mythischer Ort gespeichert, so Nuruddin Farah.24 Eine Rückkehr in dieses Somalia der Vorstellung scheint unmöglich, vielleicht bleibt allerdings der real in seiner Existenz bedrohte Staat eine notwendige Projektion für die global verstreute Diaspora, um ihre ›Identität‹ in einer inkonstanten Welt neu zu (er-)finden und zu verhandeln. Stuart Hall bemerkt in seinen Überlegungen zu Diasporaidentitäten, die im Exil erschaffenen Imaginationen – »a narrative of displacement« (Hall 1990, 236) – verweisen auf das Begehren, zu den »lost origins« (ibid.) zurück zu gehen. Ähnlich wie das Imaginäre bei Lacan kann diese »Rückkehr zu den Anfängen« jedoch nicht verwirklicht werden und markiert daher den Beginn des Symbolischen, der Repräsentation, eine endlose Quelle des Begehrens, der Erinnerung, des Mythos, der Suche, der Entdeckung, kurzum das Reservoir fiktiver Erzählungen (cf. ibid). ›Identität‹ kann demnach nur als ›Ausdruck eines Begehrens‹ existieren, eine Einsicht, die Bewegung zur Grundkonstituente jeglicher ›Identität‹ macht. Metaphorisch wird diese ›Aufhebung‹ der ›Identität‹ von diasporischen Konstellationen besonders klar vor Augen geführt, implizieren diese doch eine Position der Differenz hinsichtlich der alten wie auch der neuen Zugehörigkeiten und beschreiben dadurch die postmoderne Verfasstheit von ›Wurzellosigkeit‹. Als Konzept fokussiert »Diaspora« aber nicht nur die historische und individuell erlebte Kluft zwischen ›Herkunftsort‹ und

24 |  Nuruddin Farah, der bedeutende auf Englisch schreibende somalische Romancier, versammelt in seiner Reportage Yesterday, Tomorrow (2000) Interviews und Zeugenberichte über die Lebensläufe somalischer Geflüchteter, um die Erinnerung an sein Land lebendig zu halten: »Wenn ich [das Buchprojekt] nicht fallengelassen habe, liegt das an meinem Wunsch, in Somalias Anarchie eine gewisse Ordnung zu bringen, in Einklang mit der Weisheit, daß die Person, deren Geschichte erzählt worden ist, nicht stirbt. […] Es sind Berichte von einer ganzen Nation in Geiselhaft, die ein Meer von Geschichten ergeben, erzählt von Somalis in einer Übergangssituation.« (Farah 2003, 11f.)

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Wohnsitz, sondern auch die Herausforderungen des diasporischen Lebens hinsichtlich der Bedeutung politischer Organisation und Staatsangehörigkeit.25 Diese Erfahrung des Transits und der Spannung zwischen Herkunftsund Wohnorten wird in Madre piccola mehrfach inszeniert: beispielsweise in der Entfernung der Figuren von der früheren Lebenswelt in Mogadishu, dargestellt als ›Heimat‹ bzw. als ›verlorenes Objekt‹, in der Suche nach einem neuen Zuhause im Zielland oder in Zusammenhang mit Fragen der Nationalität und der Staatsbürgerschaft. Die Narration legt die Wege der somalischen Diaspora im Handlungsverlauf symbolisch noch einmal zurück und vermittelt eine Idee davon, was es bedeutet, sich ohne Ziel ins Exil zu begeben: Der Versuch, prekären Lebensumständen zu entkommen, eine bewusste Richtungsänderung, die fort von der vertrauten Umgebung führt und unvorhersehbaren Routen anderswohin folgt, ein Akt der Selbstermächtigung gegen die Resignation der Verzweiflung, »[d]esiderio così totale da strappare radici, da sfidare cicloni« (Ali Farah 2007, 15), wie eine der Figuren in Madre piccola die existenzielle Erfahrung Geflüchteter beschreibt, auf der Suche nach einer Gegenwart, die sich nicht von der Vergangenheit trennen lässt und die sie dennoch überwinden muss (cf. Gnisci 2003, 106f.; Comberiati 2011a, 121). Häufig wirken die fiktionalen Figuren erschöpft und rastlos, verdeutlicht etwa in folgender Textpassage, in der die Protagonistin Domenica Axad retrospektiv die räumliche wie innere Orientierungslosigkeit entlang der Migrationsrouten narrativ kartografiert: »Sai di quegli anni? Quello che non riesco a fare è descrivere i luoghi. Era tutto un movimento interno da una casa all’altra. Essere, potevi essere ovunque. Per me, per noi tutti, era indifferente. Ti dovevi solo abituare alle insegne diverse, i prezzi diversi e ricostruire la mappa: mappa dei legami con altri e i luoghi-snodi dove incontrarsi, dove telefonare, dove comprare, come perennemente trasportati nella bolla d’aria e dentro la bolla il nostro suono, il nostro odore. Suoni e odori così pungenti da coprire tutti gli altri. Alienandoci, vivevamo.« (Ali Farah 2007, 112)

Der Topos der Ortlosigkeit und die Identitätsthematik bilden in postkolonialen Erzählungen eine Schnittstelle: Ohne Aussicht auf Rückkehr nach Somalia entwickeln die Figuren in Madre piccola jenen »zwiespältigen Kosmopolitismus« (Clifford 1999, 504) der Diasporakulturen und nehmen Reise und Bewegung als Basis ihrer ›Identität‹ wahr, verorten ihr Zuhause also im Sinne eines dwelling-in-travel (cf. Clifford 1999) in einer Vernetzung von Reiserouten. Zugleich stellen sie die Widersprüche der globalisierten Welt emblematisch

25 | Cf. die Ausführungen zu Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola in Kapitel III dieser Studie, insbesondere III.3, »Familiäre Diskontinuitäten oder: ›[…] un familiare disagio‹«.

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heraus, denn grenzenlos steht die Welt nach wie vor nur dem ›postmodernen Westen‹ zur Verfügung, evident etwa in der Bedeutung des Reisepasses als globaler Passierschein. Während die Dublin-Verordnung der EU26 die Weiterreise von Taageeres Schwester Luul – »sbarcava a Lampedusa« (Ali Farah 2007, 132) – zu ihrem Bruder in die USA verhindert, ist es Domenica Axad mit ihrem italienischen Pass– »il mio lasciapassare per la roccaforte« (Ali Farah 133) – möglich, sich weltweit ohne Einschränkungen zu bewegen. Die Protagonistin spürt über Jahre den somalischen Flüchtlingsrouten nach, folgt den polyphonen Spuren der Diaspora und porträtiert deren heterogenen Charakter mit der Filmkamera. In London beispielsweise steht sie Shamsa zur Seite, die mit ihren Kindern der Tristesse ihrer Ehe entfliehen will, hilft ihr, wieder Freude am Leben zu finden, bevor diese nach Finnland erneut zu dem Mann zurückkehrt, den sie als einsame junge Frau nach ihrer Flucht aus Mogadishu geheiratet hatte. In den Erzählungen der Figuren wird Somalia rekonstruiert und dokumentiert, physische und psychische Merkmale genauer bestimmt (cf. Comberiati 2011a, 119; cf. Barbarulli 2012, 2). Ohne das ›verlorene Land‹ nostalgisch aufzuladen, repräsentiert der Text die weltweit verstreuten Figuren, in ihrer kritischen Loyalität Somalia gegenüber, unauflöslich verbunden. Wird die geäußerte Kritik an der erzählerisch evozierten Nation in der Krise mit Solidarität für ihre BewohnerInnen abgeschwächt, wirkt die Darstellung der diasporischen Vernetzung über globale Distanzen gänzlich unsentimental, denn Madre piccola thematisiert auch den Hass zwischen diversen Clans, Familienfehden oder Vergeltungsversuche, die beim Kollaps des somalischen Staates eine wesentliche Rolle spielten. Der Roman zeichnet die Diaspora mitunter als zerrüttet, insofern diese trennenden Haltungen fortdauern und die Beziehungen belasten.27 Problematisiert Ali Farah die Folgen ethnischer Entzweiung, stellt der 26 | Seit Januar 2014 ist in der Europäischen Union die Dublin-III-Verordnung in Kraft: »Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)«, cf. das relevante Amtsblatt der Europäischen Union: http://eur-lex.europa. eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0031:0059:DE:PDF (30.03.2017). 27 | Die Kontinuität genealogischer Bruchlinien in der Diaspora sowie der implizite Groll evozieren in Barni zuweilen ein Gefühl der Beklemmung, allein, ohne Netz oder Beziehungsgefüge zu bleiben: »Tutti sapevano chi era chi, pur fingendo di non curarsene, segnavano a mente i nomi nel libro del bene e del male, costruivano trame e fili lanciando sentenze dai buchi più remoti di mondo e tu singolo restavi solo con quella paura di rimanere un filo sospeso, senza appigli, senza reti« (Ali Farah 2007, 174). Barni berichtet auch davon, wie die Verwandtschaftsbeziehungen in der Diaspora Einfluss auf den Besuch von Restaurants oder Geschäften nehmen: »Due ristoranti somali nello

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Text mehr noch das solidarische Handeln somalischer Geflüchteter in der Diaspora heraus. Barni etwa nimmt sich ohne Zögern des ihr völlig unbekannten Maxamed X an, der mit schweren Verbrennungen unter Polizeiwache in das Krankenhaus gebracht wird, wo sie als Hebamme arbeitet. Wird Maxamed X von den italienischen Behörden wegen terroristischer Aktivitäten verdächtigt, entdeckt Barni, dass seine Brandverletzungen mit dem Rettungsversuch einer traumatisierten jungen somalischen Frau aus einem brennenden Autowrack zusammenhängen, in dem diese kurz zuvor ein Baby entbunden hat; im Glauben, Mutter und Kind wären in den Flammen gefangen, zog sich Maxamed X seine Verletzungen zu. Indem Barni ihren Landsmann mit Geschichtenerzählen und Vorsingen auf Somali spontan tröstet, »ho a cuore il mio paese« (Ali Farah 2007, 19), fiktionalisiert die Episode jene Solidarität, die in Situationen des displacement neue kulturelle und soziale ›Räume‹ schaffen kann (cf. ­Ga­­gi­ano 2015, 189ff.). Im Präludium von Madre piccola suggerieren die einleitenden Verse, »Soomaali baan ahay, come la mia metà che è intera. […] Sono una traccia in quel groviglio e il mio principio appartiene a quello multiplo« (Ali Farah 2007, 1), ein Konzept von ›Zuhause‹, das immer weniger an geografische Orte gebunden scheint, sich stattdessen vielmehr über geografisch mitunter weit entfernte emotionale Beziehungen definiert (cf. Comberiati 2011a, 120). Die Protagonistin Domenica Axad bestätigt diesen relationalen Identitätsbegriff, indem sie eine Position der Selbstbestimmung bei simultaner Identifikation mit der Diaspora ausbildet. Diese Auffassung tendiert zu der von Édouard Glissant entfalteten Sicht von ›Identität‹ als einem Rhizom, einem Wurzelgeflecht. In dieser Konzeption ist die Vernetzung in der Begegnung mit anderen zentral (cf. Glissant 2005, 19ff.).28 Domenica Axad verkörpert metaphorisch einen sich stesso quartiere, nella stessa via, con la stessa bandiera, con quasi lo stesso nome. La differenza è solo in chi lo frequenta. Un ristorante per noi, un ristorante per loro. Genealogie. Un negozio per noi, un negozio per loro. Parentele […].« (Ali Farah 2007, 163) 28 | Mit seinem Identitätskonzept bezieht sich Édouard Glissant (2005) auf eine bereits von Deleuze und Guattari getroffene Unterscheidung: zwischen einem Begriff von ›Identität‹, »die aus einer einzigen Wurzel erwächst« (Glissant 2005, 39), und ›Identität‹ aus einem »Wurzelgeflecht, einem Rhizom« (ibid.). Hinsichtlich Funktionsweisen des Denkens argumentieren Deleuze und Guattari, ein Denken der Wurzel »tötet in ihrer Umgebung ab« (ibid.), während sich das Wurzelgeflecht »in der Begegnung mit anderen vernetzt« (ibid.). Glissant unterscheidet »alteingesessene« von »komplexen« Kulturen: Erstere beziehen sich auf einen Ursprungsmythos und eine ›Stammlinie‹, um »in einem Land eine Legitimität zu errichten, womit es zum Territorium wird« (Glissant 2005, 39). Manche Gemeinschaften betrachten das »zum Territorium gewordene Land als absoluten Besitz« (Glissant 2005, 42). Bei Ausweitung der Legitimität sieht es die Gemeinschaft »als ihr Recht [an], das Gebiet dieses Territoriums zu vergrößern« (ibid.). Dies bildete die Grundlage für die koloniale Expansion (cf. ibid.). In den alteingesessenen

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ausdehnenden Faden im diasporischen Netz, »[s]ono il filo sottile, così sottile che si infila e si tende, prolungandosi« (Ali Farah 2007, 1), eine Spur des topologischen ›Raumes‹, und durchquert als solche die Landschaft, die im Gefüge der Beziehungen von einer Kulisse zu einer Figur wird. Indem die Protagonistin die fingierten mündlichen Erzählungen der DiasporabewohnerInnen mit ihrer Videokamera festhält, verfasst sie sozusagen einen Text in Form eines Dokumentarfilms. In der audiovisuellen Erzähltechnik erblickt sie einen Weg symbolischer ›Realitäts(be)schreibung‹ über die Begrenztheit des geschriebenen Wortes hinaus (cf. Luraschi 2009, 18f.): »Ecco, i luoghi. Raccontarli è così difficile. Ma con la telecamera forse puoi addomesticare quegli odori e quei suoni avvolgenti.« (Ali Farah 2007, 113) Kommentiert eine Nebenfigur in Madre piccola die somalische Diaspora mit den Worten: »Australia, Canada, Svezia, Olanda, Kenya, Italia. Questi sono i paesi in cui c’è la mia gente dispersa, la gente del Corno d’Africa, l’unica nazione anarchica dei cinque continenti […]« (Ali Farah 2007, 189), werden in der permanenten Migration der BewohnerInnen diasporischer Räume die endlosen Aushandlungsprozesse kultureller ›Identität‹ besonders sichtbar, lässt sich ›Identität‹ doch als ein Effekt gesellschaftlicher Diskurse erfassen und ist dadurch immer auch kulturell geprägt. Indem sich Individuen in andere Räume bewegen, konstruiert sich ihre ›Identität‹ in Relation zu den veränderten sozialen und kulturellen Kontexten – räumliche Bewegung bewirkt somit eine Identitätstransformation, ein Sujet, das insbesondere die Romane Il latte è buono, Timira und Oltre Babilonia ebenfalls reflektieren und variieren. Letztendlich dreht die Protagonistin in Madre piccola einen Film über die weltweit verstreuten Figuren und deren Imaginationen und Erinnerungen an Somalia, zugleich eine Art Selbstporträt, fügt sie doch die Bruchstücke ihrer eigenen ›Identität‹ zusammen.29 Vernetzt sie sich als Dokumentarfilmerin über die Verknüpfung Kulturen entsteht ein Identitätsverständnis basierend auf Ursprungsmythos, Legitimität und ›Stammlinie‹; die zugrunde liegende einzige Wurzel grenzt andere von der Teilhabe aus. Komplexe Kulturen verzichten hingegen auf Ursprungsmythen und entwickeln eine »Auffassung von der Identität um die Verbindungslinien der weltweiten Beziehung, die den Anderen als Bezug einschließen« (Glissant 2005, 43). 29 | Wie Regina di fiori e di perle (cf. Kap. II) und Oltre Babilonia (cf. Kap. VII) reflektiert auch Madre piccola den Zusammenhang zwischen der Konstitution von Subjektivität und Textproduktion. Die Vorstellung eines autonomen Subjekts wird in der poststrukturalistischen Theorie von einem Subjektverständnis abgelöst, welches die Ausbildung von Subjektivität untrennbar an die Sprache bindet. Derrida zufolge kann sich »das Ich seiner selbst nicht gewiss [sein] und sich demzufolge unmöglich nach einem realen Vorbild darstellen« (Gronemann 2002, 18, in Anlehnung an Derrida 1999). Die nachträg­ liche Repräsentation eines dem Text vorgängigen Ichs erscheint also nicht möglich, vielmehr konstituiert sich das Selbst erst im Akt des Schreibens (cf. Gronemann 2002, 19).

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von Handlungsfäden respektive die Vertextung von Erzählsplittern mit der Diaspora, verarbeitet sie nach und nach ihren Selbstverlust, da ihre Filmarbeit zugleich als fragmentarische Selbst(be)schreibung fungiert. Erst nachdem Domenica Axad »die Fäden wieder zu verknoten« vermag, so die den Roman durchziehende Metapher – die Spuren ihrer eigenen transkulturellen ›Identität‹ und jene der Diaspora –, ist sie in der Lage, das prekäre Gleichgewicht ihres Zwischenstatus anzunehmen, sich als postkoloniales Subjekt zu konstituieren und sich in der Verflechtung zwischen den Narben der Vergangenheit und den Hoffnungen der Gegenwart ›zuhause‹ zu fühlen. Abschließend möchte ich auf den Aspekt des fiktiven Dokumentarfilmprojekts über somalische Geflüchtete zurückkommen, das Domenica Axad zunächst quer durch Europa und schließlich ›westwärts‹ nach Nordamerika führt. Unterwegssein und Welterkundung, allein, während die Familie zuhause bleibt, scheint bislang allgemein und insbesondere in Literatur und Kino ein traditionell ›männlicher‹ Topos zu sein, der sich von der Odyssee über Marco Polo bis zum Western und dem Roadmovie erstreckt (cf. Mazierska/Rascaroli 2006, 121). Ausgehend von ähnlichen Genremerkmalen, allen voran der im Roadmovie typischen Verknüpfung von Identitätssuche mit räumlicher Bewegung, möchte ich einige Parallelen und auch Verschiebungen in Madre piccola aufzeigen sowie der Frage nachgehen, ob der Roman eine postkoloniale Road Novel darstellt. Die im Text erzählte Produktion eines Dokumentarfilms über die global verstreute somalische Diaspora akzentuiert Mobilität bzw. die Aktivität des Reisens und steht in Opposition zur Sesshaftigkeit. Wie »Exil« und »Diaspora« bezeichnet »Nomadismus« häufig eine allgemeine »poetics of displacement« (Mazierska/Rascaroli 2006, 112), die überwiegend als positiv und befreiend beschrieben wird und weniger als ein Produkt spezifischer anthropologischer und historischer Bedingungen.30 Mitunter zu einem Inbegriff ›postmoderner Subjektivität‹ geworden, allen voran in den Ansätzen von Gilles Deleuze und Félix Guattari, beschreibt »Nomadismus« eine historisch nicht verankerte Subjektivität – ›Deterritorialisierung‹ als Widerstandsform. Im Kontext zeitgenössischer westlicher Gesellschaften gilt es demnach als ›nomadisch‹, den einengenden, normativen Strukturen Widerstand zu leisten und alternative Lebensstile zu erproben (cf. Deleuze/Guattari 1986 zit. in Mazierska/Rascaroli 2006, 111). Das Spannungsverhältnis zwischen Sesshaftigkeit und Nomadismus, zwischen Häuslichkeit und (›männlicher‹) Freiheit bildet auch den Kern von Road30 | Die Begriffe »Diaspora«, »Exil« und »Nomadismus« werden in theoretischen und politischen Diskursen seit den 1980er Jahren vielfach verwendet, dabei mit metaphorischen Bedeutungen aufgeladen und z.T. romantisiert. Zu beachten ist, dass der Rückgriff auf Metaphern der Wüste oder ›des Nomaden‹ nicht getrennt von orientalistischen Tropen betrachtet werden kann, worauf Mazierska und Rascaroli (2006, 112) hinweisen.

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movies. Für die männlichen Protagonisten besteht die Möglichkeit, zugunsten eines ungebundenen Lebens unterwegs die Sicherheit ihres ehelichen, bürgerlichen Lebens aufzugeben; dahinter steht der Wunsch, anderswo zu sein, die Erfahrung eines Hauchs von Abenteuer, und parallel das Ausgleich schaffende Familienleben zu erhalten, so Ewa Mazierska und Laura Rascaroli (2006, 123) in ihren Ausführungen zum Roadmovie, auf die ich mich hier beziehe. Die Filmwissenschaftlerinnen weisen darauf hin, dass »the road movie is a direct descendant of the western« (Mazierska/Rascaroli 2006, 121); Merkmale beider Genres, allen voran der einsame männliche Held, der Heim und Familie zurücklässt, um auf seinen Reisen das große Glück zu machen, dabei vor allem aber die Freiheit der Bewegung erfährt, finden sich auch in Madre piccola und zwar geschlechtsneutral. Während die im Western konstruierten Grenzräume oder die in den Roadmovies Hollywoods dargestellten Highways und Straßen vorwiegend maskulin aufgeladenen Räumen der großen Weite entsprechen, markieren die erzählten Routen und Transitorte in Madre piccola zumeist Passagen in einen eher feminin aufgeladenen ›Raum‹ der Selbstbestimmung und der Freiheit. Der in sesshaften Gesellschaften traditionell ›den Frauen‹ zugewiesene ›Raum‹ wie Heim und Familie, Maternität und Intimität scheint in der Ungewissheit der Fremde jenen Halt zu geben, den männliche Individuen außerhalb fester gesellschaftlicher Strukturen häufig zu verlieren drohen, so bemerkt in Madre piccola etwa die Figur Barni zu den Geschlechterrollen in der Diaspora: »In fondo per noi donne è molto più semplice, non è forse vero che facciamo la stessa vita ovunque ci troviamo? Non continuiamo forse a occuparci, a prenderci cura di qualcuno? Gli uomini si sentono inutili, […] e non occupano più il luogo delle decisioni.« (Ali Farah 2007, 264) Interessanterweise scheinen die weiblichen Protagonistinnen in der diasporischen Situation einen Raum der Selbstbestimmung zu finden, während sich die männlichen Charaktere oft nur schwer zurechtfinden und zwischen unzähligen Orten der Migration umherirren. Insbesondere die Figur Taageere ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, gegenwärtige und vergangene Familienkonstellationen simultan zu bewältigen – in Gestalt seines ersten Sohnes, den er nie kennenlernte, und eines noch ungeborenen Kindes – und verkörpert symbolisch diese Herausforderung, »[s]toria complessa e sventurata« (Ali Farah 2007, 217), so sein resignierender Erzählerkommentar, denn »[m]ia moglie Shukri era in Kenya mentre io vivevo a Roma, ed è arrivata appena io ho lasciato il paese. Ora Shukri e Domenica vivono là, insieme al mio bambino di nove anni e a quello che deve nascere« (ibid.; cf. Comberiati 2011a, 118f.). Im Unterschied zum traditionellen Western und zu vielen Roadmovies, in denen die Frau (als Ehefrau, vor allem aber als Mutter der Kinder des Helden) den Protagonisten von seinen teils gefährlichen, wenn auch finanziell einträglichen Touren abbringt und ihn dazu bewegt, nach Hause, in die Sesshaftigkeit des häuslichen und sozialen Lebens, zur Arbeit und vor allem in seine Vaterrolle zurückzukehren, überlässt

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Domenica Axad ihrem Ehemann die Entscheidung, mit ihr und dem gemeinsamen Sohn in Italien zu leben: »Mio marito Taageere forse ci raggiun­gerà, forse no. Non me ne preoccupo, desidero che sia lui a determinare il suo futuro.« (Ali Farah 2007, 257) Madre piccola entwirft somit Familienkonzepte, die unter den Aspekten des Miteinanders und der Fürsorge Familie als Solidargemeinschaft verstehen und eine Vaterfigur nicht unbedingt vorsehen. Als Domenica Axad und Barni nach ihrer diasporischen Wanderschaft in Rom wieder aufeinander treffen, entscheiden sie sich, eine Wahlfamilie zu gründen, gewissermaßen Domenica Axads Mutterschaft zu teilen, denn Barni wird nach einer somalischen Tradition die habaryar, die »madre piccola« des Buchtitels, eine Art mütterliche Tante des Neugeborenen sein. Die Diasporasituation ermöglicht somit einen vom gesellschaftlichen Mainstream divergierenden Lebensstil und hat als deterritorialisierte Widerstandsform mehr mit einer nomadischen als einer sesshaften Existenz gemeinsam. Der Text thematisiert also die Verschiebung von Positionen und zeigt, dass eine nomadische Lebensweise oder Bewegung außerhalb fester gesellschaftlicher Normen die Schaffung eines ›Raumes‹ der Selbstbestimmung für Frauen begünstigen kann. Was die Frage des literarischen Genres betrifft, gestaltet Madre piccola spezifische Elemente des Roadmovies respektive der Road Novel, allen voran inhaltliche Aspekte wie die Suche nach ›Identität‹ über Bewegung, Konzepte von Familie und ›Zuhause‹ jenseits bürgerlicher Modelle und Normen westlicher Gesellschaften sowie die Sehnsucht nach Freiheit. Sprechen die genannten Genremerkmale dafür, den Roman von Cristina Ubax Ali Farah als postkoloniale Road Novel zu beschreiben, wird darüber hinaus der klassisch ›männliche‹ Topos von Bewegung und Welterfahrung außerhalb traditioneller Familienstrukturen um jene Genderaspekte erweitert, welche die stabilisierende Rolle von Frauen in einer instabilen Situation der Dezentrierung wie der Diaspora akzentuieren. Wie im Verlauf dieser Romananalyse dargelegt, funktioniert räumliche Bewegung für die Protagonistin Domenica Axad als Selbstfindungsprozess, als Reise zu sich selbst. Die dabei entwickelte Auffassung von ›Identität‹, »die den Anderen als Bezug einschließ[t]« (Glissant 2005, 43), befähigt sie, sich in der Begegnung mit anderen neu zu vernetzen. Das Grundvertrauen in der Begegnung der weiblichen Charaktere sowie ihre Persönlichkeit manifestieren sich weniger in eklatanten Handlungen als vielmehr in stillen, menschlichen Erfahrungen. Die Figuren situieren ihr ›Zuhause‹ in der Bewegung und konzeptualisieren ihre Selbstverortung in einem von emotionalen Beziehungsnetzen bestimmten ›Raum‹ der Relationen. Nach Jahren der Selbstsuche und ausgedehnter Reisen entlang der somalischen Diasporarouten vermag sich Domenica Axad zu öffnen und ihrer Mutter wieder zu begegnen, auch beschließt sie, ihr eigenes Kind in Italien, im Land ihrer Mutter, zur Welt zu bringen: »[…] voglio che questo figlio nasca qui, terra mia madre di cui conosco risvolti della memoria, segreti della parola« (Ali Farah

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2007, 135). Aus all den Verflechtungen im Leben der Hauptfiguren ist der Zusammenhang, dass Domenica Axad von Taageere ein Kind erwartet und Barni von Beruf Hebamme ist, besonders relevant. Die Geburt von Taariikh – auf Somali »Geschichte« – webt dem gemeinsamen Geflecht aus Geschichten einen weiteren Handlungsfaden ein, als ob sozusagen seine Geburt einen neuen Knoten des relationalen ›Raumes‹ der Beziehungen oder anders gesagt einen Wendepunkt des Plots im Netz aus Erzählungen darstellt (cf. Gazzoni 2013, 228). Ähnlich einer Geschichte laufen in Taariikh metaphorisch viele (Handlungs-)Fäden zusammen, die sich in alle Richtungen ausdehnen und dabei die von historischen Entwicklungen, Einsamkeit und Verlusttraumata gezogenen Grenzen überschreiten. Prägt Barni als ›Geburtshelferin‹ den Lebensbeginn von Taariikh, spiegelt sich darin Domenica Axads Geschichte, deren Anfang und Werden untrennbar mit Barnis Gegenwart verbunden ist, »la mia metà che è intera. […] Sono una traccia in quel groviglio e il mio principio appartiene a quello multiplo. Il mio principio è Barni […].« (Ali Farah 2007, 1) Mit der Geburt ihres Sohnes scheint sich für Domenica Axad die mit ihrer Melancholie verbundene Leerstelle zu schließen: Verweist die Wahl des Namens ihres Vaters auf die Erneuerung ihrer eigenen Geschichte – Taariikh, »perché la storia si rinnovi« (Ali Farah 2007, 257) –, ermöglicht wiederum die Anwesenheit von Barni den Anfang dieser neuen Geschichte. In ihrer mitteilsamen Erzählung in Präsenz eines ›Du‹ überwindet Domenica Axad ihren melancholischen Ichverlust und verwebt sich als handelnde Figur gleichzeitig mit dem ›Raum‹ diasporischer Relationen und Erzählungen.

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VII. Figuration eines Farbverlusts. Oltre Babilonia von Igiaba Scego als Überlebenserzählung zwischen Italien, Somalia und Argentinien

»Dieser Ort, der die Intimität herstellt, ist gewisserma­ ßen eine Verwandlung von Erde in Himmel, hier und jetzt. Unter der Bedingung, daß sie sich erinnert? Alchimistin des Sexuellen, die versucht, es der Repetition, der Degradierung zu entziehen, es zu bewahren und zu sublimieren. Zwischen. Im Zwischenraum der Zeit(en). Den Schleier der Zeit webend, das Gewebe der Zeit; die Zeit mit dem Raum, die Zeit im Raum verwebend. Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Zukunft und Vergangenheit, Ort im Ort. Unsichtbar.« L uce I rigaray, D er O rt, der Zwischenraum (2006, 256)

Widmet sich Igiaba Scego in ihrer jüngsten Schaffensphase verstärkt postkolonialen Themen, entstanden neben dem Roman Oltre Babilonia (2008) die autobiografische Erzählsammlung La mia casa è dove sono (2010), die mit dem Fotografen Rino Bianchi gestaltete literarische Stadterkundung Roma negata. Percorsi postcoloniali nella città (2014) sowie der aktuelle Roman Adua (2015). Im hier fokussierten Text Oltre Babilonia (2008) inszeniert die Schriftstellerin die Geschichte einer global verstreuten Familienkonstellation über mehrere Generationen, in der sich historische, politische und soziale Entwicklungen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts spiegeln. Akzentuieren die erzählten Erinnerungen und Lebensgeschichten der Hauptfiguren die seit der imperialistischen Expansion und der historischen Emigration großer Teile der italienischen Bevölkerung in die ›Neue Welt‹ existierenden Verflechtungen zwischen Italien, Somalia und Argentinien, thematisiert die Romanhandlung neben diversen Episoden der Kolonialvergangenheit, der Postunabhängigkeit Somalias

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und der argentinischen Militärdiktatur vor allem individuelle Exilerfahrungen sowie soziale und politische Ungleichheiten im zeitgenössischen Italien. In den Erzählungen der von den historischen Umständen zerstreuten Figuren ergeben sich als thematische Konstanten die Aufarbeitung persönlicher Traumata und, vor dem Hintergrund rassistischer, sozialer und sexueller Diskriminierung, Prozesse des Aushandelns transkultureller ›Identität‹ in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft. Insofern der Aufbau der story einer sich allmählich entrollenden Handlungsstruktur rund um eine Reise nach Tunis in der Erzählgegenwart im Jahr 2006 folgt, ist die Lektüre auf Erkundung und Enthüllung gelenkt. Wie die bereits untersuchten Romane Regina di fiori e di perle und Madre piccola setzt sich auch Oltre Babilonia aus mehreren, von wechselnden Standpunkten berichteten Geschichten zusammen. Verknotet die multiperspektivische Erzählstruktur insgesamt fünf Stimmen miteinander, wird der aus Prolog und Epilog bestehende Erzählrahmen von der zentralen Figur Zuhra Laamane vermittelt; dadurch verknüpft sie die Fäden der Handlung, die neben Zuhra selber von ihrer Halbschwester Mar, beider Vater Elias und ihren Müttern, Maryam und Miranda, alternierend erzählt wird. Zuhra und Mar leben, ohne sich jedoch zu kennen, beide in Rom und sind Teil der so bezeichneten ›zweiten Generation‹, während ihre Mütter und ihr Vater figural und erzählperspektivisch die Generation der Eltern repräsentieren. Diese komplexe Figurenkon­ stellation rekonstruiert die Erinnerungsfragmente der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit und verwebt diese narrativ mit der Familiengeschichte, die sich an den Schauplätzen Rom, Tunis, Buenos Aires und in verschiedenen Städten Somalias wie Mogadishu und Afgoi verortet. Da Oltre Babilonia weniger die historischen Ereignisse als vielmehr die traumatischen Auswirkungen der Kolonialgeschichte auf die Individuen und ihre Körper thematisiert, nimmt die folgende Romananalyse in erster Linie die einzelnen Charaktere in den Blick. Die Identitätssuche der Figuren weist zugleich einen selbstreflexiven Aspekt auf, insofern sie auch als Suche nach einem geeigneten Vertextungsverfahren inszeniert wird. Die über Notizen, Tonbandaufnahmen und Briefe einzelner Erzählstimmen vermittelte Rekonstruktion von Familiengedächtnis sowie deren formale Gestaltung stehen im ersten Teil meiner Untersuchung im Zentrum des Interesses. Enthüllt die Elterngeneration in ihren Erzählfragmenten bislang verborgene Familiengeheimnisse und bringt sozusagen ihre eigene Vergangenheit zur Sprache, gibt sie diese Erinnerungen an die Töchter weiter und begründet damit einen intergenerativen Dialog. Thematisiert Oltre Babilonia insbesondere die Auswirkungen der in kolonialer und postkolonialer Ära der somalischen Bevölkerung zugefügten Traumata auf die Mutter-Tochter-Beziehungen, werden im Verlauf der Roman­ analyse die Folgen jener historischen Traumata für das Leben der weiblichen Figuren und ihre Versuche einer Aufarbeitung ebenfalls beleuchtet. Schließlich wird der Fokus auf die Identitätskonstruktion der jungen Protagonist­innen

Igiaba Scego – Oltre Babilonia

gelegt, primär auf die Figur Zuhra, die den Zusammenhang zwischen Körper, Sexualität, Sprache und Subjektivität auslotet und dabei Wege ›über Babylon hinaus‹ in neue Räume der Hoffnung zu öffnen vermag.

VII.1 M ontage einer F amiliengeschichte in F r agmenten Oltre Babilonia akzentuiert die Erinnerungsdimension des Erzählens und spannt von der Zeitebene des Jahres 2006 ausgehend den Bogen bis in die Epoche des italienischen Kolonialismus in Somalia, der Postunabhängigkeit und des beginnenden somalischen Bürgerkriegs sowie der Militärdiktatur in Argentinien. Der Plot entfaltet sich in Erzählfragmenten der vage miteinander verbundenen Lebensgeschichten der fünf ProtagonistInnen, die in jedem Kapitel der Reihe nach auftreten und den je individuellen Fokus der einzelnen Abschnitte herausstellen. Entsprechend der Titel der jeweiligen Kapitelabschnitte charakterisieren sich die weiblichen Figuren über ›Beinamen‹: Zuhra, la Negropolitana, repräsentiert die schwarze Metropolenbewohnerin, die sich in unterschiedlichsten sozialen Räumen bewegt; durch die Akzentuierung ihrer Hautfarbe lädt sie eine kolonialistische, rassistische Bezeichnung neu auf. Ihre Mutter Maryam Laamane wird als Pessottimista beschrieben. Mar arbeitet an ihrer Doktorarbeit und wird Nus-Nus genannt, was auf Somali in etwa »mezzamezza« bedeutet. Miranda, ihre Mutter, eine Dichterin, verkörpert als Überlebende des Terrorregimes in Argentinien die Reaparecida. Diese Charakterisierungen der weiblichen Erzählstimmen unterstreichen durch ihre Wortfusionen die hybride Erzählstruktur des Romans. Die einzige männliche Erzählerfigur, der Vater Elias, il padre, berichtet die Geschichte einer kolonialen Vergewaltigung und schließt jedes der acht Kapitel ab (cf. Kleinert 2011/12, 207f.). Die LeserInnen erfahren durch die Erzählung der Elternfiguren von der familiären Konstellation. Während Maryam und Miranda seit vielen Jahren im italienischen Exil in Rom leben, kehrte Elias nach Somalia zurück und hinterließ eine Leerstelle insbesondere im Leben seiner einander unbekannten Töchter, die so gut wie nichts über ihren Vater und die Traumata, welche die Kolonialgeschichte seinen Eltern einst zugefügt hat, wissen. Die drei Generationen stellen verschiedene Momente der verwobenen Geschichte zwischen Italien und Somalia dar: Die Großeltern väterlicherseits stehen symbolisch für den Kolonialismus der 1930er Jahre, Maryam und Elias repräsentieren die Generation der Postunabhängigkeit und der Panafrikanismusbewegung sowie der Desillusionierung angesichts der Barre-Diktatur und des Bürgerkriegs; als Teil der so genannten ›zweiten Generation‹ begegnen Zuhra und Mar hingegen der Herausforderung, von der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Susanne Kleinert zufolge hängt die Betonung des Erinnerns mit der inszenierten Figurenkonstellation des Romans zusammen, wird doch zugleich

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Kolonial- und Familiengedächtnis aufgearbeitet (cf. Kleinert 2013, 212). Der Familiengeschichte geht ein koloniales Gewaltverbrechen voraus: Die Eltern von Elias, Famey und Majid, wurden mit 16 Jahren Opfer einer brutalen Mehrfachvergewaltigung italienischer und deutscher faschistischer Soldaten. Die erzählerische Rekonstruktion der Vergangenheit nimmt in Oltre Babilonia ihren Ausgang von diesem traumatischen Ereignis und stellt gleichzeitig einen Versuch dar, das innerhalb der Familie herrschende Schweigen zu brechen. Wie im Verlauf dieser Romananalyse herausgearbeitet wird, ist diese in der kolonialfaschistischen Vergangenheit in Somalia verortete Episode für die sich langsam auflösende Handlungsentwicklung zentral, denn die Folgen der Vergewaltigung der Großeltern – Verlust der sexuellen Lust, der Kommunikation, des Selbstwertgefühls – werden zu einem kommunikativen und affektiven Hemmnis für die darauffolgenden Generationen. Elias verlässt seine geliebte Frau und Tochter und wiederholt so den Kommunikationsverlust, der schon das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater gekennzeichnet hat. Das Familiensystem erscheint geprägt von Trennungen und Schweigen, werden die Traumata doch von einer Generation an die nächste durch das Schweigen darüber weitergegeben und verdrängt. Die unterbrochene Kommunikation wirkt sich somit auf die Identitätskonstruktion der Enkelgeneration aus (cf. Kleinert 2011/12, 207f., 211). Da die Eltern bislang nicht über die Familientraumata zu sprechen vermochten, haben die Halbschwestern Zuhra und Mar nahezu keinen Zugriff auf die unterdrückten Geschichten, die sie geprägt haben; das Familiengedächtnis bleibt angesichts der abwesenden Erinnerungen für die Figuren somit nicht oder nur eingeschränkt abruf bar. Tatjana Babic Williams spricht in diesem Kontext von einer »doubly absent memory« (Babic Williams 2013, 114), wurde die koloniale Begegnung zwischen Somalia und Italien, die vor allem Zuhras Familiengeschichte grundlegend bestimmte, auch aus dem kollektiven Gedächtnis Italiens verdrängt, vergessen oder mit nostalgischen Kolonialmythen beschönigt. Im metafiktionalen Prolog reflektiert Zuhra, inzwischen Ende Zwanzig, im Rahmen einer Psychotherapie ihr persönliches Vergewaltigungstrauma: Im Alter von acht Jahren kam sie in ein italienisches Internat, wo sie vom Hausmeister über Jahre sexuell missbraucht wurde. Die Beziehung zwischen beiden Vergewaltigungstraumata stellt eine symbolische Verbindung zwischen dem italienischen Kolonialismus und den Versuchen einer Aufar­ beitung her. Formalästhetisch erzeugen die Bezüge auf die koloniale und postkoloniale Geschichte mitunter den Effekt einer Spiegelung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.1 Der Wunsch zu erzählen und damit einherge1 | Wie schon Eva Hausbacher in ihrer Studie zu einer Poetik der Migration (2009) aufgezeigt hat, spielt die Kategorie der Duplizität in Form der erzählerischen Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart vermittels Analepsen, der Verschränkung verschie-

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hend die Aufarbeitung von Trauma bildet den Ausgangspunkt der komplexen Handlung in Oltre Babilonia und verbindet Zuhra mit den anderen Charakteren. Der Zusammenhang zwischen Trauma und Erzählen der eigenen Geschichte ist in der Tat das allen Figuren gemeinsame Muster: »Everyone in the novel has a story to tell and a wound to heal.« (Gazzoni 2013, 229) Dabei gestaltet sich das figurale Erzählen überwiegend medial vermittelt, über auf Tonband aufgenommenes fingiertes mündliches Erzählen oder fiktional inszeniertes Schreiben. Zuhra verspürt eine Notwendigkeit zu schreiben und hofft, sich dadurch mit ihrem vergewaltigten Körper zu versöhnen. Hingegen überwindet Maryam durch das Besprechen von Kassetten ihren Schmerz sowie ihre Schuldgefühle und schafft damit die psychischen Voraussetzungen, um zu ihrer Tochter wieder eine emotionale Verbindung aufzubauen. Ihre Alkoholabhängigkeit nach der Trennung von ihrem Mann veranlasste Maryam einst, Zuhra in jenes Internat zu geben, wo sie missbraucht wurde. Auch Elias zeichnet seine für Zuhra festgehaltenen Erzählungen auf Band auf. Hingegen notiert Miranda ihre an Mar adressierten Erinnerungen in Form eines Tagebuchs. Allein die Geschichte von Mar wird dem/der LeserIn in erzählter und teils erlebter Rede geschildert. Insofern die Erzählungen der Elternfiguren gleichzeitig die Geschichten ihrer Familien und Somalias bzw. Argentiniens fragmentarisch rekonstruieren, fungieren ihre Stimmen als das fehlende und verbindende Element zwischen der Großelterngeneration der kolonialen Vergangenheit und der jungen Generation der Töchter im postkolonialen Italien der Gegenwart (cf.  Babic Williams 2013, 114f.). Die elterlichen Erzählstimmen montieren also die Fragmente der bislang unausgesprochenen, verdrängten, unterdrückten oder vergessenen Geschichten, die Zuhra und Mar tiefgehend prägten und für sie dennoch unzugänglich blieben, in die Erzählung. Narratologisch spiegelt sich diese Tradierung von Geschichte(n) beispielsweise in Zeitpunkt und Ort des Erzählens, in der Zeitstruktur des Textes und der Perspektivierung (cf. Martínez/Scheffel 2012, 34ff.): Während Zuhra das Geschehen vorwiegend über gleichzeitiges Erzählen vermittelt, berichten die Eltern primär von einem späteren Zeitpunkt die mehrere Generationen überdauernden transkontinentalen Familiengeschichten. Maryams Erzählung etwa gestaltet sich als nicht linear, als abschweifend oder assoziativ und verweist gerade durch die anachronische Zeitstruktur auf das mündliche Erzählen: »La registrazione di Maryam vagava per vie traverse. Era così quando si cominciava a raccontare una storia dal mezzo, tutto poteva sembrare lecito. Andare avanti, tornare indietro, fermarsi, dener Orte oder figuraler Verdoppelungen in postkolonialen Texten eine wesentliche Rolle: Auch in der erzählten Welt von Oltre Babilonia gibt es zwei junge Frauen, die nicht wissen, dass sie Schwestern sind, zwei Mutterfiguren, die von zwei Exilerfahrungen berichten, zwei Diktaturen, zwei Vergewaltigungstraumata etc.

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perdersi.« (Scego 2008, 106) Elias entscheidet sich, seine Familiengeschichte in der dritten Person zu schildern, worauf er metanarrativ anspielt: »[…] ti racconterò tutto come se non fosse la mia storia, ma come se ti raccontassi la storia di un altro. In terza persona. Sentiremo meno dolore. O almeno mi illudo.« (Scego 2008, 63) Wie die Textzitate darlegen, entrollen also weder Maryam noch Elias ihre Geschichten durchgehend in der ersten Person, werden ihre Erzählungen doch überwiegend von einer heterodiegetischen Erzählerfigur vermittelt, im Unterschied zu Miranda und Zuhra, die stets als homodiegetische Erzählinstanzen an der Handlung beteiligt sind. Angesichts dieser Kombination von erster und dritter Person innerhalb der einzelnen Handlungsfäden des Romans wechseln externe, interne und Nullfokalisierung, die Erzählperspektive variiert formal gesehen stark und »[d]ies führt zu einem Grad an narrativer Komplexität, der den literarischen Charakter des Textes unterstreicht« (Kleinert 2013, 212). Die direkte Figurenrede wird häufig durch eine Innensicht ergänzt, so gehen, wie in folgendem Textauszug, teilweise Figurenrede und innerer Monolog ineinander über: »›Ti posso lavare i capelli, abbayo?‹ ›Abbaio?‹ chiese Mar sorpresa […]. ›Abbayo significa sorella. È somalo. La lingua di tuo padre. Mi ha detto Miranda che tuo padre era somalo, come mia madre‹. […] Abbayo? Evidentemente i cani non c’entravano nulla. Quella era la voce delicata di Zuhra Laamane, quella strana ragazza che sentiva già parte del suo stomaco. Le stava molto simpatica, Zuhra Laamane. [...] ›I capelli?‹ chiese. ›Ma …‹. ›È che così, abbayo, sembri un manichino, non sembri vera‹. […] Per i black non abbastanza scura. Per i white non abbastanza chiara. Parlo come Zuhra Laamane. Sono scorretta. Sto ammonticchiando parole. Proprio come Zuhra Laamane. A furia di stare con lei, sto prendendo i suoi toni. Lei mi vuole lavare i capelli, sai mamma? Perché abbayo, lo so, mi vuole bene. Si dice così no? Abbayo … mi piace questa parola, sento che ci unisce […].« (Scego 2008, 385f., 389)

In ihrem kursiv gesetzten inneren Monolog nimmt Mar das vorangegangene Gespräch mit Zuhra wieder auf. Der Gebrauch der somalischen Sprache interagiert mit dem Italienischen und die dadurch ausgelösten Missverständnisse machen eine metalinguistische Parenthese notwendig (cf. Negro 2015, 159). Wie das Textzitat veranschaulicht, zeichnet sich Oltre Babilonia, wie auch die anderen im Rahmen dieser Studie analysierten Romane, durch sprachliche Hybridisierung aus, insofern zahlreiche somalische und andere fremdsprachige Lexeme in den italienischen Textkörper eingefügt sind. Somali ist in Oltre Babilonia in erster Linie an die Figuren Maryam und Elias gebunden. Zuhra benutzt die Sprache ihrer Eltern vor allem in den letzten Romankapiteln, die

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eine Wiederannäherung an ihre Mutter und eine Versöhnung mit ihrer komplexen persönlichen Geschichte erzählen, worauf ich im nächsten Abschnitt zurückkommen werde. Verleiht Somali den Identitätsdiskursen und emotionalen Erfahrungen bisweilen Leichtigkeit und Ironie, wie im zitierten Figurendialog, evoziert es manchmal die Schwere der durch den Kolonialismus oder die somalischen Traditionen wie der Infibulation ausgelösten psychischen und körperlichen Verletzungen. Im Vergleich zu den postkolonialen Romanen anderer AutorInnen stellt Maria Grazia Negro (2015, 160) für Oltre Babilonia einen eingeschränkten Gebrauch der somalischen Sprache fest; diese wird auf lexikalisch-semantischer oder metalinguistischer Ebene vorwiegend für die Äußerung einzelner Wörter, Gruß- und Kontaktformeln sowie emphatischer Ausdrücke verwendet.2 Primär begegnet dieser Wortschatz in der erzählerischen Darstellung somalischer kultureller und sozialer Kontexte, ­emotionaler Verfasstheit sowie Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit und die davon geprägte Kindheit und Jugend einiger Figuren. Die Autorin verzichtet auf ein finales Glossar, weshalb die somalischen Wörter und lexikalischen Wen­ dungen zumeist im Text ins Italienische übersetzt oder umschrieben werden, 2 | Die semantischen Felder beziehen sich insbesondere auf die Organisation des all­täg­lichen Lebens, etwa die Kleidung: »La gente faceva la fila per poter avere un vestito bulgi o un dirah da cerimonia fatta dalla sarta maga Bushra« (Scego 2008, 208); Lebens­m ittel: »I tonni venivano serviti in zuppa o allo spiedo, il mufo, il pane, si ac­ com­p agnava a salse multicolori e il gallamuddo, la pasta di Brava, faceva ruotare ellitticamente le lingue per puro piacere« (Scego 2008, 64); Wohnorte: »Afgoi era nota per i ristoranti nei tucul [...]« (Scego 2008, 422); Verkehrsmittel: »Lo shitaue, la corriera che collegava Brava a Mogadiscio, non esisteva da tanto« (Scego 2008, 66); zudem auf die somalische Gesellschaft mit ihrer ethnischen Clan-Struktur: »Nella grande città lei e il marito vivevano con una zia e una moltitudine di gente del loro qabil« (Scego 2008, 118); auf traditionelle Werte: »Avrebbe tanto voluto riempirla di coccole e abbracci. Ma in Somalia non si usava, nessuno si toccava tanto. Eeb, vergogna« (Scego 2008, 101); Feste: »La festa della bastonata, lo Stuun, si svolgeva alla periferia della città, sulla riva sinistra del fiume, in una landa battuta dal sole cocente« (Scego 2008, 420); kulturelle Praktiken: »Si dicevano più volte al giorno cerimoniosi Assalamu aleikum e se non era la pace sia con te, era un Wanagsan qualcosa, buon qualcosa. Buona giornata, buona serata, buona vita. Wanagsan sempre, a ogni ora del giorno. Era una cantilena« (Scego 2008, 147) und schließlich Schimpfwörter: »La gente afferrava i rosari, urlava vade retro Satana, Audubillai, voltava lo sguardo, sputava per terra« (Scego, 378) und Kosenamen: »Ya hubbi, amore mio, dove sei? Soo noqo adigo nabad ah, torna sano e salvo.« (Scego 2008, 379) Für detaillierte Ausführungen insbesondere zur Präsenz der somalischen Sprache in Oltre Babilonia sowie weitere Textbeispiele sei auf die exzellente Studie von Maria Grazia Negro, Il mondo, il grido, la parola. La questione linguistica nella letteratura postcoloniale italiana (2015, bes. S. 157ff.) verwiesen.

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ohne allerdings vollständige Transparenz zu gewährleisten; manche Lexeme werden den der somalischen Sprache unkundigen LeserInnen weder vermittels erklärender Übersetzung noch über metasprachliche Erläuterungen verständlich gemacht. In diesen Fällen stellt sich der Kontext für den/die LeserIn als hilfreich heraus, um ihre Bedeutung dennoch zu erschließen. Fungieren die in den Text montierten Splitter in somalischer Sprache ästhetisch als Spiegel der pluralen und fragmentierten ›Identitäten‹ der ProtagonistInnen, stören sie die Hegemonie der italienischen Sprache und beanspruchen trotzdem voll­ ständige Zugehörigkeit. Zugleich entsteht der Eindruck, Somali würde sich verlieren »nel mare magnum delle tante altre lingue con cui si mescola e si diluisce« (Negro 2015, 160). Denn neben Somali werden häufig Englisch, S ­ panisch und Arabisch für die Äußerung verschiedenster Wörter, Grußformeln, Interjektionen, idiomatischer Wendungen, Passagen in Dialogen oder Zitaten aus Musik und Film verwendet; überdies finden sich vereinzelt lateinische, hebräische, deutsche, portugiesische und französische Lexeme in den italienischen Text eingeflochten, wie Negro (2015, 154f.) herausarbeitet, auf deren Studie ich mich im Folgenden primär beziehe. Alle fremdsprachigen Wörter sind im Textkörper durchgängig in Kursivschrift hervorgehoben. Die Präsenz von Englisch verdichtet sich in den Dialogen der jungen Protagonistinnen Mar und Zuhra oder in deren Gedankenrede, allen voran in Form unzähliger intermedialer Bezüge auf Song- und Filmtitel, aber auch im Kontext internationaler Begegnungen beispielsweise in Tunis, wo einige Episoden angesiedelt sind und Zuhra, Mar und Miranda aufeinandertreffen.3 Englische wie auch spanische Ausdrücke bleiben in der Regel unübersetzt, da anscheinend von deren Verständnis ausgegangen wird, mit Ausnahme einiger Schlüsselwörter im Kontext der argentinischen Militärdiktatur; für letztere finden sich Übersetzungen in den Text eingearbeitet, »per evitare pericolosi fraintendimenti con l’italiano« (Negro 2015, 155), wie Negro vermutet und exemplarisch auf »capucha«, jenes vom Regime eingesetzte Folterinstrument, verweist: »Era il 1978. […] A tuo zio Ernesto ficcavano elettrodi nel culo. Gli avevano messo la capucha, la famigerata. Un sacco in testa e niente più coordinate. [...] Era un gesto sadico: impedire la vista della propria tortura.« (Scego 2008, 48) Anhand der Figur Miranda behandelt der Roman das Thema der Diktatur in Argentinien und der vielen gefolterten oder eliminierten Oppositionellen wie Mirandas Bruder Ernesto. Das argentinische Spanisch fungiert im Roman in erster Linie als Sprache der Erinnerung an jenes dunkle Kapitel in der Geschichte 3 | Cf. exemplarisch: »Sentivo Judy Garland cantare Somewhere Over the Rainbow« (Scego 2008, 80); »Malick ha i baffi. Assomiglia all’Omar Sharif di Funny Lady, forse meno elegante e più secco« (Scego 2008, 130); »›Ok, now I understand, lovely lady ... your’re english‹, sbottò a un tratto il giovanottone tunisino. Mar non lo guardò nemmeno.« (Scego 2008, 78)

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des Landes. Darüber hinaus verwenden Miranda und ihre Tochter Mar das Spanische häufig in ihrer Alltagskommunikation.4 Auch in Mars Beziehung mit der Madrider Journalistin Patricia verschmilzt zuweilen die spanische mit der italienischen Sprache (cf. Negro 2015, 156).5 In Zuhras Beschreibung der translingualen Lyrik Mirandas finden sich zugleich metafiktionale Bezüge auf Oltre Babilonia: »Scrive in tutte le lingue. Lo spagnolo natio è mischiato con tutte le sue altre appartenenze. Ci trovi echi di catalano, italiano, portoghese, inglese, francese. Ma ci sono anche parole arabe e stranamente c’è il somalo. […] una sua poesia si intitola Ritorno a Mogadiscio.« (Scego 2008, 237)

Die sprachliche Vielfalt verweist sowohl auf das Thema Exil und Migration als auch auf Orte internationaler Begegnung wie die Sprachschule in Tunis. Im Unterschied zum Englischen oder Spanischen bietet der Text für die transliterierten arabischen Wörter überwiegend Übersetzungen, wohl um das Leseverstehen zu erleichtern. Begründen sich die vielen arabischsprachigen Einfügungen durch die partiell in Tunis spielende Handlung und die Zugehörigkeit einiger Charaktere zur islamischen Kultur und Religion, betont Negro (2015, 157), in Oltre Babilonia bestehe ein Novum im Gebrauch des Arabischen ­darin, dass es nicht ausschließlich der Tradition und Religion vorbehalten bleibt, sondern durch die Verortung von Teilen des Plots in Tunis auch in Alltagssituationen angewandt wird. Infolgedessen fungiert Arabisch nur mehr am Rande als Sprache religiöser und kultureller Praktiken und wird stattdessen zu einer Sprache gegenwärtiger und alltäglicher Kommunikation.6 Maria Grazia Negro bezeichnet die sprachliche Vielfalt in Oltre Babilonia als »forte sperimentalismo del plurilinguismo« (Negro 2015, 168); dieser wird 4 | Cf. folgende Beispiele für Interjektionen oder affektive Ausdrücke: »Io invece mi fissai sul suo giornale. Si parlava di Argentina. Un articolo intero. Milagro! Quasi prima pagina. Milagro!« (Scego 2008, 365); »Hija mia, non so, tu forse vorresti sapere che tipo di vita conducevo a quei tempi, per quelle strade antiche.« (Scego 2008, 302) 5 | Cf. etwa folgendes Textzitat: »›Esta noche verrà un mio amico a cena. Ti piacerà ... mucho, muchísimo‹.« (Scego 2008, 30) 6 | Cf. zur Illustration folgende Interjektionen, Begrüßungsfloskeln und Gefühlsbe­s chrei­ bungen: »›Afuan‹, scusi, mormoro smarrita. ›Afuan‹ ripeto sempre più persa. Mi guarda. Il suo sguardo mi fa ritornare a un esperanto inesistente. Mischio inglese, francese, spagnolo. In arabo dico solo ›Min fadlika‹, per favore« (Scego 2008, 281); »Ahlan Wa sahlan, salve bambina, questa è Tunisi« (Scego, 2008, 134); »Ma ci sono cento modi di amare, mi ha detto la signora grassa, prima di uscire di scena ... cento modi di soffrire. Di sperare. Al wasb-amore passionale, al-hiy m-amore sconfinato, al-lahf-amore dolo­ roso.« (Scego 2008, 404)

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durch stilistische Effekte im Italienischen, die aus dem Spiel mit diversen Registern, Dialekten und Jugendsprachen resultieren, zusätzlich verstärkt. Die Figur Zuhra etwa beherrscht die verschiedensten Register des Italienischen, ihr Ausdruck variiert zwischen hochsprachlichen und kolloquialen Wendungen.7 Insbesondere die jungen Protagonistinnen des Romans verwenden als Ausdrucksinstrument den römischen Dialekt, der als metropolitanes Idiom den sich in typischen zeitgenössischen globalen Kontexten bewegenden Figuren eine lokale Verankerung erlaubt. Zuhra gebraucht den römischen Slang, um am italienischen Kolonialismus und dessen behaupteter ›Zivilisierungsmission‹ Kritik zu üben. Ihre Tendenz, sich immer wieder unglücklich in Männer weißer Hautfarbe zu verlieben, empfindet sie als Selbstverletzung und dennoch begegnet sie dieser Situation mit Ironie, z.B. als sie sich vornimmt, sich nicht erneut in einen Weißen zu verlieben: »Me lo devo ficcare nella capoccia, questi c’hanno er vizietto del colonialismo. E poi so’ pure capaci di dirti ›L’avemo fatto pe’ civilizzavve‹.« (Scego 2008, 228) Der Gebrauch des Romanesco ironisiert im Textzitat ihre Selbstbelehrung und legt zugleich die häufig hinter der Maske des Wohlwollens getarnten kolonialen Ambitionen offen. Indem Zuhra den römischen Slang mit dem Standarditalienischen kombiniert, aktualisiert sie als Erzählinstanz die Tradition des mündlichen Erzählens; ihre Erzählstimme wird somit über das gemeinsame Merkmal der Mündlichkeit jener ihrer Mutter angenähert. Erscheint Maryams Erzählstimme von nostalgischer Erinnerung durchdrungen, zeichnet sich Zuhras Stimme durch Ironie aus. Für die Darstellung der Zwischenposition der so genannten ›zweiten Generation‹ erscheint ironische Ambivalenz als geeignete Erzählstrategie, wie Susanne Kleinert (2013, 215ff.) aufzeigt. Zuhra arbeitet in einem Musikladen, wird von vielen KundInnen aber eher als Putzfrau denn als Verkäuferin wahrgenommen, sind diese doch nicht in Lage, sich eine schwarze Frau in einem anderen Beruf vorzustellen. Neben Elementen des mündlichen Erzählens lässt die Protagonistin Themen des Antikolonialismus und Antirassismus in ihre Erzählung einfließen und prägt dadurch einen »ironisch-metropolitanen Stil« (Kleinert 2013, 218). In Form eines inneren Monologs wendet sie sich an die BesucherInnen des Geschäfts und spiegelt ironisch den Blick ›der Anderen‹ zurück: 7 | Zuhras Sprachgebrauch ist wiederholt autoreflexiv, so äußert sie sich bewusst im Stan­darditalienischen, wenn sie sich positionieren oder ihre kulturelle Zugehörigkeit ak­ zentuieren will, z.B.: »Ripeto la mia domanda. Forse, penso, Manzoni parlava così. Sono perfetta. Mi esce fuori un italiano gentile, colto, irreale. Quello che uso agli uffici pubblici o quando devo pagare il ticket sanitario.« (Scego 2008, 283) Im Prolog kombiniert sie hingegen Lexeme auf Somali mit der italienischen Standardsprache und mündlichen kolloquialen Wendungen: »E io di cose storte sono stufa, wallahi billahi, stufa marcia e se dico wallahi billahi mi dovete credere.« (Scego 2008, 11)

Igiaba Scego – Oltre Babilonia »C’è da dire che alla Libla mi scambiano sempre per la donna delle pulizie. Ecco perché sono eterea. Nessuno chiede informazioni alla donna delle pulizie. Mai, abadan. È quasi come se non esistesse, la donna delle pulizie. L’equazione era nera uguale sguattera, mai nera uguale commessa. Almeno per certe persone. Ma che, nun ce vedete? Non lo vedete ’sto cartellino giallo fosforescente con tanto di nome, cognome e numero di matricola? Secondo voi perché ce l’ho? No, non c’entra nulla il permesso di soggiorno. Risposta errata! No, vi sembrerà strano ma io sono cittadina della Repubblica, questa repub­b lica, e credo nella Costituzione del ’48, nei suoi valori (sì, lo so per certi dementi è fuori moda). E ’sta felpa orrenda? Che sembro ’na mongolfiera in monopattino? Perché cavolo credete che me la so’ messa? Il colore poi, è disgustoso, verde cacarella. Cioè, pensate davvero cha abbia un così cattivo gusto? Renditi conto, cliente Libla, che volente o nolente, la città eterna te sta a cambia’ intorno. Che ci siamo pure noi. Io ce sto da più de ’na ventina d’anni, mica bruscolini. E c’è gente anche più vecchia di me. Il tuo panico è tardivo, cliente, te dovevi caga’ in mano trent’anni fa, mo’ è tardi.« (Scego 2008, 234f.)

Indem Zuhra, la Negropolitana, die auf sie gerichteten Blicke kommentiert, erwidert sie diese und unterläuft damit ironisch und subversiv das vorherrschende Weltbild vieler KundInnen des fiktiven Libla-Ladens, das durch eine gebildete schwarze Frau verstört wird. Adressiert Maryams Erinnerungsdiskurs primär ihre Tochter, kann die direkte Anrede in jenen Textstellen, in denen Zuhra den Alltagsrassismus in Italien ironisiert, als Appell an den/die LeserIn verstanden werden, sich den eigenen Blick auf MigrantInnen bewusst zu machen. Diese appellative Funktion stellt insofern eine Metalepse dar, als sie über den fiktionalen Rahmen hinausgeht und sich an die realen LeserInnen des Romans wendet. Der Text vertritt also die Position der ›zweiten Generation‹ und deren Forderung nach Anerkennung als italienische StaatsbürgerInnen. Der von Zuhra gespiegelte Blick kritisiert mehrfach rassistische und sexistische Stereotype: Fühlt sie sich in Rom durch die Blicke der KundInnen an ihrem Arbeitsplatz diskriminiert, belästigen sie in Tunesien die aufdringlichen Blicke junger Männer am Strand.8 Die Ironie erlaubt mitunter eine Bewegung zwischen zwei Sprachgemeinschaften, die der Position von hybriden Subjekten bislang praktisch keinen Raum zu geben vermögen. Dies ist beispielsweise der Fall, als Zuhra ihr Recht auf Individualität einfordert und sich ironisch vom ideologischen Missbrauch muslimischer Hygieneregeln distanziert.9 Vermit8 | An anderer Stelle berichtet die Protagonistin, wie sie während ihres Erasmus-Auf­­ ent­h altes in Valencia von der spanischen Polizei festgenommen wurde; aufgrund ihrer Hautfarbe ignorierte diese ihren italienischen Pass und betrachtete sie als ›illegal‹ (cf. Scego 2008, 39f.). 9 | Die Protagonistin lehnt Stereotype ab, die sich gegen nicht muslimische Frauen richten, wie etwa in ihrer Kritik religiös interpretierter Hygienevorschriften, als sich eine italotunesische Nebenfigur diskriminierend gegenüber nicht muslimischen Frauen

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tels ironischer Spiegelung ausgrenzender sozialer Räume verweigert sich Zuhra eindeutigen Positionen (cf. Kleinert 2011/12, 212f.). Zuweilen wird auch die Beziehung zwischen Somalia und Italien ironisch dargestellt, etwa wenn die Monumente der ehemaligen Kolonialmacht durch die Brille von Freundschaft gelesen und in erstaunlichen Vergleichen nahezu lächerlich gemacht werden (cf. Negro 2015, 159).10 Ironie und Selbstironie scheinen für die narrative Gestaltung kultureller Hybridität geeignete Erzählstrategien darzustellen, erzeugen sie in den Figuren doch fließende Konturen und thematisieren ihre innere Zerrissenheit, wie Kleinert darlegt (cf. Kleinert 2013, 215ff.). Der Sprachstil in Oltre Babilonia charakterisiert sich also über Ironie mit einem Hauch Sarkasmus, Piera Carroli spricht von einer »mélange of spoken registers of the metropolis, especially youth jargon, accented with regional lexicon and inflexions with overtones from the noir, Cannibali, and pulp genres« (Carroli 2010, 211). Erinnern Carroli zufolge Igiaba Scegos Plots an die Familienverhältnisse der äußert, die ›schmutzig‹ seien, da sie nicht die in Nordafrika üblichen Hygieneregeln einhalten. Zuhra ironisiert die Gleichsetzung von Religion und Hygiene (cf. Kleinert 2013, 216), cf.: »›Non ti vergogni, eh?‹. ›De che?‹ le chiedo. Ho perso la mia verve manzoniana, le parole mi escono fuori in stile tossico Tor Bella Monaca. ›Dei fazzolettini, scema‹. Ok, mi ha dato della scema. Già per questo la dovrei fare a fettine. […] ›Le donne musulmane non si puliscono con i fazzolettini, ma si lavano. Ti devi lavare, con l’acqua. Vuoi avere la vagina sporca come quelle bestie infedeli? La lora è sporca e rimane sporca, scema. Fanno pipì. Vanno con gli uomini, e poi usano solo quel fazzolettino. Invece noi usiamo l’acqua, tanta acqua. Siamo sempre pure, fresche, pulite‹. Oddio! Non ci credo. Allah trattienimi, voglio farle una corona di bernoccoli in testa! E mette pure in mezzo la religione. Voglio darle una risposta a tono. Il mio sguardo la trapassa. La trafigge. […] ›Una buona musulmana si dovrà pure asciugare, no? Tu che fai? Te ne vai in giro gocciolante? Mica lasci la mutanda umida, no? Cioè, non è buona cosa, né per la salute né per la decenza. Peli bagnati, tessuti bagnati, odori molesti. Vanno pensate queste cose. Non mi dirai mica che non usi i fazzolettini?‹ La vedo, è terrea in volto. Più pallida di Nosferatu. Sto trionfando. Ma cavolo, che retrogusto amaro a volte il trionfo. Sono stufa marcia! Stufa della gente che vuole curiosare nella mia vagina. È mia capito?« (Scego 2008, 284f.) Der Text kritisiert hier klar die Tendenz kollektiver Identitätspolitiken, sich über Verhaltensnormen der Körper zu bemächtigen. 10 | Cf. in diesem Zusammenhang folgendes Textzitat: »Un viso fine quello di Howa. Occhietti da gazzella, bocca da puledra e in mezzo a quelle perfezioni assortite un enorme, mastodontico vortice a spirale. Si faceva quasi fatica a identificarlo come naso. Sembrava quasi un’architettura barocca. A tal punto che Maryam, anni dopo, vedendo a Roma la cupola di Sant’Ivo del Borromini disse Wa assaga! È lui. Intendendo il naso di Howa. Quella cupola attorcigliata su se stessa aveva la medesima purezza del naso dell’amica. Lo stesso candore virginale. Maryam ne fu commossa.« (Scego 2008, 146)

Igiaba Scego – Oltre Babilonia

Filme Pedro Almodóvars, sind doch auch ihre Figuren hybrid konzipiert, deren Sprache bildlich, teils offen sexuell bis roh, liegt laut KIeinert ein Merkmal der literarischen Texte der Schriftstellerin darin, dass sie »den prozessualen und fließenden Charakter kultureller Identifikationen in Selbst- und Fremd­ wahrnehmung« (Kleinert 2013, 202) hervorheben. Charakterisieren sprachliche Hybridisierung und Multiperspektivität viele transkulturelle literarische Texte und verweisen auf deren formale Komple­ xität, arbeitet Igiaba Scego in Oltre Babilonia zusätzlich mit dem Vertextungsverfahren des polyphonen Erzählens.11 Die Polyphonie der Erzählungen betont, dass die Stimmen der Erzählinstanz und der Figuren ihrerseits »als Schnittpunkte verschiedener gesellschaftlicher Diskurse zu begreifen sind« (Nünning/Nünning 2000, 48), und evoziert mitunter Effekte des Einfühlens, der Solidarität, des Verständnisses und der Verbundenheit. Die Vaterfigur Elias beispielsweise repräsentiert den antikolonialistischen Diskurs der somalischen Unabhängigkeitsbewegung und die Enttäuschung über die postkolonialen Entwicklungen, die in Diktatur und Bürgerkrieg mündeten. Der Roman thematisiert aus der Sicht Elias’ verschiedene politische Ereignisse und übt scharfe Kritik an der Entscheidung der UNO, die Amministrazione fiduciaria italiana della Somalia (AFIS) zu legitimieren und so der ehemaligen Kolonialmacht Italien zu erlauben, auf den Prozess der Dekolonialisierung Einfluss zu nehmen. Seine tiefe Enttäuschung äußert Elias in folgendem Erzählerbericht: »›Perché devono tornare?‹ gridava il popolo. ›Perché non siete pronti‹ rispondevano (sempre molto perbene) dal palazzo di vetro. […] Fu così che le Nazioni Unite diedero all’Italia – un paese uscito con le ossa rotte da un regime fascista ventennale e da una guerra mondiale, che aveva perso la guerra e anche un mucchio di denaro, un paese distrutto nell’animo – ecco le Nazioni Unite diedero proprio a quell’Italia lì, il compito di traghettare la Somalia verso l’indipendenza. ›Ora dovrete insegnare la democrazia a quegli zulù‹ decretarono dal palazzo perbene, sempre sorridendo. Dieci anni di amministrazione fiduciaria italiana in Somalia. Fu decretato. Cartabollato, eseguito e anche applaudito. Il famigerato Afis, l’Amministrazione fiduciaria italiana, stava cominciando. In Italia fu giubilo. Le riviste neocoloniali – Africana, Oltremare, Riconquista – fecero numeri speciali dove si esaltava, al solito, il ruolo civilizzatore della stirpe italica. Agli Esteri poi, si gongolava. Champagne a fiumi per tutti, offre il palazzo di vetro. Una ­v ittoria 11 | Das Konzept der Polyphonie wurde von Michail Bachtin für die Beschreibung li­ terarischer Texte entwickelt. Es geht hier nicht um die Repräsentation der individuellen Sichtweise einer Erzählinstanz oder eines bestimmten gesellschaftlichen Standpunkts, sondern um die literarische Inszenierung der sozialen Redevielfalt sowie einer Vielfalt von Diskursen (cf. Nünning/Nünning 2000, 48).

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Der Roman beleuchtet sowohl die italienische Politik in Ostafrika als auch die postkoloniale Politik Somalias und stellt fest, dass die formale Unabhängigkeit keine wirkliche Autonomie, sondern vielmehr neokoloniale Abhängigkeit bedeutete. Die Enttäuschung über den postkolonialen Geschichtsverlauf ändert jedoch nichts an der nostalgischen Erinnerung der Elterngeneration an den his­torischen Moment und die Auf bruchsstimmung, als Somalia am 1. Juli 1960 politisch unabhängig wurde. Der Antikolonialismus wird in Oltre Babilonia als Projekt der afrikanischen Einheit über alle Nationen und Religionen hinweg dargestellt. Das Gefühl, einen Moment großer Hoffnung geteilt zu haben, liegt der Nostalgie sowie den desillusionierten Aussagen der Generation der Post­unabhängigkeit zugrunde.12 Insbesondere Maryam erscheint figural konzipiert als Repräsentantin somalischer kultureller Kontexte: Ihre Erzählung evoziert das Leben in Somalia, beschreibt u.a. die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber der italienischen Verwaltung während der AFIS, zudem erfahren die LeserInnen von verschiedenen Legenden, etwa über 12 | Cf. in diesem Zusammenhang folgenden Textausschnitt: »Per Maryam Laamane la Somalia non era solo guerra, anzi era la pace più bella. Questo perché lei si ricordava del prima. Dell’indipendenza. Di quando nel Corno avevano speranze e bei sogni. 1° luglio 1960. Era l’anno dell’Africa il 1960. Ci credevano tutti che era l’anno dell’Africa e non solo per l’indipendenza. Ci credevano soprattutto gli africani. Tutti gli africani. […] Era per la forza dei sogni. Per la volontà. Si faceva il tifo per chi ancora non era libero. Come per l’Algeria due anni dopo. Era un tifo sfrenato, quasi osceno. Si gridava quel nome, Algeria, si alzavano le braccia al cielo. Per pregare. Per combattere. Per gioire. Per sperare. Si alzavano le braccia. E si gridava Algeria. In realtà era Africa che si gridava. Era l’Africa intera che si sollevava. Era una grande partita. L’oppresso e l’oppressore. Era l’anno dell’Africa, il 1960. Era per i sogni della gente. Per il battito dei loro cuori. Per i loro cervelli in movimento. Per la pancia, che non elemosinava. Era un bell’anno. […] Poi l’anno passò. Dopo ci furono errori. Ci furono tanti incubi. Delusioni. Cattiverie. Insensatezze. Molti si accorsero che niente era cambiato. Si era diventati Terzo mondo. Ma era un po’ come essere colonia. Si dipendeva ancora.« (Scego 2008, 250f.)

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die »ginn«, die Dämonen, oder »Iblis«, den Teufel, von somalischen Traditionen und Bräuchen, den Hochzeiten, dem Fest der Stockkämpfe in Afgoi oder der nach wie vor praktizierten Infibulation. An der Figur Maryam Laamane wird ersichtlich, wie der Text eine Korrelation zwischen Geschichtsinterpretation und psychologischen Modellen herstellt. Sie leidet unter Anpassungsprozessen, ihre Beziehung mit Elias zerbricht infolge der Exilsituation, sie verfällt dem Alkohol und es gelingt ihr lange Zeit nicht, die Hoffnungen der Vergangenheit an ihre Tochter Zuhra weiterzugeben (cf. Kleinert 2011/12, 211; Kleinert 2013, 213f.). Die jungen Protagonistinnen Zuhra und Mar repräsentieren den Diskurs der ›zweiten Einwanderergeneration‹ in Italien: Sie verkörpern gegenüber kulturellen Normen und Klischees widerständige Figuren und akzentuieren das Recht des Individuums, diskriminierende Normen und Wahrnehmungsmuster zurückzuweisen und eine transkulturelle ›Identität‹ zu leben, wie im weiteren Verlauf der Romananalyse gezeigt werden soll.

VII.2 »U na sfumatur a di rosso ?«13 : K örper , ›I dentität‹ und S pr ache Als eines der Hauptthemen postkolonialer Literatur spiegelt sich die Kategorie der Duplizität auf Figurenebene im transkulturellen Zusammenspiel von Gefühlsambivalenzen, also der durch die häufig unfreiwillige Trennung von Heim, Familie und Lebenswelt ausgelösten Spaltung des Ich (cf. Hausbacher 2009, 141). Oltre Babilonia thematisiert die Suche nach einem ›Zuhause‹ als räumliche Bewegung und konstantes Aushandeln zwischen den Positionen des »Nirgendwo-zu-Hause-Seins« und des »Überall-zu-Hause-Seins«. Italien wird von einigen Charakteren als zweites ›Zuhause‹ wahrgenommen, als Ort des temporären Aufenthalts, der mitunter Jahrzehnte dauern kann. Figuren wie Maryam wirken angesichts dieses illusionären Nomadenlebens aus dem Koffer und in gemieteten Appartements stets bereit für eine Rückkehr nach Somalia, die dennoch unaufhörlich verschoben wird. Bleiben Maryam und auch Miranda im Exil mental an ihre Ausgangskulturen gebunden – erstere denkt nostalgisch an Somalia, während letztere die schrecklichen Torturen der Diktatur in Argentinien traumatisch erinnert –, repräsentieren die jungen Protagonistinnen Zuhra und Mar eine Zwischenposition. Als Teil der so bezeichneten ›zweiten Generation‹ erleben sie Diaspora oder Exil zwar nicht als Verlust von ›Heimat‹, dennoch übernehmen sie in der Situation diasporischer Lageveränderung die Idee eines anderswohin projizierten ›Zuhauses‹. Der Text fragt in diesem Zusammenhang nach der Verortung und der Bedeutung von Konzepten wie ›Zuhause‹ in einer Diasporasituation: Zuhra etwa reflektiert darüber, 13 | Scego 2008, 456.

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wo und was ihr ›Zuhause‹ sein könnte, da sie Somalia, das Land ihrer Vorfahren, nicht aus eigener Erfahrung kennt, während sie in Italien, wo sie geboren und groß geworden ist, wiederholt als ›Fremde‹ betrachtet wird (cf. BabicWilliams 2013, 106). Auch Mar erlebt ihre ›Identität‹ als ambivalent und hybrid; in folgendem Auszug eines inneren Monologs spielt sie auf das postkoloniale Hybriditätskonzept an: »Io, Mar Ribero Martino, che senso ho? Sono frutto del Terzo mondo. Un padre negro, una madre figlia di terroni. Pigmentata da macchie di schiavitù e spoliazione. Sono terra di conquista. Terra da calpestare. Frutto ibrido senza colore. Senza collocazione. Una mezzosangue che non appartiene a nulla. Il mio sangue è contaminato. Confuso. C’è troppo di altri in me. […] Sono una mezzasangue, vado lasciata in pace. Con le mie ossessioni. Non raggiungerò mai il bianco che mi acceca. Non raggiungerò mai quel nero che non conosco. Mio padre, una foto, il negro a cui devo questo colore. Non so, forse era un bell’uomo. Da quell’unica fotografia che ha la mamma, non si capisce. […] Mi sarebbe piaciuto conoscerlo. Mi avrebbe detto che nero è bello e ci avrei creduto. Io anzi ci credo anche adesso che negro è bello. Forse non dovrei dire negro, ma nero. Ma non m’importa, me lo hai insegnato tu, Zuhra Laamane abbayo, che non si deve avere paura delle parole.« (Scego 2008, 388f.)

Dank der Begegnung mit Zuhra lernt Mar ihre hybride ›Identität‹ anzunehmen und ihre kolonialisierte Selbstwahrnehmung wandelt sich in eine b ­ ewusste Bejahung ihrer Hautfarbe. Beide Figuren entwickeln im Handlungsverlauf eine ›Identität‹ jenseits dualistischer Normierungen, die Ambivalenzen und Widersprüche zulässt. Ihre geschwisterliche Beziehung wird als befreiend dargestellt, insofern sie sich wechselseitig helfen, herabwürdigende Zuschreibungen zurückzuweisen. Sie durchleben eine Identitätskrise, Entfremdung und Selbstzerstörung, doch finden sie zu einer neuen Selbstdefinition und lehnen von außen an sie gerichtete normative Ansprüche, die Erfüllung von Erwartungen ab. Indem sich Mar etwa den Ausdruck »negro« aneignet und mit »bello« neu auflädt, unterläuft sie subversiv den kolonialistischen Diskurs und versöhnt sich mit ihren somalischen ›Wurzeln‹ (cf. Kleinert 2013, 214f.). Wie erwähnt treffen die beiden Halbschwestern und Miranda in einer Arabischschule in Tunis aufeinander, ihre Wege kreuzen sich im Roman jedoch nicht mit jenem ihres Vaters Elias. Als Motiv kommt Orten und Räumen in Oltre Babilonia eine symbolische Bedeutung zu, Tunis etwa liegt als kulturelle und sprachliche Wegkreuzung am Mittelmeer zwischen Rom und Mogadishu. Umreißen die im Roman dargestellten Handlungsorte die Topografie der erzählten Welt, übersetzt der sich an verschiedenen Schauplätzen entfaltende Plot das Konzept einer transkulturellen Identitätssuche. Für die Charaktere korreliert Bewegung zwischen verschiedenen Orten mit Bewusstseinsbildung und Identitätstransformation. Gerade weil Tunis für Mar einen Ort ohne jeg­

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lichen Bezug darstellt, identifiziert sie sich mit dieser Stadt, die weder als idyllisch noch als Ort persönlicher Freiheit dargestellt wird: »Lì si sentiva a casa, perché di fatto non era casa di nessuno, nemmeno dei tunisini. Anzi loro, meno di tutti. Non potevano far niente della loro vita e del loro corpo senza il volere di Ben Ali.« (Scego 2008, 330) Die metonymische Beziehung zwischen Mars Selbstwahrnehmung ihrer gefühlten Nicht-Zugehörigkeit und der Raumrepräsentation der Stadt wird durch die Kritik an der bis 2011 dauernden Diktatur von Ben Ali verstärkt. Stellt der Roman einerseits die antikoloniale Auf bruchsstimmung der Vergangenheit heraus, verdeutlicht er andererseits die Notwendigkeit einer Kritik an den aus den Unabhängigkeitsbewe­gungen hervorgegangenen autoritären Regimen des 20. und 21. ­Jahrhunderts wie jenes von Ben Ali. Auf ihrer Suche nach ›Identität‹ distanzieren sich die fiktionalen Figuren in Oltre Babilonia somit mehrfach von hegemonialen Machtstrukturen. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um eine Kritik an der italienischen Gesellschaft: Auch die autoritären Regime in Nordafrika oder einige somalische Traditionen werden von den Charakteren in ihrem Wunsch nach Selbstermächtigung als repressiv abgelehnt (cf. Kleinert 2011/12, 214).14 Die verschiedenen Erzählstimmen in Oltre Babilonia entwerfen ein differenziertes Bild, das zum einen die Positionen mehrerer Generationen im Kontext ihrer spezifischen historischen Erfahrungen herausstellt, zum anderen betonen die fiktionalen Figuren in ihren Erzählungen das Überschneiden von Körper, Sexualität, Sprache und Subjektivität. Schon die als Motto vorangestellten Zeilen aus dem Song Jidka von Saba Anglana, »Caloosheyda waxaa marahaya jidka … jidka heshiiska / Sulla mia pancia passa la linea … la linea della pace« (Anglana zit. in Scego 2008, 5), weisen auf den narrativen Stil und die Themen des Romans voraus. In ihrem mehrsprachigen Lied besingt Saba Anglana den Körper sowie die Vielfalt, und die ›Bauchgefühle‹ kehren auch im Text wieder: »Se non hai i colori, non hai nemmeno la pancia per sentire le emozioni.« (Scego 2008, 213) Die Tradierung und Aufarbeitung persönlicher wie kollektiver Geschichte strukturieren die Handlung in Oltre Babilonia und 14 | Oltre Babilonia denunziert klar die weibliche Genitalverstümmelung und verweist auf die populäre Erzählung von Arawelo. Dieses zur Erklärung und Rechtfertigung der Infibulation in Somalia verbreitete traditionelle Volksmärchen stellt die Ver­s tümmelung als Ergebnis ›männlicher Angst‹ vor weiblicher Sexualität dar. Im Aberglauben wird die nicht infibulierte Frau zu einem unersättlichen Fetisch, einer Männer kastrierenden ›Hexe‹; deshalb werden körperlich unversehrte Frauen wie in Oltre Babilonia die Figur Bushra dämonisiert. Als ihr Ehemann Majid verschwindet, wird sie als Kuumayo, ›Hexe‹, stigmatisiert (cf. Carroli 2010, 210). Charaktere wie Bushra und Zuhra verteidigen den weiblichen lustvollen und nährenden Körper, der einzig den Frauen selbst gehört: »›Tua sorella Fardosa […] è una macellaia. Toglie la clitoride alle fanciulle in fiore, le cuce e impedisce loro di farsi una bella scopata‹.« (Scego 2008, 82)

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als Speichermedien von Geschichte und Geschichten stellen sich die individuellen Körper heraus. Als zentrale Sujets im Text begegnen denn auch Körper, Geschlecht und (Wieder-)Geburt; besonders präsent erweisen sich das Motiv des weiblichen Körpers und die Symbole weiblicher Biologie wie Scheidenflüssigkeit und Menstruationsblut sowie die Farbe Rot. In ihren Erzählfragmenten berichten die fiktionalen Figuren von Vergewaltigung und Folter, also von erfahrener Gewalt an ihren Körpern, sowie individuellen Wegen zurück in ein mögliches Leben und der neuen Hoffnung nach dem Gewaltakt. Die Figuren entwickeln unterschiedliche Strategien der Bewältigung ihrer Traumata und der physischen wie psychischen Folgen von Gewalt, Missbrauch oder Folter: Einige Charaktere handeln aktiv und suchen nach Wegen der Selbstermächtigung, während andere ihre Selbstachtung verlieren, an sexuellen Problemen, Abhängigkeiten bis hin zu Suizidgedanken leiden. Zuhra etwa fühlt sich am Beginn der Handlung ›anders‹, insofern ihre Hormone »congelati« (Scego 2008, 8) und nicht »in fermento« (ibid.) wie die aller anderen sind, und im Unterschied zu ihren Freundinnen »ancora vergine« (Scego 2008, 9), da sie noch nie leidenschaftliche Liebe kennen lernte. Infolge der schmerzvollen Erinnerung an den Missbrauch in ihrer Kindheit verlor Zuhra die Fähigkeit, Farben wahrzunehmen. Die bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte stellt den entscheidenden Punkt ihrer Traumabewältigung dar (cf. Carroli 2010, 213): »Quindi ci devo andare cauta con le emozioni forti, mi potrei spezzare e poi chi mi ricompone più? Sono senza colori. Senza difese. Vergine. Sola. […] So che mi ha fatto di tutto e mi ha lasciato vergine. Via, andato, sparito. Ecco … però … quello zio si è preso tutti i miei colori, tutti quanti. […] Pian pianino, ho la sacca bella piena di colori. Quando li riavrò tutti, sarò pronta e farò l’amore con un uomo. […] È che senza colori non puoi fare l’amore. […] Ora a dir la verità, nella sacca manca solo il rosso.« (Scego 2008, 9ff.)

Wie die Protagonistin im Textzitat anhand der rhetorischen Figur eines Farbverlusts vermittelt, ist sie infolge kultureller Entfremdung und sexuellen Miss­ brauchs nicht in der Lage, die Farbe Rot wahrzunehmen – eine Metapher für ihre verschütteten Gefühle. Dieser Verlust beschleicht jeden Aspekt ihres Lebens, weshalb Zuhra versucht, sich über das Schreiben von ihrem Schmerz zu befreien und ihr Selbst zu rekonstituieren. Ihre Halbschwester Mar durchlebte eine traumatische Abtreibung und den Suizid ihrer Partnerin Patrizia; Mar wirkt psychisch fragil und leidet, wie zuvor skizziert, an Zugehörigkeitskonflikten. Sexualität und Gender sind für die jungen Protagonistinnen rekurrente Themen: Mar ist lesbisch, Zuhra schwärmt von George Clooney und seiner femininen Sanftheit, selbst ihre Psychologin nennt sie »dottor Ross […], come il personaggio di George Clooney in E.R.« (Scego 2008, 12). In der Darstel-

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lung der figuralen Geschlechtsidentität werden klare Grenzen verwischt, so identifiziert sich Zuhra etwa mit Diego Maradonna: »Mi piace un sacco Diego Armando. È un ribelle. Un po’ sfigato. Anche se è un maschio, mi assomiglia molto Maradonna.« (Scego 2008, 15) An anderer Stelle erfährt der/die Leser­ In aus Zuhras Perspektive ihre etwas klischeehafte Wahrnehmung von Mars Äußerem: »C’è Mar, la seminegra maschio-lesbica.« (Scego 2008, 345) Insofern die körperlichen Erfahrungen der weiblichen Charaktere ein zentrales Sujet in Oltre Babilonia darstellen, korrelieren sie mit einer körperlich markierten Sprache. Die deskriptiven Passagen über weibliche Körperflüssig­keiten und -funktionen evozieren Piera Carroli zufolge die Sprache der feminis­tischen Literatur der 1970er Jahre – etwa jene von Dacia Maraini – und dadurch ver­ mittelt der Roman eine weibliche feministische Gegenerinnerung und rühmt die Solidarität zwischen den Frauen unabhängig ihrer ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit, ihres Alters, ihrer Klasse und Geschlechtsidentität.15 Diese feministisch geprägte Sprache äußert sich im Text in mehrfacher Hinsicht (cf. Carroli 2010, 215): Der Körper und die weibliche Sexualität werden gefeiert, Gewalt an Frauen denunziert sowie unterschiedliche Strategien von Frauen und Männern in der Verarbeitung sexueller Traumata herausgestellt. Wie im ersten Teil dieser Romananalyse erwähnt, berichtet Elias in seiner Familienerzählung von einem Vorfall roher Gewalt während der italienischen Kolonialzeit, konkret der brutalen Mehrfachvergewaltigung seiner Eltern Famey und Majid durch faschistische Offiziere. Dieses gemeinsam erfahrene Leid und die unauslöschliche Erinnerung an die schändliche Gewalttat binden Famey und Majid für immer aneinander. Im Unterschied zu ihrem Mann, der sich in der Folge isoliert und, um seinen Schmerz und seine Scham zu verbergen, ins Schweigen flüchtet, schöpft Famey Hoffnung, eines Tages den Schmerz zu überwinden: »›Un giorno guariremo …‹ diceva a se stessa Famey. Un giorno. Le sembrava tanto lontano però.« (Scego 2008, 119) Famey stirbt jedoch bei der Geburt ihres Sohnes; Elias kennt seine Mutter also nicht und hat keine bewusste Erinnerung an sie. In seiner Erzählung imaginiert er das Gefühl des unaussprechlichen Schmerzes seiner Mutter. Die einzige Äuße­ rung, die Elias jemals von Famey vernehmen konnte, war der Schrei ihres Geburtsschmerzes, ein Moment, der gleichzeitig ihren Todeskampf und Elias’ ersten Atemzug markiert: »L’urlo di Famey morente, era anche l’urlo di Famey stuprata. Era l’eco di Majid stuprato. Era la dignità calpestata. Il loro orgoglio ­sfregiato. L’amore abbattuto. Era lei. Era lui.« (Scego 2008, 203) Fameys wort15 |  Auch Lidia Curti beschreibt postkoloniale Romane wie Igiaba Scegos Oltre Babilonia als »female counter-epic offering the memory of a forgotten past« (Curti 2011, 87), würden diese Texte doch ein Korrektiv jener verzerrten Vorstellung eines vermeintlich ›humanen‹ italienischen Kolonialismus bieten und sämtliche Leerstellen der offiziellen Kolonialerinnerung füllen.

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loses Vermächtnis aus Stillschweigen und Schmerzensschrei wird Jahrzehnte nach ihrem Tod von Elias mit seinen Worten ausgesprochen, um seiner Tochter Zuhra vermittels der Geschichte seiner Mutter die fehlenden Fragmente ihrer Familiengeschichte zu überliefern. Der von Famey ausgestoßene Todesschrei symbolisiert jene unaussprechliche Gewalt, die in Zuhras Sprachverlust, ihren eigenen entsetzlichen Missbrauch zu beschreiben, einen Widerhall findet: »Urlo il silenzio.« (Scego 2008, 345) Wie Elias berichtet, war sein Vater nach der traumatischen Vergewaltigung nicht in der Lage, ihm die notwendige emotionale Wärme zu geben, und heiratete Bushra, eine Schneiderin, in deren fürsorglicher Obhut Elias schließlich aufwuchs (cf. Babic Williams 2013, 116f.). Bushra inspirierte Elias, eine Karriere als Designer anzustreben. In der im achten Romankapitel imaginierten Begegnung zwischen Majid und Bushra repräsentiert Elias seinen Vater als mit seiner seit der Vergewaltigung blockierten Sexualität versöhnt, »a polysexuality radiating a positive erotic energy« (Carroli 2010, 214): »Majid, vestito da donna, prese la mano della sua sposa di un tempo. Lei si fece inondare da quel calore inaspettato. La mano, il calore di quell’uomo-donna la fece impazzire di desiderio.« (Sego 2008, 441) Elias, der abwesende Vater, Ehemann und Liebhaber, stellt sich seinen über Jahre verschollenen Vater Majid als ›herumwandernden Gendernomaden‹ vor, der seine designten Frauenkleider trägt und mit Bushra endlich emotionale und sexuelle Erfüllung erfährt (cf. Carroli 2010, 214f.). Die Charaktere Elias und Maryam repräsentieren »each in their own way orphans of colonialism« (Babic Williams 2013, 115), verlor doch auch Zuhras Mutter frühzeitig ihre Eltern infolge der kolonialen Aggression. Wurde ihr Vater gezwungen, für die Kolonialarmee zu kämpfen und ›versehentlich‹ von einem italienischen Soldaten erschossen, starb ihre Mutter nur wenig später am Kummer über den Verlust ihres geliebten Mannes, als Maryam noch ein Baby war. Folgender Textauszug beschreibt mit einer deutlich körperlich aufgeladenen Sprache den Tod von Maryams Mutter als allmähliches Ausdörren ihrer Lebenssäfte: »Alla mamma di Maryam si erano seccati in corpo tutti i liquidi di donna. Prima sparì il latte materno, poi il sangue mestruale e a poco poco senza che nessuno se ne rendesse ben conto, anche tutti i fluidi vitali. Morì di secchezza, la madre di Maryam Laamane. Prosciugata dal dolore. La sua vita si era fermata in una landa sconosciuta sul fronte Sud di Graziani, dove il marito, amato come pochi, perse la vita per la prepotenza di un debole uomo bianco.« (Scego 2008, 351) 16

16 | Die am Ende des Zitats angeführte Anspielung bezieht sich auf Rodolfo Graziani, 1935 Oberbefehlshaber der italienischen Truppen, die Äthiopien von Somalia aus angriffen.

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Babic Williams (2016, 116) zufolge illustriert diese Austrocknung der Mutterfigur symbolisch die unrechtmäßige materielle und ideelle koloniale Besitzergreifung Somalias, welche nahezu alle nährenden, selbstversorgenden und vitalen Lebensenergien der BewohnerInnen versickern ließ. An Maryams Mutter und Famey werden exemplarisch die Auswirkungen historischer Traumata auf das Leben von Frauen und ihren Körpern sichtbar. Im Unterschied zu diesen tragischen Mutterfiguren und ihren Erfahrungen kolonialer Gewalt, repräsentiert Elias’ Adoptivmutter Bushra jene Selbstermächtigung, um Verlust in Wachstum und Liebe zu transformieren. Während die Milch von Maryams Mutter vor Schmerz versiegt, ist Bushra nach dem Tod ihres eigenen Kindes in der Lage, Elias zu stillen. Kristallisiert sich die Gewalt der italienischen Kolonialherrschaft in der Figur Famey, symbolisiert Bushra den Willen der kolonisierten Bevölkerung Somalias, die unzähligen persönlichen und historischen Traumata zu überleben. Igiaba Scego inszeniert in ihren literarischen Texten Mütterlichkeit wiederholt als solidarisches Netzwerk weiblicher Figuren (Großmütter, Schwestern, Tanten, Cousinen), die in der Betreuung eigener wie auch verwaister Kinder eine kollektive Verantwortung sehen. Insofern sowohl die verwaiste Maryam von Pflegeeltern großgezogen und im familiären Kreis ihrer Tanten und ihrer lebenslangen Freundin Howa Rosario liebevoll umsorgt wird als auch Elias nach dem Tod Fameys in Bushra eine neue Mutter findet, kommt mütterlichen Figuren, Familienangehörigen, Adoptiv- oder Ersatzmüttern, in Oltre Babilonia eine große Bedeutung zu (cf. Babic-Williams 2013, 111). Wie prägt nun im Roman das kollektive Trauma des Kolonialismus die nachfolgenden Generationen? Elias und Maryam erleben in den Jahren nach der Dekolonialisierung eine intensive Liebesbeziehung, jedoch zerbricht ihr Optimismus für ein unabhängiges und demokratisches Somalia wie auch ihre Liebe infolge der politischen Ereignisse. Trotz der zeitlichen Distanz zu den kolonialen und postkolonialen Erfahrungen ihrer Großeltern und Eltern manifestieren sich die Nachwirkungen der erlebten Traumata auch in Zuhras Geschichte, ist diese doch vom langen Schweigen und der Abwesenheit des ihr unbekannten Vaters wie ihrer alkoholabhängigen Mutter markiert. Oltre Babilonia entwirft also eine unheimliche Kontinuität zwischen der von Vergewaltigung, Ausbeutung, Gewalt und Rassismus geprägten Familiengeschichte, dem problematischen Schweigen darüber und den Traumata in Zuhras eigenem Leben. Sie trägt die Spuren dieses »intergenerational trauma tacitly transmitted onto her by her ancestors« (Babic Williams 2013, 117). Im Unterschied zu ihrer Großmutter Famey repräsentiert Zuhra jedoch eine Traumaüberlebende und mithilfe ihrer Vorfahren, Verwandten und Freunde vermag sie ihrem Trauma schlussendlich eine Sprache zu geben und das Schweigen über die vergangene und gegenwärtige Gewalt zu brechen. Wie abschließend gezeigt werden soll, inszeniert Oltre Babilonia die Bewältigung einer Krise: das langsame

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Finden eines Auswegs aus einer verzweifelten Situation, die Transformation einer Katastrophe in eine Überlebensstrategie, die Verwandlung traumatischer Erinnerung in erzählende Retrospektive. Zeigt der Roman zum einen, wie die historischen Erfahrungen die emotionale Eltern-Kind-Bindung unterbrochen haben und in einem transgenerationalen Trauma resultieren, werden zum anderen Strategien der Traumabewältigung und der Wiederannäherung zwischen Mutter und Tochter, Herkunftsland und Diaspora, Vergangenheit und Gegenwart artikuliert (cf. Babic Williams 2013, 118f.). »Driven by a desire for transformation«, in den Worten von Piera Carroli (2010, 206), setzen sich die Hauptfiguren mithilfe fingiert mündlicher und schriftlicher Erzählungen kritisch mit ihren Erfahrungen auseinander – unterwegs zu Formen »nomadischer Subjektivität«, wie Rosi Braidotti (1994; 2015, 149) diesen ›Raum‹ des Werdens begrifflich fasst.17 Für die fiktionalen Figuren in Oltre Babilonia führt der Weg zu physischer und psychischer Befreiung also über die kulturelle Praktik oder Handlung des (mündlichen oder schriftlichen) Erzählens ihrer traumatischen körperlichen und sexuellen Erfahrungen. Die Figur Zuhra entfaltet das Potenzial des Erzählens und erhofft sich durch das Schreiben ihrer Geschichte, ihr persönliches Trauma zu überwinden. Sie evoziert in ihrer auf Italienisch geschriebenen Erzählung gleichzeitig die somalische Muttersprache und die literarische Tradition mündlichen Erzählens; ihr infolge männlicher Gewalt farblos gewordener Körper erlangt seine Leidenschaften und Farben somit durch eine erneute Verbindung mit der Mutter zurück. Sie assoziiert Sprache metaphorisch mit symbolischer Mutterschaft, die sich in wechselseitiger Befruchtung von Körper und Sprache ›reproduziert‹ (cf. Carroli 2012, 215f.; Gazzoni 2013, 231): »Quando parla, mia madre è sempre gravida. Partorisce l’altra madre, la sua lingua. Mi piace ascoltarla. […] Assistere al parto di una madre che partorisce la madre.« (Scego 2008, 445) Der Akt des Erzählens respektive des Schreibens repräsentiert eine entscheidende Strategie in Hinblick auf die Traumabewältigung, denn davon geht eine zirkuläre Handlungsfähigkeit aus, insofern ErzählerIn, Text und erzählte Welt sich wech­ selseitig konstituieren und erneuern. Sprache wird so zu einem ›Raum‹ sozialer, symbolischer und physischer Dynamik und vergegenwärtigt den Prozess individueller Identitätskonstitution. Insofern das Individuum als ›Produkt‹ der Sprache gilt, zieht der Gebrauch sprachlicher Zeichen nach sich, dass Bedeutung wie auch ›Identität‹ stets verstreut, in Bewegung und niemals fixiert ist 17 | Braidotti weist darauf hin, den Begriff der Subjektivität nicht mit der Vorstellung des Individuums oder des Individualismus zu verwechseln und beschreibt Subjektivität als einen gesellschaftlich vermittelten Prozess der Berechtigungen und Verhandlungen von Machtverhältnissen. Das Subjekt besteht demnach »aus einem Prozess ständiger Verschiebungen und Verhandlungen zwischen verschiedenen Ebenen der Macht und des Begehrens, d.h. aus Verstrickung und Ermächtigung« (Braidotti 2015, 152).

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(cf. Eagleton 1997, 110ff., in Anlehnung an Derrida).18 Sprache selbst ist somit der ›Raum‹ produktiver Transformation: »Trasformo il pianto in una lingua, in una ribellione.« (Scego 2008, 415) Die Passage zwischen mündlicher Erzählung der Mutter und Schreiben der Tochter erscheint sowohl von Kontinuität als auch von Hybridisierung geprägt. In der Gedankenrede über ihre sprachliche Prä­ gung im Epilog des Romans beschreibt Zuhra das Somali ihrer Mutter explizit als mündliche Sprache, »Il somalo di mamma è orale, il suo somalo è fatto di storia, poesia, musica e canto« (Scego 2008, 444), während sie selber eine ›kontaminierte‹, hybride Sprache zwischen Somali und Italienisch, »l’altra madre« (Scego 2008, 443), verwendet, worüber sie in folgendem Textauszug reflektiert: »Mamma mi parla sempre nella nostra lingua madre […] Mi chiedo se la lingua madre di mia madre possa farmi da madre. Se nelle nostre bocche il somalo suoni uguale. Come la parlo io questa nostra lingua madre? Sono brava come lei? […] Incespico incerta nel mio alfabeto confuso. Le parole sono tutte attorcigliate. Puzzano di strade asfaltate, cemento e periferia. Ogni suono di fatto è contaminato. Ma mi sforzo lo stesso di parlare con lei quella lingua che ci unisce. In somalo ho trovato il conforto del suo utero, in somalo ho sentito le uniche ninnananne che mi ha cantato, in somalo di certo ho fatto i primi sogni. Ma poi, ogni volta, in ogni discorso, parola, sospiro, fa capolino l’altra madre. Quella che ha allattato Dante, Boccaccio, De André e Alda Merini. L’italiano con cui sono cresciuta e che a tratti ho anche odiato, perché mi faceva sentire straniera. L’italiano aceto dei mercati rionali, l’italiano dolce degli speaker radiofonici, l’italiano serio delle lectiones magistrales. L’italiano che scrivo.« (Scego 2008, 443f.)

Zuhra kommuniziert mit ihrer Mutter auf Somali, zweifelt jedoch an ihrer Sprachkompetenz und bezeichnet die italienische Sprache im Textzitat als ›zweite Mutter‹. Sie gebraucht beide Sprachen alternierend: Ihr Idiom ist sowohl von der somalischen mündlichen Erzähltradition ihrer Mutter als auch der Sprache ihrer kulturellen Identifikation und universitären Bildung markiert. Die angedeutete Gegenüberstellung von mündlichem Somali und italienischer Schriftsprache wird sogleich wieder dekonstruiert, indem die Erzähle18 | Ähnlich reflektiert Miranda darüber, wie viele Sprachen ihr eigener und Mars Körper enthalten: »Quante lingue ci sono dentro di noi? Tu lo sai, figlia mia? Io lo intuisco, ma non so dire di quante lingue siamo fatte. In noi c’è di sicuro l’ancestrale lingua india, la lingua di Coatlalopeuh. Della fertilità. Poi c’è la lingua della storia, lo spagnolo esportato col sangue e con l’inganno. Ma nella nostra bocca è cambiato, lo sento, si è ingentilito, si è innervato di noi. Non è più la lingua arrotolata dalle consonanti compatte dell’inizio del mondo. Diventa aria e stelle, diventa sole e luna. Si fa carne. Si fa viva.« (Scego 2008, 414f.) Die argentinische Dichterin versucht sich ebenfalls über das Schreiben von ihrem Trauma, der Erfahrung von innerem und äußerem Exil, von Verlust und Leid zu befreien.

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rin verschiedene Register des mündlichen Sprachgebrauchs im Italienischen nennt (cf. Kleinert 2013, 209f.). Das Bild der beiden Mütter in der zitierten Textpassage entwirft das Konzept einer transkulturellen Sprache sowie ›Identität‹, deren Grenzen im Bewusstsein fließend verlaufen. Als Schreibende bezieht sich Zuhra nicht nur auf die Sprache als Medium der kritischen Analyse und des politischen Handelns, sondern »empfindet sich als von ihr bewohnt – als ein Anderes im Inneren« (Braidotti 2015, 151, in Anlehnung an Kristeva 2001). Die italienische wie die somalische Sprache werden von Zuhra verwendet, um ihre transkulturelle ›Identität‹ zu erzählen, die sich nicht in einer einzigen Sprache ausdrücken ließe. Wie im ersten Teil dieser Romananalyse skizziert, gebraucht Zuhra neben Italienisch und Somali den römischen Slang als Alltagssprache, zudem absolvierte sie ein Studium in Brasilianischer Literatur, spricht Englisch und Spanisch und entscheidet sich, Arabisch zu lernen. Ihre Mehrsprachigkeit bedeutet eine komplexe Koexistenz von Sprachcodes, die sich im Text beispielsweise in Form von mehrsprachiger Überblendung manifestiert (cf. Brogi 2011, 206). Bilingualität oder Mehrsprachigkeit verweist mitunter darauf, dass das Sprechen unterschiedlicher Sprachen nicht nur Teil des privaten oder öffentlichen Lebens einer Person ist, sondern gleichzeitig ein konstituierendes Element der individuellen ›Identität‹ sowie der Imagination, des Gedächtnisses und selbst des erlebten Schmerzes. Sprache und Repräsentation fungieren als ›Raum‹ der Subjektkonstitution, wodurch sich das Selbst sozusagen in einer textuellen Struktur, die stets fließend bleibt, schreibt. Das nomadische Werden lässt sich erfassen als ein Prozess des Ausdrucks, der Komposition, des Schreibens mit dem Ziel einer ›positiven‹ Transformation des Subjekts.19 Strategien für die Entwicklung ›nomadischer Subjektivitäten‹ sind z.B. die narrative Vernetzung von Zugehörigkeit oder kreatives Erinnern und Erzählen. Als kollektive Gefüge streben Subjekte, so Braidotti, nach bejahender Selbstverwirklichung oder -werdung. Wenn sie erreicht wird, ist es, »als würde man einen musikalischen Ton treffen« (Braidotti 2015, 154) oder einen Gedanken auf den Punkt bringen oder, wie Zuhra in Oltre Babilonia, die Farbe Rot wahrnehmen. Körperlich traumatisiert schreibt Zuhra ihre Geschichte und am Ende steht die Wiederaneignung ihres Körpers und ihrer Sexualität: Sie erlangt ihre Wahrnehmung der Farbe Rot zurück, die aus ihrem Geschlecht fließt, und stellt eine Relation zwischen ihrem Körper und ihrer Geschichte als Frau im Kontext der Geschichten anderer Frauen her:20 19 |  Braidotti beschreibt das nomadische Subjekt als »ein materiell eingebettetes und verkörpertes, affektives und relationales, kollektives Gefüge (assemblage), ein Relaispunkt eines Netzes komplexer Relationen, die die Zentralität der mit dem Ego-Index versehenen Vorstellungen von Identität verschieben« (Braidotti 2015, 153). 20 | Die Farbe Rot begegnet als Motiv darüber hinaus in den intermedialen Referenzen auf die TV-Berichte via blutverschmierten Kamerabildschirmen über die Ermordung der

Igiaba Scego – Oltre Babilonia »Macchia umida, estesa. Sembra una stella. Forse lo è. È rossa la sua stella. Un po’ umida. Ma bella. Emana luce. Una stella mestruale che brilla solo per lei, infinita. Le forme si disperdono. La stella si allarga. Una costellazione. Dentro la costellazione, la sua storia di donna. E dentro la sua storia, quella di altre prima di lei e di altre dopo di lei. Le storie si intrecciano, a volte convergono, spesso si cercano. Tutte unite da un colore e da un affetto.« (Scego 2008, 456)

Zuhra verbindet metaphorisch ihr Menstruationsblut mit einer Konstellation verwobener Geschichten und verweist dadurch symbolisch auf die Überwindung ihres Verlusts von Farben als Metapher für Liebesverlust durch das Erzählen respektive Schreiben, das für Zuhra jene Selbstermächtigung bedeutet, sich auf ihren Körper und die Menschen in ihrem Umfeld erneut einzulassen. Der weiße Stern auf blauem Hintergrund der somalischen Flagge verbindet sich im Textzitat mit dem körperlichen, sinnlichen und intimen Symbol eines menstruierten Sterns aus Geschichten und Beziehungen: Ein fünfzackiger Stern führt die Lebensgeschichten der fünf ProtagonistInnen zusammen. In der Erzählung all ihrer Geschichten erinnert die rote Farbe des Menstruationsblutes an die historischen Wunden und zugleich ermöglicht es die Geburt von etwas Neuem (cf. Babic Williams 2013, 119; Gazzoni 2013, 232). Die doppelte agency des weiblichen Körpers und der eigenen Stimme widersetzt sich der Brutalität einer in Oltre Babilonia von sexueller Gewalt bestimmten Geschichte. Wie die vorliegende Studie mehrfach herausstellt, sind Erzählungen symbolische Repräsentationen, etwa der italienischen Kolonialbesatzung in Somalia, gleichzeitig stellt aber jede Beschreibung einen »kulturell schöpferische[n] Akt« (de Certeau 1988, 228) dar. Schafft die performative Dimension von Erzählungen ›neue‹ (symbolische, soziale, kulturelle) Räume, bedeutet dies umgekehrt, dass dort, wo Erzählungen verschwinden, es einen Raumverlust gibt, z.B. wenn ein Individuum, eine Gruppe oder eine Gesellschaft ihre Geschichten nicht artikulieren können. In der Tat erscheinen in der erzählten Welt von Oltre Babilonia die Vergangenheit und das verlorene ›Mutterland‹ zunächst als beinahe leerer ›Raum‹. Die Narration bringt insofern einen Handlungsraum hervor, als das Erzählen bislang unausgesprochener Traumata Fluchtlinien »Oltre Babilonia«21 zu öffnen vermag (cf. Gazzoni 2013, 229). Durch die metafiktional inszenierte italienischen Reporterin Ilaria Alpi am 20. März 1994 in Somalia; zudem in den nos­ talgischen Erinnerungen an Mogadishu, auf Somali Xamar, »the Red«, genannt (cf. Curti 2011, 88). 21 | Cf. Zuhras Reflexion zum Ausdruck »Oltre Babilonia« im Epilog: »[…] era una frase che mi ero inventata al liceo. […] Improvvisamente, non so chi delle due disse qualcosa su Bob Marley e Babylon. Disse che Babylon era tutto quanto di peggio possa esistere al mondo. La feccia, il vomito, lo schifo, il dolore. Non so, nel silenzio della mia testa io pensai che avrei tanto voluto vivere oltre Babilonia. Oltre …« (Scego 2008, 449f.)

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Handlung des Schreibens spricht Zuhra als Erzählerin des Rahmens ihr Ich aus und schafft als Effekt ihrer zurückerlangten Handlungsfähigkeit und hybriden Sprache der Äußerung ›neue Räume jenseits Babylons‹ oder jenseits realer und imaginärer Grenzen, die innerlich gefangen halten oder begrenzen, wenn das Ich nicht erzählt oder ausgesprochen werden kann. In diesem Sinne wird ›zuhause‹ nicht als gegebener Ort, sondern als ›Raum‹ des narrativen Aushandelns und transformativer ›Raum‹ des Werdens verstanden. Im Schreiben überwindet die Protagonistin schließlich ihren Ichverlust und begegnet angesichts der humanitären und politischen Katastrophe in Somalia gleichzeitig der Notwendigkeit einer erzählerischen Wiederbelebung und sprachlichen Existenz des ›Mutterlandes‹, das im Kontext der Diaspora primär in der Sprache und der Literatur überlebt. Auf individueller wie auf kollektiver Ebene repräsentiert Oltre Babilonia daher eine Überlebenserzählung. Wie im Verlauf dieser Romananalyse gezeigt wurde, denunziert der politisch und körperlich aufgeladene Roman von Igiaba Scego in erster Linie sexuelle Gewalt, entwirft darüber hinaus aber erzählerische und psychologische Strategien der Aufarbeitung von Traumata und zeichnet letztlich »›horizons of hope‹, a life beyond wounds and scars, beyond Bob Marley’s ›Babylon‹« (Carroli 2010, 216f.). Spielt der Buchtitel auf die symbolische wie dynamische Dimension von ›Raum‹ und Bob Marleys Kritik des ökonomisch-politischen Systems, dem Babylon system, an, verweist er zugleich auf die nomadische Subjektkonstitution der Ich-Erzählerin (cf. Kleinert 2011/12, 209): »Sono andata oltre Babilonia, capisci? Oltre tutto, in un posto dove la mia vagina è felice e innamorata.« (Scego 2008, 449) Das Erzählen hält die Fragmente verstreuter ›Identität‹ zusammen und schafft eine Überwindung trennender Unterschiede sowie der machtpolitisch motivierten und konstruierten, jedoch unmöglichen Fixierung von Bedeutung respektive ›Identität‹. Schreiben und Erzählen öffnen also einen kreativen ›Raum‹ über das ›Gewirr‹ der Sprachen und Bedeutungen hinaus zu einer Art ›Versöhnung‹. Die evozierten »Horizonte der Hoffnung« scheinen deshalb grundlegend, so die Philosophin Rosi Bradotti, »to be up to the intensity of life, the challenge, the hurt of all that happens to us« (Braidotti 2006 zit. nach Carroli 2010, 217). Hoffnung repräsentiert demnach eine Überlebensstrategie, um der Intensität des Lebens, den Herausforderungen, dem Leid gewachsen zu sein. Die ›kleine‹ Hoffnung einer »sfumatura di rosso« (Scego 2008, 456) kann Bewegungsbahnen hin zu einer nomadischen Subjektivität skizzieren, indem die Vergangenheit bewusst reflektiert wird als »being co-synchronized with constant change« (Carroli 2010, 217). Die in der Gegenwart erfolgende Bewusstwerdung von in der Vergangenheit eingetretenen steten Veränderungen lässt subjektiv auf einen Wandel in der Zukunft vertrauen; denn Hoffnung ist Freude und Lust am Leben definiert als Ausdruck leidenschaftlichen Begehrens – potenziell oder Wirklichkeit werdend (cf. ­Carroli 2010, 217, in Anlehnung an Braidotti 2006).

VIII. Resümee

»Possiamo lavorare per ottenere un effetto. Quell’effetto non è semplice uno ›straniamento‹: è lo sforzo supremo di produrre un pensiero ecocentrico. È simultaneamente un vedere il mondo da fuori e un vedersi da fuori come parte del mondo e del continuum.« W u M ing 1, N ew I talian E pic (2009, 59)

Im Kontext der transkulturellen Gegenwartsliteratur Italiens positioniert sich verstärkt seit 2005 eine postkoloniale Erzählliteratur und bildet gewissermaßen eine ›Gegenöffentlichkeit‹ an den diskursiven ›Rändern‹ des Literaturbetriebs. Für die Entwicklung dieser »deterritorialisierten Literatur« (im Sinne von Deleuze/Guattari 1975) sind m.E. die Romane Regina di fiori e di perle von Gabriella Ghermandi, Il latte è buono von Garane Garane, Madre piccola von Cristina Ubax Ali Farah, Oltre Babilonia von Igiaba Scego, Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Marincola sowie Mario Domenichellis Lugemalé besonders prägend und bilden daher das repräsentative Untersuchungskorpus dieser Studie. Mit ihren Texten akzentuieren die SchriftstellerInnen die Bedeutung einer gesellschaftlichen Wahrnehmung der gemeinsamen Geschichte ehemaliger Kolonien und Metropole sowie postkolonialer Verflechtungen durch ein italienischsprachiges Publikum. Insofern die Erinnerung an die koloniale Präsenz in Ost- und Nordafrika im kollektiven Gedächtnis wie auch seitens der staatlichen und kulturellen Institutionen Italiens verwischt oder mit problematischen Kolonialmythen beschönigt wurde, konstatiert Niccolò Margara, ähnlich wie der Historiker Nicola Labanca, »una sostanziale rimozione collettiva« (Margara 2013, 122) in den hegemonialen Diskursen und der offiziellen Historiografie bis in die 1980er Jahre, als sich erstmals kritische Stimmen wie jene von Angelo del Boca oder des in jenen Jahren in Italien lebenden somalischen Schriftstellers Nuruddin Farah zu Wort meldeten.1 1 | Cf. in diesem Zusammenhang folgende Einschätzung Nuruddin Farahs: »I had to reinvent myself. I made the self familiar to me take a back seat, and another, of recent

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Postkoloniale Literatur in Italien

Gegenwärtig schreiben die genannten AutorInnen an einer Literatur der Fluchtlinien, die zum einen die koloniale und postkoloniale Geschichte Italiens ins Bewusstsein ruft und neu perspektiviert, zum anderen die kosmopolitische Kultur von Individuen in Bewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Kontext der Globalisierung reflektiert. Weder glorifizieren noch sentimentalisieren die hier untersuchten Texte; mit ihrer Kritik verschonen sie weder postkoloniale Regime noch schweigen sie zu den menschlichen Tragödien in den jeweiligen Ländern. Die AutorInnen fiktionalisieren in ihren Erzählungen die Geschichten ihrer Gesellschaften und thematisieren dabei Fragen, die in Zeiten politischer und persönlicher Krisen aufkommen, etwa den Zusammenbruch von Werten, die Verbreitung von Angst und Schrecken, Strategien des Überlebens sowie die Notwendigkeit, inmitten von Chaos, Spaltung und Verlust menschliche Selbstachtung zu behalten oder wiederzufinden (cf. G ­ agiano 2015, 180). Durch die erzählerische Neuperspektivierung kolonialer und postkolonialer Geschichte werden ›neue Räume‹ geschaffen und die literarischen wie kulturellen Grenzen Italiens erweitert; für Clotilde Barbarulli konkretisiert sich darin die Aufgabe von Literatur: »È missione della letteratura inventare l’altrove illuminando il presente con differenti mondi.« (Barbarulli 2012, 9; cf. Carroli 2010, 204f.) Insofern sich Geburt, Herkunft oder einzelne Lebensabschnitte der Autor­ Innen zumeist in einem anderen Land als Italien verorten, hat die Literaturkritik den Fokus häufig auf biografische Kriterien gelegt und die postkoloniale Literatur wiederholt zur so genannten ›Migrationsliteratur‹ gezählt. Wie Andrea Gazzoni allerdings mit Blick auf die lebendige Literaturproduktion von in Italien lebenden SchriftstellerInnen aus aller Welt bemerkt, »migration cannot be taken as a strict and distinctive category qualifying literary works« (Gazzoni 2013, 214), wird dadurch doch der Blick auf thematische, stilistische und sprachliche Komponenten der Texte verstellt, »come se […] la letteratura migrante non fosse letteratura italiana« (Margara 2013, 128). Was die Romane des Untersuchungskorpus in der Tat verbindet, sind der Erzählgegenstand sowie ästhetische Gestaltungsmerkmale der fiktionalen Darstellung von ›Raum‹ und Raumwahrnehmung, Bewegung und ›Identität‹, Erinnerung und Erzählung von Geschichte/n aus postkolonialer Perspektive, nicht primär die Herkunft der AutorInnen aus postkolonialen Staaten. Die Diskussion sollte m.E. weniger die Biografien der AutorInnen als vielmehr die ästhetische Quamanufacture, come forward and occupy the frontispiece. Then I buried myself in a burrow of self-hypnosis, and had to train my emotions as an exile, who needs must draw no attention to himself, nor point to his covert activities. Serving a higher order, I had to be part of the Somali world, and even though immersed in it, remain separate from it. As an exile in a country I had little direct knowledge of, I soon became mindful of a wisdom upon which I stumbled: that perhaps the proper study of Mogadishu was Italy.« (Farah 2000, 58)

Resümee

lität der Texte in den Vordergrund stellen, und ich hoffe, mit meinen in dieser Studie vorgeschlagenen Romananalysen und -interpretationen entlang einer Verschränkung inhaltlicher und formaler Aspekte innovative Tendenzen in die Erforschung der postkolonialen Erzählliteratur Italiens einzubringen. Die Thematisierung bislang verdrängten Wissens stellt eine Form von Widerstand dar, um etablierte Hierarchien und somit auch den Literaturkanon he­raus­ zufordern. In der Tat sind Themen wie Imperialismus, Kolonialgedächtnis, das Verhältnis zwischen (ehemals) Kolonisierten und Kolonisatoren, postkoloniale Lebensläufe oder transkulturelle Identitätsentwürfe in der italienischen Erzählliteratur bis vor kurzem nahezu absent gewesen – die Bedeutung der postkolonialen Literatur liegt somit u.a. in der Erweiterung des traditionellen Motivspektrums.2 Wie in den Romananalysen aufgezeigt wurde, öffnen die SchriftstellerInnen mit ihren Texten einen ästhetischen Diskurs, der die italienische Gegenwartsliteratur nicht nur innovativ erneuert, sondern der auch eine kritische Thematisierung kolonialer und postkolonialer Erfahrungen und damit zusammenhängender Traumata möglich macht; postkoloniale Literatur kann deshalb gelesen werden »as a return of ›subjected‹ knowlegde« (Curti 2011, 86; cf. Reichardt 2013, 132). Gayatri Spivak betont, »it is through texts that the world is ›worlding‹« (Spivak 1999 zit. in Luraschi 2009, 2), und schreibt Texten ganz allgemein die Macht von ›Welterzeugung‹, also ein Potenzial für ›Wirklichkeitswerdung‹ zu. In einer Welt, die diskursiv von einem westlichen Standpunkt aus dominiert wird, welcher Kanon und Instrumente zur Wirklichkeitsbeschreibung determiniert, verschaffen literarische Texte subalternen Positionen Sichtbarkeit (cf. Luraschi 2009, 2f.).3 Erzählen und Erzählungen fungieren als »Medium 2 | Der Gebrauch der italienischen Sprache in Somalia wie auch in Eritrea und Äthiopien ist nicht mit jenem von Englisch, Portugiesisch, Spanisch oder Französisch in den jeweiligen ehemaligen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent zu vergleichen, vor allem nicht im Bereich der Literatur, so Ali Mumin Ahad (2007, 91f., 97). Die italienische Sprache hat in den ehemaligen Kolonien zwar ihre Spuren hinterlassen, ist jedoch nie an die Stelle des lokalen Idioms getreten. Für Somalia sind hierfür Mumin Ahad zufolge zwei Faktoren ausschlaggebend: Nur ein sehr geringer Anteil der somalischen Bevölkerung konnte in der Kolonialzeit eine Schule besuchen (mangels Investitionen in das Schulsystem seitens der italienischen Kolonialpolitik) und in den nomadisch strukturierten Teilen der Gesellschaft dominierte eine vollkommen orale Literaturtradition. In der Folge fehl(t)en in Somalia repräsentative LiteratInnen wie Léopold Sédar Senghor, Chinua Achebe, Wole Soyinka u.a., potenzielle VermittlerInnen zwischen der somalischen Kultur und einem italienischen Publikum. Diese Rolle scheint den aktuell zu postkolonialen Themen schreibenden, in Italien lebenden SchriftstellerInnen zuzukommen. 3 | Die literarische Repräsentation bedeutet allerdings noch keine politische Repräsentation, worauf Spivak hinweist (cf. Castro Varela/Dhawan 2005, 79f.).

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kultureller Aushandlungs- und Zirkulationsprozesse« (Tiller 2014, 36), was nicht nur identitätsbildend wirkt oder Wissen und Normen vermittelt, sondern vermittels fiktionaler Potenziale kulturelle Ordnungen oder Raumwahrnehmung performativ verändern kann. Das performative Potenzial des Erzählens besteht darin, narrativ die Welt »im Sinne von realräumlicher Realität zu repräsentieren, zu bedenken und sinnhaft zu deuten« (ibid.). Forcieren fiktionale Texte wie Regina di fiori e di perle oder Timira einen von Elisabeth Tiller so bezeichneten »narrativen Lückenschluss des Realen« (Tiller 2014, 41) respektive der offiziellen Kolonialgeschichtsschreibung Italiens, indem sie die Massaker, die willkürliche Gewalt und Kriegsführung sowie die brutalen ›Rassengesetze‹ in Erinnerung rufen, blicken die untersuchten Romane auch kritisch auf postkoloniale Entwicklungen und denunzieren diktatorische Regime, neokoloniale Verhältnisse sowie Gewalt gegen Frauen. Die Thematisierung und Kritik repressiver Praktiken macht Literatur zu einem Instrument von Widerstand; der in den meisten Romanen des Textkorpus metafiktional inszenierte Prozess des Erzählens oder Schreibens von Geschichten repräsentiert eine Strategie des Widerstands, wodurch die Entwicklung des Figurenbewusstseins über ihre diskursive Macht und damit ihre Selbstermächtigung erzählerisch dargestellt wird (cf. Carroli 2010, 210).4 Piera Carroli weist darauf hin, dass »[w]ith its ›contrapuntal‹ [Said 2001] narration of colonial past and postcolonial present, postcolonial Italian literature is an essential element of the process of decolonization of Italy from within« (Carroli 2010, 208). Die in den Romananalysen wiederholt fokussierten Figurationen der Grenze erhellen die Textualität von Geschichte und Raumdiskursen und stellen das Potenzial fiktionaler Texte heraus, das hegemoniale Geschichtsbewusstsein und Raumwahrnehmung aus einer postkolonialen Perspektive zu verändern. Häufig nehmen die als transnationale Verflechtungsgeschichte inszenierten Erzählungen kolonialer und postkolonialer Geschichte ihren Ausgang von Familienkonstellationen und akzentuieren dabei die komplexe Identitätskonstruktion der Hauptfiguren, welche die Spuren jener historischen Traumata tragen. Das teils notgedrungene, teils freiwillige Unter­wegssein zwischen den postkolonialen Großstädten oder entlang globaler Rou­ten des Exils verbindet sich mit Transformationsprozessen von ›Identität‹, 4 | Die Frage nach der Repräsentation evoziert den Theorieimpuls der Postcolonial Studies, der eher von den postkolonialen Literaturen und nicht zuletzt von der Literaturwissenschaft ausgegangen ist: Es sind in erster Linie literarische Texte, die für die Entwicklung einer neuen Selbstrepräsentation der postkolonialen Nationen und Subjekte maßgeblich gewesen sind (cf. Bachmann-Medick 2006, 191). Zu diesem Dialog zwischen postkolonialer Theorie und Praxis bemerkt Simone Brioni: »La connessione tra la pratica artistica e il dialogo critico è forse il primo degli elementi che caratterizza queste opere.« (Brioni 2013, 91)

Resümee

Selbst- und Raumwahrnehmung – ein zentrales Narrativ der Romane. Inszeniert werden fiktionale Figuren, die eine ›nomadische‹ Lebensweise im Sinne einer Bewegung außerhalb fester gesellschaftlicher Normen praktizieren und das Potenzial dieser ›beweglichen Räume‹ für den Entwurf neuer Lebenskonzepte erkunden. Formalen Aspekten kommt in den postkolonialen Romanen des Untersuchungskorpus eine besondere Bedeutung zu, erzeugen die inszenierten Narrative doch vielfach Überlagerungen von Erinnerungen, Perspektiven, Sprachen, Räumen und Erzählebenen, die mit innovativen Vertextungsverfahren gestaltet werden, wie folgende Synthese zusammenfassend darstellt. Öffnet postkoloniale Literatur einen ›Raum‹ der symbolischen Repräsen­ tation für eine Vielfalt an Perspektiven und lotet gleichzeitig Dynamiken transkultureller Begegnungen aus, spiegelt sich diese Perspektivenpluralität auch in der Wahl des Genres: Die Texte lassen sich in Hinblick auf das Genre nicht immer eindeutig zuordnen, vielmehr charakterisieren sie sich über eine Hybridisierung oder Kombination verschiedenster literarischer Genres, »Variablen, die in einem Kontinuum koexistieren« (Braidotti 2015, 153), wie die im Rahmen dieser Studie fokussierten Romane demonstrieren. Diese kombinieren persönliche und kollektive Erinnerungen, Elemente der Autobiografie, Familiengeschichten, Bildungs- und Entwicklungsromane, Identitätserzählungen, Formen des Geschichtenerzählens mündlicher Erzähltraditionen und Gestaltungsmerkmale postmoderner Literatur, faktuale Fiktionen, historische Dokumente und Aspekte der Road Novel. Hybridisierung lässt sich als ›Genrekonvention‹ postkolonialen Erzählens herausstellen, ersichtlich in Erzählstrukturen, Figurenkonzeptionen, Erzählinstanzen, Plots und Sprachen. Schließlich verweist der für eine ›kleine‹ Literatur typische kollektive Charakter auf ein hybrides Gattungskonzept, welches sich beispielsweise in Timira über den kollektiven Schreibprozess oder in Regina di fiori e di perle über eine serielle Erzählerfigur der im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Geschichten äußert. Die Erzählung der gemeinsamen Kolonialvergangenheit als Verflechtungs­ geschichte aktualisiert im Sinne einer »Poetik der Dekolonialisierung« (­Gnisci) das kulturelle Gedächtnis Italiens, in den Romanen erzähltechnisch meist über fingierte Mündlichkeit und Multiperspektivität umgesetzt. Wie auch Eva Hausbacher in ihrer Studie zu einer »Poetik der Migration« feststellt, dient multiperspektivisches Erzählen der Überwindung polarisierender Alteritätsmodelle und kann als Charakteristikum postkolonialen Schreibens gelten (cf. Hausbachter 2009, 139). Die Plots der hier untersuchten Texte sind z.T. so strukturiert, dass jeder Figur ein oder mehrere Kapitel gewidmet sind. In Madre piccola oder Oltre Babilonia reflektiert Multiperspektivität ästhetisch die von Stuart Hall als »dislocation« (Hall 1999, 394) bezeichnete diasporische Lageveränderung der Figuren. Stellt multiperspektivisches Erzählen als Form der narrativen Vermittlung denselben Sachverhalt »aus zwei oder mehreren Sichtweisen bzw. individuellen Standpunkten unterschiedlich [dar]« (Nünning/

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Nünning 2000, 13), imitiert das simulierte mündliche Erzählen geäußerte Dialoge wie auch kolloquiale oder dialektale Rede in der fiktionalen Welt (cf. Fludernik 2011, 32f.). Insofern der Selektionsprozess der Quellen, etwa in Regina di fiori e di perle, den literarischen Strategien und Anforderungen des mündlichen Erzählens folgt, wird das Wissen über die koloniale Vergangenheit um subjektive und alltägliche Erfahrungen ergänzt und Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten enthüllt. Für die erfolgreiche Realisierung dieser transnationalen Überlieferung werden die gesammelten Geschichten verschriftlicht und zugleich die amharische mündliche Erzähltradition evoziert, beispielsweise durch eine zirkuläre Erzählstruktur oder die Konzeption der Protagonistin als cantora, als Griotte oder Geschichtenerzählerin. Regina di fiori e di perle fiktionalisiert daher den Übergang zwischen »kommunikativem« und »kulturellem Gedächtnis« (Assmann 1988). Dies bedeutet eine Aufwertung der Oralität und mündlicher Erzähltraditionen, denn jene »Zeiten, Begriffe und Traditionen, mit denen wir unsere ungewisse, dahingleitende Jetztzeit in die Zeichen der Geschichte verwandeln« (Bhabha 1997, 173), werden aus einer postkolonialen Perspektive neu verhandelt (cf. Hausbacher 2009, 142). Zumeist ist der Plot abgeschlossen, nachdem die Hauptfiguren die gesammelten mündlich erzählten Geschichten verschriftlichen, wie beispielsweise Mahlet in Regina di fiori e di perle, oder ihre persönliche Geschichte schreiben und dabei ihr Selbst rekonstituieren, wie Zuhra in Oltre Babilonia. Das Thema der Übersetzung fingierter mündlicher Erzählungen oder oral tradierter Kultur in schriftliche Texte, also der symbolische Übergang von ›lebendiger Kommunikation‹ in objektivierte Formen der Kultur, behandelt auch Garane Garanes Il latte è buono: Der Roman verdeutlicht zum einen die Konstruiertheit aller Kultur, zum anderen das Überleben der Erinnerung, des Wissens, der Kultur und des Individuums vermittels der Schrift respektive des Schreibens. Hingegen entziehen sich die ProtagonistInnen in Madre piccola oder Lugemalé vorübergehend jeglicher Kommunikation oder praktizieren eine Strategie des Rückzugs im Versuch, einen melancholischen Ichverlust zu bewältigen; später folgt die Notwendigkeit, die eigene Geschichte mitzuteilen oder im Schreiben einen neuen Zugang zum Ich zu finden. Die inszenierten Elemente mündlichen Erzählens oder eines mündlich geformten Sprachgebrauchs, wie mitunter der römische Dialekt in Oltre Babilonia, repräsentieren eine Erzählstrategie zur Gestaltung der verschiedenen kulturellen Prägungen und sprachlichen Register der fiktionalen Figuren, vor allem jedoch, um ihre Ambivalenzen zu ästhetisieren. Die Sprache fungiert als Zeichen und Symptom dieser mit Nostalgie, Gewalt, Entfremdung, teils mit Ironie aufgeladenen Erzählungen und Erinnerungen. Die Sprache der Äußerung evoziert – im Zuge sprachlicher und kultureller Übersetzungsvorgänge – bisweilen die abwesende Muttersprache, formal realisiert vermittels der Kopräsenz somalischer oder amharischer Lexeme (insbesondere Bezeichnungen für materielle Objekte, Speisen und Getränke oder Bräuche,

Resümee

aber auch Interjektionen, idiomatische Wendungen und Sprichwörter). Diese für eine hybride Literatur charakteristischen Mehrsprachigkeitsaspekte resultieren aus der Einfügung neuer kultureller und linguistischer Zeichen in den italienischen Sprachcode und bilden ein stilistisches Merkmal der italienischsprachigen postkolonialen Erzählliteratur. Ästhetisch innovativ erweist sich schließlich das Erzählverfahren transkultureller Intertextualität, das kanonisierte Prätexte wie etwa Dantes Inferno in Il latte è buono oder den Perceval in Lugemalé oder auch Ennio Flaianos Tempo di uccidere in Regina di fiori e di perle deterritorialisiert und in einem postkolonialen Zusammenhang neu mit Bedeutung auflädt (cf. Romani 1999, 169; Gronemann 2002, 131f.; Curti 2011, 89f.). Im poststrukturalistischen Sinne akzentuieren die Romane des Untersuchungskorpus die konstitutive Rolle der Sprache für die Identitätsbildung der inszenierten Figuren; die Auffassung von ›Identität‹ als Resultat gesellschaftlicher Diskurse betont die Wichtigkeit der Sprache, insbesondere bei der Bewältigung von Prozessen der Selbstentfremdung im Kontext von Exil, Diaspora oder Migration (cf. Curti 2011, 86f.). Beschreibt die durch räumliche Bewegung ausgelöste Identitätstransformation eine der Grundthesen moderner Erfahrung, werden in den Romanen des Textkorpus die geografischen, mentalen, kulturellen und sprachlichen Übergänge nicht nur besonders eindrücklich zum Thema gemacht, sondern durch die Verortung in postkolonialen Kontexten darüber hinaus politisch aufgeladen. »›Räumlichkeit‹ ist für das an Wahrnehmung gebundene Bewusstsein […] unvermeidlich« (Hard 2009, 300), weshalb in den Romananalysen der fiktional inszenierte Zusammenhang zwischen figuraler Raumwahrnehmung, Bewegung und Identitätstransformation fokussiert wurde. Erzählte Orte und Räume stehen in literarischen Texten in einer Beziehung zu sich bewegenden oder wahrnehmenden Figuren: Durch den Eintritt in eine andere kulturelle oder soziale Ordnung verändern die Charaktere sowohl diesen Kontext oder (sozialen) ›Raum‹ als auch sich selbst, ein weiteres Narrativ der hier analysierten literarischen Texte. ›Raum‹ wird dabei als Effekt sozialer oder kultureller Handlungen bzw. von Interaktionen begriffen. Das fiktional dargestellte Durchqueren urbaner Räume beispielsweise repräsentiert den veränderlichen ›sozialen Raum‹ verstanden als relationale (An-) Ordnung von Körpern (cf. Löw 2001, 131), wie insbesondere die Roman­analyse zu Il latte è buono zeigt, während Regina di fiori e di perle über die kulturelle Praktik oder Handlung des Erzählens die diskursiv strukturierte Raumwahrnehmung der LeserInnen performativ zu verändern sucht. Bewegung in globalen Räumen bedeutet aber nicht nur eine Begegnung mit verschiedenen kulturellen und sozialen Ordnungen, sondern in der ›Fremde‹ der zuweilen als abweisend und unzugänglich empfundenen neuen Gesellschaft in erster Linie mit sich selbst. Wie in den Kapiteln zu Timira und Il latte è buono in Anlehnung an Jan Assmann herausgestellt wurde, sind ­Individuation

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und Sozialisation kulturell determiniert und beruhen auf einem Bewusstsein, das durch die Sprache(n), Vorstellungen und Normen mitunter mehrerer Kulturen geprägt wird. Die Gesellschaft wirkt demnach für das Selbst jedes/r Einzelnen konstituierend (cf. Assmann 2005, 132). Bewegen sich Individuen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungen, konstruiert sich deren personale ›Identität‹ relational zum veränderten sozialen Kontext. Mobilität und räumliche Grenzüberschreitungen verbinden sich also mit einer zweifachen Bewegung respektive existenziellen »Schwellenerfahrungen« (Benjamin zit. in Waldenfels 1998, 32), »[dem] Fremdwerden der Welt und des eigenen Selbst« (Waldenfels 1998, 32), das auch eine relationale Vernetzung mit ›der Welt‹ und ein Neufinden des Selbst bedeuten kann. Madre piccola etwa thematisiert vermittels der somalischen Diaspora, deren BewohnerInnen ständig zwischen sich verändernden sozialen und kulturellen Räumen in Bewegung sind, den endlosen Prozess des Aushandelns von ›Identität‹. Angesichts diasporischer Familienkonstellationen korreliert die Identitätskonstitution der fiktionalen Figuren mit einer permanenten Gefühls­ ambivalenz. Die Kategorie der »Duplizität« (Hausbacher 2009, 141) spielt in postkolonialen Texten eine wichtige Rolle: Werden zum einen verschiedene Orte und Räume miteinander verschränkt, wie beispielsweise die postkolonialen Großstädte Mogadishu und Rom in Il latte è buono, wird zum anderen in allen Romanen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – die unheimliche Rückkehr der Vergangenheit in der Gegenwart thematisiert, formal zumeist gestaltet durch eine auf zwei alternierenden Zeitebenen angelegte story oder eine anachronische Darstellung des Geschehens; besonders relevant erscheint das Thema der »Doppelung« (ibid.) oder der Spiegelung jedoch auf der Figurenebene hinsichtlich psychischer und emotionaler Ambivalenzen, also einer »Spaltung des Ich« (ibid.), die durch Trennung von der Familie oder durch unfreiwilliges Verlassen des Zuhauses ausgelöst wird. Die inszenierten fiktionalen Reisenden, Flüchtenden oder MigrantInnen loten die allgemeine zeitgenössische Erfahrung eines Stabilitäts- und Sinnverlusts aus und vermitteln diese, wie in Lugemalé und Madre piccola, unter dem Aspekt eines melancholischen Ichverlusts. Beleuchten die Romane anhand psychologisch komplexer Figurenkonzeptionen existentielle Fragen u.a. zu Trauma und Verlust einer geliebten Person oder der vertrauten Lebenswelt, reflektieren die ProtagonistInnen über ihren drohenden Selbstverlust im vermeintlich Vertrauten oder darüber, dass ein ›Zuhause‹ im Sinne eines dauerhaften, fixen Zentrums nicht mehr länger existiert, über Orte und Räume oder Konzepte kultureller Hy­ bridität. Erst im Exil oder entlang der Diasporarouten bilden die Figuren ein Bewusstsein über ihre transkulturelle ›Identität‹ aus und erkennen das Potenzial eines offenen, dezentrierten Identitätsbegriffs; räumliche Bewegung wird somit zur Voraussetzung für die innere Reifung der Persönlichkeit der inszenierten Charaktere. Wiederholt bewegen sie sich entlang der von Augé (1994,

Resümee

93) beschriebenen Nicht-Orte, die als Knotenpunkte Reise- und Migrationsrouten relational vernetzen und gerade in postkolonialen und/oder diasporischen Situationen von existentieller Bedeutung erscheinen, ermöglichen sie doch weltweite Bewegung und dadurch letztlich auch Widerstand gegen vereinheitlichende Diskurse von Nation, ›Identität‹ oder Kultur. Das Unterwegssein bietet beispielsweise für Domenica Axad in Madre piccola oder Tomas/Marco in Lugemalé, tendenziell auch für Gashan in Il latte è buono, eine vorübergehende Rückzugsmöglichkeit, eine Überlebensstrategie, ein Verweilen in der schützenden Umgebung der Bewegung als »Raum des Werdens« (Braidotti 2015, 149), während Isabella in Timira Bewegung und Veränderung sogar mit (dem) Leben gleichsetzt. Auf ihren Itinerarien loten die Figuren über die kulturelle Praktik des mündlichen und schriftlichen Erzählens ihrer traumatischen Erfahrungen schließlich Wege zu psychischer, emotionaler und physischer Befreiung aus. Exil, Diaspora oder Migration werden zumeist als ambige ›Räume‹ neuer Möglichkeiten und Lebensmodelle repräsentiert, die transversal von Schmerz, Entfremdung und Verlust durchkreuzt werden. Für die fiktionalen Figuren eröffnen diese ambigen ›Räume‹ neue Handlungsmuster: Der zumeist metafiktional gestaltete Akt des Schreibens scheint metaphorisch als ›Zuhause‹ zu funktionieren, da die erzählten Geschichten zerstreute Identitätsfragmente zusammenhalten und dadurch die historisch bedingte Fragmentierung bewältigt werden kann. Wiederholt wird die Handlung des Schreibens metanarrativ mit der Tätigkeit des Webens parallelisiert, mit einer Verknüpfung von Handlungsfäden oder dem Verflechten unterschiedlicher Binnennarrationen. Als kulturelle Handlung erzeugt das Erzählen oder Vertexten von Fragmenten individueller oder kollektiver Geschichten einen kohärenten und zugleich beweglichen ›Raum des Werdens‹, der manchmal ein ›Raum des Überlebens‹ ist. Die Romane fiktionalisieren also den von Derrida (1999) theoretisierten Zusammenhang von Subjektwerdung und Textproduktion, demzufolge der Zugang zum Ich und die Entfaltung von Subjektivität sich erst mit dem Schreiben konstituieren, ein Sujet, das die Texte wie skizziert je unterschiedlich erzählerisch gestalten (cf. Gronemann 2002, 18). Hinsichtlich der poststrukturalistischen Annahme, welche die Sprache als die konstitutive Struktur menschlicher Subjektivität betrachtet, weist die Philosophin Rosi Braidotti darauf hin, auch die strukturelle Macht der Sprache selbst kritisch zu hinterfragen.5 In postkolonialen Erzählungen ist ein 5 |  Braidottis Konzept der »Nomadischen Subjektivität« möchte Fluchtlinien bzw. einen kreativen, alternativen ›Raum des Werdens‹ öffnen. In Anlehnung an Derrida, Irigaray und Deleuze hebt Braidotti die scheinbar einfache Erkenntnis hervor, »dass die Beziehung zu Anderen, vermittelt durch gesellschaftlich-symbolische Strukturen, das definierende Merkmal aller Subjekte und unserer gemeinsamen Humanität ist« (Braidotti

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häufiger Wechsel zwischen unterschiedlichen Sprachen anzutreffen, der es ermöglicht, dominante Formationen von ›Identität‹, Erinnerung und Identifikation zu öffnen und aktiv zu verschieben. Durch das Erzählen, Schreiben und Vertexten schaffen die fiktionalen Figuren einen ›Raum‹ sowohl der Bewegung als auch der Kohärenz ihrer fragmentierten ›Identitäten‹ und in dieser »transformative[n] Beschreibung des Selbst« (Braidotti 2015, 154) bewältigen sie ihren Ichverlust oder ihre Identitätskrise: »Das, was den gesamten Prozess des Subjekt-Werdens aufrecht erhält, ist der Wille zum Wissen, der Wunsch zu sagen, der Wunsch zu sprechen, es ist ein gründendes, primäres, lebenswichtiges […] Streben zu werden.« (Braidotti 2015, 152) Die Figuren finden ein Gleichgewicht in der beständigen Bewegung und als »equilibristi dell’essere« (Mubiayi/Scego 2007 zit. in Carroli 2010, 208)6 halten sie diese auch aus. Prozesse des Werdens sind darüber hinaus kollektiv und intersubjektiv, insofern ›Andere‹ stets in Relation zum eigenen Werden stehen (cf. Braidotti 2015, 154). Die in den Romanen entfaltete Ästhetik der Unterbrechung oder der Fragmentierung wird so zu einer Ästhetik des ›Du‹, verorten sich die Figuren doch in einem von Beziehungsnetzen bestimmten ›Raum‹ der Relationen, der zugleich Bewegung und Kohärenz erlaubt, oder in den Worten von Cristina Ubax Ali Farah: »E il groviglio dei fili si allarga e mostra, chiari e ben stretti, i nodi, pur distanti l’uno dall’altro, che non si sciolgono. Sono una traccia in quel groviglio e il mio principio appartiene a quello multiplo.« (Ali Farah 2007, 1) Konzipiert als ein Knotenpunkt des Netzes aus Beziehungen oder als ein »affektives und relationales, kollektives Gefüge« (Braidotti 2015, 153) knüpfen die Figuren Anfang und Werden an das ›Du‹: Beziehungsnetze oder die nomadische Praktik des Vernetzens, des Verbindens von Punkten, des Verwebens oder Vertextens von Geschichte(n), vermögen zielloses Treiben und Selbstverlust zu vermeiden (cf. Carroli 2010, 209).7 2015, 150). Subjektivität ist Braidotti zufolge »ein gesellschaftlich vermittelter Prozess der Berechtigungen und Verhandlungen von Machtverhältnissen. Folglich ist die Bildung und Entstehung neuer gesellschaftlicher Subjekte immer ein kollektives Unterfangen, dem individuellen Ich äußerlich, während gleichzeitig die tiefen und singulären Strukturen des Ichs in Bewegung gesetzt werden.« (Braidotti 2015, 152) 6 | Ingy Mubiayi und Igiaba Scego prägen in ihrer Einleitung des Bandes Quando nasci è una roulette: giovani figli di migranti si raccontano (2007) die Bezeichnung »equili­ bristi dell’essere« (cf. Carroli 2010, 208). 7 |  Braidotti zufolge bewirken in Hinblick auf Praktiken des Schreibens »die Prozesse und Ströme des Werdens eine Art Parallelismus zwischen den Künsten, den Wissenschaften und dem begrifflichen Denken« (Braidotti 2015, 153). In Anlehnung an Deleuze und Guattari, die behaupten, dass Schreibende das Unsagbare aussprechen, Malende das Unsichtbare sichtbar machen, KomponistInnen Stille hörbar werden lassen, fragt Brai­ dotti, ob nicht PhilosophInnen in ähnlicher Weise Abstraktes (oder Chaos?) denkbar

Resümee

Folgten auf den Bruch der Kolonialzeit und die erzwungene Assimilation der Gesellschaftsordnungen teils anhaltende schwerwiegende Krisen, versucht eine engagierte zeitgenössische Literatur vermittels erzählerischer Neuperspektivierung kolonialer und postkolonialer Erfahrungen nach wie vor verbreiteten stereotypen Bildern und Imaginationen widerständig zu begegnen und zu entgegnen. Ist es auch unmöglich, Trends zu generalisieren, lässt sich für die zeitgenössische Erzählliteratur Italiens mit Andrea Gazzoni dennoch beobachten, »that, after decades of modernist and post-modernist narratives, many Italian writers have rediscovered the act of telling stories as the basis of a new approach to past and present history« (Gazzoni 2013, 233). Das in diesem Kontext auch international am meisten beachtete Beispiel der italienischen Gegenwartsliteratur repräsentieren die als New Italian Epic bezeichneten Texte des Schriftstellerkollektivs Wu Ming.8 Charakterisiert sich die New Italian Epic u.a. über eine Inszenierung sowohl fiktionaler als auch faktualer Geschichten mit dem Ziel, die dominierenden Geschichtsversionen, Machtdiskurse und Körperpolitiken zu transformieren, stellt das narrativ gestaltete Geschichten­ erzählen als Widerstandspraktik ein gemeinsames Merkmal mit den hier behandelten postkolonialen Romanen dar.9 Diese kombinieren ästhetisch innovativ Gestaltungsmerkmale postmoderner Literatur, allen voran Metafiktionalität, fragmentarisches Erzählen, Montagetechniken, Gattungshybridität etc., mit machen. Evident sind m.E. auch Anklänge an die Philosophie Martin Bubers: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.« (Buber 2005, 18) 8 | Wie in Kapitel III herausgearbeitet, forciert Timira als Teil der New Italian Epic eine fiktionale Aushandlung kultureller und politischer Themen. In Hinblick auf eine New Italian Epic fordert Wu Ming programmatisch: »impegno etico nei confronti dello scrivere e del narrare, il che significa: profonda fiducia nel potere curativo della lingua e delle storie; un senso di necessità politica […]; la scelta di storie che abbiano un complesso valore allegorico. […] un’esplicita preoccupazione per la perdita del futuro, con propensione a usare fantastoria e realtà alternative per sforzare il nostro sguardo e spingerci a immaginare il futuro; sovversione sottile dei registri e della lingua. […] sintesi di fiction e non-fiction diverse da quelle a cui eravamo abituati […]; un uso ›comunitario‹ di Internet al fine di […] ›condividere un abbraccio con il lettore.‹« (Wu Ming 2009, 108f.) 9 |  Wu Ming zählt Regina di fiori e di perle explizit zur New Italian Epic, cf. http://www.wu mingfoundation.com/italiano/WM1_saggio_sul_new_italian_epic.pdf (29.05.2017). Das politisch engagierte und literarisch innovative Projekt der New Italian Epic löste in der italienischen Literaturkritik eine Kontroverse aus, etwa kommentiert Alberto Asor Rosa dessen Bedeutung mit den Worten: »Volgendosi intorno, l’unico tentativo recente di sistemazione teorico-letteraria di tale materia degno di questo nome è New italian epic […], altamente meritorio per il solo fatto, – raro, ripeto – di entrare nel merito.« (Asor Rosa 2009, http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/ 2009/12/15/ritorno-in-provincia-le-cento-italie-dei.html, 12.06.2017)

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postkolonialen Themen und politischem Engagement, und ähnlich der New Italian Epic, die Verantwortung für die Zukunft als Teil ihres literarischen Programms begreift, verleihen sie der literarischen Tradition einer littérature engagée nach Jean Paul Sartre neue Aktualität.10 Insbesondere Lugemalé, Regina di fiori e di perle und Timira üben scharfe Kritik am Umgang des offiziellen Italien mit der kolonialen und postkolonialen Geschichte und akzentuieren die potenzielle Unabgeschlossenheit von Geschichtsaufarbeitung. Angesichts einer gesellschaftlich unbewältigten Kolonialvergangenheit appellieren die Texte wiederholt an das individuelle Ermessen, das Verhältnis zur Kolonialvergangenheit aus einer postkolonialen Perspektive zu aktualisieren, also von einem gegenwärtigen Standpunkt aus neu mit Bedeutung aufzuladen und so »die Macht des Diskurses bei der Produktion von Subjektivität, Wissen und Bedeutung aufzudecken« (Braidotti 2015, 150). Die Texte vertrauen somit auf die Fähigkeit des kritischen Lesers/der kritischen Leserin Widerstand zu leisten und öffnen zugleich Fluchtlinien im Sinne eines »corso della tenerezza delle anime e dello spirito di educazione delle lettere« (Gnisci 2009, 81f.).

10 |  Dieser Zusammenhang wird auch von Sandra Ponzanesi als richtungsweisend herausgestellt: »This would imply that postcolonial artifacts, and culture in general, should be analyzed both in their political aspect (and here is where postcolonialism differs from postmodernism) and in their aesthetic specificity.« (Ponzanesi 2012, 61)

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Ringraziamenti

Dieses Buch entstand über einen längeren Zeitraum zunächst als Disserta­ tion, ausgearbeitet an den Universitäten Innsbruck, Wien, Roma  1 »La Sapienza« und Roma Tre. Für die wissenschaftliche Betreuung, konzeptuelle Beratung und Textlektüren im Rahmen der Entstehung meiner Dissertation sowie die institutionelle Projektförderung in Zusammenhang mit Stipendienanträgen für die Realisierung mehrerer Recherche- und Forschungsaufenthalte in Italien danke ich allen voran Birgit Mertz-Baumgartner und Sabine Schrader. In der Anfangsphase meines Doktoratsstudiums hatte ich Gelegenheit, bei Armando Gnisci an der Università degli Studi di Roma »La Sapienza« zu studieren, der mich im Sinne seiner »Poetik der Dekolonialisierung« inspirierte und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der italienischsprachigen postkolonialen Literatur motivierte, grazie infinite! Ganz besonders danke ich Burglinde Hagert und Daniel Winkler für engagierte Kapitellektüren, kreative Anregungen, kritischen Austausch und Inspiration während des Entstehungsprozesses dieses Buches. An entscheidenden Wendepunkten meines Projektes standen mir hinsichtlich Fragen zu Gliederung und Auf bau Gerhild Fuchs und Federico Italiano, für Literaturtipps Mario Rossi, für Anregungen zur Theorie Alessandro Bosco sowie für raum- und architekturtheoretische Fragen Dörte Kuhlmann beratend zur Seite, denen ich, wie auch Julia Pröll und Peter Kuon, sehr herzlich danke. Für motivierende Unterstützung während meiner Lektoratstätigkeit an der Roma Tre danke ich Giovanni Sampaolo. Für inspirierenden und kreativen Gedankenaustausch zu postkolonialen und textspezifischen Fragen danke ich Cristina Ubax Ali Farah und Mario Domenichelli. Mein Dank gilt außerdem der Universität Innsbruck, insbesondere dem Vizerektorat für Forschung, dem Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und dem International Relations Office, die meine Forschungs­ arbeit während meines Doktoratsstudiums sowie die Publikation der vor­lie­genden Monografie unterstützt haben; auch danke ich der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Druckförderung. Ich bedanke mich zudem beim transcript Verlag und meiner Lektorin Tanja Jentsch für die ausgezeichnete Betreuung sowie bei Annalisa Cannito für die Erstellung meh-

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Postkoloniale Literatur in Italien

rerer Coverentwürfe. M eine Forschung w urde m it einem Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gefördert, welches mir einen Aufenthalt am österreich­ischen Historischen Institut in Rom ermöglichte; ganz besonders danke ich in diesem Zusammenhang Ulrike Outschar, Andreas Gottsmann und Elisa Saltetto. Schließlich begleiteten mich auf meinen Reisen zwischen den Universitäten, Städten, durch die Welt der Literatur und der Philosophie zahlreiche Menschen, denen an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt sei: meinen Eltern für ihre beständige Unterstützung, Robert Wegleitner für anregende Gespräche zu den Themen dieses Buches, Barbara Heis und Richard Mayr, Emanuela Baron, Ebru Simsek-Lenk und Jürgen Lenk für wiederholte Inspiration und kreativen Austausch. Auch motivierten mich meine Freunde Uli Eigentler, Katja Grießer, Katarzyna und Maximiliana Jacyna-Onyszkiewicz, Melanie Kofler, Kerstin Mehrle, Jasmin Sailer, Nunzia Laura Saldalamacchia, Iris Walkner und ­Michael Wurzer bei der Verwirklichung dieses Buches, denen ebenfalls ein großes Dankeschön gilt.

Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de