Performative Künste in Äthiopien: Internationale Kulturbeziehungen und postkoloniale Artikulationen 9783839441404

Art production in Ethiopia: Challenges and potentials of trans-cultural cooperation within the range of international cu

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Performative Künste in Äthiopien: Internationale Kulturbeziehungen und postkoloniale Artikulationen
 9783839441404

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Kultur und Kulturbeziehungen
4. Auswärtige Kulturpolitik
5. Kunsthistorischer Kontext in Äthiopien
6. Zeitgenössisches Theater in Äthiopien
7. Kunstszenen in Addis Abeba
8. Herausforderungen für performative Künstler_innen
9. Herausforderungen für das Goethe-Institut
10. Produktionsprozesse als künstlerische Zusammenarbeit
11. Ästhetik der Inszenierungen
12. Schlussbetrachtung
Anhang
Bibliographie

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Grit Köppen Performative Künste in Äthiopien

Theater | Band 106

Grit Köppen ist promovierte Theater- und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppen »Dekoloniale Ästhetiken« an der Universität der Künste Berlin und »Performativity and Mediality in an African Context« an der Bayreuth International Graduate School of African Studies. Ihre Forschungsschwerpunkte sind postkoloniale Ästhetiken, dekoloniale Kunststrategien und zeitgenössische performative Kunstansätze im afrikanisch-diasporischen Kontext.

Grit Köppen

Performative Künste in Äthiopien Internationale Kulturbeziehungen und postkoloniale Artikulationen

Förderung der Studie durch: Heinrich-Böll-Stiftung, Bayreuth International Graduate School of African Studies Bayreuth, Univ., BIGSAS, Diss., 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Nathalie Bertrams, Addis Abeba, 2011, © Nathalie Bertrams Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4140-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4140-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 9 Einleitung | 11 Forschungsfrage | 13 Methodisches Vorgehen | 20 Rolle als Forscherin | 29 Aufbau | 34 1.

2. Forschungsstand | 37 Inter- und Transkulturelles Theater | 37 Performative Künste in Äthiopien | 48 Kultur und Kulturbeziehungen | 53 Begriff ‚Kultur‘ | 53 Kultur als Kultiviertheit | 55 Verknüpfung von Kultur und Gemeinschaft | 56 Kultur als Gegensatz zu Natur | 58 Kultur als Kunstproduktion | 59 Anti-essentialistisches Kulturverständnis | 61 Fazit | 67 Internationale Kulturbeziehungen aus postkolonialtheoretischer Perspektive | 68 Édouard Glissant: Kreolisierung | 69 Stuart Hall: Globalisierung | 72 Homi Bhabha: Hybridisierung | 75 Fazit | 78 3.

Auswärtige Kulturpolitik | 79 Kulturpolitische Konzeptionen der UNESCO | 79 Auswärtige Kulturpolitik auf Bundesebene | 87 Das Goethe-Institut als Mittlerorganisation | 92 Die praktische Kulturprogrammarbeit des Goethe-Instituts | 97 Performative Künste im Goethe-Institut Addis Abeba | 98 Fazit: Kultur und Politik | 99 4.

Kunsthistorischer Kontext in Äthiopien | 101 Charakteristika | 102 Kunst und Religion | 103 Kunst und Politik | 107 Ambivalente gesellschaftliche Position von Künstler_innen | 109 Transkultureller Austausch | 112 Performative Künste | 114 Gründungsphase des Theaters | 114 Implementierungsphase des Theaters | 116 Theater des anti-kolonialen Widerstands | 117 Ausdifferenzierung des Theaters: die Aristokratie und die Massen | 119 Phase des reformistischen und experimentellen Theaters | 122 Phase des realsozialistischen und propagandistischen Theaters | 127 Fazit | 135 5.

6.

Zeitgenössisches Theater in Äthiopien | 139

Aufführungsorte | 141 Theaterstruktur | 143 Regisseur_innen und Auswahl von Stücken | 146 Schauspieler_innen und Tänzer_innen | 147 Technik und Beleuchtung | 148 Produktionen pro Spielzeit | 149 Profitabilität | 150 Die Komödie als dominantes Genre | 151 Melodramen | 157 Historiendramen | 160 Ästhetische Normierungen | 162 Abweichungen von der Norm | 169 Fazit | 173 7. Kunstszenen in Addis Abeba | 177 Theaterszene | 178 Tanzszene | 182 Performance Art Szene | 192 Status performativer Künstler_innen | 200 Fazit | 201

8.

Herausforderungen für performative Künstler_innen | 203

Materialität und Professionalität in den Theaterhäusern | 204 Öffentlichkeitsarbeit und Kunstdebatten | 208 Normierungen künstlerischer Arbeit | 210 Diskontinuität | 213 Interdisziplinarität | 214 Kulturpolitik | 215 Ausländische Kulturinstitute | 224 Fazit | 232 9.

Herausforderungen für das Goethe-Institut | 235

Auswahl von Künstler_innen | 235 Gestaltung der Multiplikatoren-Rolle | 240 Diskontinuität | 242 Politische Aspekte der Kulturarbeit | 244 Umgang mit Kunstdiskursen | 247 Fazit | 253 10. Produktionsprozesse als künstlerische Zusammenarbeit | 257

Ensemblebildung und Gruppendynamik | 260 Produktionsdauer | 264 Training und Proben | 267 Aufgabenteilung und Arbeitsstrukturen | 274 Fazit | 276 11. Ästhetik der Inszenierungen | 279

Inszenierungsanalyse „DanceMove UrbanSpace“ | 284 Struktur der Inszenierung | 285 Schilderung des Anfangs | 286 Wiederkehrendes Thema | 287 Raum | 293 Zeit | 294 Mimik, Gestik, Bewegung | 294 Inszenierungsanalyse „Play with the Senses“ | 298 Struktur der Inszenierung | 298 Schilderung des Anfangs | 299 Wiederkehrendes Thema | 301 Raum | 306

Zeit | 309 Mimik, Gestik und Bewegung | 310 Ästhetische Reflexion der Inszenierungen | 311 Dekoloniale und Postkoloniale Ästhetiken | 319 12. Schlussbetrachtung | 327 Anhang | 339

Auflistung von Produktionen äthiopischer Regisseur_innen | 339 Zeittafel: Austauschbeziehungen Äthiopien und Deutschland | 346 Glossar | 351 Abkürzungsverzeichnis | 352 Bibliographie | 355

Literatur | 355 Internetquellen | 372 Visuelle Quellen | 375 Interviews | 376

Danksagung

Aus tiefstem Herzen danken möchte ich denjenigen, ohne die diese Arbeit nicht entstanden oder eine andere geworden wäre: All den Interviewpartner_innen danke ich von Herzen für ihre Zeit und ihre Offenheit, die sie mir schenkten. Ich hoffe sehr, dass ihnen diese Arbeit gerecht wird. Ganz besonders gilt mein Dank Aron Yeshitila, der mit seiner analytischen Schärfe, seinem umfangreichen Wissen über Politik, Ökonomie, Kunst und Religion, seiner Tiefe und seinem Charisma ein außergewöhnlicher Wegbegleiter war und ist. Danken möchte ich auch Etafarehu Legesse, die mir in Äthiopien in allen Lebenslagen immer und immer wieder als gute Freundin und Schwester zur Seite stand. Ohne ihren Großmut, ihre Unbefangenheit, ihre Geduld und ihre Herzenswärme wäre ich oft verloren gewesen. Hirut Mengesha möchte ich für ihre mehrfache Hilfe, ihr Vertrauen und für eine langjährige Freundschaft zwischen den Welten danken. Ein besonderer Dank gilt Seyoum Mulugeta, meinem Lehrer und Mentor, der vor sehr langer Zeit eine Tür für mich öffnete. Mein Dank gilt ebenso Julian Tadesse, Sara Zewde und Yero Adugna Eticha, deren Hinterfragungen mich anregten, die Perspektive immer mal wieder zu verschieben und die es mir zum Geschenk machten, komplizierte Themen vertraulich besprechen und offen miteinander reflektieren zu können. Ganz besonders danken möchte ich Prof. Barbara Gronau, deren Vorlesungen und Ideen mich beeindruckten, inspirierten und beflügelten. Durch ihre Person, ihre Arbeitsansätze und gedanklichen Ausführungen hat sie mich angeregt, Strategien des Kreativen und Wissensformen der künstlerischen Praxis viel umfassender zu denken. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Susan Arndt, ohne die diese Arbeit nie begonnen hätte werden können. Ihr möchte ich v.a. dafür danken, dass sie unzählige Student_innen davon überzeugte, endlich Weißsein zu hinterfragen, Rassismus zu dekonstruieren und für eine andere Realität einzustehen.

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Danken möchte ich auch PD Katrin Bromber, Prof. Joachim Fiebach, Dr. Jutta Vinzent, Dr. Isa Wortelkamp, Prof. Flora Veit-Wild, Prof. Achim von Oppen, Prof. Ute Fendler, Prof. Clarissa Vierke, Dr. Henriette Gunkel, Dr. Christine Ludl und Dr. Ulf Vierke für ihre fachliche Beurteilung und temporäre Unterstützung. Meiner engen Freundin Jasmin Oldag danke ich aus tiefstem Herzen für ihre Zuverlässigkeit, ihre Integrität, ihr Wohlwollen und dafür, dass sie als Erste das Manuskript las und mich darin bestärkte, weiter daran zu arbeiten. Sehr danken möchte ich auch Stefanie Alisch für den stetigen Gedankenaustausch und die vielen anregenden Diskussionen während der Schreibphase der Dissertation. Und ich danke meiner Schwester, Doreen Köppen, für ihre Korrekturlesung, ihre Zuverlässigkeit und ihre Unterstützung. Immer zutiefst dankbar bleiben werde ich Raiko Pöhl – für alles. Außerdem danke ich meinen Eltern dafür, dass sie mir einst Werte und Überzeugungen mit auf den Weg gaben, die zwar einer anderen Zeit und einer anderen Gesellschaft entsprangen und sich dennoch als eben wertvoll erwiesen. Es wären so viel mehr Menschen dankend zu erwähnen, dass es reichen würde, ein Booklet damit zu füllen. So wie jede Kunstproduktion von unzählig vielen Personen abhängig ist und immer nur ein Gemeinschaftsprojekt sein kann, ist auch dieses Buch letztlich von sehr vielen Menschen und ihren Ideen geprägt. Es kann nur im ‚wir‘ entstehen. Nicht zuletzt danke ich natürlich der Heinrich-Böll-Stiftung, die mich mit einem Promotionsstipendium ideell und finanziell förderte sowie BIGSAS, die mich zu Beginn und Ende der Promotion finanziell förderte.

1. Einleitung

In der Zeit zwischen 2009 und 2012 arbeitete ich mehrfach mit performativen Künstler_innen Äthiopiens zusammen – als freie Künstlerin, als unabhängige Projektkoordinatorin, aber ebenso temporär für das Goethe-Institut in Funktion der Assistenz, der Ko-Choreographie und des Produktionsmanagements. Währenddessen habe ich immer wieder ambivalente, paradoxe und konfliktive Situationen beobachtet, die meinen Wissensdrang erzeugten. Das lässt sich an an einigen Beispielen verdeutlichen, die ich in Produktionsprozessen beobachtete, welche in Äthiopien von performativen Künstler_innen und von Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts kollektiv gestaltet wurden. Äthiopische Tänzer_innen kamen von einer Probe und sagten auf die Frage hin, wie denn die Probe war, dass sie zu tanzen beabsichtigten, aber der ausländische Choreograph sie nicht tanzen lassen habe. Dadurch wurde klar, dass in den Proben unterschiedliche Vorstellungen von der Kunstform Tanz kollidierten. Andere Performer_innen äußerten in einer Gruppendiskussion, dass sie die Arbeit mit Improvisationen nicht besonders begeistere, weil sie so das Bewegungsmaterial aus sich selbst heraus schöpfen mussten, aber die Vermittlung von Körpertechniken erwartet hätten. Dem gegenüber glaubten jedoch künstlerische Leitungen, dass ein Prozess der Stückentwicklung den Performer_innen ermögliche, sich bestmöglich einzubringen und selbstbestimmt thematische Setzungen vorzunehmen. Performer_innen äußerten teils ihre Irritationen darüber, dass kreative Entwürfe erprobt und wieder verworfen, Bewegungsmaterial stetig modifiziert, mehrfach Arbeitsansätze diskutiert oder unterschiedliche Handlungsanweisungen im Probenprozess gegeben wurden. Oder inmitten eines Produktionsprozesses unterbrach ein Performer eine Probe und fragte wütend, wie denn jemals aus all den einzelnen Szenen, den Improvisationen und dem gesammelten Bewegungsmaterial nach einer Woche ein bühnenfertiges Stück werden solle? Die Ergebnisoffenheit des Arbeitsprozesses wurde damit in Frage gestellt. An diesen Situationen wurde deutlich, dass die künstlerischen Arbeitsmethoden und

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die der Stückentwicklung im Besonderen konfliktive Momente erzeugen können. Ebenso zeigte sich daran ein unterschiedliches Verständnis von Arbeitsprozessen, Entscheidungsgewalten, künstlerischer Mitbestimmung und Teamarbeit. Während einer Produktion wurde das Theater für sechs Stunden angemietet, um einen technischen Durchlauf mit Lichtprobe zu gewährleisten. Es dauerte jedoch viel länger als erwartet und zeugte davon, dass ausländische Kulturarbeiter_innen von eigenen Maßstäben des Theaterbetriebs ausgingen und voraussetzten, dass es Beleuchtungspläne gäbe und Lichteinstellungen digital gespeichert werden können. Haustechniker_innen der Theater waren verunsichert darüber, wie so viele Lichteinstellungen manuell erzeugt und die Lichtwechsel aufgrund der Szenenanordnung minutiös erinnert werden sollten. In dieser Situation entstanden beidseitig Herausforderungen aufgrund dessen, dass die Differenz struktureller und materieller Bedingungen für den Produktionsverlauf nur bedingt kalkuliert werden konnte. Wenn Choreograph_innen mittels Imaginationstechniken Improvisationen anleiten wollten, waren sie teils irritiert über scheinbar stereotype Charakterzeichnungen, abbildende Bewegungssequenzen und hyperbolische Mimik. Daher fokussierten sie in Probenprozessen die Reduktion von Gesten und Mimik. Als in einer strukturierten Improvisation Bewegungsmaterial gesammelt wurde, führte eine Performerin die Geste der Bekreuzigung vor dem Brustkorb in Verbindung mit der Senkung des Kopfes aus – eine Geste, die häufig auf den Straßen Addis Abebas zu beobachten ist, wenn Personen die Kirchen passieren. Nachdem die gestische Abfolge fixiert, variiert, kinästhetisch vergrößert und tanztechnisch modifiziert wurde, führte dieselbe Performerin diese Bewegungssequenz plötzlich ohne die beschriebene Geste vor, weil sie die Position vertrat, dass eine religiöse Geste nicht im Körpertheater gezeigt werden könne. In einer anderen Produktion entschied ein äthiopischer Künstler die konzeptionelle Mitverantwortung während des Produktionsprozesses abzulegen, da einige Aspekte ihm zu politisch sensibel erschienen. All diese Beispiele verwiesen auf Tabus und Konventionen in der künstlerischen Praxis, die stark differieren können – in Abhängigkeit von der kunstgeschichtlichen Entwicklung des Mediums Theater und des politischen, sozialen, materiellen sowie religiösen Kontexts der Kunstproduktion. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich vielfältige Herausforderungen in der konkreten Zusammenarbeit von Kunst- und Kulturschaffenden ergeben können. Erst wenn Beziehungen miteinander temporär eingegangen und in inter- sowie transkulturellen Kunstproduktionen konkret gestaltet werden, zeigen sich Konfliktpotentiale, Herausforderungen, Differenzen und Erwartungen, die u.a. aus

1. E INLEITUNG

| 13

verschiedenen Arbeitskontexten, Produktionsgewohnheiten und kunsthistorischen Entwicklungen heraus zu erklären sind.

F ORSCHUNGSFRAGE Im Verlauf meiner Untersuchung gehe ich folgender Forschungsfrage nach: Welche Herausforderungen und Potentiale liegen in der künstlerischen Zusammenarbeit von Akteur_innen bei Produktionen performativer Künste im Rahmen internationaler Kulturbeziehungen? Diese Untersuchung behandelt eine spezifische Form des sogenannten ‚interkulturellen Theaters‘, die in der bisherigen theaterwissenschaftlichen Forschung kaum Erwähnung fand, doch in der Praxis häufig realisiert wird. Es handelt sich dabei um eine Zusammenarbeit, die zwischen europäischen Institutionen und Künstler_innen in afrikanischen Ländern im Rahmen internationaler Kulturbeziehungen umgesetzt wird. In diesem Fall untersuche ich konkret die Zusammenarbeit zwischen performativen Künstler_innen Äthiopiens und dem Goethe-Institut. Die zentrale Forschungsfrage lässt sich in folgende Teilfragen unterteilen, die für die Untersuchung des Gegenstands gleichermaßen relevant sind: Welche (kultur-)politischen Faktoren beeinflussen eine Zusammenarbeit der Akteur_innen? Welche Theaterentwicklungen gab es in Äthiopien und wie wirkt sich das auf die Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut aus? Wie reflektieren die Kunst- und Kulturschaffenden ihren Arbeitskontext sowie die gemeinsame Zusammenarbeit? Was kennzeichnet die künstlerischen Arbeitsweisen, die thematischen Setzungen und die ästhetischen Strategien der gemeinsamen Produktionen? Welche Effekte werden potentiell durch die realisierte Ästhetik in den Inszenierungen erzeugt? Ausschlaggebend für die Entscheidung der Länderwahl Äthiopien waren folgende Gründe: Um inter- und transkulturelle Austauschprozesse im Theater nicht als eine Form der Transgression im Kulturellen zu beschönigen, sondern diese Form der Kunstproduktion als Teil einer komplizierten historischen und politischen Realität zu begreifen, fiel die Entscheidung, die Zusammenarbeit europäischer und afrikanischer Akteur_innen zu untersuchen, weil damit Konfliktfelder berücksichtigt werden müssen, die m.E. in der theaterwissenschaftlichen Forschung zu wenig Beachtung finden. Der kulturelle Austausch zwischen Ländern wie Deutschland und Äthiopien – basierend auf bilateralen Abkommen der Regierungen – ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass die Rahmenbedingungen der kulturellen Produktion in beiden Ländern sehr unterschiedlich sind. Daraus ergeben sich Differenzen hinsichtlich der Fördermöglichkeiten des

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kulturellen Austauschs, der kulturellen Repräsentation durch Institute im Ausland und hinsichtlich der Finanzierungen von Kunstprojekten. Es verweist darauf, dass der Austausch im Kunstbereich durch ein Gefüge der politischen, ökonomischen, materiellen, strukturellen und diskursiven Machtrelation gekennzeichnet ist. Unter den afrikanischen Ländern nimmt Äthiopien eine Sonderstellung ein, denn entgegen der Kolonisierung der Welt und illegitimen Inbesitznahme von Territorien, Plünderung von Ressourcen und Unterwerfung von Bevölkerungen durch europäische Machthabende konnte Äthiopien durch diplomatische und militärische Anstrengungen unter Kaiser Menelik II. seine staatliche Souveränität bewahren. Jedoch merkt die äthiopische Kunsthistorikerin Elisabeth Wolde Giorgis diesbezüglich an: „Indeed, what makes Ethiopia unique […] is the fact that the country had never been colonized. While this may be the fact, one should not lose sight of the significance of power relations in the relationship of Ethiopia and the West as one that is often margin to center; far from being free of colonial influence or domination.“ 1

Das Theater als Institution wurde in Äthiopien allerdings von äthiopischen Künstler_innen und äthiopischen Kulturpolitiker_innen errichtet. Das Theater als Kunstform wurde in diesem Land nicht durch europäische Kolonialist_innen aufgezwungen, sondern von äthiopischen Intellektuellen im Zuge ihrer temporären Migrationsbewegungen angeeignet. Das ist deshalb wichtig zu betonen, da in anderen afrikanischen Ländern existierende performative Kunstformen durch Kolonialgesetzgebungen stark reglementiert und das Theater als Institution nach Maßgabe europäischer Standards häufig im Zuge kolonialistischer Kulturpolitik etabliert wurde. Äthiopien in den Fokus zu rücken, ist insofern von Belang, da tendenziell davon ausgegangen wird, dass im afrikanischen Theater der interkulturelle Austausch durch die Kolonialzeit gewaltvoll erzwungen wurde und somit nicht Resultat einer bewussten Entscheidungsfindung individueller afrikanischer Künstler_innen war.2 Auch wenn das für andere Länder zutrifft, ist Äthiopien ein Beispiel dafür, dass afrikanische Künstler_innen selbstbestimmt entschieden, Theaterhäuser zu etablieren und darin performative Künste nach eigenen ästhetischen Kriterien zu entwerfen. Diese wiederum waren jedoch auch durch verschiedene Einflüsse basierend auf transkulturellen und intersubjektiven Austauschprozessen der äthiopischen Künstler_innen geprägt. Um das nachvollzie-

1

Wolde Giorgis, 2012, S. 62.

2

Vgl. Fischer-Lichte, 1990a, S. 15; Fischer-Lichte, 1999, S. 16.

1. E INLEITUNG

| 15

hen zu können, ist es unabdingbar, detailliert auf die Theaterentwicklungen in Äthiopien einzugehen. Die äthiopische Theatergeschichte ist bis in die 1970er Jahre stark durch Transkulturalität geprägt, da individuelle Kunstschaffende im Land kulturelle Prozesse anregten, die auf Bewegung, Austausch, Aneignung, Adaption und Verfremdung basierten. Obwohl Äthiopien im 19. Jahrhundert zwar von Seiten der Machthabenden politisch isoliert wurde, um es gegen kolonialistische Bestrebungen europäischer Staaten abzuschotten, strebten äthiopische Kunst- und Kulturschaffende seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch nach transkulturellen Bewegungen. Sie schufen im künstlerischen Metier immer wieder Übersetzungen, Adaptionen, Überlappungen und Kontaktzonen. In dieser Kontinuitätslinie des Austauschs und Kontakts im Bereich der Kunst kann einerseits auch die Arbeit des Goethe-Instituts verortet werden, das 1962 in Addis Abeba ein Institut eröffnete, welches zu seinen ersten Außenstellen in Afrika gehörte.3 Andererseits kann diese geopolitische Ausrichtung auch als bewusste kulturpolitische Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland gedeutet werden, wenn man bedenkt, dass zu diesem Zeitpunkt die meisten afrikanischen Staaten um ihre Unabhängigkeit aus der kolonialen Gewaltherrschaft rangen und 1963 die bereits unabhängigen Länder sich als Organisation für afrikanische Einheit (OAU) mit Sitz in Addis Abeba formierten. Die in meiner Forschungsarbeit bewusste Verengung auswärtiger Kulturpolitik und internationaler Kulturbeziehungen auf die kulturelle Programmarbeit erscheint insofern sinnvoll, da diese heutzutage für den sogenannten ‚Kulturaustausch‘ eine zentrale Rolle spielt.4 Die Fokussierung auf die kulturelle Programmarbeit des Goethe-Instituts ist insofern relevant, da das Goethe-Institut die größte Mittlerorganisation der auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands ist. Von dort ausgehend erscheint es notwendig, konkrete intersubjektive Arbeitsbeziehungen zwischen Künstler_innen Äthiopiens und Fachkräften des GoetheInstituts als Begegnungen und Austauschprozesse von Akteur_innen zu begreifen, die zwar innerhalb internationaler Kulturbeziehungen stattfinden, doch mit diesen keineswegs identisch sind. Insofern ist es mir wichtig, diese Ebenen klar zu differenzieren. Um meinen Ansatz zu verdeutlichen, visualisiere ich im ersten Schritt anhand einer Skizze, wodurch sich mein Forschungsdesign auszeichnet:

3

Vgl. Goethe Institut Addis Abeba, 2012, http://www.goethe.de/ins/et/de/add/uun/jah/

4

Vgl. Bauer, 2009, S. 131.

his.html, 08.11.2015

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Abbildung 1: Forschungsansatz – Akteur_innen im Spannungsfeld

An dieser Visualisierung ist erkennbar, dass ich die performativen Künstler_innen sowie die Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts als individuelle Akteur_innen begreife, die miteinander Austauschbeziehungen konkret umsetzen. Um eine Vermengung von den Ebenen auswärtiger kulturpolitischer Rahmensetzung, Institution und individuellen Akteur_innen zu vermeiden, differenziere ich diese drei Ebenen. Das ermöglicht es, ein Spannungsfeld aufzuzeigen, in dem sich die Fachkräfte des Goethe-Instituts bewegen und aus denen sich interne Herausforderungen an sie ergeben. Dem gegenüber positioniere ich performative Künstler_innen Äthiopiens ebenfalls als individuelle Akteur_innen, die sich in einem standortspezifischen Geflecht von Faktoren bewegen, aus denen ebenfalls ein Spannungsfeld entsteht, in dem sie agieren und von dem ausgehend sie spezifische Herausforderungen ihres Arbeitskontexts artikulieren. Dieses setzt sich aus Elementen der Kunstgeschichte, der aktuellen Kunstszene, den Kulturinstitutionen und der Kulturpolitik zusammen. Von der Grundannahme ausgehend, dass den Problemen in der Zusammenarbeit bereits multiple Herausforderungen in den jeweiligen Arbeitskontexten der Akteur_innen vorausgehen, müssen diese in die Forschung einbezogen wer-

1. E INLEITUNG

| 17

den. Für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts ergeben sich Herausforderungen aufgrund der außenkulturpolitischen Rahmensetzung. Für Künstler_innen Äthiopiens ergeben sich Herausforderungen aufgrund der Spezifika ihres Arbeitskontexts. Insofern ist es wichtig nachzuvollziehen, was die Kunstszenen Addis Abebas in Hinblick auf die Akteur_innen, ihre Produktionsbedingungen und strukturellen Besonderheiten auszeichnet. Diese ergeben sich jeweils aus den spezifischen kunsthistorischen Entwicklungen im Land. Von dort ausgehend kann die Frage nach den gemeinsam erarbeiteten Kunstproduktionen behandelt und untersucht werden, was diese thematisch und ästhetisch kennzeichnet, welche Herausforderungen und Potentiale in der Zusammenarbeit liegen und welche Effekte die Produktionen im jeweiligen Kontext erzeugen. Auf der Achse zwischen den handelnden Akteur_innen sind die Kunstproduktionen anzusiedeln, die von ihnen realisiert werden und Ausgangspunkt ihrer Reflektion über die Zusammenarbeit sind. Mein zentraler Forschungsgegenstand beschränkt sich auf die Proben, Inszenierungen und Aufführungen von den zwei Produktionen „DanceMove UrbanSpace“ (2011) und „Play with the Senses“ (2012), die in Addis Abeba erarbeitet und aufgeführt wurden. Diese Inszenierungen werde ich als Arbeitsresultate und exemplarische Kunstproduktionen analysieren, um die thematischen Setzungen und ästhetischen Strategien in der künstlerischen Zusammenarbeit zu untersuchen. Mit dieser Forschung beabsichtige ich über Beschreibungen scheinbar reibungsloser und stets konfliktfreier Kulturaustauschbeziehungen hinauszugehen und anhand der Reflektionen beteiligter Akteur_innen zu identifizieren, welche konkreten Herausforderungen sie im Bereich der performativen Künste artikulieren. Die Arbeit ausländischer Kulturinstitute hat je nach Standort sehr unterschiedliche Relevanz. Das wiederum hängt mit den Dynamiken der Kunstszenen vor Ort, mit ihren strukturellen Arbeitsbedingungen, ihren eigenen Netzwerken sowie Ressourcen und mit kunsthistorisch gewachsenen Institutionen und Diskursen zusammen. Wenn genau diese Aspekte in der Forschung ausgespart bleiben, entstehen Zerrbilder, die diese Kunstszenen als Leerstellen, als entweder traditionell determiniert oder geschichtslos, statisch oder überschaubar konstruieren. Das kann geschehen, wenn relevante Ambivalenzen, Kontinuitäten, Brüche, Differenzen, Netzwerke etc. übergangen werden und die jeweiligen Kunstszenen nicht als komplexe Felder5 erfasst werden, in denen individuelle Künst-

5

Anm.: „Das ‚Feld‘, le champ, ist ein alternativer Begriff zu ‚Bereich‘, ‚Domäne‘ oder ‚Gebiet‘, wobei mit dem Feld am ehesten ein Aktionsfeld assoziiert wird, das heißt, ein klar abgestecktes Terrain, auf dem etwas passiert: Schlachtfeld, Spielfeld – Bour-

18 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

ler_innen verschiedene Positionen vertreten. Aus den verschiedenen Positionierungen von Kunstschaffenden gegenüber ihren Arbeitskontexten vor Ort ergibt sich jedoch ein komplexes Spannungsfeld, mit dem sie täglich umzugehen haben und aufgrund dessen sie strategisch entscheiden, mit ausländischen Kulturinstituten zu kooperieren. Aus diesem dynamischen Kunstfeld wiederum leiten sich ästhetische Präferenzen, Normierungen, Maßstäbe, Annahmen, Haltungen etc. ab, die sowohl für die künstlerische Praxis als auch für die Reflektionen über Herausforderungen in der Zusammenarbeit ausschlaggebend sind. Gleichsam bergen solche Konstruktionen, die die Kunstgeschichte, die strukturellen Bedingungen und die Eigendynamiken der zeitgenössischen Kunstszenen in einem afrikanischen Land außer Acht lassen, die Gefahr, dass die Arbeit europäischer Kulturinstitute ebenfalls verzerrt und überproportional gewichtet wird. Es erscheint mir dabei relevant, im Blick zu behalten, dass für Künstler_innen Äthiopiens die temporäre Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten eine Möglichkeit unter anderen ist, die auf selbstbestimmten Entscheidungen beruht und diverse Gründe hat. Insofern lässt sich das Verhältnis zwischen den Akteur_innen nicht ausschließlich als neokoloniales Macht- und Abhängigkeitsverhältnis fassen, weil diese Lesart einerseits afrikanische Künstler_innen entmündigen, stigmatisieren und als passive Opfer konstruieren und andererseits Mitarbeiter_innen europäischer Kulturinstitute als agitierend, dominierend und ignorierend konstruieren würde. Solche binären Lesarten begünstigen Simplifizierungen und Dichotomisierungen, die nicht die Komplexität von dynamischen Beziehungsgeflechten erfassen können. Außerdem sind sie nur möglich, wenn weder zwischen Akteur_innen, Institutionen6, programmatischen Richtlinien und praktischen Umsetzungen differenziert wird noch strategische Handlungen und individuelle Artikulationen von Akteur_innen berücksichtigt werden, die sich unterschiedlich und bewusst zu umgebenden Realitäten verhalten. Ebenso wenig erscheint es mir sinnvoll, die Zusammenarbeit im Bereich der Kunstproduktion als Mittel zur ‚Völkerverständigung‘ oder zum stets harmonisch-dialogischen ‚Kulturaustausch‘ zu stilisieren, da es reziproke Beziehungen zwischen gleichrangigen Partnern in einem Gefüge voraussetzen würde, in dem es keine nennenswerten politischen, ökonomischen, strukturellen oder repräsen-

dieu entscheidet sich bewusst dafür, diese ‚kämpferische‘ Komponente zu betonen, da Kampf und Spiel in jedem Feld ausgetragen werden.“ (Danko, 2012, S. 56) 6

Anm.: „Alle I. (e.g. Institutionen) sind handlungsprägende soziale Gebilde; einige I. sind darüber hinaus handlungsfähig, nämlich als überindividuelle Akteure. Zu diesen gehören formale Organisationen.“ (Schimank, 2015, S. 125)

1. E INLEITUNG

| 19

tativen Ungleichheiten gäbe. Angesichts einer komplizierten postkolonialen Realität und einer historisch determinierten Verstrickung ist die Kunstproduktion nicht ausschließlich als kulturelle Praxis mit transformativem Potential zu verstehen, sondern als etwas, das im Spannungsverhältnis zwischen kultureller Praxis und kultureller Macht zu verorten ist. Gerade im Rahmen internationaler Kulturbeziehungen wird deutlich, dass Kunst- und Kulturschaffende als individuelle Akteur_innen mit Ambivalenzen, Widersprüchen und Missverhältnissen umzugehen haben, aber auch Nischen schaffen und Potentiale der Interaktion ausloten. Ausgehend von der ontologischen Annahme, dass eine seiende Realität bzw. objektive Wahrheit nicht existiert, die quasi in der Forschung vorgefunden wird, sondern dass diverse Realitäten nebeneinander existieren, die abhängig von Blickperspektiven und Kontexten der agierenden, sehenden und analysierenden Subjekte wahrgenommen, reflektiert, und konstruiert werden, ist die dieser Arbeit zugrundeliegende ontologische Position als ‚anti-essentialistisch’ (‚antifoundationlist‘) zu bezeichnen: „For anti-foundationalists there is not one truth about the real world, but competing truths and interpretations.“ 7 Somit ist auch jede Wahrnehmung von Welt und jede Forschung abhängig von der jeweiligen Subjektposition sowie der historischen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Situiertheit der Analysierenden. Daraus resultiert die Einsicht, dass es keine neutrale Beobachter- oder Sprecherpositionen gibt und jede Wissensproduktion eben nicht objektiv sein kann, da sie – wie die Musik- und Theaterwissenschaftlerin Daniele Daude es ausdrückte – „weder ahistorisch noch ideologiefrei“8 ist. Vielmehr ist jede Realität konstruiert durch den Blick und abhängig von der Perspektive des analysierenden Subjekts. Welche Art von Wissen wird mit dieser Forschung produziert? Diesbezüglich scheinen mir vier Dinge relevant zu sein. Es geht um eine Wissensproduktion, die pragmatisch orientiert ist und dennoch Komplexitäten, Paradoxien und (veränderbare) Konstruktionen von Realitäten einschließt. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass eine Wissensproduktion die Perspektive auf politische, soziale und künstlerische Realitäten verändern kann. So wie künstlerische Praktiken spezielle Weisen des ästhetischen, fragmentarischen und assoziativen Denkens hervorbringen können, ist es auch wissenschaftlich möglich, durch Theorie- und Methodenvielfalt unterschiedliche Teilaspekte eines komplexen Gefüges zu analysieren und zu reflektieren. Damit verbunden ist die Beschäftigung mit partiellen, lokal funktionierenden und subjektbezogenen Wissensbeständen unter-

7

Savigny/Marsden, 2011, S. 24 f.

8

Daude, 2014, S. 268.

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schiedlicher Akteur_innen, die verschiedene Positionen einnehmen, unterschiedliche Sozialisierungen erlebten und individuell Wahrheiten konstruieren. Diese unterschiedlichen Wissensbestände sind wesentlicher Teil der Wissensproduktion meiner Forschung, die durch eine empirische Vorgehensweise und einen methodenpluralistischen sowie interdisziplinären Ansatz gekennzeichnet ist.

M ETHODISCHES

VORGEHEN

Zur Untersuchung meiner Forschungsfrage arbeitete ich mit qualitativen Methoden der empirischen Kultur- und Sozialforschung wie Interviews und Teilnehmenden Beobachtungen und mit produktionsästhetischen Methoden der Theaterwissenschaft. Diese umfassen das Sichten von Theaterstücken, Aufführungsund Inszenierungsanalysen sowie Beobachtungen von Proben und Produktionsprozessen. Meine Forschung basiert auf Primär- und Sekundärdaten. Die Primärdaten sind von mir gesammelte Daten, die ich für diese Untersuchung in Form von Interviews, Hintergrundgesprächen oder Probenbeobachtungen erhob. Meine Sekundärdaten sind die Beschäftigung mit bereits vorgefundenen Quellen wie die videographischen Aufzeichnungen der Bühnenstücke, die ich für die Analysen der Stücke nutze. Demnach kombinierte und untersuchte ich unterschiedliche verbale und visuelle Datentypen. Des Weiteren diente die Informationssammlung in Online-Archiven der jeweiligen Goethe-Institute dazu, die konkrete Kulturprogrammgestaltung vor Ort und die Namen beteiligter Künstler_innen zu recherchieren. Die Auseinandersetzung mit Primär- und Sekundärliteratur diente u.a. als Grundlage zur Beschreibung kunst- und theaterhistorischer Entwicklungen in Äthiopien, was durch Interviewmaterial und historische Erzählungen in Gesprächen ergänzt und erweitert wurde. Die wichtigsten Daten, wie Hintergrundgespräche ohne Tonaufnahmen, Beobachtungen von Trainings, Proben und Produktionsprozessen sowie die Durchführung von 30 Interviews mit Tonaufnahmen, habe ich zwischen November 2010 und August 2011, von März 2012 bis Mai 2012 und im September 2014 in Addis Abeba erhoben. Für ein Verständnis des Kontexts der Kunstproduktion vor Ort erwiesen sich langfristige Forschungs- und Arbeitsaufenthalte als notwendig, um Erkenntnisse über die sozialen, politischen, religiösen und ästhetischen Bedingungen der Produktion performativer Kunst zu gewinnen. Die Zeitdauer diente dazu, Amharisch zu lernen, regelmäßig Theateraufführungen zu sehen, Proben und Trainings von einzelnen Künstler_innen zu besuchen und ein Netzwerk mit dort lebenden Kunstschaffenden aufzubauen. Das Sichten von Inszenierungen, die in Theater-

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häusern, auf Festivals oder Probebühnen gezeigt wurden, war notwendig, um mit dominanten Genres, Themen, ästhetischen Ansätzen und den konkreten Arbeiten individueller Künstler_innen vertraut zu werden und mir so einen Überblick über die zeitgenössischen performativen Kunstpraxen zu verschaffen. Die Offenheit des Vorgehens ermöglichte es, auf unbekannte oder zunächst irritierend erscheinende Gegebenheiten zu stoßen. Dieses methodische Vorgehen entspricht der Teilnehmenden Beobachtung, deren Stärke vor allem im Zugang zu erlebten Erfahrungen liegt, die über die Sprache hinausgehen.9 Allerdings bezieht sich diese Methode in meiner Anwendung auf einen konkret abgesteckten Teilbereich der kulturellen Praxis – das Produzieren performativer Künste. Somit beziehe ich mich auf eine Form der Teilnehmenden Beobachtung, die Spittler als Dichte Teilnahme definierte, weil sie mitvollziehende Praxis, „soziale Nähe und gemeinsames Erleben“10, Hinsehen, Gespräche, Erleben und den Einbezug der Sinne ermöglicht.11 Die sukzessive Einsicht in Arbeits- und Produktionsbedingungen der Künstler_innen vor Ort benötigen eben nicht nur lange Zeit, sondern auch aktive Teilhabe im Sinne des (Ko-)Produzierens vor Ort. Indem ich mehrfach mit unterschiedlichen Künstler_innen in verschiedenen Funktionen zusammenarbeitete, konnte ich durch die Praxis spezifische Produktionsbedingungen erfahren, was sich für das Verständnis von Interviewaussagen als sehr hilfreich erwies. Insofern trat ich jedoch mit Akteur_innen nicht nur in der Rolle als Forscherin sondern auch als künstlerisch tätige Person in Beziehung. Dadurch bauten sich enge Verbindungen auf, die durch gegenseitiges fachliches Interesse, Wissenstransfer und Vertrauen geprägt waren. Daraus ergab sich die Möglichkeit, mit Akteur_innen wiederholt über die Kunstformen Theater, Tanz und Performance Art zu debattieren, Hintergründe zu erfragen, subjektive Sichtweisen zu erfahren bzw. situativ Verständnisfragen zu stellen. Diese Formen der Gespräche, die weniger artifiziell als Interviews waren, trugen wesentlich zu meinen Kenntnissen über Kunstproduktionen und Arbeitszusammenhänge der Akteur_innen vor Ort bei. Durch die Mitarbeit u.a. in den Kunstprojekten „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ agierte ich in multiplen Rollen. Entgegen der Annahme, bei den Kunstprojekten als Assistentin zu fungieren und somit nur peripher involviert zu sein, wurde ich im Verlauf der Produktion von „DanceMove UrbanSpace“ gefragt, ob ich innerhalb eines Teams von drei Personen co-

9

Vgl. Amit, 2000, S. 12; Lüders, 2000, S. 384, 391 f.

10 Spittler, 2001, S. 12. 11 Vgl. Spittler, 2001, S. 1-25.

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choreographierend tätig sein könne. Dem gegenüber arbeitete ich in „Play with the Senses“ nur als Produktionsassistenz mit. Jedoch bedeutet die Übernahme solcher Rollen sowohl produzierend als auch rezipierend beteiligt zu sein, einerseits spezifische Einblicke gewinnen zu können, doch andererseits in der Reflektion auch eine kritische (Selbst-)Distanzierung vornehmen zu müssen. Damit verbunden ist die Chance, binäre Konstruktionen und ein ‚othering‘ von Akteur_innen zu vermeiden. Umgekehrt ist dadurch aber auch eine Position festgelegt. Diese Form der Teilnahme ermöglichte es, implizites Wissen über die Kunstszenen vor Ort und die Arbeits- und Produktionsbedingungen bei der Zusammenarbeit zu generieren. Für das daraus entstandene Vertrauen aller Akteur_innen bin ich sowohl den Künstler_innen als auch den Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts sehr dankbar. Der Vertrauensgewinn ist deshalb besonders wichtig, da eine Reflektion der Zusammenarbeit für alle Beteiligten auch heikel sein kann. Schließlich handelt sich dabei um Arbeitsbeziehungen, die existentiell sind und keineswegs gefährdet werden sollen. Besonders relevant waren die wiederholten, vielseitigen und teils kontroversen Gespräche mit unterschiedlichen Akteur_innen. Diese Debatten waren von größter Wichtigkeit, denn „subjektive Bedeutungen lassen sich nur schwer aus Beobachtungen ableiten. Man muss hier die Subjekte selbst zu Sprache kommen lassen; sie selbst sind zunächst die Experten für ihre eigenen Bedeutungsgehalte.“12 Nur durch mehrmalige, lange Aufenthalte konnte ich Dutzende solcher informellen Hintergrundgespräche mit verschiedenen Kunst- und Kulturschaffenden führen, die dazu beitrugen, ein Gespür für die Komplexität des Arbeitskontexts zu entwickeln. Interviews in englischer Sprache führte ich mit äthiopischen Akteur_innen durch, die als Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Journalist_innen zu performativen Künsten arbeiten. Die Auswahl der Interviewpartner_innen war bewusst gewählt und entsprach dem Prinzip, Akteur_innen um Interviews zu bitten, wenn sie im Bereich der performativen Künste tätig sind und Arbeitserfahrungen mit dem Goethe-Institut sowie anderen europäischen Kulturinstituten gesammelt haben. Zum überwiegenden Teil arbeiten diese Akteur_innen selbst künstlerisch in den Bereichen Theater, Tanz oder Performance Art. Zu einem sehr viel geringeren Teil arbeiten einige von ihnen wissenschaftlich oder journalistisch zu performativen Künsten. Bei der Auswahl der Interviewpartner_innen war für mich außerdem wichtig, dass verschiedene Positionen von Kunst- und Kulturschaffenden berücksichtigt werden. Insofern bat ich Personen um Interviews, die verschiedene künstlerische Ansätze verfolgen, aber auch aufgrund

12 Mayring, 2002, S. 66.

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ihres Geschlechts, Alters und beruflichen Erfolgs unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen einbringen. Es ging in diesen teilstrukturierten Interviews mit diesen Akteur_innen v.a. darum, die Ausbildungshintergründe, Arbeitskontexte und Arbeitsbedingungen performativer Künstler_innen Äthiopiens und die konkrete Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut im Feld performativer Künste zu besprechen. Diese Interviews waren wichtige Quellen der Informationssammlung, denn mit ihnen sollten artikulierte Wissensbestände als auch subjektive Positionen, Haltungen und Reflektionen der Akteur_innen erhoben werden. Zwei Akteur_innen lehnten ein Gespräch in Form eines aufgezeichneten Interviews ab, zwei andere Akteur_innen reagierten nicht auf meine Anfrage. Allen Beteiligten wurde vorab offengelegt, dass die Interviews dem Zweck einer Forschung über äthiopisches Theater und die Zusammenarbeit von performativen Künstler_innen mit dem Goethe-Institut dienen. Obwohl die Ablehnung eines Interviews immer mehrere Gründe haben kann, werde ich anschließend auch forschungsethische Überlegungen dazu anzustellen. Teilstrukturierte Interviews ermöglichten die Flexibilität, mich trotz vorformulierter Fragen sehr differenten Interaktionssituationen und Gesprächsverläufen anzupassen13, aber auch „darüber hinaus Detaillierungen und thematische Zentrierungen anzuregen, um eine ausreichende Materialgrundlage“14 zu erhalten. Diese Form der Interviews erschien auch sinnvoll, damit die Produktionsprozesse von den Interviewpartner_innen mittels eigener Begrifflichkeiten, selbstdefinierter Problemlagen und Referenzrahmen darstellbar sind. Am Ende der Forschung 2014 führte ich sechs weitere Interviews mit ausgewählten Akteur_innen durch, um Fragen ansprechen zu können, die sich durch die Beschäftigung mit dem vorherigen Interviewmaterial sowie durch Veränderungen in den Kunstszenen ergaben. Ebenso führte ich teilstrukturierte Interviews mit Fachkräften des Goethe-Instituts durch, um Erkenntnisse über organisatorische, institutionelle, regionalstrategische, kulturpolitische und kulturprogrammatische Aspekte ihres Arbeitskontexts zu erhalten. Dabei war auch wichtig zu erfahren, welche Herausforderungen und Potentiale sie bei der Zusammenarbeit mit äthiopischen Kunst- und Kulturschaffenden sehen. Bei den Interviews handelte es sich in allen Fällen um Einzelgespräche, die mit einem Diktiergerät aufgenommen wurden. Die Gesprächssituationen waren sehr unterschiedlich: einige Interviewpartner_innen sprach ich in der Nähe ihrer Proberäume oder Produktionsorte, andere traf ich in Theaterkantinen oder Cafés,

13 Vgl. Atteslander, 1991, S. 161 f.; Hopf, 2000, 350 f. 14 Maindok, 2003, S. 127.

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wieder andere traf ich auf dem Gelände des Goethe-Instituts in Addis Abeba und mit einigen sprach ich im privaten Umfeld. Zwei Interviewpartner traf ich in Deutschland, einen anderen in der Schweiz. Teilweise gestaltete sich die Interviewführung schwierig. Obwohl in der empirischen Sozialwissenschaft bekannt ist, dass jegliche Suggestivfragen vermieden werden sollten, habe ich entgegen dieser Lehrmeinung in der Praxis teils direkte Anspielungen gemacht oder auch Entscheidungsfragen gestellt. Das war teilweise dem Umstand der eigenen Unsicherheit in Gesprächen geschuldet und teils auch nötig, um den Prinzipien der Mehrdeutigkeit und Andeutung zu widerstehen. Das Verwenden eines Diktiergeräts erschien mir ebenfalls nicht unproblematisch. Es birgt u.a. die Gefahr, dass Interviewpartner_innen die Artikulation einiger kritischer Positionen vermeiden, weil ihre Äußerungen auditiv fixiert werden. Dennoch entschied ich mich, die Interviews aufzuzeichnen, um sie später transkribieren zu können und anhand des Textmaterials Korrespondenzen zwischen den jeweiligen Aussagen herausfiltern zu können. Um eine Strukturierung und Analysierbarkeit des umfangreichen Interviewmaterials zu ermöglichen, unterteilte ich die Inhalte der Transkriptionen durch Indexierungen, so dass ich Interviewaussagen induktiv ordnen und identifizieren konnte, was Interviewpartner_innen thematisierten. Anschließend ordnete ich Textstellen der Interviews in thematisch-deskriptive Kategorien anhand meiner Fragestellungen und reduzierte somit die Datenmenge.15 Die Oberkategorien leitete ich aus diesen Themen ab. Die jeweiligen Unterkategorien entwickelte ich aus dem Material heraus, indem ich die transkribierten Interviews mehrfach daraufhin las, welche Aspekte von verschiedenen Personen wie artikuliert wurden und welche Korrespondenzen sowie Antagonismen in den Aussagen zu identifizieren sind.16 „Von besonderer Bedeutung bei qualitativen Interviews ist die Interpretation von Daten, die zum einen subjektiv geprägt und zum anderen nicht durch den Vergleich mit einer Vielzahl weiterer Daten verifizierbar sind; qualitative Methoden sind daher eher explorativ.“17

In der Auswertung blieb wichtig, die individuellen Perspektiven, unterschiedlichen Wissensbestände und differenten Haltungen der beteiligten Akteur_innen

15 Vgl. Schmidt, 2000, S. 447 ff. 16 Vgl. Atteslander, 1991, S. 239 ff., 248 ff. 17 Loimeier, 2006, S. 44.

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sichtbar zu lassen und dennoch auf thematische Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Interviewaussagen zu achten. Als eine weitere Forschungsmethode diente mir die Analyse von Inszenierungen. Ich untersuchte exemplarisch die Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“, um die Produktionen in ihrer inhaltlichen und ästhetischen Dimension zu erfassen. Beide Stücke wurden ausschließlich in Addis Abeba geprobt und aufgeführt. An der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ arbeitete ein Team bestehend aus der Regisseurin/Coachin Helena Waldmann, den Co-Choreograph_innen Mintesinot Getachew und mir sowie 23 Performer_innen für zwei Wochen zusammen. An der zweiten Produktion „Play with the Senses“ arbeitete ebenfalls ein Team bestehend aus dem Choreograpen Sello Pesa, den Co-Choreographen Mintesinot Getachew und Junaid Jemal Sendi und zehn Performer_innen für fünf Monate zusammen. Um diese Stücke zu analysieren, unterteilte ich die Inszenierungen in ihre Bestandteile. Als Materialien für die Analysen dienten mir die Beobachtung und Erfahrung der leiblichen Ko-Präsenz als Zuschauerin der Aufführungen und die mehrfachen Sichtungen der Videodokumentationen von den Stücken, um die ästhetischen Strategien der Aufmerksamkeitslenkung nachzuvollziehen. Daher nahm ich zunächst die Inszenierung als Gesamtereignis war, versuchte dann die einzelnen Abläufe chronologisch zu erfassen, um anschließend die signifikanten Elemente und Dominanten der Inszenierungen zu identifizieren und in ihrem Zusammenwirken zu analysieren. Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme betont das Paradox, dass Inszenierungen nur anhand von Aufführungen – den transitorischen, unwiederholbaren Ereignissen im Theater – wahrnehmbar sind, d.h. die Inszenierungen nur in und durch das Miterleben von Aufführungen zugänglich werden.18 „Es […] sollten Inszenierungs- und Aufführungsanalyse nicht grundsätzlich streng getrennt voneinander behandelt werden, denn die beiden sind Bestandteil einer komplexen Wechselbeziehung.“19 Somit kann ich erst über die Aufführungsanalyse ausgehend vom Konkreten, Präsentischen, Unmittelbaren zur Inszenierungsanalyse gelangen, in der dominante Strukturmerkmale fokussiert werden können. Diesbezüglich muss dennoch zwischen dem Begriff der Aufführung und dem Begriff der Inszenierung unterschieden werden, weil damit unterschiedliche Schwerpunkte für die Analyse gelegt werden. Kennzeichnend für Aufführungen ist ein spezifisches Verhältnis zwischen intendierten Wirkungen ästhetischer

18 Vgl. Balme, 2008, S. 87 f. 19 Ebd. S. 88.

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Strategien (Inszenierungen) und dem unvorhersehbaren Zusammenwirken aller Elemente während des Vollzugs (Aufführung). „Während unter den Begriff der Inszenierung alle Strategien gefasst werden, die vorab Zeitpunkt, Dauer, Art und Weise des Erscheinens von Menschen, Dingen und Lauten im Raum festlegen, fällt unter den Begriff der Aufführung alles, was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt – also das Gesamt der Wechselwirkungen von Handlungen und Verhalten zwischen allen Beteiligten.“20

Damit betont die Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte stärker das Ereignishafte, Transitorische, Kontingente und Emergente für Aufführungen und das künstlerisch Strategische für Inszenierungen. Allerdings treten die Inszenierungen erst durch die Aufführungen in Erscheinung; somit stehen beide in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Während bei der Analyse von Aufführungen der Fokus stärker auf das Verhältnis zwischen Kunstereignis und Zuschauer_innen, „die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“21 – und somit auf der Wahrnehmungsästhetik – liegt, stehen bei der Untersuchung der Inszenierungsstrategien stärker die Struktur, die Dramaturgie und die ästhetischstrategische Lenkung der Aufmerksamkeit während des Kunstereignisses – und somit die Produktionsästhetik – im Vordergrund. Meine Analysen konzentrieren sich auf die Produktionsästhetik und somit auf das Erfassen der ästhetischen Strategien, die ich jedoch nur durch das Analysieren der konkreten Aufführung herausarbeiten kann. Als Analysierende befinde ich mich im Theater automatisch in der paradoxen Situation, Teil einer Situation zu sein, die ich zugleich beobachte sowie mitgestalte. Als Beobachterin (Rezipientin) und Akteurin (Produzentin) habe ich mit einer diffusen Datenmenge an Sinneseindrücken umzugehen, die ich zu ordnen versuche. Die Theaterwissenschaftlerin Christel Weiler beschreibt den konkreten Arbeitsprozess der Analyse von Stücken wie folgt: „Zunächst sind wir Teilnehmer an einem Geschehen: Wir sind Teil einer sozialen Situation, die wir als Aufführung bezeichnen. […] Dieses Konglomerat von Eindrücken, Gedanken, Bildern, Empfindungen, Erinnerungen etc. ist das, was zunächst übrig bleibt, wenn ich aus diesem Aufführungsgeschehen entlassen bin. Anders ausgedrückt, handelt es

20 Fischer-Lichte, 2012a, S. 55 f. 21 Fischer-Lichte, 2012b, S. 11.

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sich dabei um den ersten Datensatz, der uns zur Verfügung steht. Der zweite Schritt, der darauf folgt, ist ein Erinnerungs-, Ordnungs- und Reflexionsvorgang […].“22

Daran wird erkennbar, dass theaterwissenschaftliche Analysen stark von der subjektiven Wahrnehmung und Ordnung der Untersuchenden geprägt sind. Da ein methodisches Vorgehen nicht einer stoisch zu folgenden Anleitung entspricht, sondern dem Untersuchungsgegenstand und dem Forschungsinteresse angemessen sein sollte, verstehe ich sie auch als modifizierbar. Darin folge ich der Argumentation von Weiler, die für einen kreativen Umgang mit Methoden plädiert: „Methode, so wie ich sie verstehe, ist allerdings kein immer wieder anzulegendes Raster, sondern ein dynamisches Modell, das sich im Abgleich mit dem zu untersuchenden ‚Gegenstand‘ immer wieder neu justiert, ohne dass wir rein willkürlich vorgehen. […] Methodisches Vorgehen bei einer analytischen Arbeit besteht meines Erachtens in erster Linie darin, die Sinnesdaten zu sammeln und Kontexte und Korrespondenzen aufzufächern, die sich strukturell miteinander verbinden lassen.“23

Das ist insbesondere deshalb zu beachten, da die Inszenierungs- und die Aufführungsanalysen zwar elementare Untersuchungsmethoden für die Theaterwissenschaft sind, jedoch zu einer Zeit entwickelt wurden, in der überwiegend das Theater auf Drama und Kultur auf Text reduziert wurden und die Theatersemiotik davon ausging, dass alle Erscheinungen des Theaters Zeichen24 sind, denen spezifische Bedeutungen zukommen. Seitdem jedoch Theater vom Diktat des dramatischen Textes entkoppelt wurde und die Performativität der Aufführungen verstärkt in den Fokus rückte, erscheinen einzelne Modelle der Inszenierungsanalyse nicht mehr zeitgemäß. Das betrifft besonders solche Modelle, bei denen das Verhältnis zwischen literarischem Text und Inszenierung im Mittelpunkt stehen. Da ich aber produktionsästhetisch daran interessiert bin, welche ästhetischen Praxen und künstlerischen Strategien in den Produktionen vollzogen werden, erscheint mir die Methode der Inszenierungsanalyse weiterhin angebracht, denn sie ermöglicht es, die künstlerische Organisation von ästhetischen Kompo-

22 Weiler/Richarz, 2012, S. 253. 23 Ebd. S. 256. 24 Anm.: Einen Überblick über linguistische, mimische, gestische, proxemische und musikalische Zeichen, wie sie im Theater unter semiotischer Perspektive zu identifizieren sind, erarbeitete Fischer-Lichte. (Vgl. Fischer-Lichte, 1998, S. 25-30)

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nenten zu betrachten.25 Dabei gehe ich davon aus, dass die jeweilige künstlerisch festgelegte Struktur eines Stückes mehr oder minder intentional ist und auf bewussten künstlerischen Entscheidungen für oder gegen etwas basiert. Insofern ermöglicht die Inszenierungsanalyse mir, herauszufiltern, für welche ästhetischen Praxen sich die Akteur_innen in ihrer Zusammenarbeit entschieden. Modelle der Inszenierungsanalyse legten u.a. die Theaterwissenschaftler_innen Erika Fischer-Lichte, Guido Hiß und Patrice Pavis vor. Auffällig ist ihre Übereinstimmung darin, eine Segmentierung verschiedener Ebenen vorzunehmen, um eine Kategorienbildung zu ermöglichen.26 Da es sich bei den zu analysierenden Produktionen um Formen des Bewegungs-, Körper- bzw. Tanztheaters handelt, geht es mir ausschließlich darum, nonverbale Inszenierungselemente zu erfassen. Daher versuche ich die gleichen Kategorien für die zu untersuchenden Stücke anzuwenden und dennoch differente Dominanten jeder Inszenierung zu erfassen. Zu diesem Zweck unterscheide ich verschiedene Segmentierungsebenen der Inszenierung und analysiere diese getrennt voneinander. Mein analytisches Verfahren umfasst das Beschreiben und Untersuchen von folgenden Ebenen: • • • • • • •

Struktur der Inszenierung Schilderung des Anfangs wiederkehrendes Thema Raum Zeit Mimik, Gestik und Bewegung Interaktion der Performer_innen.

Dabei ist es wichtig, im Blick zu behalten, dass Aufführungen theatral sein können, sofern die ausgeführten Handlungen auf der Bühne referentiell sind, spezifische Bedeutungen evozieren und semantische Felder erzeugen. Daher sind auch einige der Handlungen zu interpretieren bzw. mit Assoziationsketten bezüglich einer sozialen Wirklichkeit deutbar. Aber unabhängig von dieser Option sind Aufführungen immer – darin folge ich Fischer-Lichte – performativ, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend.27 Insofern stehen bei meinen Analysen weniger die Interpretationen der Bühnenhandlungen im Vordergrund als vielmehr ein Erfassen des künstlerisch-strukturierten Bühnenmaterials und das Er-

25 Vgl. Balme, 2008, S. 87. 26 Vgl. ebd. S. 96; Hiß, 1993, S. 143. 27 Vgl. Fischer-Lichte, 2002, S. 15; Fischer-Lichte, 2012a, S. 45.

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zeugen ästhetischer Prinzipien. Daraus leitet sich der Anspruch ab, simultan erscheinende Bühnenereignisse, -handlungen, -aktionen und -atmosphären etc. zu beschreiben, um diese nachvollziehbar zu machen. Damit ist auch eine forschungsethische Haltung verbunden, die den komplexen, zeitintensiven und kollektiv herausfordernden Arbeitsprozess einer Inszenierung anerkennt und würdigt. Denn die Analyse „ist […] zugleich eine Einübung in Distanz [...] Darin zeigt sich für mich auch eine grundsätzlich wichtige ethische Dimension unserer Arbeit, die darin besteht, Wertungen aufzuschieben.“28

R OLLE

ALS

F ORSCHERIN

Hinsichtlich der Forschungsethik ist es notwendig, meine Rolle als Forscherin explizit zu thematisieren. Die Forschung einer weißen29, europäischen Wissenschaftlerin in einem afrikanischen Land ist grundsätzlich sehr ambivalent und insofern fragwürdig, als dass es potentiell mit Aspekten wie Handlungsmacht, Repräsentationsmacht, Informationsverwaltungs- und Interpretationshoheit, Wissensausbeutung, Reduktion von Komplexitäten verbunden ist und innerhalb der realitätswirksamen Klammer der europäisch-afrikanischen Kolonialgeschichte und einer postkolonialen Situation geschieht. Die Kategorie des Weißseins wird erfahrungsgemäß häufig von weißen Forscher_innen übersehen oder übergangen und bleibt daher oft unreflektiert. Währenddessen bleibt für viele ‚andere‘ Personen diese Kategorie entscheidend, da die Kategorie weiß mit Privilegierung, Normierung, Profitierung, Macht und Gewalt zu tun hat. Susan Arndt zufolge ist Weißsein „[…] als eine Konstruktion des Rassismus zu lesen, die kollektive Wahrnehmungs-, Wissens- und Handlungsmuster konstituiert hat. Damit präsentiert sich Weißsein als eine historisch und kulturell geprägte symbolische und soziale Position, die mit Macht und Privilegien einhergeht und sich daher auch unabhängig von Selbstwahrnehmungen und jenseits offizieller Institutionen individuell wie kollektiv manifestiert.“30

28 Weiler/Richarz, 2012, S. 257. 29 Anm.: In der Critical Whiteness Forschung werden die Begriffe ‚weiße‘ und ‚Schwarze‘ oft kursiv gedruckt, um zu betonen, dass es sich um gesellschaftliche Kategorien statt um Zuschreibungen aufgrund von Äußerlichkeiten handelt. 30 Arndt, 2005a, S. 343.

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Die Autorin, Künstlerin und Aktivistin Grada Kilomba hat es in einem Interview folgendermaßen formuliert: „Es ist sehr verstörend für weiße Menschen sich zu positionieren, weil sie es gewohnt sind, sich nur als Mensch zu identifizieren und Weißsein unsichtbar zu machen. Aber es gibt keine machtvollere Position, als sich nur als Mensch zu sehen und die Norm zu bestimmen.“31

Durch diese Normierung von Weißsein eben wurden jahrhundertelang und werden weiterhin ‚Andere‘ ge-andert, marginalisiert oder aber diskriminiert, abgewertet, unterdrückt und rassifiziert. Die Normierung von Weißsein, der Kolonialismus als Diskurs und die Rassifizierung als Teil der europäischen Kulturgeschichte haben natürlich auch Auswirkungen auf meine Rolle als Forschende in der Interviewführung und im Schreibprozess. Es bedeutet u.a. immer wieder, Entscheidungen zu treffen, wie ich Menschen in konkreten Situationen begegne und welche Begriffe und Formulierungen ich verwende. Es bedeutet auch, die implizite Machtposition des weißen Blicks sowie die historisch und aktuell machtpolitische Verwobenheit anzuerkennen statt zu leugnen. Erst von dort aus ist ein bewusstes Handeln, Sprechen und Schreiben überhaupt möglich, wobei es niemals die Möglichkeit gibt, von einer ‚off-white‘ Position aus agieren zu können.32 Die Entscheidung bei der Länderauswahl für Äthiopien kann dazu Anlass geben, anzunehmen, dass der benannte Aspekt der Kolonialgeschichte als realitätswirksame Klammer weniger eine Rolle spiele als in anderen afrikanischen Ländern, weil Äthiopien sich imperialistischen Bestrebungen europäischer Mächte erfolgreich widersetzte. Dem widerspricht die äthiopische Kunsthistorikerin Elisabeth Wolde Giorgis – wie bereits zitiert – dahingehend, dass der koloniale Einfluss, die Dominanz durch den Westen und die Marginalisierung Äthiopiens dennoch existiere.33 Jedoch bleibt v.a. zu berücksichtigen, dass Deutschland als Kolonialmacht agierte und somit ebenfalls zu einer „Kolonialgesellschaft“34 wurde, in der bestimmte Denkweisen über das ‚Andere‘ und identitätspolitische Konstruktionen tradiert wurden.35 „Koloniale Verhältnisse und Dis-

31 Ippolito/Kalarickal, 2013, http://gradakilomba.com/interviews/weis-macht-schwarz/, 17.10.2015. 32 Vgl. Arndt, 2005b, S. 24-28. 33 Vgl. Wolde Giorgis, 2012, S. 62. 34 Vgl. Ha, 2005, S. 107. 35 Vgl. Ha, 2011a, S. 181; Dietrich/Strohschein, 2011, 117-120.

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kurse sind samt ihrer gravierenden Auswirkungen in die kolonisierten und – auf andere Weise – in die kolonisierenden Gesellschaften strukturell eingeschrieben und bestehen bis heute.“36 Insofern ist auch die eigene Forschungssituation in Formen diskursiver Macht über ‚Andere‘ eingebettet. Die Situation der Interviewführung mit Akteur_innen bedeutet, dass ich als Forscherin eine Auswahl der Gesprächspartner_innen treffe und eine Frage- und Antwortsituation im Interview gestalte, die symbolische und reale Machtverteilungen reproduzieren. Die Ablehnung von Interviews, für die sich vier Akteur_innen in Äthiopien entschieden, kann sich auf mich als individuelle Person oder auf mich als weiße, europäische und deutsche Forscherin beziehen. Das ist wichtig zu berücksichtigen, da die eigene Forschung nie losgelöst existiert, sondern in eine spezifische Wissensproduktion eingebettet ist, die unterschiedlich wahrgenommen wird. Da die Repräsentation ‚Anderer‘ in den wissenschaftlichen Abhandlungen weißer Forscher_innen seit der Aufklärung eng mit „imperialism as a discursive field of knowledge“ 37, mit Objektivation und Dehumanisation ‚Anderer‘ verbunden war, ist auch das Schreiben selbst problematisch. „Writing can also be dangerous because we reinforce and maintain a style of discourse which is never innocent.“38 Das bemerke ich im Schreibprozess v.a. daran, dass ich bei Begriffsverwendungen immer wieder Argumente abwiegen und Entscheidungen treffen muss, die komplex sowie riskant sind und mir selbst teilweise als unzureichend erscheinen. Da jede Textproduktion auf „Selektion, Reduktion, Hervorhebung und Aus39 schluss“ basiert, übe ich als Schreibende zugleich immer eine Repräsentationsmacht aus, die aufgrund struktureller Bedingungen anderen Personen vorenthalten bleibt. Damit verbunden ist das grundlegende Problem der Darstellung des ‚Anderen‘, wodurch ein ‚othering‘ betrieben und stellvertretend für ‚Andere‘ gesprochen oder Wissen über ‚Andere‘ produziert wird, was einem paternalistischen Gestus entspricht und letztendlich die Gefahr birgt, einem Diskurs des ‚Orientalismus‘ – wie Said ihn identifizierte – verhaftet zu bleiben.40 Wenn darüber hinaus eine inadäquate Repräsentation des ‚Anderen‘ – auch unintendiert – betrieben wird, besteht die Gefahr eurozentristische Wahrheitsregime zu stabilisieren.41 Spivak zufolge kann „[…] Repräsentation als „sprechen für“, wie in der

36 Dietrich/Strohschein, 2011, S. 119. 37 Smith, 1999, S. 21. 38 Ebd. S. 36. 39 Ha, 2011a, S. 180. 40 Vgl. Said, 2009. 41 Vgl. Ha, 2011a, S. 182.

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Politik, und Repräsentation als „Re-präsentation“, als „Darstellung“ bzw. „Vorstellung“, wie in der Kunst oder Philosophie […]“ verstanden werden und verbindet zwei unterschiedliche Bedeutungen.42 Insofern sind Darstellungen im Feld der Wissenschaft ebenfalls hinsichtlich des politischen Gestus problematisch, weil Subjekt- und Objektpositionen zementiert werden. „Jede Form des Sprechens für andere […] begründet ein hierarchisches Verhältnis, jede Beschreibung des ‚Anderen‘ ist in letzter Instanz nicht zu lösen von strategischen Zusammenhängen, die tief in das geopolitische Machtgefüge eingelassen sind.“43

Für die Textproduktion sind damit außerdem Ambivalenzen der sprachlichen Repräsentation verbunden. In Abhandlungen über afrikanisches Theater wird mit Begriffen wie ‚Ritual, Tradition, Folklore, Theatre for Development‘ operiert; weniger werden Arbeitsansätze individueller Künstler_innen besprochen.44 Abhandlungen über europäisches Theater weisen demgegenüber Differenzierungen hinsichtlich individueller Künstler_innen, kunsthistorisch gewachsener Ansätze, Sparten und spezifischer Arbeitsfelder im Theaterbetrieb auf. Dieser Kontrast zwischen der Repräsentation afrikanischen Theaters45 und europäischen Theaters ist signifikant und verweist auf eine wirksame dichotome Konstruktion des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘. Insofern ist es mir wichtig, performative Kunstpraxen und -produktionen anhand ästhetischer Strategien und künstlerischer Ansätze von individuellen Kunstschaffenden zu erfassen. Die Benennung individueller Künstler_innen ist auch als eine Strategie zu verstehen, Generalisierungen und Simplifizierungen eines ausdifferenzierten Kunstfeldes zu vermeiden sowie der auffälligen Tendenz zur Marginalisierung und Anonymisierung afrikanischer Künstler_innen entgegenzuwirken.46 Aus den dargelegten Überlegungen heraus habe ich außerdem entschieden, ein Vokabular zu verwenden, welches ich ebenso für die Beschreibung europäischen Theaters nutzen würde und welches transferierbar sein sollte. Das verstehe ich als eine Strategie, um auf verbaler Ebene einem essentialistischen Verständnis von Kultur sowie einer dichotomen Konstruktion vom ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Theater entgegen zu wirken. Dennoch

42 Spivak, 2008, S. 29. 43 Moser, 2011, S. 48. 44 Vgl. Lohse, 1992, S. 50-52; Gebert, 1996, S. 422-426; Kerr, 1995, S. 1-40. 45 Anm.: Der Begriff ‚afrikanisches Theater‘ birgt die Gefahr, unterschiedliche künstlerische Positionen und Strategien auf die regionale Herkunft der Künstler_innen zu reduzieren. 46 Vgl. Micossé-Aikins, 2011, S. 428 f.

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bleibt auch diese Entscheidung mit dem Dilemma der Aneignung und Reduktion des ‚Anderen‘ auf das ‚Eigene‘ durch übertragbare Kategorien verbunden.47 Da Beobachtungen, Beschreibungen und Analysen immer abhängig von der eigenen Blickposition sind, besteht ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem darin, eine spezifische Perspektive als implizite Norm zu setzen. Durch jahrelanges Tanztraining, Besuchen von Theaterinszenierungen in Europa, der Beschäftigung mit europäischer Kunstgeschichte, der Ausbildung in Theaterund Kulturwissenschaft an europäischen Universitäten, der praktischen Arbeit in Theater- und Tanzproduktionen wurden mein Blick und meine sinnliche Wahrnehmung von Welt subtil geformt, konditioniert, geprägt und unbewusst von mir internalisiert. Das damit verbundene erkenntnistheoretische Problem besteht darin, dass ästhetische Wahrnehmungen von Kunst durch spezifische Sozialisierungen geprägt sind und diese meist unbewusst bleiben. Doch aus dem perspektivierten Blick heraus besteht die Gefahr, das ‚Andere‘ als binär zum ‚Selbst‘ zu konstruieren und somit dichotomes Denken zu perpetuieren. Da die Forschungsperspektive immer durch lokale und historische Besonderheiten determiniert ist48, bildet meine Position und Erfahrung als europäische Rezipientin und Produzentin von Kunst den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. Aufgrund ästhetischer Erfahrungen, die ich vorrangig in Berlin seit den 1990er Jahren machte, ist mein Blick außerdem stark geprägt durch Sehgewohnheiten an das postdramatische Theater. Da ästhetische Maßstäbe weder einfach zu dekonstruieren noch abzulegen sind, lässt sich am Beispiel einer Theatersituation veranschaulichen: wenn ich ein scharfes Spotlicht auf einer leeren Bühne vom abgedunkelten Zuschauerraum aus sehe, welches mittels gelben Farbfilters und schwacher Lichtstärke gedämpft ist und von dort aus einen Lichtwechsel hin zu grob-grellem Neonlicht erlebe, das die ganze Bühne schlagartig ausleuchtet, kann es sein, dass ich im Theater sitze und mit Phantasien, Erinnerungen, Visionen und Bildern vor dem inneren Auge konfrontiert werde. Diese ästhetische Erfahrung der Raumatmosphäre erzeugt in mir etwas. Wenn ich dagegen eine Bühne sehe, in der Requisiten stehen und die farblichen Lichtstimmungen abrupt von grün, gelb, rot nach blau und violett wechseln, erzeugt die ästhetische Erfahrung dieser Raumatmosphäre etwas anderes. Weder ist die eine Beleuchtung besser oder schlechter als die andere, noch ist die leere Bühne einem definierten Raumgefüge vorzuziehen; dennoch präferiere ich die leere Bühne mit sparsamen Lichtnuancen. Das hat weniger mit dem Objekt zu tun, welches ich in den Blick nehme als vielmehr mit der

47 Vgl. Han, 2005, S. 61. 48 Vgl. Fiebach, 1996, S. 22.

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Strukturierung und Konditionierung meines Blicks. Insofern scheint jede ästhetische Erfahrung an die Wahrnehmungsweise des Subjekts gebunden zu sein, was ausschließt, dass es einen objektiven Blickwinkel auf Kunst geben kann. Der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach merkt dazu an: „Dass Wahrnehmen und Denken der Dinge historisch, kontextualisiert und daher immer veränderlich sind, wurde für Cultural Studies zur Forschungs-Grundannahme (framework).“49 Mein Blick auf performative Kunstproduktionen ist durch subtile Formungen ästhetischer Maßstäbe vorstrukturiert, die aus einem spezifischen Kunstkontext heraus entstanden und meine Wahrnehmung von Kunst stark beeinflussen. Es bedeutet auch, mit einer Außenperspektive zu operieren, die sich indirekt auf Kenntnisse der europäischen Kunstgeschichte und ihre stilistischen Umbrüche bezieht, obwohl der Gegenstand der Forschung ebenso innerhalb des kunsthistorischen Kontexts Äthiopiens anzusiedeln ist. Das Studium der Kultur bezieht sich in meiner Arbeit auf den Teilbereich performativer Künste und auf das Erfassen der Produktionsebene, ausgehend von der Prämisse, dass Kultur durch unterschiedliche Praktiken und Kunstproduktionen sukzessive von Akteur_innen gemeinschaftlich gestaltet wird. Außerdem gehe ich davon aus, dass ‚Kultur‘ nicht territorial verortbar und die gestaltenden Akteur_innen nicht räumlich fixierbar sind. Insofern sind die Begriffsbezeichnungen ‚äthiopisch, deutsch, Afrika, Europa, Westen, lokal, international‘ sowie ‚interkulturell‘ etc. teils sehr problematische und nur unzureichende, sprachliche Hilfskonstruktionen. Mit diesen Reflektionen möchte ich daran erinnern, dass es weder eine unproblematische Verfahrensweise der Informationssammlung und -auswertung noch eine neutrale Forschungsposition oder eine objektive Forschung gibt und ich mich ebenso in diesem Rahmen struktureller, politischer, ökonomischer und diskursiver Ungleichheit bewege.

AUFBAU Zunächst werde ich in Kapitel 2 den Forschungsstand zu inter- und transkulturellem Theater skizzieren, um anhand dieses Diskurses zu verdeutlichen, auf welche Probleme und Potentiale in der Zusammenarbeit verschiedene Theaterwissenschaftler_innen bereits aufmerksam machten. Außerdem leite ich von einer kritischen Lektüre des umstrittenen Konzepts des ‚interkulturellen Theaters‘ ab, welche theoretischen und methodischen Konsequenzen sich daraus für meine

49 Ebd. S. 22.

1. E INLEITUNG

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Arbeit ergeben. Anschließend werde ich auf die spezifische Literatur zu performativer Kunstproduktion in Äthiopien eingehen, die für diese Untersuchung relevant war. Weil die Konzepte des ‚interkulturellen Theaters‘ sowie des ‚transkulturellen Theaters‘ und die Gestaltung von außenkulturpolitischen Ansätzen letztlich immer wieder auf den problematischen Begriff ‚Kultur‘ zurückgehen, werde ich in Kapitel 3 die theoretischen Grundlagen meiner Arbeit darlegen, indem ich den Begriff ‚Kultur‘ kritisch diskutiere. Im zweiten Teil stelle ich drei verschiedene Positionen zu Kreolisierung (Glissant), Globalisierung (Hall) und Hybridisierung (Bhabha) von Kultur vor, anhand derer historische Bedingungen und politische Ambivalenzen internationaler Kulturbeziehungen deutlich werden. Daran wird ersichtlich, warum die potentielle Konflikthaftigkeit dieser Beziehungen weder zu leugnen noch diese Beziehungen als harmonische, scheinbar interessenlose Austauschbeziehungen zu begreifen sind, denn in postkolonialtheoretischen Erklärungsmodellen wird auf bestehende Asymmetrien internationaler Kulturbeziehungen und politische Konfliktfelder hingewiesen. In Kapitel 4 thematisiere ich zentrale Aspekte der kulturpolitischen Rahmensetzungen der UNESCO, skizziere Tendenzen der auswärtigen Kulturpolitik der BRD und behandle die operative Praxis auf institutioneller Ebene durch das Goethe-Institut. Daran wird ersichtlich, dass unterschiedliche Kulturbegriffe Anwendung finden, was sich schließlich auf die praktische Kulturarbeit auswirkt und Fachkräfte des Goethe-Instituts vor spezifische Herausforderungen stellt. In Kapitel 5 schränke ich Kultur auf den Teilbereich der performativen Künste (Theater, Tanz, Performance Art) ein und fokussiere den Standort Äthiopien hinsichtlich seines theater-, kunst-, und kulturhistorischen Kontexts. In diesem Teil bearbeite ich die Teilfrage, welche Theaterentwicklungen es in Äthiopien gab und welche spezifischen Merkmale sich daraus ergeben. Daran wird ein historisch gewachsenes Feld der Kunst ersichtlich, in dem äthiopische Kunstschaffende agieren und wodurch indirekt auch deren Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut beeinflusst ist. In Kapitel 6 untersuche ich das zeitgenössische Theater Äthiopiens in Hinblick auf seine strukturellen, materiellen und ästhetischen Besonderheiten und leite daraus mögliche Herausforderungen für gemeinsame Produktionen ab. In Kapitel 7 fokussiere ich die dynamischen Szenen der performativen Künste in Addis Abeba hinsichtlich der Kunstschaffenden, ihrer heterogenen Arbeitsansätze und ästhetischen Bezugssysteme. Daran wird ersichtlich, dass ein grundlegendes Potential der künstlerischen Zusammenarbeit in den Akteur_innen selbst liegt. Darüber hinaus dient dieses Kapitel dazu, die kritischen Haltungen der Kunstschaffenden zu ihren Arbeits- und Produktionsbedingungen vor Ort

36 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

sowie zu ihrer Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstitutionen zu beleuchten. Im Anschluss analysiere ich die Herausforderungen, die performative Künstler_innen Äthiopiens (Kapitel 8) und Fachkräfte des Goethe-Instituts (Kapitel 9) artikulieren. Danach gehe ich in Kapitel 10 auf die konkrete künstlerische Zusammenarbeit der Akteur_innen in Form ihrer Proben- und Produktionsprozesse zu den gemeinsam erarbeiteten Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ ein, um das Training, die künstlerischen Arbeitsweisen in den Proben und die Aufgabenteilung während der Produktion zu untersuchen. In diesem und im folgenden Kapitel zeigen sich – neben den Herausforderungen – auch die Potentiale der künstlerischen Zusammenarbeit. Bevor ich in Kapitel 11 die Inszenierungsanalysen vornehme, um die thematischen Setzungen und ästhetischen Strategien zu erfassen, gehe ich auf die postkoloniale Ästhetik von Regus, die postdramatische Ästhetik von Lehmann und die hybride Ästhetik von Bhabha ein. Sie dienen als theoretische Grundlage für die Reflektion ästhetischer Strategien in den Inszenierungen, aus denen sich sowohl mögliche kulturpolitische Effekte ableiten als auch weiterführende Überlegungen postkolonialen und dekolonialen Ästhetiken formulieren lassen. In der Schlussbetrachtung formuliere ich die wichtigsten Ergebnisse meiner Forschung.

2. Forschungsstand

Zunächst skizziere ich den Forschungsstand zum ‚interkulturellen Theater‘ und behandele die Differenz zum ‚transkulturellen Theater‘, welches bislang sehr wenig Raum in der theaterwissenschaftlichen Forschung einnimmt. Anschließend gebe ich einen Überblick über bisherige Arbeiten zu Theater und performativer Kunstproduktion in Äthiopien.

I NTER - UND T RANSKULTURELLES T HEATER Es besteht weitestgehend Konsens darüber, dass Austausch theatraler Formen seit Beginn des Theaters existierte und wesentliche Aneignungs- und Erneuerungsprozesse durch interkulturellen Austausch stattfanden. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte formuliert das wie folgt: „[…] if we go deep enough into history, we find that exchanges between the theatrical forms of neighboring and later also of distant cultures occurred wherever we have some evidence of theatre.“1 Besonders seit den 2000er Jahren ist die globale Vernetzung, der Transfer von Körperwissen und -techniken, die Teilnahme an internationalen Theaterund Tanzfestivals, eine hohe Arbeitsmobilität, das Agieren in wechselnden Kunstkollektiven sowie das Koproduzieren von Stücken zwischen den Welten zur Erfahrungswelt vieler Künstler_innen geworden. Obwohl Produktionen im Bereich des inter- und transkulturellen Theaters im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts nummerisch zunahmen und grundlegende kulturelle Veränderungsprozesse begünstigten, war das interkulturelle Theater vorrangig in den 1980er und 1990er Jahren Gegenstand theaterwissenschaftlicher Reflektion.2

1

Fischer-Lichte, 2014, S. 1.

2

Vgl. Weiler, 2005, S. 156 f.; Fischer-Lichte, 1999, S. 13.

38 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Mit dem Begriff Interkulturalität werden alle Phänomene, Probleme und Fragestellungen, die sich aus dem Zusammentreffen und dem Austausch unterschiedlicher Kulturen ergeben, umschrieben. […] Für die Theaterwissenschaft ist die systematische Erforschung und Analyse all der Phänomene, die sich aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen im Kontext des Theaters ergeben noch ein relativ neues Feld.“3

Im bisherigen Diskurs über interkulturelles Theater nimmt die Reflektion von Theaterproduktionen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts von Künstler_innen aus Europa und den USA unternommen wurden, einen großen Raum ein. Untersucht wurden überwiegend die Bestrebungen avantgardistischer Künstler_innen wie Gordon Craig, Max Reinhardt, Antonin Artaud, Bertold Brecht, Jerzey Grotowski, Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, die durch Elemente nichtwestlichen Theaters das Theater in Europa radikal erneuerten und somit eine ReTheatralisierung unter Einbezug ‚fremder‘ theatraler Formen vorantrieben.4 Einen sehr viel kleineren Raum nehmen die Untersuchungen zu avantgardistischen Künstler_innen Japans und Chinas ein, die Elemente des westlichen Theaters wie Mimesis oder Naturalismus übernahmen, um ästhetische Neuerungen im Theater zu erzielen.5 „Die Übernahme theatraler Elemente bzw. spezifischer Theaterformen aus fremden Kulturen zielte also in Ost und West auf bestimmte Veränderung, 1) die ästhetisch-theatrale Verfahren der Inszenierung, 2) den geltenden Theaterbegriff und 3) sozio-kulturelle Entwicklungen betrafen. […] Zum anderen ging es jeweils um grundlegende kulturelle Wandlungsprozesse.“6

In Bezug auf Afrika wird überwiegend davon ausgegangen, dass der interkulturelle Austausch im Bereich des Theaters während der Kolonialzeit gewaltvoll erzwungen wurde und nicht Resultat einer bewussten Entscheidungsfindung individueller Künstler_innen war.7 Es wurden überwiegend Ansätze von Künstler_innen reflekiert, die im ‚Westen‘ ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt haben. Dabei ist auffällig, dass den Künstler_innen Europas, Amerikas und Asiens eine aktive, selbstbestimmte und avantgardistische Gestaltungsrolle im kulturellen Transformationsprozess zugeschrieben wird, während afrikanischen Künst-

3

Weiler, 2005, S. 156 f.

4

Vgl. Regus, 2009, S. 9; Fischer-Lichte, 1990a, S. 13 ff.; König, 1992, S. 118.

5

Vgl. Fischer-Lichte, 1990a, S. 14 f.; Fischer-Lichte 1999, S. 15 f.

6

Fischer-Lichte, 1999, S. 16.

7

Vgl. Fischer-Lichte, 1990a, S. 15; Fischer-Lichte, 1999, S. 16.

2. F ORSCHUNGSSTAND

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ler_innen diese weitestgehend abgesprochen oder als reaktives Verhalten ausgelegt wird. Fischer-Lichte machte deutlich, dass bislang das Konzept ‚interkulturelles Theater‘ vorrangig für Kunstproduktionen angewandt wurde, die in der Zusammenarbeit zwischen westlichen und nicht-westlichen Künstler_innen entstanden. „However, if we examine the use of the term ‚intercultural theatre‘ in Western writing more closely, we make a striking discovery: The term always indicates the fusion of something Western and non-Western – not, say, of African and Latin American traditions or of different Asian cultures. This strongly implies that ‚intercultural‘ here refers to a notion of equality that almost always requires the West to be involved.“8

Daran ist erkennbar, warum ein unhinterfragtes Operieren mit dem Konzept des ‚interkulturellen Theaters‘problematisch ist. Auffällig ist allerdings auch, dass Kunstproduktionen, die explizit in Zusammenarbeit zwischen westlichen Institutionen und Künstler_innen aus Afrika, Asien oder Lateinamerika in nichtwestlichen Ländern entstehen und als Stücke dort aufgeführt werden – was einer gängigen Praxis innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik entspricht – nur sehr selten untersucht wurden. Noch seltener untersucht wurden bislang gemeinsame Produktionen verschiedener Künstler_innen aus den Peripherien. Dass das Konzept des ‚interkulturellen Theaters‘ sehr ambivalent und nur bedingt brauchbar ist, liegt u.a. auch daran, dass eine Definition von ‚Interkulturalität‘ zwangsläufig mit dem komplexen Begriff ‚Kultur‘ verschränkt ist. In Besonderem sind die Bezugnahme auf ein essentialistisches Kulturverständnis sowie Annahmen über die Abgrenzbarkeit von Kulturen und über festgeschriebene kulturelle Identitäten heikel: „Damit der Begriff ‚interkulturelles Theater‘ überhaupt Sinn ergibt, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: es muss erstens voneinander unterscheidbare Kulturen geben – diese brauchen nicht eindeutig definiert werden, müssen aber in ihrer Differenz wahrnehmbar sein. Zweitens gilt die Prämisse, dass Kultur und Theater in einem Zusammenhang stehen: Kultur ist der Kontext, der spezifische Formen von Theater hervorbringt und prägt. Und drittens sind die Beteiligten am Theater – die Macher und die Zuschauer – immer als Teilhaber einer Kultur oder auch mehrerer Kulturen anzusehen. Das heißt, sie produzieren und rezipieren Theater in einer spezifischen, kulturell geprägten Weise.“9

8

Fischer-Lichte, 2014, S. 5.

9

Regus, 2009, S. 33.

40 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

Da weder von einander unterscheidbaren, abgrenzbaren Kulturen noch von kulturell-homogen determinierten Identitäten ausgegangen werden kann, ist das Konzept des Interkulturellen höchst fragwürdig. Auffällig an der Debatte um interkulturelles Theater ist außerdem der Umgang mit dichotomen Konstruktionen. Das betrifft die Betonung von Universalisierung vs. theaterästhetischer Differenz in der Kunstproduktion sowie die Abgrenzung von dem ‚eigenen‘ und dem ‚fremden‘ Theater. Teilweise wird auch mit der Dichotomie zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Rest‘ der Welt operiert, was von den Theaterwissenschaftler_innen Christine Regus und Biodun Jeyifo kritisch hinterfragt wird, weil im Feld der Kunst zunehmend Verdichtungen transkultureller Räume aufgrund der stetigen Migration von Künstler_innen und Arbeitsmethoden entstehen.10 Angesichts dessen mag es zunächst so scheinen, als würde der Begriff ‚transkulturelles Theater‘ geeigneter sein, da mittels ‚Transkulturalität‘ häufig beabsichtigt wird, statische Modelle und essentialistische Ansätze aufzulösen.11 Der Theaterwissenschaftler Christopher Heeg hat erste Überlegungen zum ‚transkulturellen Theater‘ programmatisch formuliert: „Es setzt an der Fremdheitserfahrung im Inneren der kulturellen Phantasmen an, die uns umgeben. […] Deshalb ist es für ein transkulturelles Theater unabdingbar, immer erneut seine Darstellungsmittel zu überdenken und auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Erfahrung des Fremden hinzu befragen.“12

Diese Forschungsperspektive bietet sich an, um im Bereich des Ästhetischen kulturelle Konstruktionen des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ oder Phantasmen über das ‚Andere‘ in Theaterproduktionen zu untersuchen. Allerdings wies die Politikwissenschaftlerin Melanie Hühn darauf hin, dass das Präfix ‚trans-‘ verschiedene Bedeutungen hat. Häufig werden damit Überschreitungen und Auflösungen von Grenzen beschrieben. In dem Kontext erscheint ‚trans-‘ als ein Versprechen, was jedoch mit aktuellen politischen Realitäten nur wenig zu tun hat. Die konkrete Zusammenarbeit der Kunst- und Kulturschaffenden im Bereich des Ästhetischen entspricht zwar einer transkulturellen Praxis, ist jedoch zugleich auch eine Utopie, weil ihr Zusammentreffen häufig erst durch die finanziellen Mittel ermöglicht wird, die in der Kulturpolitik für

10 Vgl. Regus, 2009, S. 84; Jeyifo, 1996, S. 153. 11 Vgl. Gippert, 2008, S. 10. 12 Heeg,

2013,

http://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7645:hildeshei

mer-thesen-xi-die-zukunft-liegt-im-transkulturellen-theater&option=com_content&Ite mid=84, 10.10.2015.

2. F ORSCHUNGSSTAND

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den sogenannten ‚interkulturellen Austausch‘ zur Verfügung gestellt werden. In sofern ist die künstlerische Zusammenarbeit der Akteur_innen auf mikrosoziologischer Ebene als transkulturell, doch auf kulturpolitischer Ebene als interkulturell zu bezeichnen. Darüber hinaus bleibt die im ‚trans-‘ erhaltene Idee der Grenzüberschreitung nur denjenigen möglich, die ökonomisch und politisch diesbezüglich handlungsfähig sind und bleibt allen ‚anderen‘ vorenthalten. Wenn beispielsweise afrikanische Kunstschaffende trotz Einladungen zu Ko-Produktionen oder Festivals im Ausland kein Visum erhalten, solange sie nicht Grundbesitz und Ersparnisse vorweisen, können sie konkrete nationalstaatliche Grenzen nicht überschreiten. „Außerdem beinhalten die Trans-Begriffe möglicherweise eine gleichzeitige Überwindung und Rückbindung an ihren Wortstamm.“13 Somit lösen sich nicht automatisch die problematischen Konstruktionen des Begriffs ‚Kultur‘ auf, da die Bedeutungen des Wortstamms ‚Kultur‘ weiterhin erhalten bleiben und einer kritischen Reflektion bedürfen. Der Begriff ‚transkulturell‘ kann darüber hinaus auch deshalb irreführend sein, da mit dem ‚trans-‘ häufig erstmalige, umwälzende und zeitgenössische Phänomene bezeichnet werden.14 Demgegenüber steht jedoch eine historische Erfahrung der gegenseitigen Verflechtung und Durchdringung, denn Kulturen waren nie in sich homogen und voneinander isolierbar, was bedeutet, dass das Element des ‚Transkulturellen‘ schon immer Bestandteil von ‚Kultur‘ war. Eine bloße Begriffsverschiebung vom ‚interkulturellen‘ zum ‚transkulturellen‘ Theater kann dazu verleiten, erneut die bislang häufig vernachlässigten Komponenten – politische, ökonomische, historische, soziale, strukturelle, materielle sowie institutionelle Aspekte der Kunstproduktion – außer Acht zu lassen, die die künstlerische Zusammenarbeit wesentlich prägen. Genau diese gilt es jedoch m. E. stärker in den Blick zu nehmen. Insofern kann eine bewusst kritische Lektüre des Konzepts ‚interkulturellen Theaters‘ durchaus produktiv gemacht werden. Was kennzeichnet dieses Theater? Patrice Pavis, der theatertheoretische Grundlagenforschung zu Interkulturalität betreibt, definiert die Hybridisierung theatraler Formen als ein entscheidendes Charakteristikum interkulturellen Theaters: „In the strictest sense, this creates hybrid forms drawing upon a more or less conscious and voluntary mixing of performance traditions traceable to distinct cultural areas. The hybridization is very often such that the original forms can no longer be distinguished.“15 Er geht

13 Hühn, 2010, S. 18. 14 Vgl. ebd. S. 18. 15 Pavis, 1996, S. 8.

42 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

davon aus, dass Künstler_innen verschiedenen Kulturen angehören, welche über kulturell determinierte Theatertraditionen verfügen. Erst wenn hybride Formen unterschiedlicher Aufführungspraxen entstehen, die nicht eindeutig verschiedenen Kulturen zuzuordnen sind, kann von interkulturellem Theater gesprochen werden. Eine besondere Qualität erhalten interkulturelle Produktionen, so Pavis, wenn Künstler_innen ihre Körpertechniken mit denen anderer konfrontieren und fusionieren.16 Demgegenüber definiert die Theaterwissenschaftlerin Gabriele Pfeiffer die Darstellung theaterästhetischer Differenz als ein Charakteristikum interkulturellen Theaters. „Wird die Verschiedenartigkeit zum Thema des Theaters selbst, respektive deren unterschiedliche Theatertraditionen, ist das als interkulturelles Theater zu bezeichnen.“17 Bei interkulturellen Produktionen sollten ihrer Ansicht zufolge die differenten Theatertraditionen nicht nur vorgeführt, sondern im Modus des Neuen so verknüpft werden, dass die jeweilige Form ohne Übersetzung und Decodierung universal verständlich sei.18 Der Theater- und Kulturwissenschaftler Rustom Bharucha betont dem gegenüber, dass Theater nicht auf ein Repertoire von Techniken zu reduzieren sei, welches ausgetauscht, vermittelt oder angeeignet werden könne. Dabei sind die Isolierung einzelner Elemente aus ihren jeweiligen gesellschaftsspezifischen Kontexten und die Reduktion ihrer Bedeutungen problematisch.19 Dem Theaterwissenschaftler Christopher Balme zufolge gehört die künstlerische Auseinandersetzung mit dem westlichen Theatermodell in ehemals kolonisierten Gesellschaften auch zum Bereich des interkulturellen Theaters, was bislang kaum untersucht wurde.20 Auf die Erfahrung der Kolonisierung von Kunst und Ästhetik reagierten Kunstschaffende im Theater mit Formen ‚synkretischen Theaters‘.21 Damit bezieht er sich auf eine Idee des südafrikanischen Theoretikers H.I.E. Dhlomo aus den 1930er Jahren, der ästhetischen Synkretismus als Indigenisierung westlichen Theaters definierte.22 Kennzeichen dieses Typus’ ist eine künstlerisch-strategische Verbindung verschiedener Formen: „[...] theatrical syncretism is in most cases a conscious, programmatic strategy to fashion a new

16 Vgl. ebd. S. 9. 17 Pfeiffer, 1994, S. 42. 18 Vgl. ebd. S. 43 f., 46. 19 Vgl. Bharucha, 1993, S. 5, 34. 20 Vgl. Balme, 1999, S. 17. 21 Vgl. ebd. S. 1 f. 22 Vgl. ebd. S. 37 ff.

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form of theatre in the light of colonial or postcolonial experience.“23 Da bei interkulturellen Produktionen die Gefahr besteht, theatralen Exotismus zu betreiben, müssen – darin folgt Balme dem Anspruch Bharuchas – metaphysische sowie kulturelle Kontexte der jeweils verwendeten theatralen Mittel transferiert werden.24 Diese Position wird von den Theaterwissenschaftler_innen Kuan-Wu Lin und Christine Regus jedoch in Frage gestellt. Lin hinterfragt die Besitzansprüche einer Kultur an ‚eigene‘ Stile, Ästhetiken und theatrale Mittel mit dem Argument, dass Bewertungskriterien über die Authentizität unmittelbar mit der Autorität politischer Macht verknüpft sind.25 Regus hinterfragt diesbezüglich, ob die Dekontextualisierung, stetige Zitierung und Transferierung von Zeichen nicht geradezu charakteristisch für den Zeichengebrauch im Theater sei.26 Sie betont, dass interkulturelles Theater heutzutage nicht mehr nur auf ‚fremde‘ Ästhetiken zurückgreift, sondern tendenziell selbstreflexiv ist, mit Mehrfachcodierungen operiert und die Unmöglichkeit des vollkommenen Verstehens aller theatralen Vorgänge bewusst betont.27 Regus plädiert dafür, interkulturelles Theater heuristisch zu verstehen, das eine bewusste Vermischung von theatralen Elementen mit unterschiedlichen kulturellen Bezügen betreibt, aber verschiedene Ästhetiken ausbilden kann. Daher sei interkulturelles Theater nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch auf ästhetischer Ebene politisch, was die Untersuchung der jeweiligen Ästhetik relevant macht.28 „Es haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren allerdings signifikant neue Formen entwickelt: Während es bis in die 1980er üblich war, relativ unbeschwert auf fremde Ästhetiken zurückzugreifen, ist ein solches Vorgehen in den avancierten Produktionen unüblich geworden. Bei diesen handelt es sich in der Regel um stark selbstreflexive und theoretisch informierte Inszenierungen, die […] verdeutlichen, dass interkulturelles Theater immer auch politisches Theater ist. […] Die politische Pointe dieser Inszenierungen liegt in den Mehrfachkodierungen und Verwirrungen, der letztlich unauflösbaren Rätselhaftigkeit, dem ständigen Hin- und Hergeworfensein zwischen Entschlüsseln-Können und völligem Fremdheitsgefühl der Rezipienten. Indem sie eine traditionelle Rezeptionsästhetik ablehnen und so erfahrbar machen, dass das vollkommene Verstehen und der objektive Zugriff

23 Ebd. S. 2. 24 Vgl. ebd. S. 5. 25 Vgl. Lin, 2010, S. 9. 26 Vgl. Regus, 2009, S. 66. 27 Vgl. ebd. S. 11. 28 Vgl. ebd. S. 41.

44 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN auf das Fremde und die Kunst unmöglich sind, schaffen sie die Basis für eine dialogische Annäherung – ein unendlicher Prozess, der jedoch als einzige Möglichkeit der interkulturellen Kommunikation jenseits von Enteignung und Aneignung erscheint.“29

Die Frage nach Universalisierungsbestrebungen in der Kunstpraxis tangiert mit interkulturellem Theater einhergehende subtile Ausbeutungstendenzen auf immaterieller Ebene. Die Theaterethnologin Marianne König betont, dass europäische Avantgardist_innen Elemente fremden Theaters rezipierten und für eigene Reformbedürfnisse nutzten, dabei jedoch die Elemente aus ihrem jeweiligen kulturellen Kontext rissen, in Hinblick auf die eigenen künstlerischen Strategien interpretierten und modifizierten, so dass diese Elemente nicht mehr als fremd wahrgenommen, sondern quasi einverleibt wurden.30 Damit verbunden sei eine romantisch-naive Suche nach Essenz in der Kunst und nach einer universalen Bühnensprache gewesen.31 Im Vordergrund stand bei diesem Typus interkulturellen Theaters die Durchsetzung der eigenen Theaterästhetik. Zugunsten der Suche nach einem theatralen Universalismus betrieben Künstler_innen teils die Ablehnung einer Vertiefung in den jeweiligen kunsthistorischen Kontext verwendeter Zeichen, eine Abwertung oder Erhöhung fremder Formen im Theater, was Balme zufolge als theatraler Exotismus gedeutet werden kann.32 Dem gegenüber behauptet Erika Fischer-Lichte, dass Universalisierungsbestrebungen im Theater unterschiedlich eingeschätzt werden können. Mit dem Argument, dass Bühnenproduktionen nicht mehr ausschließlich mit ‚eigenen‘ Bedeutungen versehen werden, sondern durch die Zirkulation auch der Interpretation durch Andere überlassen werden, kann interkulturelles Theater eine dem Kulturimperialismus gegenläufige Funktion einnehmen. Mit dem Argument allerdings, dass außereuropäische Kulturen auch immateriell geplündert werden und die Frage nach einer selbstbestimmten Identität nicht-westlicher Gesellschaften zugunsten einer westlich dominierten Universalität negiert wird, kann interkulturelles Theater als kulturimperialistisch bewertet werden.33 Rustom Bharucha hinterfragt, mit welchem Recht Konventionen aus anderen Kulturen dekontextualisiert oder Techniken geborgt werden, ohne Rücksicht auf die Verzerrung von deren Bedeutungen zu nehmen.34 Er sieht in der Universali-

29 Ebd. S. 11. 30 Vgl. König, 1992, S. 118. 31 Vgl. ebd. S. 123. 32 Vgl. Regus, 2009, S. 65; Balme, 1999, S. 5. 33 Vgl. Fischer-Lichte, 1990b, S. 280. 34 Vgl. Bharucha, 1996, S. 209.

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sierung der Kunstpraxis auch deshalb eine Gefahr, weil dadurch kulturelle Selbstdefinitionen zunehmend unmöglich werden und deren Widerstandspotential einbüßen. Christine Regus wirft diesbezüglich die Frage auf, ob eine universalistische Herangehensweise an das Theater eine Seite des Ethnozentrismus widerspiegelt, die soziale, politische und ökonomische Ungleichheiten verwischt? Jedoch sei die Frage nach den politischen und kulturellen Funktionen der jeweiligen interkulturellen Theaterproduktion nur im Einzelfall zu beantworten.35 „Letztlich bestimmt der soziale, der politische und der historische Kontext, der faktische Umgang mit den Elementen unterschiedlicher kultureller Herkunft und die Machtverhältnisse der Beteiligten die spezifische Ausformung eines interkulturellen Theaterprojekts […].“36 Entgegen der Universalisierung der Kunstpraxis erproben Künstler_innen und reflektieren Theaterwissenschaftler_innen die Möglichkeit der Artikulation theaterästhetischer Differenz auf der Bühne. Bharucha hält es für grundsätzlich fragwürdig, ob künstlerische Elemente einer Kultur überhaupt übersetzbar 37 sind. Er steht der Idee des Interkulturalismus kritisch gegenüber, weil es ihm als Bestrebung zu einer illusorisch-utopischen Rückkehr zum kulturellen Zusammenhalt der Welt und als die Kehrseite der Globalisierung erscheint, bei der außereuropäische Kulturen immer im ‚othering‘ und ‚orient‘ eingeschlossen 38 bleiben. Damit verbunden ist für ihn außerdem das Dilemma einer neokolonialen Obsession mit Materialien und Techniken der sogenannten ‚Dritten Welt‘. Es betrifft die künstlerische Zusammenarbeit sowie die wissenschaftliche Reflektion über Kunst, sofern im außereuropäischen Kontext den traditionellen Formen weit mehr Aufmerksamkeit als den modernen Aspekten und zeitgenössischen 39 Strömungen zu Teil wird. Insofern deutet Bharucha neben der Universalisierung auch die Ausstellung theaterästhetischer Differenz mit Rekurs auf vermeintliche ‚Theatertraditionen‘ als neokolonialen Gestus. Am Diskurs zum ‚interkulturellen Theater‘ ist auffällig, dass der Gegenstand zwar als hochgradig politisch bewertet wird40, jedoch die (kultur-)politischen, institutionellen, ökonomischen und strukturellen Bedingungen, in denen Künstler_innen Produktionen erarbeiten, nur selten untersucht werden. Einen ent-

35 Vgl. Regus, 2009, S. 89. 36 Ebd. S. 90. 37 Vgl. Bharucha, 1993, S. 32. 38 Vgl. Bharucha, 1996, S. 199, 206. 39 Vgl. ebd. S. 207. 40 Vgl. Fischer-Lichte, 1990b, S. 280; Regus, 2009, S. 11; Bharucha, 1996, S. 206.

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scheidenden Schwachpunkt in der bisherigen Forschung sieht Pavis im Ausblenden sozialer Klassenkonflikte, ökonomischer Bedingungen sowie politischer und historischer Beziehungen.41 Regus betont, dass interkulturelle Arbeitsbeziehungen und Produktionen grundsätzlich von ökonomischen und politischen Konfliktfeldern gerahmt sind.42 Daher sei es notwendig, dass diese Konfliktfelder erforscht werden. Außerdem können aufgrund dessen solche Kunstproduktionen nicht per se als positiv, dem ‚Dialog‘ und der ‚Völkerverständigung‘ dienlich – wie häufig auf kulturpolitischer Ebene behauptet – betrachtet werden.43 Rustom Bharucha vertritt die These, dass sowohl die historische Erfahrung von Kolonialismus und Imperialismus sowie die aktuelle ökonomisch-politische Dominanz des Westens – unabhängig von persönlichen Intentionen und Haltungen einzelner Künstler_innen – die Möglichkeiten eines interkulturellen Austauschs im Bereich der Kunst begrenzen.44 Sofern der Westen in einer ökonomischen Machtstellung verharrt und mittels finanzieller Förderungen den interkulturellen Austausch ermöglicht, initiiert, dominiert und kontrolliert er ihn zugleich.45 Jedoch wird eben diese Machtstruktur, die den Austausch prägt, in der Forschung weitestgehend unberücksichtigt gelassen.46 „And money, which constitutively suggests power, is very powerful in an impoverished country […] The outsiders who give it are the ones who control the ‚cultural exchange‘, and however cosmopolitan or altruistic they may be, they are still figures of authority. They dominate by their very presence […].“ 47

Eine grundlegende Herausforderung bei interkulturellen Produktionen besteht Bharucha zufolge außerdem darin, Arbeitsmethoden zu entwerfen, die einen Austausch ermöglichen.48 Daraus leitet sich für die Untersuchung der Produktionen m.E. implizit der Anspruch ab, die jeweiligen Arbeitsmethoden zu reflektieren und produktionsästhetische Ansätze stärker zu berücksichtigen. Das kann Erkenntnisse über Arbeitsteilungen und Arbeitshierarchien im Produktionspro-

41 Vgl. Pavis, 1996, S. 7. 42 Vgl. Regus, 2009, S. 47. 43 Vgl. ebd. S. 12, 60. 44 Vgl. Bharucha, 1996, S. 196, 205 f.; Bharucha, 1993, S. 2. 45 Vgl. Bharucha, 1993, S. 39. 46 Vgl. Bharucha, 1993, S. 40; Fischer-Lichte, 1990b, S. 280. 47 Bharucha, 1993, S. 37. 48 Vgl. ebd. S. 6.

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zess, aber auch über Kooperationen zwischen Kunstschaffenden und Institutionen liefern. Regus zufolge spielen die Institutionen zentrale Rollen bei der Gestaltung von Austauschbeziehungen im Feld der Künste: „Sie bestimmen die Art und Weise und das Motiv der Sichtbarmachung von Kunst und Künstlern, sie definieren den Raum, in dem sich fremde Kulturen positionieren dürfen und sollen.“49 Damit einher geht die Notwendigkeit der Reflektion struktureller Differenz in der Kunstproduktion. Den Positionen von Pavis, Regus und Bharucha schließe ich mich dahingehend an und plädiere dafür, die benannten Aspekte der Kunstproduktion in die Forschung einzubeziehen, denn das „eigentliche Objekt der Cultural Studies sind […] nicht diskrete kulturelle Formen, die losgelöst von ihrem sozialen und politischen Kontext betrachtet werden. Vielmehr werden, ausgehend von konkreten Fragestellungen, kulturelle Prozesse in ihren verschiedenen Formen in räumlich und zeitlich spezifischen Kontexten analysiert.“50 Damit verbunden ist ein weiterer methodischer Aspekt, der sich aus der artikulierten Kritik Bharuchas und Marrancas an der bisherigen Forschung ergibt. Es betrifft die Tendenz zur Dehistorisierung von Kunstströmungen in außereuropäischen Ländern.51 Die Kunstproduktionen finden eben nicht in einem Vakuum statt, sondern in einem lokalspezifischen Geflecht von kunst- und theaterhistorischen Bedingungen, die für ein fundiertes Verständnis relevant sind. Insofern werde ich historische Dimensionen der Kunstproduktion in Äthiopien – dem Standort, an dem die Produktionen erarbeitet und aufgeführt wurden – berücksichtigen. Darüber hinaus ist die Kritik Bharuchas an der Indifferenz gegenüber spezifischen kulturellen Kontexten und an der Reduktion sowie Simplifizierung der Spezifika der zeitgenössischen Kunstströmungen in außereuropäischen Ländern m.E. berechtigt.52 Von der Position ausgehend leitet sich der Anspruch für diese Arbeit ab, die Dynamiken der zeitgenössischen Kunstszenen Addis Abebas in ihrer Komplexität und internen Widersprüchlichkeit zu behandeln. An den Ausführungen wird offensichtlich, dass das Konzept ‚interkulturelles Theater‘ hochgradig ambivalent ist und nur als ein theoretischer Ausgangspunkt dienen kann, was auf die Notwendigkeit verweist, neue Forschungsansätze zu erproben. Mein Ansatz zeichnet sich dadurch aus, von einer kritischen Lektüre

49 Regus, 2009, S. 76. 50 Winter, 2000, S. 208. 51 Vgl. Bharucha, 1993, S. 4; Marranca, 1991, S. 21. 52 Vgl. Bharucha, 1993, S. 4 f.; Bharucha, 1996, S. 196, 206.

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dieses Konzepts auszugehen und postkoloniale Theorieansätze in die theaterwissenschaftliche Reflektion einzubeziehen. „Thus, the concept of ‚intercultural theatre‘ – a heuristic tool developed mainly in AngloAmerican theatre and cultural studies departments, that is, an element of Western discourse – reveals itself as deeply contradictory. On the one hand, it proclaims equality between the theatrical traditions of all former hierarchies established by colonialism and cultural imperialism. On the other, it hails culture as a fixed, stable, and homogeneous entity. For, in all cases of ‚intercultural theatre‘, there is always also a political angle to its aesthetic […]. Here, the aesthetic, the political, and the ethical are inextricably linked to each other. […] The term ‚intercultural theatre‘, as it was used up to now, ignores this connection, just as performance theoreticians informed by postcolonial theory frequently fail to acknowledge and investigate the utopian and transformative potential of aesthetic experiences. It is long overdue to expressly link both theoretical strands, which so far have been secretly complementing each other.“ 53

Wie an diesem Zitat Fischer-Lichtes u.a. deutlich wird, ermöglicht die Verknüpfung der beiden Ansätze, die politischen Dimensionen der ästhetischen Strategien solcher Theaterproduktionen in den Blick zu nehmen sowie das subversive und transformative Potential ästhetischer Erfahrungen mitzudenken, durch die Realitäten punktuell verändert werden können.

P ERFORMATIVE K ÜNSTE

IN

ÄTHIOPIEN

Wie ich bereits ausführte, sollen die Bedingungen der Kunstproduktion in Äthiopien berücksichtigt werden, um nachzuvollziehen, mit welchen Herausforderungen Kunst- und Kulturschaffende vor Ort umzugehen haben und um den spezifischen Kontext weder zu simplifizieren noch zu dehistorisieren. Allerdings gibt es bisher relativ wenig Forschungsliteratur zu performativen Künsten in Äthiopien. Es bedeutet, dass in Artikeln, Katalogen oder in Überblicksdarstellungen vereinzelt unterschiedliche Teilaspekte besprochen werden, aus denen ich in der Beschäftigung mit der Literatur und dem Material der empirischen Forschung eine eigene Lesart entwickle. Kulturhistorische Abhandlungen, die Einblicke in Entwicklungen der Künste, Kunstinstitutionen und Netzwerke von Intellektuellen und Künstler_innen gewähren, wurden überwiegend von Historiker_innen erarbeitet. Saheed Ade-

53 Fischer-Lichte, 2014, S. 9.

2. F ORSCHUNGSSTAND

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yinka Adejumobi entwarf in „The History of Ethiopia“ einen kulturhistorischen Abriss, der politische, ökonomische und soziale Reformen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert mit Aspekten der Artefaktproduktion verschränkt. Er zeichnet allmähliche Veränderungen in den religiösen Bildungsinstitutionen, Bewegungen in den Zirkeln äthiopischer Intellektueller und Renaissancebewegungen in den darstellenden und bildenden Künsten nach. Für ein Verständnis der kulturhistorisch gewachsenen Ausbildungssysteme der Kunstproduktion, die von der äthiopisch-orthodoxen Kirche unterhalten wurden und u.a. für Bühnenautoren Relevanz hatten, ist Messay Kebedes Forschung relevant. Auch Haggai Erlich geht dezidiert auf die künstlerischen Ausbildungen innerhalb der Klosterschulen ein, die u.a. Tanz, Poesie und Musik umfassten. Die Reformbestrebungen äthiopischer Intellektueller, zu denen etliche Kunstschaffende zählten, untersuchte der äthiopische Historiker Bahru Zewde in „Pioneers of Change in Ethiopia“. Er macht auf die enge Verbindung der äthiopischen Intellektuellen zum politischen Machtzentrum aufmerksam, was u.a. für ein Verständnis der gesellschaftlichen Funktion etablierter Theatermacher_innen wichtig ist. Einblicke in den jeweiligen Zeitgeist und in die Kunstströmungen spezifischer Dekaden sowie in Konzeptionen von Künstler_innen, die u.a. als Bühnenbildner_innen am Theater mitarbeiteten, geben Kataloge zu bildender Kunst. In „Ethiopian Passages: Contemporary Art from the Diaspora“ von Elisabeth Harney kommen äthiopische Künstler_innen und Kunstwissenschaftler_innen verschiedener Generationen zu Wort, die sich zu den Themen Identität, Migration, internationale Kunstproduktion und Interaktion in globalen Netzwerken äußern. Die darin enthaltene Abhandlung von Achamyeleh Debela ist zum Verständnis von Kunstinstitutionen, Strukturbedingungen und Kulturpolitik in Äthiopien hilfreich. Biographische Aspekte äthiopischer Bühnenautoren wie Tsegaye Gebre-Medhin, Tesfaye Gessesse, Mengistu Lemma und Birhanu Zerihun sind in Reidulf Molvaers „Black Lions: The Creative Lives of Modern Ethiopia’s Literary Giants and Pioneers“ nachgezeichnet. Allerdings sind darin weder zeitgeschichtliche Kontextualisierungen noch Analysen ihrer Werke enthalten. Dem gegenüber analysierte die äthiopische Literaturwissenschaftlerin Salamawit Mecca Textproduktionen, dramaturgische Prinzipien und Stilmittel in äthiopischen Hagiographien und betont, dass in diesen Repräsentationsformen Symbolisierung, dichotome Konstruktion und Entpsychologisierung von Figuren relevant sei.54 Dieses Erklärungsmodell ermöglicht ein besseres Verständnis der dramaturgischen Gestaltung im äthiopischen Sprechtheater.

54 Vgl. Mecca, 2006, S. 153-167.

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Explizit zum äthiopischen Theaterbetrieb gibt es zwei umfangreiche Forschungen. Die 1996 veröffentlichte, empirische Studie „African Theatre and Politics: The Evolution of Theatre in Ethiopia, Tanzania and Zimbabwe: A Comparative Study“ von der Theaterwissenschaftlerin Jane Plastow ist eine Grundlagenforschung, die sich mit dem Theater Äthiopiens zwischen den 1930er und 1980er Jahren auseinandersetzt. Ihre Studie basiert auf Aussagen von Interviewpartner_innen, die überwiegend Angestellte des Kulturministeriums oder der Universität waren. In ihrer Arbeit zeichnet Plastow die historisch-politischen Umbrüche Äthiopiens und die sich damit verändernden Artikulationsräume für die Produktion des Sprechtheaters nach. Damit nimmt sie eine Periodisierung anhand des sich politisch verändernden Raums vor; und sie verweist auf Personen, Institutionen, Tendenzen im Theater und auf politische Wechsel, die wesentliche Umbrüche im Kulturbetrieb nach sich zogen. Eine weitere Forschung, die auch aktuellere Entwicklungen des äthiopischen Theaters berücksichtigt, unternahm der äthiopische Theaterwissenschaftler Surafel Wondimu mit seiner Masterarbeit „The Stage and the State: Ethiopian Theatre and Ideology 1945-2005“, die er 2009 am Institute for Ethiopian Studies an der Addis Ababa University (AAU) verfasste. Sein Forschungsansatz ähnelt dem Plastows insofern, als dass er ebenfalls das Sprechtheater im äthiopischen Kulturbetrieb untersucht. Darüber hinaus nimmt Wondimu eine Periodisierung vor, die konsequent an den politischen Machtwechseln des Kaiserreichs Selassie I., der Militärregierung Mengistu Haile Mariams und der EPRDF orientiert ist. Er verortet die Umbrüche des äthiopischen Theaters zwischen 1945 und 2005 in Abhängigkeit der jeweils veränderten politischen Bedingungen der Kunstproduktion. Seine Arbeit ist aufgrund der Forschungsperspektive und des Zugangs zum empirischen Material bemerkenswert, weil Surafel Wondimu mehrere Jahre als Schauspieler in Addis Abeba tätig war, Erkenntnisse durch Beobachtungen sowie eigene Arbeitserfahrungen im dortigen Kulturbetrieb sammelte und Interviews mit namhaften Regisseur_innen, Autor_innen, Schauspieler_innen und Theatermanager_innen durchführte. Plastow und Wondimu behaupten, dass ein interkultureller Austausch für die Etablierung des Theaters in Äthiopien ausschlaggebend war.55 Plastow stellt außerdem die These auf, dass die Ästhetik im Theater wesentlich durch die Maßstäbe der Kirche und des feudalistischen Hofes beeinflusst war.56 Ihrer Ansicht zufolge seien die Theatermodelle den höfischen und kirchlichen Ritualen ent-

55 Vgl. Plastow, 1996, S. 49 ff., 53; Wondimu, 2009, S. 8 f. 56 Vgl. Plastow, 1996, S. 54, 57, 149.

2. F ORSCHUNGSSTAND

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lehnt und mit Aspekten westlichen Theaters kombiniert worden.57 Andererseits behauptet sie aber auch, dass die Ästhetik der Bühnenstücke von denen im Westen praktizierten Formen total abweichen würde und das äthiopische Theater für Ausländer_innen kaum verständlich sei.58 Surafel Wondimu vertritt die These, dass die Ästhetik im äthiopischen Theater stark durch politische Interessen und Regulierungen beeinflusst wurde.59 Außerdem betont er, dass in den drei verschiedenen Regimen äthiopische Künstler_innen von den Regierungen als Agitator_innen handverlesen ausgewählt und mit dem Verfassen von politischen Stücken beauftragt wurden.60 Beide Theaterwissenschaftler_innen zeigen, dass nicht nur das Theater als künstlerische Praxis, sondern auch die Reflektion dieser Kunstform stark durch Zensur und Selbstzensur limitiert wurde.61 Sie kommen zu dem Schluss, dass die Politisierung der Kunst ein wesentliches Strukturmerkmal des äthiopischen Theaterbetriebs ist. Neben diesen beiden Arbeiten zum Theater in Äthiopien geben Tamrat Gebeyehu und Aida Edemariam in Don Rubins „The World Encyclopedia of Contemporary Theatre: Africa“ eine sehr gute Überblicksdarstellung zu den wichtigsten Theaterschaffenden und Bühnenbildnern des Landes und den sich verändernden Theaterstrukturen und -entwicklungen.62 Darüber hinaus geht Robert Kavanagh in Martin Banhams „The Cambridge Guide to World Theatre“, auf die wichtigsten äthiopischen Theatermacher_innen, Bühnenautor_innen und Regisseur_innen bis in die 1980er Jahre ein.63 Des Weiteren erschienen in den letzten Jahren die Artikel „The Ethiopian Theatre Boom: Addis Ababa’s Theatre in the Post-Socialist Era“ und „Ethiopian Theatre at its Glimpse“ von dem äthiopischen Theaterwissenschaftler und Regisseur Aron Yeshitila, in denen er markante Charakteristika des zeitgenössischen äthiopischen Theaters thematisiert. Darin stellt er die These auf, dass sowohl in organisatorischer als auch in ästhetisch-künstlerischer Hinsicht bis heute eine Kontinuität der sozialistischen Kunstpraxis festzustellen ist.64 Der äthiopische Theaterwissenschaftler Abuneh Ashagrie veröffentlichte 1996 den Artikel „Popular Theatre in Ethiopia“, in dem er aufzeigt, dass die so-

57 Vgl. ebd. S. 149. 58 Vgl. ebd. S. 53, 210, 221. 59 Vgl. Wondimu, 2009, 107 f. 60 Vgl. ebd. S. 68, 75, 79, 98, 107. 61 Vgl. Plastow, 1996, S. 101, 146, 151, 161; Wondimu, 2009, S. 56, 59, 67, 70 f. 62 Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 113-129. 63 Vgl. Kavanagh, 1988, S. 325-327. 64 Vgl. Yeshitila, 2010a, S. 32-34.

52 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

zialistische Derg-Regierung sich besonders um die Verbreitung von Theater in Äthiopien bemühte. Jedoch umfasste es auch das politische Interesse von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, ihre Ideen von Entwicklung landesweit mittels Kunst zu verbreiten und somit performative Künste vorrangig didaktisch als Mittel zur Erziehung der Massen einzusetzen.65 In seinem Artikel „The Role of Women on the Ethiopian Stage“ von 2012 behauptet Ashagrie, dass zwar seit ca. einem Jahrhundert das Theater als Kunstform eine wichtige Rolle in Äthiopien spiele, doch die akademische Reflektion über das äthiopische Theater weitestgehend vernachlässigt wurde. Er zeigt außerdem, dass im Besonderen die Position von Künstlerinnen im Theaterbetrieb sehr zwiespältig ist. Ashagrie zufolge setzte die Sichtbarkeit von Frauen am Theater- und Kunstbetrieb erst in den 1970er Jahren durch die Etablierung eines formalisierten Trainingsprogramms am Nationaltheater und durch die Eröffnung des Theater Arts Departments an der Universität ein. Allerdings ist bis heute eine genderspezifische Problematik am Theater festzustellen, was sich u.a. darin äußert, dass nur vereinzelt Frauen als Regisseur_innen tätig sind und deren Zahl seit den 2000er Jahren rückläufig ist.66 Am Forschungsstand ist auffällig, dass relativ wenige Publikationen zu performativen Künsten und keine Forschungen über zeitgenössische Kunstszenen in Äthiopien vorliegen. Diese Forschungslücke beabsichtige ich zu schließen und konzentriere mich dabei auf Akteur_innen, die überwiegend außerhalb des staatlichen Theaterbetriebs performative Künste produzieren, neben dem Sprechtheater mit Tanz und Performance Art experimentieren und temporär mit dem Goethe-Institut kooperieren. Dennoch wirft diese Forschungslage die Frage auf, warum so selten zeitgenössische Kunstproduktionen, Dynamiken sich wandelnder Strukturen im Kunstbetrieb und konzeptionelle Ansätze individueller Künstler_innen in Äthiopien untersucht werden. Es scheint Bharuchas These über die Indifferenz gegenüber zeitgenössischen Kunstproduktionen in außereuropäischen Ländern zu bestätigen. Gleichzeitig ist für mich als Forschende damit das methodische Problem verbunden, eigene Beobachtungen und Interviewaussagen als Informationen zu handhaben, die ich aufgrund der aktuellen Forschungslage nur punktuell mit bereits vorliegenden Ergebnissen triangulieren und verifizieren kann.

65 Vgl. Ashagrie, 1996, S. 32-42. 66 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 1-8.

3. Kultur und Kulturbeziehungen

Als Grundlage für diese Untersuchung sind mehrere Theoreme zentral. Das betrifft den Begriff ‚Kultur‘, der ein Werkzeug für das Verständnis von Interkulturalität und Transkulturalität, auswärtiger Kulturpolitik, internationalen Kulturbeziehungen und Austauschprozessen im Theater ist. In diesem Teil veranschauliche ich den engen und weiten Kulturbegriff für die Außenpolitik und behandele vier Dimensionen von ‚Kultur‘ als begriffliche Grundlage für diese Arbeit. Mit Hilfe der Schlüsselkonzepte Performativität und Hybridität verweise ich auf ein anti-essentialistisches Kulturverständnis, welches dieser Arbeit unterliegt, jedoch im Kontrast zum Kulturverständnis in der Außenpolitik steht. Als weitere theoretische Basis dienen mir die Ausführungen der postkolonialen Theoretiker Édouard Glissant, Stuart Hall und Homi Bhabha zu internationalen Kulturbeziehungen, die mit den Ideen zu Kreolisierung, Globalisierung und Hybridisierung tendenziell eine multilokale, rhizomische, (trans-)kulturelle Vernetzung vertreten, jedoch auch die Hierarchisierung kultureller Elemente, die Repräsentationsmacht und die Determiniertheit von Kulturbeziehungen kritisieren.

B EGRIFF : ‚K ULTUR ‘ Um zu verdeutlichen, wie problematisch der Begriff ‚Kultur‘ ist, führe ich zur Veranschaulichung dessen ein Zitat von der Videokünstlerin und Autorin Hito Steyerl an, die sich mit postkolonialer Theorie in der Kunstpraxis auseinandersetzt: „Kultur ist ein weitläufiger Begriff. In seinem Land sei der Krieg zur Kultur geworden, schreibt ein Filmemacher aus dem Tschad. Kultur sei ein Vehikel von Zivilisation, Demokratisierung und Fortschritt, meinen wiederum andere, vor allem im globalen Norden.

54 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN Was die einen als Möglichkeit der Befreiung empfinden, nehmen die anderen als Gewaltverhältnis wahr. Die einen nennen es Kultur, die anderen Verbrechen. Was mit Kultur gemeint ist, ereignet sich zwischen diesen beiden Polen. Es nützt nichts zu versuchen, den Begriff der Kultur per Dekret auf sein progressives Potential einzuschränken. Will man einen essenzialistischen Kulturbegriff vermeiden, so ist Kultur all das, was mit diesem Begriff vermittelt wird. Gewalt gehört dazu.“1

Dennoch wird der Begriff Kultur häufig selbstverständlich und sehr unterschiedlich gebraucht. Auch in der Forschung zu interkulturellem Theater besteht ein grundlegendes Dilemma darin, dass der Kulturbegriff zu selten reflektiert wird, obwohl er ein zentrales Element ist, worauf interkultureller Austausch basiert.2 So beobachtet u.a. Christine Regus mit Skepsis eine unkritische Rezeption des Kulturbegriffs. Dieser ist ihrer Ansicht zufolge belastet und wird teils „instrumentalisiert, um sozio-politische Zusammenhänge und strukturelle Ungerechtigkeiten zu kulturalisieren“3 und somit zu kaschieren. Die Kulturwissenschaftler_innen Mieke Bal und Armin Klein weisen explizit darauf hin, wie wichtig es ist, diesen Begriff zu definieren in Hinblick darauf, was unter Kultur im jeweiligen Kontext zu verstehen ist, da auf diesen Vorstellungen die jeweilige kulturelle Praxis beruht.4 Im Folgenden diskutiere ich den Kulturbegriff zunächst in Hinblick auf auswärtige Kulturpolitik, um eine begriffliche Grundlage für diese Arbeit zu schaffen. Zum Verständnis von ‚Kultur‘ im Feld der deutschen Außenkulturpolitik ist die Differenzierung zwischen einem engen und einem weiten Kulturbegriff notwendig, wobei der enge Kulturbegriff Kunst, Artefaktproduktion und schöngeistige Objektivation umfasst und der weite Kulturbegriff sowohl Bereiche der Alltags- und Populärkultur integriert als auch Kulturzugänge für jeden verspricht.5 Das Auswärtige Amt der BRD legte 1970 in seinen Leitsätzen für Außenkulturpolitik fest: „Kultur ist heute nicht mehr ein Privileg elitärer Gruppen, sondern ein Angebot an alle. […] das bedeutet eine beträchtliche Ausdehnung und weitere Differenzierung unserer Kulturarbeit im Ausland.“6 Die Privilegierung des erweiterten Kulturbegriffs ist demnach in der kulturpolitischen Praxis sowie in

1

Steyerl, 2010, http://eipcp.net/transversal/0101/steyerl/de, 17.01.2015.

2

Vgl. Marranca, 1991, S. 21.

3

Regus, 2009, S. 34.

4

Vgl. Klein, 2009, S. 31; Bal, 2006, S. 11 ff.

5

Vgl. Klein, 2009, S. 182.

6

Auswärtiges Amt, 1970, http://www.ifa.de/fileadmin/pdf/aa/akbp_leitsaetze1974.pdf, 08.11.2015.

3. K ULTUR

UND

K ULTURBEZIEHUNGEN

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der wissenschaftlichen Reflektion über Außenkulturpolitik zu identifizieren.7 Die Anwendung dieses Kulturbegriffs in der deutschen Kulturpolitik setzte durch gesellschaftliche Veränderungen Ende der 1960er Jahre ein.8 „Ein neuer Kulturbegriff wurde propagiert, in dem es neben dem klassischen Erbe und der sogenannten höheren Kultur auch um Freizeitgestaltung, Städteplanung und Massenmedien ging.“9 Das Goethe-Institut bekennt sich im eigenen Grundsatzpapier zum erweiterten Kulturbegriff: „Seit Beginn der siebziger Jahre liegt der Auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland eine offene Kulturkonzeption zugrunde, für die sich die Bezeichnung ‚erweiterter Kulturbegriff‘ eingebürgert hat. Die Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereichen der Kultur hat an Bedeutung verloren. Kultur umfaßt […] alle Tätigkeiten, die dem einzelnen Menschen erlauben, sich zur Welt, zur Gesellschaft und zum eigenen Erbe in ein Verhältnis zu setzen. Diese pragmatische Konzeption hat sich bewährt.“10

Darüber hinaus lässt sich der Begriff ‚Kultur‘ zunächst in vier verschiedene Bedeutungsdimensionen unterteilen, die u.a. die Kulturwissenschaftler Klein und Hansen bereits vorgenommen haben: Kultur als Kultiviertheit, Kultur als ‚Kulturen‘, Kultur als Abgrenzung zu Natur und Kultur als Kunst.11 Kultur als Kultiviertheit Wenn man den Begriff Kultur als Lebensart versteht, umschließt er mentale Eigenschaften, Geschmack, Stil, ästhetischen Sinn und bewusste Entscheidungen, die neben geistigen Fähigkeiten auch häufig materielle Voraussetzungen benötigen. Diese Dimension des Kulturbegriffs wird im Sinne von ‚Kultiviertheit‘ verwendet.12 Die Begriffsdimension ist problematisch, weil dadurch Kultur als ein normatives Ordnungssystem ausgelegt und Hierarchien legitimiert werden können. Sofern Kultur als ‚kultivierte‘ Lebensart verstanden wird, drängt sich die Frage der Definitionshoheit hinsichtlich dessen auf, wer wem Kultur zu- oder absprechen

7

Vgl. Klein, 2009, S. 112, 178 f.; Bauer, 2009, S. 129, 133; Kathe, 2005, S. 35; Scholz,

8

Vgl. Kathe, 2005, S. 57, 59; Scholz, 2000, S. 15 f.

9

Kathe, 2005, S. 59.

2000, S. 128.

10 Goethe-Institut, 2008, S. 207. 11 Vgl. Klein, 2009, S. 33 ff.; Hansen, 2011, S. 9 ff. 12 Vgl. Klein, 2009, S. 34, Hansen, 2011, S. 10.

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kann. Historisch diente diese Begriffsdimension als Argumentationsstrategie für klassenspezifische Abgrenzungen13, genderspezifische Hierarchien sowie als Rechtfertigungsstrategie europäischer Kolonialist_innen für eine langanhaltende Gewaltherrschaft in außereuropäischen Gebieten. Kultur in diesem Wortverständnis gilt weiterhin als soziale Abgrenzungsstrategie. Damit verbunden ist das Phänomen, dass Personen, je nachdem ob sie als ‚kultiviert‘ oder ‚unkultiviert‘ deklariert werden, soziale, ökonomische und politische Vor- oder Nachteile beziehen können.14 Verknüpfung von Kultur und Gemeinschaft Wenn der Kulturbegriff im Plural als ‚Kultur(en)‘ verwendet wird, bezeichnet er meistens Gesellschaften innerhalb nationalstaatlich definierter territorialer Grenzen oder aber Subkulturen innerhalb einer Gesellschaft. „In diesem Sinne werden ganz allgemein Vorstellungen, Weltbilder, Sitten, Brauchtum, Umgangsformen, Lebensweisen, Manieren, Religion, Produktionsweisen, kurz: der way of life einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Teilgruppe erfasst.“15 Es ist gerade diese scheinbar deskriptive und extrem weitgefasste Dimension des Kulturbegriffs, die problematisch ist, jedoch sehr häufig verwendet wird. Die Idee einer aufgrund der Lebensweise in sich geschlossenen und nach außen zu differenzierenden Gemeinschaft basiert im Wesentlichen auf dem Kugelmodell der Kulturen, welches auf die Theorie Johann Gottfried von Herder im 18. Jahrhundert zurückgeht. In diesem Modell verwob Herder die Konstrukte ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ miteinander.16 Diese ethnische Komponente hat bis heute Auswirkungen, sofern in der Außenpolitik Kultur essentialistisch als geschlossenes Behältnis (‚container‘) aufgefasst und weiterhin mit Ideen von Nation und Territorium verknüpft wird. Der Kulturwissenschaftler Klaus Hansen führt aus, dass diesem Verständnis von Kultur Annahmen unterliegen, die soziale Gewohnhei-

13 Anm.: Bourdieu zufolge erzeugen Spielarten des inkorporierten kulturellen Kapitals (Bsp. Beherrschen der Etikette, Sprache und des Wissens aktueller Diskurse) soziale Distinktion. Diese Form der ‚Kultiviertheit‘ als Distinkstionsmerkmal könne den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg Einzelner befördern. Zugleich kann unabhängig von Leistung des Einzelnen die Nicht-Beherrschung oder die Nicht-Akzeptanz dieser ‚Kultiviertheit‘ auch eine Verharrung im sozialen Status nach sich ziehen. (Vgl. Bourdieu, 2005, S. 53-63) 14 Vgl. Hansen, 2011, S. 259. 15 Klein, 2009, S. 34. 16 Vgl. Lin, 2010, S. 29.

3. K ULTUR

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ten und über-individuelles Gleichverhalten als kulturell definieren.17 Es basiert auf der Vorstellung einer in-sich-homogenen und nach außen geschlossenen Gemeinschaft, die darüber hinaus oft als Nation – im Extremfall auch als ‚Volkskörper‘ – konstruiert wird und die sich von anderen gesellschaftlichen Kollektiven, z.B. durch Lebensweise oder Religion, wesentlich unterscheiden würden.18 Die Theaterwissenschaftlerin Kuan-Wu Lin bezeichnet Kultur daher als ein Mittel zur Machtregulation: „Dem zufolge ist der Kulturbegriff ein Ordnungsbegriff und erhebt einen Machtanspruch auf die Stabilisierung der sozialen Verhaltensregeln sowie auf das Verhältnis zu anderen Kulturen. […] Dieses Verständnis, dass Kultur ein in sich strukturiertes und integriertes, organisches Ganzes sei, konnte sich in der Folgezeit überwiegend durchsetzen.“19

Lin führt weiterhin aus, dass die von Herder hergestellte Verknüpfung von ‚Kultur‘ mit ‚Volk‘ und ‚Nation‘ die Etablierung nationalistischen Gedankenguts in Europa begünstigte, was bis in die 1970er Jahre unterhinterfragt blieb.20 Osterloh und Westerholt zufolge wurde im 19. Jahrhundert in europäischen Ländern häufig von einer Realität auf Basis einer einheitlichen Nationalkultur ausgegangen.21 Insofern deuten sie Kultur als ‚Kultiviertheit‘ in Verbindung mit der Begriffsbedeutung der Kultur als einem homogenen Konstrukt verwoben mit Ideen zu ‚Nation‘ oder ‚Volk‘ als eine diskursive Verschiebung vom Rassebegriff hin zum unbelastet scheinenden Kulturbegriff.22 „Es lässt sich zusammenfassen, dass die alte Auffassung der Kulturellen Identität, die seit der Moderne mit dem Begriff der Nationalkultur verflochten ist und als essentielle sowie unumstößliche Gegebenheit festgeschrieben ist, im postmodernen Diskurs als eine manipulative Konstruktion zur Expansion und Legitimation der Macht und zum Aufbau einer Hierarchie entlarvt wird.“23

17 Vgl. Hansen, 2011, S. 224. 18 Vgl. ebd. S. 227. 19 Lin, 2010, S. 29. 20 Vgl. ebd. S. 29. 21 Vgl. Osterloh/Westerholt, 2011, S. 412. 22 Vgl. ebd. S. 413. 23 Lin, 2010, S. 39.

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Dieses Kulturkonzept ist für die europäische Moderne einflussreich gewesen und dient bis heute der Behauptung ethnischer Differenz und kultureller Abgrenzung.24 Kultur als Gegensatz zu Natur Kultur in Abgrenzung zu Natur zu definieren, bedeutet die Bearbeitung der Natur, Auseinandersetzung mit der Natur und die Überwindung bzw. Abgrenzung von der Natur als besondere menschliche Errungenschaft zu deklarieren.25 Dieser Kulturbegriff geht auf Kulturtheorien aus dem 17. und 18. Jahrhundert zurück, in denen u.a. Jean-Jacques Rousseau die Kultur als Gegenteil von Natur definierte.26 In diesem Sinn wird häufig von einer Entwicklung des Menschen von der Natur hin zur Kultur ausgegangen, wobei Letzteres positiver gegenüber dem Ersteren bewertet wird. So wurde innerhalb der patriarchalen Ordnung Europas über Jahrhunderte die Frau mit Natur und der Mann mit Kultur assoziiert, was als Argumentationsstrategie für politische, rechtliche, ökonomische und soziale Ungleichheiten diente. Lin wies darauf hin, „dass die Konstruktion der beiden Begriffe mit der Entdeckung der neuen Welt einhergeht […].“27 Diese Dimension des Kulturbegriffs bezeichneten Osterloh und Westerholt als gefährlich, weil damit auch der koloniale Auftrag gerechtfertigt wurde, indem Menschen in ‚Kulturwesen‘ oder ‚Naturwesen‘ differenziert wurden.28 Die damit in Verbindung stehende dichotome Konstruktionen von ‚Kulturvölkern‘ und ‚Naturvölkern‘ diente als Teil der Legitimation von Kolonisation, Sklaverei, Unterwerfung, Umsiedlung und Beraubung von Gesellschaften sowie der Rechtfertigung von Kolonialgewalt, welche als Maßnahme der ‚Zivilisierung‘ ausgelegt und verbreitet wurde.29

24 Vgl. ebd. S. 29. 25 Vgl. Klein, 2009, S. 35, Hansen, 2011, S. 12. 26 Vgl. Lin, 2010, S. 27 f. 27 Ebd. S. 28. 28 Vgl. Osterloh/Westerholt, 2011, S. 412. 29 Vgl. ebd. S. 412.

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Kultur als Kunstproduktion Die vierte Begriffsdimension fokussiert im engen Wortverständnis Kultur als Kunstproduktion.30 In diesem Sinne umfasst der Begriff ‚Kultur‘ Artefakte in der Bildenden Kunst, im Film und in der Literatur ebenso wie kreativkünstlerische Produktionen im Theater und der Oper. Dieser enge Kulturbegriff wurde in den 1930er Jahren von Herbert Marcuse aufgrund exklusiver Kunstrezeption in einer separaten Welt einer bürgerlichen Epoche hinterfragt und in seinem Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“ kritisiert: „Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ‚von innen her‘, ohne jede Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann. Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über dem Alltag emporsteigende Würde: ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und Erhebung.“31

Darin ist seine Kritik an einem Kulturverständnis abzulesen, welches Kultur auf die ästhetischen Bereiche des Schönen und Geistigen reduziert und die kulturellen Handlungen von anderen Lebensrealitäten abgrenzt. Im Zuge der späteren Rezeption Marcuses Texte, der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und den Bestrebungen der Demokratisierung von Kunst seit Beginn der klassischen Avantgarden bis zur massenwirksamen Durchsetzung von Pop Art und Happening wurde die Idee des ‚erweiterten‘ Kulturbegriffs für Kulturtheorie, -praxis und -politik zur scheinbaren Lösung des Problems, indem ein Kulturbegriff Anwendung fand, unter den verschiedene Lebensäußerungen subsummiert wurden. Die Erweiterung des Kulturbegriffs erschien zu dem Zeitpunkt notwendig und wies emanzipatorisches Potential auf, da Aspekte von künstlerischen Reformbewegungen wie Performance Art, Actionpainting, Straßentheater oder Hip Hop integrierbar schienen. Intendiert wurde mit dem weiten Kulturbegriff, praktische Kulturarbeit sowohl inhaltlich, formal als auch personell inklusiv zu gestalten. Dennoch wurde in der Entwicklung der Anwendung eines weiten Kulturbegriffs auch deutlich, dass sich eine Dynamik etablierte, in der Kulturarbeit zur Querschnittsaufgabe deklariert und ihre Aufgabenfelder verschoben wurden, aber dennoch in der Praxis eine Hierarchie und subtil beibehaltene Dichotomie zwi-

30 Vgl. Hansen, 2011, S. 136 ff.; Klein, 2009, S. 33. 31 Marcuse, 1994, S. 63.

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schen ‚erhabener‘ Kunstproduktion (Bsp. Oper) und ‚ordinärer‘ Kunstproduktion (Bsp. Graffiti) erhalten blieb. Wie man anhand dieser Ausführungen sehen kann, beinhalten die verschiedenen Begriffsdimensionen und Konzepte von ‚Kultur‘ sehr unterschiedliche Inhalte, haben differente Funktionen und Wirkungsweisen. Wenn ich im Zusammenhang dieser Arbeit von ‚Kultur‘ spreche, beziehe ich mich zunächst bewusst auf den engen Kulturbegriff, der die Idee von Kultur als Kunstproduktion betont. Dem liegen folgende Argumente zugrunde: Kunstproduktionen sind manifestierte Symbolisierungen, die individuell oder kollektiv produziert werden und entweder dauerhaft als materielle Objekte oder als temporär materialisierte Kunstereignisse in Erscheinung treten und ebenso auch einen ephemen Charakter haben können. Dagegen sind Werte, Bräuche, Normen, Lebensweisen, Tradition etc. Phänomene, die je nach individuellen Akteur_innen sehr stark variieren. Damit nehme ich bewusst eine Abgrenzung gegenüber mentalistischen Konzepten von ‚Kultur‘ vor, die in vielseitigen Verflechtungen von Trends, Moden, Imaginationen, Projektionen, dominanten Narrationen, Konstruktionen, Fremdzuschreibungen, Instrumentalisierungen etc. eingebunden und somit äußerst diffus sind. Außerdem beziehe ich mich auf den engen Kulturbegriff, da die Zusammenarbeit zwischen Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts und äthiopischen Künstler_innen im Feld der performativen Kunst stattfindet. Von ihnen werden kollektiv Bühnenstücke künstlerisch erarbeitet und als Aufführungen realisiert. Insofern operiere ich mit ‚Kultur als Kunstproduktion‘ und verenge das Spektrum unzähliger Kunstformen erneut auf die Bereiche Theater, Tanz und Performance Art32 und bezeichne diese als performative Künste. Damit beziehe ich mich auf ein autonomes Kunstfeld, welches dem Kunstsoziologen Howard Saul Becker zufolge eigene Konventionen hat33 und dem Soziologen Pierre Bourdieu zufolge einem spezifischen „System von Themen- und Problembeziehungen“34 entspricht.

32 Anm.: Performance Art ist ein künstlerisches Ausdrucksmedium, das seit den 1960er Jahren produziert wird: „[…] performance denies precise or easy defintion beyond the simple declaration that it is live art by artists. Any stricter definition would immediately negate the possibility of performance itself. For it draws freely on any number of disciplines and media for material […] deploying them in any combination. Indeed, no other artistic form of expression has such a boundless manifesto […].“ (Goldberg, 2001, S. 9) 33 Vgl. Becker, 1984, S. 35. 34 Bourdieu, 1974, S. 76.

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Anti-essentialistisches Kulturverständnis Von dort ausgehend ist es jedoch notwendig, die Konzepte der Performativität und der Hybridität, die in den Kunst- und Kulturwissenschaften zu Schlüsselkonzepten avancierten, einzubeziehen, weil sie ein anti-essentialistisches Kulturverständnis bewirkten, welches ebenfalls dieser Arbeit unterliegt. Es tangiert u.a. politische, subjekt- und raumbezogene Aspekte von Kultur. Nachdem in den Kulturwissenschaften lange Zeit Kultur als ein zu entschlüsselnder Text verstanden wurde, rückten u.a. durch Entwicklungen in den Künsten, im Besonderen durch die Performance Art Bewegung seit den 1960er Jahren, Handlungen und Ereignisse als kulturstiftende Prinzipien sowie der Aufführungs- und Inszenierungscharakter von Kultur in den Fokus. „Kultur erscheint vielmehr als ein bedeutungsoffener, performativer und dadurch auch veränderungsorientierter Prozess, der sich mit einem dezidierten Handlungs- und Inszenierungsvokabular erschließen lässt.“35 Diese Entwicklung geht auf unterschiedliche Theorien in verschiedenen Disziplinen zurück. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der russische Theatermacher Nikolai Evreinov Theater als ein kulturelles Modell definiert (Konzept der Theatralität) und den Inszenierungscharakter von Kultur betont.36 Das ermöglichte, Kultur als etwas Produziertes zu denken und hinsichtlich ihrer Darstellungen, Aufführungen und Ausstellungen zu untersuchen. Der Soziologe Eving Goffmann erhob das Theater als Modell für die soziale Wirklichkeit, wodurch im Umkehrschluss die Realität als eine stets Inszenierte zu fassen war. Zum anderen geht diese Entwicklung auf die in der Linguistik konzipierte Sprechakttheorie von John L. Austin zurück, dem zufolge mittels Sprachhandlungen – z.B. bei Eheschließung oder Vertragsabschluss – Realitäten erst erzeugt werden (Konzept der Performativität). Der Begriff des Performativen erlebte erst wieder in den 1990er Jahren eine Aufwertung in der Kulturtheorie, denn „nun traten die bisher weitgehend übersehenen performativen Züge von Kultur in den Blick […].“37 Im besonderen Maße rückte die Theorie von Judith Butler die Kategorie der Performativität ins Zentrum der Aufmerksamkeit, da ihr zufolge Identitäten durch Handlungen inszeniert und durch Diskurse sozial konstruiert werden. Insofern kann unter dem Paradigma der Performativität Kultur als soziale und diskursive Konstruktion und als etwas Produziertes gefasst werden, was auf Handlungen basiert, welche soziale Wirklichkeit hervorbringen, modifizie-

35 Bachmann-Medick, 2007, S. 107. 36 Vgl. Balme, 2008, S. 72; Fischer-Lichte, 2012a, S. 27. 37 Fischer-Lichte, 2004, S. 36.

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ren, aktualisieren bzw. destabilisieren (Performativität) oder aber inszenieren, repräsentieren und demonstrieren (Theatralität) können. In der Theaterwissenschaft werden unter dem Begriff der Performativität Handlungen subsummiert, die Wirklichkeit erzeugen und auf sich selbst verweisen, gleichzeitig aber vorgegebene Muster, Regeln, Codes oder Modelle unterlaufen.38 Das subversive Potential von Performativität liegt, so Fiebach, u.a. darin, dass ein performativer Vollzug das Präsentische statt das Referenzielle sowie das Unmittelbare und Konkrete betont und somit als ein Vorgang gegen Fixierungen, Normierungen und Schließungen gelesen werden kann.39 Das Performative bezeichnet „bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird.“40 Somit stehen die Ausführung und der Vollzug von Handlungen, die Wirklichkeit konstituieren, im Vordergrund.41 Unter dieser Perspektive können im Erfahrungsraum Theater nicht nur der Blick für inszenierte Realitäten und Inszenierungsstrategien, sondern ebenso der Blick für performativ zu erzeugende Veränderungen von Realität sowie partizipative Handlungsstrategien geschult werden.42 Unter Berücksichtigung des Performativitätskonzepts kann Kultur als ein Dynamisches und sich stetig Transformierendes verstanden und die politische Komponente der Handlungsmacht einzelner Akteur_innen stärker pointiert werden, die permanent in den Gestaltungsprozess von Kultur intervenierend oder stabilisierend eingreifen. Unter dieser Prämisse ist es möglich, die Handlungen aller Akteure_innen sowohl für die Produktion von Kunstereignissen als auch für die Gestaltung von Beziehungen und Politiken als performativ und stetig veränderbar zu denken. Gleichzeitig lösen sich damit die zwei Annahmen auf, dass Identitäten durch spezifische Kulturen fixiert sowie Kulturen nach innen homogen seien. Vielmehr sind soziale Akteur_innen43 es, die sich selbst performativ in Erscheinung bringen und Kultur permanent konstruieren sowie dekonstruieren und durch ihre individuell differenten Haltungen, Praxen, Artikulationen und Weltanschauungen die Heterogenität von Kultur stetig mitbestimmen. Dieses

38 Vgl. Warstat, 2012, S. 71. 39 Vgl. Fiebach, 1996, S. 34. 40 Fischer-Lichte, 2012a, S. 44. 41 Vgl. ebd. S. 41. 42 Vgl. Weiler/Richarz, 2012, 257. 43 Anm.: In der Soziologie wird zwischen individuellen, kollektiven und korporativen Akteuren unterschieden, die jeweils soziale Handlungen – durch unterschiedliche Antriebe – ausführen. (Vgl. Sachweh, 2015, S. 25 f.)

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Verständnis von Kultur, das meiner Forschung unterliegt, entspricht einem antiessentialistischen Kulturansatz. Daran ist ein weiterer Aspekt entscheidend, auf den die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau hinwies, dass nämlich das Performative gleichermaßen Praktiken der Kunst und der Politik kennzeichnet: „Das Performative kennzeichnet mithin die ereignishaften, körpergebunden und wirkmächtigen Praktiken, von denen alle Gesellschaften auf den Ebenen der Politik, Ökonomie und Kunst durchdrungen sind.“44 Ein entscheidender politischer Aspekt von Kultur, auf den dadurch hingewiesen wird, betrifft die Handlungsmacht einzelner Personen. Mit Blick auf die Besonderheit einer Theateraufführung, in der Zuschauer_innen immer zugleich Teil der sozialen Situation sowie Mit-Agierende, Reagierende und Beobachtende sind, leitet Fischer-Lichte daraus Schlüsse ab, die m.E. für den ‚Kulturaustausch‘ Relevanz haben: „Wenn in performativen Prozessen die beteiligten Subjekte sowohl ihren Verlauf mitbestimmen als auch sich von ihm mitbestimmen lassen, ihnen agency sowohl verliehen als auch entzogen wird, erscheinen sie einerseits als aktiv Handelnde und zugleich andererseits als passiv die Wirkungen der Handlungen Anderer Erleidende. […] Handeln und Geschehenlassen, Tun und Nicht-Tun treten hier als zwei Seiten einer Medaille auf.“45

Unter Berücksichtigung des daraus resultierenden subjektbezogenen Aspekts von Kultur, bedeutet es, dass durch die Gestaltungs- und Handlungsmacht aller Akteur_innen binäre Konstruktionen von passiv und aktiv, empfangend und sendend, sprachlos und sich artikulierend tendenziell unhaltbar gemacht werden. Vielmehr ist auch die Handlungsmacht der einzelnen Akteur_innen als ein Kontinuum zu betrachten, in dem punktuell zugelassen sowie selbstbestimmt gestaltet wird. Diesbezüglich stellt die Ablehnung einer (mit-)gestaltenden Funktion ebenso eine mögliche aktive Handlungsform von Akteur_innen dar. Andererseits suggeriert die Annahme aller am Gestaltungsprozess von Kultur beteiligten Akteur_innen, dass diese gleich viel Einfluss hätten, was aufgrund realer politischökonomischer Machtbeziehungen zu bezweifeln bleibt. Es ist unter bestimmten Bedingungen auch möglich, dass Ohnmachts- oder Abhängigkeitserfahrungen von Akteur_innen dazu führen, dass sie ihre eigene Gestaltungsmacht temporär aufgeben bzw. stark begrenzen. Ebenso hat der soziale Status der Akteur_innen Einfluss auf die Gewichtung ihrer Handlungs- und Entscheidungsmacht, die jeweils different ist.

44 Gronau/Lagaay, 2010, S. 11. 45 Fischer-Lichte, 2012a, S. 87.

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Da kulturelle Identitäten performativ erzeugt werden, sind diese temporär, veränderbar, durchlässig, unbeständig, vielschichtig, fragmentarisch, pluralistisch und in sich widersprüchlich. Kulturelle Identitäten sind hochgradig dynamisch, weil Kultur permanenten Transformationsprozessen unterliegt und weil viele Akteur_innen selbst sich durch verschiedene Netzwerke und Räume bewegen. Akteur_innen gehen aufgrund ihrer multidimensionalen Facetten gleichzeitig Allianzen mit mehreren Kollektiven ein, die Kultur performativ mitgestalten. Hansen zufolge bilden sich Identitäten in Abhängigkeit zu Kollektiven, die entweder determiniert oder selbstständig gewählt sind. Eine Zugehörigkeit zu selbstständig gewählten Interessenkollektiven kann sich z.B. durch ähnliche Berufsfelder, Ausbildungen, politische Haltungen, einschneidende Lebenserfahrungen, ästhetische Präferenzen etc. ergeben.46 Das bedeutet u.a., dass Personen differenter Räume und nationalstaatlicher Zugehörigkeiten aufgrund eines gemeinsamen Berufs- und Aktionsfelds im Bereich der Kunst sich temporär als ein Kollektiv verorten und miteinander arbeiten wollen. Durch ihre Interaktionen innerhalb solcher temporären Kunstkollektive wiederum können sich sukzessive zwar ihre Identitäten verändern, jedoch ist diese Veränderung nicht auf ein Sende- und Empfangsschema zu reduzieren, indem Personen als leere Filter konstruiert werden können, die von außen infiltriert werden. Vielmehr verfügen alle am Kunstprozess beteiligten Akteur_innen – unter Berücksichtigung des Performativitätskonzepts – selbst über die Handlungsmacht, zu entscheiden, welche Impulse sie aufnehmen und von welchen sie sich abgrenzen wollen. Der Zusammenschluss von temporären Kollektiven und die Arbeitsteilung sind gerade im Bereich des Theaters offensichtlich, da neben den performativen Künstler_innen, ebenso Personen an Produktionen mitarbeiten, die die Verantwortung für Technik, Öffentlichkeitsarbeit, Dramaturgie, Management etc. übernehmen. Diesbezüglich dekonstruierte Howard Saul Becker Anfang der 1980er Jahre die Idee des autonomen Künstlergenies und betonte, dass in Kunstwelten (‚art worlds‘) das kollektive Handeln unterschiedlicher Akteur_innen permanent realisiert wird. Ein wesentliches Charakteristikum künstlerischer Produktionen ist demnach die Interaktion von Akteur_innen in Interessenkollektiven oder -netzwerken, bei denen Künstler_innen und zu unterstützendes Personal (‚support personell‘) kooperativ zusammenarbeiten: „All artistic work […] involves the joint activity of a number, often a large number, of people. Through their cooperation, the art work we eventually see or hear comes to be and continues to be. The work always shows signs of that cooperation. The forms of

46 Vgl. Hansen, 2011, S. 20, 28.

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cooperation, may be ephemeral, but often become more or less routine, producing patterns of collective activity we can call an art world.“ 47

Die kollektiven Verbindungen, die temporär zur Gestaltung von Kunst eingegangen werden, basieren demnach auf Kooperationen, bei denen jedoch innerhalb des Interessenkollektivs weiterhin ästhetische Differenzen bestehen, unterschiedliche Teilinteressen von Akteur_innen verfolgt und Konflikte ausgetragen werden.48 Da Netzwerke von Kunst- und Kulturschaffenden zunehmend transnational gebildet und unabhängig territorialer Grenzziehungen Kooperationen miteinander eingegangen sowie temporäre Arbeitskollektive gebildet werden, sind solche Zonen oder Zwischenräume der Interaktion als Formen des ‚in-between‘ stärker in den Fokus kulturwissenschaftlicher Reflektion gerückt. Um Auswirkungen von Bewegungen und Netzwerkbildungen von Kunst- und Kulturschaffenden zu erklären und Verschiebungen von den Metropolen hin zu den Peripherien zu unternehmen, diente das Konzept der kulturellen Hybridität als ein Schlüsselkonzept. Der Begriff Hybridität, der sich vom Begriff ‚hybrida‘ (lat.) ableitet, hat eine wechselhafte Bedeutungsgeschichte. Der Politologe Kien Nghi Ha betont, dass dieser in den Kulturwissenschaften der 1990er Jahre zentral gewordene Begriff eine Geschichte bis zur griechischen Antike aufweist. „Die Hybris als Übertretung festgelegter Ordnungen“49 war überwiegend negativ konnotiert und wurde bis zum Mittelalter als Teil einer mythischen Ordnung begriffen. Seit dem Mittelalter wurde der Begriff im Zusammenhang der Herstellung biologischer Ordnungen und als Teil des Rassifizierungsprozesses gebraucht50, doch dann ab den 1980er Jahren zu einem positiv konnotierten „kulturtheoretischen Schlüsselbegriff umgewertet“51. Grundlage dieser Neubewertung war die Romantheorie des Literaturwissenschaftlers Michael Bachtin, in der er die Entwicklung von Sprachen als einen dynamischen Prozess der Vermischung beschreibt und die Kategorie des Hybriden neben den Kategorien des Monologischen und Dialogischen als eine künstlerische Suchbewegung der Mehrstimmigkeit und Vielfältigkeit positiv konnotiert.52 In den Kulturwissenschaften wurde unter maßgeblichem Einfluss der

47 Becker,1984, S. 1. 48 Vgl. ebd. S 24 f. 49 Ha, 2011b, S. 343. 50 Vgl. ebd. S. 344 f. 51 Atzpodien, 2005, S. 47. 52 Vgl. Atzpodien, 2005, S. 47; Lin, 2010, S.64; Moser, 2011, S. 44.

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postkolonialen Theorie Homi Bhabhas das Konzept von Bachtin übernommen und die Hybridisierung als ein entscheidendes kulturstiftendes Prinzip gedeutet. Anliegen dessen ist, dichotome Konstruktionen und binäre Identitätsstrukturen herauszufordern und den Moment der kulturellen Mobilität, Verschiebung und Widerständigkeit in den Fokus zu rücken. „Trotz der kolonialen Aufladung stellt das Konzept der kulturellen Hybridität in den Postcolonial Studies ein wichtiges Theorieelement dar, das sich infolge einer stürmischen und zuweilen auch unkritischen Rezeption als Modewort bis in den Feuilleton und popkulturelle Diskurse hinein verselbständigt hat. Ausgangspunkt dieses Ansatzes sind die Arbeiten von Homi K. Bhabha im Rahmen der Colonial Discourse Analysis. In Bhabhas Arbeiten finden sich zwei Bedeutungsebenen dieses Begriffes wieder: 1. Hybridität als eine Praxis der kulturellen Subversion im kolonialen Diskurs; 2. Hybridität als Bestandteil einer postkolonialen Kulturtheorie.“53

Bhabha weist durch die Hybridität auf komplexe, konfliktgeladene und ambivalente Prozesse des Kulturaustauschs als Folge des Kolonialismus hin und betont die Notwendigkeit des Dissens, des permanenten Verhandelns, Irritierens, Befragens und Aufreißens dominanter Diskurse, um koloniale Diskurse zu dezentrieren. Das könne u.a. durch Handlungen von Kunst- und Kulturschaffenden vorgenommen werden, um Zwischenräume zu schaffen und Veränderungen zu bewirken. „Hybridität ist ein postkoloniales Schlüsselkonzept, das den Kontakt zwischen Kulturen als in einem Zwischenraum angesiedelte, endlose, unlösbare und wechselseitige Durchdringung beschreibt. Dieser Zwischenraum ist ein ‚Ort des permanenten Aushandelns‘, […].“54

Insofern rückte durch Bhabha’s Hybriditätskonzept u.a. Kultur als ein dynamisches Diskurs- und Handlungsfeld stärker in den Blick, welches sich durch permanente Bewegungen auszeichnet, die u.a. von Akteur_innen mitgetragen werden, welche in Grenzlagen interagieren und Zwischenräume performativ hervorbringen. Lin zufolge hat das Auswirkungen auf ein Verständnis von Interkulturalität.

53 Ha, 2011b, S. 345. 54 Moser, 2011, S. 43.

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„Die Erörterungen des Diskurses über den Kulturbegriff bilden die Grundlage des Diskurses über Interkulturalität, so dass auch letzterer neu aufgefasst werden muss: Kulturen werden nicht mehr als ‚stabile Territorien‘ betrachtet, sondern nur als vorläufige und bewegliche Diskursfelder mit offenen Grenzen, um miteinander zu kommunizieren aber auch in Konkurrenz zu treten. Dabei erscheinen die einzelnen Kulturen weniger als kohärente Entitäten im Herder’schen Sinne, sondern vielmehr als dynamische und sich ständig verändernde Prozesse, bei denen kontinuierliches ein Aushandeln sozialer und politischer Veränderungen stattfindet […].“55

Anhand dieser Ausführungen wird ein wesentliches Grunddilemma sichtbar, welches darin besteht, dass unter dem Kulturbegriff sehr unterschiedliche Aspekte gefasst und subsummiert werden. Der Kommunikationswissenschaftlerin Luisa Conti zufolge bestehen die Auffassungen von Kultur als geschlossenes Behältnis oder aber offenes Netzwerk derzeit parallel nebeneinander. Ebenso existieren weiterhin die Vorstellungen von interkulturellen und transkulturellen Beziehungen gleichermaßen.56 Ein geschlossenes und essentialistisches Kulturverständnis (‚container‘), welches Kultur als räumlich eingrenzbar, nationalstaatlich definierbar, sprachlich homogen und regulierbar versteht und die Idee der Interkulturalität, die zwischen Personen entsteht, welche als Vertreter_innen spezifischer Kulturen konstruiert werden, sind besonders im Bereich der Außenkulturpolitik wirkungsmächtig. Dem gegenüber setzen jedoch in der künstlerischen Praxis Akteur_innen die Idee einer transkulturellen, netzwerkartig funktionierenden und kollektiv gestalteten Kultur um. Fazit Anhand der Ausführungen ist ersichtlich, dass ich mich von einem essentialistischen Kulturverständnis distanziere und Kultur als ein dynamisches politisches Handlungsfeld begreife, welches durch performative Handlungen einzelner Akteur_innen mittels ihrer Gestaltungsmacht u.a. durch die Produktion von Kunst prozessual verändert wird. Dadurch kann Kultur gleichfalls als Schnittstelle zwischen Kunst und Politik und als ein Raum interventionistischer Handlungen einzelner Akteur_innen gedacht werden. An der Darlegung des Kulturbegriffs ist auch erkennbar, dass ich die äthiopischen Künstler_innen sowie die Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts als individuelle Akteur_innen begreife, die mitei-

55 Lin, 2010, S. 31. 56 Vgl. Conti, 2010, S. 175, 186.

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nander Austauschbeziehungen real umsetzen und jeweils über Gestaltungsmacht verfügen, um performativ in das Handlungsfeld Kultur einzugreifen. Allerdings sind ihre Interaktionen in gemeinsamen Arbeitsprozessen an Kunstproduktionen auch Teil internationaler Kulturbeziehungen und auswärtiger Kulturpolitik, weshalb es an dieser Stelle notwendig ist, internationale Kulturbeziehungen theoretisch zu fundieren.

I NTERNATIONALE K ULTURBEZIEHUNGEN AUS POSTKOLONIALER P ERSPEKTIVE Postkolonialtheoretische Ansätze erwiesen sich bislang für ein Verständnis von Kultur, Kulturbeziehungen, kultureller Identität und Repräsentationen als sehr ergiebig. „Postkoloniale Theorien […] eint, dass sie in der Regel globale Interdependenzen thematisieren und die Reproduktion dichotom konstruierter Konfliktlinien zu vermeiden suchen.“57 Stuart Hall umschreibt das Postkoloniale wie folgt: „Die Bewegung von der Kolonialzeit zur postkolonialen Zeit beinhaltet nicht, dass die Probleme des Kolonialismus gelöst oder durch eine konfliktfreie Ära ersetzt worden sind. Vielmehr markiert ‚das Postkoloniale‘ den Übergang von einer historischen Machtkonstellation oder -konjunktur zu einer anderen. […] Probleme der Abhängigkeit oder der Unterentwicklung und der Marginalisierung, die für die Hochperiode der Kolonisierung typisch sind, pflanzen sich ins Postkoloniale fort. Diese Beziehungen werden jedoch in einer neuen Konfiguration wiederaufgenommen. […] Seine wesentlichen Merkmale sind strukturelle Ungleichheit innerhalb eines deregulierten Systems von Freihandel und frei fließendem Kapital, das von der Ersten Welt beherrscht wird, und von Programmen struktureller Anpassung bestimmt wird, in denen westliche Interessen und westliche Modelle Vorrang haben.“58

Im Folgenden lege ich dar, auf welche Diskrepanzen postkoloniale Theoretiker_innen hinsichtlich internationaler Kulturbeziehungen hinweisen. Diesbezüglich konzentriere ich mich auf die Theorien von Édouard Glissant, Stuart Hall und Homi Bhabha, da ihre Ausführungen einerseits Kulturbeziehungen zwischen Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens problematisieren, und andererseits Überlegungen zu Repräsentationen, Kunstproduktionen und ästheti-

57 Kerner, 2012, S. 39. 58 Hall, 2004, S. 192.

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schen Strategien beinhalten. Anhand ihrer Ausführungen wird u.a. ersichtlich, dass ein Selbstverständnis im Feld auswärtiger Kulturpolitik problematisch sein kann, wenn mit Redefiguren wie ‚Dialog der Kulturen, Dialog auf Augenhöhe, Zweibahnigkeit‘ operiert wird.59 Diese werden sehr häufig gebraucht: so verwendet das Auswärtige Amt „Kulturdialog auf Augenhöhe“ 60 als Überschrift, um sein Programm Aktion Afrika zu vermitteln. Das Goethe-Institut nutzt in seiner Darstellung der Regionalstrategie zu ‚Subsahara Afrika‘ ebenfalls diese Redefigur: „Das Goethe-Institut ist sich dabei der Rolle als westliches Kulturinstitut im postkolonialen Zeitalter bewusst und führt einen partnerschaftlichen Dialog auf Augenhöhe.“61 Ebenso wird die Redefigur des partnerschaftlichen Dialogansatzes im Bundestag wiederholend bei den Debatten über auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gebraucht.62 Damit wird auf Ebene der Repräsentation deutscher auswärtiger Kulturpolitik ein Dialogansatz wiederholend betont bzw. theatral ausgestellt, der reziproke Austauschverhältnisse zwischen gleichrangigen Partner_innen suggeriert. Konträr dazu betonten postkoloniale Theoretiker_innen jedoch explizit asymmetrische Beziehungsmuster aufgrund historischer Bedingungen des Kulturkontakts und daraus entstandene politische sowie ökonomische Machtverhältnisse. Édouard Glissant: Kreolisierung Hinsichtlich globaler Kulturbeziehungen behauptete Glissant zu Beginn der 1990er Jahre eine zunehmende Kreolisierung der Welt63 und bezeichnet mit dem Begriff ‚Kreolisierung‘ unvorhersehbare Bewegungen von Beziehungsgeflechten, die neue unerwartete kulturelle Mikroklimen erzeugen.64 Seiner Ansicht zu-

59 Anm.: Schneider zufolge wird der Austausch immer wieder als Anspruch formuliert, doch die praktische Kulturarbeit eher auf Präsentation statt auf Kommunikation ausgerichtet, da es bislang an konkreten Umsetzungen eines Austauschprinzips mangele. (Vgl. Schneider, 2008, S. 25 ff.) 60 Vgl. Auswärtiges Amt, 2008, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Re gionaleSchwerpunkte/Afrika/Kultur/aktion-afrika-grundsatz.html, 02.11.2013. 61 Goeth e-Institut, 2014, http://www.goethe.de/ins/za/de/joh/uun/reg/str.html, 13.01.2016. 2016. 62 Vgl. Deutscher Bundestag, 2013, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/ 45041020_kw23_sp_ausland_kultur/, 02.11.2013. 63 Vgl. Glissant, 2005, S. 11. 64 Vgl. ebd. S. 14 f.

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folge verändern sich durch diese Verflechtungen alle in-Beziehung-zueinandergesetzten Gesellschaften grundlegend.65 Damit verweist er darauf, dass es tiefgreifende gegenseitige Beeinflussungen gibt, die fundamentale gesellschaftliche Verschiebungen bewirken und nicht einseitig gedacht werden können. Er beschreibt kulturelle Beziehungen als rhizomisch sowie erratisch und ihre Effekte als unvorhersehbar. Er betont, dass bei Kontakten jeweilige Wertesysteme temporär ins Wanken geraten können.66 Glissant hält das In-Beziehung-zueinandersetzen für relevant67, betont aber explizit, dass eine „Poetik der Beziehung“68 benötigt wird, um alle Teile der Welt daran teilhaben zu lassen.69 Diesbezüglich verweist er auf die Notwendigkeit einer „Kunst der Übersetzung“70. Die Übersetzung – ob sprachliche, künstlerische oder wissenschaftliche Übersetzung bleibt ungeklärt – stellt ebenso Unvorhersehbares her, wie es die weltweiten Kulturbeziehungen und die daraus zunehmende Kreolisierung tun.71 Seine Idee von der „Poetik der Beziehung“72 bestimmt Glissant nicht näher. In den Erklärungen zu Glissants Begriffen erläutert die Übersetzerin Beate Thill anhand seiner Kernaussagen, was sie vollzieht. „Die Weltbeziehung verbindet, überträgt, setzt ins Verhältnis. Sie stellt nicht eine Beziehung zwischen diesem und jenem her, sondern zwischen allen mit allen. Die Poetik der Beziehung vollzieht die Vielfalt.“73 Von dieser Lesart ausgehend erscheint mir, dass Beziehung ein Sich-aufeinander-beziehen bedeutet, ein Sich-in-Beziehung-zueinandersetzen heißt und von unzählig vielen Akteur_innen performativ vollzogen wird. Damit wird gleichermaßen die Akteurs- und Handlungsebene von Beziehungen betont. So wie ich Glissant in der Übersetzung von Thill verstehe, sind diese Beziehungen aber nicht per se als reziprok oder konfliktfrei zu denken, denn er merkt an, dass asymmetrische Beziehungen möglich sind, sofern die miteinander in-Beziehung-gesetzten kulturellen Elemente hierarchisiert werden.74 Meiner Lesart zufolge beschreibt er damit einen Zustand, in dem eine unterschiedlich gewertete Anerkennung differenter kultureller Praxen Asymmetrien erzeugen.

65 Vgl. ebd. S. 11. 66 Vgl. ebd. S. 58 f. 67 Vgl. ebd. S. 47. 68 Ebd. S. 20. 69 Vgl. ebd. S. 62. 70 Ebd. S. 38. 71 Vgl. ebd. S. 36 f. 72 Vgl. ebd. S. 20. 73 Anmerkung von Glissants Übersetzerin Beate Thill, In: Glissant, 2005, S. 75. 74 Vgl. Glissant, 2005, S. 13.

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Das hat zwei Dimensionen: So kann eine differente Bewertung von künstlerischer Praxis beispielsweise konkret von Literatur und Oratur oder von Oper und Schattenspiel kulturelle Elemente hierarchisieren. Indem der Literatur beispielsweise eine höhere Stellung als der Oratur innerhalb der Rangordnung der Künste zugewiesen wird, wird eine Schieflage in der Wertigkeit der Kunstpraxen erzeugt. Diese führt in der Folge zu einer unterschiedlichen Bewertung der Kunstformen und favorisiert einige kulturelle Artikulationen im Verhältnis zu anderen. Glissants Idee der Hierarchisierung kultureller Elemente ist darüber hinaus auch lesbar als die differente Bewertung der ästhetischen Strategien von Künstler_innen einer Gesellschaft in Relation zu ästhetischen Strategien von Künstler_innen einer anderen Gesellschaft. Ein weiterer Grund, warum Kulturbeziehungen nicht per se als konfliktfrei und reziprok gedeutet werden können, liegt in der historischen Verflechtung der Länder des globalen Nordens mit Ländern des globalen Südens. Insofern bleibt für Glissant die Erfahrung der Kolonisation als entscheidende Klammer bestehen und wirkt auf alle Kulturbeziehungen, die einer Nord-Süd-Achse zuzuordnen sind, weiterhin nach.75 Den historischen Umbruch vom Kolonialen zum Postkolonialen, der für die Beziehung von Akteur_innen dieser Länder ausschlaggebend ist, bezeichnet er: „[…] als einen Übergang vom transzendentalen Universum des Gleichartigen, das uns folgenreich vom Okzident auferlegt wurde, zur gestreuten Gesamtheit des Diversen, das nicht weniger folgenreich von den Völkern errungen wurde, die sich inzwischen ihr Recht auf Präsenz in der Welt erkämpft haben.“76

Damit bezeichnet Glissant den Zustand des Kolonialismus als „Universum des Gleichartigen“77 und erinnert dabei auch an ein Drängen auf das „Recht auf Präsenz“78, was im Bereich des Ästhetischen jedwede Rechte auf andere Referenzpunkte, Artikulationsformen, Praktiken und Kategorien einschließt. Gleichermaßen versteht er damit Kultur als einen Raum, der sowohl dominiert als auch immer wieder neu besetzt werden kann. Daraus lassen sich zwei Fragen ableiten: Wie reflektieren Interviewpartner_innen die institutionellen Maßstäbe der Kunstproduktion? Artikulieren

75 Vgl. ebd. S. 71. 76 Glissant, 1986, S. 143. 77 Ebd. S. 143. 78 Ebd. S. 143.

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Akteur_innen in Interviews Herausforderungen in der Zusammenarbeit hinsichtlich des Sich-aufeinander-Beziehens? Stuart Hall: Globalisierung Stuart Hall beschreibt sich verändernde kulturelle Beziehungen unter der zeitlich-räumlichen Verdichtung der Globalisierung. Nationen sind in ein System von Repräsentationen, Symbolen, kulturellen Bedeutungen und Kulturinstitutionen verwoben, um Gemeinschaften zu erzeugen, weshalb bislang die nationale Kultur im besonderen Maße kulturelle Identitäten formte.79 Nationale Kulturen wurden weitestgehend mittels Gründungsmythos, Erfindung von Traditionen und historischen Narrationen diskursiv hergestellt, um interne Differenzen zu homogenisieren.80 Durch den Prozess der spezifischen Globalisierung in der Spätmoderne sind allerdings verändernde Prozesse denkbar, nämlich dass kulturelle Identitäten homogenisiert werden, oder aber durch Widerstandsformen gegen die Globalisierung partikularistische Identitäten gestärkt werden oder anstelle nationaler Identitäten hybride kulturelle Identitäten treten.81 Hall zufolge ist Globalisierung als ein in sich gespaltener und paradoxer Prozess zu denken, in dem tendenziell die Homogenisierung kultureller Aspekte verstärkt wird, doch gleichzeitig Differenzen zunehmend artikuliert werden82, die in Formen von Lokalismus, Partikularismus, Relativierung kultureller Identitäten sowie Artikulation alternativer Modernen denkbar sind.83 Durch die Beschleunigungen und Verdichtungen in der Globalisierung werden kulturelle Identitäten zunehmend von Orten, Zeiten, Historien und Traditionen entbunden und oszillieren zwischen verschiedenen kulturellen Einflusssphären; sie werden Erscheinungsformen komplexer kultureller Verflechtungen, die durchaus paradox sind. Diese einander überlappenden, durchkreuzenden, verflechtenden kulturellen Aspekte sind Abbild hybrider Kulturen der Spätmoderne, in denen Akteur_innen permanent Formen von Übersetzung, kultureller Übertragung und Überbrückung leisten.84 Hall betont explizit, dass die Hybridität als Prozess kultureller Übersetzung schwierig, komplex und immer unabschließbar ist, weil Personen genötigt werden, eigene kulturelle Re-

79 Vgl. Hall, 2004, S. 211. 80 Vgl. Hall, 2008, S. 201, 205 ff. 81 Vgl. ebd. S. 209. 82 Vgl. Hall, 2004, S. 195. 83 Vgl. Hall, 2008, S. 215. 84 Vgl. ebd. S. 218.

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ferenzsysteme zu revidieren und weil dadurch permanent Begrenzungen eigener Bedeutungssysteme enthüllt werden.85 Für Hall kennzeichnet aus historischen Gründen die Globalisierung allerdings ungleiche Machtrelationen, die vom Westen dominiert werden. Die Kulturbeziehungen zwischen ‚westlichen‘ und ‚nicht-westlichen‘ Ländern sind historisch dadurch determiniert, dass westliche Nationen kulturelle Hegemonie über Kulturen der Kolonisierten ausübten.86 Insofern löst die Globalisierung nicht die Formen asymmetrischer Beziehungen zwischen Regionen der Welt auf, sondern diese Ungleichverhältnisse bleiben zunächst weiterhin bestehen.87 Ein wesentliches Merkmal dessen ist Hall zufolge, dass immer noch Vorstellungen, Werte, Artefakte und Stile der westlichen Moderne dominant sind, die von westlichen Kulturindustrien produziert und verbreitet werden.88 Globalisierung ist verbunden mit exponentiellem Wachstum neuer Kulturindustrien.89 Gleichzeitig bleibt zu berücksichtigen, dass Hall zufolge Gesellschaften der Peripherien für westliche Kultureinflüsse offen waren und weiterhin sind, da die Vorstellung von Gesellschaften als abgeschlossene, kulturell traditionell determinierte Räume eine koloniale Illusion über die Peripherie ist90, welche umfangreiche Verflechtungen übergeht. Allerdings sind unvorhersehbare Dynamiken, Verschiebungen, Aneignungsprozesse und widersprüchliche Effekte der Globalisierung zu erwarten, aus denen letztendlich eine Dezentrierung des Westens folgt.91 Hall zufolge kann durch kulturelle Praxen, Symbolisierungen, Repräsentationen und die Privilegierung spezifischer Bedeutungen in Repräsentationen Macht ausgeübt werden: „Es scheint, dass Macht nicht nur im Sinne ökonomischer Ausbeutung oder physischen Zwangs, sondern auch im umfassenderen kulturellen und symbolischen Sinne verstanden werden muss. Letzteres schließt die Macht mit ein, jemanden oder etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu repräsentieren – innerhalb eines bestimmten ‚Repräsentationsregimes‘; also die Ausübung symbolischer Macht durch Praktiken der Repräsentation.“92

85 Vgl. Hall, 2004, S. 208 f. 86 Vgl. Hall, 2008, S. 206. 87 Vgl. ebd. S. 213 f. 88 Vgl. ebd. S. 214 f. 89 Vgl. Hall, 2004, S. 195. 90 Vgl. Hall, 2008, S. 214. 91 Vgl. ebd. S. 222. 92 Ebd. S. 145 f.

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Da aber Repräsentation an sich sehr komplex sind und ihre Bedeutungen changieren bzw. von Akteur_innen dekonstruiert oder transcodiert werden können, sind die enthaltenen Botschaften nicht fixierbar.93 Dadurch können Repräsentationen dazu dienen, symbolische Ordnungen zu stabilisieren oder zu destabilisieren, weshalb sie umkämpft sind.94 Diese Aussage des Umkämpfens von Repräsentationen ermöglicht zwei Lesarten: Bezüglich internationaler Kulturbeziehungen kann es bedeuten, dass Länder, die eine stärkere Wirtschaftskraft als andere Länder aufweisen, gleichzeitig eine größere Macht haben, ihre philosophischen, politischen, sozialen oder ästhetischen Maßstäbe mittels Repräsentationen zu verbreiten. Bezüglich der Repräsentationen kann es bedeuten, dass diese mittels Zirkulation und Gegenstrategien wiederum umgedeutet, verändert, neu besetzt, angeeignet oder abgelehnt werden. Das lässt die Möglichkeit zu, dass Künstler_innen sich selbstbestimmt durch kulturelle Praktiken ermächtigen können, in dem sie ästhetische und thematische Parameter in Repräsentationen festlegen oder aber künstlerische Entscheidungsprozesse aktiv mitgestalten. Hinsichtlich künstlerischer Repräsentationen ist Halls These entscheidend, dass Ideen immer in Abhängigkeit spezifischer materieller Bedingungen entstehen und diese widerspiegeln.95 Dadurch betont er die Interdependenz von Ideen, Konzepten, Artikulationen und den umgebenden ökonomischen Bedingungen96, was Fragen zu spezifischen Arbeits- und Produktionsbedingungen der Akteur_innen aufwirft. Gleichzeitig erinnert Hall daran, dass Ideen nur dann Auswirkungen zeigen können, sofern sie mit spezifischen sozialen Kräften gebündelt werden.97 Das erlaubt, die Entscheidungen von einzelnen Künstler_innen, mit etablierten Institutionen zu kooperieren, als strategische Entscheidung aufzufassen, um spezifische Inhalte sichtbar zu machen. Aus Halls Theorie lassen sich u.a. folgende Fragen an das empirische Material ableiten: Wie reflektieren die Akteur_innen – in diesem Fall die äthiopischen Künstler_innen – ihre eigenen materiellen, ökonomischen und strukturellen Arbeits- und Produktionsbedingungen und wie reflektieren sie die Zusammenarbeit mit etablierten Kulturinstitutionen?

93 Vgl. Hall, 2004, S. 109 f. 94 Vgl. ebd. S. 144, 163. 95 Vgl. ebd. S. 29. 96 Anm.: Joachim Fiebach hatte bereits in den 1970er und -80er Jahren auf eine materialistische Theatergeschichtsschreibung gedrängt. Demzufolge könne besonderes Augenmerk auf die Organisationsform Theater und seine materiell-ökonomischen Faktoren gelenkt werden. (Vgl. Balme, 2008, S. 41) 97 Vgl. Hall, 2004, S. 31.

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Homi Bhabha: Hybridisierung Homi Bhabha beschreibt die Paradoxie von Kultur und betont entgegen essentialistischen Tendenzen eine kulturelle Vielstimmigkeit mit dem Potential der Subversion.98 Seiner Ansicht nach ist eine neue Form des Internationalismus zu beobachten, in dem Ideen von homogenen Gesellschaften und ihren Traditionen sowie nationale Diskurse hinsichtlich Territorialität, Historizität, Kultur sowie Ethnizität zunehmend dekonstruiert werden.99 Dem gegenüber bewirken Artikulationen kultureller Differenz neue Zwischenräume, in denen kulturelle Hybridität performativ gestaltet und binäre Konstruktionen von Identitäten und Hierarchien erschüttert werden.100 Somit ist Kultur ein poröser und eingreifend zu verändernder Raum101, aber auch eine verstörende Praxis – anzusiedeln zwischen Kunst und Politik.102 Derzeit etabliert sich eine neue zeitgenössische Kultur, in der kulturelle Bindungen performativ hervorgebracht werden103, neue entgrenzte Gemeinschaften u.a. mittels künstlerischer Produktionen sichtbar werden104 und mehr Repräsentationen kultureller Hybridität entstehen105. Seine Aussage, dass kulturelle Bindungen immer performativ gestaltet werden106, bedeutet, dass Akteur_innen durch ihre Handlungen kulturelle Beziehungen produzieren, verhandeln sowie verändern können. Dem gegenüber differenziert er aber das Feld der Politik, in dem kulturelle Beherrschung durch Strategien der Vereinnahmung möglich sind.107 Hinsichtlich internationaler Kulturbeziehungen betont Bhabha die Möglichkeit des Dissens aufgrund konfliktiver kultureller Interessen108 und wertet es als politische Vereinnahmung, wenn per se von konfliktfreien und dialogischen Austauschbeziehungen ausgegangen wird.109

98

Vgl. Bhabha, 2000, S. XI-XIII.

99

Vgl. Bhabha, 2000, S. 7.

100 Vgl. ebd. S. 3, 5. 101 Vgl. ebd. S. 256. 102 Vgl. ebd. S. 261. 103 Vgl. ebd. S. 3. 104 Vgl. ebd. S. XI. 105 Vgl. ebd. S. 259. 106 Vgl. ebd. S. 3. 107 Vgl. ebd. S. 49. 108 Vgl. ebd. S. 2. 109 Vgl. ebd. S. 52.

76 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Wie werden Strategien der Repräsentation und Machtaneignung bei den miteinander konkurrierenden Forderungen von Gemeinschaften formuliert, in denen der Austausch von Werten, Bedeutungen und Präferenzen eventuell […] nicht immer auf Zusammenarbeit und Dialog beruht, sondern vielleicht grundlegend antagonistisch, konfliktgeladen oder sogar unvereinbar ist?“110

Bhabha macht somit kenntlich, dass die klassischen Kernbegriffe internationaler Kulturbeziehungen und auswärtiger Kulturpolitik wie ‚Zusammenarbeit‘ und ‚Dialog‘ Phänomene sind, die auf Beidseitigkeit beruhen, Verhandlung bedürfen und nicht vereinnahmt werden können. Dieses Problem wird Bhabha zufolge dadurch verdoppelt, dass Kulturbeziehungen in der Theorie und Politik nur selten über wohlmeinende oder provokative Äußerungen hinaus thematisiert werden.111 Ein weiterer Aspekt, den Bhabha bei Kulturbeziehungen hinterfragt, ist die indirekte Einflussnahme auf mentale Strukturen und die damit einhergehende Veränderung des Bewusstseins der am Austausch beteiligten Personen.112 Aus seiner Sicht fungiert der Westen weiterhin als zentrales Forum jeglicher Kunstproduktion.113 Er exemplifiziert das anhand des internationalen Filmsektors und der im Westen stattfindenden Festivals. Diese Aussage ist m.E. ebenso auf den Festivalbetrieb internationaler Tanz- und Theaterproduktionen sowie auf den Ausstellungsbetrieb übertragbar. „Sämtliche großen Filmfestivals im Westen […] demonstrieren den unverhältnismäßigen Einfluss des Westens als kulturelles Forum, und zwar in allen drei Bedeutungen dieses Wortes: als Ort öffentlicher Vorführung und Diskussion, als Ort der Bewertung und als Vermarktungsort.“114

Bhabha verweist auf das Problem der westlichen Repräsentationshoheit und hinterfragt das unverhältnismäßige Kräfteverhältnis der kulturellen Repräsentationen.115 Gleichzeitig geht er aber davon aus, dass jede kulturelle Autorität durch andere Kulturpraktiken stetig in Frage gestellt werden kann.116 Die kulturelle Hybridität erscheint dabei potentiell als ästhetische Praxis sowie als politische

110 Ebd. S. 2. 111 Vgl. ebd. S. 52. 112 Vgl. ebd. S. 17. 113 Vgl. ebd. S. 32. 114 Ebd, S. 32. 115 Vgl. ebd. S. 255. 116 Vgl. Rutherford, 1990, S. 210.

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Intervention. Wenn Zustände der Liminalität – der Schwellenerfahrungen – bewusst produziert werden, können binäre Konstruktionen in Bezug auf Raum (innen vs. außen), Zeit (linear vs. zirkular), Identitäten (männlich vs. weiblich) etc. bewusstgemacht und Hierarchien dekonstruiert werden.117 Durch die kulturelle Hybridität werden ebenfalls Hinterfragungen der Moderne und der Metropole provoziert.118 Seine Vorstellung einer hybriden Ästhetik umreißt Bhabha wie folgt: „Sie erzeugt ein Verständnis des neuen als eines aufrührerischen Aktes kultureller Übersetzung. Diese Art von Kunst gewärtigt Vergangenheit nicht einfach als gesellschaftliche Ursache oder ästhetischen Vorläufer; sie erneuert die Vergangenheit, indem sie sie neu als angrenzenden ‚Zwischen‘ - Raum darstellt, der die konkrete Realisierung der Gegenwart innoviert und unterbricht.“119

Bhabha verweist damit auf eine Wirkungsmacht von Künstler_innen, sofern diese eine Kunst produzieren, welche die Vergangenheit als Teil jetziger Realitäten thematisiert und diese wieder ins Spiel der politischen Diskussion bringt. Gleichzeitig warnt er mit seinem Bild des Cineasten, der öffentlich äußert: „Wir sind keine Künstler, wir sind politische Aktivisten“120 davor, Kunst explizit als eine politische Kunst zu deklarieren und ihren Wirkungskreis damit zu reduzieren.121 Bhabha erkennt den spezifischen Wert politischer Dimensionen von Kulturproduktionen an, geht jedoch davon aus, dass künstlerische Bedeutungsproduktionen vielfältig zum Feld der Intervention werden können, wodurch sie den Bereich des Politischen erweitern. „Die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Rebellion und Mobilisierung sind gerade dann am subversivsten und transgressivsten, wenn sie durch oppositionelle Kulturpraktiken geschaffen werden.“122 Aus Bhabhas Theorie lassen sich u.a. folgende Fragen an mein Material ableiten: Welche ästhetischen Strategien sind in den Kunstproduktionen zu identifizieren und welche Effekte werden damit im Bereich des Kulturpolitischen potentiell erzeugt?

117 Vgl. Bhabha, 2000, S. 5, 57. 118 Vgl. ebd. S. 9. 119 Ebd. S. 10. 120 Ebd. S. 30. 121 Anm.: Jacque Rancière schrieb der Kunst das Potential zu, Wahrnehmungsmuster grundlegend zu verändern, was implizit Auswirkungen politischer Art hat, ohne explizit ‚politische Kunst‘ zu sein. (Vgl. Rancière, 2008, S. 26 f., 40, 62, 70) 122 Ebd. S. 30.

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Fazit Glissant, Hall und Bhabha betonen die politische Ambivalenz internationaler Kulturbeziehungen. Sie vertreten ein Kulturverständnis, das Beweglichkeit, Artikulation und Intervention sowie die Handlungskompetenzen einzelner Akteur_innen hinsichtlich der eigenen Positionierung gegenüber den bestehenden kulturellen Bedeutungsmustern anerkennen. In diesem Sinne wird Kultur als dynamisches Spiel, andauernder Aushandlungsprozess oder umkämpftes Bedeutungsterrain gefasst, in dem Prozesse, Entwürfe und Taktiken stetig verhandelt bzw. erkämpft werden. Hinsichtlich der internationalen Kulturbeziehungen zwischen Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens betonen Glissant, Hall und Bhabha explizit die charakteristische Asymmetrie dieser Beziehungen und die Relevanz der Anerkennung historischer Herrschaftsverhältnisse basierend auf Kolonialismus. Sie fordern ein Erinnern an europäische Expansionsbestrebungen, das Anerkennen kolonialer Gewaltherrschaft als historische Realität internationaler Kulturbeziehungen und die Einsicht in daraus resultierende Machtstrukturen ein. Trotz dieser asymmetrischen Beziehungen im Feld des Politischen gehen sie davon aus, dass transkulturelle Verflechtungen und Beziehungen von Akteur_innen eingegangen werden und Kultur stetig durch Hybridisierung bzw. Kreolisierung verändert wird. Auf die notwendige ‚Kunst der Übersetzung‘ 123 weisen alle drei Theoretiker_innen hin. Während Glissant den Akt der Übersetzung als einen des Zueinander-in-Beziehung-Setzens versteht, sieht Hall es als einen unabschließbaren Prozess, bei dem fortwährend eigene Referenzpunkte revidiert werden müssen. Für Bhabha sind Übersetzungen möglich, sofern kulturelle Differenz artikuliert und verhandelt, also ‚dritte Räume‘ des Hybriden geschaffen werden.

123 Vgl. Glissant, 2005, S. 38; Hall, 2004, S. 208; Bhabha, 2000, S. 10.

4. Auswärtige Kulturpolitik

Im folgenden Kapitel gehe ich nun der Teilfrage nach, welche kulturpolitischen Faktoren die Zusammenarbeit der Akteur_innen beeinflussen. Dabei ist zunächst festzustellen, dass diese Zusammenarbeit im institutionellen Rahmen des Goethe-Instituts stattfindet, das mit dem Auswärtigen Amt des Bundes Verträge unterhält. Die auswärtige Kulturpolitik der BRD unterliegt den Rahmenbedingungen der internationalen Kulturbeziehungen, die maßgeblich von den Empfehlungen der UNESCO geprägt sind. Insofern gehe ich auf konzeptionelle Verschiebungen bei der UNESCO, auf die außenkulturpolitische Tendenz der BRD in afrikanischen Ländern und auf die Ansprüche an die praktische Kulturarbeit des Goethe-Instituts ein. Meiner Argumentation zufolge bestehen in den kulturpolitischen Rahmenbedingungen auf Ebene der UNESCO und der BRD mehrere Diskrepanzen, die an Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts quasi delegiert werden und mit denen in der praktischen Kulturarbeit umzugehen ist.

K ULTURPOLITISCHE K ONZEPTION

DER

UNESCO

Obwohl in postkolonial informierten kulturwissenschaftlichen Diskursen die Ideen von ‚Kultur‘ als geschlossenes, homogenes System und als Repräsentation einer Nation dekonstruiert wurden und sich die Idee fluktuierender, differenter, dynamischer, sich-gegenseitig-durchdringender und nicht lokal-fixierbarer Handlungsfelder etablierte, wird auf realpolitischer Ebene ‚Kultur‘ weiterhin als ein geschlossenes System (‚container‘) gefasst. Das wiederum hat nachhaltige Auswirkungen auf die Gestaltung internationaler Kulturbeziehungen. Die UNESCO führte 1982 auf internationaler Ebene den erweiterten Kulturbegriff ein1 und definierte Kultur als:

1

Vgl. Bister, 2007, S. 5.

80 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte […], die eine Gesellschaft oder soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Traditionen und Glaubensrichtungen.“2

Die UNESCO bezieht sich damit auf einen mentalistischen Kulturansatz. In dieser Definition werden sehr unterschiedliche Aspekte unter dem weiten Kulturbegriff subsummiert. Das befördert den Umgang mit einem diffusen Kulturkonzept, das so weit gefächert ist, dass die Wirksamkeit und Abgrenzung der praktischen Kulturarbeit zu anderen Aufgabenfeldern nicht mehr gegeben ist. Im Wesentlichen basiert es auf dem Verständnis von in-sich-homogenen, statischen und nach außen hin abgeschlossenen Kultur(en), die ihre jeweiligen Gesellschaften repräsentieren und sich fundamental von anderen unterscheiden würden. Dieses Konzept, das auf Herder’s Kulturverständnis zurückgeht – wie bereits in Kapitel 3 ausgeführt -, hat sich auf kulturpolitischer Ebene bis heute durchgesetzt. Glissant bezeichnete dieses Kulturkonzept als Vermittlung eines einwurzeligen Kulturverständnisses, welches das ‚Andere‘ als zu sublimierendes Material integriere und letztendlich zum Objekt der Projektion mache.3 Hall definierte es als ein Bedeutungsgewebe von Staaten, welches in Repräsentationsmachtverhältnissen verharrt und in Formen des Multikulturalismus erscheint, in dem Vielfalt integriert wird, um kulturelle Differenz scheinbar aufzulösen und um im Interesse des Zentrums diese Vielfalt zu managen, aber auch um die Frage nach Macht- und Ressourcenrelationen unberührt zu lassen.4 Bhabha bezeichnete dieses Kulturverständnis als ein Obsoletes, welches die Aspekte Totalität abgeschlossener Systeme und Repräsentation einzelner Nationen suggeriere, die Frage nach der Repräsentationshoheit unangetastet ließe und eine Rhetorik bzgl. der Trennung von Kulturen aufrechthält.5 Als die UNESCO 1998 auf Basis des Aktionsplans „The Power of Culture“6 bei der zwischenstaatlichen Konferenz ‚Kulturpolitik für Entwicklung‘ konkrete Handlungsempfehlungen herausgab, wurden inhaltliche Verschiebungen vorge-

2

UNESCO, 1998, S. 11.

3

Vgl. Glissant, 2005, S. 19 f, 39 f., S. 80 f., Glissant, 1986, S. 143.

4

Vgl. Hall, 2004, S. 189 f., 211 f.

5

Vgl. Bhabha, 2000, S. 18, 32, 52.

6

Vgl. Deutsche UNESCO Kommission, 1998, http://www.unesco.de/infothek/doku mente/konferenzbeschluesse/power-of-culture.html, 13.07.2014.

4. A USWÄRTIGE K ULTURPOLITIK

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nommen, die an den Schlüsselbegriffen Entwicklung, Partizipation, Identität und Dialog orientiert sind.7 „Der Dialog zwischen den Kulturen ist sicherlich eine der fundamentalen kulturellen und politischen Herausforderungen für die Welt von heute; er ist eine Grundbedingung für das friedliche Zusammenleben der Menschen. […] Kulturelle Kreativität ist die Quelle menschlichen Fortschritts; und kulturelle Vielfalt ist […] ein entscheidender Faktor in jeder Entwicklung.“8

Anhand der zwei Schlüsselkonzepte ‚Entwicklung‘ und ‚Dialog‘ des UNESCOAktionsplans lassen sich Diskrepanzen auf dieser Ebene veranschaulichen. Bei der Idee von ‚Entwicklung‘ wird kulturpolitisch davon ausgegangen, dass Kultur in verschiedene Bereiche der Gesellschaft eingreifen und diese maßgeblich verändern könne. In einem Versuch, dieser Idee zu folgen und sie zu konkretisieren – dabei zeitliche, juristische, strukturelle und politische Besonderheiten differenter Standorte ausblendend -, könnte man sich das folgendermaßen vorstellen: Die kulturelle Dimension könne für den Bereich der Ökonomisierung z.B. durch Etablierung von Kulturwirtschaftssektoren, aber auch durch die Erhöhung der Attraktivität eines Standortes förderlich sein. In politischer Hinsicht könne Kulturarbeit durch die unterschiedlichen Kunstsparten ein breites Publikum erreichen, alternative Sichtweisen proklamieren, konkret für bestimmte Positionen werben, partizipative Methoden erproben oder soziale Experimente organisieren, Hinterfragungen vornehmen, neue Sinneseindrücke vermitteln und dadurch Erfahrung von Relativität vermitteln. Es wird davon ausgegangen, dass dadurch Individuen oder Teilgruppen einer Gesellschaft sensibilisiert werden und genau das eine Veränderung innerhalb ihrer politischen Haltungen bewirke und längerfristig auf die Institutionen Einfluss nehmen könne, in denen diese Personen arbeiten. Kultur könne außerdem durch gezielte Projekte, die sorgfältige Auswahl von Materialien und die vermittelten Inhalte ökologische Belange thematisieren, für die damit verbundenen Probleme sensibilisieren und längerfristig Veränderungen einzelner Haltungen bewirken. Im Sozialen könne Kultur allein durch die Kommunikation der Zielgruppen von Kunstprojekten, aber auch durch Netzwerke, Vereinigungen, Berufsverbände und lose Arbeitsgemeinschaften der Künstler_innen aus unterschiedlichen Sparten eigene Gemeinschaften produzieren. Diese Überlegungen basieren auf der Annahme

7

Vgl. Bister, 2007, S. 5.

8

Deutsche Unesco Kommission, 1998, http://www.unesco.de/infothek/dokumente/konf erenzbeschluesse/power-of-culture.html, 13.07.2014.

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von positiven Effekten durch Multiplikator_innen. Es wird intendiert, dass durch eine kulturelle Einwirkung in die Individuen auch ganze Institutions- und Organisationsstrukturen in fremden Gesellschaften auf Dauer verändert werden könnten und dadurch eine ‚Entwicklung‘ erzeugt werden würde. Die Annahme der direkten ideellen Modifizierung von Strukturen, Institutionen oder Organisationen bleibt einerseits zweifelhaft, da Akteur_innen selbst über Handlungsmacht verfügen, zu entscheiden, welche Impulse sie aufnehmen. Andererseits stellen sich diesbezüglich grundsätzliche Fragen zur Legitimation. Durch die Unterzeichnung des UNESCO-Aktionsplans „Kulturpolitik für Entwicklung“ 1998 wurden die Institutionen dahingehend beeinflusst, Kultur als ein Arbeitsfeld innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit aufzufassen und „[…] im Kultursektor ein Medium für den interkulturellen Dialog (Kunst, Kulturaustauschprogramme, Aufbau und Unterstützung elektronischer Medien, Förderung lokaler Kulturinitiativen, Kulturhäuser) und für den Aufbau eines eigenständigen Wirtschaftssektors (wettbewerbsfähige lokale und nationale Kulturindustrien)“9

zu sehen. Mit so einem Verständnis wird Kunst und Kulturarbeit eng an wirtschaftliche und politische Interessen gekoppelt sowie als instrumentell und steuerbar aufgefasst. Mit dem Begriff ‚Entwicklung‘ wird „nach soziologischem Verständnis der nicht umkehrbare, andauernde, gerichtete und qualitative Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse bezeichnet. […] Seit dem 19. Jh. ist ‚E.‘ (e.g. Entwicklung) verbunden mit der gesellschaftlichen Moderne in Europa und Nordamerika.“10 Der Politikwissenschaftler Patrick Schreiner hatte in seiner Forschung zu Außenkulturpolitk und internationalen Beziehungen folgende These aufgestellt: „Die Wahrscheinlichkeit für ein ausgeprägtes außenkulturpolitisches Engagement steigt, je westlicher und je größer ein Staat ist. Letzteres dürfte vorwiegend auf seine […] wohl größeren materiellen Ressourcen zurückzuführen sein.“11

Da die materiellen Ressourcen der westlichen Staaten bis Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich auf historische Bedingungen der europäischen Expansionsund Kolonialpolitik zurückgehen und – so Schreiner – es überwiegend westliche

9

Schönhuth, 2005, http://www.kulturglossar.de/html/k-begriffe.html, 22.11.2015.

10 Goetze, 2015, S. 55 f. 11 Schreiner, 2011, S. 23 f.

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Staaten sind, die außenkulturpolitische Ambitionen verfolgen12, ist die Verknüpfung von Kultur und Entwicklung besonders problematisch, weil die Idee von Entwicklung an Maßstäben des globalen Nordens orientiert werden und normativ wirken. Das damit verbundene Sendungsbewusstsein weist Parallelen zu der kolonialistischen Narration auf, dass westliche Kolonialbeamt_innen und Missionar_innen den Auftrag erfüllt hätten, kolonialisierte Gesellschaften ‚aufzubauen‘ oder zu ‚entwickeln‘. Außerdem wurde in kolonialistischen Regimen der Mehrheit der Menschen aus dem globalen Süden Kultur abgesprochen, um auf diskursiver Ebene eine Dehumanisierung zu bewirken und gewaltsam eigene Vorstellungen einer scheinbar ‚entwickelteren‘ Kultur durchzusetzen. Die Erziehungswissenschaftlerin Linda Tuhiwai Smith führte in ihrem Buch „Decolonizing Methodologies“ aus, warum mit dem Begriff ‚Entwicklung‘ ein grundlegendes Problem verbunden bleibt: „Implicit in the notion of development is the notion of progress. This assumes that societies move forward in stages of development much as an infant grows into a fully developed adult human being.“ 13

Dem Politikwissenschaftler Daniel Bendix zufolge ist mit der Idee von Entwicklung immer noch ein stufenweiser Prozess gemeint, der einem Fortschritt hin zu besserer Lebensweise intendiert. Jedoch ist diese Entwicklung eben weiterhin von europäischen Maßstäben ausgehend normiert: „‚Entwicklungshilfe‘ und ‚Entwicklungspolitik‘ sind Termini bzw. Politikfelder, die die westliche Welt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführt hat. Ideengeschichtlich ungebrochen liegt ihnen allerdings die ‚aufklärerische‘ Idee eines ‚bestimmten Entwicklungsweges‘ zugrunde, der als Richtmaß für die Verortung von Gesellschaften gilt und an dessen Spitze die Länder des globalen Nordens stehen.“14

Für den Kunstbereich kann eine Verknüpfung von ‚Kultur‘ und ‚Entwicklung‘ in den aktuellen Empfehlungen der UNESCO die Möglichkeit begünstigen, entwicklungspolitische Themensetzungen für die Kunstproduktion zu diktieren und sie somit zu instrumentalisieren. Dadurch kann die Position von Kunst- und Kulturproduzent_innen enorm geschwächt werden, sofern diese beabsichtigen, eine transkulturelle Übersetzungsarbeit zu leisten, selbstständig ihre Themenfelder

12 Vgl. ebd. S. 24. 13 Smith, 1999, S. 30. 14 Bendix, 2011, S. 275.

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der künstlerischen Produktionen festzulegen, ihre Artikulationsinteressen zu bestimmen, eigene Handlungsstrategien, Visionen, Ästhetiken und Alternativmodelle zu entwerfen, um letztendlich in das Diskursfeld Kultur performativ einzuwirken. An der Verknüpfung von ‚Kultur‘ und ‚Entwicklung‘ der UNESCO zeigt sich eine Tendenz, Kunst- und Kulturschaffende zu bevormunden. Außerdem ist damit die Diskrepanz verbunden, verschiedene Maßstäbe für die praktische Kulturarbeit anzuwenden, denn in Europa werden Künstler_innen in der Regel nicht genötigt, entwicklungspolitische Inhalte zu behandeln: warum also sollten afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Künstler_innen ihre ästhetischen und inhaltlichen Auseinandersetzungen mit umgebenden Realitäten dem Diktat der ‚Entwicklung‘ unterstellen wollen? Wenn man Kunstproduktionen auf entwicklungspolitische Vorhaben zu reduzieren versucht und Künstler_innen dadurch inhaltlich eine direkte politische Ausrichtung aufzwingt, wird das Postulat der Unabhängigkeit von Kunst unglaubwürdig. Es kann damit eine ablehnende Haltung des Publikums hervorgerufen werden durch die Annahme, dass Kunst für politisch werbende Zwecke produziert und/oder verwertet wird. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass international und lokal etablierte Kunstschaffende an inhaltlich vorgeschriebenen Arbeiten nicht interessiert sind und diese entweder ablehnen oder als kommerzielle Auftragsarbeit operativ ausführen, was zu reduzierter Qualität in den Kunstproduktionen führen kann. Das Potential der Kunst, als Seismograph gesellschaftlicher Tendenzen und als Regulativ im Feld des Politisch-Sozialen zu fungieren, ginge damit verloren. Neben dem Konzept der ‚Entwicklung‘ wurde auch ‚Dialog‘ zu einem Schlüsselbegriff für die kulturpolitischen Handlungsempfehlungen der UNESCO. Darin wird der prozessuale Charakter von Kultur anerkannt, diese aufgrund von Kommunikations- und Austauschprozessen als veränderbar proklamiert und die Gleichberechtigung der jeweils beteiligten Partner_innen betont. Darin wird allerdings grundsätzlich jeder interkulturelle Austausch als eine Bereicherung verstanden, der in Verbindung mit einer potentiellen kulturellen Durchlässigkeit, positive Veränderungen für beide Gesellschaften bewirke. Indem man bei internationalen Kulturbeziehungen stetig interkulturelle Dialogsituationen zwischen Individuen, Multiplikator_innen, Repräsentant_innen oder Gruppen in Form von Podiumsdiskussionen, dauerhaften Netzwerken oder langfristigen Projekten ermögliche, könne eine Basis intensiver Verhandlungen, konkreter Austauschprozesse und stabiler Beziehungen geschaffen werden, die

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dann die möglichen Resultate solcher Austauschprozesse als einen Ideentransfer auf verschiedene Institutionen oder Organisationen ermöglichen könnten.15 Die Verschränkung von Kultur und Dialogizität – häufig proklamiert als ‚Dialog auf Augenhöhe‘ oder ‚interkultureller Dialog‘ – erscheint zunächst einleuchtend, bleibt jedoch umstritten, da der Dialogansatz auf einer Kontakthypothese beruht, die der Kulturwissenschaftler Christian Wille folgendermaßen einschätzt: „Die Kontakthypothese als umstrittenes Instrument der Austauschforschung besagt, dass die Interaktion zwischen Angehörigen zweier Kulturen zu vermehrten und differenzierten Kenntnissen über die jeweils andere Kultur führt. Dies erhöht die erlebte Ähnlichkeit und intensiviert Gefühle gegenseitiger Sympathie, die wiederum den Abbau bestehender Vorurteile ermöglichen.“ 16

Aufgrund empirischer Untersuchungen konnte Wille zufolge bisher allerdings nicht nachgewiesen werden, ob ein grundsätzlicher Abbau von Stereotypen oder aber die Verstärkung von Vorurteilen stattfindet. Insofern ist die Kontakthypothese bislang nicht belegt.17 Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi hatte 2001 in einer Veröffentlichung des Goethe-Instituts diesbezüglich auf zwei wichtige Punkte verwiesen. Zum einen betont er, dass ein jeglicher Dialogansatz mit Historisierung beginnt und Konflikte internationaler Kulturbeziehungen in ihrem historischen Rahmen anzusprechen seien und zum anderen erachtet er es daher als dringend notwendig, dass Kulturarbeiter_innen sich fundierte Kenntnisse über die jeweiligen Standorte erarbeiten: „Das Wissen über Andere ermöglicht nicht nur die Suche nach Gemeinsamkeiten, sondern auch die Kenntnis der Grenzen, die nicht überschritten werden können.“18 Für ihn beginnt der Dialogansatz mit der ZurKenntnisnahme der Anderen und kann nur über den Einbezug historischer Dimensionen der Beziehungsgestaltung erreicht werden. Auf die Frage hin, wie deutsch-afrikanische Beziehungen der Zukunft gestaltet sein sollten, antwortete der kamerunische Performance- und Installationskünstler Pascale Marthine Tayou ebenfalls in einer Veröffentlichung des GoetheInstituts: „Im Blick auf die Zukunft müssen wir auch – und zwar weder mit Angst noch mit Scham – über unsere gemeinsame Vergangenheit sprechen.

15 Vgl. Bister, 2007, S. 9. 16 Wille, 2003, http://www.christian-wille.de/inhalte/ik/glossar_index.html, 10.10.2011. 17 Vgl. ebd. 18 Tibi, 2001, S. 26.

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Denn uns verbindet eine koloniale Beziehung, die nicht ignoriert werden kann.“19 In dieser Aussage wird erneut deutlich, dass die Möglichkeit eines ernsthaften Dialogs an der Aufarbeitung der Kolonialbeziehungen beginnt. Diese Stimmen stehen exemplarisch für ein Drängen der ‚ Anderen‘ darauf, den Dialog über die Anerkennung gewaltvoll erzwungener Kulturbeziehungen in der Kolonialzeit und daraus resultierenden Konfliktlinien zu führen. Das deckt sich mit der Aussage Bhabhas, dass eine politische Vereinnahmung nur durch die Akzeptanz des Dissenses vermieden werden kann.20 Angesichts der historischen Realität von Kolonialismus ist es daher höchst problematisch, wenn Dialog-, Austausch-, Verhandlungsprozesse und Kooperationen von Akteuren deutscher Außenkulturpolitik per se als harmonisch konstruiert werden. Vielmehr scheint es zunehmend relevant zu werden, Austauschprozesse ergebnisoffen zu konzipieren und auch Momente des Scheiterns, des Konflikts und der prozessualen Aushandlungen anzuerkennen, statt Konfliktives aufzuweichen oder zu verwischen. Bei Erfüllung eines reziproken Dialogverhältnisses würden logischerweise Impulse solcher Austauschbeziehungen auch in Institutionen der Länder des globalen Nordens zurückfließen und als Relativierung eigener Bedeutungssysteme erfahrbar werden. Fraglich bleibt aber, inwieweit dialogisch ausgetauschte Wissensbestände beidseitig aufgenommen werden und Ideen z.B. afrikanischer Künstler_innen, Kulturmanager_innen und Intellektueller auf europäische Kulturinstitutionen und Teilgesellschaften einwirken. Auf die Komplexität solcher Aneignungsprozesse verwiesen bereits die postkolonialen Theoretiker, denn Glissant wies darauf hin, dass bei einem reziproken Austauschverhältnis das eigene Wertesystem destabilisiert werden könne und Hall betonte, dass Aushandlungsprozesse schmerzhaft seien, da eigene Bedeutungssysteme hinterfragt und Referenzpunkte revidiert werden müssten.21 Auch wenn die Schlüsselkonzepte der UNESCO – wie argumentativ dargelegt – in mehrfacher Hinsicht sehr problematisch sind, haben sie reale Auswirkungen auf außenkulturpolitische Strategien der BRD und konkrete Konsequenzen für die Kulturprogrammgestaltungen der Goethe-Institute.

19 Tayou/Bark, 2011, S. 75. 20 Vgl. Bhabha, 2000, S. 2. 21 Vgl. Glissant, 2005, 58 f.; Hall, 2004, S. 208 f.

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AUSWÄRTIGE K ULTURPOLITIK

AUF

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B UNDESEBENE

In der BRD wird seit den 1970er Jahren auswärtige Kulturpolitik als dritte Säule der Außenpolitik proklamiert. In der Idealausführung des Modells sollen die Bereiche internationale Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik und Kulturarbeit gleichwertig umgesetzt werden.22 Die Bundesregierung definiert Ziele und Grundsätze auswärtiger Kulturpolitik, welche vom Auswärtigen Amt formuliert und koordiniert werden, wie folgt: „1. Die Auswärtige Kulturpolitik ist integraler Teil unserer Außenpolitik. Sie ist an den allgemeinen Zielen und Interessen der deutschen Außenpolitik […] ausgerichtet und unterstützt sie. 2. Unsere Kulturarbeit im Ausland ist nicht einfach neutral, sondern orientiert sich an Werten. […] 3. Auswärtige Kulturpolitik vermittelt Kultur aus Deutschland als Teil der europäischen Kultur. Sie kennzeichnet Deutschland als Kulturstaat im Dialog mit der internationalen Gemeinschaft der Staaten. […].“23

Ersichtlich wird an der Zielformulierung 1, dass mittels Kultur außenpolitische Interessen verfolgt werden, was im Sinne Halls These gelesen werden kann, dass Macht nicht nur ökonomisch oder physisch sondern auch kulturell ausgeübt wird.24 An Punkt 2 ist erkennbar, dass der Kulturarbeit spezifische Wertvorstellungen unterliegen, die – so scheint es – fixiert sind. Jedoch besteht Glissant und Hall zufolge nur die Möglichkeit des Zueinander-in-Beziehung-Tretens, sofern Wert- und Referenzsysteme übersetzt, verhandelt und teils auch revidiert werden. 25 Das in Punkt 3 formulierte Ziel verdeutlicht ein Selbstverständnis, bei dem Kultur weiterhin an der Idee von ‚Nation‘ gebunden bleibt, was Hall zufolge eine Struktur kultureller Macht darstellt, um interne Differenzen zu homogenisieren, aber auch um externe Differenzen zu betonen.26 Es ist an der Herderschen Kulturtheorie orientiert, die – wie in Kapitel 3 dargelegt – aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als obsolet gilt, jedoch weiterhin politisch wirkungsmächtig ist. Juristisch obliegt die auswärtige Kulturpolitik dem Staat, ist jedoch organisatorisch durch ein Übertragungsprinzip charakterisiert, in dem die Verantwortung

22 Vgl. Bister, 2007, S. 13. 23 Auswärtiges Amt, 2000: http://www.ifa.de/fileadmin/pdf/aa/akbp_konzeption2000. pdf, 14.11.2015. 24 Vgl. Hall, 2004, S. 145 f. 25 Vgl. Hall, 2004, S. 208; Glissant, 2005, S. 36 f. 26 Vgl. Hall, 2008, S. 204-207.

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für die inhaltliche Gestaltung und die Nutzung finanzieller Mittel auf andere staatliche, halbstaatliche und nicht-staatliche Mittlerorganisationen übertragen werden.27 „Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes. […] Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist integraler Bestandteil der deutschen Außenpolitik.“28 Das Auswärtige Amt ist eine staatliche Organisation der Außenkulturpolitik, die von der Bundesregierung verwaltet, finanziert und organisiert wird. Das Goethe-Institut ist dem gegenüber eine halbstaatliche Mittlerorganisation, die als Verein verwaltet und organisiert ist, durch die Bundesregierung finanziert wird und dem Auswärtigen Amt untersteht.29 Das Delegationsprinzip des Bundes an Mittlerorganisationen dient v.a. dazu, kulturelle Repräsentationen im Ausland nicht als staatlich gelenkte und verordnete Kunstproduktion erscheinen zu lassen30, was wegen der NS-Geschichte Deutschlands von besonderer Bedeutung ist. Um außenpolitische Ziele zu realisieren, werden im Rahmenvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Goethe-Institut verschiedene Vertragsaufgaben und Vorgehensmaßnahmen fixiert.31 Aufträge der Regierung an das Institut umfassen z. B. die Organisation von Kulturveranstaltungen, die Eigenverantwortung für die inhaltliche Gestaltung von Kulturprogrammen und Orientierung der praktischen Kulturarbeit am erweiterten Kulturbegriff.32 Strategisch wird seit 2000 das Interesse verfolgt, statt weiterhin einzelne Kunstereignisse zu gestalten, dauerhafte Netzwerke auszubauen.33 Das korrespondiert mit einer Schwerpunktverlagerung der Außenkulturpolitik auf die Rolle der Konfliktprävention, denn seit 2000 ist das primäre Ziel der Außenkulturpolitik die Förderung der Friedens- und Sicherheitslage, welches um den Punkt der Krisenprävention erweitert wurde.34 Die von den Kulturinstituten aufgebauten Netzwerke sollen somit im Krisenfall für diplomatische Schlichtungen oder für das Werben um eigene Positionen eingesetzt werden. Es stellt sich die Frage, ob und wie tatsächlich europäische Kulturinstitute in welche Richtungen auf politische, ökonomische, soziale, religiöse, historische

27 Vgl. Klein, 2009, S. 83; Kathe, 2005, S. 20. 28 Auswärtiges Amt, 2010: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Schwer punkte/Uebersicht_node.html, 25.07.2011. 29 Vgl. Kathe, 2005, S. 20. 30 Vgl. Klein, 2009, S. 113 f. 31 Vgl. Maier, 2005, S. 14. 32 Vgl. ebd. S. 15. 33 Vgl. ebd. S. 14. 34 Vgl. Bister, 2007, S. 3, 13; Klein, 2009, S. 112.

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und sonstige Konfliktsituationen in außereuropäischen Regionen einwirken könnten. Allein unter Berücksichtigung der historischen Erfahrung kolonialer Expansionspolitik ist die Legitimation dessen zu hinterfragen. Außerdem bleibt fragwürdig, ob das Aufgabe der Kunst und Kulturarbeit innerhalb einer Proklamation des ‚Dialogs auf Augenhöhe‘ sein kann. Faktisch kann Kulturarbeit keine politischen Arbeitsfelder ersetzen, jedoch kann sie Diskurse prägen, da in ihr häufig mit ästhetischen Mitteln gesellschaftliche Belange ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, visualisiert, dekonstruiert oder kritisiert werden können. Um einer strategisch ausgerichteten Sicherheitspolitik und einer effektiven Krisenprävention35 dienlich zu sein, müsste die praktische Kulturarbeit allerdings in ihren Themenfeldern massiv eingeschränkt werden, was jedoch der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit und dem Verständnis von autonomer Kunst widersprechen würde.36 Da das Kulturverfassungsrecht die Freiheit der Kunst auch im Rahmen auswärtiger Kulturarbeit garantiert, bedeutet es, dass Kunst- und Kulturproduktionen nicht für bestimmte Zwecke – auch nicht für konfliktpräventive oder entwicklungspolitische Interessen – instrumentalisiert werden können, sondern die selbstständige thematische Schwerpunktsetzung garantiert bleiben muss. Insofern besteht eine Diskrepanz zwischen der politischen Erwartungshaltung an das Goethe-Institut und der juristisch verankerten Freiheit der Kunst, welche für die praktische Kulturarbeit relevant ist. Der Stellenwert auswärtiger Kulturarbeit in Ländern wie Äthiopien wurde 2011 im Afrika-Konzept des Auswärtigen Amts skizziert. Die Sektorenliste des Afrika-Konzepts, woran die praktische Gestaltung deutsch-afrikanischer Beziehungen ausgerichtet wird, setzt sich zusammen aus: • • • •

Frieden- und Sicherheit Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte Wirtschaft Klima und Umwelt

35 Anm.: Zur Rolle von Kunstschaffenden in Konfliktregionen, Vgl. Gad, 2011, http://cms.ifa.de/fileadmin/pdf/edition/agents_of_change.pdf, S. 7-16; 21.04.2013. 36 Anm.: Innerhalb der EU sind die Freizügigkeit der Kulturschaffenden (Art. 39 ff.) und das Kulturverfassungsrecht (Art 5, Abs. 3) neben anderen juristischen Normierungen fixiert worden. Das zuletzt genannte Recht besagt, dass Kunst, Wissenschaft und Lehre frei sind. Auf dieser Grundlage werden die Autonomie und die Pluralität der Künste gewährleistet und wird den Staaten die Aufgabe zugesprochen, kulturpolitisch neutral zu agieren. (Vgl. Klein, 2009, S. 80 ff.)

90 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN • Energie und Rohstoffe 37 • Entwicklung, Bildung und Forschung.

Auffällig ist, dass von der deutschen Regierung bei der Gestaltung deutschafrikanischer Beziehungen die Wirtschafts-, Ressourcen- und Sicherheitspolitik fokussiert werden, doch Kulturarbeit als eigenständiger Gestaltungsbereich dieser Beziehungen unberücksichtigt bleibt und nur unter ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ und ‚guter Regierungsführung‘ subsummiert wird.38 „Zentrales Element der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in Afrika bildet die Präsenz des Goethe-Instituts.“39 Zu den Programmen für Kultur- und Medienarbeit, die unter dem Bereich ‚gute Regierungsführung‘ gefördert werden, zählen u.a. die Sprachprogramme des Goethe-Instituts und des DAADs, Medienprogramme der Deutschen Welle und Förderungen der Kulturabteilungen deutscher Botschaften.40 Unter der Rubrik ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ wird die Kulturprogrammarbeit des Goethe-Instituts subsummiert. Diese Zuordnung kann als Resultat dessen gewertet werden, dass auswärtige Kulturarbeit als Querschnittsaufgabe konzipiert wird, am erweiterten Kulturbegriff orientiert ist und der Aufgabenbereich tendenziell Verschiebungen vom Kunstfeld hin zum Politikfeld erfährt. Eine Konsequenz aus der Orientierung am erweiterten Kulturbegriff beschreibt der Journalist Jörg Lau wie folgt: „Durch die enorme Erweiterung seines Aufgabenspektrums rückte das Goethe-Institut näher denn je an die offizielle Außenpolitik der Bundesregierung heran.“41 Diesbezüglich stellte Peter Kettner vom Auswärtigen Amt die These auf, dass eine Politisierung der Kulturarbeit zukünftig zunehmen werde.42 Die dargelegten Diskrepanzen verdeutlichen einen Bedarf der Reflektion darüber, ob Kulturarbeit als eigenständiger Bereich angemessener wäre und eher das Potential hätte, eine Zusammenarbeit in konkreten Kunstformaten zu ermöglichen sowie Verhandlungsprozesse bezüglich unterschiedlicher künstlerischer Positionen und ästhetischer Haltungen zu gestatten. Jedoch sind solche Konzeptionen für das Auswärtige Amt verbindlich und bewirken sukzessive eine An-

37 Vgl. Auswärtiges Amt:, 2011: http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/ 581096/publicationFile/155321/110615-Afrika-Konzept-download.pdf, S. 6., 25.07. 2011. 38 Vgl. ebd. S. 16. 39 Ebd. S. 50 f. 40 Vgl. ebd. S. 25. 41 Lau, 2001, S. 42. 42 Vgl. Kettner, 2009, S. 247.

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passung der Kulturprogramme der Goethe-Institute im Ausland an entwicklungspolitische Interessen der deutschen Regierung. Angesichts der juristischen und organisatorischen Rahmensetzungen agiert das Goethe-Institut an der Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Politik. Aufgrund der dargelegten Problematik ergibt sich ein Spannungsfeld für praktische Kulturarbeiter_innen, welches durch den Umgang mit kontrastierenden Ansprüchen gekennzeichnet ist. Der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Nairobi, Johannes Hossfeld, betonte im Interview, dass er das Goethe-Institut primär als ein Kulturinstitut versteht. Durch die Vermengung (entwicklungs-)politischer und kultureller Belange entstehe die Herausforderung, in zwei verschiedenen Bereichen zu operieren. „Im Grunde steht das Goethe-Institut qua der Rolle als nationales Kulturinstitut zwischen zwei Ansprüchen, die sich auch widersprechen können. Einerseits sind wir ein nationales Kulturinstitut, das Zielvereinbarungen mit dem Auswärtigen Amt hat. Das bedeutet, es gibt Ansprüche, die aus dieser Richtung kommen. Andererseits sind wir ein Kulturinstitut, d.h. wir bewegen uns einerseits in einem Netzwerk, das auf das Auswärtige Amt hin gerichtet ist, eine nationale Prägung hat und dem Parlament verantwortlich ist, andererseits stehen wir in einem Feld – mit Bourdieu gesagt – oder in einem Netzwerk – mit Latour gesagt –, das als nächste Knotenpunkte Verlage, Galerien, Tanzinstitutionen, Theater, Museen hat, die internationale Kulturprojekte machen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Felder. Die einen Ziele gehen in Richtung Cultural Diplomacy, die anderen Ziele haben einen starken kulturimmanenten Qualitätsmaßstab. Für das Goethe-Institut ist es prinzipiell eine Herausforderung, diesen Kulturmaßstab zu halten, weil es in eine andere Richtung schaut. Wenn wir z.B. eine Ausstellung machen, bewegen wir uns dann auf dem Niveau der c/o Berlin? Auf diesem Niveau müssen wir uns aber bewegen.“43

In dem Zitat wird m.E. auf mehrere Aspekte des Problems verwiesen. Die diametral entgegengesetzten Ansprüche, die das Goethe-Institut zu erfüllen hat, ergeben sich aus der doppelten Orientierung ihrer Kulturarbeit zur Politik und zur Kunst. Die politischen Vorgaben des Auswärtigen Amts müssen berücksichtigt werden, da Ziele vertraglich festgelegt werden. Das bewirkt eine Konzentration auf das politische Feld, welches grundlegend anders als das Kunstfeld (Bourdieu) und die Kunstwelt (Becker) funktioniert. Die Kunstwelt unterliegt Howard Saul Becker zufolge eigenen Konventionen.44 Sie ist an anderen Inhalten und vor allem an ästhetischen Formaten interessiert.

43 Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 5. 44 Vgl. Becker, 1984, S. 28-34.

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Die Diskrepanz, die an praktische Kulturarbeiter_innen quasi delegiert wird, liegt in der Unvereinbarkeit politischer vs. künstlerischer Interessen und entwicklungspolitischer vs. ästhetischer Maßstäbe an die eigene Arbeit. Das verweist auf das Problem des Umgangs mit verschiedenen Kulturkonzepten: aufgrund parallel existierender Konzeptionen von Kultur als essentialistisches oder fluktuierendes Gefüge, als geschlossenes Behältnis oder offenes Netzwerk, als nationalstaatliche Repräsentation oder performativ hergestellte Praxis entstehen einander widersprechende Ansprüche an die Arbeit der Mittlerorganisationen wie dem Goethe-Institut. Einerseits wird versucht, entwicklungspolitische Ambitionen und außenpolitische Repräsentationsaufgaben zu erfüllen und andererseits das Institut als Akteur eines ausdifferenzierten Kunstfeldes zu etablieren, ästhetische Ansprüche im Kunstbetrieb zu erfüllen und eine internationale Vernetzung mit Künstler_innen voranzutreiben. Den Akteur_innen in der praktischen Kulturarbeit stellt sich somit die Herausforderung, mit konträren Ansprüchen an die eigene Arbeit umzugehen, weil auf kulturpolitischer Ebene der UNESCO und der BRD konzeptuelle Widersprüche in der Rahmensetzung bestehen.

D AS G OETHE -I NSTITUT

ALS

M ITTLERORGANISATION

Mittlerorganisationen, die im Ausland operieren – wie das Goethe-Institut –, orientieren sich an den Konzepten und Leitlinien der auswärtigen Kulturpolitik des Bundes.45 Die Kernaufgaben des Goethe-Instituts, die sich aus dem Vertrag mit der Bundesregierung ergeben, sind wie folgt definiert: „Das weltweit tätige deutsche Kulturinstitut fördert die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland, pflegt die internationale kulturelle Zusammenarbeit und vermittelt ein umfassendes Deutschlandbild. In Zeiten neuer globaler Herausforderungen zielt die Arbeit des Goethe-Instituts auf ein vertieftes Verständnis der Kulturen untereinander und auf die Stärkung des Ansehens Deutschlands in der Welt.“46

Diese Stellungnahme des Goethe-Instituts benennt die Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur, die Gestaltung von Dialogen im internationalen Gefüge, die Repräsentation eines facettenreichen ‚Deutschlandbildes‘ und die

45 Vgl. Bister, 2007, S. 18. 46 Goethe-Institut, 2013a, https://www.goethe.de/de/uun/prs/prm/p13/11966861.html, 13.07.2014.

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Imagepflege als Kernaufgaben.47 Auch das Selbstverständnis des GoetheInstituts, wie es in der Vereinssatzung formuliert wurde, definiert sich über diese Aufgabenfelder.48 Die zwei Aspekte – Repräsentation eines Deutschlandbildes und Stärkung der Reputation Deutschlands im Ausland – verweisen auf eine Konzeption der begrifflichen Kopplung zwischen ‚Kultur‘ und ‚Nation‘, was die Vermutung nahe legt, dass Kulturarbeit letztlich der Repräsentation und Reputation eines Nationalstaates dienen soll. Das haben Hall, Bhabha, Lin, Osterloh und Westerhold – wie in Kapitel 3 ausgeführt – kritisiert. Außerdem wird auch die Idee des ‚Dialogs‘ als grundsätzlich partnerschaftlich konzipiert, was – wie in Kapitel 3 dargelegt – problematisch sein kann. Bhabha zufolge kann diese Betonung der Dialogizität angesichts einer komplex-konfliktiven, postkolonialen Situation politisch vereinnahmend wirken.49 Für die programmatische Umsetzung und konkrete Ausgestaltung der Kulturprogrammarbeit ist das Goethe-Institut aufgrund des Delegationsprinzips selbst verantwortlich. Das ermöglicht dem Institut sowie den individuellen Kulturarbeiter_innen eine bemerkenswerte Gestaltungsfreiheit sowie die Möglichkeit, auf unterschiedliche Gegebenheiten vor Ort reagieren zu können. Daran lässt sich ein Spannungsverhältnis zwischen kulturpolitischer Rahmensetzung und eigener Gestaltungsfreiheit als performative Praxis im Bereich der praktischen Kulturarbeit ermessen. Obwohl das Goethe-Institut insofern operativ unabhängig bleibt, wird die Kulturarbeit indirekt durch die Budgetierung des Bundes gesteuert und reguliert.50 Die strategische Ausrichtung des Goethe-Instituts wird auf fünf Ebenen definiert. Die erste Ebene fokussiert das Leitbild, die zweite Ebene konzeptioniert die strategischen Ziele des Goethe-Instituts in Absprache mit dem Auswärtigen Amt im 2-Jahres-Turnus und daraus werden die Regionalstrategien auf der dritten Ebene abgeleitet. Die Umsetzung dieser drei Stufen wird mittels Jahresgesprächen zwischen dem Vorstand und den Regional- bzw. Abteilungsleiter_innen als auch mit Evaluationen der Projekte auf der operativen Ebene gewährleistet.51

47 Vgl. Bister, 2007, S. 18 f. 48 Vgl. Goethe-Institut, 2009, https://www.goethe.de/resources/files/pdf11/Vereinssatzu ng_Goethe-Institut.pdf, S. 1, 02.04.2015. 49 Vgl. Bhabha, 2000, S. 2, 49, 52. 50 Vgl. Bister, 2007, S. 19; Schulte, 2000, S. 115. 51 Vgl. Goethe-Institut, 2013b, www.goethe.de/uun/pro/jb13/Rechenschaftsbericht20122013.pdf, 02.05.2014; Goethe-Institut, 2015a, https://www.goethe.de/de/uun/org.html, 14.11.2015.

94 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Die Zentralverwaltung in München übernimmt eine übergeordnete Funktion in der Steuerung der einzelnen Institute. Sie beschließt grundsätzlich Leitlinien, entscheidet über tragende Personalstrukturen im Ausland durch die Entsendung von Führungskräften für die Institute und die einzelnen Arbeitsbereiche wie die Sprachabteilung und die Bibliothek und bestimmt die finanziellen Ressourcen.“52

In der Zentrale werden Fachbereiche je nach Kunstsparten (z.B. Fachbereich für Theater und Tanz) voneinander abgegrenzt und die jeweiligen Abteilungsstrategien im 3-Jahres-Turnus konzeptioniert.53 Die inhaltlichen Themensetzungen der Goethe-Institute vor Ort werden je nach Region und Bedingungen in den Standorten konkretisiert und mittels institutsinternen Regionalstrategien festgelegt.54 Für die Ausgestaltung dieser Strategien arbeiten Institutsleiter_innen verschiedener Länder einer Region zusammen. In den letzten Jahren wurden etliche Entscheidungsbefugnisse auf Leiter_innen der Regionalinstitute transferiert.55 Daraus lässt sich der Versuch einer Dezentralisierung ablesen, der den Instituten in Form von schnellen Absprachen und starker Vernetzung regionalspezifischer Kompetenz zu Gute kommt. Aktuell unterteilt das Goethe-Institut seine Arbeit in 13 Regionen56 wie Südosteuropa, Südamerika oder ‚Subsahara Afrika‘ 57. Die Arbeitsteilungen in den einzelnen Goethe-Instituten im Ausland umfassen grundsätzlich drei Kernbereiche: die Spracharbeit, die Informations- und Bibliotheksarbeit und die Kulturprogrammarbeit. Mit der Kulturprogrammarbeit ist die praktische Kulturarbeit als Umsetzung kulturpolitischer Maßnahmen gemeint.58

52 Bister, 2007, S. 20. 53 Vgl. Goethe-Institut, 2008, S. 215; Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 19. 54 Vgl. Bister, 2007, S. 19. 55 Vgl. ebd. S. 20. 56 Vgl. ebd. S. 19. 57 Anm.: Der Begriff ‚Subsahara Afrika‘ geht auf eine Einteilung und geo-politische Logik während der Kolonialzeit zurück. Während Nordafrika als Mittelmeer-Raum und als Europa kulturell zugehörig konstruiert wurde, bildete die Sahelzone eine imaginäre Grenze zu ‚Subsahara Afrika‘. Dies wurde bis ins 19. Jahrhundert als ‚kulturlos‘ und wird bis heute überwiegend als ‚exotisch‘ konstruiert. Insofern bezeichnet der Begriff eher eine koloniale Phantasie als ein Raumgefüge. 58 Vgl. Bauer, 2009, S. 129.

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„In der Arbeit der Mittlerorganisationen werden diese Maßnahmen im Wesentlichen den etablierten künstlerisch-ästhetischen Medien (bzw. Sparten) zugeordnet: Bildende Kunst, Literatur, Musik, Film, Theater und Tanz. Hinzu tritt neben den benachbarten Bereichen Archäologie und Kunstgeschichte vor allem die Architektur. […] Denkmalpflege, (Ge-) Denkstätten von internationalem Rang sowie das Kulturerbe.“59

Daran wird eine Diskrepanz deutlich, die die programmatische Orientierung der Kulturpolitik am erweiterten Kulturbegriff und die operative Praxis der Kulturarbeit betrifft. Als Kulturinstitution, welches in einem Kunstfeld (Bourdieu) bzw. einer Kunstwelt (Becker) operiert, muss das Goethe-Institut zwangsläufig in seiner praktischen Kulturarbeit den Fokus auf separate Kunstsparten, die Produktion von Kunstereignissen und Artefakten, die Sichtbarmachung einzelner künstlerischer Positionen und die Kommunikation mit Künstler_innen legen. Insofern ist die Kulturarbeit des Instituts auf operativer Ebene stärker am engen Kulturbegriff im Sinne der ‚Kultur als Kunst‘ orientiert. Im Gegensatz dazu bleiben die kulturpolitischen Rahmensetzungen der UNESCO und des Bundes jedoch am erweiterten Kulturbegriff orientiert. Da die Regionalinstitute bestrebt sind, möglichst hohe Finanzmittel für ihre Kulturprojekte zur Verfügung gestellt zu bekommen, versuchen sie regional und länderspezifisch die Profile der Auslandsinstitute zu schärfen.60 Diese Profilschärfungen – mit dem Ziel einer kunstspartenspezifischen Schwerpunktsetzung vor Ort – können z.B. in Abhängigkeit von den lokalen Szenen, den Fachkompetenzen eigener Mitarbeiter_innen oder den bereits etablierten Netzwerken entstehen.61 Die Leiter_innen der Auslandsinstitute nehmen Jahresplanungen vor, in denen ersichtlich wird, welche konkreten Projektideen in welchen Kunstsparten mit welchen lokalen Künstler_innen und Institutionen umgesetzt werden sollen. Die thematischen Schwerpunktsetzungen und die Zusammenarbeit mit Künstler_innen vor Ort werden letztendlich direkt mit dem Regionalinstitut abgestimmt, von den Abteilungsleiter_innen kommentiert und von der Zentrale bewilligt oder abgelehnt. An dieser operativen Praxis ist ebenfalls erkennbar, inwiefern sich die Goethe-Institute am engen Kulturbegriff orientieren, da sie ihre Arbeitsfelder nach Kunstsparten organisieren. Das Goethe-Institut Addis Abeba wird intern der Region ‚Subsahara Afrika‘ zugeordnet. Für die Koordination dieser gesamten Region ist das Regionalinsti-

59 Ebd. 60 Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 2. 61 Vgl. ebd. S. 1.

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tut in Johannesburg verantwortlich. Es koordiniert neben dem Goethe-Institut Addis Abeba auch die Kulturarbeit in Nairobi, Daressalam, Luanda, Yaoundé, Lagos, Lomé, Accra, Abidjan und Dakar sowie die Verbindungsbüros in Kigali, Lilongwe, Kano und Ouagadougou. Daneben werden die Kooperationen mit den Kulturgesellschaften in Kampala, Harare, Antananarivo, Maputo, Kapstadt, Windhoek und Bamako gefördert und betreut.62 Seit 2008 verstärkte das GoetheInstitut seine Aktivitäten unter dem vom Auswärtigen Amt initiierten Projekt Aktion Afrika in den afrikanischen Ländern. So wurden zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt, um in dieser Region mehr Projekte zu fördern und neue GoetheInstitute, Verbindungsbüros, Kulturgesellschaften und Sprachlernzentren zu errichten.63 Zusätzlich wurde das Programm Art Moves Africa entwickelt, welches ausgewählten afrikanischen Künstler_innen die Reisekosten für Festivalteilnahmen oder Artist-in-Residence-Programmen ermöglichen und den panafrikanischen Austausch fördern soll.64 Regionalspezifische Besonderheiten werden vom Goethe-Institut wie folgt definiert: „Die Goethe-Institute in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara fördern besonders die künstlerische Auseinandersetzung mit Begriffen wie Hybridität, postkoloniale Erfahrung, Authentizität, sexuelle Identität und Migration, und regen die gesellschaftliche Diskussion darüber durch künstlerische Produktion nachhaltig an. […] Auch der regionale Austausch wird durch die Kulturarbeit des Goethe-Instituts gefördert, indem es etwa die Teilnahme von afrikanischen Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern an herausragenden Kulturereignissen in Afrika ermöglicht. Damit soll nicht nur die gegenseitige Kenntnis der Kunstproduktion und des wissenschaftlichen Diskurses auf dem afrikanischen Kontinent verstärkt werden, sondern auch die Entwicklung panafrikanischer Projekte. Dies soll langfristig dazu beitragen, eine afrikanische Öffentlichkeit zu schaffen. Die Goethe-Institute in Afrika bilden Plattformen für den freien Austausch internationaler wissenschaftlicher Positionen und gesellschaftlicher Diskussionen. Ihre genaue Kenntnis der aktuellen Diskurse und die Vernetzung mit den Intellektuellen des Gastlandes sind dafür die Basis.“65

62 Vgl. Goethe-Institut, 2008, http://www.goethe.de/prs/pro/afrika-initiative/pressemap pe.pdf, 21.09.2011. 63 Vgl. Auswärtiges Amt, 2008, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Reg ionaleSchwerpunkte/Afrika/Kultur/aktion-afrika-grundsatz.html, 02.11.2013. 64 Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 6. 65 Goethe-Institut, 2008, http://www.goethe.de/prs/pro/afrika-initiative/pressemappe.pdf, S. 3. 21.09.2011.

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Wie an dem Zitat ersichtlich ist und auch von Johannes Hossfeld im Interview ausgeführt wird, betont die Regionalstrategie für ‚Subsahara Afrika‘ explizit die Vernetzung mit und Unterstützung von Kunst- und Kulturschaffenden vor Ort.66 Das beinhaltet die finanzielle und logistische Förderung von Produktionen performativer Künstler_innen und von Strukturen der Kunstszenen vor Ort. An dem Zitat ist auch ersichtlich, dass die Förderung künstlerischer Auseinandersetzungen mit Hybridität und Postkolonialität ein Anspruch an die eigene Arbeit in der Region ist, was ein Interesse des Goethe-Instituts an diesen Ansätzen verdeutlicht. Allerdings steht im Widerspruch zu einer beabsichtigten Auseinandersetzung mit Hybridität und Postkolonialität die gleichfalls erklärte Zielsetzung „ästhetische und diskursive Beiträge zum Modernisierungs- und Entwicklungsprozess in der Region zu leisten“.67 Die Zielausrichtung der Regionalstrategie liegt auf panafrikanischer Vernetzung der Akteur_innen, Unterstützung lokaler Kunstszenen sowie ‚Entwicklung‘ des Kontinents. Dabei ist im Blick zu behalten, dass die jeweiligen Programme Aktion Afrika und Art Moves Africa sowie die jährliche Zusatzbudgetierung von 5 Mio. Euro68 in Verbindung mit der Zielsetzung des Afrika-Konzepts auf eine geopolitische Interessensverschiebung der deutschen Regierung verweisen können, die den afrikanischen Kontinent seit 2008 stärker als zuvor fokussiert. Die praktische Kulturprogrammarbeit des Goethe-Instituts Nach Bewilligung eines spezifischen Kunstprojekts treffen die Institutsleiter_innen letztendlich die Entscheidungen, mit welchen Akteur_innen Kooperationen gestaltet werden, welche Formate und Repräsentationsformen für den jeweiligen Kontext angemessen erscheinen und auch wie die Öffentlichkeitsarbeit gestaltet wird. Sie sind in der Regel verantwortlich für alle länderspezifischen Entscheidungen, z.B. dafür, welche lokalen Künstler_innen an den Projekten, Festivals, Workshops oder Seminaren teilnehmen bzw. aufgrund ihres Potentials als Multiplikator_innen Reisestipendien erhalten.69 In der Kulturprogrammarbeit der Auslandsinstitute werden Projekte der Sparten Film, Fernsehen, Fotografie, neue Medien, Design, Architektur, Mode, Tanz, Theater, Performance, Musik, Literatur und Bildende Kunst realisiert.

66 Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 6. 67 Goethe-Institut, 2008, http://www.goethe.de/prs/pro/afrika-initiative/pressemappe.pdf, S. 2., 21.09.2011. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 5 f., 9.

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Diese Arbeitspraxis entspricht der Anwendung eines engen Kulturbegriffs und einem Verständnis von Kultur als Kunst. In einigen Instituten wird mittlerweile auch die Arbeit im Bereich der politischen Bildung betont, was Programme für die Themen Umwelt, Zeitgeschichte, Philosophie, Sport, modernes Leben, Forschung und Technologie, Religion, Soziales einschließen kann.70 In Abhängigkeit von den Umständen vor Ort ist es möglich, dass das GoetheInstitut einzelne Projekte fördert, koordiniert oder aber federführend initiiert, plant, koordiniert und umsetzt.71 Zukünftig werden Koordinations- und Verbindungsarbeiten sowie Beratungsfunktionen von den Auslandsinstituten stärker betont und gegenüber eigens initiierten Kunstprojekten bevorzugt. Größere Veranstaltungen, die bislang von den Instituten selbstständig organisiert, koordiniert, geplant, umgesetzt und öffentlich bekannt gemacht wurden, sollen zukünftig mit einer vorrangig exemplarischen Wirkung repräsentativ wirken.72 Um große Teilgesellschaften zu erreichen, sollen außerdem Koproduktionen im Bereich der Medien stärker forciert werden.73 Das bedeutet, dass tendenziell das GoetheInstitut in kulturpopulären und massenwirksamen Sparten zu koproduzieren und in anderen Kunstsparten vorrangig zu koordinieren beabsichtigt. Performative Künste im Goethe-Institut Addis Abeba In den Archiven der einzelnen Goethe-Institute werden sowohl Produktionen als auch Veranstaltungen im performativen Kunstbereich sichtbar. Allerdings ist die Dokumentation der Projekte in den Archiven unterschiedlich gehandhabt worden und ältere Projekte teils nicht aufgeführt, wodurch langfristige Entwicklungen in diesen Arbeitsbereichen nicht detailliert nachvollzogen werden können. Dennoch werden anhand der Online-Archive differente Gewichtungen des Engagements für performative Künste in verschiedenen Auslandsinstituten der Region sichtbar. Je nach Standort unterscheiden sich die Goethe-Institute im Umfang der Förderung performativer Künste grundlegend voneinander, was mit den Finanzmitteln der einzelnen Institute zu tun hat, die sich durch die Vergabe aufgrund interner Prioritätensetzung ergeben. Es ist auch abhängig von den örtlich bereits etablierten Netzwerken und der Einflussnahme der Akteur_innen der jeweiligen

70 Vgl. Goethe-Institut, 2015b, https://www.goethe.de/de/uun/auf.html, 14.11.2015. 71 Vgl. Bister, 2007, S. 21; Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 4. 72 Vgl. Bister, 2007, S. 21; Maier, 2005, S. 16. 73 Vgl. Goethe-Institut , 2008, S. 213; Maier, 2005, S. 16.

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Kunstszenen, die durch ihre Ideen, Konzeptionen und Projektvorschläge letztendlich die Jahresplanungen der Institute mitgestalten.74 Das Goethe-Institut Addis Abeba förderte zwischen 2010 und 2012 performative Künste durch personell und finanziell umfangreiche Initiativprojekte im Bereich des Tanz- und Bewegungstheaters. Es fokussierte vorrangig die Zusammenarbeit mit Künstler_innen, die in den Sparten Tanz und Performance Art tätig sind, aber nicht mit Künstler_innen, die im Bereich des Sprechtheaters arbeiten. Bei der bisherigen Zusammenarbeit ging es im Wesentlichen um die Etablierung eines Netzwerks mit unabhängig arbeitenden Künstler_innen, den Auftakt zu gemeinsamen Produktionsprozessen und den fachinternen Diskurs über konzeptionelle Ansätze in der performativen Kunst. Aufgrund wechselnder Arbeitsformate, welche Koproduktionen, Workshops, Performance-Lectures etc. umfassten, wurde eine programmatische Linie bisher noch nicht festgelegt. Da das Goethe-Institut Addis Abeba mit Akteur_innen unterschiedlicher Kunstszenen und teils auch mit großen Kulturhäusern vor Ort zusammenarbeitete, etablierte es sich als potentielle Partnerorganisation für die dortige Kunstszene. Aufgrund dessen, dass das Goethe-Institut seit 2012 keine weiteren Projekte im Bereich der performativen Kunst realisierte und vorerst den Fokus auf andere Sparten verlegte, bleibt abzuwarten, ob Folgeprojekte für den performativen Kunstbereich angestrebt werden und dadurch eine Kontinuität gewährleistet wird.

F AZIT : K ULTUR UND P OLITIK Meiner Argumentation zufolge ergeben sich für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts Herausforderungen bezüglich eines Umgangs mit diametral entgegengesetzten Ansprüchen, die durch Diskrepanzen innerhalb kulturpolitischer Konzeptionen auf Ebene der UNESCO und des Bundes entstehen. Auf internationaler Ebene wird durch die UNESCO der erweiterte Kulturbegriff vertreten, der auf einen mentalistischen Ansatz verweist. Das befördert den Umgang mit einem diffusen Verständnis von Kultur und verhindert die eindeutige Abgrenzung der praktischen Kulturarbeit zu anderen Arbeitsfeldern. Kulturarbeit wird mit Ideen der ‚Entwicklung‘ und des ‚Dialogs‘ verschränkt. Insofern werden in der Kultur- und Kunstproduktion thematische Setzungen forciert oder begünstigt, die den Ideen von Modernisierung, Restaurierung, Innovation, Reform, Wandel etc. verhaftet sind. Diese werden aber nicht als normative Kon-

74 Vgl. Köppen: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011, S. 1, 18 f.

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struktionen und Bevormundung innerhalb einer postkolonialen Realität hinterfragt. Die Annahme der direkten ideellen Modifizierung von Strukturen, Institutionen oder Organisationen bleibt aufgrund der Handlungsmacht von Akteur_innen sowie aufgrund der Legitimation zweifelhaft. Hinsichtlich des Dialoganspruchs besteht eine Diskrepanz in der politischen Vereinnahmung. Auf Bundesebene wird der Kulturpolitik ein ambivalenter Status eingeräumt. Sie wird zwar als eine der drei Säulen der Außenpolitik deklariert, doch die praktische Kulturarbeit wird als Querschnittsaufgabe für Entwicklungspolitik und Krisenprävention aufgefasst. Darüber hinaus wird sie im Afrika-Konzept der Bundesregierung als eigenständiger Gestaltungsbereich deutsch-afrikanischer Beziehungen gänzlich unberücksichtigt gelassen und nur unter ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ und ‚guter Regierungsführung‘ subsummiert. Das Goethe-Institut wird angesichts der juristischen und organisatorischen Rahmensetzung an der Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Politik angesiedelt. Durch die Vermengung (entwicklungs-)politischer und kultureller Belange ergibt sich ein spezifisches Spannungsfeld für die Kulturarbeiter_innen. Die Diskrepanz, die quasi an sie delegiert wird, liegt in der Unvereinbarkeit politischer vs. künstlerischer Interessen sowie entwicklungspolitischer vs. ästhetischer Maßstäbe. Eine weitere Diskrepanz liegt in der kulturpolitischen Orientierung am erweiterten Kulturbegriff und der praktischen Orientierung am engen Kulturbegriff. Für die praktische Kulturarbeit bleibt jedoch der enge Kulturbegriff relevant, um innerhalb eines lokalen sowie transnationalen Kunstfeldes tatsächlich agieren zu können. Das ist u.a. daran erkennbar, dass in der Außenkulturpolitik ein mentalistischer Kulturansatz konzeptionell verfolgt wird, doch die praktische Kulturarbeit des Goethe-Instituts nach Kunstsparten organisiert, die Jahresplanung in Form von zu realisierenden Kunstprojekten vorgenommen, die Zusammenarbeit mit Künstler_innen vor Ort gestaltet und transnationale Netzwerke zu anderen Kunst- und Kulturinstitutionen unterhalten werden müssen.

5. Kunsthistorischer Kontext in Äthiopien

Die Arbeit ausländischer Kulturinstitute hat je nach Standort unterschiedliche Relevanz, was wiederum eng mit den jeweiligen Dynamiken der Kunstszenen vor Ort, den strukturellen Arbeitsbedingungen, ihren eigenen Netzwerken sowie Ressourcen und mit kunsthistorisch gewachsenen Realitäten zusammenhängt. Daher sollten diese Bereiche der Kunstproduktion in die Analyse komplexer Kunstfelder einfließen, in denen individuelle Künstler_innen verschiedene Positionen vertreten. Die Zusammenarbeit der Künstler_innen und der Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts werden vom jeweiligen Kontext beeinflusst, aus dem spezifische Herausforderungen erwachsen. Außerdem leiten sich aus der aktuellen Kunstszene, den Kulturinstitutionen sowie der Kulturpolitik vor Ort weitere Herausforderungen an die interagierenden Akteur_innen ab. Im Folgenden konzentriere ich mich zunächst auf den kunst- und theaterhistorischen Kontext Äthiopiens und werde die Besonderheiten dieses Standorts skizzieren, indem ich nun der nächsten Teilfrage nachgehe, welche Spezifika performativer Kunst sich aus diesem Kontext ergeben. Die Beantwortung dieser Frage ist für ein fundiertes Verständnis der Kunstproduktion wichtig. Dem liegen die Argumente zugrunde, dass durch die Kontextualisierung und historische Einordnung Kunstansätze besser nachzuvollziehen sind und damit einer in der bisherigen Forschung problematischen Tendenz zur Dehistorisierung der Kunst in außereuropäischen Ländern entgegengewirkt werden kann. Insofern schließe ich mich der Position von Rustom Bharucha an, der eine Reduktion und Simplifizierung des jeweiligen Kontexts der Kunstproduktion vor Ort kritisierte.1 Ebenso wies Bonnie Marranca darauf hin, dass die historische Dimension der Theaterproduktion in anderen Ländern häufig negiert wird.2 Damit greife ich die von

1

Vgl. Bharucha, 1993, S. 5.

2

Vgl. Marranca, 1991, S. 21.

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ihnen artikulierte Kritik an der bisherigen theaterwissenschaftlichen Forschung auf und mache in diesem Kapitel explizit deutlich, dass auch die zu untersuchenden Produktionen ganz und gar nicht in einem geschichtslosen Raum der Künste entstehen, sondern dieser durch spezifische Merkmale, Kontinuitäten sowie Brüche gekennzeichnet ist.

C HARAKTERISTIKA Zunächst werde ich anhand von vier Charakteristika argumentativ darlegen, was die dominanten kunstgeschichtlichen Spezifika Äthiopiens ausmacht. Dabei handelt es sich um meine Lesart, die ich als eine Synthese unterschiedlicher Informationen aus der Literaturrecherche betrachte und deshalb als Verdichtung von Aussagen zum Thema performative Künste behandele. Dabei beziehe ich mich auf Aspekte, die vereinzelt in historischen, politikwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen, theaterwissenschaftlichen und ethnologischen Abhandlungen thematisiert, jedoch bislang nicht komplementär zusammengefügt wurden. Vereinzelt verwende ich auch Aussagen der Interviewpartner_innen. Dabei arbeite ich heraus, welche konkreten Konsequenzen kunstgeschichtliche Entwicklungen für das Theater und performative Künstler_innen in Äthiopien hatten und was potentielle Herausforderungen für Kooperationen sein können. Aus kunstgeschichtlicher Perspektive zeichnet sich Äthiopien m.E. durch vier markante Charakteristika aus: die enge Verbindung von Kunst und Religion des orthodoxen Christentums, die enge Verbindung von Kunst und Politik, die ambivalente gesellschaftliche Position von Künstler_innen und transnationale Austauschbeziehungen. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter war Äthiopien ein mächtiger Staat, der royal organisiert war.3 Über Jahrhunderte war Äthiopien dadurch geprägt, dass es streng hierarchisiert und feudal organisiert war, berufene Fürst_innen Macht- und Entscheidungsfunktionen ausübten und ein höfischer Adelsstand bis Mitte der 1970er Jahre etabliert blieb. Die König_innen und Kaiser_innen Äthiopiens rechtfertigten in der Regel ihren Herrschaftsanspruch mit ihrer Herkunft und Zugehörigkeitslinie zum salomonischen Königshaus. Damit verbunden war Plastow zufolge eine langanhaltende Dominanz der AmharaGesellschaft, ihrer Werte, Schriftliteratur und orthodox-christlichen Religion.4

3

Vgl. Adejumobi, 2007, S. 3.

4

Vgl. Plastow, 1996, S. 47.

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Kunst und Religion Die enge Verbindung von Kunst und orthodoxem Christentum begann seit dem vierten Jahrhundert nach Christus, als König Ezana von Axum in Äthiopien das orthodoxe Christentum als offizielle Staatsreligion durchsetzte.5 Die Politikwissenschaftlerin Aalen weist darauf hin, dass das orthodoxe Christentum ein wesentlicher Bestanteil der nationalen Identitätsstiftung und der Repräsentation des Nationalstaates6 war: „This story of royal lineage, together with the Amharic language and Orthodox Christianity, was at the heart of Ethiopian national identity and the concept of the Ethiopian state.“7 Dies ist bis heute ein wesentlicher Bestandteil sowohl der Außendarstellung der äthiopischen Regierung als auch der allgemeinen Wahrnehmung Äthiopiens, obwohl im Land viele Gläubige verschiedene Religionen praktizieren. Die Verbindung zwischen Kunst und orthodoxem Christentum8 ist für die Kunstgeschichte des Landes, das Selbstverständnis vieler Künstler_innen, die Präferenzen ästhetischer Parameter und spezifischer Merkmale in den Kunstproduktionen sowie für interne kulturpolitische Belange weiterhin relevant. Die Klöster Äthiopiens spielten die entscheidende Rolle bei der Ausbildung von Kunstschaffenden sowie bei der Vermittlung von Künsten basierend auf orthodox-christlichen Normen.9 10 Über Jahrhunderte wurden Tausende von Klöstern und Kirchen im ganzen Land errichtet, in denen Geistliche religiöse Inhalte und künstlerische Ausdrucksformen wie Poesie, Gesang, Tanz, Rhetorik etc. lehrten. Die Grundausbildung umfasste ca. drei Jahre, in denen sowohl das amharische Alphabet als auch Rezitationsformen von Gebeten und religiösen Ge-

5

Vgl. Harney, 2003, S. 21; Zimen, 2005, S.8; Adejumobi, 2007, S. 12 f.

6

Anm.: Politische Machthaber_innen und orthodoxe Patriarchen kooperieren und ver-

7

Aalen, 2011, S. 26.

8

Anm.: Adejumobi betont neben den orthodox-christlichen Fundamenten auch isla-

stärken ihren Einflussbereich gegenseitig.

misch geprägte Einflüsse der arabischen Welt auf Äthiopien sowie byzantinische, armenische, indische und nubische Einflüsse für die Kunstproduktionen bis ins späte Mittelalter sowie westeuropäische Einflüsse hinsichtlich der Ikonographie. (Vgl. Adejumobi, 2007, S. 11, 15 f.) 9

Vgl. Erlich, 2004, S. 120.

10 Anm.: Es übten v.a. ägyptische Bischöfe und Patriarchen bis Mitte des 20. Jahrhunderts einen starken Einfluss auf das äthiopische Bildungssystem aus, denn das Oberhaupt der äthiopisch-orthodoxen Kirche wurde von Alexandria aus entsandt. (Vgl. Erlich, 2004, S. 117, 120)

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sängen (‚chintz‘) in der Liturgiesprache des Ge’ez11 gelehrt wurden. Die Klöster waren vor allem für die erweiterte höhere Bildung zuständig und unterhielten je nach festgelegtem Schwerpunkt weiterführende Spezialschulen für dreijährige Gesangsausbildungen (‚zema bet‘), fünfjährige Poesieausbildungen (‚quiné bet‘) und zehnjährige Theologieausbildungen (‚mashaf bet‘).12 Diese Spezialausbildungen waren zwar für die Priesterschaft vorgesehen, beeinflussten jedoch alle aristokratischen Intellektuellen aus dem nördlichen Hochland13, die dort ausgebildet wurden, sich im Verlauf ihrer Jugend für andere Lebenskonzepte entschieden oder die Ausübung von politischen Funktionen in hohen Ämtern, eine nebentätige Kunstproduktion und religiös spirituelle Lebensweise nicht als einander ausschließende Praxen verstanden, sondern koexistierend in eigene Lebenskonzepte integrierten. Die kirchlichen Institutionen gaben durch ein Patronagesystem Werke der Bildenden Kunst, der Musik und der Literatur direkt bei Künstler_innen in Auftrag. Im Interview betonte der Theaterwissenschaftler Aron Yeshitila, dass auch Kunstformen wie Tanz, Gesang, Rhythmik und Musik vorrangig der Repräsentation im religiös-zeremoniellem Zusammenhang der orthodoxen Kirchen dienten.14 15 Neben performativen Künsten wurde auch literarische Kunst über Jahrhunderte von äthiopischen Mönchen, Priestern, Nonnen und anderen Schriftgelehrten produziert, die Bücher, Manuskripte und Kalligraphien auf Ge’ez in den Klöstern anfertigten und diese Kenntnisse in kirchlichen Ausbildungsstätten vermittelten.16 17 Referenzpunkte dieser Kunstproduktion waren die Bibel mit

11 Anm.: Ge’ez:„It was the court language in the days of the Axumite empire which flourished from the beginnning of the Christian era till the ninth century. Subsequently, Ge’ez continued down to our own days as the literary and ecclesiastical language.“ (Demoz, 1995, S. 16) 12 Vgl. Erlich, 2004, S. 120; Kebede, 2008, S. 49 f. 13 Anm.: Von 400 nach Christus bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Ausbildungsstätten der Klöster fast ausschließlich der Aristokratie aus dem Hochland zugänglich. Seit 1970 wurden die religiösen Ausbildungsstätten v.a. für arme Bevölkerungsschichten relevant. (Anm.: Hintergrundgespräch mit Aron Yeshitila) 14 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 17. 15 Anm.: Yeshitila grenzt die performativen Elemente orthodox-christlicher Zeremonien von den Kunstpraxen im Theater ab, weil sie für rituelle Zwecke ausgeführt wurden. (Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 17) 16 Vgl. Adejumobi, 2007, S. 16.

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dem Alten und dem Neuen Testament, das Buch der Gelehrten und das Buch der Mönche, Legenden von religiösen Figuren (Hagiographien) und Epen über die Königshäuser. Das zentrale Thema war die Existenz des Menschen in Relation zu Gott. Darüber hinaus waren Poesie und Rezitation sowie das allegorische Prinzip der Technik ‚semna werq‘ (‚wax and gold‘)18 auf Basis der Mehrdeutigkeit wichtige künstlerische Mittel, die in den Klöstern perfektioniert wurden.19 20 „It was the church which has kept this country unique. In the church […] music was produced and it has its own notation system since Yared. […] The quiné already is a very high form of poetry. The untrained ones cannot understand it at all. […] But all this is not for the masses; it is an absolute elitist culture.“21

Der renommierte Theatermacher Tesfaye Gessesse betont im Interview die Exklusivität einiger Kunstformen, zu denen er u.a. die Poesie (‚quiné‘) zählt, die im aktuellen Sprechtheater nach wie vor als künstlerisches Mittel eingesetzt wird.22 Im Rahmen orthodox-christlicher Ausbildungsstätten wurde diese Kunst perfektioniert, dennoch war sie hinsichtlich der Produktion und Rezeption nur äthiopischen Bildungseliten zugedacht. Insofern verweist seine Aussage darauf, dass in Äthiopien spezifische Kunstformen nur für die Elite produziert wurden und dass einzelne Stilmittel innerhalb des Sprechtheaters auch nur für Teilgesellschaften verständlich blieben. Die Favorisierung des Sprechtheaters23 gegenüber anderen

17 Anm.: Die Bezeichnung ‚Literatur‘ wurde in Äthiopien bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich auf diese Form künstlerischer Produktion angewendet. (Vgl. Adejumobi, 2007, S. 16) 18 Anm.: „Ethiopia’s ancient literary culture has consistently provided techniques for dealing with repression. In particular, the Amhara fondness for the double entendre and the practice of samena worq have inspired generations of playwrights […]“ (Belcher, 1998, http://www.wendybelcher.com/AyalnehMulatu.html, 19.11.2013) 19 Vgl. Persoon, 2004, S. 110. 20 Anm.: Diese künstlerischen Mittel und narrativen Bezugspunkte spielten später v.a. für das Sprechtheater Äthiopiens entscheidende Rollen. 21 Köppen, Grit: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 9. 22 Anm.: Überblicke zu amharischer Poesie bietet Gelaye (Vgl. Gelaye, 2001, S. 38-43) und zu Genres amharischer Literatur Kane (Vgl. Kane, 1975, S. 16-28) 23 Anm.: „Schauspieltheater meint das Medium, in dem das geschriebene Drama zur Aufführung gelangt. […] Sprechtheater dagegen denotiert verhältnismäßig wertfrei Theaterformen, die sich im Gegensatz zu gesungenen oder zu getanzten Aufführungen vorrangig des gesprochenen Worts bedienen.“ (Balme, 2008, S. 20)

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Formen hat ebenfalls mit der Geschichte der Schriftkultur, der hohen Stellung des Wortes und der Rhetorik als intellektuelle Übung im Kontext der orthodoxen Kirche zu tun. „In Ethiopia there is the rhetoric exercise more important. We have this church background influencing us to be more literally than physically expressive. You see that people in Ethiopian theatre are more inclined to spoken word theatre than movement theatre. Movement is not respected or appreciated in Ethiopia.“24

Der Theaterwissenschaftler Lealem Berhanu betont die etablierte Wertschätzung für Sprachkunst im Theater, welche auf Logos und Intellektualität verweist und eindeutig gegenüber physischen Ausdrucksmodi favorisiert wird. Da der Körper im christlichen Kontext einerseits zwar als materielle Manifestation göttlicher Schöpfung, aber andererseits auch als Sinnbild für Eitelkeit und Lust – und somit als Manifestation der Sünde gleichermaßen – fungiert, erklärt sich, warum im christlich-orthodoxen Kontext eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem Körperlichen in Form szenischer Körperkunst im Theater vermieden wird. Ein anderes Merkmal, welches ebenfalls auf die enge Verbindung zwischen Kunst und Religion zurückzuführen ist, ist die Fokussierung auf die Vermittlung didaktisch-moralischer Komponenten durch die Künste und die Veranschaulichung spezifischer Werte durch einen Rekurs auf Erzählungen von Heiligen, Erleuchteten und Märtyrer_innen. Indem christliche und anti-christliche Haltungen, Sündenfälle, die Niedrigkeit weltlicher Gelüste (Gier, Neid, Begehren, Eifersucht etc.) in den Künsten demonstriert wurden, dienten sie der religiös-sozialen Kohäsion: „Ethiopian art is didactic, driven by a desire to convey to believers the drama and narratives of the gospels and the activities of the hallowed personages […].“25 Der Historiker Saheed Adejumobi betont, dass die moralische Erziehung für orthodox-christliche Werte als ein Aufgabenbereich der Kunst verstanden wurde. Damit verbunden sind bis heute Figurenkonzeptionen, bei denen das eindeutig Charakteristische gegenüber dem Realistischen betont wird und konfliktive Handlungsmuster überwiegen, die moralische Beurteilungen zweifelsfrei erlauben.

24 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 10. 25 Adejumobi, 2007, S. 15.

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Im Kontext des äthiopisch-orthodoxen Christentums war die explizite Verbindung von Religion und Kunst omnipräsent26, was sich aus der Anbindung der Ausbildungsstätten für Kunst an die Kirche, die Vergabe von Auftragsarbeiten durch die Kirche, der Funktion der Künste (‚quiné, zemzema, aquaquam‘ etc.) als zentrale Elemente der christlich-orthodoxen Lehre und Moral, die Klöster als Produktionsstätten der Kunst sowie der religiösen Überzeugung vieler aristokratischer Künstler_innen ergab.27 Kunst und Politik Die enge Verbindung zwischen Kunst und Politik ist an mehreren Aspekten erkennbar. Erscheinungen dessen sind u.a. zwei historische Phasen, die Adejumobi als ‚ethiopanization‘ bezeichnete, was eine bewusste Verknüpfung von politischer Repräsentationsmacht und vermehrter Artefaktproduktion meint. Mitte des 15. Jahrhunderts kam es zu der ersten Phase einer kulturellen Renaissance, in der sowohl Narrationen über Heilige und Geistliche für den äthiopischen Kontext adaptiert als auch Erzählungen über orthodoxe Patriarchen und weltliche Herrscher_innen Äthiopiens in Malereien und Manuskripten zunehmend vermittelt wurden. Zeitgleich wurden viele Kirchen und Klöster errichtet bzw. restauriert und mit solchen Repräsentationen in Form von Gemälden oder illustrierten Manuskripten ausgestattet.28 Von Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts kam es erneut zu einer intensiven Phase der Kunstproduktion im Sinne der ‚ethiopanization‘, in der v.a. farbintensive illustrierte Schriften und Bücher verbreitet wurden.29 Kunst wurde bis dahin überwiegend im Auftrag des Patriarchen und des Klerus oder im Auftrag von politischen Machthabenden produziert. Ab den 1930er Jahren wurde Kunst zunehmend für das politische Interesse der Stabilisierung einer feudalistischen Ordnung genutzt. Insofern trieb Kaiser Haile Selassie I. die Modernisierung Äthiopiens durch personelle und strukturelle Förderungen in den Bildungs- und Kunstsektoren stark voran, was u.a. zu nummerisch wachsenden künstlerischen Produktionen im Bereich des Sprech-

26 Anm.: „It may be interesting to note here that most of the traditional painters who painted Biblical scenes were and still are priests, monks, deacons and däbtäras.“ (Kidane, 1989, S. 72) 27 Vgl. Kidane, 1989, S. 72; Adejumobi, 2007, S. 15 f. 28 Anm.: Dieses Vorgehen der ‚ethiopianization‘ entspricht einer Ausweitung der symbolischen Textualität im Sinne Bhabhas und verdeutlicht Halls Idee der Verbindung zwischen Repräsentationen ‚herrschender Ideen‘ und ‚herrschender Klassen‘. 29 Vgl. Adejumobi, 2007, S. 15 f.

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theaters führte, jedoch blieb die Produktion in amharischer Schriftsprache ausschließlich Angehörigen des Adels vorbehalten.30 Von den 1970er bis 1990er Jahren setzte die Derg-Regierung politisch eine Phase des stalinistisch geprägten, marxistisch-leninistischen Sozialismus durch. In der Zeit mussten Künstler_innen ästhetische Parameter und Inhalte der Kunstproduktionen fast ausschließlich dem politischen Diktat des Realsozialismus unterordnen, um mittels Kunst propagandistisch auf Rezipient_innen einzuwirken und um eine Gegenbewegung zu den umfangreichen religiösen Kunstproduktionen zu bewirken.31 Seit den 1990er Jahren gewannen andere Ausdrucksformen stärker an Sichtbarkeit. Im Zuge der politisch durchgesetzten Linie des ethnischen Föderalismus der EPRDF-Regierung hat sich das Spektrum von künstlerischen Artikulationen um kulturelle Elemente verschiedener Teilgesellschaften Äthiopiens erweitert. Sichtbar ist das z.B. an umfangreichen Repräsentationen unterschiedlicher Tanzformen und verschiedener Trachtendarstellungen. Diese Repräsentationen dienen der expliziten Betonung von Ethnizität, Diversität und Multikulturalität, welche u.a. bei nationalen Feiertagen, nationalhistorischen Gedenktagen, offiziellen Staatsbesuchen oder bei öffentlichen Ehrungen patriotischer Held_innen im Sinne der Theatralität öffentlich inszeniert werden. Auf ein weiteres Indiz für die enge Verbindung zwischen Politik und Kunst weist der äthiopische Theaterwissenschaftler Surafel Wondimu hin, wenn er betont, dass äthiopische Künstler_innen von den wechselnden Regierungen handverlesen ausgewählt und direkt beauftragt wurden, spezifische Inszenierungen für Theaterhäuser, Parteiangehörige oder das Militär zu produzieren.32 Somit zeigt sich im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts die explizite Verbindung zwischen Kunst und Politik – wenn auch unter veränderten ideologischen Bedingungen: Während zwischen 1930 und 1970 Kunst als Repräsentation feudalistischer Ordnung diente wurde sie zwischen 1970 und 1990 als Repräsentation sozialistischer Ordnung und seit 1990 als Repräsentation eines befriedeten Vielvölkerstaates genutzt. Es fand u.a. eine Indienstnahme des Theaters für die Rechtfertigung und Stabilisierung von Feudalismus, Sozialismus, Nationalismus und interner Befriedung statt. Das Theater erfüllte dabei eher repräsentative Anforderungen und wurde von wechselnden Regierungen u.a. dafür eingesetzt, soziale Normen zu fixieren und öffentliche Meinungen zu formen. Die Instrumentalisierung der Kunst für politische Interessen der Machthabenden sowie die

30 Vgl. Plastow 1996, S, 56. 31 Vgl. Adejumobi, 2007, S. 131. 32 Vgl. Wondimu, 2009, S. 58, 75, 79.

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staatliche Zensur künstlerischer Artikulationen und die Selbstzensur von Künstler_innen sind Merkmale einer engen Verbindung zwischen Kunst und Politik. Resultat dessen ist eine thematische und ästhetische Normierung, die Künstler_innen im eigenen Arbeitskontext kritisch reflektieren. Ambivalente gesellschaftliche Position von Künstler_innen Kunstgeschichtlich ist die gesellschaftlich ambivalente Position von Künstler_innen am niedrigen sozialen Status der ‚azmaris‘ als performative Künstler_innen der Unterschicht und dem hohen gesellschaftlichen Status der Theatermacher_innen aus der aristokratischen Oberschicht markant. Seit dem Mittelalter existierte in Äthiopien eine Berufskaste von performativen Künstler_innen, die im Amharischen als ‚azmaris‘ bezeichnet werden. Ihre Position ist ambivalent und schwer nachzuvollziehen, denn sie übten unterschiedliche Funktionen 33 aus. ‚Azmaris‘ begleiteten bei Kriegshandlungen Soldaten mit in die Schlacht und förderten deren Kampfmotivation durch Gesang, Poesie und Tanz. Am Hofe lobpreisten oder aber verspotteten ‚azmaris‘ durch subversive Sprachtechniken die Machthabenden. Die Kulturjournalistin Tibebeselassie Tigabu bezeichnete die Funktion der ‚azmaris‘ wie folgt: „[…] they were the check and the balance.“34 Für den antikolonialen Widerstand waren diese performativen Künstler_innen mobilisierende Kräfte, da sie mittels Kunst zur Verteidigung des Landes aufriefen; viele von ihnen wurden während der Besatzung von italienischen Faschisten getötet.35 Etliche ‚azmaris‘ – darunter auch Frauen – bewegten sich als freie Künstler_innen durchs Land und agierten außerdem als Journalist_innen und politische Kommentator_innen, die Nachrichten performten, indem sie aktuelle Neuigkeiten musikalisch verbreiteten und mittels Harfe, Flöte oder Violine begleiteten. Jedoch blieb den ‚azmaris‘ eine ambivalente Reputation anhaften und ihre Profession wurde sowohl missachtet, gefürchtet, geargwöhnt als auch gebraucht und geschätzt. Sie waren diejenigen, die für die Zusammenstellungen der ersten Theaterensembles in Addis Abeba zentral wichtig wurden.36 Jedoch wurde das Stigma, mit dem ‚azmaris‘ über lange Zeit konfrontiert waren, da-

33 Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 116. 34 Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 2. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. Banham, 1994, S. 34.

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durch nicht entschärft, sondern auf andere performative Künstler_innen Äthiopiens übertragen.37 Dem gegenüber gab es Theatermacher_innen, Autor_innen und Regisseur_innen, die das Sprechtheater seit Anfang des 20. Jahrhunderts als explizite Bühnenkunst etablierten und selbst zum Zirkel der aristokratischen Intellektuellen zählten, die der äthiopische Historiker Bahru Zewde in zwei Gruppen unterteilt: die autodidaktischen Schriftgelehrten (‚däbtära‘) und die royalen Protegés. Die erste Gruppe bildete ihre fachlichen Qualifikationen innerhalb orthodoxchristlicher Klöster aus.38 Die zweite Gruppe erhielt während der Haile Selassie I. Zeit meist Ausbildungen in staatlichen Schulen sowie kaiserliche Stipendien, um vorwiegend im westlichen Ausland zu studieren.39 40 Die Förderung von royalen Protegés lässt sich auf das Bedürfnis nach partieller Modernisierung des Staatsapparates und den vermehrten Bedarf an Fachpersonal zurückführen. Diese Bildungsstrategie sollte dazu dienen, das Kaiserreich verbunden mit einer streng feudal organisierten Gesellschaft aufrecht zu halten. Daraus ergaben sich folgende Ambivalenzen, die für intellektuell, politisch und künstlerisch tätige Akteur_innen Äthiopiens historisch erwachsen sind und u.a. für das Theater eine Relevanz hatten: Die meisten äthiopischen Intellektuellen, die im Kaiserreich Meneliks II. und Selassies I. fundierte Ausbildungen vertiefen konnten, unterhielten direkte Beziehungen zum Kaiser, waren Aristokrat_innen und gehörten direkt zum Machtzentrum des feudalen Staates. Sie wurden nicht allein wegen ihres Talents, sondern auch wegen ihrer Herkunft und ihres Bildungshintergrunds protegiert.41 Somit blieben die höheren Bildungswege in äthiopischen Klöstern und ausländischen Universitäten ausschließlich einer aristokratischen Elite innerhalb der amharischen Hochlandgesellschaft vorbehalten. Unter ihnen befanden sich ebenso Künstler_innen, deren privilegierte Gesellschaftsposition wiederum gravierende Auswirkungen auf ihre thematischen Schwerpunktsetzungen im Theater, ihre Weltanschauungen, ihre ästhetischen Präferenzen sowie auf ihre Haltungen gegenüber dem Kunstbetrieb und das Selbstverständnis der eigenen Rolle hatte.

37 Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 116. 38 Vgl. Zewde, 2002, S. 64, 70 ff. 39 Vgl. Zewde, 2002, S. 79. 40 Anm.: Ein Beispiel dafür ist der Theatermacher Germatchew Täklä-Hawaryat, der vom Premierminister und Schriftsteller Endalkechew Makonnen protegiert wurde und deshalb seine künstlerische Ausbildung in England und Frankreich fortsetzen konnte. (Vgl. Plastow, 1996, S. 50) 41 Vgl. Zewde, 2002, S. 163; Kebede, 2008, S. 16; Debela, 2003, S. 115.

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Theatermacher_innen, die später eine hohe Reputation genossen, durchliefen zunächst christlich-orthodoxe Kunstausbildungen in Nordäthiopien aufgrund ihrer sozialen Stellung. Durch die von ihnen in Klöstern erlernten Kompetenzen des Ge’ez und der Poesie, perfektionierten sie Rhythmik und Metaphorik des Amharischen, was sie als künstlerische Mittel, als subversive Strategie aber auch als Distinktionsmerkmal im Theater nutzen konnten. Parallel dazu erhielt der größte Teil der äthiopischen Bevölkerung bis Mitte der 1970er Jahre aus diversen Gründen keinen Zugang zu Bildung. Das ist insofern relevant, als dass diese Theatermacher_innen und Bühnenautor_innen sich von den ‚azmaris‘ bewusst absetzten, eine exklusiv privilegierte Stellung einnahmen, diese Position mittels der Beherrschung und Perfektionierung amharischer Sprache festigten und indirekt zur Stabilisierung amharischer Hegemonie durch Repräsentationen im Theater beitrugen, in denen sie – Jane Plastow zufolge – überwiegend konservative und religiös geprägte Weltanschauungen proklamierten, Konformismus betonten und den Status quo des feudalistischen Regimes rechtfertigten.42 Obwohl äthiopische Intellektuelle nur Zugang zu ausländischen Bildungseinrichtungen durch kaiserliche Stipendien erhielten, veränderten sich, so Bahru Zewde’s These, durch die Erfahrungen im Ausland sukzessive ihre eigenen Weltanschauungen, was partiell zu inneren Distanzierungen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Realitäten im eigenen Land führte.43 Gleichzeitig erhielten sie nach Heimkehr aber Staatsposten, um politische Funktionen auszuüben oder Stillschweigen zu bewahren, wobei ihr Wirkungskreis umstritten bleibt.44 Sie entwickelten eine Skepsis gegenüber dem Kaiser, ihrer eigenen Rolle und der Rolle von ausländischen Berater_innen am Hof.45 Neben dieser kritischen Haltung jedoch wurden sie gleichzeitig Teil hierarchischer Strukturen, von denen sie profitierten und die sie teils festigten. Diese Paradoxie bedeutete für das Theater: Da nur sehr wenige Künstler_innen für eine höhere Ausbildung an renommierten Institutionen im Ausland handverlesen entsandt wurden, gerieten diese Künstler_innen nach Heimkehr in die Exklusivsituation, außerordentliche Professionalität für sich beanspruchen zu können, Alleinstellungsmerkmale ihrer Kunstproduktion in einem relativ kon-

42 Vgl. Plastow, 1996, S. 57. 43 Anm.: Messay Kebede sieht in der – durch Studienaufenthalte in Europa – erlebten kulturellen Entfremdung (‚cultural alienation‘) einen entscheidenden Grund für die spätere Radikalisierung der Student_innen, die zum politischen Machtwechsel 1974 führte. (Vgl. Kebede, 2008, S. 12, 19, 38) 44 Vgl. Zewde, 2002, S. 175, 179. 45 Vgl. Zewde, 2002, S. 101 f.

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kurrenzlosen Arbeitsfeld erzeugen zu können und somit hohes Prestige zu gewinnen, Pionierarbeit im Bereich der performativen Künste zu leisten, in Leitungsfunktionen aktiv die Strukturen des sich etablierenden Theater- und Kulturbetriebs mitzugestalten und darin zentrale Posten zu besetzen. In dieser Funktion trugen sie allerdings auch dazu bei, innerhalb der Theaterstrukturen Hierarchien zu festigen, die den Bühnenautor_innen und Regisseur_innen eine privilegiertere Stellung als den Performer_innen einräumte und somit eine Dichotomie zwischen intellektueller künstlerischer Praxis und praktisch ausführenden Künstler_innen zu fördern.46 Das kann als eine Folgeerscheinung der kunstgeschichtlichen Differenzierung zwischen aristokratischen, orthodox-christlich ausgebildeten, sich teils international bewegenden Intellektuellen und freien, durchs Land ziehenden, performativen Künstler_innen (‚azmaris‘) betrachtet werden. Dadurch ergaben sich unterschiedliche Wertigkeiten verschiedener Professionen im Theaterbetrieb, die bis heute offensichtlich sind und von jungen Künstler_innen teils scharf kritisiert werden. Transkultureller Austausch Es gab trotz der politischen Isolation Äthiopiens seit dem 19. Jahrhundert vielfältige intersubjektive und transkulturelle Beziehungen der aristokratischen Bildungselite, die Folgen für die Kunstproduktion nach sich zogen. Der Historiker Haggai Erlich betonte den engen Austausch zwischen ägyptischen und äthiopischen Intellektuellen47, denn in personeller Hinsicht beeinflussten bis Mitte des 20. Jahrhunderts ägyptische Gelehrte das Curriculum äthiopischer Bildungsinstitutionen, indem koptische Gelehrte und Mönche aus Ägypten in orthodoxchristlichen Ausbildungsstätten Äthiopiens tätig waren und ägyptische Dozent_innen aus der Al Azhar Universität in orthodox-islamischen Bildungseinrichtungen Äthiopiens lehrten.48 Somit prägten sie indirekt auch Inhalte, ästhetische Konzepte und Limitierungen der Kunstproduktion. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Einfluss europäischer Dozent_innen zunehmend größer durch die in Addis Abeba eröffneten Einrichtungen französischer, italienischer, deutscher und schwedischer Gesellschaften und Missionen, aber auch durch die Präsenz europäischer Privatdozent_innen am äthiopischen Hof, denn etliche Europä-

46 Vgl. Plastow, 2010, S. 146. 47 Anm.: Durch die erstmalige Ernennung eines äthiopischen Patriarchen 1951, namentlich Abune Baselios, wurde der ägyptische Einfluss auf äthiopische Bildungsinstitutionen vermindert. (Vgl. Erlich, 2004, S. 134) 48 Vgl. Erlich, 2004, S. 120, 126.

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er_innen arbeiten dort als politische, wirtschaftliche, militärische oder technische Berater_innen, Ärzt_innen oder Lehrer_innen.49 Als in den 1930er Jahren das Spektrum an Bildungseinrichtungen weiter ausdifferenziert und vermehrt staatliche Schulen eröffnet wurden, die eine höhere Ausbildung gewährleisteten, lehrten dort äthiopische und europäische Dozent_innen, die nach dem Ideal des westlichen Bildungssystems die Kunstform Drama unterrichteten.50 Ab diesem Zeitpunkt entsandte Kaiser Selassie I. vermehrt Student_innen für weiterführende, spezialisierende und universitäre Ausbildungen nach Ägypten, Sudan, Jerusalem, Libanon, Frankreich, Italien, England, Deutschland, Russland und in die USA.51 52In diesen Ländern rezipierten äthiopische Intellektuelle Inhalte, Kunsttechniken, Stilmittel und ästhetische Strategien, die von denen abwichen, welche sie aus Äthiopien kannten.53 Darüber hinaus arbeiteten ausländische Kunstschaffende vereinzelt an den äthiopischen Theatern und Kultureinrichtungen.54 Durch die Eröffnung der Addis Abeba University konnten ab 1961 Theater, Musik und Bildende Kunst außerhalb religiöser Bildungsstätten studiert werden. Anfangs bildeten aus der Diaspora zurückgekehrte äthiopische neben europäischen und israelischen Dozent_innen den Lehrkörper der Universität.55 Aufgrund der Anwesenheit ägyptischer, israelischer und europäischer Dozent_innen in Äthiopien, der Mobilität etlicher äthiopischer Intellektueller und ihrer Studienerfahrungen im Ausland waren aristokratische Kunstschaffende von sehr verschiedenen Einflüssen geprägt und somit auch historisch gesehen transkulturell. Bahru Zewde betont, dass die langfristigen Studien- und Arbeitsaufenthalte in Europa sie teils dahingehend beeinflussten, diverse Entwürfe, Ideen und Konzepte, die im westlichen Kontext der Zeit verhandelt wurden, in die eigenen Diskurse aufzunehmen oder als Parameter für eigene Reformimpulse

49 Vgl. Zewde, 2002, S. 15, 173; Harney, 2003, S. 22; Freiberg, 2008, S. 5; Erlich, 2004, S. 122. 50 Vgl. Plastow, 1996, S. 49. 51 Vgl. Erlich, 2004, S. 129. 52 Anm.: Außerdem wurde Amharisch landesweit an Schulen obligatorisch, Arabisch aus dem Curriculum gestrichen, Französisch durch Englisch als erste Fremdsprache ersetzt und Ge’ez vornehmlich für weiterführende religiöse Studien innerhalb der Klöster beibehalten. (Vgl. Erlich, 2004, S. 129, 133) 53 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1. 54 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 4. 55 Vgl. Erlich, 2004, S. 135.

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anzuwenden.56 Insofern fokussierten sie nicht ausschließlich in Äthiopien kunstgeschichtlich gewachsene Formen und Ausdrucksmittel – wie ein essentialistisches Konzept von Kultur nahelegen würde -, sondern nutzten durch selbstgewählte Aneignungsprozesse differente ästhetische Vorstellungen, künstlerische Ansätze, Kunsttechniken und Stilmittel für ihre eigene künstlerische Praxis im Theater.

P ERFORMATIVE K ÜNSTE Im Folgenden werde ich die Entwicklungen der performativen Künste mit Fokus auf das Theater in mehrere Phasen unterteilen, um einen besseren Überblick zu ermöglichen und um die zuvor dargelegten kunstgeschichtlichen Charakteristika zu exemplifizieren. In diesem Teil geht es darum, das Feld performativer Künste anhand von individuellen Künstler_innen, ästhetischen Ansätzen, Strukturen und Umbrüchen deutlich zu machen. Dabei beziehe ich Analysen von den Theaterwissenschaftler_innen Jane Plastow, Surafel Wondimu, Aron Yeshitila und Abune Ashagrie sowie von dem Politikwissenschaftler Paulos Milkias in diesen Teil ein. Des Weiteren fließen die in Interviews artikulierten Wissensbestände der renommierten Regisseure Tesfaye Gessesse und Getnet Eneyew, der Theaterwissenschaftler Aron Yeshitila und Lealem Berhanu, der Kulturjournalistin Tibebeselassie Tigabu und des Kunsthistorikers Abebew Ayelew in Form gesammelter empirischer Daten in die Betrachtung mit ein. Jedoch sind die Periodisierung und die Bezeichnungen der Zeitphasen Setzungen meinerseits, die sich an Umbrüchen innerhalb des Theaters orientieren. Gründungsphase des Theaters Bezüglich der Anfänge des Theaters in Äthiopien macht Surafel Wondimu deutlich, dass innerhalb des äthiopischen Kunstdiskurses grundlegend zwei verschiedene Positionen vertreten werden. Einige äthiopische Wissenschaftler_innen und Künstler_innen datieren die Anfänge des äthiopischen Theaters auf die Spätantike in Nordostafrika während des axumitischen Reichs, als die Kunstform aus Griechenland entlehnt wurde. Andere datieren die Gründungsphase auf Beginn des 20. Jahrhunderts und werten die Kunstform als Teil der äthiopischen Moderne. Innerhalb dieser Gruppe gibt es Differenzen darüber, ob Theater ein Resultat des veränderten Bildungswesens oder ein Effekt der Bestrebungen einzelner

56 Vgl. Zewde, 2002, S. 103.

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Künstler_innen war.57 Plastow behauptet, dass äthiopische Autor_innen das Medium Theater aus dem Ausland transferierten und europäische Dozent_innen in Addis Abeba maßgeblich an der Etablierung der Kunstform Drama beteiligt waren.58 Dabei betont sie, dass die Kunstform nicht von außen aufgezwungen wurde.59 Die Gründungsphase des modernen Theaters datiert Paulos Milkias nach dem julianischen Kalender, der in Äthiopien verwendet wird, auf 1912 bis 1916. Dem Historiker Bahru Zewde zufolge wurde die Inszenierung 1913 in Addis Abeba gezeigt. Aboneh Ashagrie zufolge wurde nach gregorianischem Kalender 1921 Sprechtheater in Addis Abeba zum ersten Mal in Form des satirischen Stücks „Fabula: Yawreoch Comedia“ („Fable: A Comedy of Animals“), das mittels Tiercharakteren die höfische Elite Äthiopiens kritisch repräsentierte, inszeniert.60 Regisseur war der äthiopische Intellektuelle Teklehawaryat TekleMariam, der im zaristischen Russland ausgebildet wurde, mit Inszenierungen Stanislawskis in Moskau vertraut war und außerdem Inszenierungen in Italien, Frankreich und England sah.61 Das Stück wurde in Addis Abeba zu Zeiten der Kaiserin Zewditu einem aristokratischen Publikum präsentiert und anschließend von der Kaiserin aufgrund der inhärenten Kritik an Korruption und Ineffizienz des politischen Systems sofort verboten.62 Allerdings zeigte diese Entscheidung weitreichende Folgen, denn die Kaiserin definierte sämtliche Theateraufführungen für illegal und das Verbot hielt bis 1930 an.63 Die Geschichte des modernen Sprechtheaters in Äthiopien begann demnach mit einem andauernden Zensurverbot, weil es im Spannungsfeld zwischen Repräsentation der Verhältnisse, politischer Macht und der künstlerischen Verarbeitung des Status quo angesiedelt war. „So began a struggle over whether the function of theatre was to champion or criticize the state – a struggle which has continued in Ethiopia […] to the present day.“64 Anzumerken ist diesbezüglich, dass diese Form des Sprechtheaters von Tibebeselassie Tigabu und von Surafel Wondimu als westlich und als an der europäischen Moderne orientiert aufgefasst wird.65 „Despite the fact that Ethiopia was never colonized, it has not escaped

57 Vgl. Wondimu, 2009, S. 8 f. 58 Vgl. Plastow, 1996, S. 49 ff. 59 Vgl. ebd. S. 53. 60 Vgl. Hawariat, 2010, 153-167; Abune, 2010, S. 151 f.; Plastow, 2010, S. 138-150. 61 Vgl. Milkias, 2011, S. 388; Ashagrie, 2012, S. 1; Zewde, 2002, S. 159. 62 Vgl. Plastow, 1996, S. 50. 63 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 2; Milkias, 2011, S. 388. 64 Plastow, 1996, S. 50. 65 Vgl. Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 1.

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the European discourse of modernity and modernism. Pioneers of Ethiopian modernism have always viewed Europe as Mecca of modernity.“66 Implementierungsphase des Theaters Die Implementierungsphase des äthiopischen Theaters begann nach Machtantritt des Kaisers Haile Selassie I. Er positionierte sich als Mann der Moderne, der Künste und der Kultur mit Fokus auf Förderung und Kontrolle der Kunstproduktion. Selassie I. verfolgte das Interesse, Theater als propagandistisches Instrument zu nutzen, um seine Modernisierungsvorhaben massenmedial zu verbreiten. In dieser Phase erblühte das Theater unter seiner direkten Aufsicht; Stücke wurden in Auftrag gegeben und Theaterhäuser errichtet.67 „The first theatre which was built by the Minister of Education, Blatten Geta Sahle Tsedalu, in the Menelik II compound, started to present plays until Fascist Italy invaded Ethiopia.“68 Produzent_innen dieser Anfangszeit waren u.a. Yoftahe Negussie, Melaku Boggosow und Sennedu Gebru. Sie waren Lehrkräfte an staatlichen Schulen, die dort Theater als didaktisches Mittel einsetzten.69 Yoftahe Negussie studierte Musik (zema) und Poesie (quiné) in der Raguel-Schule eines Klosters in Gojam, beherrschte Ge’ez und wandte sich dann, nachdem er in den 1920er Jahren nach Addis Abeba kam, dem Theater zu.70 Er schrieb Theaterstücke, die bereits Andeutungen auf die später real eintreffende Besetzung des Landes durch italienische Invasoren enthielten. Dazu gehörten u.a. Stücke wie „Teyater“ („Theatre“), „Terefu Yetebeq“ („Keep the Border“) von 1934 und „Eyayu Mazen“ („Sad Observation“) von 1941. Nachdem Yoftahe Negussie ins Exil in den Sudan ging, schrieb er weiterhin Dramen in Amharisch. Eine andere einflussreiche Theatermacherin dieser Zeit war Sennedu Gebru, die ihre Kindheit in der Schweiz und in Frankreich verbrachte, später in Äthiopien eng mit Yoftahe Negussie zusammenarbeitete und sich 1936 dem antikolonialen Widerstand der Black Lion Patriotic Front71 anschloss. Sie schrieb und produzierte über 20 Theaterstücke.72 73 Dazu zählen auch Stücke, die explizit politische Inhalte ver-

66 Wondimu, 2009, S. 2. 67 Vgl. Milkias, 2011, S. 388. 68 Wondimu, 2009, S. 10. 69 Vgl. Plastow, 1996, S. 51; Milkias, 2011, S. 388. 70 Vgl. Milkias, 2011, S. 388. 71 Anm.: Aregawi Berhe beschreibt die Taktiken des antikolonialen Widerstands der Vereinigung Black Lion Organisation in Äthiopien. (Vgl. Berhe, 2003, S. 101) 72 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 2 f.

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handeln, zum anti-faschistischen Widerstand aufrufen und historische Ereignisse sowie soziale Realitäten kritisch in Frage stellen wie „Be Graziani Gize Ye Yekatit Qenoch“ („Graziani’s February Massacre“). Aboneh Ashagrie macht darauf aufmerksam, dass Sennedu Gebru aus ihrer anti-faschistischen und antikolonialen Haltung heraus dazu tendierte, Stücke zu verfassen, für die nationalistische Inhalte signifikant waren. Dazu gehörte auch, äthiopische Kaiser wie Tewodros, Menelik II und Haile Selassie I. zu glorifizieren.74 Sennedu Gebru spielte darüber hinaus eine Schlüsselrolle in der Förderung weiblicher Bühnenkünstler_innen, da sie an den Mädchenschulen wie der Empress Menen School seit den 1940er Jahren Theaterclubs etablierte, wo Mädchen und junge Frauen sowohl weibliche als auch männliche Rollen spielten.75 Das stand im Widerspruch zur genderspezifischen Kunstpraxis der Zeit, da bis in die 1950er Jahre hinein es ausschließlich männlichen Schauspielern vorbehalten war, alle Rollen zu spielen. Es waren überwiegend Angehörige aristokratischer Kreise, die das Theater gestalteten und die diese Kunstform während Auslandsaufenthalten sahen, sich ästhetisch am Naturalismus europäischer Bühnen des 19. Jahrhunderts orientierten, ihre Dramen auf Amharisch verfassten und inhaltliche Setzungen vornahmen, in denen sie Werte der orthodox-christlichen Lehre verbreiteten. Die Dramen dieser Zeit verarbeiteten Mythologien, Allegorien, Epen, PoesieDichtungen und azmari-Preisgesänge mit starkem Fokus auf Rhetorik, Rezitation, Polemik und Moral. Wie alle anderen Künste war auch das Theater stark durch die praktizierten Kunstformen im kirchlichen Rahmen und die bereits dort etablierten ästhetischen Standards definiert und reglementiert. Daher blieben in den Theaterproduktionen moralische Komponenten zentral, die anhand simpler Charakterzeichnung und Symbolismus vermittelt wurden.76 Theater des anti-kolonialen Widerstands Die dritte Phase verläuft während der italienischen Besatzungszeit von 1936 bis 1941 und ist gekennzeichnet durch Formen patriotischen Theaters als Mittel des Widerstands. Nach dem Massaker der Bevölkerung Addis Abebas durch italienische Truppen des faschistischen Mussolini-Regimes, nutzten performative

73 Anm.: Später verfolgte sie eine politische Karriere und ging als Kulturattaché nach Deutschland. (Vgl. Ashagrie, 2012, S. 2 f.) 74 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 2. 75 Vgl. ebd. S. 2. 76 Vgl. Plastow, 1996, S. 54.

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Künstler_innen Äthiopiens (‚azmaris‘) u.a. Theateraufführungen in der Hauptstadt zur massenwirksamen Formierung eines antikolonialen Widerstands. Sie führten kurze, patriotische Stücke oder Tanz- und Musikshows mit nationalistischen Tendenzen auf und riefen durch subtile, metaphorische und allegorische Artikulationen verdeckt zur Verteidigung des Landes auf.77 Die Probenprozesse für solche Inszenierungen waren kurz und entstanden aus der gemeinsamen Stückentwicklung heraus. Künstler_innen strukturierten ad-hoc dramatische Handlungsabläufe um bestimmte Themenblöcke herum.78 Nach dem Rückzug der italienischen Invasoren waren allerdings Musikshows und Poesie-Abende vom äthiopischen Publikum besser besucht als Inszenierungen abendfüllender Dramen. Daher begannen in den 1940er Jahren äthiopische Theatermacher_innen überwiegend Komödien, Satiren, Possen und Schwänke zu produzieren. Die bekanntesten Bühnenautor_innen dieser Zeit waren die Student_innen von Yoftahe Negussie wie Mattewos Bekele, Beshah Tesfamariam, Iyoel Yohannes, Sennedu Gebru und Romanewerk Kassahun.79 Aus den Entwicklungen des patriotischen Theaters der ‚azmaris‘ ging unter Premierminister Mekonnen Endalkechew die nationalistische Theatervereinigung Ye Ager Fikir Mahaber Theatre hervor, welche die erste professionelle Compagnie im Hager Fikir Theater80 wurde.81 Das Hager Fikir Theatre spielt eine entscheidende Rolle im Prozess der Etablierung städtischen Theaters. Die Inszenierungen des Hauses basierten teils auf dramatischen Texten, überwiegend jedoch auf musikalisch begleiteten Improvisationen.82 Im Interview betont Aron Yeshitila, dass Mekonnen Endalkechew insgesamt eine entscheidende Rolle für die Etablierung und die umfangreiche finanzielle Förderung des äthiopischen Theaterbetriebs spielte.83 Das verweist erneut auf die enge Verbindung von Kunst und Politik, was Surafel Wondimu bestätigt, dessen Auffassung zufolge die Produktionen des Hager Fikir Theaters überwiegend der Verbreitung nationalistischer Ideen und dem Zusammenhalt einer imaginären Gemeinschaft diente. Stücke wie „Ethiopian Yikchi Nat“ („This is Ethiopia“)

77 Vgl. Köppen, Grit: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 2; Plastow, 1996, S. 54. 78 Vgl. Kavanagh, 1988, S. 326; Plastow, 1996, S. 55. 79 Vgl. Kavanagh, 1988, S. 326. 80 Anm.: Es bis heute eins der wichtigsten Theater des Landes und es galt lange als Talentschmiede. (Vgl. Milkias, 2011, S. 388) 81 Vgl. Banham, 1994, S. 34. 82 Vgl. Kavanagh, 1988, S. 326. 83 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 16 f.

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oder „Hagerihun Wuded“ („Love our Country“) wurden dort aufgeführt.84 Gesamtgesellschaftlich nahm das Interesse an Theaterinszenierungen stetig zu, so dass die City Hall Company gegründet und das renommierte Haile Selassie I. Theater gebaut wurden, welches später zum Nationaltheater wurde.85 Aboneh Ashagrie zufolge hatten bis in die 1950er Jahre hinein äthiopische Regisseure u.a. das Problem, weibliche Figuren mit Frauen zu besetzen. Daher war es üblich, dass männliche Schauspieler alle weiblichen Rollen zu performen hatten. Als diese zunehmend frustriert und mit der cross-gender-Darstellung unzufrieden waren, drängten sie beim Theatermanagment vehement darauf, Schauspielerinnen zu engagieren. Aufgrund der starken gesellschaftlichen Ressentiments und des Vorbehalts vieler Frauen gegenüber einer Zur-Schaustellung auf der Bühne, hatten die Theaterhäuser das Problem, darstellende Künstlerinnen zu rekrutieren. Daher verfolgten – laut Ashagrie – die Theater verschiedene Strategien; eine davon bestand darin, Prostituierte als Schauspielerinnen zu gewinnen, was u.a. dazu führte, dass nachfolgend viele Frauen am Theater mit dem Vorwurf der Promiskuität konfrontiert blieben.86 Ausdifferenzierung des Theaters: die Aristokratie und die Massen Zwischen den 1940er und 1960er Jahren verläuft die Phase des aristokratischen Sprechtheaters und des Unterhaltungstheaters für die Massen. Diese Zeit ist durch eine Ausdifferenzierung des Kunstfelds und durch mehrere Umbrüche im Theater gekennzeichnet. Bühnenautor_innen verfassten Historiendramen und Tragödien, die um äthiopische Herrscher_innen wie König David III., König Tewodros, Kaiserin Taytu oder um antike Gestalten wie den Herrscher Kaleb oder die Königin von Saba bzw. um patriotische Helden wie den Geistlichen Abune Petros kreisten. Das hat verschiedene Gründe: das Sprechtheater war eine exklusive Kunstform, die sowohl in der Produktion als auch in der Konsumption vorrangig für Angehörige des Adels bestimmt blieb. Die meisten Theaterautor_innen gehörten dieser Elite an und vertraten aristokratische, royale, nationalistische, patriotische, christlich-orthodoxe sowie moralische Werte ihrer Zeit und befürworteten das Feudalsystem, von dem sie direkt profitierten. Sie nutzten Theater als Massenmedium für die Verbreitung ihrer religiösen und politischen

84 Vgl. Wondimu, 2009, S. 24 ff. 85 Vgl. Plastow, 1996, S. 55. 86 Vgl. Ashagrie, 2012, S. 2.

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Haltungen.87 Jedoch erscheinen mir weitere Aspekte diesbezüglich relevant: Die historische Erfahrung des kolonialen Angriffs, der italienischen Besatzung und des Eingriffs in innere Angelegenheiten durch ausländische Berater_innen bewirkten eine nachhaltige Besinnung auf äthiopische Inhalte, Protagonist_innen und Artefakte mit stark nationalistisch-patriotischen Tendenzen. Die Erfahrung des siegreichen antikolonialen Widerstands bestärkte vermutlich äthiopische Künstler_innen darin, patriotisch-nationalistische Haltungen zu betonen. Darüber hinaus erschien es logisch, entweder ausländische Stücke für den äthiopischen Kontext zu adaptieren oder äthiopische Stücke zu produzieren, um das wachsende Publikum vor Ort zufrieden zu stellen. Plastow zufolge war die Verwendung der Kunstformen Tanz und Poesie für nicht-religiöse Belange innerhalb des politisch einflussreichen Klerus sehr verpönt. „Only a theatre which led to meditations on the glory of God and the insignificance of man would be supported by the immensely powerful ecclesiastical establishment.“88 Das nötigte Künstler_innen wiederum dazu, den Einsatz dieser Kunstformen für säkulare Belange damit zu rechtfertigen, sich auf Traditionen, Konventionen und Historien zu berufen und so eine sukzessive Akzeptanz zu bewirken.89 Die beiden erfolgreichsten Bühnenautoren dieser Zeit waren Kebede Mikael und Mekonnen Endalkechew, die hohe politische Funktionen ausübten und in ihrer Freizeit als Künstler tätig waren. Mekonnen Endalkechew war ein Aristokrat, der in orthodox-christlichen Klosterschulen, am Kaiserpalast sowie in staatlichen Schulen Ausbildungen erhielt und orthodox-christliche Psalme, Ge’ez und Poesie (quiné) perfekt beherrschte. Er übte hohe militärische Funktionen aus, erhielt einen der renommiertesten Titel im kaiserlichen Regime (bitwedded), bereiste als Premierminister den Sudan, Ägypten, Jerusalem, Frankreich sowie Indien, lebte zeitweise in Palästina und vertrat mit Überzeugung den Herrschaftsanspruch des äthiopischen Adels. Er schrieb und produzierte in seiner Freizeit Dramen; dazu gehörten v.a. Historiendramen wie „David na Orion“ („David and Orion“), „Taytu Bettul“ („Queen Taytu“), „Yedem Dims“ („Echo of Blood“) und „Salisawi David“ („King David III.“).90 Kebede Mikael war ein äthiopischer Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Philosoph, der besonders zwischen den 1940er und 1960er Jahren großen Einfluss auf die äthiopische Literatur- und Intellektuellenszene ausübte. Er veröf-

87 Vgl. ebd. S. 57 f. 88 Ebd. S. 57. 89 Vgl. ebd. S. 56. 90 Vgl. Plastow, 1996, S. 97; Molvaer, 1997, S. 85-92; Milkias, 2011, S. 390.

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fentlichte 26 Bücher zu Religion, Philosophie, Geschichte und Gesellschaft. Hauptberuflich war Kebede Mikael für das Außenministerium, das Bildungsministerium und die kaiserliche Bibliothek tätig und gründete das Archäologische Museum in Addis Abeba. 91 Auch er schrieb nur in seiner Freizeit Theaterstücke. Er verfasste Übersetzungen von Shakespeares „Romeo and Juliet“ und „Macbeth“ und schrieb Stücke wie „Ato Belaineh“ („Mr. Belaineh“), „Yetinbit Ketero“ („Appointment of Prophecy“) und „Hanibal“ („Hanibal“). Darin fusionierte er poetische Vers- und dramatische Dialogformen und verwendete komplexe Metaphern, die durch seine Kenntnisse in ‚quiné‘ und Ge’ez geprägt waren.92 Plastow und Molvaer betonen, dass für Autoren dieser Zeit eine strikte Differenzierung zwischen den Gattungen Roman, Poesie und Drama irrelevant blieb.93 Molvaer zufolge bleibt teilweise auch die Autorschaft von Dramen unklar, weshalb einige Bühnenautor_innen dieser Generation im Verdacht stehen, Material von Mönchen gekauft und unter ihren Namen publiziert zu haben.94 Diese Künstler_innen definierten sich als Literat_innen und genossen ein hohes gesellschaftliches Prestige. Verbunden mit den auf Sprache basierenden Formen der Tragödie, der Komödie und des Historiendramas war in Äthiopien eine Produktionsweise, die dem Bühnenautor alleinige Entscheidungsgewalt im künstlerischen Prozess zugestand und ihm das Arrangement der Szenen überließ, wodurch dieser in doppelter Funktion agierte.95 Im starken Kontrast zu der sozialen und beruflichen Machtstellung männlicher Theaterautoren kämpften performative Künstler_innen mit gesellschaftlicher Missachtung.96 Davon waren speziell Darstellerinnen betroffen, da Schauspiel als moralisch unvertretbar galt und Frauen am Theater vehement diskriminiert und der Prostitution verdächtigt wur-

91 Anm.: Später wurde Kebede Mikael in der Derg-Zeit verhaftet und verlor seinen gesamten Besitz durch Konfiszierung von Seiten des Staates. Bis zu seinem Tod lebte er geistig umnachtet, verarmt und isoliert. (Vgl. Molvaer, 1997, S. 73-81) 92 Vgl. Milkias, 2011, S. 391; Molvaer, 1997, S. 76; Fantahun, 2015, http://www.ethiop iaobserver.com/2015/05/intellectual-outlook-of-kebede-michael, 25.11.2015. 93 Vgl. Molvaer, 1997, S. 76; Plastow, 1996, S. 56. 94 Vgl. Molvaer, 1997, S. 85. 95 Vgl. Plastow, 1996, S. 59 f. 96 Anm.: Da Frauen nur sehr selten als Autorinnen und Regisseurinnen arbeiteten, sondern meistens als Schauspielerinnen tätig waren, lässt sich eine genderspezifische Aufgabenteilung im äthiopischen Theaterbetrieb feststellen. (Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6) Ausnahmen davon sind die Karrieren der Bühnenautorin Sennedu Gebru in den 1930er Jahren und der Regisseurinnen Jemanish Solomon, Manbere Tadesse und Azeb Worku seit den 1990er Jahren.

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den. Als dennoch Anfang der 1950er Jahre erstmals die Schauspielerin Selamawit Gebre-Sellasie die Figur der Königin von Saba darstellte, erstaunte ihre Darstellung das gesamte Publikum.97 Stücke, die in dieser Zeit im großen City Hall Theater aufgeführt wurden, behandelten thematisch die Invasion Italiens, Loyalität und Patriotismus gegenüber dem äthiopischen Kaiserreich und den politischen Konflikt mit Eritrea oder aber christliche Themen und den Mythos um Solomon und Saba.98 Im Nationaltheater wurden auch Musicals unter der künstlerischen Leitung von Franz Zulvecker, einem österreichischen Dirigenten, produziert.99 100 Plastow machte darauf aufmerksam, dass es sich ab den 1950er Jahren durchsetzte, spezifische Theatergenres für unterschiedliche Publika zu produzieren. Während amharischsprachige Tragödien und Historiendramen von einem ökonomisch und bildungspolitisch privilegierten Publikum rezipiert wurden, amüsierte sich das städtische Massenpublikum in Musicalaufführungen, die meistens improvisiert und physisch orientiert waren.101 Darin ist u.a. eine Hierarchisierung von Genres erkennbar, die daher resultiert, dass körperzentrierte Theaterformen und musikalische Darbietungen für die Massen, aber textzentrierte Theaterformen für die Elite produziert wurden. Phase des reformistischen und experimentellen Theaters Die fünfte Phase des äthiopischen Theaters verläuft zwischen den 1960er und 1970er Jahren und ist durch Reformansätze, künstlerische Experimente und Interdisziplinarität gekennzeichnet. Entsandte Stipendiat_innen des Kaiserreichs kehrten nach Äthiopien zurück. Einige von ihnen waren durch öffentliche Debatten, fachspezifische Diskurse, künstlerische Methoden, ästhetische Strömungen oder durch politische, gesellschaftliche, soziale Normen im Ausland inspiriert und hinterfragten zunehmend die Realität im eigenen Land. Aufgrund des nicht existenten politischen Spielraums im Kaiserreich sahen Reformer_innen eine Chance der gesellschaftlichen Hinterfragung in Bereich der Künste. Darunter be-

97

Vgl. Ashagrie, 2012, S. 4 f.

98

Vgl. Wondimu, 2009, S. 36.

99

Vgl. ebd.

100 Anm.: Die beiden Österreicher Franz Zulvecker und Richard Hager haben im Auftrag Haile Selassies I. das Nationaltheater in der Anfangszeit geleitet, finanziell aufwendige Produktionen erarbeitet und Kostüme aus Europa eingeführt. (Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 116) 101 Vgl. Plastow, 1996, S. 60.

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fanden sich international erfolgreiche bildende Künstler_innen wie Gebre Kristos Desta, Skunder Boghossian oder Abdul Rahim Sharif, die sich mit neuen Formaten, Kunstansätzen und Techniken auseinander setzten, temporäre Studios eröffneten und aktiv an der künstlerischen, genre-übergreifenden RenaissanceWelle der 1960er und 1970er Jahre in Addis Abeba mitwirkten. „All these artists infused a new creating energy […] and through their own work significantly contributed to the cultural renewal taking place in Addis Ababa.“102

Plastow betont, dass es dadurch auch zu einer Verschiebung im Verständnis der Funktion von Theater kam: statt als ein Mittel zur Glorifizierung konzeptionierten etliche Künstler_innen nun das Theater als ein Mittel zur Befragung sozialpolitischer Angelegenheiten.103 Dadurch betonten sie in dieser Phase stärker diskursive statt repräsentative Funktionen der Kunst. Zu den wichtigsten Bühnenautor_innen, Regisseur_innen und Produzent_innen dieser Zeit sind Tsegaye Gebre-Medhin, Abate Mekuria, Tesfaye Gessesse, Mengistu Lemma und Debebe Eshetu zu zählen, welche fortan die äthiopische Theaterszene dominierten.104 Alle gehören nach Bahru Zewdes Typologie der zweiten Generation äthiopischer Intellektueller im 20. Jahrhundert an. Sie unternahmen künstlerische Experimente, erprobten Neuerungen im Theaterbetrieb und übernahmen hohe Positionen unter wechselnden politischen Bedingungen. Dabei nahmen sie auch persönliche Risiken in Kauf.105 Das legendäre ‚Swinging Addis Ababa‘ dieser Zeit begünstigte außerordentliche Produktionen in allen künstlerischen Sparten sowie ein urbanes Lebensgefühl, bei dem ein Teil der großstädtischen Bevölkerung in Jazzclubs ging, Modeschauen besuchte und Theaterinszenierungen genoss. 106 Ein Treffpunkt dieser Kunstszene war das 1963 eröffnete Creative Art Centre auf dem Campus der Addis Abeba Universität, wo experimentelle Produktionen, ästhetische Neuerungen und multimediale Ansätze erprobt wurden. Dort trafen sich äthiopische Maler_innen, Autor_innen, Musiker_innen, Schauspieler_innen und Regisseur_innen für Kooperationen und wagten avantgardistische, multimediale, extravagante Stücke zu spielen.107 Das Creative Art Centre

102 Debela, 2003, S. 118. 103 Vgl. Plastow, 1996, S. 94. 104 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 5, 7. 105 Vgl. Plastow, 1996, S. 99. 106 Vgl. Falceto, 2005, S. 80-115. 107 Vgl. Plastow, 1996, S. 101; Wondimu, 2009, S. 54.

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war die wichtigste Produktions- und Ausbildungsstätte für performative Künste dieser Zeit, wo interdisziplinäre Ansätze erprobt wurden: „Teferi Bizunayehu, Ayalneh Mulat, Abate Mekuria, Wegayehu Nigatu, and Debebe Eshetu, who later rocked the Ethiopian theatre with revolutionary themes, were trainees at the Creative Art Center.“108

Diese Zeit jedoch war durch absolute Ambivalenz gekennzeichnet, denn die Studentenschaft organisierte sich politisch für die Überwindung des kaiserlichen Systems und der größte Teil der Bevölkerung kämpfte fernab der Hauptstadt mit ökonomisch extrem herausfordernden Bedingungen.109 Die Kunsthistorikerin Elisabeth Harney weist darauf hin, dass es diese Zeit war, in der die Künste in Addis Abeba zunehmend rezipiert wurden: „This was the era in which the great early modernist painters and poets flourished. But it was also a time in which the feudal aristocracy, church, local gentry and military owned 70 percent of the land, while 85 percent of the people had to make due with the remaining 30 percent.“110

Die künstlerischen Experimente dieser Phase sind daher auch als Teil einer exklusiven urbanen Lebenssphäre zu verstehen, die bis in die 1970er Jahre nur sehr Wenigen vorbehalten blieb und die im starken Kontrast zu den Realitäten der Mehrheitsbevölkerung stand.111 Der Bekannteste und Einflussreichste unter den Theatermacher_innen dieser goldenen Ära ist Tsegaye Gebre-Medhin, der eine orthodox-christliche Ausbildung von Mönchen und Priestern112 erhielt, über fundierte Kenntnisse in Ge’ez, Poesie (‚quiné‘), kirchlicher Musik (‚zema‘) und Psalmen verfügte und sich spä-

108 Wondimu, 2009, S. 43. 109 Anm.: Aleme Eshete zufolge betrug die landesweite Analphabetenrate zu dieser Zeit ca. 90%. Insofern setzte sich die Theatermacher_innen durch ihren außerordentlichen Bildungshintergrund von der Mehrheit ab. (Vgl. Eshete, 1982, S. 43) 110 Harney, 2003, S. 23. 111 Anm.: Wie Chrsitine Matzke aufzeigte, war es in Asmara – heutiges Eritrea – dieser Jahre dagegen eher üblich, kurze Showformate mit Musik, Sketschen und Tanzeinlagen zu produzieren. (Vgl. Matzke, 2008, S. 68) 112 Anm.: Er wurde u.a. von den Geistlichen Saint Abbo, Aleqa Bisrat und Abba Welde-Mariyam unterrichtet. (Vgl. Molvaer, 1997, S. 271)

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ter für Pantomime zu begeistern begann.113 Aufgrund eines UNESCOStipendiums bereiste Tsegaye Gebre-Medhin Anfang der 1960er Jahre Europa und besuchte diverse Aufführungen u.a. im Royal Court Theatre in London, im Royal Theatre von Windsor, in der Comédie Francaise in Paris und am Tetro dell’ Opera von Rom. Molvaer vermutet, dass Tsegaye Gebre-Medhin bei seinem Aufenthalt in Europa vereinzelt auch mit experimentellen Theateransätzen in Berührung kam.114 Nach seiner Rückkehr war er von 1961 bis 1971 Direktor des äthiopischen Nationaltheaters, gründete dort eine renommierte Theaterschule, reformierte das Theater ästhetisch und organisatorisch und erhielt die höchste literarische Auszeichnung des Selassie-Regimes.115 Er übersetzte „Macbeth“ und „King Lear“ von Shakespeare sowie „Tartuffe“ von Moliére ins Amharische, verfasste eine Adaption von Brechts „Mutter Courage“, verfasste Historiendramen wie „Tewodros“ („Tewodros“) und „Azmari“ („Minstrel“) oder Stücke wie „Ha Hu Besiddist Wer“ („ABC in Six Months“), die sich explizit um die Reflektion politischer Missstände bemühten, aber auch Stücke wie „Collision of Altars“116, in denen interreligiöse Verflechtungen zelebriert werden.117 Tsegaye Gebre-Medhin bewirkte fundamentale Veränderungen für das äthiopische Theater in thematischer, ästhetischer, stilistischer, sprachlicher und bühnenorganisatorischer Hinsicht. Zum einen wandte er sich thematisch von den Belangen der Aristokratie ab und fokussierte Probleme der Bauern und der urbanen Arbeiterschicht. Zum anderen etablierte er neue Perspektiven auf interreligiöse, interethnische und soziale Beziehungsgeflechte. Er experimentierte mit verschiedenen Genres, mit Formen des psychologisch realistischen Dramas118 und des antinaturalistischen Theaters119. Darüber hinaus erweiterte er das ästhetische Spektrum der Bühnenproduktionen enorm, indem er bis dato unbekannte Licht- und Soundeffekte, choreographische und pantomimische Darstellungselemente, visuell prägnante Tableaus, Sprech- und Bewegungschöre sowie unterschiedliche Kostümstile in seine Inszenierungen integrierte. Teilweise bezog er sich ästhe-

113 Vgl. Molvaer, 1997, S. 271; Edemariam/Edemariam, 2006. http://www.theguardian. com/news/2006/may/03/guardianobituaries.booksobituaries, 25.11.2015. 114 Vgl. Molvaer, 1997, S. 272. 115 Vgl. Molvaer, 1997, S. 273; Edemariam/Edemariam, 2006. http://www.theguardian. com/news/2006/may/03/guardianobituaries.booksobituaries, 25.11.2015. 116 Gabre-Medhin, 2002a, S. 178-241. 117 Vgl. Wondimu, 2009, S. 44; Edemariam/Edemariam, 2006. http://www.theguardian. com/news/2006/may/03/guardianobituaries.booksobituaries, 25.11.2015. 118 Vgl. Plastow, 2002, S. 579. 119 Vgl. Jeyifo, 2002, S. 577.

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tisch auf das totale Theater im Sinne des Wagnerischen ‚Gesamtkunstwerks‘ basierend auf der Idee der Enthierarchisierung und Synthetisierung aller theatralen Mittel.120 Somit verstand Tsegaye Gebre-Medhin auch dramatische Handlungsentwicklung und Dialogizität nur als Teilaspekte des Theaters.121 Anhand der präzisen Regieanweisungen in Tsegaye Gebre-Medhins eigenen Stücken kann man seinen visuell, ästhetisch experimentell und sinnlich geprägten Zugang zum Medium Theater nachvollziehen.122 Er wurde von Biodun Jeyifo als einer der wichtigsten, politisch bewussten, ästhetisch vielseitig experimentierenden und sozialvisionären Dramatiker Afrikas bezeichnet123 und Jane Plastow sagte über diesen Theatermacher „[…] it was Tsegaye Gabre-Medhin who was to become Ethiopia’s most prolific and famous playwright, and the most powerful dramaturge in the country.“124 Ebenfalls in den 1960er Jahren gewann der in den USA ausgebildete Regisseur und Schauspieler Tesfaye Gessesse an Reputation.125 Als Regisseur realisierte er Inszenierungen von Tsegaye Gebre-Medhins Stück „Oda Oak Oracle“, Mengistu Lemmas „Yallacha Gabicha“ („Marriage of Unequals“) und Kebede Mikaels Adaption von Shakspeares „Romeo na Juliet“ („Romeo and Juliet“). Tesfaye Gessesse inszenierte auch Stücke des absurden Theaters wie „Rhinoceros“ von Ionesco, „Who is Afraid of Virginia Woolf“ von Albee und „Waiting for Godot“ von Beckett. Häufig führte er diese Stücke am Creative Art Centre der Universität auf, wo englisch-sprachige Stücke zu sehen waren, die von der Studentenschaft massiv besucht wurden.126 Tesfaye Gessesse experimentierte dort mit surrealen Traumsequenzen, psychologisch-realistischem Theater, Elementen des absurden Theaters, der Zertrümmerung von Sprache in Soundeffekte

120 Vgl. Gabre-Medhin, 2002b, S. 571; Jeyifo, 2002, S. 578. 121 Vgl. Jeyifo, 2002, S. 578. 122 Anm.: Der bekannte Literaturkritiker Asfaw Damte kritisierte Tsegaye GebreMedhin, Mengistu Lemma, Daniashaw Worku und Andere für den Gebrauch der englischen Sprache. (Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S.10) 123 Vgl. Jeyifo, 2002, S. 574 f., 577 f. 124 Plastow 2002, S. 579. 125 Anm.: Sowohl Tsegaye Gebre-Medhin als auch Tesfaye Gessesse setzten sich in den 1960er Jahren für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Bezahlungen von Künstler_innen am Theater ein. (Vgl. Plastow, 1996, S. 103; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 2) 126 Vgl. Molvaer, 1997, S. 234; Plastow, 1996, S. 99 ff.

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etc.127 Darüber hinaus schrieb er eigene Stücke, die gesellschaftliche Phänomene wie Armut, Unterdrückung und Orientierungslosigkeit sozialkritisch beleuchteten und existentielle Problemlagen von marginalisierten Gruppen thematisierten. Aufsehen erregte er u.a. mit seinem Stück „Yeshi“ („Yeshi“), das die Prostitution als urbanes Massenphänomen behandelt. Außerdem verfasste der Dramatiker Mengistu Lemma, der in London und Delhi der 1950er eine Leidenschaft für das Theater entwickelte, in dieser Phase mehrere amharischsprachige Komödien, die sich sozialkritisch mit Liebes- und Familienbeziehungen auseinander setzten.128 Neben den ästhetischen oder stilistischen Neuerungen, die bereits Herausforderungen sowohl für das Publikum als auch für die Zensurbehörde darstellten, versuchten äthiopische Theatermacher_innen eine kritische Haltung gegenüber dem Status quo zu transportieren und Forderungen nach sozialen, politischen und wirtschaftlichen Reformen mittels Kunst zu artikulieren. Dabei waren sie mit zwei Regulativen konfrontiert: staatliche Zensur und Selbstzensur. Es war schwierig für Künstler_innen einzuschätzen, welche Produktionen abgesetzt und welche aufgeführt werden konnten. Indem die kaiserliche Regierung die Maßstäbe diffus hielt, war die Zensur sehr wirksam.129 130 Phase des realsozialistischen und propagandistischen Theaters Die sechste Phase des äthiopischen Theaters verlief während der Machtausübung der Derg-Regierung unter Mengistu Haile Mariam von 1974 bis 1990 und bewirkte einen tiefen Bruch im künstlerischen Schaffen und in der Theatergeschichte Äthiopiens. Sie kann als Phase des realsozialistischen Theaters bezeichnet werden, in der vorwiegend Agitations-Propaganda-Stücke über Lebenssituationen von Fabrikarbeiter_innen, Bäuer_innen, Markthändler_innen oder historischen Kriegsheld_innen aufgeführt wurden.131 In dieser Zeit entstanden auch

127 Vgl. Molvaer, 1997, S. 236. 128 Vgl. Kane, 1975, S. 21. 129 Vgl. Plastow, 1996, S. 100 f. 130 Anm.: Plastow zufolge verstand sich Selassie I. als diplomatischer und subtiler Re-

gent, der künstlerische Qualitäten gegenüber politischen Konnotationen als relevanter einstufte. Anderseits ließ er auch Stücke absetzen und Kunstschaffende sanktionieren. (Vgl. Plastow, 1996, S. 101) 131 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 12; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 3; Debela, 2003, S. 119; Harney, 2003, S. 52; Assegued, 2011, S. 165.

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vermehrt Repräsentationen, in denen Frauen als Symbolfiguren für Revolution und Mutterland fungierten.132 Unmittelbar nach dem politischen Machtwechsel führten Künstler_innen wie Tsegaye Gebre-Medhin133, Abate Mekuria, Mengistu Lemma und Tesfaye Gessesse, die im Kaiserreich zu Ruhm gelangten, nun Stücke auf, die u.a. die Korruption, die Hungersnot, den Geheimpolizeiapparat und die Klassendifferenz im feudalen System der Kaiserzeit kritisch thematisierten sowie Held_innen der Studentenbewegung feierten.134 Surafel Wondimu zufolge wurde das Theater in dieser Zeit dazu genutzt, Haltungen gegenüber der politischen Vergangenheit im Kaiserreich auszustellen: „[…] many plays were staged just to condemn the past regime.“135 Etablierte Künstler_innen, die während des Kaiserreichs feudalistische Werte mittels Theater transferierten, vertraten nun teils radikal marxistische Ideen136, die jedoch nicht immer regierungskonform waren. Dazu sind u.a. Stücke wie „Iqaw“ („The Object“) von Tesfaye Gessesse sowie „Tsere Colonialist“ („Anti-Colonialist“) und „Shumiya“ („Office Scrumble“) von Mengistu Lemma zu zählen. Obwohl die personelle Kontinuität auffällig ist, etablierten sich nach dem politischen Machtwchsel auch neue Regisseur_innen wie z.B. Ayalneh Mulat, der in Moskau als Journalist ausgebildet wurde und nach seiner Rückkehr in den 1970er Jahren die Derg-Regierung mit mehreren pro-revolutionären, agitatorisch-propagandistischen Stücken unterstützte. Gleich zu Beginn des politischen Umbruchs inszenierte Ayalneh Mulat seine Stücke „Isat Sined“ („When Fire Is Burning“) und „Shater Beyeferju“ („Sabotage at Every Level“).137 In seiner Inszenierungspraxis war er durch die Ästhetik Brechts beeinflusst. Er arbeitete auf der Bühne gegen den Stil illusionistisch-naturalistischen Theaters an mittels Kontrastierung theatraler Mittel, Verfremdungseffekten, Sprechchören und Re-

132 Vgl. Teklemichael, 2009, S. 39. 133 Anm.: Tsegaye Gebre-Medhin ermöglichte als Manager des Nationaltheaters den heimgekehrten Theatermachern Abate Mekuria, Haimanot Alemu, Getachew Abdi und Sahalu Assefa, ihre eigenen Stücke am Haus zu produzieren. (Vgl. Plastow, 1996, S. 151) Er selbst arbeitete fast ausschließlich mit Abate Mekuria zusammen. (Vgl. Köppen, Grit: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4) 134 Vgl. Wondimu, 2009, S. 55. 135 Ebd. S. 57. 136 Vgl. ebd. S. 55. 137 Anm.: Später arbeitete Ayalneh Mulat als Leiter des Creative Art Centre und schließlich als Berater in der Kulturkommission der stalinistischen Derg-Regierung. (Vgl. Banham, 1994, S. 69)

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duktion des Bühnenraums auf handlungsrelevante Objekte.138 Interessanterweise produzierte Ayalneh Mulat trotz seiner marxistischen Überzeugung 1975 – zu Beginn des roten Terrors139 – auch Stücke wie „Shater Beyeferju“ („Sabotage at Different Levels“), die die Militärregierung des Dergs explizit kritisierte und die Machtübernahme des Proletariats befürwortete, woraufhin er für sechs Monate verhaftet wurde und sich die Gefängniszelle mit dem renommierten Theatermacher Tsegaye Gebre-Medhin teilte.140 Die Derg-Regierung erlaubte in den ersten Jahren ihrer Machtausübung zwischen 1974 und 1977 teils die Produktion von Stücken, die Ideen der Opposition transportierten, da sie selbst Allianzen mit diesen Gruppen unterhielt.141 Doch der politische Druck auf performative Künstler_innen, Bühennautor_innen und Theatermanager_innen nahm bereits ab 1975 stetig zu.142 Artikulations- und Spielräume waren für alle Künstler_innen schwer kalkulierbar und konnten bei Fehleinschätzung gravierende Folgen nach sich ziehen. Ein weiteres Beispiel dafür ist das von Tesfaye Gessesse 1975 am Hager Fikir Theater produzierte Stück „Iqaw“ („The Object“), welches mit absurden Elementen experimentell angelegt und politisch sehr gewagt war, weil die Insze-

138 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 5; Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 121. 139 Anm.: Als ‚roter Terror‘ werden die Jahre zwischen 1975-1978 bezeichnet, als die Militärregierung gegen andere linke Gruppierungen, aber auch gegen separatistische Rebellengruppen sowie pro-monarchistische Gruppen brutal vorging und sogenannte Kontra-Revolutionäre eliminierte. Als ‚weißer Terror‘ werden die Aktionen der Oppositionsgruppen wie EPRP oder Mei’son bezeichnet , die mit Guerilla-Taktiken gegen die Regierung kämpften, um selbst an die Macht zu kommen. 140 Vgl. Wondimu, 2009, S. 56; Edemariam//Edemariam, 2006: http://www.theguar dian.com/news/2006/may/03/guardianobituaries.booksobituaries, 16.12.2015. 141 Vgl. Wondimu, 2009, S. 62. 142 Anm.: Während Tesfaye Gessesse im Gefängnis saß, wurde Tsegaye Gebre-Medhin damit beauftragt, geeignete Theatermanager für das Hager Fikir Theater zu benennen und entschied sich für seine Protegés Getachew Abdi und Sahalu Assefa, die Tesfaye Gessesses Posten dort übernahmen. Nachdem dieser aus der Haft entlassen wurde, positionierte die Derg-Regierung ihn jedoch auf den Posten von Tsegaye Gebre-Medhin im Nationaltheater. Tsegaye Gebre-Medhin wurde zunächst für 3 Monate verhaftet und erhielt direkt anschließend einen Posten im Ministerium für Kultur. (Vgl. Plastow, 1996, S. 153 f.) Diese kulturpolitischen Entscheidungen der Derg-Regierung erscheinen undurchschaubar, zeugen jedoch von Willkür und Unberechenbarkeit gegenüber den Kunstschaffenden.

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nierung den staatlichen Terror der Zeit in Frage stellte.143 Nachdem die DergRegierung die inszenatorische Umsetzung als konterrevolutionär einstufte, musste auch dieser renommierte Künstler für sechs Monate in Haft.144 Ästhetische Neuerungen und experimentelle Repräsentationen, die nicht umgehend verständlich und massentauglich erschienen, konnten Kunstschaffende in Verruf, Erklärungsnot und Bedrängnis bringen. Daraus ergab sich auch eine strikte Limitierung hinsichtlich der Ästhetik.145 In diesem politischen Klima wurden überwiegend Stücke aufgeführt, die einfache Strukturen, eindeutige Themen und bildhafte Held_innen, simple Handlungsabläufe und flache Charakterzeichnungen aufwiesen sowie realsozialistischer Ästhetik entsprachen.146 Ein Beispiel dafür ist das Stück „Tiglachin“ („Our Struggle“), das der in den USA ausgebildete Regisseur Haimanot Alemu nach seiner Rückkehr inszenierte, welches als erstes äthiopisches Stück beim Black Arts Festival in Nigeria aufgeführt wurde.147 Die kulturpolitischen Kriterien dieser Zeit beschreibt Tesfaye Gessesse im Interview wie folgt aus: „The script should have passed the censorship first. So it needed to be pro-revolutionary, anti-reactionary and so on.“148 Eine der extremsten Erfahrungen und folgenreichsten Theateraufführungen dieser Phase muss die Inszenierung „Tehadiso“ („Renaissance“) von Tesfaye Gessesse gewesen sein, die er 1979 auf Befehl der Derg-Regierung erarbeite.149 Während der Zeit des weißen und roten Terrors in Äthiopien und der schweren Auseinandersetzungen zwischen der Derg-Regierung und den oppositionellen Bewegungen EPRP und Mei’son150 wurden Zuschauer_innen während der Theateraufführung von „Tehadiso“ („Renaissance“) aufgefordert, sich als Mitglieder

143 Vgl. Plastow, 1996, S. 149; Plastow, 2004a, S. 200. 144 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1; Milkias, 2011, S. 388. 145 Anm.: „Here, one must remember that political theatre in Ethiopia has generally meant drama exclusively, rather than the wider range of performance arts.“ (Plastow, 1996, S. 148) 146 Anm.: Der Theatermacher Tesfaye Gessesse setzte die kulturpolitische Ausrichtung der Derg-Regierung mit denen Russlands unter Stalin und Chinas unter Mao gleich. (Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1) 147 Vgl. Fantahun, 2014, http://www.ethiopiaobserver.com/2014/09/ethiopian-actorand-producer-haimanot-alemu-dies/, 25.11.2015. 148 Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 2. 149 Vgl. Wondimu, 2009, S. 57 f. 150 Anm.: Zur Revolutionsgeschichte Äthiopiens und zur Geschichte des roten Terrors (Vgl. Zewde, 1991, S. 228-269; Zewde, 2009, S. 17-32)

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der Opposition erkenntlich zu zeigen und wurden sofort zur Exekution abgeführt: „Amid the performance, an actor from the stage would call names from a list he holds and actors seated among the audience started to come out confessing their crime against the revolution […]. The stage performer then persuades the audience to expose themselves before he calls their names. People from the audience used to come out falling for the trick and used to be led to the backstage where they would be interrogated by security persons. At the tour to Gondar, people who revealed themselves in the middle of the play were led to their execution.“151

Diese Beschreibung Aron Yeshitilas verdeutlicht eine Extremsituation, jedoch zeigt sie auch, wie stark das Theater in den 1970er und 1980er Jahren in Äthiopien politisiert war, was von Surafel Wondimus Forschung bestätigt wird.152 Er macht darauf aufmerksam, dass ab 1977 Theateraufführungen widerholend von Polizei und Militär gestürmt wurden, um die Ausweise der Zuschauer_innen zu kontrollieren und Anhänger_innen der EPRP zu identifizieren, weil diese u.a. Theaterhäuser und Kinos als geheime Treffpunkte nutzten, während sie bereits im Untergrund lebten. Außerdem standen viele Theatermacher_innen im Verdacht, ebenfalls die EPRP zu unterstützen.153 „Such situations show that theatre was one of the battle grounds of the political rivalry groups of the 1970’s.“154 Surafel Wondimu zufolge patroullierte phasenweise sogar das Militär in den Theaterhäusern.155 Es war weder die politische Position von Kunstschaffenden für die jeweilige Regierung einschätzbar, da Theatermacher wie Tesfeaye Gessesse, Ayalneh Mulat oder Tsegaye Gebre-Medhin sowohl sehr kritische als auch propagandistische Stücke gleichermaßen produzierten, noch war die Reaktion der Regierung kalkulierbar, die Theatermacher willkürlich inhaftierte und sie anschließend für kulturpolitisch zentrale Posten einsetzte. Jede künstlerische Artikulation wurde unter dem Derg-Regime streng definiert, ästhetisch limitiert, politisch diktiert, kontrolliert und bis zum Äußersten für politische und explizit propagandistische Interessen der sozialistischen Partei

151 Yeshitila, 2010b, http://arefe.wordpress.com/2010/05/06/ethiopian-theatre-at-a-glim pse, 30.09.2012. 152 Vgl. Wondimu, 2009, S. 63. 153 Vgl. ebd. S. 63, 67. 154 Ebd. S. 63. 155 Vgl. ebd. S. 63.

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instrumentalisiert. Das wiederum ging mit Zensur, Selbstzensur, Denunziation und Verhaftung von Künstler_innen aufgrund von inhaltlichen oder ästhetischen Belangen ihrer Werke einher. Wondimu zufolge wurden Künstler_innen von der Derg-Regierung entweder durch direkte Befehle genötigt oder durch lukrative Aufträge überzeugt, propagandistische Stücke zu produzieren.156 Darauf machte auch der Kunsthistoriker Abebew Ayelew im Interview aufmerksam: „Important people of the regime handpicked some important artists, who have the ability and the genius to do several things. They made them working for the government.“157

Nur sehr wenige Künstler_innen wie Mengistu Lemma widersetzten sich den politischen Machthabern.158 Einige Theatermacher_innen gingen ein hohes Risiko ein, sofern sie das Medium Kunst nutzten, um allegorisch auf die politischen Missstände der Diktatur aufmerksam zu machen. So produzierte z.B. Melaku Ashagre das Stück „Babur“ („The Train“), in dem es um einen Zug geht, den Tausende verlassen, so dass am Ende nur noch der Fahrer übrig bleibt.159 Sehr viele äthiopische Künstler_innen verließen das Land, weil aufgrund der absoluten Äußerungs-, Artikulations- und Ausdrucksbegrenzungen ihr Beruf ad absurdum geführt wurde und sie bei möglichem Verstoß mit Strafverfolgung oder Tod rechnen mussten.160 Indem jede künstlerische Produktion streng überwacht, nach Belieben von staatlichen Autoritäten zensiert und Künstler_innen sanktioniert werden konnten, baute sich ein enormer politischer Druck auf alle tätigen Künstler_innen auf. Achamyeleh Debela schildert das wie folgt: „[…] psychological and political attack aimed at some of the prominent artists whose work did not conform to revolutionary principles of artistic and creative value.“161

Im Kontrast dazu unternahm die Derg-Regierung Mengistu Haile Mariams aber auch erhebliche Strukturförderungen, da sie das Theater als ein effektives Massenmedium für eigene ideologisch-propagandistische Ziele einschätzte. Die Regierung etablierte ein Kulturministerium unter Tesfaye Shewaye mit einer staatlichen Zensurbehörde und rief ein Amateurkunstprogramm ins Leben, welches

156 Vgl. ebd. S. 58, 75, 79. 157 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 4. 158 Vgl. Wondimu, 2009, S. 58, 75, 79. 159 Vgl. ebd. S. 79. 160 Vgl. Assegued, 2011, S. 166; Adejumobi, 2007, S. 132. 161 Debela, 2003, S. 121.

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unzählige Tanz- und Theatertruppen hervorbrachte, die in separaten Wohnbezirken unter Leitung von professionellen Künstler_innen organisiert arbeiteten.162 Über das ganze Land verteilt wurden Amateur-Theatergruppen gegründet, Bauern und Arbeiter_innen dazu animiert, ihre sozio-ökonomischen Bedingungen mittels Theater zu reflektieren und das Theater als Mittel der politischen Erziehung der Massen eingesetzt.163 Dieses staatliche Kunstprogramm war ambivalent. Einerseits gingen aus diesen Talentschmieden etliche Künstler_innen hervor, die später in staatlichen Theatern erfolgreich als Schauspieler_innen, Tänzer_innen oder Musiker_innen arbeiteten.164 Andererseits konnten Probenprozesse und Inszenierungen in kleineren Städten genauer beobachtet und kontrolliert werden, was die Zensurmaßnahmen aufgrund dieses Organigramms noch wirksamer machte. Entscheidendes Credo war es, kurze, simple und propagandistische Stücke oder musikalisch-tänzerische Darstellungen an Nationalfeiertagen aufzuführen.165 166 Außerdem eröffnete die Regierung neue Theaterhäuser wie das City Hall Theater im Stadtzentrum und das Ras Theater in Mercato. In Interviews betonten die Gesprächspartner_innen, dass Theateraufführungen in dieser Phase massenhaft besucht waren, was jedoch auch damit zusammenhängen kann, dass die Auseinandersetzung mit Inhalten ausländischer Medien strikt verboten war, in den Theatern agitatorische Stücke inszeniert wurden und Personen sich politisch verdächtig machen konnten, wenn sie diese Stücke nicht rezipierten.167 Auch Surafel Wondimu betont, dass die Zuschauerzahlen in den Theatern während der Derg-Zeit eskalierten und führt es auf die in Regierungsinstitutionen etablierten Gesprächszirkel zurück, in denen u.a. über Kunst und Theater debattiert wurde.168 Insofern gab es in dieser Phase regelrecht einen Zwang, Theater zu besuchen. Jedoch weist Paulos Milkias diesbezüglich auf ein weiteres Paradoxon hin: Etliche Zuschauer_innen erhofften bei Theaterbesuchen

162 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1; Milkias, 2011, S. 388; Wondimu, 2009, S. 57. 163 Vgl. Ashagrie, 1996, 32-42. 164 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1 f. 165 Vgl. Plastow, 1996, S. 214 f. 166 Anm.: Diese Art der Repräsentationen eines befriedeten Vielvölkerstaates mittels Ausstellung von kulturellen Artefakten diverser Gesellschaften ist bis heute omnipräsent. 167 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1 f.; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 12. 168 Vgl. Wondimu, 2009, S. 60.

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auch, dass Künstler_innen durch subtil und subversiv angelegte Sprachprinzipien des ‚semna werq‘ (‚wax and gold‘) und durch Poesie (‚quiné‘) alternative Sichtweisen zum dominanten politischen Kurs transportieren könnten.169 Aber als 1983 das Kulturministerium die alleinige Macht erhielt, zu entscheiden, welche Stücke an staatlichen Theatern inszeniert werden sollten, spitzte sich die Situation weiter zu.170 Es wurden vorrangig Stücke aufgeführt, in denen soziale Belange, Liebesbeziehungen oder historische Erfahrungen verarbeitet wurden. Außerdem etablierte sich eine Kunstform namens ‚zikre tibeb‘ – ein Showformat, bestehend aus Musik, Tanz, Rezitation, kurzen Sketchen und animierter Moderation, bei denen Künstler_innen unabhängig ihrer Profession sowohl schauspielen und tanzen als auch singen und musizieren können mussten.171 Die Zensurpraxis des Ministeriums für Information wurde noch strenger und weitgefächerter, umfasste neben der thematischen und sprachlichen auch die ästhetischen Dimensionen der Stücke, was u.a. dazu führte, dass selbst bekannte Regieveteranen ab 1985 gar keine Stücke mehr produzierten.172 Das kann u.a. darauf zurückzuführen sein, dass Proben- und Produktionsprozesse innerhalb des Theaterbetriebs von regierungstreuen Künstler_innen beobachtet und teils sogar sanktioniert wurden. „[ …] theatres were not only places where knowledge was produced through theatrical productions, but also coercion […] Armed artists who worked with different political organizations […] were powerful who had license to imprison and kill anybody whenever they felt like it. Two musicians were especially known for this.“173

Einige professionell ausgebildete Theatermacher_innen wie Teferi Bizunayehu und Sibihat Tessema sind nach Verhaftungen und Einschüchterungen ins Ausland geflohen.174 Die renommiertesten Künstler_innen wagten keinerlei Artikulationen mehr und verweigerten mehrere Jahre die produktive Ausübung ihres Berufs. Diese Haltungen waren Reaktionen auf den stark politisierten Arbeitskontext der performativen Kunst. Das gravierende Problem staatlicher Zensur führte bei äthiopischen Künstler_innen zu radikalen Formen der Selbstzensur und des inneren Exils, die bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben.

169 Vgl. Milkias, 2011, S. 388. 170 Vgl. Plastow, 1996, S. 160; Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 116 171 Vgl. Wondimu, 2009, 68 f. 172 Vgl. Plastow, 1996, S. 224 f. 173 Wondimu, 2009, S. 73. 174 Vgl. ebd. S. 71 f.

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In den 1980er und 1990er Jahren gewannen junge Regisseur_innen wie Getachew Abdi, Fisseha Belaye-Mariam, Asterdkatchew Yehun, Manyazwal Endeshaw und Nebiyou Mekonnen zeitweilig an Einfluss, von denen einige in Russland, Nordkorea oder in der DDR Theaterkunst erlernten, die realsozialistischen Kunstansprüchen genügte.175 176 Diese Kunstansätze üben Aron Yeshitila zufolge bis heute einen Einfluss auf das aktuelle Theatergeschehen Äthiopiens aus.177 Diese aktuelle Phase ordne ich der Periode des post-sozialistischen Theaters zu und werde gesondert darauf im Kapitel 6 über zeitgenössisches Theater in Äthiopien eingehen.

F AZIT Aufgrund des kunst- und theaterhistorischen Kontexts sind spezifische Merkmale erkennbar, die Einfluss sowohl auf die eigene Praxis und den Arbeitskontext zeitgenössischer performativer Künstler_innen Äthiopiens haben und das Spannungsfeld, in dem sie agieren, wesentlich mitbestimmen. Indirekt beeinflussen einige dieser Faktoren auch die Zusammenarbeit von äthiopischen Künstler_innen und dem Goethe-Institut. Eine ambivalente Situation ergab sich für die äthiopischen Theatermacher_innen, die eine Berufsausbildung im Ausland absolvierten. Sie waren wenige, gehörten zum engen Zirkel der Macht und befanden sich in paradoxen Grenzlagen: sie repräsentierten die politischen Ideologien der Machthabenden, aber erprobten auch die Möglichkeiten der verdeckten Kritik mittels Kunst und verfeinerten dadurch Methoden der sprachlichen Subtilität und Ambiguität. Aufgrund ihrer Professionalisierung erhielten sie Prestige, doch befanden sich als Pioniere relativ isoliert in einem überschaubaren Arbeitsfeld. Das bedeutete, dass fachspezifische Austauschmöglichkeiten, das Wachstum lokaler Arbeitsnetzwerke sowie das Etablieren eines Fachdiskurses begrenzt blieben, die konzeptuelle Differenzierung von Kunstansätzen kaum für notwendig erachtet wurde und dennoch in diesem eng begrenzten Arbeitsfeld Profilierungen schnell möglich waren. Ausgebildete Theatermacher_innen erhoben aufgrund ihrer Auslands-

175 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 5; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1, 3. 176 Anm.: Aboneh Ashagrie und Haimanot Alemu bildeten eine Ausnahme, denn sie wurden in den USA ausgebildet. (Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 9) 177 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 9.

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erfahrungen Anspruch auf hohe Posten im Theaterbetrieb. So konnten sie Theaterstrukturen teils beeinflussen, aber verfügten nur bedingt über Gestaltungsfreiheiten, da die Theater staatlich kontrolliert blieben. Und sie nutzten ihre Macht dazu, Hierarchien durchzusetzen, an deren Spitze sie selbst über Jahrzehnte agierten. Dadurch entstanden für junge Künstler_innen Herausforderungen in den Arbeitsbedingungen wie hierarchische Strukturen in den Theaterhäusern. Durch die Stigmatisierung der ‚azmaris‘ erwuchs eine ambivalente Haltung gegenüber performativen Künstler_innen, die sich bis heute in gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber ihrem Berufsstand fortsetzt. Kunstgeschichtlich erhielten Bühnenautor_innen und Regisseur_innen eine privilegierte Stellung, bessere Bezahlung und künstlerische Entscheidungsmacht. Dem gegenüber ergab sich eine niedrige Stellung performativer Künstler_innen, die Ideen nur operativ ausführten, ohne maßgeblich den Arbeitsprozess mitbestimmen zu können. Diese Praxis verweist auf einen hierarchisierten Produktionsprozess, in dem performative Künstler_innen häufig detaillierte Spielanweisungen von Regisseur_innen erhielten und selten Einfluss auf den Arbeitsprozess nahmen. Solche arbeitsteiligen Konventionen können Herausforderungen im künstlerischen Produktionsprozess darstellen, sofern mit egalitären Strukturen die Arbeitsmethode der kollektiven Stückentwicklung umzusetzen beabsichtigt wird. Im kunstgeschichtlichen Kontext Äthiopiens entwickelten sich spezifische, ästhetische Präferenzen wie: Hierarchisierung von Theatermitteln mit Fokus auf Theater als Textproduktion (Drama), Bevorzugung spezifischer Theatergenre wie Komödien, Melodramen und Historiendramen gegenüber Musicals und Körpertheater, Prinzip der Mimesis, Vermittlung von Moral durch Symbolisierung, Dominanz der Sprache als zentrales Theatermittel mit Fokus auf Verwendung von Poesie (‚quiné‘), Liturgiesprache (Ge’ez) und polyvalenter Metaphorik (‚semna werq‘). In der Vergangenheit konnten Künstler_innen eine gesellschaftliche Anerkennung fast ausschließlich durch die ästhetischen Praxen der Rhetorik, Metaphorik, Poesie, Allegorie, dem Prinzip des ‚semna werq‘, der sprachlichen Subtilität und Ambiguität, Verwendung der Liturgiesprache Ge’ez und Verfeinerung des Amharischen gewinnen. Daraus ergaben sich eine Wertschätzung gegenüber der Sprache und eine Abwertung gegenüber der Bewegungs- und Körperkunst sowie die Hierarchisierung theatraler Kunstformen. Insofern wurden performative Handlungen dem Diktat der Textzentrierung untergeordnet und Kunstformen hierarchisiert. Damit sind besonders zeitgenössische Künstler_innen der Sparten Tanz und Performance Art konfrontiert, die ihre Professionen zu erklären und rechtfertigen versuchen oder Abstraktionen vermeiden und dramatische Handlungsstränge als wichtige Dominante für notwendig erachten, um dem Publikum

5. K UNSTHISTORISCHER K ONTEXT

IN

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inhaltliche Orientierungen zu ermöglichen. Insofern stellen z.B. Montage und Collagetechniken von Inszenierungen, die Fokussierung auf non-verbale Mittel und die Abkehr einer narrativen Handlungslogik potentielle Herausforderungen auf ästhetischer Ebene der Produktionen dar. Staatliche Zensur künstlerischer Arbeiten war ein entscheidendes Strukturmerkmal äthiopischer Kunstgeschichte, welches Normierungen erzwang und unterschiedliche Formen der Selbstzensur bei Künstler_innen erzeugte. Von den Erfahrungen eines in den künstlerischen Artikulationsraum eingreifenden Staates sind viele Künstler_innen nach wie vor geprägt, was dazu führen kann, dass bestimmte Themen wie Religion, Politik, Sexualität, aber auch ästhetische Strategien, wie der Einsatz von Schock oder Ekel in öffentlichen Aufführungen, als tabu erachtet werden. Darüber hinaus werden ästhetische Brüche, Dekonstruktionen etablierter Formen und plakative Grenzüberschreitung vermieden, weil durch eine diffus gehaltene Zensur Grenzen oft nicht eindeutig klar sind, im überschaubaren Arbeitsumfeld solche Positionierungen als Affront gewertet werden können und die Kunst der subtilen Artikulation hoch geschätzt wird. Für eine Zusammenarbeit in Kunstprojekten kann das aber auch heißen, dass auf kommunikativer Ebene direkte Auseinandersetzungen entweder vermieden oder Kritik mittels indirekter Kommunikationsstrategien geäußert wird. Auf künstlerischer Ebene kann es bedeuten, dass Themenvorschläge von ausländischen Personen für den Kontext vor Ort als tabu, grenzüberschreitend und unangemessen erachtet werden. Für eine Zusammenarbeit bei Kunstprojekten ergeben sich potentiell spezifische Herausforderungen beim Produzieren non-verbaler Theaterformen wie den Sparten des Körper- und Bewegungstheaters, des Tanzes und der Performances Art. Ein Verzicht auf komödiantische Mittel sowie auf nationalistischpatriotische Elemente in der Darstellung, die Abkehr von narrativen Handlungssträngen und naturalistischen Repräsentationen sowie inhaltliche Grenzüberschreitungen zu Themen wie Politik oder Religion stellen spezifische Herausforderungen dar, denn sie können als Brüche zu kunstgeschichtlich etablierten Normierungen und Paradigmen erscheinen. Eine grundlegende Herausforderung in der Zusammenarbeit zwischen äthiopischen Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts liegt in der Übersetzung und Verhandlung ästhetischer Maßstäbe und künstlerischer Arbeitsansätze, die aus differenten Kunstdiskursen herrühren.

6. Zeitgenössisches Theater in Äthiopien

Aufgrund des dargelegten kunst- und theaterhistorischen Kontexts ergaben sich auch strukturelle Besonderheiten hinsichtlich des institutionellen Theaterbetriebs und der Produktionsbedingungen für performative Künstler_innen aus Äthiopien sowie künstlerisch-ästhetische Charakteristika des zeitgenössischen Theaters in Äthiopien, die wiederum den Arbeitskontext der Kunstschaffenden vor Ort maßgeblich prägen. Wie ich in Kapitel 2 bereits darlegte, wird in der Debatte um ‚interkulturelles‘ Theater der Gegenstand zwar als hochgradig politisch aufgefasst, jedoch in der bisherigen Forschung die Reflektion der (kultur-)politischen, institutionellen, ökonomischen, materiellen und strukturellen Bedingungen, in denen Kunst- und Kulturschaffende vor Ort arbeiten, weitestgehend ausgeblendet. Auf diese Forschungsdesiderate haben Bharucha, Pavis und Regus explizit hingewiesen.1 Damit wird jedoch nicht nur die spezifische Position westlicher Kulturinstitute im Feld der Kunst vor Ort und der ihnen kulturpolitisch gewährte Freiraum im Verhältnis zu lokalen Kulturinstitutionen verkannt, sondern grundsätzlich auch die unterschiedlichen Voraussetzungen von Kunstschaffenden basierend auf ihren jeweiligen Arbeitsbedingungen ignoriert. Es ist besonders diese strukturelle Differenz in der Kunstproduktion, die dazu führt, dass tendenziell Künstler_innen des globalen Nordens bislang mehr Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten haben als Künstler_innen des globalen Südens und somit eben auch ein Ungleichverhältnis zwischen Kunst- und Kulturschaffenden verschiedener Regionen besteht. Die strukturelle Differenz der Kunstproduktion schafft ein Machtgefälle, das ganz wesentlich den inter- und transkulturellen Austausch im Bereich der Kunst prägt – unabhängig von den Intentionen und Absichten der Akteur_innen. Die Bedingungen der Kunstproduktion in afrikanischen Ländern hat Achille Mbembe wie folgt umrissen:

1

Vgl. Bharucha, 1996, S. 200; Pavis, 1996, S. 7; Regus, 2009, S. 47.

140 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Unter extremer Instabilität, Unsicherheit oder gar in Notlagen drückt sich Kreativität häufig durch Improvisation und Flexibilität aus, durch eine andauernde Beschäftigung mit der Vorläufigkeit. Dazu gehört, kulturelle Institutionen fast aus dem Nichts aufzubauen, sie zu beleben und in einem sehr ungünstigen Klima Gelder aufzutreiben. Dies sind ganz allgemein einige der Umstände, unter denen […] in weiten Teilen Afrikas der Kampf um Ausdruck, Stimme, Schöpfung und Darstellung – und das bedeutet für mich Kulturarbeit – stattfindet“2.

Daher werde ich im Folgenden markante Merkmale des zeitgenössischen Theaters als Produktionsstätte beschreiben, um das Spannungsfeld sichtbar zu machen, in dem performative Künstler_innen Äthiopiens agieren. Das basiert auf empirischen Daten meiner Forschung – zum einen auf Wissensbeständen, die Interviewpartner_innen in Gesprächen mit mir teilten und die ich als Informationen werte; zum anderen auf eigenen Beobachtungen von Inszenierungen an staatlichen Theatern zwischen 2010 und 2012, von denen ich Erinnerungsprotokolle anfertigte. Dabei ging es nicht darum, detaillierte Aufführungsanalyen zu produzieren, sondern markante Merkmale der Theaterstruktur, Produktionsweisen, Genres und dominanten Ästhetiken herauszufiltern. Von diesen Forschungsergebnissen ausgehend lässt sich der aktuelle Arbeitskontext äthiopischer Künstler_innen hinsichtlich der strukturellen Bedingungen und hinsichtlich der ästhetischen Normierungen ermessen sowie ein Spektrum an differenten Herausforderungen und Potentialen ableiten, welche sich für die Künstler_innen und für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts bei gemeinsamen Produktionen im Bereich der performativen Kunst ergeben. Die aktuelle Phase des zeitgenössischen Theaters bezeichne ich in Anlehnung an Aron Yeshitilas Terminologie als die Phase des post-sozialistischen Theaters.3 Sie begann während des politischen Ausnahmezustandes 1990/91, als nach dem staatlichen Kollaps ein kurzfristiges Machtvakuum entstand und die eiserne Zensur zwischenzeitig als wirkungslos galt. Daraufhin kam es temporär für ca. zwei Jahre zu einem explosionsartigen Anstieg privater Theatergruppen und zu einer Öffnung des Theaters, während dessen sozialkritische und politische Stücke aufgeführt wurden.4 Bei vielen Künstler_innen wirkte jedoch die jahrzehntelange Einschüchterung als Folge historisch erlebter Traumatisierung nach und niemand konnte abschätzen, welche künstlerischen Aktionen später

2

Mbembe, 2010, S. 9: http://www.goethe.de/uun/pro/gim/gi_02-10_web.pdf, 08.02.

3

Vgl. Yeshitila, 2010a, S.32.

4

Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 121.

2013.

6. Z EITGENÖSSISCHES THEATER IN Ä THIOPIEN | 141

wie sanktioniert werden würden.5 Einige erfahrene Theatermacher_innen gründeten in den 1990er Jahren in Addis Abeba private Compagnies, die mehrere Jahre arbeiteten. Dazu gehörten u.a. Solomon Alemu und Serawit Fikire (Afelenyaw Theatre), Telahun Gugsa Alemu (Tesfa Theatre) und Abera Djoro (Abera Djoro Theatre). Ayalneh Mulat etablierte zwischen 1993 und 1995 die Andebet Theatre Compagnie, woraus 1995 das private Kendil Theatre am russischen Pushkin-Institut hervorging.6 Abate Mekuria gründete 1998 sein eigenes Ensemble und unterhielt das Mekuria Theatre Studio bis 2009. Und der russische Theatermacher Anatoly Antohin leitete zwischen 2008 und 2010 das Lul Studio Theatre in Addis Abeba. Andere Künstler_innen wie Zakarias Berhanu und Azeb Worku arbeiten bis heute in Form des Projekttheaters.7

AUFFÜHRUNGSORTE Das National Theatre, das Hager Fikir Theatre und die City Hall sind die drei großen staatlichen Theater mit Proszeniumsbühnen, welche jeweils über ein großes Schauspiel- und ein kleines Tanzensemble sowie über ein Orchester verfügen.8 Auch das Ras Theater und das Children and Youth Theatre zeigen Vorstellungen.9 Während das Nationaltheater dem Kulturministerium untersteht, werden die anderen vier Theater von der Stadtverwaltung Addis Abebas betrieben.10 Daneben gibt es das Mega Amphi Theatre und die Millenium Hall, die für besondere Großveranstaltungen geeignet sind. Des Weiteren finden Veranstaltungen in Kinosälen statt, die in der Regel über kleine Bühnen verfügen. Diese Bühnen können für Aufführungen von Ensembles der freien Szene angemietet werden, jedoch tragen die Kunstschaffenden dann ein hohes finanzielles Risiko. Als Alternative unternahmen einige Künstler_innen zwischenzeitig den Versuch, öffentliche Orte wie Straßenkreuzungen oder Baustellen zu bespielen, was jedoch wegen minimaler Einnahmen und mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz solcher Kunstansätze für sie schwer fortzusetzen war.11 Insofern bleiben perfor-

5

Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 2 ff.

6

Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 120 f.

7

Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6, 14; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 7.

8

Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 2.

9

Anm.: Das Ras Theatre wurde im Zeitraum dieser Forschung geschlossen.

10 Vgl. Wondimu, 2009, S. 94. 11 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 14.

142 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

mative Künste bislang stark an Institutionen gebunden. Einen Sonderstatus unter den Aufführungsorten nimmt weiterhin das Creative Art Centre der Addis Ababa University (AAU) ein, wo teilweise experimentelle Inszenierungen zu sehen sind, zu denen nur Dozent_innen und Student_innen der Universität Zugang haben. Der unabhängig produzierende und selbst verwaltete Ort ist das Netsa Art Village, wo ein Künstlerkollektiv auf einem Freigelände Performances aufführt und Ausstellungen zeigt. Außerdem gibt es noch Ausstellungsräume wie die Lela Gallery, die Asni Gallery, das Zoma Contemporary Art Centre oder die Laphto Hall etc., welche bildende Kunst und vereinzelt auch performative Künste zeigen. Das Alliance-Ethio-Francaise, das British Council und das GoetheInstitut sind große ausländische Kulturinstitute, in denen performative Künstler_innen Äthiopiens temporär proben, ko-produzieren oder eigene Stücke aufführen. Private Ensembles können nach Prüfung ihrer Inszenierungen Zugang zu staatlichen Bühnen erhalten12, stehen aber hinsichtlich ihrer Proben- und Produktionsprozesse unter finanziellem Druck.13 Da bisher einzelne Künstler_innen und private Compagnies in Äthiopien keine staatliche Kunstförderung für die Realisierung ihrer Arbeiten beantragen können, bleiben sie auf Förderung durch die Privatwirtschaft oder durch ausländische Kulturinstitute angewiesen.14 Es ließe sich aus eurozentrischer Perspektive durchaus argumentieren, dass Produktionsbedingungen auch als indirekte Regulative zu denken sind und an einem fehlenden Kunstfördersystem die Haltung des Staates gegenüber der Kunst teilweise ermessen werden könne. Allerdings spielen im äthiopischen Kontext die ökonomischen Bedingungen des Staates eine gravierende Rolle. Unter diesen Voraussetzungen nehmen ausländische Kulturinstitute eine wichtige Funktion ein, sofern sie Produktionen im Bereich der performativen Künste logistisch, personell oder finanziell fördern. Gleichzeitig ist daran die Ambivalenz ersichtlich, dass ein ökonomisches Machtgefälle auch ein Repräsentationsmachtverhältnis be-

12 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 15. 13 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 13. 14 Anm.: Im Amateurbereich werden seit ca. 2008 wieder Kinetgruppen gegründet, in denen Kinder und Jugendliche je Wohnbezirk organisiert werden. (Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 7) Daneben existieren Gruppen, die in orthodox-christlichen Sonntagsschulen religiöse oder moralische Stücke für ihre Gemeinden aufführen. Auch bekanntere Schauspieler_innen, die sich zum orthodoxen Christentum bekennen, spielen dort zeitweilig mit. (Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitiala, S. 20 f.)

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wirkt, da wirtschaftlich starke Länder mittels Kulturinstitutionen und Kunstproduktionen im Ausland Sichtbarkeit gewinnen können. Diesbezüglich betonte Hall – wie bereits in Kapitel 3 ausgeführt – , dass mittels der Produktion und Verbreitung von Kunst durch westliche Kulturinstitute und ungleiche materielle Bedingungen der künstlerischen Produktion asymmetrische Beziehungsmuster fortgesetzt werden. Diese konkrete Situation ist auch ein Abbild des von Bhabha kritisierten unverhältnismäßigem Kräfteverhältnis der kulturellen Repräsentation, denn die Präsenz ausländischer Kulturinstitute im Feld der Kunst wiegt in Äthiopien umso stärker aufgrund der Absenz eines staatlichen Fördersystems für Kunst.

T HEATERSTRUKTUR Die derzeitige Struktur der Theaterhäuser weist in Relation zu derjenigen aus Derg-Zeiten minimale Veränderungen auf. Das Nationaltheater, das City Hall Theater und das Hager Fikir Theater verfügen über separate Abteilungen für Theater, Tanz und Musik. Jede Sektion hat einen verantwortlichen Abteilungsleiter. Diese Person übernimmt administrative Aufgaben, ist aber auch für einzelne Produktionen in den künstlerischen Arbeitsbereichen Regie, Choreographie oder Orchesterleitung zuständig.15 Die staatlichen Theater verfügen über enormes Personal: weiterhin beschäftigen das Hager Fikir Theatre, das Ras Theatre und die City Hall jeweils weit mehr als 100 Personen und das Nationaltheater ca. 220 Personen.16 Die großen Belegschaften der Theaterhäuser garantieren etlichen Künstler_innen Anstellungen, sind jedoch relativ schwer zu koordinieren und basieren auf strengen Hierarchien. Dadurch müssen alle Entscheidungen aufwendige und langwierige bürokratische Prozeduren durchlaufen. Die Theaterhäuser, ihre Belegschaften und Produktionsbudgets werden staatlich finanziert: von der Zentralverwaltung des Ministeriums für Kultur und Tourismus17 oder von der Stadtverwaltung je nach Haus.18 Das Kulturministerium be-

15 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 10. 16 Vgl. Yeshitila, 2010, S. 32; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4. 17 Anm.: Kulturpolitisch änderte sich die Zuordnung der Theater im post-sozialistischen Äthiopien. Zuvor waren sie – sofern sie nicht von der Addis Abeba Administration reguliert wurden – dem Ministerium für Kultur und Jugend zugeordnet. Seit ca. 2003 werden sie dem Ministerium für Kultur und Tourismus zugeordnet. (Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 3)

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auftragt u.a. für nationale Feierlichkeiten oder Staatsbesuche Künstler_innen damit, folkloristische Darbietungen z.B. in Form von Tanz zu konzeptionieren.19 Surafel Wondimu zufolge werden teils auch Künstler_innen damit beauftragt, Stücke zur Unterhaltung des Militärs zu produzieren.20 Theatermanager_innen der Häuser übernehmen fast ausschließlich logistische und administrative Aufgaben.21 Sie werden vom Kulturministerium benannt sowie überraschend ein- und abgesetzt, was als staatliches Regulativ der Kunst gedeutet werden kann. Theatermanager_innen müssen den Künstler_innen gegenüber kulturpolitische Entscheidungen vermitteln – wie die Inszenierung durch einen anderen Regisseur oder die Absetzung eines Stückes etc. Direkt damit verbunden ist die Entscheidung, welche Hausregisseur_innen wann, wie häufig, mit welchen Performer_innen, welche Stücke inszenieren dürfen.22 In den staatlichen Theatern gibt es jeweils Komitees, die teils aus technischen Mitarbeiter_innen, teils aus Angestellten des Theaters und teils aus Beamt_innen des Kulturministeriums bestehen. Verschiedenen Interviewaussagen zufolge prüfen diese Komitees Skripte, treffen die Stückauswahl für laufende Spielzeiten und kontrollieren Produktionen. Sie stellen auch thematische und ästhetische Richtlinien auf.23 Verschiedene Interviewpartner_innen gehen davon aus, dass Zensur weiterhin im äthiopischen Theaterbetrieb durch diese hausinternen Komitees24 vorgenommen wird, jedoch die artikulierten Gründe der Ablehnung eines Stückes vielfältig sein können.25 Die kulturpolitische Maßnahme der Zensur kann nach Lesen des Skripts, nach Proben, während des Probenverlaufs, nach der Premiere oder nach den ersten Aufführungen vorgenommen wer-

18 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 13. 19 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4. 20 Vgl. Wondimu, 2009, S. 98. 21 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 5. 22 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 9; Plastow, 1996, S. 231. 23 Vgl. Köppen: Interview Lealem Behanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4; Wondimu, 2009, 95. 24 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4. 25 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4 f.; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8 f.; Köppen: Interview Getnet Eeneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 2.

6. Z EITGENÖSSISCHES THEATER IN Ä THIOPIEN | 145

den.26 Jedoch gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber, warum Werke einzelner Künstler_innen zensiert bzw. ihnen Zugänge zu staatlichen Bühnen verwehrt werden: „It is a vital question who is in and who is out of the system.“27 Insofern ähnelt diese Handhabung mit diffus gehaltenen Maßstäben28 der Kontrolle von Kunst während der Ära Haile Selassie I., kann aber nicht mit der rigiden Zensurpraxis der Derg-Regierung gleichgesetzt werden. Die Aufsicht im Theater scheint weniger rigoros als zuvor zu sein, auch wenn u.a. Ayaleneh Mulats Inszenierung „Deha Adeg“ („Child of Poverty“) 1993 von der Regierung abgesetzt, Getnet Eneyew wegen seiner Produktion „Addis Ababa Wey“ („Oh Addis Ababa“) 2005 von Sicherheitsbeamten verhört29, Ayalneh Mulat an der Öffentlichkeitsarbeit für sein Stück „Begame Mikrat“ („Staying Unmarried“) systematisch gehindert30 und Theatermacher_innen der Produktion „Vagina Monologues“ 2010 zeitweilig verhaftet wurden.31 Ein gravierendes Problem ist derzeit vielmehr die Selbstzensur von Künstler_innen, die u.a. aus der Angst heraus entsteht, Arbeit, Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten zu verlieren.32 Auf das Problem der Selbstzensur haben Tamrat Gebeyehu und Aida Edemariam bereits hingewiesen: „[…] directors are painfully aware of the repercussions of producing ‚unsuitable plays‘, and in effects act as their own rigorous censors painstakingly comparing all submitted scripts to the new constitution. This often leads to the ‚safety‘ of staging translations, often Shakespeare […].“33

Somit gelten Übersetzungen und Adaptionen ausländischer Stücke als sicheres Terrain. Daneben wird vom renommierten Theatermacher Tesfaye Gessesse die Favorisierung profitabler Komödien als Norm künstlerischen Ausdrucks als eine

26 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1. 27 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5. 28 Vgl. ebd. S. 5. 29 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 2. 30 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 15; Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6 f. 31 Vgl. Mukasa, 2011: http://www.vday.org/resistance/mukasa#.Up8LmeIUbeA, 28.11. 2013. 32 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4. 33 Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 117.

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weitere Art der Regulierung im Theaterbetrieb gewertet, da diese Praxis seiner Ansicht nach einer indirekten Zensur gleiche.34

R EGISSEUR _ INNEN UND AUSWAHL VON S TÜCKEN An staatlichen Theatern gibt es jeweils eine kleine Anzahl von Hausregisseur_innen, die teils Jahrzehnte dort arbeiten.35 Diese Regisseur_innen, welche de facto Regierungsangestellte sind, werden vom Management beauftragt, spezifische Inszenierungen zu übernehmen.36 Die für eine Spielsaison vorselektierten Stücke bekommen sie vom internen Komitee des Theaters vorgelegt, das aus ca. vier bis fünf Personen besteht.37 Regisseur_innen selbst können weder Stücke vorschlagen noch mitentscheiden, was auf äthiopischen Bühnen thematisiert wird. Allerdings können sie Skripte modifizieren und dramaturgisch auf die Textfassungen einwirken. Wondimu zufolge wurden Graduierte des Theatre Arts Departments von den staatlichen Theatern dazu angehalten, Stücke zu verfassen, die sich auf vordefinierte Motive wie Neid oder Eifersucht konzentrieren sollten. Dennoch wurden ihre Stücke unter dem Vorwand der Ästhetik zensiert.38 So kommt er auch bezüglich des post-sozialistischen Theaters zu dem Schluss: „Thus, playwrights preferred to present scripts that did not touch politics. Again […] politics impacted the aesthetics.“39 In der jüngsten Zeit engagierten die staatlichen Theater auch Dramaturg_innen.40 Diese Maßnahme wird vermutlich ästhetische Veränderungen nach sich ziehen. Bislang haben die Regisseur_innen häufig den gesamten Dramentext theatral umzusetzen versucht, was u.a. die enorme Dauer von vier bis fünf Stunden der meisten Aufführungen erklärt. Die Regisseur_innen treffen außerdem wesentliche ästhetische Entscheidungen wie die Festlegung der Bühnenbilder in Absprache mit dem am Haus ange-

34 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1. 35 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 5. 36 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 1. 37 Vgl. ebd. S. 9. 38 Vgl. Wondimu, 2009, S. 105. 39 Ebd. S. 107. 40 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 9.

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stellten Bühnenbildner41 oder die Beleuchtung der Szenen in Absprache mit den Haustechniker_innen42 und sie übernehmen die Organisation der Proben. Wenn sie sich entscheiden, mit einem großen Ensemble zu arbeiten, um beispielsweise Massenszenen darzustellen, kann es vorkommen, dass sie Probenpläne für 120 Schauspieler_innen, Musiker_innen und Tänzer_innen erstellen.43 Eine Besonderheit ist, dass an den Theatern eine kleine Gruppe von Künstler_innen regelmäßig und dauerhaft tätig ist, sie jedoch untereinander ihre Positionen, Funktionen und Aufgabenfelder je nach Produktion wechseln. Das bedeutet, dass Regisseur_innen bei der nächsten Produktion als Bühnenmanager_innen oder als Dramaturg_innen tätig sein können.44 Ebenso ist es keine Seltenheit, dass Künstler_innen für einzelne Produktionen zugleich als Regisseur_innen, Autor_innen und Schauspieler_innen arbeiten und unterschiedliche Funktionen parallel ausüben.45 46 Daran zeigt sich eine Konvention hinsichtlich der beruflichen Funktion im Theaterbetrieb, die sich durch Favorisierung von Generalist_innen statt Spezialist_innen auszeichnet.

S CHAUSPIELER _ INNEN

UND

T ÄNZER _ INNEN

Die an den Häusern engagierten performativen Künstler_innen sind vertraglich dazu verpflichtet, mindestens in einer Produktion pro Jahr mitzuspielen. Tesfaye Gessesses Einschätzung zufolge gibt es angestellte Künstler_innen, die zwar bezahlt werden, jedoch an keinen aktuell laufenden Produktionen oder Probenprozessen mitarbeiten.47 Es bedeutet, dass trotz Anstellungen an staatlichen Theatern Teile des Ensembles phasenweise ohne Arbeit verweilen und dennoch vergütet werden. Die Bezahlung der darstellenden Künstler_innen am Theater ist extrem gering, was sie dazu zwingt, weitere Einnahmenquellen zu finden. Eine grundlegende Veränderung im post-sozialistischen Theaterbetrieb ist jedoch die Erlaub-

41 Anm.: Der bis 2010 am Nationaltheater angestellte Bühnenbildner erhielt seine Ausbildung in Russland und war von der realsozialistischen Ästhetik stark beeinflusst. (Vgl. ebd. S. 6) 42 Vgl. ebd. S. 6, 9. 43 Vgl. ebd. S. 2. 44 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 5. 45 Vgl. ebd. S. 6. 46 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 5. 47 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 2.

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nis für performative Künstler_innen, auch Engagements außerhalb des jeweiligen Hauses anzunehmen.48 Gerade die Tänzer_innen und Musiker_innen nehmen häufig zusätzliche Engagements in Bars, Restaurants oder Nachtclubs an. Die Schauspieler_innen arbeiten oft in Teilzeit für Filmproduktionen oder Werbeclips.49 Durch diese Doppelbelastungen können wiederum künstlerische Leiter_innen, Regisseur_innen oder Choreograph_innen während eines intensiven Arbeitsprozesses nicht durchgehend mit der Anwesenheit oder Konzentration von performativen Künstler_innen rechnen. An den staatlichen Theaterhäusern können Proben relativ ad-hoc angesetzt und wieder abgesetzt werden; daher sind kontinuierliche Trainings der Ensembles nicht gewährleistet.50 In der Produktionspraxis gibt es die genderspezifische Tendenz, Schauspielerinnen immer wieder mit ähnlichen Rollen zu besetzen51, welche Aron Yeshitila als stereotyp bezeichnet.52

T ECHNIK UND B ELEUCHTUNG Zwei grundlegende Probleme in den Theaterhäusern sind nach Aussagen der Interviewpartner_innen fehlende Bühnen- und Beleuchtungspläne sowie eine veraltete Licht- und Soundtechnik. „[…] the equipment is as old as the theatre houses. That means more than 40 years ago these institutions and their technical light- and sound equipment have been bought, constructed and installed.“53

Diese Aussage Aron Yeshitilas verweist auf spezifische materielle Bedingungen der Produktionen am Theater, die Hall zufolge – siehe Kapitel 3 – direkte Auswirkungen auf die Ideen künstlerischer Repräsentation haben. Der Kunsthistoriker Abebew Ayelew fasste es wie folgt zusammen: „Our theatre is a victim of the lack of technological input.“54 Da derzeit an den Bühnen nicht mit Be-

48 Vgl. ebd. S. 2. 49 Vgl. ebd. S. 2. 50 Vgl. ebd. S. 2. 51 Anm.: Diese Praxis bezieht sich sogar auf sehr erfahrene und erfolgreiche Künstler_innen wie die Schauspielerin Belaynesh Amade. 52 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6. 53 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 11. 54 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6.

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leuchtungsplänen gearbeitet wird, ist der Kenntnisstand über die Funktionalität einzelner Scheinwerfer personell an die Bühnenmanager_innen gebunden. Während der Aufführungen bewegen Haustechniker_innen z.B. Spot-Scheinwerfer mit der Hand. Aufgrund der von den Interviewpartnern beschriebenen veralteten technischen Ausstattung am Theater können jedoch darüber hinaus Feinabstimmungen des Lichts nicht vorgenommen, diverse Lichtstimmungen nicht zeitlich exakt erzeugt und gewünschte Raumatmosphären nicht kreiert werden.55 Das Produktionsspektrum der Inszenierungen wird insofern materiell und technisch sehr begrenzt, was Auswirkungen auf die Qualität der Stücke sowie auf die zeitliche Kalkulation von Probenprozessen hat. Außerdem wird Lichttechnik, Lichtdesign, Bühnentechnik, Soundtechnik meistens als Handwerk in Produktionsprozessen erlernt und das Wissen bleibt an einzelne Personen gebunden. Unter diesen Voraussetzungen werden Lichteinstellungen im Theater häufig funktional als bloße Beleuchtung der Szenen oder symbolisch durch Nutzen von Farbfiltern eingesetzt, aber tendenziell selten zum Erzeugen räumlicher Atmosphären genutzt. Insofern wird den Theatermitteln Licht-, Raum- und Atmosphärengestaltung weniger Beachtung zuteil als z.B. dem Dramentext oder Schauspiel. Aufgrund der derzeitigen technischen Ausstattung und materiellen Bedingungen der Theaterhäuser kann der Beleuchtung als einem tragenden Element der Szenographie und als Dynamisierungsfaktor der Wahrnehmung von Raum wenig ästhetische Relevanz beigemessen werden.

P RODUKTIONEN PRO S PIELZEIT Merkmal des staatlichen Theaterbetriebs hinsichtlich der Produktionen ist, dass publikumsbeliebte Stücke über mehrere Jahre aufgeführt werden und täglich Aufführungen an den Theaterhäusern zu sehen sind. Das allein verweist auf die Beliebtheit der Theaterkunst und auf eine große Zuschauerschaft in Addis Abeba. Außerdem gibt es unterschiedliche Handhabungen mit der Originalinszenierung. Einige Regisseur_innen legen besonders bei Tragödien oder Historiendramen Wert darauf, dass sie auch nach vier Jahren Spielzeit im Stückverlauf unverändert bleiben, was den Performer_innen enorme Beharrlichkeit abverlangt.56

55 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 3; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 10. 56 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 7.

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Andere Regisseur_innen überlassen Performer_innen auf der Bühne Gestaltungsfreiheiten, um auf die Publikumsresonanz spontan zu reagieren, Pointen zu verändern oder Dialogfragmente zu variieren.57 Wenn Komödien wie „Freshmen“ von Netsanet Workneh oder „Yekeletaw Mender“ („The Chaotic Quarter“) – entstanden durch kollektive Stückentwicklung – beispielsweise bereits drei Jahre wöchentlich aufgeführt werden, verändern die Darsteller_innen eigenständig mittels Ad-hoc-Improvisation Zeilen, Dialoge, Pointen etc. auch während der Aufführungen. Das hat damit zu tun, dass sie die Resonanz der Zuschauer_innen beobachten und vermutlich selbst vom routinierten Spiel ermüden. Daher unternehmen sie eigenständig sukzessive Änderungen an den Stücken, so dass diese sich über die Spielzeit hinweg durch ihre Modifikationen teils gänzlich verändern.58 Das verweist neben der Flexibilität und dem Einbezug des Publikums u.a. auf ein Drängen performativer Künstler_innen, ihrer Arbeit Raum und Anerkennung zukommen zu lassen.

P ROFITABILITÄT Die entscheidenden Kriterien für die zentrale Stückauswahl der Theaterkomitees und den Erfolg von Theaterproduktionen sind Massentauglichkeit und Profitabilität.59 „Plays are produced on the assumption that audiences will like them and will generate income for the producers. Nobody dares to produce something new […].“60

Das hat u.a. mit der enormen Größe der äthiopischen Theaterhäuser zu tun. Das Nationaltheater fasst ein Publikum von ca. 1400 Personen, die City Hall von ca. 1200 Personen und das Hager Fikir Theater von ca. 800 Personen. Stücke müssen massentauglich sein, wenn sie Profit abwerfen sollen. Aufgrund des kulturpolitischen Interesses, die hohen Produktions- und Betriebskosten der großen Theaterhäuser durch Einnahmen zu decken, tendieren die Häuser in ihren Produktionen zu einer starken Profitorientierung, was nachhaltigen Druck auf die Massentauglichkeit aller Inszenierungen und auf die künstlerischen Ansätze aus-

57 Anm.: Diese Praxis ist v.a. am Hager Fikir Theater zu beobachten. (Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 7) 58 Vgl. ebd. S. 7; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 12. 59 Vgl. Köppen, 2010, S. 26-28. 60 Yeshitila, 2010, S. 32.

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übt.61 62 Tesfaye Gessesse verweist darauf, dass künstlerische Ansprüche zugunsten des kommerziellen Erfolgs reduziert werden.63 Jedoch sollte diese Aussage im entsprechenden Kontext interpretiert werden, der sich durch ökonomischen Druck der Kulturinstitutionen sowie der Künstler_innen auszeichnet. Allerdings kann der Druck, finanziell erfolgreich zu produzieren, die künstlerischen Qualitäten enorm beeinträchtigen und drängt performative Künstler_innen in ein Genre, das am meisten Profit verspricht: die Komödie. Auch Theatermacher_innen privater Compagnies sind auf ein Massenpublikum angewiesen, was u.a. mit Zugang zu staatlichen Bühnen, anfallenden Raummieten, den eigenen Produktions- und Werbekosten, der zu entrichtenden Unterhaltungssteuer etc. zu tun hat.64 Nur selten leisten sie sich SpartenProduktionen für ein kleines Nischenpublikum, die theaterästhetisch interessante Experimente sein könnten, aber finanzielle Risiken bürgen, kleinere Theaterräume erfordern und gesellschaftliche Akzeptanz benötigen.65 Aus kommerziellen Theaterproduktionen, die einem zahlenden Massenpublikum zugänglich sein müssen, ergibt sich indirekt ein Anspruch an Kreative, Unterhaltungskunst zu produzieren und mit einfach verständlichen künstlerischen Mitteln zu operieren, was Repräsentationen in Form von illusionistischem und mimetisch-fiktionalem Theater begünstigt. Das kann u.a. dazu führen, dass Regisseur_innen vermeiden, abstrakte oder kontroverse Inhalte sowie anti-naturalistische Formen des Theaters zu erproben.

D IE K OMÖDIE

ALS DOMINANTES

G ENRE

In künstlerisch-ästhetischer Hinsicht ist die aktuell dominanteste Form das hyperbolische Sprechtheater. Die Gattungen Komödie, Melodrama und Historiendrama werden bevorzugt inszeniert und daneben auch Tragödien und Musicals punktuell in Szene gesetzt. An allen staatlichen Theatern werden überwie-

61 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 1. 62 Anm.: Allerdings räumt Yeshitila ein, dass Theatermacher_innen in Äthiopien fortwährend unter Druck standen, profitabel produzieren zu müssen. Aufgrund der angespannten ökonomischen Situation tangierte es immer Fragen der Existenz einzelner Künstler_innen und des Bestehens ganzer Kunstinstitutionen. (Vgl. ebd. S. 5) 63 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 2. 64 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5. 65 Anm.: Etliche Theatermacher_innen wie Manyazwal Endechaw, Tesfaye Gessesse oder Haimanot Alemu sind dazu übergegangen, im Filmsektor zu arbeiten.

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gend Komödien aufgeführt, die mit Elementen des Slapsticks, des Schwanks und der Posse operieren.66 Der Handlungsstrang der Komödien ist meistens simpel konzipiert, wird jedoch enorm durch Wiederholungen, Szenenwechsel, Auf- und Abgänge der Schauspieler_innen, Musikeinlagen, aber auch durch spontane Reaktionen der Schauspieler_innen auf die Zuschauerreaktionen verzögert, so dass viele Aufführungen drei bis fünf Stunden andauern. Auffällig bei Komödiendarstellungen sind der Umgang mit Situationskomik, das temporäre Improvisieren (sog. Stehgreifspiel) und das spontane Reagieren der Darsteller_innen auf Impulse des Publikums. So kann es sein, dass Schauspieler_innen auf Zwischenrufe der Zuschauer_innen reagieren, Bemerkungen aus dem Publikum kommentieren, das erneute Klingeln irgendeines Handys in ihr Spiel integrieren oder selbst über die Äußerungen eines Zuschauers lachen. Das ist wirkungsästhetisch insofern sehr interessant, weil dadurch Brüche der vierten Wand entstehen, spontan Kommunikationsverbindungen hergestellt werden und Formen sozialer Interaktion gepflegt werden, die trotz sehr großer Theaterräume punktuell Intimität erzeugen. Insofern wird die Ko-Präsenz der Darsteller_innen und Zuschauer_innen im Theater als soziale Situation teils deutlich wahrnehmbar. Szenographisch sind eindeutig definierte Raumkonzeptionen und konkret abgebildete Raumelemente, deren Illusionen beinah ausschließlich durch Bemalungen von Stellwänden oder durch Requisiten konstruiert werden, in den meisten Inszenierungen wiederzufinden. Bühnenbildtechnisch dominieren Innenhofdarstellungen oder Interieur-Darstellungen von großräumigen und großbürgerlichen Wohnungen mit Sofagarnituren, Plastikblumen, Bilderrahmen, Tischlampen, Kissen, Fenstern und Balkonen. Für beide Raumkonzepte ist die jeweilige Anordnung von etlichen Türen relevant, die für das Auf- und Abtreten der Darsteller_innen und die Überraschungsmomente in den jeweiligen Stücken wichtig sind. Am Schauspielstil sind das Deklamatorische, die großen, expressiven, stark standardisierten Gesten und die extreme Mimik, das Anheben der stimmlichen Lautstärke für Pointen begleitet von der direkten Hinwendung zum Publikum auffällig. In den Inszenierungen wird die akustisch-rhetorische Ebene in Form von Darstellungen durch Sprachhandlungen, Wortwitz, Verzerrungen der Stimmlagen, das Dehnen von Silben etc. sehr viel stärker betont als die kinästhetische Ebene. Die Ausschöpfung des physiologischen Verwandlungspotentials in Form präziser Körpersprache und fixierter Bewegungsabläufe steht bei den Ko-

66 Vgl. Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 6.

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mödien nicht im Vordergrund, obwohl bei ihnen Mimik und Gestik frappierender als in anderen Stücken gestaltet werden. Einsätze von non-verbalen Handlungen wirken teilweise beliebig, zufällig und willkürlich – wie das Streichen durchs Haar, Positionierung der Hand an den Hüften, Bedecken der Bauchpartie durch die Arme beim Sitzen etc. Daneben gibt es vereinzelt stark standardisierte und symbolisch aufgeladene Bewegungselemente wie das Niederknien eines Mannes vor einer Frau beim Liebesgeständnis oder die Gebärde der Drohung eines alten Mannes durch Fuchteln seines Gehstocks oder das Demonstrieren der Erziehung durch Schlagen eines Kindes. Das Bewegungsrepertoire der Schauspieler_innen beschränkt sich beinahe durchgehend auf Gangarten, Sitz- und Standpositionen, die häufig im vorderen Bühnenteil mit Frontalausrichtung der Schauspieler_innen zum Publikum stattfinden und dadurch die Zweidimensionalität eines eingefrorenen Bildes erzeugen. Der Bühnenraum wird selten von den Schauspieler_innen umfassend bespielt, was mit der enormen Größe der Bühnen und den Probenprozessen zu tun haben kann. Außerdem wird der Raum im Spiel selten umdefiniert oder abstrahiert und nur vereinzelt konkret umgebaut. Markant an den komödiantischen Stücken, die ich als Schwank-Komödie bezeichnen würde, ist der Umgang mit Typen- und Situationskomik, die mit dargestellten Verwechslungen, Verwicklungen und daraus resultierenden Missverständnissen, Missgeschick oder Naivität der Figuren operieren.67 Thematisch werden Ehe-, Verwandtschafts- oder Nachbarschaftskonflikte favorisiert, wo soziale Interaktionen ad absurdum geführt werden. Die Figuren sind in der Regel typisiert und simplifiziert, was eine gängige Methode der Schwank-Komödie ist.68 Allerdings bewirkt das Operieren mit flachen Charakteren auch eine permanente Bestätigung von Stereotypen. Auffällig ist, dass häufig Figuren belacht werden, die durch ihren Non-Konformismus als Außenseiter_innen markiert werden oder solche, die sich durch Naivität auszeichnen. Dazu zählen z.B. der aus der Diaspora Heimgekehrte, dem wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen, Kleidungsmoden oder Sprachtrends ‚zu Hause‘ unbekannt geworden sind; der Dandy, der einen leichtfertigen Umgang mit Geld und Moral hegt; der Draufgänger (‚durijee‘) mit Dreadlocks und zerschlissener Kleidung, der dem Wahnsinn und der Kriminalität nah ist; oder die Chat-kauenden Männer, die ihren philosophischen Rededrang nicht stoppen können; ebenso wie die junge, naive Frau vom Land, die vom Stadtleben überfordert bleibt; die Geschäftsfrau, die sich durch Exzentrik, Narzissmus und Materialismus auszeichnet; und alte

67 Vgl. Poloni, 1992, S. 845. 68 Vgl. ebd. S. 845.

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Leute, deren metaphorische Sprache nicht kompatibel mit dem Slang der Großstadt-Jugend ist. Teilweise scheint es, als würde die Abweichung von moralischen, religiösen und sozialen Normen verspottet und somit Konformität eingefordert werden. Anderseits werden dadurch etablierte Ordnungsmuster punktuell verkehrt, außer Kraft gesetzt, die überspitzte Spiegelung eigener Werte belacht und indirekt wieder als Norm bestätigt. Diese Formen der Komödie zielen in der Regel darauf ab, Lachen als Ventil zu ermöglichen. Mit Bezug auf Henri Bergsons „Das Lachen“ von 1900, das als zentraler philosophischer Text zum Komischen gilt, ist im Metzler-Lexikon Theatertheorie ausgeführt, welche soziale Funktion das Lachen über Komisches erfüllen kann: „Lachen richtet sich als soziale Geste gegen Defizite im fortwährenden Bemühen um gegenseitige Anpassung, seine sanktionierende Funktion zielt auf die Korrektur von Verhaltensweisen, die aufgrund willkürlicher oder unwillkürlicher körperlicher und/oder intellektueller Fehlleistungen mit der gesellschaftlich erforderten Norm inkongruent sind. Komisches ist damit in Bergsons Theorie immer bezogen auf den Horizont kulturell und historisch spezifischer Verhaltensnormen und des diese begleitenden gesellschaftlichen Erwartungsdrucks.“69

Jedoch kann die Komödie – wie der Soziologe Peter L. Berger anhand des philosophischen Diskurses über das Komische zeigte – sehr verschiedene gesellschaftliche Funktionen erfüllen und ist durchaus ambivalent und doppelbödig. Einerseits kann die Komödie normaffirmativ wirken, indem das Abweichen Einzelner von der Norm verlacht wird. Sie kann jedoch ebenso eine Provokation darstellen, das Belächeln der gesellschaftlichen Normen begünstigen, Widersprüche entlarven, Tabuisiertes sichtbar machen und die öffentliche Ordnung irritieren bzw. temporär destabilisieren. Indem allerdings solches Lachen in Institutionen zugelassen oder begünstigt wird, kann es – mittels erlösendem Lachen als Spannungsabbau – wiederum politisch gezähmt werden.70 „Das Theater als Institution begrenzt dieses Element des Chaotischen streng – räumlich, zeitlich und durch die künstlerische Form.“71 In den Theaterhäusern mittels Komödien die Massen zu unterhalten und gegebenenfalls zu zähmen, stößt bei einigen äthiopischen Kunstschaffenden auf Kritik. Das zeigt sich z.B. an folgender Interviewaussage: „Now in the theatre

69 Kreuder, 2005, S. 171. 70 Vgl. Berger, 1998, S. 22. 71 Ebd. S. 96.

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comedy is over-present to make people laugh. There is nothing else in here.“72 Der Interviewpartner Lealem Berhanu verweist damit auf zwei Aspekte: auf die Intention staatlicher Kulturinstitutionen, Zuschauer_innen mittels Theater zu amüsieren bzw. abzulenken und auf fehlende alternative Arbeitsansätze. Darin drückt sich auch eine Frustration gegenüber der Dominanz des Komödiengenres und der gesellschaftlichen Funktion des aktuellen Theaters aus, die andere Interviewpartner_innen ebenfalls artikulieren.73 Aron Yeshitila beschreibt den Anstieg an Komödien als ein Indiz für die in Äthiopien zu beobachtende Unterhaltungsflucht: „The mainstream theatre audience also seems frustrated with the current political and socioeconomic situation of the country, so it only needs to escape with entertainment in theatre rather than being challenged with alienation or new ideas. This viewpoint is further strengthened by the disappearance of even realistic tragedy plays and the increasing need for comedy.“74

Es bleibt für mich jedoch fraglich, ob tatsächlich das Publikum nach Komödien verlangt oder aber die Komödie die verordnete Gattung an den staatlichen Bühnen ist, die von Seiten der Zuschauer_innen leicht konsumierbar und von Seiten der Manager_innen rentabel vermarktbar bleibt. Die Bevorzugung von komödiantischer Massenunterhaltungskunst kann teils damit erklärt werden, dass Zuschauer_innen harsche Lebensrealitäten alltäglich erleben und Theaterbesuche als Ausnahmezustände genießen, in denen sie sich amüsieren statt durch sozialkritische Stücke an eigene Realitäten erinnert zu werden.75 Gleichzeitig kann es jedoch bewirken, dass am aktuellen Geschehen interessierte Personen das Theater nur wenig beachten76, wenn sie sich durch solche Formen der Kunstproduktion weder zur Reflektion, Abstraktion, Projektion, Irritation des Denkens oder der Wahrnehmung motiviert fühlen, noch die drängenden, komplexen, ambivalenten und aktuellen Belange ihrer Gesellschaft und ihres Zeitgeistes auf den Bühnen thematisiert sehen. Tatsächlich scheinen sich in Äthiopien einige Zuschauergruppen regelrecht dem Einfluss des Theaters

72 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 1. 73 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1; Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 6 f. 74 Yeshitila, 2010a, S. 32 f. 75 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 3. 76 Vgl. ebd. S. 6.

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zu entziehen, wie folgende Interviewaussage von Tibebeselassie Tigabu nahelegt: „I don’t know where the comedies come from even? They are just meant to make people laugh. Most of the comedies are really sexist. They might not even be politically correct, but still people want to laugh. There is a detachment of the elite from the theatre, the plays or the forms. The elite is not any longer really involved in it. The educated ones and those who have concepts are staying apart from this medium.“77

Diese interessante Aussage ist schwer zu deuten, da sie sehr viele Aspekte umfasst. Sie umfasst neben Elitarismus als gesellschaftliches Phänomen, Sexismus in der Repräsentation aufgrund eines dominant patriarchalen Blicks im äthiopischen Regietheater ebenso wie das theaterhistorisch abgeleitete Kriterium der Ständeklausel, nach der Komödien überwiegend für sozial schwache Milieus produziert wurden etc. Jedoch verweist die Aussage von Tibebeselassie Tigabu auf zwei weitere zentrale Aspekte. Das betrifft die bewusste Abkehr spezifischer Zuschauergruppen vom Theater, was als inneres Exil der äthiopischen Bildungselite gegenüber der staatlichen Kulturpolitik gedeutet werden kann. Und es verweist auch indirekt darauf, welche soziale Funktion mit den Komödien erfüllt wird – die Unterhaltung und Belustigung von Massen, denen sich einzelne Kreise entziehen. Das führt mich zu einem weiteren Aspekt, den es zu reflektieren gilt. Ob die Komödie normaffirmativ oder subversiv wirkt, hängt stark damit zusammen, ob es sich um Satire, Groteske, Farce, Burleske, Parodie, Posse oder Schwank handelt. Im aktuellen äthiopischen Theater scheinen die überproportional favorisierten Schwank-Komödien erlösendes Lachen, Amüsement, Vergessen der Realität, Bestätigung etablierter Normen und die Beschönigung des Status quo zu bewirken und die Ruhigstellung der Massen mittels Belustigung zu bezwecken. Allerdings ermöglicht gerade auch das komödiantische Genre ein Verlachen der Norm. Da jedoch das Komische und Humoristische „immer bezogen auf den Horizont kulturell und historisch spezifischer Verhaltensnormen“78 ist und somit eine starke Relativität aufweist, entziehen sich mir als Außenstehende etliche Momente des Lachens. Gerade im Erfassen des Komischen und seiner potentiellen sozialkritischen Anspielungen und subversiven Untertöne bin ich als ausländische Forscherin besonders auf die Begrenzung meines Blicks zurückgeworfen.

77 Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 7. 78 Kreuder, 2005, S. 171.

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Unabhängig davon verweisen die Aussagen der Interviewpartner_innen auf ein Unbehagen mit der Dominanz des Komödiengenres im Theaterbetrieb und die vorab skizzierte Situation auf eine Realität, mit der äthiopische Künstler_innen aktuell umzugehen haben.

M ELODRAMEN Das Genre Melodrama ist ebenfalls sehr beliebt in Äthiopien, welches verschiedene Ausprägungen von patriotischen, historischen und bürgerlichen Aspekten beinhalten kann. In diesen Stücken ist die Dominanz der Sprache, der gestische und stimmliche Ausdruck des Pathos, die Vermittlung didaktisch-moralischer Komponenten und – charakteristisch für Melodramen – die Verwendung von Dichotomien wie z.B. Gut und Böse, Unschuld und Sünde, Naivität und Kalkül, Loyalität und Untreue sowie die Repräsentation einer manichäischen Weltordnung auffällig. Eins der wichtigsten dramaturgischen Prinzipien des Melodramas ist die Kontrastierung von tugendhaften und sündhaften Lebensweisen79, wobei in Äthiopien häufig Rekurs auf biblische Metaphern genommen wird. Die Stücke dauern oft vier bis sechs Stunden, in denen dialogische und monologische Sprachhandlungen dominieren. Häufig ist zu beobachten, dass für eine Dauer von 20 Minuten keinerlei Licht-, Musik-, Atmosphären- oder Szenenwechsel vorgenommen werden, aber das Publikum dennoch interessiert den Sprachhandlungen auf der Bühne folgt. Es scheint mir, als würden die Auf- und Abgänge von Schauspieler_innen dazu beitragen, die Sprachdominanz partiell aufzulösen, wodurch zugleich häufig der Spannungsbogen unterbrochen wird. Wenn verbale Äußerungen durch expressive Gesten wie das Niederknien, das Beten, das heftige Kopfschütteln, das lautstarke Weinen, das lange Schluchzen, die Ohnmachtsanfälle, das Schwanken, flehende Blicke etc. aber auch durch den Einsatz von Musik oder spezielle Lichteffekte wie Spotlights und Farbfilter begleitet werden, verdoppeln, bekräftigen und verstärken sie die Artikulationen. Diese hyperbolische Zeichensprache ist eine für das Melodrama typische Methode, um Zuschauer_innen emotionale Höhepunkte expressiv eindeutig zu vermitteln und sie durchgehend in Aufregung, Staunen und Anteilnahme zu versetzen. Schneilin merkt zur Charakteristik des Melodramas an: „In diesem hyperbolischen Zeichenspiel […] ist alles hyperpathetisch als Folge einer ‚Ästhetik des Staunens‘.“80

79 Vgl. Schneilin, 1992, S. 600. 80 Schneilin, 1992, S. 601.

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Die Struktur der melodramatischen Stücke an äthiopischen Bühnen ist einander sehr ähnlich. Zu Beginn des Stückes werden Familien, Freunde, Liebes- oder Ehepaare in ihrer Harmonie situiert und oft in einer klein- oder großbürgerlichen Wohnung präsentiert. Durch eine Intrige, die meistens mittels Verwechslungen, falschen Benachrichtigungen, Gerüchten, Streit, Beobachtungen, Verfolgung, Vortäuschungen etc. ausgespielt wird, gerät die anfängliche Harmonie in Gefahr und wird häufig durch Empathie-Bekundungen des Publikums begleitet oder vereinzelt sogar kommentiert. Durch die gemeinschaftliche Aufklärung der konfliktiven Situation, eine Form der Rettung, Wieder-Annäherung oder offenen Aussprache zwischen den Figuren, wird dann in der Regel die Einträchtigkeit der Ausgangssituation wieder hergestellt. Das entspricht Schneilin zufolge der Gesamtstruktur melodramatischer Stücke, die meistens drei Grundphasen umfasst: die Einstiegsphase der Harmonie, die Bedrohung der Harmoniesituation durch Intrigen oder Konflikte und die Endphase als Rückkehr zur Harmonie.81 Zur besseren Veranschaulichung dessen beziehe ich mich im Folgenden auf das sehr populäre Melodrama „Be Dem Nefes“ („Actions of Unconscious State“), welches seit Jahren am Nationaltheater wöchentlich aufgeführt wird. Es soll als ein Beispiel dafür dienen, wie – unter der thematischen Prämisse des Liebesmotivs – etliche der zuvor beschriebenen Charakteristika des Melodramas umgesetzt werden. Die Hauptfiguren des Stücks „Be Dem Nefes“ sind der Filmproduzent Belayne und dessen Frau Meron, die in Trennung leben. Ihr gemeinsamer Freund Dereje, der als Autor arbeitet und deren Liebesgeschichte als Grundlage für sein neues Buch nutzte, möchte nun dieses Werk veröffentlichen. Belayne versucht, das zu verhindern, da sich die Beziehung zu seiner Ehefrau Meron grundlegend veränderte und sie mittlerweile in Trennung leben. In dieser Phase traf Belayne eine junge Frau namens Sofia, die als naiv, ungebildet und gutgläubig repräsentiert wird und die er zu heiraten beabsichtigt. Um das zu verhindern – und letztlich die Veröffentlichung von Dereje’s Buch voranzutreiben –, versuchen seine Freunde Dereje und Eskinder, die in Trennung lebenden Ehepartner Belayne und Meron davon zu überzeugen, dass sie zusammengehören. Im Verlauf des Stückes verhandeln Belayne und Sofia die moralischen Komponenten von Jungfräulichkeit und außerehelichem Sex (was Eskinder beobachtet), versucht Dereje zwischenzeitig Meron zu verführen (was Belayne beobachtet), streiten die Frauen Meron und Sofia sich um den Mann, den beide begehren. Das Stück endet damit, dass die Harmonie zwischen den Eheleuten wieder hergestellt wird, ohne zu beleuchten, welche Auswirkungen das für alle anderen Figuren und Beziehungskonstellationen hat. Die psychologische Motivierung der Hand-

81 Vgl. ebd., S. 600.

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lungskausalität sowie die Beschaffenheit der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander stehen dabei nicht im Vordergrund. Dieses Beispiel dient der Veranschaulichung spezifischer Motive, Inhalte, Handlungs- und Figurenkonstellationen, wie ich sie mehrfach beobachtete. Ein fester Bestandteil an Motiven in den äthiopischen Melodramen sind Eheschließung, Ehebruch, vorehelicher Sex, Liebesaffären, außereheliche Flirts sowie die Einmischung der Familie, des Freundeskreis oder der Nachbarschaft in Intimbeziehungen sowie in persönliche Entscheidungen. Die Motive betonen den moralischen Wert familiärer Bindungen und ehelich besiegelter, monogamer Beziehung zwischen Mann und Frau. Insofern werden in den Melodramen wiederholend christliche Werte sowie heterosexuelle Norm bestätigt. Auf die komplizierte Realität vor Ort sowie auf sich rasant verändernde Weltanschauungen wird kaum eingegangen. Meiner Einschätzung zufolge scheint die Hinterfragung von individuellpsychologischen, sozialkritischen und politischen Aspekten in vielen Stücken nicht relevant zu sein, was teils auf Vermeidungsstrategien der distanzierten Reflektion im zeitgenössischen Theater hinweisen kann. Der äthiopische Regisseur Getnet Eneyew betont dem gegenüber allerdings, dass solche Stücke thematisch die gegebenen, alltäglichen Realitäten vor Ort reflektieren, die von vielen Zuschauer_innen als soziale Herausforderungen wahrgenommen werden. In einem seiner Stücke, „Webeten Felega“ („In the Search of Beauty“), welches vier Jahre am Nationaltheater aufgeführt und später wieder ins Repertoire aufgenommen wurde, thematisierte Getenet Eneyew ebenfalls Eheschließung unter familiärem Druck, Ehebruch, Materialismus und eine alternative Lebensführung. Die Hauptfigur ist ein Künstler, der Befriedigung in seiner schriftstellerischen Tätigkeit findet, jedoch die materiellen Bedürfnisse seiner Frau und deren Familie nicht erfüllen kann und somit nicht angemessen seiner sozialen Funktion nachkommt, was für familiäre Konflikte sorgt.82 Sowohl bei den Konstellationen als auch bei den Figuren tritt das Charakteristische meistens hinter dem Realistischen, Komplexen und Ambivalenten zurück. Die Rührung der Zuschauer_innen wird auf inhaltlicher Ebene u.a. durch zeitweilig getrennte und letztlich wiedervereinte Liebespaare, deren Liebesgeständnisse und durch das Engagement des Freundeskreises für das romantische Glück erzeugt. Die emotionale Einfühlung in die Figuren wird dadurch erleichtert, dass mit dem Mittel der Mimesis gearbeitet wird und die Zuschauer_innen die Fiktion im Modus des als-ob mit durchleben. Auf akustischer Ebene verstärken Musikeinlagen diverse Gefühlsstimmungen und durch die Suggestion der

82 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 5 f.

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vierten Wand können Zuschauer_innen das Geschehen beobachten und im abgedunkelten Raum darauf emotional reagieren.

H ISTORIENDRAMEN Neben Komödien und Melodramen werden – meistens sonntags – Historiendramen in den Theaterhäusern aufgeführt. Im Genre des Historiendramas werden die Lebensgeschichten von christlich-orthodoxen äthiopischen Held_innen, König_innen, Kaiser_innen, Loyalist_innen, Widerstandskämpfer_innen oder Märtyrer_innen thematisiert. Diese sind Teil einer nationalistischen, patriotischen, militärischen und an Helden orientierten Erinnerungskultur in Äthiopien, die mittels Theater repräsentiert und re-inszeniert wird. Die Glorifizierung royaler Macht und historisch gewachsener Machtverhältnisse nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. Das ist zum Beispiel an der räumlichen Anordnung ablesbar, wenn Figuren, die Kaiser- oder Königspaare repräsentieren, im Zentrum der Bühne auf einem Podest positioniert, mit Insignien der Macht ausgestattet und mit Eigenschaften wie Mut, Selbstlosigkeit, Spiritualität und Gottesfurcht etc. charakterisiert werden. Einige historische Personen wie Kaiser Tewodros, Königin Saba, Königin Taitu, Tekle Haimanot, Abune Petros oder Belaye Zeleke werden immer wieder Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung, während einflussreiche politische Machthabende wie Menelik II., Haile Selassie I., Mengistu Haile Mariam oder Meles Zenawi fast nie Gegenstand der Reflektion im Theater werden. Eine mögliche Erklärung dafür bietet der Kunsthistoriker Abebew Ayelew an: „Haile Selassie is not that popular among the Ethiopians. For some he is an oppressor. For others he is a man who did great things for Ethiopia. A large number of people do not like him, because he was a man who did not support the patriots and who went into exile while he could have fight here. There are different historical controversies about him. […] They should have written plays about him in whatever way. But the choices are made by the playwrights themselves. The play will be first screened by the people of the Municipality. Sometimes they edit things before allowing it to be directed and produced. In some cases, the content is not wanted.“83

Insofern nehmen Autor_innen und Theatermacher_innen durch Produktionen von Historiendramen eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des offiziellen Erin-

83 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 4.

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nerungsdiskurses ein. Dabei betont der Interviewpartner, dass die Auswahl spezifischer historischer Ereignisse und Personen von den Autor_innen selbst getroffen wird und diese daran orientiert ist, mit dem offiziellen Regierungskurs konform zu gehen, weil die Stückinhalte vor Premiere von der Kulturbehörde abgenommen werden. Kontrovers zu diskutierende Elemente der äthiopischen Geschichte werden jedoch für Repräsentationen im Theater bewusst ausgespart.84 Demzufolge werden einzelne Personen als historische Held_innen stilisiert und die Repräsentationen ihrer Handlungen von dem Bedarf des jeweiligen politisch dominanten Diskurses abhängig gemacht. In Relation zu den aktuellen politischen Bedingungen werden die historischen Erinnerungen jeweils modifiziert.85 Entgegen der royalen Geschichte eines Imperiums, die erinnert werden soll, wird überwiegend von der Darstellung historischer Ereignisse und Entwicklungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts abgesehen. Das kann damit zu tun haben, dass diese Vergangenheit als noch zu jung betrachtet wird und eine Repräsentation der Geschichte immer auch eine Positionierung zu den aktuellen Verhältnissen im Land entblößt. Daran wird u.a. auch deutlich, dass dem Sprechtheater weniger die Rolle zukommt, kritisch reflektierende Betrachtungen über eine womöglich ambivalente Historie ins Spiel zu bringen, als vielmehr die Rolle, eine nationalistische, christlich-orthodoxe und royale Vergangenheit zu glorifizieren: „Somehow the plays do not escape the common collective believe. The historical plays are often conceptualized as a representation for remembering the great Ethiopia or the great King’s time.“86

Aron Yeshitila verweist darauf, dass Theater als Repräsentation genutzt wird, um einen etablierten, kanonisierten Diskurs über die eigene Geschichte immer wieder zu bestätigen und das Wahrheitsmonopol von Staat und Kirche zu bestätigen. Um das Bild einer glorreichen Geschichte aufrechtzuhalten, werden im Theater relevante Ereignisse und Personen von der Erinnerungskultur ausgespart und andere überproportional gewichtet. „It is used for the glory of the Ethiopian history. But in different times they choose different personalities. No one chose to work on Menelik II. Menelik has a historical

84 Vgl. ebd. S. 3. 85 Vgl. ebd. S. 3. 86 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 7.

162 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN relevance more than Taitu, Abune Petros, Tewodros or whoever. But Menelik is a controversial figure. That’s the reason.“87

Die theatrale Inszenierung einer glorreichen Geschichte zielt auf die Ausstellung und Stabilisierung der nationalen Identität ab, die außerdem religiös als christlich-orthodox definiert wird, denn in der Regel wird exklusiver Bezug auf die christliche Hochlandgesellschaft genommen. Damit wird auf Repräsentationsebene der Mythos transferiert, dass Äthiopien von seinen historischen Ursprüngen her eindeutig christlich-orthodox war, um die gläubige Gemeinde zu vereinen und ihre kulturelle Hegemonie zu legitimieren. Da gerade in Historiendramen die Zurschaustellung eines christlichen Menschenbildes und eines nationalistisch-patriotischen Heldenmythos ersichtlich werden, erscheint es wie eine Indienstnahme des Theaters für innenpolitische Interessen. Die Historiendramen können als Repräsentation einer nationalen Kultur gedeutet werden, die Hall mit Bezug auf Anderson, Hobsbawm and Ranger als kulturelle Macht – siehe Kapitel 3 – definierte, welche dazu diene, mittels historischer Narrationen, dem Ausstellen eines Ursprungsmythos und der Erfindung von Traditionen interne Differenzen zu homogenisieren.88

ÄSTHETISCHE N ORMIERUNGEN Durch häufig wiederholte und minimal variierte Darstellungsformen, einander stark ähnelnde Inhalte, Handlungsstränge, einen Grundstock an Figuren- und Raumkonzeptionen, die bevorzugte Wahl eines Genres und den einander stark ähnelnden ästhetischen Mitteln entfaltet sich ein Mechanismus der Standardisierung in den Theatern. Das nehmen auch äthiopische Theaterschaffende wie Lealem Berhanu wahr: „You can describe the entire Ethiopian theatre after you have seen two or three pieces.“89 Tanzschaffende wie Mintesinot Getachew schildern das Problem wie folgt: „There is a lot of repetition in the productions. […] These kinds of productions are the same. Every year you can see that and every time before you saw the same already. […]

87 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 4. 88 Vgl. Hall, 2008, S. 201 ff. 89 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 9.

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The movement material is always the same. […] The way they perform is all the same and additionally all the theatres are producing repetition material.“90

Diese pauschal anmutende Aussage deute ich als einen Hinweis auf die umfassenden inhaltlichen und ästhetischen Normierungen im aktuellen Theaterbetrieb. Normiert scheint das Themenspektrum der Kunst zu sein, denn vermieden werden Stückproduktionen, die aktuelle Belange, gesellschaftliche Tabus91 oder aktuell-politische Themen zum Inhalt haben. Zeitgenössisches Theater in Äthiopien ist daher eng mit der Idee der Repräsentation im Sinne des Konzepts von Theatralität verbunden, das Fischer-Lichte wie folgt definierte: „Während Theatralität […] die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.“92

Im aktuellen Theater werden überwiegend die Demonstration von Handlungen und Ordnungen vorgenommen sowie „Situationen des Zeigens“93 oder Vorführens von Konformität betont. Dabei stehen Textzentrierung und Dialogizität im Mittelpunkt der meisten Inszenierungen, was bedeutet, dass Sprache das dominante theatrale Mittel ist und somit die Ebene der Akustik überwiegend fokussiert wird. Körperbetonte Ansätze werden zwar in Vorführungen folkloristischer Tanzdarbietungen an Feiertagen umgesetzt, aber sie nehmen wenig Raum in den Inszenierungen ein. Da dem fiktionalen Text die höchste Relevanz bei Inszenierungen beigemessen wird und anderen theatralen Mitteln wie Bewegung, Bühnenbild, Beleuchtung, Musik etc. sehr viel weniger Bedeutung zukommt, ist eine Hierarchie der Bühnenmittel identifizierbar. Normiert ist auch der Schauspielstil, der überwiegend rhetorisch ist, bei dem die Mimik und die Gestik wichtige Ausdrucksmittel sind,

90 Köppen: Interview I Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 11. 91 Anm.: „Das Tabu ist anerkannter Wertmaßstab, positive Wertsetzung und verworfene, oder besser: streng untersagte Handlungsoption zugleich. Tabus sind Verhaltensdirektive, die einen bestimmten Grad an […] Verinnerlichung aufweisen und stark affektiv besetzt sind. Sie besitzen dadurch eine spezifische emotionale […] Wirkkraft, mit der sie als unausgesprochenes Handlungsgebot die Akteure stärker durchdringen, als es Regeln, Vorschriften und Gesetze […] vermögen, da diese äußerlich bleiben.“ (Hasselmann, 2010, S. 317) 92 Fischer-Lichte, 2012a, S. 29. 93 Warstat, 2012, S. 75.

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das Gesicht und die Körperfront überwiegend zum Publikum ausgerichtet werden und die Schauspieler_innen häufig nur agieren, wenn sie auch sprechen. Tesfaye Gessesse problematisiert die ästhetische Standardisierung im zeitgenössischen Theater wie folgt: „There isn’t such thing like experimental work here.“94 Dadurch ist es sowohl für Kunstschaffende als auch für Zuschauer_innen extrem schwer, entgegen diesen Normierungen sowohl zu produzieren als auch zu rezipieren. Aron Yeshitila beschreibt die auf den staatlichen Bühnen realisierte dominante Ästhetik folgendermaßen: „The foremost attribute of typical Ethiopian theatre goes to the dominating spoken performance which leaves nothing to be expressed physically or visually. The stage scene is set with highly elaborate props; characters or events are dressed up using the full range of stereotypical costume, lighting and sound. Tragedy is portrayed in dark shades and horrifying sound while comedy is mostly slapstick, featuring clichéd comic characters from specific social groups like the maid, the guard, the spoiled girl, the old person.“95

Er beschreibt eine Form starker räumlicher, figurativer und lichttechnischer Codierung im zeitgenössischen Theater, was u.a. stereotype Affekte produziert. Gründe für Standardisierungen der Handlungsstränge, Figurenkonstellationen, Charakterzeichnungen sowie für das schablonenartige Arbeiten können die Befriedigung von Zuschauermassen, die Definitionsmacht der Komitees, kulturpolitische Vorgaben, die Professionalität von Kunstschaffenden sowie die Ausstattung der Theaterhäuser sein.96 Unabhängig davon wird das Spektrum an Inszenierungsweisen und möglichen theatralen Mitteln durch den Mechanismus der Normierung limitiert. Etliche performative Künstler_innen hinterfragen in den Interviews kritisch, warum ästhetische Normierungen sich so verfestigten, was die künstlerische Autorschaft der Veteran_innen ausgemacht habe, warum spezifische Kenntnisse und experimentelle Arbeitsansätze nicht an sie weitergegeben wurden und weshalb ein Fachdiskurs bis heute kaum sichtbar ist. Aron Yeshitila zufolge habe sich zwar das thematische Spektrum seit Anfang der 2000er Jahre um soziale und psychologische Aspekte erweitert, da einige Produktionen z.B. von Getnet Eneyew und Widinek Kifile Fragen über Arbeitslosigkeit, Identitätsstiftung, soziale Ausgrenzung und Armut aufwerfen, dennoch blieben ihre Inszenierungen überwiegend der Ästhetik des Illusionstheaters und

94 Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4. 95 Yeshitila, 2010a, S. 32. 96 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4.

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dem Genre des Melodramas verhaftet.97 Die gesellschaftliche Wirkung der Kunstproduktion im Illusionstheater zielt darauf ab, „den Zuschauer emotional an eine glaubhaft vorgestellten, ihrer Übereinstimmung mit der Erfahrungswelt wegen täuschend echten Kunstwelt zu beteiligen (und ihn dadurch zu sensibilisieren und moralisch zu bessern).“98 In Übereinstimmung mit Aron Yeshitilas Auffassung handelt es sich auch aus meiner Sicht bei der dominanten Form des äthiopischen Theaters um eine Form des illusionistischen Theaters, das jedoch mittels stark symbolisch aufgeladener und hyperbolischer Zeichensprache häufig moralische Belange thematisiert. Außerdem ist die dominante Form theaterhistorisch der Gattung des Melodramas und literaturhistorisch der Form der Hagiographie entlehnt. Jane Plastow wiederum deutete diese Form als eine durch die Kirche und den Adel sozial geprägte Darstellungsweise: „Ethiopian actors claim to act in a predominantly realistic style, but I would contend that the dominant form still owes much to church and court influences. Psychological realism has little place in a drama which largely deals with the metaphysics of good and evil. It is extremely difficult for a foreigner to make value judgements on such an alien form of theatre. What is clear is that it is a style specific to Ethiopia, which has evolved from the élite art-forms of the Amhara, orthodox-Christian aristocracy.“99

In Abgrenzung zu Plastow erscheint es mir angebracht, die benannten Merkmale der Kunstform nicht anhand kirchlicher und höfischer Konventionen, sondern anhand kunstimmanenter Maßstäbe zu erläutern. Für ein differenzierteres Verständnis der angewandten ästhetischen Mittel im äthiopischen Sprechtheater möchte ich daher auf zwei Aspekte hinweisen, die die starke Normierung im zeitgenössischen Theater erklären und zugleich auch relativieren. Dabei handelt es sich, erstens, um das Prinzip von ‚semna werq‘ (‚wax and gold‘) als ästhetische Strategie, welche Liminalität erzeugt und, zweitens, um die Hagiographie als Vorlage für Konzeptionen der dramatischen Handlungsstränge. Äthiopische Theatermacher_innen arbeiten sehr häufig mit dem ästhetischen Prinzip des ‚semna werq‘, um ihre inhärente Kritik an sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Zuständen mehrdeutig zu transportieren, was stetig ein gefährlicher Grad der Äußerung war. Die Kunsthistorikerin Elisabeth Harney definiert

97 Vgl. Yeshitila, 2010 b, http://arefe.wordpress.com/2010/05/06/ethiopian-theatre-at-aglimpse/, 01.10.2012 98 Sucher, 1996, S. 213. 99 Plastow, 1996, S. 221.

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diese ästhetische Strategie des ‚semna werq‘ als Strategie der Produktion von Doppelbedeutungen. „The phrase ‚wax and gold‘ refers to the […] traditional Ethiopian verse that carries dual meanings, one more apparent than the other.“100 ‚Semna werq‘ ist ein ästhetisches Prinzip, das bereits u.a. in Schulen der Poesie (‚quiné‘) innerhalb der orthodox-christlichen Bildungseinrichtungen und bei den epischen ‚azmari‘-Gesängen Anwendung fand. Im Wesentlichen basiert es darauf, inhaltliche Bedeutungen auf mehreren Ebenen zu konstruieren, so dass die Verse mindestens auf zwei, häufig aber auf drei oder vier Deutungsebenen – je nach Einsatz der Phonetik und Kenntnis der metaphorischen Dimensionen – interpretierbar sind und zum Teil sehr kritische, zwiespältige und sogar gegensätzliche Aussagen subsumieren können.101 Bahru Zewde betont die politische Komponente dieser ästhetischen Strategie: „The culture of ‚wax and gold‘ […] had for long provided a convenient medium for political dissent or satire in Ethiopia.“102 Allerdings können meist nur in der Liturgiesprache des Ge’ez und in der Muttersprache des Amharischen weitreichend gelehrte Zuschauer_innen diese Äußerungen mit ihren vielfältigen Dimensionen verstehen. Gleichzeitig können auch nur in der Poesie (‚quiné‘) umfassend gelehrte Dramatiker_innen das ästhetische Prinzip voll ausschöpfen.103 Dieses Prinzip bietet immer die Möglichkeit einer späteren Rücknahme der Äußerung von Seiten der Künstler_innen, wenn sie unter Druck mit staatlichen Behörden geraten sollten. Es hat das Potential, sensible Fragen in der Öffentlichkeit subtil durch Allegorie und Metaphorik zu thematisieren. In einem Gespräch zwischen dem äthiopischen Bühnenautor Mengistu Lemma und Reidulf Molvaer, machte Mengistu Lemma deutlich, dass es mindestens zwei konträre Auffassungen eines qualitativ hochwertigen ‚semna werq‘- Prinzips in den äthiopischen Klosterschulen gibt. Die eine Richtung, repräsentiert durch die Wadla-Schule, vertritt die Ansicht, dass ‚semna werq‘ nur mittels einer komplexen, mehrdeutigen, metaphorischen und opaken Sprache erzeugt werden könne, während Vertreter_innen der Gondar-Schule die Position vertreten, dass es nur durch die Kreation einer reduzierten, aber dennoch subtilen

100 Harney, 2003, S. 47. 101 Anm.: „The process appears at times to have verged an elaborate and dangerous game between the playwrights, public, court and censors as to which critical allusions would be allowed to pass and which would result in censorship or banning.“ (Plastow, 1996, S. 99) 102 Zewde, 2014, S. 52. 103 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 9.

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Sprachkonstruktion erzeugt werden könne.104 Damit verbunden ist auch die Auffassung einer Kunstproduktion im Theater, die stark an Schreibtechnik, Poesie und Sprachkenntnis gebunden bleibt. Es ist daher wichtig festzuhalten, dass trotz stark normierter Repräsentationsformen, Sujets, Genres, Charakterzeichnungen, Handlungsabläufe, Bewegungsformationen und anderer ästhetischer Mittel im zeitgenössischen Theater Äthiopiens jedoch auf sprachlicher Ebene etwas vermittelt wird, was durchaus mehrdeutig, brüchig, hinterfragend, kritisch kommentierend, zuweilen irritierend oder subversiv sein kann und sich von der visuellen Ebene total unterscheidet. Das kann nur eine Zeile im gesamten Stück sein oder es können fortlaufend erscheinende Äußerungen sein, die in sich gespalten und vieldimensional sind. Das, was die Theaterwissenschaftler_innen Joachim Fiebach und Erika Fischer-Lichte als Momente der Liminalität im Theatralen bezeichnen, wird von etlichen äthiopischen Theatermacher_innen weiterhin vorrangig auf sprachlicher Ebene perfektioniert. Fischer-Lichte bezeichnet mit Liminalität diejenigen Momente der Irritation von gewohnten Orientierungsmustern im Theater.105 Fiebach zufolge ermöglichen Momente der Liminalität „die reflexive Durchmusterung des gesellschaftlichen Zustandes, […] damit […] das kritische Erfahren, Sehen und Denken von Welt.“106 Indem äthiopische Künstler_innen auf sprachlicher Ebene Ambiguität erzeugen, kreieren sie Momente, in denen Zuschauer_innen mit verschiedenen Sichtweisen gleichermaßen konfrontiert werden und ihre Beurteilungen aufschieben müssen. Dadurch erleben sie temporär eine Schwellenerfahrung, welche durch das Mittel des ‚semna werq‘ erzeugt wird. Und durch diese Strategie machen Künstler_innen trotz standardisierter Theaterproduktionen dennoch subtil Abweichungen von genormten Anschauungen möglich. Ein anderer wichtiger Aspekt für das kontextuelle Verständnis der Normierungen im zeitgenössischen Sprechtheater sind die Bedeutungen von Hagiographien und ihre möglichen Bezüge zum Theater. Die Literaturwissenschaftlerin Selamawit Mecca machte darauf aufmerksam, dass Hagiographien, deren Autor_innen größtenteils anonym blieben, mit Erzählungen unzähliger Legenden seit dem Mittelalter einen enorm umfangreichen Textkörper innerhalb der orthodoxen Kirche sowie innerhalb der äthiopischen Künste bilden.107 In dieser Literatur- und Malereitradition wurden Lebensgeschichten von Heiligen, Märtyrer_innen, Aposteln oder Prophet_innen stark standardisiert. Zu den im Land be-

104 Vgl. Molvaer, 1997, S. 280. 105 Vgl. Fischer-Lichte, 2005, S. 28. 106 Fiebach, 1996, S. 40. 107 Vgl. Mecca, 2006, S. 156 f.

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kanntesten Narrationen gehören die Wunder Marias und die Legenden von Tekle Haimanot, St. Gabriel, St. Michael und St. Georgis. Auch in diesen Text- und Bildproduktionen ging es Salamawit Mecca zufolge nicht um eine Form der Geschichtsschreibung im kritischen Sinne, sondern um die Demonstration moralischer Werte, biblischer Erzählungen und den Einsatz polemischer Übertreibungen.108 Die bereits erwähnten Inszenierungselemente wie die Standardisierung von Geschichten, das Mittel der Übertreibung, die Demonstration einer Lehre und manichäischen Weltsicht sowie die Repräsentation moralischer Fragen, die bis heute in den Melodramen und Historiendramen des zeitgenössischen Theaters in Äthiopien relevant sind, können partiell auf diese allgegenwärtige Kunstform zurückzuführen sein. Um ein breitenwirksames Verständnis der vermittelten Werte zu ermöglichen, wurden die künstlerischen Ausgestaltungen dieser Legenden zugunsten der Eindeutigkeit und der Unterweisung minimal gehalten und wenig variiert. Das führte u.a. zu narrativen Repräsentationsformen, die mit stark simplifizierten Realitätsmodellen operieren, welche Widersprüchlichkeiten negieren.109 „The Ethiopic hagiographic style is that of a disconnected and episodic narrative. We do not find reflections of the relationship of an individual’s story with historical or biblical circumstances, any considerations of influences (either the subject being influenced by apologists or the subject influencing history), or interactions with his/her milieu. Ethiopic hagiographies are usually descriptions of individuals seen as members of a social or hierarchical group rather than accounts of individuals which consider personal developments and reflect upon their respective reasons and contexts.“110

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch das Operieren mit einem manichäischen Weltbild von Seiten etlicher Theatermacher_innen aus diesem Einfluss heraus zu erklären ist. Hinsichtlich der stereotypen Charakterzeichnung im Theater zeigen sich Korrespondenzen zwischen Aron Yeshitilas Beschreibungen und Selamawit Meccas Analysen. Figuren werden sowohl im Theater als auch in Hagiographien überwiegend auf Grund ihrer sozialen Stellung stereotyp konstruiert und seltener aus psychologischen Motiven in ihrer individuellen Entwicklung oder sozialen Interaktion heraus gestaltet. Da Hagiographien in Äthiopien bis heute sehr weit verbreitet sind, ist es wahrscheinlich, dass viele Künst-

108 Vgl. ebd. S. 157. 109 Vgl. ebd. S. 159. 110 Ebd. S. 158.

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ler_innen sich an diesen Modellen der Repräsentation orientieren bzw. durch sie indirekt beeinflusst sind. Das ist ein mögliches Erklärungsmodell für die inhaltlichen Ähnlichkeiten und gemeinsamen Charakteristika vieler Produktionen im zeitgenössischen Theater.

ABWEICHUNGEN VON

DER

N ORM

Daneben gibt es immer wieder auch Inszenierungsansätze, die durch ihre Themensetzung, Charakterzeichnung und Ästhetik von der dominanten Norm abweichen. „But that happens so rarely once in a blue moon, I can say.“111 Dennoch ist es wichtig, diese künstlerischen Interventionsversuche sichtbar zu machen. Einige Kunstschaffende versuchen, neue thematische Schwerpunkte und ästhetische Innovationen im normierten Sprechtheater durchzusetzen. Dazu gehören die Regisseure Widinek Kifile, Getnet Eneyew, Ayalneh Mulat, Manyazwal Endeshaw oder Azeb Worku, die teils freischaffend arbeiten und teils am staatlichen Theater angestellt sind. Sie alle bringen ihre Inszenierungen an den staatlichen Theatern zur Aufführung.112 Abate Mekuria spezialisierte sich auf Darstellungen von Massenszenen und auf die Verhandlung sozialer Tabuthemen wie häusliche Gewalt oder Auswirkungen des Chat-Konsums.113 Das von seinem Mekuria Theatre Ensemble 1990 erarbeitete Musical „Ye Listros Opera“ („Shoe Shine Opera“), das sich mit Armut und sozialer Ungleichheit beschäftigt, war das erste Stück nach Dekaden, welches wieder Tanz und Musik in die Darstellung integrierte.114 Es wurde u.a. im Windybrow Festival in Johannesburg und am Peter-Brook Theatre in Paris aufgeführt. Der Regisseur Manyazwal Endeshaw, der zunächst an der Addis Ababa University und Mitte der 1980er Jahre an der Humboldt-Universität in der DDR ausgebildet wurde und von 1991 bis 1995 Manager des äthiopischen Nationaltheaters war, experimentierte mit verschiedenen Genres und unterhielt eine Vor-

111 Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4. 112 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 6 f.; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 3 f. 113 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4. 114 Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 119.

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liebe für das fantastische, absurde, anti-illusionistische Theater.115 Er hat Adaptionen von Camus „Calligula“ und Shakespeares „Hamlet“ erarbeitet sowie Stücke von Zola, Strindberg und Christi inszeniert.116 Als er Ende der 1990er Jahre Becketts Stück „Waiting for Godot“ und Pinters Stück „The Birthday Party“ an der Studiobühne der AAU inszenierte, die beim äthiopischen Fernsehsender ETV übertragen wurden, sorgte es für öffentliche Empörung, weil das Publikum von der Ästhetik irritiert war und sich davon persönlich angegriffen fühlte.117 Die negativen Reaktionen, die Manyazwal Endeshaws Inszenierungen hervorriefen, weisen u.a. auf die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz für experimentelle Kunstansätze hin. Getnet Eneyew arbeitet seit 30 Jahren am Nationaltheater als Hausregisseur und hat über 20 Stücke inszeniert. Darunter sind seine eigenen wie „Addis Ababa Wey“ („Oh, Addis Abeba“), „Webeten Felaga“ („Beauty is What we Want“) und „Ye Tewodros Rai“ („The Vision of Tewodros“). Getnet Eneyew inszeniert Theater als Ort der sinnlichen Wahrnehmung, experimentiert mit der Enthierarchisierung von theatralen Mitteln und integriert u.a. synchrone Bewegungschöre, Tanz, Körperausdruck, Erweiterung des Theaterraums, Einbezug der Zuschauer_innen in den Handlungsablauf und Zertrümmerung eines linearen Handlungsstrangs.118 In der Inszenierung von „Ye Tewodros Rai“ („The Vision of Tewodros“) zum Beispiel arbeitet Getnet Eneyew mit Tanz- und Bewegungselementen, die seine Darsteller_innen in großen Gruppen synchron aufführen. Er kreiert Szenen, die das visuelle, auditive und sinnliche Potential des Mediums Theater andeuten, bricht phasenweise die vierte Wand der Guckkastenbühne auf und hinterfragt eingeschliffene Wahrnehmungsweisen. Darsteller_innen bewegen sich mit Fackeln durch den Zuschauerraum, bespielen die Gänge und Sitzreihen im Theater oder agieren im Rang. Andere Szenen werden gänzlich durch Verzicht auf Sprache inszeniert. Er entzieht seinen Darsteller_innen die ausschweifend-expressiven, hyperbolischen Gesten und beharrt auf Reduktion. In seinem Stück „Hamsa Amet Sinte New“ („How long last 50 Years“), welches mit einer leeren Bühne ohne Lichteffekte auskommt, speisen sich die visuellen Eindrücke ausschließlich aus den physischen Handlungen seiner Darsteller_innen. Dieses Stück thematisiert politische Machtwechsel sowie sozioökonomische und

115 Vgl. Gebeyehu/Edemariam 1997, S. 123; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4. 116 Vgl. Wondimu, 2009, S. 94 f. 117 Vgl. Yeshitila, 2010a, S. 33. 118 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 3, 6 f.; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 6, 8.

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gesellschaftliche Wandlungen in den letzten 50 Jahren. Es wurde im Creative Art Centre der Universiät mit großem Erfolg aufgeführt, jedoch nicht für die staatlichen Bühnen zugelassen und im angespannten Klima von 2005 verboten.119 Ayalneh Mulat, der Anfang der 1990er Jahre Direktor des AAU Cultural Centers war und 1993 zusammen mit 40 anderen Dozent_innen aus politischen Gründen von der Universität verwiesen wurde, ist bekannt für experimentelle Arbeitsansätze und Inszenierungen über heikle Themen, die er mit finanziellem Risiko und hohem Eigenengagement zu realisieren versucht. Seit 1995 produzierte Ayalneh Mulat elf Stücke am Kendil Theatre des Pushkin Instituts, die sich durch anti-naturalistische Darstellungsweisen auszeichnen. Kennzeichnend für seinen Regiestil ist das Arbeiten mit Verfremdungseffekten wie das öffentliche Thematisieren von Rollenfiguren, direkte Ansprache des Publikums, Auflösung der vierten Wand, Ästhetik des Minimalismus sowie Einsatz von Bewegungs- und Sprechchören.120 Indem er sich dem Diktat des illusionistischen Theaters widersetzt und Techniken verwendet, die eine Distanzierung und kritische Reflektion des Bühnengeschehens sowie der umgebenden Realität provozieren, durchbricht er den normierten Kunstkanon vor Ort. Ayaleneh Mulat ist einer der wenigen Theatermacher, der in seinen Stücken Fragen nach Geschlechtergleichheit und Religionsakzeptanz aufwirft. So kreierte er in dem Stück „Yegeter na Fana“ („Light oft he Country“) eine Frauenfigur, die unabhängig, selbstbestimmt, aktiv und vom gesellschaftlichen Konsens über Frauenrollen abweichend auftrat.121 Sein Stück „Yementa Enat“ („Mother of Twins“) war bislang die einzige Inszenierung, die Angelegenheiten einer muslimischen Familie und Elemente der islamischen Kultur in Äthiopien auf der Bühne behandelte.122 Seine Inszenierung „Deha Adeg“ („The Child of Poverty“), das die Armut als Resultat wirtschaftlicher Missstände im Land reflektiert und sehr erfolgreich war, wurde von der Regierung verboten.123

119 Vgl. Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 1, 4; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 16; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5. 120 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4 f.; Yeshitila, 2010a, S. 34. 121 Vgl. Wondimu, 2009, S. 65. 122 Vgl. ebd. S. 75. 123 Vgl. Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 121.

172 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „The real challenge for the government and quite a contrast to the content and form of the mainstream theatre scene came from Russian educated veteran director Ayalneh Mulat. His directing influence, owing much to Brechtian techniques of alienation, becomes noticeable when the chants and the optical slides mostly describing the excruciating reality of long lingering poverty and injustice of the masses start to come to the fore.“124

Materialismus und Armut werden wiederholend auch in melodramatischen Stücken des zeitgenössischen Theaters verhandelt, jedoch analog zur biblischen Bewertung und nach dem Prinzip des manichäischen Weltbildes wird Armut als Tugend und materieller Reichtum als Sünde konzeptioniert. Dem gegenüber – so lese ich das Zitat von Aron Yeshitila – wagt der Regisseur Ayalneh Mulat, Armut als historisch gewachsene Realität zu thematisieren und gewährt einen historisierenden Blick auf die derzeitigen ökonomischen Bedingungen. Seine Produktionen erzeugen somit nicht nur einen Bruch in der kanonisierten Geschichtsschreibung, sondern stellen auch ein Affront gegen die Machthabenden und eine Hinterfragung des etablierten Wahrheitsmonopols dar.125 Auch andere Regisseure weichen von der Normierung bewusst ab, wie Widinek Kifile, der künstlerisch mit Strafgefangenen arbeitete und mit ihnen im Gefängnis das Stück „Babylon be Salon“ („Babylon in the Living Room“) in Form des psychologischen Realismus kreierte. Die Regisseurin Azeb Worku, die zunächst als Schauspielerin arbeitete, adaptierte 2006 die französische Filmkomödie von Francois Ozon unter dem Titel „Yesimintu Setotch“ („Eight Women“). Es war die erste Theaterproduktion in Äthiopien, an der ausschließlich Frauen beteiligt waren. Aufgrund des großen Erfolgs wurde die Komödie ein Jahr lang am Nationaltheater aufgeführt und anschließend als Tournee auf dem Land gezeigt.126 2009 thematisierte Azeb Worku Lebenskonzepte der in den USA lebenden äthiopischen Diaspora in dem Stück „Diaspora“, bei dem sie mit Videoprojektion auf der Bühne arbeitete.127 Ersichtlich an diesen Beispielen sind Versuche von Künstler_innen, neue thematische Setzungen im Theater vorzunehmen oder alternative ästhetische Strategien zu erproben, wobei sie teils auch immer wieder persönliche Risiken eingehen. „Even in the main stages there were a handful of more experimental

124 Yeshitila, 2010a, S. 34. 125 Anm.: Obwohl Ayalneh Mulat weiterhin inszenieren durfte, wurde ihm untersagt, Werbung für seine Stücke bei staatlichen Fernseh- und Radiosendern zu machen. 126 Vgl.

Afework,

2014,

http://www.ethiopianwomenunleashed.org/database/azeb-

worku-sibane/, 25.11.2015. 127 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 7.

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productions. But none of them has gone anywhere.“128 Solche Erfahrungen prägen ein spezifisches Selbstverständnis unter zeitgenössischen Theatermacher_innen Äthiopiens, die u.a. mit der Herausforderung des politischen Drucks und der gesellschaftlichen Akzeptanz für ästhetische Konventionsbrüche umzugehen haben.

F AZIT Von diesen Forschungsergebnissen zum zeitgenössischen Theater in Äthiopien lässt sich der Arbeitskontext der Kunstschaffenden hinsichtlich ihrer materiellen, ökonomischen und strukturellen Arbeits- und Produktionsbedingungen ermessen und ebenso ein Spektrum an differenten Herausforderungen und Potentialen ableiten, die die Zusammenarbeit zwischen performativen Künstler_innen Äthiopiens und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts betreffen. Das aktuelle Theater ist strukturell dadurch gekennzeichnet, dass in den Häusern große Belegschaften und strenge Hierarchien existieren, schwierige materielle Bedingungen herrschen und eine Kontrolle der Kunstpraxis durch hausinterne Komitees vorgenommen wird. Einerseits subventioniert der Staat die Theaterhäuser, ist jedoch andererseits ökonomisch unter Druck, hohe Profite mit den Produktionen an den eigenen Kulturinstitutionen zu erzielen. Das führt dazu, dass Künstler_innen indirekt genötigt werden, massentaugliche und profitversprechende Unterhaltungskunst bereitzustellen, wodurch die Genres Komödie, Melodrama und Historiendrama begünstigt werden. Entgegen des sonst herrschenden Anspruchs der Massentauglichkeit von Stücken besteht ein Potential der Zusammenarbeit von performativen Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts in dem Finden alternativer ästhetischer Formen, künstlerischer Strategien und konzeptueller Ansätze und auch darin, für ein kleineres Nischenpublikum zu inszenieren. Da im aktuellen Theaterbetrieb textzentrierte Theaterformen dominieren, kann eine Umsetzung von körper- und bewegungszentrierten Theaterformen eine künstlerische Entscheidung sein, die die Normierungen unterläuft. Vereinzelt haben äthiopische Kunstschaffende immer wieder Versuche unternommen, mittels Auflösung der vierten Wand, durch Einsatz von Musik, Tanz, Mime, Sprech- und Bewegungschören, Projektion und Reduktion, die ästhetischen Normierungen an den staatlichen Bühnen zu durchbrechen.

128 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8.

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Es liegen für gemeinsame Produktionen gleichermaßen Herausforderungen und Potentiale in dem Umgang mit Konventionen des Theaters – wie der Abweichung von inhaltlichen und ästhetischen Standardisierungen, in der Abkehr mimetischer Repräsentation, in der Auflösung dramatischer Handlungslogik und Figurenzeichnung, in der Fokusverlagerung auf Raum, Beleuchtung, Kostüm etc. und im Finden einer Ästhetik, die sich von der hyperbolischen Zeichensprache absetzt. Das bedeutet jedoch, dass längere Probenphasen und Produktionsprozesse geplant und Strategien der Durchbrechung ästhetischer Normen unter den beteiligten Akteur_innen debattiert werden müssen, weil sie Begrenzungen und Grenzüberschreitungen im symbolischen Raum betreffen. Für die Probenprozesse ergibt sich eine andere Herausforderung. Aufgrund des derzeit gängigen Arbeitsprinzips, welches sich durch genaue Anweisungen der Regisseur_innen auszeichnet, kann es sein, dass Performer_innen tendenziell zögerlich auf die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung bei Produktionen in Form von Improvisation, Assoziation, Dokumentation, Einbringen biographischen Materials oder Teilhabe an der Stückentwicklung reagieren. Das bedeutet, dass auch die gemeinsame künstlerische Arbeitsweise komplexe Verhandlungsund Aushandlungsprozesse benötigt. Das erfordert das Einplanen von Zeitfenstern im Produktionsprozess, in denen Künstler_innen die Möglichkeit zur Artikulation, Reflektion, Hinterfragung und Kritik nutzen, künstlerische Entscheidungen transparent gemacht und zur Disposition gestellt werden können. Bei gemeinsamen Produktionen besteht immer die Möglichkeit, ästhetische Konventionen zu reproduzieren oder aber normabweichende Kunstereignisse zu realisieren, die einerseits Standardisierungen unterlaufen, andererseits aber auch eine unabsehbare Resonanz riskieren. Jedoch stellt dabei – wie in anderen inter- und transkulturellen Kunstproduktionen – der Bezug auf differente Kunstdiskurse und ästhetische Konventionen eine außerordentliche Herausforderung für alle Beteiligten dar. Wie an den Ausführungen in Kapitel 6 sichtbar geworden sein sollte, betrifft das bereits ein grundlegendes Verständnis von performativen Künsten. So kann die Ästhetik des Schönen für einige Kunstschaffende in einer ausgeführten Geste in Form der hyperbolischen Zeichensprache und für andere Kunstschaffende durch eine deformierte Körperposition sichtbar gemacht werden. Oder es kann von einigen die Reduktion szenischer Zeichen für wichtig erachtet werden, während andere die Schichtung sich einander verstärkender Zeichen für relevant halten. Einigen Künstler_innen mag es notwendig erscheinen, vom Publikum verstanden zu werden und als Orientierung narrative Handlungsstränge anzubieten, während andere Künstler_innen Irritationen hervorzurufen beabsichtigen und mit Abstraktion, Fragmentierung oder Brüchen operieren wollen.

6. Z EITGENÖSSISCHES THEATER IN Ä THIOPIEN | 175

Das Phänomen des Bezugs auf differente Kunstdiskurse ist dadurch besonders komplex, weil viele Bezugspunkte des eigenen ästhetischen Referenzsystems internalisiert und unbewusst sind, daher nur bedingt entäußert, erklärt oder begründet werden können. Im Kontext inter- und transkultureller Austauschbeziehungen kommt aber erschwerend hinzu, dass es umfassende Kenntnisse über differente Kunstgeschichten, theaterimmanente Konventionen und Bedingungen der künstlerischen Produktion benötigt. Aber auch mit solchen Kenntnissen bleibt es enorm herausfordernd, denn an dieser Stelle setzt in einer gemeinsamen künstlerischen Produktion das ein, was Glissant, Hall und Bhabha als ‚Prozess der kulturellen Übersetzung‘ bezeichneten. Hall wies explizit darauf hin, dass es ein qualvoller Prozess sei, weil er immer unabgeschlossen bleibt und dazu nötigt, das eigene Referenzsystem zu revidieren und dadurch immer auch die Begrenzung des eigenen Bedeutungssystems zu enthüllen.129 Darüber hinaus stellte der Theater- und Kulturwissenschaftler Rustom Bharucha es gänzlich in Frage, ob überhaupt solche Formen der kulturellen Übersetzungen möglich sind.130 Der Herausforderung der gemeinsamen Reflektion, Verhandlung und Verschiebung ästhetischer Referenzpunkte können sich die beteiligten Akteur_innen nur stellen, wenn ihre Arbeitsprozesse ergebnisoffen konzipiert werden. Während jedoch die Idee einer ‚kulturellen Übersetzung‘ nahe legt, quasi einen Transfer auf kognitiver oder intellektueller Ebene zu gestalten, können m.E. ästhetische Präferenzen von den jeweiligen Akteur_innen weder abgelegt noch dekonstruiert werden, da im Sinne Bourdieus die Formung des ästhetischen Sinns mit Konditionierung sinnlicher Wahrnehmung, Sozialisation, Unbewusstheit, Geschichtlichkeit, Habitus etc. einhergeht.131 Insofern sind auf dieser Ebene potentiell konfliktive Momente wiederholend zu erwarten, die nicht per se zu lösen sind. Jedoch besitzen diese konfliktiven Momente in besonderer Weise das Potential des miteinander-in-Beziehung-Tretens im Sinne Glissants, indem eigene Referenzpunkte möglichst bewusst gemacht, artikuliert und übersetzt sowie fremde Referenzpunkte wahrgenommen und anerkannt werden.

129 Vgl. Hall, 2004, S. 208 f. 130 Vgl. Bharucha 1993, S. 32. 131 Vgl. Bourdieu/Darbel, 2006, S. 65-109.

7. Kunstszenen in Addis Abeba

Der Begriff ‚Szene‘ bezeichnet in diesem Kontext nicht den Teil eines Theaterstücks, sondern eine Subkultur. In dem Artikel „Scene Thinking“ plädieren Woo, Rennie und Poyntz für kulturwissenschaftliche Ansätze auf Basis eines ‚thinking-through-scenes‘ und definieren Szenen wie folgt: „They are typically understood as loosely bounded social worlds oriented to forms of cultural expression. […] The concept is thus supple enough to capture both the continuity and the constant transformation that characterize the social worlds formed around culture.“1

Der Begriff mag den Anschein erwecken, dass es sich um homogene Gemeinschaften (‚communities‘) handele. Ich verwende den Begriff ‚Szene‘ in Anlehnung an die Bestimmung des Musikwissenschaftlers Will Straw im Sinne lockerer, offener, dynamischer und sich überschneidender Netzwerke von Akteur_innen, welche graduell verschiedene Verbindungen zueinander unterhalten. In diesem Sinne zeichnet sich eine Szene u.a. durch stetige Beweglichkeit und hohe personelle Fluktuation sowie durch das Schmieden temporärer Allianzen aus.2 Die performativen Künstler_innen aus Addis Abeba, die verschiedene Positionen vertreten, strukturieren sich in unterschiedlichen Relationen zueinander und zu Institutionen sowie um verschiedene Formen performativer Künste herum. Akteur_innen der Kunstszenen Tanz und Performance Art gehen temporär Allianzen mit dem Gotehe-Institut und anderen ausländischen Kulturinstituten ein.

1

Woo, Rennie, Poyntz, 2014, http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09502386.

2

Vgl. Straw, 1991, S. 373 ff.

2014.937950, 21.06.2015.

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Entgegen der Ende der 1980er Jahre formulierten Annahme der Theaterwissenschaftlerin Jane Plastow, dass in Äthiopien maßgebliche Innovationen für das Theater aus dem Amateurbereich zu erwarten seien, zeichnet sich derzeit ab, dass die Akteur_innen der zeitgenössischen Kunstszenen Addis Abebas professionelle Künstler_innen aus den Bereichen Theater, Tanz und Performance Art sind, die teils in formellen und teils in informellen Ausbildungs- und Arbeitsstrukturen produzieren. Da bislang keinerlei Forschungsergebnisse dazu vorliegen, bilden die von mir in Interviews und Beobachtungen gesammelten empirischen Daten die Grundlage für dieses Kapitel. Wie ich vorab bereits darlegte, ist ein Aspekt, den Rustom Bharucha in der Debatte um interkulturelles Theater kritisierte, die neokoloniale Obsession, Kunst im außereuropäischen Kontext auf Traditionen zu reduzieren und die Aufmerksamkeit auf traditionelle, rituelle und folkloristische Elemente zu lenken, dabei jedoch die zeitgenössischen Strömungen zu unterschätzen: „[…] our ‚modernity‘ being of no concern to most interculturalists […].“3 Bharuchas Kritik halte ich insofern für relevant, als dass es im Bereich der Theater-, Kunst- und Kulturwissenschaft bislang kaum Forschungen zu zeitgenössischen Kunstströmungen und aktuellen Kunstszenen in Äthiopien gibt. Dem gegenüber ist wertschätzend zu betonen, dass das Goethe-Institut in seiner praktischen Kulturarbeit explizit an der Förderung zeitgenössischer Kunstströmungen interessiert ist und vorzugsweise mit Künstler_innen dieses Metiers kooperiert. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die aktuellen Kunstszenen Addis Abebas in Hinblick auf die individuellen Akteur_innen, ihre Ausbildungshintergründe, Ambitionen, Arbeitsansätze, Netzwerke, Haltungen und Kunstpraxen. Das zu beleuchten ist wichtig, um nachzuvollziehen, wer diese äthiopischen Künstler_innen sind, die mit dem Goethe-Institut temporäre Allianzen eingehen und welches personengebundene Potential in der Zusammenarbeit liegt.

T HEATERSZENE Theaterschaffende erhalten in der Regel eine universitäre Ausbildung im Fach Theatre Arts auf dem Niveau des B.A. an der Addis Abeba Universität (AAU). Da das Studium der Theaterkunst weder begehrt noch gesellschaftlich anerkannt ist, gehört es zu den Fächern mit einer schlechten Reputation. Studierende werden nach einem allgemeinen Ausbildungsjahr an der Universität je nach Leistungen für die Studienfächer eingeteilt und sind häufig enttäuscht, wenn sie

3

Bharucha, 1996, S. 207.

7. K UNSTSZENEN IN A DDIS A BEBA

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Theaterkunst studieren müssen. Andere erlernen an privaten Ausbildungszentren oder durch ihre Engagements an staatlichen Theatern das Berufsmetier.4 Diejenigen, die an der Universität studieren, besuchen je einen Kurs für europäische und afrikanische Theatergeschichte, für die Analyse dramatischer Texte und das Verfassen von Stücken. Sie werden auch in den Fächern ‚theatre for development‘ und ‚musical‘ unterrichtet.5 Student_innen sammeln in verschiedenen ruralen Gebieten Äthiopiens Informationen über performative Elemente von Riten und Festlichkeiten, was als Materialsammlung für diverse Repräsentationen im Bereich Volkstheater mit folkloristischen Darstellungselementen dient.6 Dies ist u.a. im Kontext der Zunahme von ‚folk drama‘ zu verstehen, was seit den 1990er Jahren zu beobachten ist und auf ästhetischer Ebene dem dominanten Diskurs der aktuellen Ethnizitätspolitik der Regierung entspricht. Wondimu zufolge werden im Bereich des ‚folk drama‘ Stücke inszeniert, die die Kultur verschiedener Bevölkerungsgruppen, z.B. der Gurage, Oromo oder Tigray repräsentieren sollen.7 Praktische Arbeitserfahrungen sammeln Student_innen des Theatre Arts Departments in mindestens einer Theaterproduktion, was dem Erproben künstlerischer Mittel und Arbeitsweisen dient.8 Die Verantwortung für die Regie dieser Produktionen tragen im Rotationsprinzip die Dozent_innen des Instituts, welche die Studierenden für die Bereiche Beleuchtung, Bühnenbild, Dramaturgie oder Regieassistenz einteilen. Produktionen werden stilistisch in dem Genre umgesetzt, in dem die Dozent_innen auch das Fach unterrichten, z.B. unterrichtet und produziert Nebiyu Baye an der Universität Musicals. Der Dozent Teshale Worku unterrichtet Regie und produziert Sprechtheater. Belayne Abune unterrichtet ‚theatre for development‘ und bereitet die Studierenden auf ihre Arbeit mit NGOs vor.9 Es ist ebenso möglich, dass anerkannte Regisseur_innen wie Getnet Eneyew oder Manyazwal Endeshaw für solche studentischen Theaterproduktionen angeworben werden. Der Theatermacher Tesfaye Gessesse kritisiert an dem Curriculum, dass nicht genügend Theaterhistoriographie gelehrt wird.10 Ein großes Problem an der

4

Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4.

5

Vgl. Addis Ababa University, 2013a, http://www.aau.edu.et/index.php/theatrical-arts-

6

Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 7.

7

Vgl. Wondimu, 2009, S. 101.

8

Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 6.

9

Vgl. ebd. S. 6 f.

program-objectives, 03.02.2013

10 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4.

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universitären Ausbildung ist fehlendes Literatur-, Film- und Videomaterial in den Bibliotheken, bei dem Studierende visuelle Eindrücke von unterschiedlichen Theateransätzen sammeln könnten.11 Alternative Zugänge zu solchen Informationen sind außerdem dadurch erschwert, dass das Verlagswesen klein und das Internet kostenintensiv ist. Somit sind aufgrund materieller Bedingungen einzelne künstlerische Ansätze, ästhetische Differenzierungen, Produktionen anderer afrikanischer Künstler_innen und auch aktuelle Theaterdiskurse kaum nachvollziehbar. Innerhalb des Landes werden – laut Tesfaye Gessesse – Arbeiten der Theatermacher_innen untereinander meistens gelobt, jedoch selten detailliert besprochen.12 Wenn fachliche Reflektionen vermieden werden, kann es u.a. daran liegen, dass Äußerungen konstruktiver Kritik missverstanden werden können. Aufgrund des überschaubaren Arbeitsfeldes gingen sich kritisch äußernde Künstler_innen das Risiko der Marginalisierung ein, was ihr berufliches Aus bedeuten kann. Lealem Berhanu beschreibt das wie folgt: „As you know, Ethiopia is a very poor country and especially in the field of the arts you will find the poorest people in financial terms. So they have to take care for themselves. If one actor is dismissed by a theatre where else can he go? […] He will shut his mouth and will make sure not to have any dispute with governmental officials.“13

Ausgebildete Theatermacher_innen können entweder an den staatlichen Theatern Anstellungen finden oder private Ensembles gründen. Da die Theaterhäuser bereits über große Belegschaften verfügen und darüber hinaus keine neuen Theaterhäuser im Land eröffnet werden, sind die Möglichkeiten für Engagements sehr begrenzt. Wenn Theatermacher_innen private Ensembles gründen, sind sie mit der enormen Herausforderung hoher Produktionskosten. Außerdem werden bislang keine Fachzeitschriften über Kunst veröffentlicht. Das heißt, dass unterschiedliche Ästhetiken kaum öffentlich reflektiert und diskutiert werden und ein Debattieren über Kunst angesichts drängender Probleme von der Mehrheitsgesellschaft als irrelevant erachtet wird.14 Innerhalb der Theaterszene gibt es Generationsdifferenzen. Einzelne jüngere Theatermacher_innen haben den Eindruck, dass die ältere Generation trotz ihres Pensionsalters zentrale Posten besetzt und wenig Raum für nachkommende

11 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 8; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 9. 12 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 4. 13 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5. 14 Vgl. ebd. S. 9.

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Künstler_innen lässt.15 „But the directors working in theatre halls are not many. […] It is like a closed group not letting anybody in.“16 Ältere Theatermacher_innen wie Tesfaye Gessesse vertreten aber die Ansicht, dass die Pioniere des Theaters sehr viel Energie investierten, künstlerische Risiken eingegangen sind und das Theater als Kunstform etablierten. Er kritisiert, dass viele junge Künstler_innen, das Land verlassen oder auf andere Medien ausweichen, weil sie damit eine Haltung der fehlenden Hingabe demonstrieren.17 Visionäre Theatermacher_innen der jungen Generation wünscht er sich, die eine adäquate Ablösung sein könnten und Neuerungen sowie experimentelle Ansätze im Theater erproben sollten.18 Aber auch er verweist auf die herausfordernden Strukturbedingungen, die es Künstler_innen fast unmöglich machen, ohne Förderungen experimentell zu arbeiten.19 Jüngere Theatermacher_innen spüren, dass viele Produktionen nicht mehr zeitgemäß sind. Das erzeugt bei ihnen den Eindruck einer kulturellen Isolation und eine ablehnende Haltung gegenüber der Fixierung des Status quo, in dem die Kunstform in einer Zeitschleife eingefroren wird.20 Im Interview beschreibt Aron Yeshitila das wie folgt: „The concept of theatre in Ethiopia […] is stuck between Shakespeare and Stanislawski time.“21 Er weist im Interview auch auf eine sukzessive Veränderung in der Qualität ästhetischer Maßstäbe hin, die ebenfalls generationsspezifisch ist: einerseits konzentriere sich die jüngere Generation stärker auf visuelle Komponenten, doch verliere anderseits spezifische Sprachkompetenzen. „[…] for the new generation the medium is changing from expressing verbally to increasingly expressing visually. Besides, there are all these very old words that disappear slowly. As an artist that makes you lose the quality of the literature, the language, the depth in vocabulary, but mainly in figure of speech. In high Amharic there are lots of figures of speech linked with the tradition and with the quiné.“22

Die Theatermacher Aron Yeshitila, Lealem Berhanu und Tesfaye Gessesse drücken in den Interviews ihre Kritik gegenüber dem gesellschaftlich weitestgehend

15 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4. 16 Ebd. S. 4. 17 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 9. 18 Vgl. ebd. S. 4, 9. 19 Vgl. ebd. S. 10. 20 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 8. 21 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 12. 22 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8.

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akzeptierten Unterhaltungsparadigma im Theater aus, welches sie als Begrenzung erleben.23 Aus ihrer Sicht stellen sich dem zeitgenössischen Theater drei große Herausforderungen. Das Niveau und die Qualität des Hochamharisch in den modernen Stücken scheinen abzunehmen. Im Verhältnis zu früher wird die Kunst der Rhetorik als intellektuelle Übung, der umfangreiche Wortschatz, die Metaphorik, die vielseitigen Redewendungen und die Poesie von aktuellen Theatermacher_innen weniger häufig als künstlerische Mittel verwendet.24 Das hat Auswirkungen auf die Qualität der Stücke im Metier des Sprechtheaters sowie auf die Anwendung der ästhetischen Strategie ‚semna werq‘, um Momente der Liminalität zu erzeugen. Außerdem werden Bewegung und Körpersprache als Ausdrucksformen weiterhin abgewertet, was ein Experimentieren mit diesen theatralen Mitteln erschwert.25 Die dritte Herausforderung ergibt sich durch den Anspruch einer jungen Generation am Visuellen gegenüber dem Verbalen, was in den Theaterhäusern bislang eher selten erfüllt wird.26 Aufgrund der Ausbildungen und aufgrund des spezifischen Arbeitskontextes bleiben viele Theatermacher_innen auf die Produktion von Sprechtheater in amharischer Sprache und den regionalen Kontext Äthiopien fokussiert. Sie arbeiten vorrangig lokal statt transnational und unterscheiden sich dadurch von anderen performativen Künstler_innen Addis Abebas.

T ANZSZENE Seit Ende der 1990er Jahre etablierte sich eine professionelle Tanzszene in Addis Abeba, die sich seitdem zunehmend ausdifferenziert. Die Anzahl der Tanzensembles ist nicht zu beziffern, da diese Szene durch eine hohe Fluktuation gekennzeichnet ist. Einige Gruppen wie Adugna Dance Compagnie, Ha Hu Dance Compagnie und Music Mayday existieren nunmehr konstant seit Jahren. Die äthiopische Tanzszene ist – anders als die Theater- und die Performance Art Szene – überwiegend durch Impulssetzungen von außen begünstigt worden; u.a.

23 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 16; Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 2; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1. 24 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 10; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8. 25 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 10. 26 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8.

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durch Initiativprojekte des britischen Choreographen und Tanzpädagogen Royston Maldoom27 sowie Förderungen von ausländischen NGOs. Besonderheiten der Tanzszene Addis Abebas liegen darin, dass Künstler_innen dieses Metiers unabhängig formaler Ausbildungsinstitutionen agieren, sie hinsichtlich ihres professionellen Hintergrunds und ihres Bewegungsrepertoires eine enorme Diversität aufweisen und häufig neue Tanz- und Körpertechniken in Austauschbeziehungen adaptieren. Die Expertise dieser Künstler_innen ist eng mit ihren Biographien, autodidaktischen Trainings und der temporären Mitarbeit in wechselnden, transnationalen Netzwerken, Projekten und Produktionen verbunden. Eine weitere Besonderheit ist, dass einige äthiopische Tänzer_innen mit international sehr renommierten Künstler_innen zusammenarbeiten. Künstler_innen der Adugna Dance Compagnie28 erhielten eine fünfjährige Ausbildung, die sich durch wechselnde Dozent_innen aus dem In- und Ausland, stetige Teilnahmen an Workshops und Arbeitskooperationen mit unterschiedlichen ausländischen Choreograph_innen auszeichnete. Diese Tänzer_innen erhielten im Rahmen der britischen NGO Gemini Trust auf Initiative des Choreographen Royston Maldoom und der Compagnie Dance United hin ein Training, welches Zeitgenössischen Tanz, Afrikanisches Ballett, Äthiopischen Tanz, Rhythmik, Yoga und Bühnendesign umfasste.29 Temporäre Trainings wurden von Gastdozent_innen vermittelt und die Compagnie-Mitglieder übernahmen anschließend die Verantwortung dafür, diese Techniken autodidaktisch zu perfektionieren. Ihre Dozent_innen und Choreograph_innen kamen aus Senegal, Frankreich, England, USA etc. Den äthiopischen Tanzstil ‚Eskista‘ sowie Rhythmik lehrten äthiopische Dozent_innen, die am Nationaltheater oder an der City Hall arbeiten; dazu zählten u.a. die in Russland ausgebildeten Tänzer Desta Gabriel, Abiye Mekonnen und Negashe Abdu30.31 So erhielten die Mitglieder der

27 Anm.: Royston Maldoom, der u.a. an der Royal Ballet Academy und in der Alvin Ailey Dance Compagnie studierte, ist bekannt für Tanzprojekte im Rahmen sozialen Engagements. Im Film „Rhythm is it!“ wurde seine Arbeitsweise dokumentiert. 28 Anm: Die Geschichte der Adugna Dance Compagnie hat Plastow skizziert. (Vgl. Plastow, 2004b, S. 125-154) 29 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 7. 30 Anm.: Negashe Abdu studierte während der Selassie Ära an der Yared School of Music Violine und Piano. Nachdem er eine fünfjährige, klassische Ballettausbildung in Russland erhielt, wurde er in den 1970er Jahren der erste Choreograph am Nationaltheater. Allerdings durfte er zwar Foklore-Tanzstile, aber nicht Ballett lehren, weil nach seiner Rückkehr 1978 die Derg-Regierung diese Kunstform als elitär und bour-

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Adugna Dance Compagnie eine fundierte Ausbildung außerhalb staatlicher Institutionen. Sie bauten über Jahre der Förderung ein internationales Netzwerk auf, von dem sie bis heute schöpfen und welches sie stetig erweitern. Durch ihre Reputation und Vernetzung verdienen sie ihren Lebensunterhalt durch Kunst vor Ort und arbeiten regelmäßig im Ausland.32 Insgesamt produzierten sie ca. 15 Stücke im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes. Dazu zählen z.B. die Produktionen „Adugna Carmina Burana“, „Shireferafi Hilmotch“ („Street Dreams“) oder „Yäne Hager“ („My Country“).33 Einige Mitglieder der Adugna Dance Compagnie arbeiten u.a. mit den britischen Choreographen Hofesh Shechter und Russel Maliphant zusammen.34 35 Mit der südafrikanischen Choreographin Mamela Nyamza36 arbeiteten sie 2011 für die Produktion „amaFongkong“ zusammen, die mit Unterstützung des Goethe-Instituts beim Grahamstown Festival aufgeführt wurde.37 Beim „Return to Sender Festival“ am Hau Theater Berlin zeigten sie 2015 das Stück „Ene Man Negn“ („Who am I“), welches in Zusam-

geois einstufte. (Hintergrundgespräch mit Negashe Abdu (o. A.), Addis Abeba, 20.09.2014) 31 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 1. 32 Vgl. ebd. S. 7. 33 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 2. 34 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3. 35 Anm.: Hofesh Shechter gilt als einer der bekanntesten britischen Choreographen. Nachdem er an der Jerusalem Academy for Dance and Music graduierte, wurde er Mitglied der Batsheva Dance Compagnie in Tel Aviv. Seit 2008 geht er mit seiner Tanzcompagnie regelmäßig auf Tournee in Asien, Australien, Europa und den USA. (Vgl. Hofesh Shechter Company, 2013, http://www.hofesh.co.uk/artisticdirector.html, 09.02.2013) Russel Maliphant ist ein etablierter Choreograph, der an der Royal Ballett School in London ausgebildet wurde, später u.a. bei der kanadischen DV8 Physical Theatre Compagnie tätig war und dann seine eigene Tanzcompagnie gründete. (Vgl. Bayrische Staatsoper, 2013, https://www.staatsoper.de/biographien/detail-seite/mali phant-russell.html, 09.02.2013) 36 Anm.: Mamela Nyamza erhielt ihre klassische Ausbildung an der Zama Dance School im Rahmen der Royal Academy of Dance und am Pretoria Technikon. Für ihre künstlerische Arbeit erhielt sie u.a. eine Förderung des Alvin Ailley American Dance Centres. (Vgl. Spier Contemporary, 2010, http://www.spiercontemporary.co.za/artistsdetail/mamela-nyamza, 26.11. 2013) 37 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2.

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menarbeit mit der Destino Dance Compagnie entstand.38 Die Künstler_innen der Adugna Dance Compagnie – Shiferaw Tariku, Meseret Jirga, Nuria Mohammed, Genet Demissie, Addisu Demissie und Junaid Jemal Sendi – nahmen mehrfach an diversen Festivals in Afrika, Europa und den USA teil.39 Sie alle verfügen über umfangreiche Arbeitserfahrungen im transnationalen Produktionsbetrieb. Außerdem choreographieren sie alle auch jeweils eigene Stücke.40 Eine besondere Rolle unter ihnen nimmt Junaid Jemal Sendi ein, der aufgrund seines Talents von der senegalesischen Choreographin Germaine Acogny41 damit beauftragt wurde, ihre Technik des ‚Ballet Africaine‘ zu lehren.42 Später ergaben sich aus dieser beruflichen Verbindung ungeahnte Karrieremöglichkeiten. So erhielt Junaid Jemal Sendi eine Einladung nach Dakar an die L’École des Sables und kam dort mit Stücken, Produktionsverfahren, Tanztechniken und ästhetischen Ansätzen anderer afrikanischer Choreograph_innen in Berührung. Das führte dazu, dass er aufgrund der Vergleichssituation seinen tanztechnischen Hintergrund zugunsten einer Aufwertung neu evaluierte, intensiver arbeitete, Arbeitskontakte aufbaute und eine neue Haltung zum afrikanischen Tanz entwickelte.43 Germaine Acogny motivierte Junaid Jemal Sendi, am Rolex Mentor und Protégé Arts Initiative Programm in Paris teilzunehmen, wo er schließlich ein Stipendium erhielt, welches ihm ermöglichte, beim japanischen Star-Choreographen Saburo Teshigawara in die Lehre zu gehen.44 45 Dadurch

38 Vgl. Hebbel am Ufer Berlin, 2015, http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/ spielplan/tembe-canda-solo-for-maria-destino-ene-man-negn/, 09.04.2015. 39 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 1; Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 4. 40 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 2. 41 Anm.: Germaine Acogny eröffnete mit Unterstützung Senghors 1968 in Dakar die L’ecole des Sables mit dem Ziel, einen Treffpunkt für afrikanische Tanzschaffende zu etablieren. (Vgl. African Success: http://www.africansuccess.org/visuFiche.php?lang= en&id=539, 27.11. 2013) 42 . Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 2. 43 Vgl. ebd. S. 2. 44 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 3; Rolex Mentor & Protégé, 2013, http://www.rolexmentorprotege.com/mentorsproteges/dance, 09.02.2013. 45 Anm.: Saburo Teshigawara gründete nach seinem Studium in Bildhauerei und Klassischem Ballett die Compagnie Karas in Tokyo. Aufgrund seiner Tanztechnik und Ästhetik ist er im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes zum Superstar avanciert. Mittlerweile findet seine Arbeit auch in den Bereichen der visuellen, der filmischen und

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arbeitete und trainierte er von 2004 bis 2005 in der Karas Tanzcompagnie Teshigawaras, der sein Mentor wurde. Zentral für dessen Arbeitsweise sind Tanzimprovisationen basierend auf individuellen Bewegungsqualitäten, organischen Bewegungsabläufen und Imaginationen. Junaid Jemal Sendi betont im Interview, dass ihn Teshigawaras Arbeitsweise nachhaltig beeinflusste.46 Addisu Demissie, weiteres Ensemblemitglied der Adugna Dance Compagnie, erhielt mehrfach Kunstresidenzen in Frankreich und kooperierte mit Sylvain Prunenec für diverse Produktionen, die in Europa aufgeführt wurden. Er arbeitete mit Künstler_innen in Kenia, Südafrika, Tunesien, Kongo und Madagaskar; unter anderem mit der La Compagnie Gàara aus Nairobi, wodurch er die Produktionsweise der renommierten Choreographen Faustin Linyekula und Opyio Okach kennenlernte.47 Der Tänzer Shiferaw Tariku, ebenfalls Mitglied der Adugna Dance Compagnie, arbeitete mehrfach in England, USA, Frankreich, Deutschland, Kenia, Senegal, Togo und Ghana.48 Seit 2011 kooperiert er u.a. mit dem in New York tätigen japanischen Choreographen Kota Yamazaki.49 Der freischaffende Tänzer und Choreograph Mintesinot Getachew weist ein enorm umfangreiches tanztechnisches Repertoire auf, was auf seinen langen Ausbildungsweg zurückzuführen ist. Er begann als Kind eine fünfjährige Ausbildung beim Circus Ethiopia50, arbeitete dann in der Mekuria Dance Compagnie und kooperierte später mit verschiedenen Künstler_innen. Sein Ausbildungshintergrund bewirkte, dass er diverse Techniken verschiedener Tanz- und Bewegungsstile perfektionierte. Komplexe akrobatische Formen, gymnastische Elemente und äthiopische Tanzstile erlernte er beim Zirkus.51 „When we did gymnastic and acrobats for the audiences we mixed it with cultural dances like Eskista Dance, Orominia, Woleytinja, Tirgrinya, Afar, Guraginya Dance etc.“52 Tanztechniken des Jazz Dance, West African Dance, Modern Dance, des Balletts

bildenden Kunst Beachtung. (Vgl. Karas Company, 2013, http://www.st-karas.com/ profile_en/, 28.11.2013) 46 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 4. 47 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2 f. 48 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 1. 49 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 7. 50 Anm.: Merkmale des Circus Ethiopia sind die Bildung von Menschenpyramiden, Jonglage- und Feuereinlagen und die Fusion äthiopischer Tanzstile mit Gymnastik. (Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 2) 51 Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 1. 52 Ebd, S. 2.

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und des Zeitgenössischen Tanzes erlernte er von Webiet Abate53 beim Mekuria Theatre Studio, welches Tanztheaterstücke produzierte, die auf Zeitgenössischen Tanz und narrativen Handlungen basierten. Zu diesen Stücken zählen u.a. „Phenomenal Women“ und „Chat“, die sie auch in ländlichen Gebieten Äthiopiens aufführten. Aufgrund seiner tanztechnischen Exzellenz wurde Mintesinot Getachew in der Mekuria Dance Compagnie damit beauftragt, das tägliche Training für Ballett und Zeitgenössischen Tanz zu leiten.54 55 Die Arbeitsweise beim Mekuria Theatre Studio bestand darin, mit wöchentlich wechselnden Programmen die Künstler_innen herauszufordern, sich andauernd in neue Materien einzuarbeiten. Retrospektiv erscheint es wie ein Laboratorium, in dem performative Künstler_innen selbstständig erprobten, Regie zu führen, Choreographien zu entwerfen und mit Musikalität, Rhythmik sowie Stilmitteln des Tanzes zu experimentieren. Da das Mekuria Theatre Studio Teil eines größeren Netzwerkes namens East Africa Theatre Encounter war, trainierten und arbeiteten die Mitglieder in regelmäßigen Zeitabständen auch in transnationalen Austauschplattformen und Workshops, wo sie zusammen mit kenianischen, ugandischen und schwedischen Künstler_innen arbeiteten.56 So nahm Mintesinot Getachew am Fourth East African Theatre Festival in Tansania und am Idea-Congress in Hongkong teil.57 Dort arbeitete er an einer Produktion mit Künstler_innen aus Russland, Brasilien, Taiwan, diversen europäischen und afrikanischen Ländern zusammen, die verschiedene künstlerische Ansätze verfolgten. Nach Interviewaussagen Mintesinot Getachews veränderte sich seine Sicht auf das Darstellungsspektrum performativer Künste durch diese Konfrontation mit unbekannten Techniken und Kunstansätzen enorm.58 Außerdem war die Produktionsweise mit

53 Anm.: Webet Abate ist die Tochter des Theatermachers Abate Mekuria, welche ihre Ausbildung in London erhielt und nachhaltigen Einfluss auf die Arbeitsweise von Mintesinot Getachew ausübte. 54 Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 1. 55 Anm.: In der Tanzcompagnie des Mekuria Theatre Studios arbeiteten außerdem Tewodros Katar, Edlewerk Tasew, Fiseha Gezahegn, Genet Anley, Mohammed Salah, Tsion Getaneh, Etsehiwot Amdemariam und Debora Girmaye mit. (Vgl. Dramatool: http://dramatool.idea-org.net/en/news/item/130/, 08.02.2013) 56 Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 2 f. Dramatool: http://dramatool.idea-org.net/en/news/item/130/, 08.02.2013. 57 Anm.: Der ‚Idea Congress‘ ist Teil einer Dachorganisation, die an der Schnittstelle zwischen kultureller Bildung und performativer Kunst arbeitet und mit Gruppen aus 90 Ländern kooperiert. (Vgl. Idea International: http://www.idea-org.net, 08.02.2013) 58 Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 5.

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der Aufgabenteilung in Bühnenbild, Lichtdesign, Sounddesign, Bühnenmanagement und Produktionsassistenz eine neue Arbeitserfahrung für ihn.59 Nachdem das Mekuria Theatre Studio 2009 abrupt aufgelöst wurde, erarbeitete Mintesinot Getachew mit dem amerikanischen Tänzer Mikey Courtney kommerzielle Bühnenshows und erweiterte tanztechnisch sein Bewegungsrepertoire noch um Capoeira Angola und Hip Hop.60 Seit 2010 arbeitet er als Solokünstler und kooperiert temporär mit Tänzer_innen unterschiedlicher Gruppen – z.B. mit Junaid Jemal Sendi, Addisu Demissie, Shiferaw Tariku oder Nuria Mohammed von der Adugna Dance Compagnie, mit Bedilu Issaias von Music Mayday, Yohannes Getahun oder Jahwawa Raggasoul der Hot Steppaz Dance Crew zusammen. Ebenso ist er bei Produktionen der Regisseur_innen Getnet Eneyew, Abate Mekuria und Elisabeth Melaku als Choreograph und Tänzer tätig.61 Andere Tänzer_innen wie Dawit Desalegn oder Hermon Asfa arbeiten in der Ha Hu Dance Compagnie, die seit 2009 Bekanntheitsgrad in Addis Abeba gewann, als sie im Fernsehformat „The Ethiopian Idol Show“62 einen nationalen Tanzpreis gewann. Seitdem arbeitet die Ha Hu Dance Compagnie erfolgreich als privates Tanzensemble. Ästhetisch und tanztechnisch sind diese Kunstschaffenden stark vom Hip Hop beeinflusst, experimentieren jedoch mit verschiedenen Tanz- und Bewegungsstilen und arbeiten im kommerziellen Bereich, in dem sie bei Musikvideoproduktionen oder bei Konzerten auftreten.63 Tanzschaffende wie Bedilu Issaias, Hawaryat Asefa, Dawit Desalegn und Yared Kenny wurden in der Talentfabrik Music Mayday kurzfristig ausgebildet. Music Mayday ist eine NGO64, in der äthiopische Jugendliche Bildungsprogramme in Tanz, Schauspiel, Musik, Film, Literatur oder Malerei absolvieren und einen Abschluss erhalten können.65 Verschiedene Tanztechniken eigneten

59 Vgl. ebd. S. 11. 60 Vgl. ebd. S. 1. 61 Vgl. ebd. S. 3. 62 Anm.: Die „Ethiopian Idol Show“ war neben dem Tanzfilm „Fikir na Danz“ („Love and Dance“) des Regisseurs Birhanu Negusse als Signalwirkung und Impulssetzung sehr wichtig für die äthiopische Tanzszene. Sie bewirkte die Sichtbarkeit einer hohen Anzahl existierender Tanzgruppen im Land und der tanztechnischen Vielseitigkeit der gesamten Szene. (Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 2 f.; Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 6) 63 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 1. 64 Anm.: Die NGO versteht sich als eine Organisation, die Kunst und Kultur einsetzt, um wirtschaftliche Entwicklungen im Land voranzutreiben. (Vgl. ebd.) 65 Vgl. Music Mayday, 2013, http://musicmaydayethiopia.org, 05.12.2013.

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sich die Künstler_innen dort entweder autodidaktisch mittels Videomaterial oder in kurzfristigen Workshops an, die von in- und ausländischen Gastchoreograph_innen geleitet wurden. Zu den vermittelten Techniken zählten vorrangig Hip Hop und Breakdance.66 Die Verantwortung für Choreographie, Proben- und Produktionsleitung der Stücke, die im Rahmen von Music Mayday kreiert werden, übernehmen anerkannte freischaffende, äthiopische Tänzer_innen wie Mintesinot Getachew oder Hawaryat Assefa.67 Andere äthiopische Tänzer_innen trainieren, proben und produzieren an den staatlichen Theatern, wie z.B. Abdulkerim Salih am Hager Fikir Theatre oder Fikirte Adafris am Nationaltheater. Zu dieser Gruppe gehört beispielsweise auch der Tänzer Yared Kenny, der zusammen mit ca. 40 anderen Jugendlichen am Children and Youth Theatre einmal wöchentlich vom Dozenten Yeworku Semachu in differenten Tanzstilen unterrichtet wurde.68 Viele äthiopische Tänzer_innen trainieren und arbeiten außerdem im Milieu der Nachtclubs, wo sie entweder folkloristische Tanzstile wie ‚Eskista‘, populäre Tanzstile wie Hip Hop, Jazz Dance und Modern Dance oder Standardtänze wie Salsa oder Merengue aufführen.69 Etliche Tänzer_innen verstehen sich explizit als Unterhaltungskünstler_innen.70 Insofern wird für die Gestaltung von Kunstereignissen betont, dass sie schön, eingehend, ornamental und simpel sein sollten.71 Einige Künstler_innen nutzen die Kunstform Tanz, um soziale oder medizinische Themen im Auftrag von NGOs zu behandeln. So wird die Kunst von ihnen teilweise eingesetzt, um Inhalte, Meinungen, Positionen, Aufklärungen und Anleitungen bzgl. gesellschaftlichen Problemen und Tabus zu transferieren. 72 Aus dieser Arbeitserfahrung heraus wird Tanz von ihnen nicht als Kunst zum Selbstzweck (‚l’art pour l’art‘), sondern als Mittel zur Informationsvermittlung aufgefasst, was auf ästhetischer Ebene die Beibehaltung narrativer Handlungslogik begünstigt.

66 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 1. 67 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 4; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 2. 68 Vgl. Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 1. 69 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3. 70 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 12; Köppen: Interviews Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 6; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 3. 71 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 3 f. 72 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 5.

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Dawit Desalegn zufolge herrschen innerhalb der äthiopischen Tanzszene teils Spannungen, was u.a. daran ersichtlich sei, dass Tänzer_innen sich gegenseitig kaum über anstehende Trainingsmöglichkeiten sowie über Aufführungen eigener Produktionen informieren.73 Darüber hinaus ist bei professionellen Tänzer_innen die Tendenz zu beobachten, Tanzstile zu hierarchisieren. Zeitgenössische Tänzer_innen favorisieren die moderne Kunstform gegenüber allen anderen Stilen und Richtungen. Die Abgrenzung zwischen zeitgenössischen und traditionellen Tänzer_innen wird von ihnen stark betont.74 Das beinhaltet auch die Abgrenzung zwischen freischaffenden (am zeitgenössischen Tanz orientierten) und am Theater engagierten (meist am traditionellen Tanz orientierten) Tänzer_innen, was u.a. dazu führt, dass sie bisher eher selten Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit anvisieren.75 Die kritische Haltung gegenüber dem traditionellen Tanz ist jedoch vieldimensional und komplexer als es zunächst scheinen mag. Das Bewegungsrepertoire wird auch von zeitgenössischen Tänzer_innen als umfangreich wahrgenommen und als Ressource für die Ausarbeitung eigener Stücke aufgefasst. Außerdem spielt das traditionelle Tanzrepertoire für ein nationales Identitätsbewusstsein vieler Künstler_innen eine entscheidende Rolle. Dennoch werden die formalisierten Bewegungsmuster dieses Repertoires teils als reduziert und limitiert empfunden. Im äthiopischen Kontext ist dabei wichtig zu beachten, dass sogenannte ‚traditionelle‘ Tanzstile häufig als genuin folkloristische Elemente bei nationalen Feiertagen aufgeführt werden.76 Sie sind sowohl im Fernsehen, in Musikvideoclips, Restaurants, Nachtclubs, Touristenzentren als auch bei staatlichen Empfängen oder in staatlichen Theaterhäusern und Kunsteinrichtungen omnipräsent und erfüllen die Funktion, Ethnizität und Differenz zur Schau zu stellen. Etliche der ‚traditionellen‘ Tänzer_innen arbeiten in den Ensembles der staatlichen Theater und performen dort stetig das routinierte Repertoire. Zeitgenössische Tänzer_innen, die alle freischaffend arbeiten, sind demgegenüber müde und vertreten einen anderen Anspruch an ihre Kunstform und an die eigene Arbeitsweise. Sie betonen ihren Drang, neue Tanzformen und ein erweitertes Bewegungsmaterial entwickeln zu wollen und erheben den Anspruch, experimentieren zu dürfen, ausländische Tanzeinflüsse aufzunehmen und sich auf künstlerische Suchen zu begeben, statt tradiert-fixierte Bewegungsformen zu wiederholen. Dadurch weisen ihre Reflektionen partiell die Tendenz auf, die

73 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalgn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 6. 74 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demisie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 5. 75 Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3. 76 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4.

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Profession und die Arbeitsweisen ‚traditioneller‘ Tänzer_innen abzuwerten.77 Allerdings ist das nur eine Facette. Dem gegenüber stehen zeitgenössische Tanzschaffende, die versuchen, Elemente des ‚traditionellen‘ Tanzes zu integrieren und mit anderen Tanzstilen zu fusionieren. Das wurde u.a. von Tänzer_innen der Ha Hu Dance Compagnie und Music Maydays als eine Strategie erprobt, um eine gesellschaftliche Akzeptanz in Äthiopien für moderne Tanzstile wie Hip Hop zu bewirken. Daraus entstand vor einigen Jahren der Tanzstil ‚Trad HipHop‘, welcher in Addis Abeba eine positive Resonanz erfuhr und sich zu einer temporären Trendwelle entwickelte. Die Strömung des ‚Trad HipHop‘ ist ein Indiz für den kreativen Umgang mit bereits vorhandenem Bewegungsmaterial, für die ästhetische Fusionierung von Stilen und den Anspruch der Künstler_innen, Modifikationen an tradierten Formen vorzunehmen. Bei der Etablierung dieser ästhetischen Neuerung waren Dawit Desalegn zufolge Künstler_innen dennoch damit konfrontiert, sich für die Integration ausländischer Tanztechniken rechtfertigen zu müssen.78 Tendenziell gibt es ein relativ ambivalentes, komplexes und konfliktives Verhältnis zwischen zeitgenössischen und ‚traditionellen‘ Tänzer_innen, was die effektive Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit erschwert, die wichtig wäre, um lokale Koproduktionen, Etablierung dauerhafter Kollektive und Netzwerke, die Gründung einer Tanzinstitution sowie fachlichen Austausch in Trainings und Laboratorien zu realisieren. Jedoch kommt es vereinzelt auch immer wieder vor, dass Tänzer_innen verschiedener Metiers kooperieren. Im Umfeld des zeitgenössischen Tanzes wachsen sowohl das öffentliche Interesse als auch die Dynamiken innerhalb der Szene. Junaid Jemal Sendi verweist auf das wachsende Interesse städtischer Jugendlicher an dieser Kunstform sowie auf massive Gründungen temporärer Tanzkollektive.79 Es gibt zunehmend mehr lose organisierte und informelle Tanzgruppen, welche in Fitnessstudios oder kleinen Hinterhofstudios trainieren. Dabei kämpfen viele Tänzer_innen mit der Existenzsicherung und dem Problem der Kontinuität, da aufgrund der fehlenden staatlichen Kunstförderung viele Initiativen nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden müssen.80 Die fragile, informelle und sich dynamisch verändernde Struktur der freien Tanzszene ist ein entscheidender Grund dafür, warum viele Tänzer_innen sich auf transnationale Koproduktionen konzentrieren müssen. Da außerdem die Kunstform non-verbal und visuell nachvollziehbar ist, ist sie für

77 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 5. 78 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3 f. 79 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 8. 80 Vgl. ebd. S. 8.

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inter- und transkulturelle Produktionen und für internationale Festivals prädestiniert. Die tanztechnischen Hintergründe dieser Künstler_innen sind stark transkulturell geprägt und sie treiben durch die temporäre Zugehörigkeit zu verschiedenen Arbeitskollektiven und die Aneignung diversen Körperwissens eine ästhetische Hybridisierung von Techniken und Körperkonzepten im Tanz – also eine ästhetische Hybridisierung von bereits Hybridem – stetig voran. Dem gegenüber bleibt die Theaterszene stark auf den lokalen Kontext und die Produktion amharisch-sprachiger Stücke bezogen und ist aufgrund institutioneller Bedingungen stärker mit dem Problem der staatlichen Kontrolle konfrontiert.

P ERFORMANCE ART S ZENE Künstler_innen aus dem Bereich der Performance Art erhielten meistens eine Ausbildung in Bildender Kunst an der Alle Fine Art School der Addis Abeba Universität und orientierten sich später vereinzelt an alternativen Kunstformen. Sie kamen häufig über die Frage des Materials und den Einbezug des eigenen Körpers zur Performance Art, welche sie in der Regel nur punktuell oder temporär begrenzt ausüben. Ihr Ausbildungshintergrund ist ein anderer als bei den Theaterschaffenden: die Aufnahmeprüfungen an der Alle Fine Art School sind sehr anspruchsvoll und verlangen den Studierenden eine große Hingabe für das Kunstfeld ab. Häufig investieren sie Zeit, Energie, Geld und Material für alternative Vorbereitungskurse, um die eigentlichen Aufnahmeprüfungen an der Kunsthochschule zu bestehen.81 Nach Aufnahme in die Kunsthochschule müssen sie sich für eine Spezialisierung entscheiden und erlernen Techniken der Malerei, Bildhauerei, Druckgrafik oder des Industriedesigns. Daneben gibt es Lehrangebote für Kunstgeschichte, Ästhetik der visuellen Kunst oder für Neue Medien.82 Jedes dieser Fächer umfasst ein Semester. Elisabeth Wolde Giorgis konstatierte angesichts des Lehrplans eine Herausforderung in der Vermittlung der Kunstgeschichte: „The discipline of art history is not taught at university level. The only place where it is taught at all is at the School of Fine Arts. The Art School offers a single course in art

81 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 1. 82 Vgl. Addis Ababa University, 2013b, http://www.aau.edu.et/index.php/school-of-fineprograms, 03.02.2013.

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history, which is based on an obsolete curriculum of the history of European art, drawn up by artists turned art history teachers, who readily affirm their lack of training in this subject or qualification to teach it.“83

An der Kunsthochschule wird das Fach Bühnenbild unter der Rubrik ‚scenery painting‘ gelehrt, was eine Erklärung dafür liefert, warum bemalte Leinwandbespannungen und Stellwände die dominanten Formen der Raumgestaltung im Theater sind. Die Verortung szenischer Handlungen wird überwiegend mittels naturalistischer Malerei gestaltet, die Wälder, Balkonausblicke oder Stadtlandschaften abbilden. Die Absolvent_innen Frew Kebede und Mihiret Kebede kritisieren, dass die Ausbildung für Bühnendesign ausschließlich anhand der Lektüre eines Stückes und der Gestaltung eines Miniatur-Modells praktiziert wird, was angesichts der Anforderungen an bühnengestalterische Umsetzungen im Theaterbetrieb kaum ausreichend sei. Beide beurteilen den Zeitumfang des Faches als zu gering, da innerhalb eines Semesters die Vertiefung in eine Disziplin nicht erreicht werden könne.84 Ebenso hinterfragt Tesfaye Gessesse die Professionalität von Bühnenbildner_innen85, da genutzte Kulissen und Raumdekorationen in den Theaterinszenierungen sich sehr ähneln. Mihiret Kebede sieht es als Notwendigkeit an, das Fach Bühnenbild praxisnah zu konzipieren und Studierenden die Möglichkeit einzuräumen, innerhalb eines Theaters mit Bühnenbildern zu experimentieren und diese für laufende Produktionen mitzugestalten.86 Die praktischen Umsetzungen kreativer Bühnenbildentwürfe, welche in Kooperation mit den Regisseur_innen entstünden, würden wiederum den Produktionen an den Theaterhäusern zu Gute kommen. Elisabeth Wolde Giorgis kritisiert am Curriculum der Kunsthochschule, dass es formalistisch und überwiegend auf die Aneignung von Techniken ausgerichtet sei, jedoch theoretische Grundlagen der künstlerischen Arbeit und Paradigmen etablierter Kunstdiskurse nicht vermittelt werden würden. In diesem Punkt ließe sich jedoch von Seiten der universitären Administration derzeit ein sukzessives Umdenken beobachten.87

83 Wolde Giorgis, 2006, http://aicainternational.org/en/art-criticism-curatorial-practicesin-marginal-contexts-addis-ababa-26-28-january-2006, S. 3, 17.04.2013. 84 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 2; Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 6. 85 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 3. 86 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 6. 87 Vgl. Wolde Giorgis, 2006, http://aicainternational.org/en/art-criticism-curatorialpractices-in-marginal-contexts-addis-ababa-26-28-january-2006, S. 3, 17.04.2013; Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 4.

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Zu den Künstler_innen, die momentan mit Performance Art experimentieren und diese Szene maßgeblich mitgestalten, gehören Henok Getachew, Helen Zeru, Mihiret Kebede, Berhanu Ashagrie, Robel Temesgen und Frew Kebede, die an der Alle Fine Arts School der Addis Abeba Universität graduierten. Sie arbeiten regelmäßig im In- und Ausland: Mihiret Kebede z.B. arbeitete in Jordanien, Sambia, Großbritannien, Dänemark und Deutschland88, Henok Getachew in Indien, Tansania, Japan und Deutschland.89 Helen Zeru arbeitete in Uganda, Malaysia, Deutschland, in der Schweiz und den Niederlanden; ihre Performances wurden als Videodokumentationen in den Niederlanden und in Ägypten gezeigt. Robel Temesgen zeigte seine Performancekunst bislang in den USA, Großbritannien, Deutschland und Norwegen. Berhanu Ashagrie, der für ein Jahr an der Utrecht Graduate School of the Arts studierte, ist mittlerweile Leiter der Alle Fine Arts School in Addis Abeba und baut internationale Austauschprogramme im universitären Rahmen auf.90 Die meisten dieser Akteur_innen arbeiten gemeinschaftlich im Netsa Art Village zusammen, das zu einem bedeutenden Szenemotor geworden ist.91 Das Charakteristikum dieses Kunstkollektivs ist die Übernahme der Verantwortung von Seiten der Künstler_innen für die Gestaltung eines alternativen Kunstraums in Addis Abeba. Damit leisten sie eine Pionierarbeit und fordern indirekt die Legitimation freier Kunst ein, was bereits im Namen des Kollektivs ‚Netsa Art‘ ersichtlich ist, der als ‚freie Kunst‘ übersetzt werden kann.92 Durch die Form eines selbstverwalteten Kollektivs gewährleisten sie aus Eigeninteresse die Kontinuität einer alternativen Organisationsstruktur und transferieren Informationen untereinander. Innerhalb des Kollektivs teilen sie ihre Verbindungen, so dass im Rotationsprinzip nacheinander verschiedene Künstler_innen ihres Netzwerks die Chance nutzen, an Festivals, Ausstellungen, Artist-in-Residence Programmen, Konferenzen und künstlerischen Austauschplattformen im Ausland teilzunehmen. Durch Teilnahmen an internationalen Festivals und durch eine kontinuier-

88 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 2 f. 89 Vgl. Netsa Art Village, 2013, http://www.netsaartvillage.com/index.php?option=com _content&view=article&id=87&Itemid=100, 25.11.2013. 90 Vgl. Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 1. 91 Anm.: Anfangs waren ca. 40 äthiopische Künstler_innen an dem Aufbau des Netsa Art Village beteiligt. (Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 1 f.) 92 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 7; Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 2.

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liche Präsenz in Addis Abeba machen sie ihr Kollektiv mit einem interdisziplinären Kunstanspruch zunehmend bekannt.93 Als Initiator_innen und künstlerische Leitungen übernehmen Mihiret Kebede, Henok Getachew und Mulugeta Kassa die größte Verantwortung für das Kollektiv. Ihre künstlerische, organisatorische und netzwerkorientierte Arbeit ist bis heute direkt mit diesem Kollektiv verbunden. Durch ihr Engagement wurde das Netsa Art Village über die letzten Jahre zu einem der wichtigsten Treffpunkte für zeitgenössische Künstler_innen in Addis Abeba. Aufgrund der Reflektion zersplitterter Kunstszenen verfolgt dieses Kollektiv den Ansatz, Künstler_innen verschiedener Sparten lokal zu vernetzen und genreübergreifende Kunstereignisse zu veranstalten.94 Darüber hinaus unterhalten sie stetige Verbindungen zu ausländischen Kunst- und Kulturschaffenden sowie Kurator_innen renommierter Institutionen. Beispielsweise kooperieren das Triangle Art Network, die Taunus Gallery aus Kairo, das Savvy Contemporary aus Berlin und das Tate Modern aus London mit Künstler_innen des Netsa Art Village.95 Des Weiteren besteht ein intensiver Kontakt zwischen dem in Berlin ansässigen Raum- und Installationskünstler Olafur Eliasson der Universiät der Künste (UdK) Berlin und dem Kollektiv.96 Seit dem Interesse Eliassons an den Arbeiten dieser Künstler_innen zeichnet sich ihre Verbindung durch eine sehr enge Zusammenarbeit in Form von Workshops, Studienreisen, Diskussionsrunden und gemeinsamen künstlerischen Experimenten aus, die sukzessive formalisiert wird. In diesem Rahmen gestalten Künstler_innen einen zeitintensiven, transnationalen, fachlichen Austausch, der von ihnen sowohl in Addis Abeba als auch in Berlin durchgeführt wird.97 2012 erhielten Helen Zeru, Tamrat Gezaheghe, Berhanu Ashagrie und Konjit Seyoum eine Einladung von Olafur Eliasson und der UdK Berlin, um sich über Kunstansätze auszutauschen. Eliasson reiste 2012 mit seinen Kunststudent_innen der UdK Berlin für zwei Monate nach Addis Abeba, um mit der Alle Fine Art School eine formelle Kooperation zu beginnen und mit den

93 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 8. 94 Vgl. ebd. S. 5. 95 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 4; Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 2 f. 96 Anm.: Der in Berlin lebende dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson ist weltweit für seine großräumigen Lichtinstallationen und atmosphärischen Arbeiten im öffentlichen Raum bekannt, die Bewegung und Wahrnehmung von Zuschauer_innen thematisieren. (Vgl. Studio Olafur Eliasson, 2013, http://www.olafureliasson.net, 13.02.2013) 97 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 2.

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Kunstschaffenden vom Netsa Art Village zusammenzuarbeiten.98 2013 kam eine Gruppe äthiopischer Künstler_innen, Kunstdozent_innen und Galerist_innen erneut nach Berlin, um den „Archives Works Marathon“ – ein Forum für kunsttheoretische Debatte und künstlerische Praxis der Archivierung von Wissen – zusammen mit Berliner Künstler_innen zu realisieren.99 2014 nahmen die Künstler_innen Berhanu Ashagrie, Mihiret Kebede, Helen Zeru, Tamrat Gezahegne und Robel Temesgen auf Einladung Eliassons am „Festival of Future Nows“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin teil. Da die Netsa Art Künstler_innen regelmäßig im Ausland performen oder ihre Arbeiten in transnationalen Kunstnetzwerken vorstellen, gewinnt ihre künstlerische Praxis an weitaus mehr Sichtbarkeit als die anderer äthiopischer Kunstschaffender. Diejenigen unter ihnen, die im öffentlichen Raum performen, weisen mit ihren Arbeitsansätzen auf Gestaltungsmacht und Selbstermächtigung durch Kunst hin und bewirken mittels Kunst eine Erweiterung des Politischen, was Bhabha – wie in Kapitel 3 bereits ausgeführt – als Potential oppositioneller Kulturpraktiken versteht.100 Produktionen von Site-specific-Arbeiten in Addis Abeba benötigen die Erlaubnis der Stadtverwaltung, des Ministeriums für Kultur oder des Ministeriums für Kommunikation101, sind aber dennoch mit Risiken auf Seiten der Kunstschaffenden verbunden. Daher bleiben sie in der Regel informell und ad-hoc angelegt. Doch durch die enorme Mobilität der Netsa Art Künstler_innen wird einerseits die internationale Aufmerksamkeit für die performative Kunstszene in Addis Abeba erhöht und durch ihre wachsende Reputation außerhalb des Landes auch Freiraum für ihre künstlerische Praxis vor Ort begünstigt. Das ist insofern besonders relevant, weil Arbeiten einzelner Künstler_innen aus dieser Teilszene ein politisch-soziales Engagement und ein Drängen auf Transformation deutlich erkennen lassen. Dieses Charakteristikum der Performance Art Szene lässt sich an verschiedenen Arbeiten individueller Kunstschaffender nachvollziehen: Berhanu Ashagrie realisierte die zwei ortsspezifischen Arbeiten „Morning Beauty“ und „Emergency Exit“ im Zentrum von Addis Abeba. Diese Arbeiten entstanden im Viertel ‚River Kantu‘, das im Zuge von ambitionierten Stadtent-

98

Vgl. ebd. S. 2.

99

Anm.: Aus Äthiopien wurden u.a. Bekele Solomon, Berhanu Ashagrie, Mihiret Kebede, Robel Temesgen, Konjit Seyoum, Elisabeth Giorgis, Selam Mekuria und Tibebeselassie Tigabu zur Teilnahme eingeladen. (Vgl. Institut für Raumexperimente, 2015: http://raumexperimente.net/en/single/archives-works/ 22.11.2015)

100 Vgl. Bhabha, 2000, S. 30. 101 Vgl. Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 3.

7. K UNSTSZENEN IN A DDIS A BEBA

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wicklungsprojekten 2011 von der Regierung komplett abgerissen wurde. In „Morning Beauty“ installierte Berhanu Ashagrie einen Wassersprenkler, der das Geröll des zerstörten Viertels bewässert. Seiner Aussage zufolge ist die Performance eine symbolische Handlung, die Ideen des Fortschritts, der Entwicklung und der Modernisierung zulasten einer etablierten sozial-räumlichen Infrastruktur im städtischen Raum kritisch in Frage stellt.102 In der Performance „Emergency Exit“ bemalte er die Tür eines der abgerissenen Häuser mit mehreren Schichten grüner Farbe, um auf die Dringlichkeit von Gemeingütern und öffentlichen Grünanlagen in Addis Abeba hinzuweisen.103 Mihiret Kebede, eine der aktivsten Initiator_innen für Kunstereignisse in neuen Formaten, organisierte mit ihren Kolleg_innen einen Kunstspaziergang unter dem Titel „Netsa Hasab“ („Free Spirit“) durch den öffentlichen Raum Addis Abebas.104 Das Kunstereignis beinhaltet Elemente wie die Aktivierung von Zuschauer_innen, die Versammlung einer Menschengruppe, die physische Bewegung durch das städtische Zentrum, Vernetzung, Kommunikation und öffentliche Diskussion. Der Titel dieser Kunstaktion kann als Wortspiel mit ‚freie Gedanken‘ oder ‚Idee der Freiheit‘ übersetzt werden. Sie lässt sich als ein Versuch deuten, mittels Kunst in die umgebende Realität performativ einzugreifen, somit auch gesellschaftliche Realitäten sukzessive zu verändern und Öffentlichkeit zu hinterfragen. 2013 ließ Mihiret Kebede ein großformatiges Werbeplakat an einer Häuserwand in Addis Abeba anbringen, was einen unbekannten Mann und dessen Namen öffentlich ausstellte. Mit dieser Kunstaktion hinterfragte sie eine zunehmende Kommerzialisierung des städtischen Raums und Strategien zur Lenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit.105 Die Künstler_innen Robel Temesgen und Mihiret Kebede initiierten u.a. das „Wax and Gold Festival“ in Addis Abeba, das sich mit Ausdrucksfreiheit und Zensur auseinandersetzte. Dafür lud das Netsa Art Village Kunstschaffende aus Kenia, Sambia, Äthiopien und Europa ein, um Performances im öffentlichen Raum zu machen. In diesem Rahmen realisierte Boniface Mwangi aus Kenia eine politisch sensible Performance im Stadtzentrum Addis Abebas, bei der er mittels Percussion „Good Bye Meles Zenawi“ sang. Mit dieser ambivalenten

102 Vgl. ebd. S. 1 f. 103 Vgl. Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 2.; Institut für Raumexperimente, 2013, http://www.raumexperimente.net/de/single/art-in-berlinart-in-addis-abeba/, 20.11. 2013. 104 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 8. 105 Vgl. Nagawa, 2013, https://margaretnagawa.wordpress.com/tag/mihret-kebede/, 02.09.2014.

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Geste nahm er direkt Bezug auf den Tod des äthiopischen Premierministers und das Verhalten der Öffentlichkeit nach dessen Ableben. Henok Getachew, der als einer der ersten äthiopischen Künstler_innen bereits seit Anfang 2000 mit Performance Art experimentierte, führte ebenfalls in diesem Rahmen eine kontroverse Kunstaktion durch, bei der er mit einem Esel durch mehrere Viertel Addis Abebas spazierte. Den Esel hatte der Künstler mit Monitoren, Radios und Zeitungen beladen, um Fragen nach der Medienberichterstattung und der kritischen Öffentlichkeit aufzuwerfen.106 Diese Künstler_innen produzieren im öffentlichen Raum Addis Abebas temporär Zustände von Liminalität, Erfahrung unterschiedlicher Ordnungen und Unsicherheit, indem sie binäre Konstruktionen von öffentlich vs. privat oder ästhetisch vs. sozial destabilisieren, was auf den politischen Impetus ihrer Kunstpraxis verweist. Das Drängen auf Transformation dieser Teilszene bezieht sich jedoch keineswegs nur auf den äthiopischen Kontext, sondern wird auch bei Performances deutlich, die sie im Ausland realisieren. So zeigte Helen Zeru 2014 in Berlin im Rahmen des „Festival of Future Nows“, organisiert vom Institut für Raumkünste der UdK und realisiert in der Nationalgalerie, eine Performance mit dem Titel „Neither in Nostalgia nor…“, bei der sie einen überdimensional großen Plastiksack mit einem – dem UNICEFLogo sehr ähnlichen – Logo in der Formation des Unendlichkeitszeichens hinter sich herzog. Diese Handlung verweist auf andauernde globale Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Form von ‚Entwicklungshilfe‘.107 Ein anderes Beispiel dafür ist die Performance „Semone Himamat“ („Holy Week“) von Robel Temesgen, die er 2013 in der norwegischen Kleinstadt Tromsø realisierte. In dieser Performance, die vier Tage dauerte, zog er durch die Straßen und betrieb öffentliche Selbstgeißelung. Damit rekurriert er auf eine Praxis aus dem orthodoxen Christentum und thematisiert kritisch den ihm in Europa zugeschriebenen Status als ‚Fremder‘ und damit auf das Prinzip der VerAnderung (‚othering‘).108 Für einige dieser Künstler_innen ist Performance Art eine weitere Möglichkeit der Kunstproduktion, die sie neben der bildenden Kunst praktizieren. So versteht sich z.B. Berhanu Ashagrie nicht explizit als Performancekünstler, doch integriert Elemente des Performativen in seine eigene künstlerische Praxis, um

106 Vgl. Köppen: Interview Henok Getachew, Addis Abeba, 24.09. 2014, S. 3 ff. 107 Vgl. Institut für Raumexperimente, 2014, http://futurenows.net/entry/helen-zeru-2/, 02.12.2014. 108 Vgl. Temesgen, 2015, http://www.robeltemesgen.com/, 09.04.2015.

7. K UNSTSZENEN IN A DDIS A BEBA

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die etablierte Rahmung der Kunstproduktion vor Ort in Frage zu stellen.109 Für andere ist Performance Art zu einem wichtigen Ausdruckmittel geworden, weil sie die Zwei-Dimensionalität eines Bildes als zu limitiert erfahren und daher das Agieren in Zeit und Raum für angemessener halten. So erhebt z.B. Helen Zeru den Anspruch, den eigenen Körper in die Kunstpraxis zu integrieren und ihn als weiteres Mittel für die künstlerische Produktion zu nutzen.110 Henok Getachew dagegen, der seit 2009 regelmäßig Performances realisiert, führt seine durch Performativität sehr stark geprägte Kunstpraxis darauf zurück, dass er von Arbeitsansätzen amerikanischer und europäischer Performance-Künstler_innen wie Hermann Nitsch oder Joseph Beuys fasziniert war und sich durch deren Ansätze nachhaltig inspirieren ließ.111 Er gehört zu den wenigen Künstler_innen, die sich explizit innerhalb dieses Dikurses der Performance Art Bewegung verorten. Ebenso vertritt Henok Getachew die Position, dass auch in Äthiopien lange Zeit performative Kunst praktiziert wurde und weiterhin wird, jedoch in religiöszeremoniellen Kontexten: „There is performing arts in Ethiopia, but it is not named as that. […] There are people who perform during some holidays. Especially religious people do all these chants and some of their own movements. But it has a very different approach. […] For example there is one performance called ‚Tsillet‘. It means you will put a stone on you. […] It is meant that your prayer will be answered. […] For example, if your husband is sick, you go to the church and it works like a promise. […] If that person is healed, you pay in form of carrying a stone and you go to the public to carry the stone.“112

Solche und andere Ereignisse habe ich ebenfalls immer wieder punktuell beobachtet. Im äthiopischen Kontext jedoch, der durch religiöse Praktiken im Alltag stark geprägt ist, stellt sich für einzelne Kunstschaffende damit auch immer die ethische Frage, ob das als ästhetische Praxis zu bewerten oder als religiöse Praxis zu respektieren ist. So betont auch Henok Getachew im Interview, dass er sich nicht sicher darüber ist, ob solche Elemente in die eigene Kunstpraxis aufgenommen und öffentlich im Kunstrahmen ausgestellt werden sollten oder von Außenstehenden für künstlerische Arbeiten angeeignet werden könnten.113

109 Vgl. Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 1. 110 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 3. 111 Vgl. Köppen: Interview Henok Getachew, Addis Abeba, 24.09. 2014, S. 1. 112 Vgl. ebd. S. 7 f. 113 Vgl. ebd. S. 7.

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Eine Besonderheit der Akteur_innen dieser Teilszene ist, dass sie ihre Kunstaktionen nicht im Theaterbetrieb oder Galeriebetrieb, sondern zunehmend im öffentlichen Raum realisieren. Eine weitere Besonderheit ist, dass sie sowohl im Inland als auch im Ausland Performances realisieren, die sich kritisch mit den Themen Modernisierung, Kommerzialisierung, Migration, Ausgrenzung, Abhängigkeit, Stigmatisierung, Öffentlichkeit und Artikulationsfreiheit beschäftigen. Mittels Performance Art setzen sie sich explizit mit sensiblen Themen auseinander und nutzen Kunst als interventionistische, selbstreferentielle, wirklichkeitskonstituierende und diskursive Praxis. In diesen Fällen definieren sie Kunst nicht als Mittel der Repräsentation im Sinne der Theatralität, sondern als Mittel der gesellschaftlichen Konstruktion und Transformation im Sinne der Performativität. Besonders im Umfeld des Netsa Art Village etablieren Künstler_innen selbstbestimmt ein großes Arbeitsnetzwerk, wodurch sie kontinuierlich an transkulturellen Austauschprozessen teilnehmen und international an Reputation gewinnen. Ihre zunehmende Vernetzung sowie interdisziplinäre Zusammenarbeit, die auf temporäre Allianzen mit diversen Akteur_innen und Institutionen weltweit basieren, beeinflussen sukzessive auch andere Künstler_innen vor Ort.114 Besonders in den Szenen für Tanz und Performance Art ist sichtbar, was Bhabha als Merkmal der zeitgenössischen Kultur definierte, weil etliche Kunstschaffende dieser Sparten selbstständig kulturelle Bindungen performativ hervorbringen und durch ihre Netzwerke und künstlerischen Produktionen neue entgrenzte Gemeinschaften bilden.115

S TATUS P ERFORMATIVER K ÜNSTLER _ INNEN Die Profession von performativen Künstler_innen ist in Äthiopien mit verschiedenen Ressentiments verbunden. Aron Yeshitila beschreibt im Interview, dass historisch betrachtet performative Künstler_innen als Unterhaltende dienten, ihr Status lange als ambivalent galt und sie weiterhin sozial marginalisiert werden. „Stigmatization of artists is a fact. What is the position of artists in Ethiopia?“116 Auch innerhalb des Theaterbetriebs sind die künstlerischen Professionen hierarchisiert, wobei der Beruf von Tänzer_innen die geringste gesellschaftliche Ak-

114 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 1 f.; Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 13. 115 Vgl. Bhabha, 2000, S. XI, 3. 116 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 16.

7. K UNSTSZENEN IN A DDIS A BEBA

| 201

zeptanz unter den Arbeitsfeldern erfährt.117 Bis heute ist diese Berufsgruppe mit den meisten Ressentiments konfrontiert. Allerdings findet auch eine Neubewertung des Künstlerberufes durch die Kunstschaffenden selbst statt. Einige performative Künstler_innen lehnen mittlerweile eine negative Stigmatisierung ihrer Berufe, die minimale Bezahlung ihrer Arbeitskraft und Selbstausbeutungszwänge ab. Sie erwarten eine neue gesellschaftliche Haltung gegenüber ihrer Arbeit, die sich durch Anerkennung ihrer Fähigkeiten und Leistungen auszeichnen solle.118 Damit verbunden ist das Phänomen, dass Kunstschaffende stetig um Respekt ringen müssen und teils davon ausgehen, dass sie das gesellschaftliche Bild ihres Berufsstands modifizieren könnten, indem sie mehr arbeiten und besser aufklären würden.119 Das bedeutet, dass sie das Problem ihres ambivalenten sozialen Status auf sich verlagern und dadurch ihre Ansprüche an sich selbst hinsichtlich der Anzahl ihrer Produktionen wachsen, was wiederum schnellere Umsetzungen verlangt. Ein heikler Punkt, den Frew Kebede hervorhebt, ist die materielle Armut vieler Künstler_innen. Sie trägt wesentlich dazu bei, das Problem der gesellschaftlichen Anerkennung und die Tendenz der Rechtfertigung für die eigene Profession noch zu verschärfen.120

F AZIT Die zeitgenössischen performativen Kunstszenen zeichnen sich derzeit durch folgende Merkmale aus: differente Strukturbedingungen für die Disziplinen Theater, Tanz und Performance Art, Betonung der Trennung von Kunstsparten, Konkurrenz unter Künstler_innen aufgrund mangelnder Ressourcen bei gleichzeitiger Tendenz zur wachsenden Interdisziplinarität sowie personeller Erweiterung der Szenen. Das Selbstverständnis etlicher performativer Künstler_innen entäußert kritische Haltungen gegenüber ihren Arbeits- und Produktionsbedingungen, wobei ihre Ansprüche auf gesellschaftliche Anerkennung und bessere Entlohnung auffällig sind. Die Ausbildungen und Arbeitserfahrungen der performativen Kunstschaffenden weisen ein enormes Spektrum auf und verdeutlichen differente Erfahrun-

117 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 10. 118 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 2, 6; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 7. 119 Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3. 120 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 5.

202 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

gen, die Künstler_innen in diversen Arbeitskontexten sammelten. Einige stechen aufgrund ihrer internationalen Vernetzung und transnationalen Zusammenarbeit mit teils sehr renommierten Künstler_innen hervor. Das wiederum verweist auf die Qualitäten ihrer eigenen Arbeiten, die Professionalität der Künstler_innen und auf die Wirksamkeit ihrer Netzwerke. Diese Differenzen in Arbeitsfeldern basieren teils auf unterschiedlichen strukturellen Bedingungen: Im Bereich des Theaters agieren Kunstschaffende innerhalb einer kleinen freien Szene, deren Initiativen temporär haltbar sind, von staatlichen Bühnen abhängig bleiben und sich lokalspezifisch an ein Amharisch sprechendes Massenpublikum orientieren. Künstler_innen der Tanzszene, die nicht auf formale Strukturen zurückgreifen können, arbeiten in sehr fragilen Strukturen, die schnellen Wandlungen und großen Dynamiken unterliegen und weisen somit eine enorme Flexibilität auf. Im Bereich der Performance Art entwickeln Künstler_innen allmählich eine stabile Netzstruktur, die über persönliche Verbindungen transnational wächst und wesentlich von engagierten Personen des Netsa Art Kollektivs getragen wird, welches einen interdisziplinären Kunstanspruch vertritt. Während im Bereich des Theaters fast ausschließlich lokalspezifische Produktionen in Zusammenarbeit mit staatlichen Bühnen entstehen, werden in den Szenen für Tanz und Performance Art häufig Kooperationen umgesetzt und Verbindungen mit ausländischen Kunstschaffenden und Kulturinstituten unterhalten. An diesen Forschungsergebnissen lässt sich ablesen, dass ein enormes Potential für die Zusammenarbeit im Bereich der performativen Künste in den individuellen Kapazitäten und Kompetenzen der Kunstschaffenden vor Ort liegt. Für gemeinsame Produktionen von Künstler_innen Äthiopiens und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts erscheint es relevant, die umfangreichen Arbeitserfahrungen lokaler Künstler_innen anzuerkennen und angemessen einzubeziehen sowie spartenübergreifende Produktionen zu erarbeiten, um interdisziplinäre Ansätze und den internen Austausch zwischen Performance Art-, Tanz- und Theaterszene zu vertiefen, denn daraus könnten Synergien vor Ort entstehen, was schließlich dem internen Anspruch des Goethe-Instituts hinsichtlich der Förderung lokaler Kunstszenen entsprechen würde.

8. Herausforderungen für performative Künstler_innen

In den nun folgenden zwei Kapiteln gehe ich explizit der Frage nach, wie performative Künstler_innen Äthiopiens und Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts ihren jeweiligen Arbeitskontext und ihre Zusammenarbeit reflektieren. Dabei erscheint es mir relevant, möglichst viele Stimmen einzubeziehen und artikulierte Haltungen der Akteur_innen in Form von Interviewaussagen sichtbar zu machen, die ich nach Kategorien organisierte. Für viele performative Künstler_innen stellen die organisatorischen Abläufe und technischen Voraussetzungen an den Theaterhäusern Probleme dar. Damit verbunden thematisieren sie die Aspekte Material, Professionalität, Zugang zu Bühnen, Normierung von Ästhetik sowie Inspiration und Diskontinuität in der Arbeitsweise. Sie problematisieren explizit die kulturpolitische Rahmenbedingung ihrer Arbeit. Etliche performative Künstler_innen reflektieren auch die Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten vor Ort kritisch. Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts artikulieren ebenfalls Herausforderungen in der Zusammenarbeit, die teils Korrespondenzen zu den Aussagen der äthiopischen Künstler_innen aufweisen. Eine fundamentale Herausforderung für alle beteiligten Akteur_innen liegt meiner Argumentation zufolge im Umgang mit unterschiedlichen Kunstdiskursen und der Verhandlung von kultureller Macht im Bereich des Ästhetischen.

204 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

M ATERIALITÄT UND P ROFESSIONALITÄT IN DEN T HEATERHÄUSERN Künstler_innen wie Junaid Jemal Sendi, Aron Yeshitila, Shiferaw Tariku und andere machen auf den materiellen Mangel anhand veralteter Technik und verschlissener Ausrüstungen an den Theaterhäusern aufmerksam. Sie betonen häufig, dass diese spezifischen materiellen Bedingungen herausfordernd sind, jedoch für die Umsetzung ihrer künstlerischen Arbeit eine gravierende Rolle spielen.1 Indem äthiopische Künstler_innen ihre Produktionsbedingungen in materieller Hinsicht als defizitär beschreiben und explizit betonen, dass die Qualität ihrer künstlerischen Praxis aber von diesen spezifischen materiellen Bedingungen wesentlich determiniert werden, bestätigen sie Stuart Halls These über die Interdependenz von Ideen, Konzepten, Artikulationen und den materiellen Bedingungen, in denen diese entstehen und die sie widerspiegeln.2 Hall versteht Ideen als von den Arbeitsbedingungen abhängige Effekte und die Ignoranz gegenüber konkreten materiellen Bedingungen als Teil einer Ideologie: „Besonders die Vorstellung, dass die Ideen den Motor der Geschichte liefern und unabhängig von den materiellen Verhältnissen sich weiterentwickeln und ihre eigenen autonomen Effekte erzeugen, wird als das Spekulative und Illusorische in der bürgerlichen Ideologie dargestellt.“3

Außerdem können diese Komponenten aufgrund der ökonomischen Situation des Landes und der finanziell schwierigen Lebens- und Arbeitssituationen äthiopischer Künstler_innen nicht übergangen werden.4 Ein Aspekt der Materialität betrifft die hohen Kosten für den Zugang zu Proberäumen und Bühnen, die freischaffende performative Künstler_innen aufwenden müssen, um ihre Profession ausüben zu können.5 Unabhängig davon, ob die-

1

Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 11; Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 6; Köppen: Interview Addisu Demisie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3; Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 7; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8.

2

Vgl. Hall, 2004, S. 29.

3

Ebd. S. 13.

4

Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8.

5

Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 5; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8.

8. H ERAUSFORDERUNGEN

FÜR PERFORMATIVE

K ÜNSTLER _ INNEN

| 205

se Künstler_innen über interessante Projektideen verfügen, bleiben die Umsetzungen an den staatlichen Theatern für sie extrem kostenintensiv.6 Die Höhe der Raummiete ist ein gravierendes Hindernis für sie, um ihre Produktionen an den Theatern sichtbar zu machen. Mit den Kosten wird u.a. die Arbeitszeit von Haustechniker_innen abgedeckt. Sofern Kunstschaffende diese Kosten aufbringen, sind sie dennoch damit konfrontiert, dass die Licht- und Soundtechnik der Häuser oft versagt.7 Insofern müssen Künstler_innen für ihre Aufführungen teils zusätzlich technische Ausrüstung anmieten oder Licht- bzw. Soundtechniker_innen auf Honorarbasis anstellen, was ihre Produktionskosten enorm erhöht. „We struggle. You just try to get things work. But you can’t get what you want or what you need as a performing artist. […] Normally in a theatre there should be light. But here in our theatres they have often just six lights, or four lights or even just two lights. You can’t do a lot. It is arranged like someone with a spotlight will follow the artist on stage. But that takes the half of the artistic performance. […] You express something and therefore you need the light, the sound, the stage set and everything else. It is very problematic here. You have to struggle and try to find a way to bring it to a certain level […].“8

Wie an dem Zitat von Junaid Jemal Sendi ersichtlich ist, sind Künstler_innen nicht nur über den Aspekt der Materialität, sondern auch über den damit verbundenen Aspekt der Professionalität desillusioniert.9 Aufgrund vielfältiger Erfahrungen vertreten sie Positionen, die auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mögen, jedoch darauf verweisen, wie schwierig ihre berufliche Lage ist. Das wird anhand generalisierender Aussagen wie dieser deutlich: „There are no professionals.“10 Einen Mangel diesbezüglich an den großen, staatlichen Theaterhäusern festzustellen, bewirkt Formen der Resignation, mit denen sie im Berufsalltag umzugehen haben: „That is a special thing in Addis, because it is a different world. Really […] here even if you have the idea, you have no people to do it, you know. The people, the equipment, the

6

Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 5.

7

Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8.

8

Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 6.

9

Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 7; Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 6; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8.

10 Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 11.

206 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN place are not here. It is completely different. I would say, there is nothing and there is none.“11

Konkret erleben performative Künstler_innen diese Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit dem Hauspersonal der staatlichen Theater. So konzentriert sich ihre Kritik häufig auf die Arbeitsweisen der Techniker_innen an den Häusern.12 Außerdem riskieren sie bei technischen Problemen den Misserfolg ihrer Inszenierungen, für die sie Zeit, Energie und Geld aufbringen. Eine solche Arbeitserfahrung schildert der Tänzer und Choreograph Shiferaw Tariku: „Really I was not happy with showing my solos in the theatre hall. I was giving the technicians my ideas, but they were not even sure about the light. The light was just on and off and on and off. Even they don’t have spot light. I was asking them to get five spot lights. They were telling me ‚No we don’t have. But don’t worry, we will follow you with the spot light‘. I had to perform in five different stage areas. So they were chasing me with the light. It transferred a completely different meaning for the audience, which I didn’t plan. After that I did never perform my solos in Addis again.“13

An dem Zitat wird ersichtlich, dass aufgrund der limitierten Technik ästhetische Entscheidungen der Kunstschaffenden verändert und ihre Produktionsideen teils verzerrt werden. Da Shiferaw Tariku zufolge Raumatmosphären und Lichtstimmungen von den Haustechniker_innen eigens bestimmt werden, greifen diese gravierend in die Inszenierungsabläufe ein. Hinsichtlich der Professionalität an den Theatern werden die künstlerischen Ausbildungen in Frage gestellt: „It is almost the same style of theatre production again and again. Even the stage designers are limited. They are not trained. […] But we need the stage design and costume design departments within the Theatre Art Department of the AAU. Some of the design students from the Fine Art School could merge with the design students from the Theatre Department and get trained seriously.“14

Andere sehen das Problem der Professionalität weniger in der Ausbildung von Fachpersonal als vielmehr in der konkreten Entlohnung künstlerischer Berufs-

11 Köppen: Interview Addisu Demisie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3. 12 Vgl. ebd. S. 3. 13 Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 7. 14 Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 6.

8. H ERAUSFORDERUNGEN

FÜR PERFORMATIVE

K ÜNSTLER _ INNEN

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gruppen an den staatlichen Kulturinstitutionen. Frew Kebede zufolge arbeiten im Ausland ausgebildete Sound- und Lichttechniker_innen in anderen Berufen, weil sie nicht angemessen entlohnt werden.15 Performative Künstler_innen kritisieren außerdem die Expertise der Theatermanager_innen und deren Kenntnisstand über zeitgenössische Kunst. Sie verweisen auf die Diskrepanz, dass zeitgenössische Kunstansätze bislang nicht in die Programme der staatlichen Theater aufgenommen werden.16 Insofern werden die Aneignung von Techniken und Arbeitsansätzen den individuellen Künstler_innen überlassen, jedoch ihre Kompetenzen nicht adäquat in den offiziellen Kunstbetrieb integriert. „The other thing is that people in higher positions […] don’t have this open perception for the arts and they don’t have detailed knowledge about contemporary arts. That is a real problem for an artist like me.“17

Diese Interviewaussage von Mintesinot Getachew korrespondiert mit der These Elisabeth Wolde Giorgis’, der zufolge in Äthiopien die zeitgenössische Kunstproduktion bislang um Legitimation zu ringen hat.18 Die Aussage wird außerdem von Surafel Wondimu bestätigt, der in seiner Forschung feststellte, dass häufig hohe Beamte im Kulturbereich über relativ wenig Expertise in der Kunstpraxis und -theorie verfügen19, was z.T. auf parteipolitische Besetzungen zurückzuführen ist. Eine der ehemaligen Leiter_innen des Goethe-Instituts Addis Abeba, Irmtraud Hubatsch, wies im Interview daraufhin, dass sich diese kulturpolitische Handhabe auch bis in die Kunstakademien und Universitäten zieht: „Die meisten Dekane der Universität sind politische Besetzungen. Es sind zum Teil auch fachfremde Besetzungen. Das erste Gebot ist Ruhe und das zweite Gebot ist, die Dinge der Partei umzusetzen.“20 In welcher prekären Situation sich einige Kunstschaffende aufgrund ihres Arbeitskontextes verorten, soll folgende Aussage zusammenfassend verdeutlichen:

15 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 8. 16 Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3. 17 Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8. 18 Vgl. Wolde Girogis, 2006, http://aicainternational.org/en/art-criticism-curatorial-pra ctices-in-marginal-contexts-addis-ababa-26-28-january-2006, S. 3, 17.04.2013. 19 Vgl. Wondimu, 2009, S. 101. 20 Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 9.

208 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „[ …] here there is not enough material for artists at all. I mention that all the time. When I say material, I am talking about many things. I mean, physically and intellectually it is a mess here for the artists. That is what I mean: there is not enough material for the artists.“21

Diejenigen Künstler_innen, die die Möglichkeit haben, im Ausland zu performen, transnational zu arbeiten oder mit ausländischen Kulturinstituten für einzelne Produktionen zu kooperieren, ziehen diese Optionen in der Regel aufgrund vielversprechenderer Arbeits- und Produktionsbedingungen vor. Andere hoffen auf Gründungen privater Theater und die Etablierung neuer Bühnen, welche experimentelle Ansätze unter besseren Produktionsbedingungen versprechen.22 Jedoch sind diese Möglichkeiten derzeit kulturpolitisch, juristisch und ökonomisch beschränkt.

Ö FFENTLICHKEITSARBEIT

UND

K UNSTDEBATTEN

Bisher kündigt das Monatsmagazin „What’s Up“ vereinzelt Veranstaltungen in Addis Abeba an. Zeitungen wie „The Subsaharan Informer“ oder „The Reporter“ berichten selektiv über vergangene Kunstereignisse. Manchmal gibt es in Cafés kleine Aushänge oder Ankündigungen über soziale Netzwerke und SMS, die auf aktuelle Kunstveranstaltungen hinweisen. Öffentlichkeitsarbeit kann von den Künstler_innen der freien Szenen nur bedingt betrieben werden, weil es ein zusätzlicher zeitaufwendiger Aufgabenbereich ist, der neben Expertise auch gute Kontakte zu den Medien verlangt. Dadurch erfahren Interessierte eher zufällig von Veranstaltungen, die in Addis Abeba stattfinden. Aufgrund dessen erhalten aber auch äthiopische Künstler_innen nur die Gelegenheit, Arbeiten ihrer Kolleg_innen zu sehen, wenn sie sich gegenseitig persönlich darüber informieren. So kommt es durchaus vor, dass Künstler_innen, die zu ähnlichen Themen oder mit ähnlichen Formaten arbeiten, die Produktionen ihrer Kolleg_innen nicht kennen und sich diese auch nicht über Rezensionen später aneignen können. Das erschwert die Bildung eines gemeinsamen Referenzrahmens für einen internen Kunstdiskurs. Häufig besprechen äthiopische Künstler_innen individuell im privaten oder kollegialen Rahmen ihre Arbeiten und Ideen. Obwohl in Radio- oder Fernseh-

21 Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 12. 22 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 4; Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 8.

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sendungen Portraits bekannter äthiopischer Künstler_innen vorgestellt werden, gibt es bisher in den Akademien, Theatern und Museen sehr selten Plattformen für öffentliche Diskussionen über Kunstpraxis, Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Im Interview benannte Irmtraud Hubatsch bildungs-, kultur- und parteipolitische Gründe für diese Situation.23 Aber auch aufgrund der ökonomischen Gesamtsituation des Landes und des begrenzten Zugangs zu Bildung sind nur wenige Personen an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft tätig, um solche Diskurse fachlich zu begleiten. Elisabeth Wolde Giorgis beschreibt das Problem wie folgt: „This situation may be explained by, among other factors, the lack of local art historians and critics, and the consequent paucity of intellectual discourse on art. Despite the boom in contemporary art in the past decade, the country lacks trained art historians and art critics who are capable of cross-cultural dialogue […].“24

Da aufgrund der materiellen Situation der Universitätsbibliotheken und -archive verschiedene ästhetische Ansätze nicht visuell zugänglich sind, bleiben stilistische Neuerungen im Bereich der performativen Künste eher abstrakt. Da auch Produktionen vor Ort nur selten visuell dokumentiert und diese Dokumentationen bislang nicht systematisch archiviert werden, sind stilistische Umbrüche der performativen Künste vor Ort weder bildlich erfahrbar noch nachvollziehbar. Das kann ein Grund dafür sein, warum ein kritischer Diskurs über Kunst weitestgehend irrelevant blieb, wie Elisabeth Wolde Giorgis behauptet: „Contemporary art is still a new experience in Ethiopian culture and must still prove its claim to legitimacy. Whereas there has been an increase in the number of artists in the last decade, this has made little impact on the institutional structures of critical discourse, because there is no history of critical discourse in art […].“25

Fragen der Kunst werden überwiegend privat thematisiert, doch bislang kaum öffentlich debattiert, in Fachpublikationen schriftlich fixiert und sukzessive verdichtet. Das steht im Kontrast zu den regen Kunstdebatten der 1960er Jahre, aber in Kontinuität zur Verschwiegenheit während der Derg-Zeit der 1970er und 1980er Jahre, als eine kritische Debatte über Kunst politisch weitestgehend

23 Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 9. 24 Wolde Giorgis, 2006, http://aicainternational.org/en/art-criticism-curatorial-practicesin-marginal-contexts-addis-ababa-26-28-january-2006, S.1, 17.04.2013. 25 Ebd. S. 3.

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unterbunden wurde. Die tendenzielle Vermeidung öffentlicher Debatten über Kunst begünstigt wiederum eine Situation, in der viele zeitgenössische Künstler_innen Äthiopiens in ihren Arbeiten auf sich selbst oder auf das sie direkt umgebende soziale Umfeld bezogen bleiben. Diesbezüglich ist an Gesprächen mit Künstler_innen auffällig, dass sie auf diskursiver Ebene selten ihre eigene Praxis an bestehende Kunstentwicklungen anknüpfen oder in Bezug zu ästhetischen Umbrüchen der Kunstgeschichte setzen. Sofern Künstler_innen bewusst intertextuelle Bezüge zu anderen Ansätzen herstellen, können sie ein alternatives Referenzsystem der Kunst etablieren, was neue und lokalspezifische Perspektiven auf den westlich dominierten Kunstdiskurs und -kanon begünstigen würde. Sofern solche Positionen dezidiert und öffentlichkeitswirksam artikuliert werden, schaffen sie im Sinne Halls – wie in Kapitel 3 ausgeführt – Formen von Partikularismus oder Lokalismus, bewirken eine Relativierung etablierter Kunstmaßstäbe und erlauben Artikulationen alternativer Modernen, um sich einer Vereinnahmung in dominante Diskurse zu widersetzen.26 Da einzelne äthiopische Kunst- und Kulturschaffende dieses Potential erkannten, engagieren sie sich verstärkt für eine (teil-)öffentliche Debatte über Kunst. Diejenigen, die derzeit in Addis Abeba verstärkt Reflektionen über Kunstansätze vorantreiben, sind Frauen, die meistens aus der Bildenden Kunst kommen, im Ausland studierten und als Kuratorinnen arbeiten. Dazu zählen u.a. Elisabeth Wolde Giorgis, Konjit Seyoum, Meskerem Asseguad, Selam Mekuria, Aida Muluneh und Mihiret Kebede. Diese Frauen unternehmen entgegen der tendenziellen Vermeidung öffentlicher Kunstdebatten verstärkt Versuche der Etablierung und Ausweitung eines Diskursfeldes über zeitgenössische Kunst in Addis Abeba.

N ORMIERUNG KÜNSTLERISCHER ARBEIT Damit verbunden ist die Frage nach der Definitionshoheit über ästhetische Qualitäten. Ein Grundproblem, welches äthiopische Kunstschaffende häufig thematisieren, liegt in der Normierung und Standardisierung von künstlerischen Produktionen an den staatlichen Bühnen.27 „It is often the same scenes that you see in

26 Vgl. Hall, 2008, S. 209-215. 27 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 6; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 9; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 11.

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the theatre. Only the actors are changing. […] we always see the same pieces.“28 Entschieden genormt wird die Kunst durch den aufrechtgehaltenen Anspruch, sie solle unterhaltsam und amüsant sein.29 Oft scheinen neue Inszenierungen basierend auf herkömmlichen Verfahrensweisen und identischen theatralen Mitteln re-produziert zu werden. In diesem Kontext wird die Regulierung von Kunstansätzen kritisiert und ein Bedarf an Innovationsprozessen betont.30 Variabilität und Experimentierfreude gehen nur von einzelnen und meist freischaffenden Künstler_innen mittels Selbstausbeutung aus. „The way they perform is all the same and additionally all the theatres are producing the repetition material. […] It is not balanced or related to modern stuff. The only variation you might find is going along with individual artists.“31

Da trotzdem alle Produktionen von kleinen Komitees der Theaterhäuser gesichtet und evaluiert werden, unterliegt die Bewertung ästhetischer Qualitäten von Stücken ihrem Urteil, was die Möglichkeiten alternativer Repräsentationen mindert: „[…] they want to evaluate the performance you want to stage, because they have to evaluate whether the performance will be right for the audience or not.“32

Solche Regulierungen hinsichtlich der Inszenierungen und des Publikumsgeschmacks entsprechen Bevormundungstendenzen auf produktionsästhetischer Ebene. In dieser Hinsicht wird Surafel Wondimus These bestätigt, dass der Staat die Bühne vorrangig dazu nutze, seine Bürger_innen zu disziplinieren.33 Die strikte Normierung im staatlichen Kunstbetrieb, die u.a. eine ästhetische Einheitlichkeit vieler Produktionen bewirkt, hat Auswirkungen sowohl auf die Produktionshaltung vieler Künsler_innen als auch auf die Rezeptionshaltung der Zuschauer_innen. Auch für ausländische Kulturinstitute wie das Goethe-Institut stellt die staatliche Regulierung von künstlerischen Arbeiten eine Herausforde-

28 Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 6 f. 29 Vgl. ebd. S. 6 f.; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 16. 30 Vgl. Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6. 31 Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 11. 32 Ebd. S. 8. 33 Vgl. Wondimu, 2009, S. 59.

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rung dar. „Ich meine, die Theater sind kontrolliert. Was auf der Bühne aufgeführt wird, ist im Prinzip sanktioniert.“34 Künstler_innen sind teils übersättigt von ästhetischen, technischen und künstlerischen Standardisierungen.35 Durch die Reglementierung der Kunstproduktion im Theater, aber ebenso in den Bereichen Film, Musik oder Videokunst stellen sich Ermüdungserscheinungen bei ihnen ein, was folgendes Zitat belegt. „As a fine artist or as a visual sensitive person I want to see a good image. I am tired of watching trash scenes and trash compositions.“36

Sowohl in Hinblick auf Visualität und Komposition, aber auch bezüglich der Technik und Produktion wünschen sich Kunstschaffende neue Impulse. „We are fixed in the formality and in the tradition. I would like to see a theatre enriched by elements of fine art, music, technology. Also new technology can contribute to the enrichment of theatre plays.“37

Sie hinterfragen die Rolle der Theaterhäuser und wundern sich, warum Neuerungen nur sehr selten angestrebt werden.38 Ihre Bedürfnisse nach künstlerischer Auseinandersetzung und innovativer Bildsprache sehen sie nicht befriedigt.39 Dadurch stellt sich statt Inspiration für die eigene Arbeit häufig Resignation gegenüber den Kunstproduktionen und eine Ablehnung gegenüber den örtlichen Kulturinstitutionen ein. „I am tired of listening to the music productions over here. In the film and in the theatre I am tired of the images. When I enter the theatre and I see the same images like always, I go out immediately, because I don’t want to waste my time over there. It doesn’t give me any sense, you know.“40

Häufig ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, warum künstlerische Impulse nicht quasi autonom erzeugt werden können. Jedoch bewirkt eine starke

34 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 11. 35 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3. 36 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 7. 37 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6. 38 Vgl. Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 11. 39 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 9. 40 Ebd. S. 9.

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Normierung im Feld der Kunst, dass alternative ästhetische Ansätze als abwegig, unangemessen, inadäquat, irrelevant, mangelhaft, unlogisch oder absurd disqualifiziert werden können. Das kann kollektiv oder individuell sowohl auf Seiten des Publikums oder auf Seiten des Theaterpersonals geschehen. So lange künstlerisch-experimentellen Praxen und wissenschaftlichen Reflektionen über ästhetische Ansätze aufgrund der ökonomisch-politischen Situation ein geringer gesellschaftlicher Eigenwert beigemessen wird, befinden sich Künstler_innen in der schwierigen Situation, ausschließlich aus sich selbst heraus schöpfen zu müssen. In diesem Kontext weist Aron Yeshitila auf ein Dilemma für performative Künstler_innen hin, welches die Normierung indirekt verstärkt: „But they (e.g. the artists) cannot come up with the idea of experimenting by themselves, if they don’t observe that here in any way.“41

Festzustellen bleibt, dass im derzeitigen politisch-ökonomischen Kontext relativ selten experimentelle Ansätze von performativen Künstler_innen verfolgt und für Teilöffentlichkeiten sichtbar gemacht werden können. Gleichzeitig lehnen etliche Kunstschaffende die Normierung performativer Künste ab und befürworten experimentelle Herangehensweisen, was bislang vereinzelt umgesetzt wird.

D ISKONTINUITÄT Auf der Produktionsebene stellt Diskontinuität eine enorme Herausforderung für Künstler_innen dar, weil sie mit einer sehr brüchigen Struktur im Arbeitsumfeld hantieren müssen und sich stetig abrupt wechselnden Gegebenheiten anpassen müssen. So beschreibt Mintesinot Getachew im Interview z.B. die Schwierigkeit, Tanzensemble auf Dauer zu erhalten: „But the companies don’t have a continuous way of working. Every time things stop and break down again and again.“42

Das Problem der Diskontinuität ist mit zwei Aspekten verbunden: dem Bedarf an Fördergeldern und der daraus resultierenden Desillusion bei Künstler_innen über das fehlende Fördersystem von Seiten des Staates, weshalb sie sich teils anderen

41 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 8. 42 Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 13.

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Arbeitskontexten zuwenden.43 Viele freischaffende Künstler_innen tendieren dazu, in losen Verkettungen temporär wechselnd und informell ohne Registrierungen ihrer Compagnies zusammen zu arbeiten. Das liegt häufig daran, dass sie keine finanziellen Mittel aufbringen können, um ihre Kunstkollektive registrieren zu lassen.44 Dennoch gibt es zunehmende Tendenzen des Zusammenschlusses von einzelnen Compagnies wie der Ha Hu Dance Compagnie und der Music Mayday Compagnie und von Kunstkollektiven wie dem Netsa Art Village. Perspektivisch ist zu erwarten, dass mehr Künstler_innen auf die Herausforderung der Diskontinuität adäquat durch Selbstorganisation, Selbstmanagement und Selbstverwaltung eigener Strukturen reagieren, wie gerade die Künstler_innen des Netsa Art Village das bereits sehr erfolgreich praktizieren.45 Eine weitere Strategie mit dem Problem der Diskontinuität eigener Strukturen umzugehen, ist, wiederholend mit ausländischen Kulturinstituten projektbezogen zusammenzuarbeiten. Da diese Kunstproduktionen finanziell fördern, können performative Künstler_innen zeitweise ein Einkommen generieren. Darüber hinaus ermöglicht das Zusammenarbeiten mit anderen äthiopischen Kunstschaffenden in Projekten aber auch, Arbeitsbeziehungen miteinander zu erproben und zukunftsperspektivische Allianzen untereinander zu bilden, die eine kontinuierliche Zusammenarbeit in einem anderen Kontext begünstigen können.46

I NTERDISZIPLINARITÄT Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Vernetzung von Künstler_innen verschiedener Wissensbereiche werden von den Akteur_innen in den Interviews selbstkritisch reflektiert. Sie sind sich dessen bewusst, selbst strikte Trennungen zwischen den Kunstformen beizubehalten und einen interdisziplinären Austausch nur punktuell zu erproben.47

43 Vgl. ebd. S. 13; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3; Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 7. 44 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 5. 45 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 2. 46 Vgl. Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 8 f.; Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 9. 47 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 7; Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 8.

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Seit den 1960er Jahren lagen die drei wichtigsten universitären Ausbildungsinstitute – das Department for Theatre Arts, die Alle School of Fine Arts and Design und die Yared Music School – auf drei verschiedenen Campussen der Universität. Daher arbeiteten und lebten angehende Künstler_innen verschiedener Disziplinen separat und bildeten aufgrund dessen engere Verbindungen mit Kunstschaffenden ihrer Disziplin als mit Künstler_innen anderer Disziplinen.48 Jedoch zeichnet sich eine Veränderung dahingehend ab, dass Interdisziplinarität unter Kunstschaffenden durch bildungspolitische Maßnahmen gefördert wird, weil 2011 die Alle School of Fine Arts and Design mit der Yared Music School und dem Institute for Theatre Arts zum College of Performing and Visual Arts an der Addis Abeba Universität fusioniert wurde. Darin liegen neue Chancen, die z.B. die Anwendung einer Meta-Sprache über Kunst, die Förderung eines interdisziplinären Kunstdiskurses und das Kreieren fließender Übergänge zwischen Installation, Performance, Sound etc. sowie neue Netzwerkbildung unter angehenden Künstler_innen versprechen. Tibebeselassie Tigabu und Abebew Ayelew weisen in den Interviews allerdings darauf hin, dass bislang eine interdisziplinäre Zusammenarbeit trotz der neuen strukturellen Rahmenbedingungen noch nicht umgesetzt wird.49 Das ist Abebew Ayelew zufolge auch eine Konsequenz des fehlenden Fördersystems.50

K ULTURPOLITIK Ein sehr sensibler Punkt, zu dem sich performative Künstler_innen entweder explizit und kritisch oder aber bewusst vage, sinnbildlich und implizit äußern, ist die Kulturpolitik des Landes. Dabei werden drei Themenschwerpunkte betont: ein folkloristisches Kunstverständnis der staatlichen Behörden, die Zensur und das fehlende Fördersystem von Kunst. Dem vermehrten Einsatz folkloristischer Elemente zur Repräsentation einer sogenannten ‚multi-ethnischen Nationalkultur‘ wird von Seiten der Regierung derzeit das größte Gewicht beigemessen.51 Die Zuständigkeiten für landesweite Kulturarbeit und föderale Kulturpolitik wurde vor einigen Jahren dem Ministe-

48 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 5; Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 3 f. 49 Vgl. Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 7 f.; Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6 f. 50 Vgl. Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 5. 51 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 3 f.

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rium für Kultur und Tourismus zugeordnet. Für die staatlichen Theaterhäuser, deren Instandhaltungen, Personal und Produktionen vom Staat finanziert werden, übernimmt das Kulturministerium die Verantwortung.52 Wie bereits in Kapitel 6 ausgeführt sind spezifische Komitees an den Theatern für die personellen und künstlerischen Entscheidungen von Produktionen zuständig. In diesen Komitees übernehmen Personen des Kulturministeriums und des Theaters die Aufgabe, Stücke vor der Premiere zu sichten, sie zu evaluieren und Inszenierungen für öffentliche Aufführungen zu genehmigen oder zu verbieten.53 Die direkte Kontrolle des Kulturministeriums von Produktionen in den Theaterhäusern ist ein wesentliches Strukturmerkmal, mit dem Künstler_innen vor Ort strategisch umgehen müssen. „That means I had to show my piece before staging it to the authorities. They come from the Ministry of Culture.“54

An diesem Zitat wird deutlich, dass Kunstschaffende sich gegenüber Autoritäten für ihre Themensetzungen oder ästhetischen Entscheidungen rechtfertigen bzw. ihre Produktionen auf politischen Druck hin verändern müssen. Das bedeutet, Künstler_innen sind damit konfrontiert, dass ihre Arbeit jederzeit politisiert werden kann. Bei den Interviewaussagen wird aber auch deutlich, dass teils Unklarheit darüber besteht, wann die Zensur angewandt und wie sie exakt umgesetzt wird. „For sure there is an authority checking the theatre plays. […] It is not a direct censorship; it is more a kind of institutional or administrative censorship.“55

Diese Aussage deutet daraufhin, dass bei der Entscheidung gegen die Aufführung eines Stückes nicht explizit in der Kunst verarbeitete politischgesellschaftliche Aspekte als Begründung angefügt werden, sondern unter anderen Vorwänden diese Produktionen abgesetzt werden können. Das bestätigt auch folgendes Zitat:

52 Vgl. ebd. S. 3, 13. 53 Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8. 54 Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010, S. 2. 55 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 15.

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„They will give you a reason, I mean any reason. If that committee wants to ban a play, it can ban it. […] The officials don’t tell you straight ‚don’t do this or don’t do that‘, but they really don’t let you work. It is very complicated.“56

Diese Form der Zensur bleibt insofern unkalkulierbar, da den Künstler_innen teils nicht klar ist, welche Aspekte als problematisch eingestuft werden. Abebew Ayelew zufolge können ästhetische Werturteile ebenfalls zur Zensierung eines Stücks führen: „And censorship affects the theatre. If you look on the paper, it seems as anybody can produce whatever type of play he wants. That is what the law says. Practically the censorship occurs in the process of creation. Is this a qualified work or not? In that process the censors say ‚It is not good‘. The censorship response comes along an aesthetic judgment.“57

Die Sichtbarkeit jeder Kunstproduktion hängt Tibebeselassie Tigabu zufolge von der Gnade und der Kunstkenntnis der Behörden ab. Als die Kulturjournalistin für einen Zeitungsartikel recherchierte und der Frage nachging, ob und wie Stücke in Äthiopien zensiert werden, stellte sie fest, dass etliche Beamt_innen ihre Arbeit nicht als Zensur, sondern als qualitative Bewertung von Kunst auffassen. Dabei achten sie auf unterschiedliche Aspekte: „Each play should go with Ethiopian culture, moral, customs, and all those things. […] It allows the theatre to be produced on the mercy of the evaluators. If they think, it is morally wrong for Ethiopia or culturally inappropriate for Ethiopia or such sorts of things, they won’t let it pass.“58

Demzufolge sind die Bewertungskriterien weit auslegbar und daraus resultierend die Limitierungen sowie Grenzüberschreitungen für Kunstschaffende sehr schwer einzuschätzen. „Now there isn’t such thing like the former kind of censorship beforehand, but now there is a hidden sort of censorship. First the script has to be chosen by an independent group of a committee. But the composition of that committee is questionable. Who are they? In any

56 Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4 f. 57 Köppen: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014, S. 6. 58 Köppen: Interview Tibebeseselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 5 f.

218 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN way if they don’t like the person, who brought the content they can easily stop it. Then the piece will not even go for production.“59

Dieser Aussage zufolge scheint neben der konkreten künstlerischen Arbeit die politische Haltung einzelner Künstler_innen für die Ablehnung ihrer Stücke von Bedeutung zu sein.60 Differenzen in den Aussagen der Interviewpartner_innen gibt es darüber, ob alle Mitglieder der Komitees Angestellte des Theaters oder einige von ihnen Angestellte des Kulturministeriums sind.61 Durch die Sicherstellung der Finanzen und dem direkten personellen Einfluss des Kulturministeriums auf die Arbeit in den Theaterhäusern, obliegt auch dem Ministerium für Kultur größtenteils die Entscheidung über die Auswahl der Regisseur_innen. „The Ministry of Culture also assigns the directors of the governmental theatres. […] the staff of the theatre halls is assigned by a board. For example the National Theatre has a board. That includes persons from inside the theatre house and persons from the Ministry of Culture. That board oversees the activities of the National Theatre. This board will assign the directors for certain productions.“62

Durch diese kulturpolitischen Verfahrensweisen hinsichtlich des Personals sowie der Kontrolle durch die hausinternen Komitees werden alle Entscheidungen über die Inhalte und die Ästhetik der Stücke letztendlich kulturpolitisch beeinflusst.63 Bei anderen Interviewaussagen fällt auf, dass sie von den Gesprächspartner_innen teilweise in sich widersprüchlich und polyvalent gehalten werden, um nicht eindeutig Position gegenüber der aktuellen Kulturpolitik zu beziehen. Das Unwohlsein diesbezüglich drückt sich in verschiedenen Formulierungen aus. „Wherever you go inside Africa, it is always related to politics. My life is related to politics. I don’t want to talk about it in detail, but you have to live it to experience it. […] It is always around.“64

59 Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1. 60 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 15; Köppen: Interview Tesfaye Gesessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 1. 61 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4; Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4; Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 8 f. 62 Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 4. 63 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 5.

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Dieser Künstler generalisiert eine politisch wirksame und von ihm konkret erfahrene Situation im Kontinent und drückt zunächst sein Bedenken darüber aus, in diesem Kontext detailliert über Kulturpolitik sprechen zu können. Ein anderes Beispiel für die eingeschränkte Sprachmöglichkeit ist die Aussage der Künstlerin Helen Zeru. „It is difficult to say that now, but our government should also support the artists. […] I don’t know, but I think there is not yet a National Arts Council.“65

Die Bedenken gegenüber der Kulturpolitik und die Erwartungen an die eigene Regierung drücken Kunstschaffende teils sehr überlegt und achtsam aus. Das verweist auf diverse Macht-, Autoritäts- und Entscheidungsgewalten, denen sie sich ausgesetzt sehen. Andere Künstler_innen nutzen das Element der Polyvalenz als verbale Strategie. Dabei integrieren sie bekannte und offiziell kulturpolitische Argumentationsstränge, um ihre Kritik an aktuellen Strukturbedingungen vorsichtig zu artikulieren oder eigene Verbesserungsvorschläge unterzubringen. „[ …] this government has a very nice policy, I agree with that. They are doing a nice job in any field, we can see that. But it needs a change. I need this government also focusing on the arts […] It needs to get an authority; it could be some organizations for the arts to work on it. […] It could be financially or by giving trainings and techniques. It is important to get a chance for scholarships abroad. Stages are also needed. That is another option. And that is what I want to see. And I want that our beautiful Ethiopian cultural set will come out with contemporary techniques.“66

Häufig argumentieren Kunstschaffende mit dem Anspruch, die äthiopische Nation mittels Kulturgütern im Ausland repräsentieren zu können und auf diese Weise dem Land internationales Ansehen zu verschaffen. Konstruktionen von ‚Kultur, Nation, Folklore‘ und ‚Tradition‘ werden daher von ihnen für eigene Argumentationen genutzt und somit der dominante kulturpolitische Diskurs letztlich reproduziert. Auch die Ansätze von Seiten der Kulturpolitik, die Kultur Äthiopiens schützen, pflegen oder archivieren zu wollen, perpetuieren Kunstschaffende häufig. Jedoch glauben einige auch, dass das allein nicht ausreiche. Sie bestehen zunehmend darauf, in Kontakt zu Kunstschaffenden anderer Regio-

64 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 5. 65 Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 4. 66 Köppen: Interview I. Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011, S. 9.

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nen und in eine Auseinandersetzung mit dem globalen Kunstmarkt treten zu können: „But, you know, I think we are also part of this global thing, I mean, we are also part of this world. And we have to be related to our culture for performing elements of our country. We have to show our features abroad.“67

Dabei schwingt sowohl die Überlegung mit, das Bild Äthiopiens im Ausland durch Kunstproduktionen mit folkloristischen Elementen aufwerten zu können als auch der Wunsch, international an Sichtbarkeit zu gewinnen und an globalen Kunstströmungen teilzuhaben. Auffällig daran ist, einerseits die Förderung zeitgenössischer Kunst im Land zu erwarten, doch anderseits die Relevanz folkloristischer Kunstdarbietungen bei Gastspielen im Ausland zu betonen. Das Dilemma kann daher rühren, dass zeitgenössische Kunst vor Ort um Legitimation ringt und teils so wenig wertgeschätzt wird, dass Künstler_innen verunsichert darüber sind, ob aktuelle Themen Gegenstand der künstlerischen Reflektion sein können und ob ihre formal-ästhetischen Setzungen Resonanz im internationalen Kunstkontext erzeugen könnten.68 Hinzu kommt die Erfahrung der bisherigen Marginalisierung ihrer Kunstansätze im westlich orientierten Kunstkanon. Damit verbunden ist die Frage nach der Wertschätzung der eigenen Arbeitsweise, die eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen, umgebenden Realität durch zeitgenössische Techniken und Verfahren anstrebt. „An artist might produce professionally, but he might not respect his own profession, because the government or the system is not respecting him.“69

Daran ist eine der Auswirkungen ökonomischer und politischer Realitäten erkennbar, aber auch das Resultat einer Kulturpolitik, die auf die Bewahrung und Verteidigung bestimmter Formen von Kulturgütern fokussiert bleibt, die das Historische gegenüber dem Gegenwärtigen aufwertet und die Kunstproduktion am Maßstab der ‚Tradition‘ misst. Insofern befinden sich Künstler_innen in der schwierigen Situation, entgegen dem Druck und der Abwertung ihrer Profession, Selbstrespekt aufrecht zu halten, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.

67 Ebd. S. 6. 68 Anm.: Verstärkt wird dieses Dilemma, sofern bei internationalen Festivals von afrikanischen Künstler_innen erwartet wird, folkloristische oder traditionelle Elemente in der Kunstproduktion zu perpetuieren. 69 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 8.

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Künstler_innen wie Mihiret Kebede, die mehrfach im Ausland arbeiteten und dadurch einen Vergleich vornehmen, stellen die Kulturpolitik stark in Frage und stellen andere Ansprüche an die finanzielle Kunstförderung in ihrem Land. Sie reflektieren kritischer ihre eigene Arbeitssituation und den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontext ihrer Produktionen. „The artists are forced to produce weird kinds of works in order to survive and to sell these works, because there is no endowment or any support from the government like in other countries. […] I am not blaming the people themselves inside the government, but the system. The system at these times is just a complete mess.“70

Eine der ehemaligen Leiter_innen des Goethe-Instituts Addis Abebas, Elke Kaschl-Mohni, beschreibt die Charakteristika der äthiopischen Kulturpolitik wie folgt: „Es gibt eine verfasste Kulturpolitik. Es gibt auch ein Ministerium. Das ist nicht überall der Fall. Es gibt auch diesen ‚Growth and Transformation Plan‘, wo Kultur vorkommt. Generell kann man sagen, dass Kultur im Sinne von Tourismus und kulturellem Erbe verstanden wird. Es gibt keinen Schwerpunkt auf zeitgenössische Künste, sondern es gibt eher eine Konzentration auf die Belebung des Tourismus durch äthiopische Folklore. […] Das ist natürlich sehr schade, da vor allem im Zeitgenössischen viel Bewegung ist. […] Aber es ist vielleicht auch ein sehr gefährlicher Bereich, denn gerade in dem Bereich bewegen sich Dinge. Leute dieser Bereiche sind sehr kreativ, innovativ und überschreiten auch Grenzen. Und das ist natürlich das, was für ein Regime – welches wie in Äthiopien so krass autoritär und repressiv arbeitet – Kritik übend wirkt und wo es dann brenzlig wird.“71

Aus meiner Sicht sind jedoch für staatliche Organe nicht nur inhaltliche Setzungen zeitgenössischer Kunstproduktionen das Brisante, sondern die mögliche Relativierung von Perspektiven, die Verschiebungen von Referenzpunkten, das Hinterfragen bestehender Ordnungen und die Verweise auf alternative Wahrnehmungsmuster durch die Erfahrungen in Kunstereignissen, welche sukzessive Veränderungen bei den Zuschauer_innen bewirken können und insofern politisches Potential in sich tragen. Wenn beispielsweise in einem Kunstwerk Option X nicht mehr als einzige Wahrheit oder Repräsentation einer einzig möglichen Wirklichkeit gilt, sondern explizit hinterfragt, dekonstruiert oder um weitere Per-

70 Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 4. 71 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 3.

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spektiven ergänzt wird, kann X stark relativiert werden. Diese Praxis der Relativierung, die mittels Kunst vorgenommen und konditioniert werden kann, besitzt durchaus das Potential, auf andere Lebensbereiche übertragen zu werden. Somit können jedoch alle Formen etablierter Ordnungen mittels Kunst hinterfragt, ins Wanken gebracht und relativiert werden, wodurch diese Ordnungen nur noch bedingt zwingend erscheinen. Aufgrund der derzeitig kulturpolitischen Bedingungen tendieren etliche äthiopische Künstler_innen dazu, Strategien der Vermeidung anzuwenden, um Konflikten mit Behörden auszuweichen. Aus diesem Grund bereinigen sie häufig ihre künstlerischen Produktionen von offensiv kritischen, teils aber auch von ambivalenten Inhalten und fokussieren sich tendenziell eher auf schöne, simple und eindeutige Darstellungen, was einer Selbstzensur gleichkommt.72 Da einzelne Arbeiten für Künstler_innen nachteilige Konsequenzen nach sich ziehen können, versuchen einige Künstler_innen durch persönliche Kontakte zu Politiker_innen des Kulturministeriums den Zugang zu Bühnen oder zu spezifischen Bewilligungen zu erhalten.73 In jedem Fall bedeutet es für die Ausübung ihres Berufes, mit politischem Druck umgehen und punktuell mit Autoritäten vor Ort kooperieren zu müssen, um ihre Produktionen sichtbar machen zu können. Insofern befinden sich Künstler_innen teils in einer direkten Abhängigkeit von Behörden und Beamt_innen, wie die Aussage von Mihiret Kebede zeigt: „You know we have to change the people’s perspective on art first of all. […] I mainly talk about the people in the offices. For example if I have any issue I have to go to the governmental officials. So if they don’t understand what I am talking about and what the value of art is that is a huge problem. I cannot go further to develop my art projects then, you know. There are two facts, the change of the people’s understanding and the change of the system itself. And the people who are working on the policies, especially the cultural policies and the art policies, are still those people who have been through that old education system. They have no idea what we are designing or trying to create and as well no idea about what kind of policies they are creating. They have to consult with professionals like the theatre professionals and the fine art professionals. If they want to create a kind of policy on the federal level they should consult art professionals who have practical experiences.“74

72 Vgl. Köppen: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011, S. 4. 73 Vgl. Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 3; Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 7. 74 Köppen:Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 6 f.

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Um veraltete Parameter der Kunstmaßstäbe zu überwinden, erscheint es ihr notwendig, einen Dialog zwischen Politiker_innen, Beamt_innen und aktiven Künstler_innen zu beginnen, aber auch einen Diskurs über Kunst gesamtgesellschaftlich zu initiieren und zu vertiefen. Nur dadurch können längerfristig Künstler_innen das Stadium der Rechtfertigung für ihre Arbeiten hinter sich lassen und Kunst als öffentlich sichtbares Medium der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nutzen. Neben der Finanzierung der staatlichen Theaterhäuser gibt es derzeit keinerlei Förderungen für Kunst- und Kulturschaffende.75 Dadurch sind die Strukturen im Bereich der Künste sehr fragil und limitiert.76 Das bisherige Ausbleiben staatlicher Kunstförderung ist ein entscheidender Kritikpunkt der freischaffenden Künstler_innen Äthiopiens und häufig die Erklärung für mangelnde Innovationen im Feld der Künste. „If you prepare any kind of theatre, you spend a lot of money. You cannot do it for the art sake, because nobody provides you with funds to be experimental.“77

Aron Yeshitila geht davon aus, dass eine Förderung privater Kunstinitiativen und Theaterhäuser die qualitativen Maßstäbe für Kunstproduktionen grundlegend verändern würde.78 Es ist vermutlich eine Frage der Zeit bis finanzielle Förderungen für Kunst der freien Szene von Seiten des Staates bereitgestellt werden. Das ist eine Vermutung meinerseits, die auf dem Argument beruht, dass den Künsten insgesamt von staatlichen Behörden durchaus eine hohe Relevanz beigemessen wird, was an unterschiedlichen Strategien wie der universitären Fusionierung künstlerischer Ausbildungsstätten, der strikten Kontrollhaltung des Kulturministeriums gegenüber den Theatern sowie an der Zurschaustellung von Artefakten sowie Tanzstilen für nationale, religiöse und ethnizitätspolitische Interessen ablesbar ist. In dieser Hinsicht grenze ich mich von einer These Jane Plastows ab, die behauptete, dass in Äthiopien die Rolle der Kunst für die Nationenbildung unterschätzt werden würde.79 Aus meiner Sicht ist eher von einer Indienstnahme der Kunst für nationale Interessen auszugehen, was u.a. dadurch praktiziert wird, dass kulturpolitisch weit in den Bereich der Künste eingegriffen wird. Das be-

75 Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 14. 76 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 7. 77 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 9. 78 Vgl. Köppen: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012, S. 13. 79 Vgl. Plastow, 1996, S. 47.

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trifft insbesondere das Sprechtheater, teils auch den Bereich der Performance Art, allerdings weitaus weniger den Tanz. Der kulturpolitische Aspekt spielt für die künstlerische Praxis eine entscheidende Rolle und stellt einen wesentlichen Faktor dar, der die Kunstproduktionen äthiopischer Künstler_innen und indirekt auch die Zusammenarbeit zwischen performativen Künstler_innen Äthiopiens und Mitarbeiter_innen des GoetheInstituts beeinflusst.

AUSLÄNDISCHE K ULTURINSTITUTE Äthiopische Künstler_innen schildern in Interviews ebenso Herausforderungen bezüglich ihrer Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten vor Ort. Sie vertreten sehr unterschiedliche Positionen dazu. Etliche der performativen Künstler_innen schätzen die Bedeutung des Goethe-Instituts und anderer ausländischer Kulturinstitute vor Ort für relevant ein und betonen ihre Wertschätzung für deren aktive Rolle in der Förderung der lokalen Kunstszenen.80 Neben den realisierten Kulturprogrammen der Institute, wertschätzen Künstler_innen die strukturellen Fördermaßnahmen, um unterschiedliche Ansätze der kreativen Arbeit zu erweitern. Dazu zählen beispielsweise die finanzielle Bereitstellung oder Beteiligung bei Produktionskosten, die Stipendien für Arbeitsaufenthalte im Ausland und die Durchführung von Trainings.81 Besonders positiv heben sie die praktische Orientierung und die Vielseitigkeit der Kulturarbeit ausländischer Institute hervor, wodurch diese sich von lokalen staatlichen Institutionen unterscheiden würden.82 Diese Wertschätzung ist häufig konkret an einzelne Fachkräfte der ausländischen Kulturinstitute gebunden, da programmatische Ausrichtungen der Kulturprogramme sich nach Personalwechsel oft erheblich ändern. So hat z.B. Elke Kaschl-Mohni, Leiterin des Goethe-Instituts Addis Abeba zwischen 2009-2012,

80 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 11 f.; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 7; Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 6; Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 3; Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 4; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 6 f.; Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 4. 81 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 6; Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 4. 82 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 4.

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eine enorme Reputation unter den performativen Kunstschaffenden genossen, weil sie sich durch regelmäßige, offene Gesprächsbereitschaft, konkrete Lösungsorientierung und aktive Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteur_innen eingesetzt hatte. „She personally understands what we are trying to create here. [...] Now we are really sad, that she leaves the Goethe-Institut.“83

Diese sehr persönliche Einschätzung verweist gleichsam auf ein Bewusstsein für die Veränderungen des Institutsprofils, abhängig von den individuellen Akteur_innen, die in den Instituten arbeiten. Aufgrund bevorstehender programmatischer Änderungen in den ausländischen Kulturinstituten wird das Verlassen einzelner Kulturmanager_innen entweder bedauert oder begrüßt – je nachdem, welche Konsequenzen sich daraus für die eigenen Arbeitsbedingungen der Künstler_innen vor Ort ergeben. Performative Künstler_innen vor Ort beobachten durchaus genau die programmatischen Umbrüche und Veränderungen der Schwerpunktsetzungen sowie die temporär wechselnden Präferenzen für bestimmte ästhetische Parameter, die sich bei ausländischen Kulturinstituten häufig durch Personalwechsel ergeben. Die Gestaltungsfreiheit einzelner Fachkräfte, die immer auch das Potential neuer Imulssetzungen und Themenverschiebungen beinhaltet, nehmen jedoch einige Künstler_innen in Addis Abeba auch als programmatische Willkürlichkeit bei ausländischen Kulturinstituten wahr, aufgrund dessen, dass die spartenspezifische Ausrichtung in direkter Verbindung mit den Präferenzen Einzelner steht.84 Damit verbunden ist eine Skepsis gegenüber singulären Leitungsposten, die u.a. aufgrund der kulturpolitischen Realität in Äthiopien besonders ins Gewicht fällt. „Usually their engagement changes from director to director. Sometimes they are very active and they like the music scene or the stage arts. Others don’t like that and prefer paintings or fine art. It all depends on the director of the period.“85

Darin liegt eine Ambivalenz, weil bei hoher fachlicher Kompetenz der Akteur_innen die Kulturprogramme sehr effektiv gestaltet werden können, jedoch letztendlich die programmatische Ausrichtung des Instituts sowie die Qualität der Programme an Individuen und deren personengebundenes Wissen gebunden

83 Ebd. S. 4 f. 84 Vgl. Köppen: Interview Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 2. 85 Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 7.

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bleibt. Auf diese Ambivalenz verweist auch die Interviewaussage von Tafari Getachew: „If there is a cultural attaché or someone who is in charge to work in these cultural fields he or she can make a lot of things. They can build strong connections and they can exchange ideas and experiences. They can give enough space to exhibit, because they have it.“86

Er spricht ebenfalls die die Handlungs- und Gestaltungsmacht einzelner, ausländischer Akteur_innen im Feld der Kunst vor Ort an, die produktiv eingesetzt werden kann, jedoch an Individuen gebunden bleibt. Dem könnte durch Leitungskollektive, Jurys und Einbezug mehrerer Entscheidungsträger konstruktiv entgegen gewirkt werden. Teilweise beurteilen äthiopische Künstler_innen die Arbeitsansätze ausländischer Kulturinstitute kritisch. Tesfaye Gessesse und Tafari Getachew gehen davon aus, dass ausländische Kulturinstitute vorrangig die Agenda verfolgen, ihre eigene Kultur vor Ort auszustellen – im Sinne der Repräsentation einer Nation. Das sei ihrer Ansicht nach daran ersichtlich, dass z.B. das Goethe-Institut deutschen Musiker_innen Konzertmöglichkeiten in Addis Abeba verschafft, Literatur deutscher Autor_innen ins Amharische übersetzen oder Stücke deutscher Bühnenautor_innen vor Ort produzieren lässt.87 Berhanu Ashagrie betont dagegen, dass äthiopischen Kunst- und Kulturschaffenden vom Goethe-Institut Raum gegeben wird, ihre eigenen Ideen und Konzepte zu realisieren.88 Den Online-Archiven nach hat hier sukzessive eine Verschiebung stattgefunden, die in den letzten Jahren Kooperationen mit äthiopischen Kunstschaffenden vor Ort stärker fokussiert, was den Prinzipien der Regionalstrategie entspricht. In Addis Abeba setzten ausländische Kulturinstitute in der Vergangenheit unterschiedliche Schwerpunkte und weisen teils Überlappungen in ihrer Konzentration auf bestimmte Kunstsparten auf. Während das Goethe-Institut die eigene Arbeit lange auf Literatur, Film und Bildende Kunst fokussierte, war das Alliance Ethio-Francaise auf Musik und Bildende Kunst konzentriert. Auch das Cervantes Institut förderte Kunstprojekte im Musikbereich.89 Der Theatermacher Tesfaye Gessesse vertritt die Ansicht, dass keines der ausländischen Kulturinsti-

86 Köppen: Interview Tafarai Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 2. 87 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 6; Köppen: Interview Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 2. 88 Vgl. Köppen: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014, S. 4. 89 Vgl. Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 6.

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tute programmatische und systematische Zugänge zum Feld der performativen Künste unternommen hätte. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden von ihnen punktuell Projekte im Bereich des Sprechtheaters umgesetzt. Dabei handelte es sich um europäische Dramen, die ins Amharische übersetzt und für den Kontext Äthiopien adaptiert wurden: z.B. koproduzierte das Alliance Ethio-Francaise mit dem Hager Fikir Theater eine Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“. Das Goethe-Institut hat in den 1990er Jahren eine Übersetzung und Inszenierung von Goethes Stück „Die Leiden des jungen Werthers“ mit dem Nationaltheater, von Lessings Stück „Nathan der Weise“ und Frischs Stück „Andorra“ mit dem Hager Fikir Theater initiiert und finanziert.90 Junaid Jemal Sendi vertritt die Ansicht, dass in Addis Abeba jahrelang vorrangig das Alliance Ethio-Francaise im Bereich der performativen Künste tätig war und sowohl das Goethe-Institut als auch das British Council bis vor kurzem keine nennenswerten Impulse in die äthiopische Tanzszene gaben, obwohl die Kulturinstitute eine zentrale Funktion in der Förderung dieser Kunstform einnehmen könnten. Bezüglich der eingangs formulierten und aus Glissants theoretischen Schriften abgeleiteten Teilfrage, wie die Interviewpartner_innen die institutionellen Maßstäbe der Kunstproduktion reflektieren, wird deutlich, dass der Tänzer und Choreograph Juanid Jemal Sendi die genauen Kenntnisse hinsichtlich der Dynamiken der performativen Kunstszenen vor Ort bezweifelt.91 Auch der Soundund Performancekünstler Frew Kebede stellt die Kenntnisse über konkrete Lebenslagen und Arbeitskontexte von Kunstschaffenden in Äthiopien in Frage und betrachtet die institutionellen Maßstäbe als losgelöst von dem jeweiligen Kontext.92 Das korrespondiert mit den Ausführungen des Tänzers Mintesinot Getachews, der die Arbeit ausländischer Kulturinstitute würdigt und betont, wie wichtig sie als Anlaufstellen und Knotenpunkt für viele Künstler_innen sind. Aber auch er vertritt die Ansicht, dass sie aktiver die performativen Künste fördern könnten und eine verantwortungsvollere Rolle darin einnehmen sollten. Darüber hinaus fordert er explizit ein, zukünftig eine wirkungsvollere interne Handhabe zu etablieren, um die Komplexität der Kunstszenen Addis Abebas, die Dynamiken der rasanten, gesellschaftlichen Transformationsprozesse und die ortspezifischen Besonderheiten genauer zu erfassen.93 Damit verbunden ist auch sein Anspruch an fundierte Kenntnisse ausländischer und lokaler Kulturarbei-

90 Vgl. ebd. S. 6 f.; Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 10; Wondimu, 2009, S. 104. 91 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 7. 92 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 4 f. 93 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 11 f.

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ter_innen über Arbeitshintergründe der Künstler_innen vor Ort. Etliches des Fachwissens ist personengebunden und geht jeweils durch personelle Änderungen verloren. In dem 2001 erschienen Sammelband „Murnau, Malina, Minsk: 50 Jahre Goethe-Institut“ beschreiben Schuhmacher/Leonhard die Kompetenz des Goethe-Instituts gerade als „die direkte Präsenz vor Ort und die aktive Beteiligung der Auslandsinstitute am kulturellen Geschehen ihres Standortes. Zu beobachten und mitzuteilen, was sich jeweils vor Ort tut, Strömungen zu erkennen […]“94 sind demzufolge wichtige Elemente der eigenen Arbeit. Die Äußerungen einiger ähiopischer Künstler_innen jedoch verweisen darauf, dass der Anspruch des Goethe-Instituts, über fundierte Kenntnisse der lokalen Kunstszenen in afrikanischen Ländern zu verfügen – wie in Kapitel 4 ausgeführt – von ihnen bezweifelt wird. Das koorespondiert mit Bharuchas Plädoyer, eine Dekontextualisierung und Simplifizierung der Kunstströmungen in außereuropäischen Ländern zu vermeiden95, aber äthiopische Künstler_innen eben diese Tendenzen auf Seiten der ausländischen Kulturinstitute wahrnehmen. Frew Kebede glaubt sogar, dass 99% der äthiopischen Kunstschaffenden für ausländische Kulturinstitute unsichtbar und inexistent seien und diese dadurch doppelt marginalisiert werden.96 Teils drücken Künstler_innen ihren Zweifel darüber aus, wem Zugänge zu Arbeitsmöglichkeiten gewährt werden und wem nicht. Sie bezweifeln die Transparenz von Auswahlverfahren97 und schildern, wie schwierig es für sie ist, eigeninitiativ Verbindungen mit ausländischen Kulturinstituten aufzubauen.98 Einige Künstler_innen schildern ihren Eindruck von räumlicher, ökonomischer und intellektueller Distanz in der Beziehungsgestaltung. Ein Beispiel dafür ist die Interviewaussage Frew Kebedes, der glaubt, dass hinsichtlich der Konzepte, Ideen und der Umsetzungsfragen keinerlei Austausch zwischen ausländischen Kulturinstituten und äthiopischen Künstler_innen stattfände und somit verschiedene Ansätze der Arbeitsweisen nicht verhandelt werden. Dieses Dilemma hängt für ihn ganz eng mit den unterschiedlichen ökonomischen Lebenswelten und sozialen Lebensverhältnissen der Akteur_innen zusammen.99

94

Schuhmacher/Leonhard, 2001, S. 9.

95

Vgl. Bharucha, 1993, S. 4 f., 39; Bharucha, 1996, S. 196, 206 f.

96

Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 5.

97

Vgl. Köppen: Interview Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 2.

98

Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2.

99

Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 4 f.

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„But according to mental concepts, attachments and ideas, we didn’t meet each other. That is the problem. Let me tell you, why is that. The workers of foreign cultural institutions […] don’t live with the people. The most of the artists are third class citizens.“100

In diesem Zitat spricht Frew Kebede das ökonomische Gefälle zwischen Künstler_innen Äthiopiens und Akteur_innen europäischer Kulturinstitute an und hinterfragt die Möglichkeit des Austauschs von Wissen und konzeptueller Ansätze unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen. Diese Artikulation korrespondiert zum Teil mit Bharuchas theoretischer Position, dass interkultureller Austausch strukturell unter der Bedingung materieller Dominanz des Westens stattfindet.101 In der oben zitierten Aussage wird auf empirischer Ebene auch Christine Regus’ These bestätigt, das interkulturelle Kontakte im Zusammenhang ökonomischer Konfliktfelder stehen und geprägt sind durch eine Machtrelation zwischen der sogenannten ‚Ersten Welt‘ und der sogenannten ‚Dritten Welt‘.102 Insofern ist es eine symbolisch aufgeladene Artikulation, wenn Frew Kebede über äthiopische Künstler_innen als „third class citizens“103 spricht. Damit verweist er auf die Diskrepanz, dass auch ein transkultureller Austausch auf Ebene der individuellen Akteur_innen unter ungleichen Bedingungen stattfindet. Dieser Künstler fragt sich darüber hinaus, welches Wissen, welche Kenntnisse und welche Impulse ausländische Kulturinstitute nach Äthiopien transferieren würden und welches Wissen eigentlich in afrikanischen Ländern benötigt werden würde. Damit stellt er die Frage nach Kulturbeziehungen aus afrozentrischer Perspektive und hinterfragt kritisch die Arbeit europäischer Kulturinstitute in Afrika.104 Er hinterfragt ebenso die Rolle ausländischer Kulturinstitute hinsichtlich ihrer angesetzten Kunstmaßstäbe und der damit verbundenen Beurteilung von äthiopischen Kunstschaffenden. Weil diese Maßstäbe und die konkreten Entscheidungen für oder gegen die Zusammenarbeit mit einzelnen Künstler_innen aus seiner Sicht intransparent bleiben, sei es eine Demonstration außerordentlicher Machtpositionen:

100 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 4 f. 101 Vgl. Bharucha, 1996, S. 196. 102 Vgl. Regus, 2009, S. 47, S. 64. 103 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 5. 104 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 7.

230 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Who is the judge? According to which measurements are the foreign cultural institutions judging it? Seen it from my experience, I would say it is like a black market.“105

Dieses Zitat weist darauf hin, dass der interviewte Künstler die Auswahlverfahren als intransparent wahrnimmt. Die von ihm artikulierte Machtrelation entsteht vorrangig aus der Setzung ästhetischer Wertmaßstäbe durch ausländische Kulturinstitute, welche finanzielle Förderungen unter bestimmten Bedingungen vornehmen. Diese Aussage des äthiopischen Performancekünstlers korrespondiert mit zwei zentralen Thesen der postkolonialen Theoretiker, denn Bhabha behauptete, dass Europa weiterhin als kulturelles Forum fungiert106 und Hall betonte, dass die Dominanz westlicher Vorstellungen, Werte, Artefakte und Stilrichtungen ein wesentliches Merkmal asymmetrischer Kulturbeziehungen107 ist. Indem Frew Kebede die ästhetischen und konzeptuellen Maßstäbe ausländischer Kulturinstitute in Frage stellt, problematisiert er ebenfalls die Bedingungen einer Beziehungsgestaltung im Sinne Glissants des Sich-aufeinander-Beziehens.108 Die vom Interviewpartner formulierte Frage nach den Maßstäben der Beurteilung von Kunstproduktionen verweist darüber hinaus auf die Diskrepanz differenter ästhetischer Präferenzen und auf die Gewichtung ästhetischer Werturteile im Feld der Kunst. Damit hinterfragt Frew Kebede zugleich die vermeintliche Universalität von Kunstmaßstäben, die Marginalisierung anderer Kunstdiskurse und die diskursive Macht im Feld der Kunst. Da äthiopische Künstler_innen innerhalb eines spezifischen Kontexts Kunst produzieren, sind die davon abgeleiteten Kunstmaßstäbe und ästhetischen Kategorien in Hinblick auf eine Positionierung vor Ort zwingender als die Maßstäbe ausländischer Kulturinstitute, die sich auf einen anderen aktuellen sowie kunsthistorischen Kontext beziehen. Von einzelnen Akteur_innen wird die Förderung von Kunst durch ausländische Kulturinstitute dahingehend hinterfragt, ob weiterführende außenpolitische Interessen mittels Kulturarbeit verfolgt werden. In diesem Kontext reflektiert Tibebeselassie Tigabu das Problem des ökonomischen Ungleichverhältnisses und die Funktion der Kunstförderung: „As you know, I know a lot of artists. They talk about how the funders try to twist things and try to make it their own agenda. At the end of the day it is not how you wanted it, but

105 Ebd. S. 9. 106 Vgl. Bhabha, 2000, S. 32. 107 Vgl. Hall, 2008, S. 214 f. 108 Vgl. Glissant, 2005, S. 47.

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they contribute money. […] It goes along with funding. So funding gives them the privilege to do anything. It is not only initiating it, but also designing it, developing it, organizing it. They make it to their own agenda. And it is linked to money. […] Yeah, there might be positive impacts. But the problem is the division between being the funder and being supported. It always puts you in a different category. […] How are these institutions giving the money? And why are they giving the money? Would they give the money, if it would be a different agenda? Do they give the money, because it suits their own agenda? Why are they doing it? That should be thought about critically.“109

In diesem Zitat werden drei zentrale Aspekte von der Interviewpartnerin artikuliert. Die Förderung durch ausländische Kulturinstitute hat aus ihrer Sicht zwar positive Effekte für das Produzieren von Kunst, doch bewirke es auch eine Konditionierung der Produktionsbedingungen und potentiell eine Veränderung der Ideen von Kunstschaffenden vor Ort. Auf dieses grundlegende Problem hatte Bharucha – wie in Kapitel 2 dargelegt – bereits hingewiesen. Damit verbunden ist Tibebeselassie Tigabu zufolge ein Privileg der Kulturinstitutionen, die Kunstmaßstäbe und die ästhetischen Kriterien zu definieren, was eine Definitionsmacht im Bereich des Ästhetischen markiert. So lese ich ihre Aussage: „funding gives them the privilege to do anything“110. Diese Aussage korrespondiert mit den Ausführungen der Theaterwissenschaftlerin Regus, die das Ausblenden institutioneller Repräsentations- und Defintionsmacht kritisert und zugleich feststellt: „Institutionen des Kulturaustauschs […] bestimmen die Art und Weise und das Motiv der Sichtbarmachung von Kunst und Künstlern“111. Tibebeselassie Tigabus Aussage verstehe ich dahingehend, dass der Raum der Repräsentation, der vorab definiert wird, immer mit der Finanzierungsmöglichkeit eines solchen Raums und laufenden Kunstbetriebs einhergeht. Außerdem hinterfragt die Interviewpartnerin die Gewichtung zwischen Kunst, Kultur und Politik bei der Förderung künstlerischer Arbeiten vor Ort. Damit verweist sie indirekt auf die Verbindung zwischen außenpolitischen Interessen eines westlichen Staates und dessen Enagagment in afrikanischen Ländern mittels Kunstförderung und praktischer Kulturarbeit vor Ort. Von Künstler_innen, die häufig oder kontinuierlich mit dem Goethe-Institut, dem British Council und dem Alliance Ethio-Francaise zusammenarbeiten, werden wiederum andere Belange thematisiert. So sind zum Beispiel die Kontinuität und die Nachhaltigkeit von Projekten für sie nicht erkennbar, weil Kulturinstitute

109 Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 8. 110 Ebd. S. 8. 111 Regus, 2009, S. 76.

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häufig projektbezogen arbeiten und einmalige Kunstereignisse realisieren. Mehr Kontinuität könnte aus ihrer Sicht gewährleistet werden, wenn von ausländischen Kulturinstituten durch das Management der regionalen und internationalen Netzwerkarbeit dauerhafte Arbeitsbeziehungen für Kunstschaffende Addis Abebas entstehen, längerfristige Karriereplanungen von Künstler_innen im Blick behalten oder Dokumentationen der künstlerischen Arbeiten erstellt werden würden.112 Einige Künstler_innen hoffen insofern darauf, dass ausländische Kulturinstitute die internationale Vermarktung ihrer Kunstproduktionen und eine internationale Vernetzung stärker vorantreiben.113 Andere sprechen die Bündelung von Ressourcen an und wünschen sich engere Kooperationen der Kulturinstitute untereinander sowie zwischen ausländischen und äthiopischen Kunstinstitutionen vor Ort, so dass häufiger großformatige Ereignisse kooperativ realisiert werden könnten.114 Junaid Jemal Sendi glaubt, dass der jetzige Zeitpunkt ideal wäre, um aktiver die zeitgenössischen, performativen Künste in Addis Abeba zu fördern, weil es einen zunehmenden Bedarf von Seiten der äthiopischen Künstler_innen an Produktionen, Trainings und internationalen Austauschprozessen gäbe und die Kunstszene stetig wächst.115 Dem gegenüber gibt es auch Kunstschaffende in Addis Abeba, die teilweise aufgrund der Erfahrung mehrfacher Ablehnungen ihrer Projektvorschläge eine resignierende Haltung gegenüber ausländischen Kulturinstituten artikulieren und sich von diesen gänzlich abwenden.116

F AZIT Mit dem Anliegen der eingangs formulierten und aus Halls Theorie abgeleiteten Teilfrage nachzugehen, wie die Kunst- und Kulturschaffenden ihren Arbeitskontext hinsichtlich ihrer materiellen, ökonomischen und strukturellen Arbeits- und Produktionsbedingungen reflektieren, zeigen sich folgende Ergebnisse: Performative Künstler_innen Äthiopiens sehen eine große Herausforderung im Umgang mit den materiellen Komponenten, die ihre Arbeit wesentlich beeinträchti-

112 Vgl. Köppen: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012, S. 4. 113 Vgl. Köppen: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012, S. 4; Köppen: Interview Henok Getachew, Addis Abeba, 24.09. 2014, S. 9. 114 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalgn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 10. 115 Vgl. Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 8. 116 Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2, Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 2.

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gen. Sie problematisieren die Realität ihres Arbeitskontextes dahingehend, dass ihre Kreationen in spezifischen materiellen Bedingungen entstehen, die sie als defizitär erachten. Damit dekonstruieren sie aus ihrem Erfahrungswissen heraus die Vorstellung einer autonomen Kunst- und Ideenproduktion ebenso wie Stuart Hall es bereits zuvor theoretisch fasste. Zu den spezifischen materiellen Bedingungen ihrer Arbeitskontexte zählen nach Aussagen der äthiopischen Künstler_innen eine veraltete technische Ausstattung an den staatlichen Bühnen, hohe Produktionskosten sowie eine ökonomische Armut der Künstler_innen selbst. Dadurch werden künstlerische Umsetzungen ihrer Ideen und Konzepte stark begrenzt. In Verbindung damit artikulieren sie das Problem der Professionalität im Theaterbetrieb, welches sie anhand von Techniker_innen, Bühnenbildner_innen und Theatermanager_innen exemplifizieren. Obwohl dieser Aspekt anhand der spezifischen Ausbildungssituation im Bereich der Kunstsektoren zu erklären ist, erleben performative Künstler_innen dadurch teils bizarre Arbeitssituationen an staatlichen Bühnen, was wiederum Resignation erzeugt, weil alternative Aufführungsorte kaum zur Verfügung stehen. Außerdem ergibt sich daraus das Problem, Entscheidungsträger_innen in staatlichen Kultureinrichtungen von der Relevanz zeitgenössischer und/oder experimenteller Kunstansätze zu überzeugen. Die Normierungen und Standardisierungen der Produktionen an staatlichen Bühnen erzeugen bei etlichen Künstler_innen Ermüdungserscheinungen, die sich u.a. in der graduellen Abkehr vom Medium Theater äußert. Auf Produktionsebene kämpfen sie mit dem Problem der Diskontinuität, denn durch sukzessive Desillusionierung gegenüber dem Theaterbetrieb und den harschen ökonomischen Lebensbedingungen freischaffender Künstler_innen sind ihre Arbeitsformate oft lose und nur temporär haltbar. Jedoch gibt es auch ein tendenziell wachsendes Bewusstsein für die Wichtigkeit von kunstkollektiven Zusammenschlüssen. In kulturpolitischer Hinsicht sehen sich performative Künstler_innen mit dem Problem der diffus gehaltenen Zensur und der daraus resultierenden Selbstzensur konfrontiert. Außerdem betrachten sie ein Kunstverständnis, welches vorrangig die Produktion von ‚folkloristischen‘ bzw. ‚traditionellen‘ Artefakten favorisiert als unzeitgemäß und hinterfragen die Kompetenzen von staatlichen Behörden, die interne kulturpolitische Richtlinien umsetzen. Eine der gravierendsten Herausforderungen auf kulturpolitischer Ebene ist das bisher fehlende Kunstfördersystem. Darüber hinaus artikulieren die Künstler_innen ihre Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten. Einerseits loben sie die aktive Rolle, die diese in der strukturellen Förderung zeitgenössischer Kunst spielen. Andererseits beobachten sie skeptisch die Anbindung der Kulturpro-

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grammgestaltungen an individuellen Präferenzen einzelner Akteur_innen. Sie hegen teils Zweifel an der Expertise über den spezifischen kunsthistorischen Kontext vor Ort sowie über die Dynamiken in den aktuellen Kunstszenen Äthiopiens. Daran ist ablesbar, dass sie umfassende Kenntnisse über die äthiopische Kunstgeschichte von Mitarbeiter_innen ausländischer Kulturinstitute erwarten. Außerdem kritisieren sie die Auswahlverfahren von Künstler_innen sowie die Setzung konzeptioneller und ästhetischer Maßstäbe durch ausländische Kulturinstitute, was den Aspekt der Defintionshoheit im Bereich des Ästhetischen anspricht. Daraus ergibt sich indirekt die enorme Herausforderung für sie, eigenen Maßstäben und Perspektiven Geltung zu verschaffen. Das ist angesichts dessen, dass sie über ein vielfach geringeres ökonomisches Kapital sowie soziales Kapital in Form von etablierten Netzwerken verfügen, relativ schwer zu realisieren. Äthiopische Künstler_innen hinterfragen auch die Umsetzung des Prinzips der Kontinuität in der Zusammenarbeit. Daraus leitet sich bei ihnen der Anspruch an einer nachhaltigen künstlerischen Zusammenarbeit – in Form eines anhaltenden, dialogischen Prozesses statt einmaligen Projekts – ab. Entgegen denjenigen Akteur_innen, die ausländische Kulturinstitute als Stätten der Kunstproduktion und -zirkulation auffassen, betonen andere Akteur_innen stärker die politische Funktion der Institute.

9. Herausforderungen für das Goethe-Institut

Zu den Herausforderungen der Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts gehören derzeit die Auswahl von Künstler_innen, die Gestaltung der Rolle von Multiplikator_innen, die Kontinuität von Projekten und der Umgang mit kulturpolitischen Realitäten vor Ort.

AUSWAHL VON K ÜNSTLER _ INNEN Einige performative Kunstschaffende Äthiopiens hinterfragen den Informationsfluss und die Auswahlverfahren.1 Folgende Aussage des Performance- und Soundkünstlers Frew Kebede exemplifiziert das Problem: „For me and for my friends, this issue of art-residencies works like a black market. I don’t know how to apply, where to go, how to get it.“2

Der Tänzer Addisu Demissie fasst es folgendermaßen: „Sometimes you get the impression there are always the same people, who work with those institutes.“3

Über das Problem der Auswahlverfahren von Künstler_innen für Projekte im Inund Ausland sind sich auch Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts bewusst,

1

Vgl. Köppen: Interview Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012, S. 1; Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 9; Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2 f.

2

Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 9.

3

Köppen: Interview Addisu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2 f.

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da im Einzelfall entschieden wird, ob öffentliche Ausschreibungen erfolgen.4 Das liegt u.a. daran, dass ein Auswahlverfahren, was die Festlegung von Kriterien, die Beteiligung einer Jury und das Sichten eingehender Bewerbungen erfordern würde, viel Zeit benötigt. Insofern entspricht die Entscheidung für oder gegen die Zusammenarbeit mit Künstler_innen in der praktischen Kulturarbeit statt einem langwierigen Auswahlprozess häufig einem pragmatischen Verfahren des subjektiven Sondierens von Akteur_innen.5 Das kann u.a. dazu führen, mit bereits sehr etablierten Künstler_innen immer wieder zusammenzuarbeiten. Denn auch ein Anspruch an Nachhaltigkeit und Nachbereitung von Projekten kann zur Folge haben, zwar längerfristig, aber mit einer kleineren Anzahl von Künstler_innen immer wieder zusammen zu arbeiten.6 Das verschafft diesen Akteur_innen Zugänge zu Netzwerken sowie zu finanzierten Produktions- und Arbeitsmöglichkeiten, zu denen jedoch andere Künstler_innen teils keinen Zugang erhalten. Mit der Herausforderung transparenter Auswahlverfahren ist auch der institutsinterne Aspekt des Personalschlüssels verbunden, der den Effekt subjektiver Präferenzen verstärkt. Singuläre Leitungen, die regelmäßig aufgrund des Rotationssystems nach drei bis fünf Jahren wieder das Land verlassen7, müssen sich bei ihren Entscheidungen für oder gegen die Zusammenarbeit mit Künstler_innen vor Ort auf einzelne Programmarbeiter_innen verlassen. Daneben arbeiten oft nur Praktikant_innen bei der Kulturprogrammgestaltung mit, die – unabhängig von ihrem Engagement und Interesse – sich kaum professionell die Zusammenhänge lokaler Kunstszenen erschließen können. Je weniger Personen an einem Kulturinstitut arbeiten, desto mehr Einfluss gewinnen die Einzelnen und desto schwerer wiegt deren individuelle Urteilskraft bei Auswahl der Künstler_innen. Gerade wenn Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen, wächst die Wahrscheinlichkeit, Künstler_innen auszuwählen, die dem Institut bereits bekannt sind und die sich in vorhergehenden Projekten verlässlich zeigten. Dieses Problem wird innerhalb des Goethe-Instituts erkannt und von Kulturarbeiter_innen angesichts der Personen-, Zeit- und Arbeitskapazität der Institute reflektiert. Punktuell wurden am Goethe-Institut alternative Ansätze erprobt und komplexe Auswahlverfahren ermöglicht, die jedoch aufwendig sind und die Institute vor Herausforderungen stellen.

4

Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 5.

5

Vgl. ebd. S. 5.

6

Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 16.

7

Vgl. Goethe-Institut, 2008, S. 217.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

FÜR DAS

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„Bei ‚ Fana Wogi‘ z.B. haben wir eine Jury. […] Das denke ich, ist eine gute Art auch in die Kunstszene hinein zu signalisieren, dass eben nicht von vornherein feststeht, wer an der Ausstellung teilnimmt. Wir wollen wirklich auswählen und die Jury besteht aus sechs Personen. Das heißt, es ist nicht eine Person, die entscheidet. Das ist eine Art mit dieser Problematik umzugehen. […] Und oft ist das wirklich einfach auch eine Zeitfrage, weil dann kurzfristig eine Mail reinkommt […]. Und dann ist oft sehr wenig Zeit, um Interviews zu führen oder viele Kunstschaffende noch kennenzulernen. Als Leiterin habe ich auch nicht mehr […] die Zeit, so intensiv in die jeweiligen Szenen reinzugehen, um so vernetzt zu sein. Das geht gar nicht. Daher gehen wir über Multiplikatoren oder Leute, die die Szene kennen […].“8

An dieser Aussage einer Kulturarbeiterin des Goethe-Instituts Addis Abebas wird deutlich, dass die künstlerische Qualität der Arbeiten und die Reputation der Akteur_innen allein nicht ausschlaggebend sind, sondern institutsrelevante Faktoren wie Zeitmangel, Expertise und ein bereits etabliertes Netzwerk die Auswahl von Künstler_innen mit beeinflussen. Eine andere Kulturarbeiterin des Goethe-Instituts bestätigt, dass neben der künstlerischen Qualität weitere Aspekte für die Auswahl ausschlaggebend seien. Englische Sprachkenntnisse, die potentielle Erfüllung einer Multiplikator-Rolle und die Absicht einer längerfristigen Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut werden von denjenigen Künstler_innen erwartet, deren Arbeitsaufenthalte finanziert werden.9 Aufgrund des Problems der Visabeschaffung haben Künstler_innen, die bereits mehrfach im Ausland arbeiteten und anschließend nach Äthiopien zurückkehrten, eine größere Chance für Projekte, Festivals oder Residenzprogramme im Ausland erneut ausgewählt zu werden. Somit wird für eine Entsendung auch das Risiko einer möglichen Landflucht der Künstler_innen von Seiten der Botschaften kalkuliert. Damit ist die angenommene Vertrauenswürdigkeit der Akteur_innen neben der künstlerischen Leistung ein weiteres Kriterium bei Auswahlverfahren. Das wiederum fördert die Sichtweise innerhalb der lokalen Kunstszenen, dass immer wieder die gleichen Personen bevorzugt werden. Dieser letztgenannte Aspekt verweist auf eine politische Realität, mit der v.a. afrikanische Künstler_innen umzugehen haben. Für Akteur_innen ausländischer Kulturinstitute in afrikanischen Ländern ergibt sich diesbezüglich die Herausforderung, einerseits Auswahlverfahren so zu gestalten, dass sie nicht in die lokalen Kunstszenen eingreifen und Spannungen der Künstler_innen untereinander aufgrund von Ressourcenzugängen verstärken

8

Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 17.

9

Vgl. Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 8.

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und andererseits mit einer komplizierten politischen Realität umzugehen. Wenn Kulturinstitute Künstler_innen auswählen, die von den Botschaften abgelehnt werden, verspielen sie aus Zeitgründen die Chance, überhaupt Künstler_innen zu entsenden. Wenn sie die Entsendung einzelner Künstler_innen befürworten und diese nicht zurückkehren, werden die Vorbehalte der Botschaften gegenüber ihrer Auswahlkompetenz größer und die Visabestimmungen zeitweise rigoroser, was andere Künstler_innen benachteiligt. Gleichzeitig bringt der Verdacht der Landflucht jedoch äthiopische Künstler_innen in die heikle Situation, ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen zu müssen. Es verweist auf das Dilemma, dass trotz des Anspruchs eines ‚Austauschs auf Augenhöhe‘ und entgegen der Utopie transnationaler Bewegungen und transkultureller Austauschverhältnisse im Bereich der Künste, politische und ökonomische Realitäten weit in den Bereich der Kunst eingreifen und diese nicht – im Sinne Regus – kulturalisiert werden können. „Es gibt immer das Risiko in allen Bereichen, dass Künstler nicht mehr zurückkehren. Es ist ein enormes Risiko, wenn man hier jetzt jemand wirklich Guten findet und den fördert […] – das ist in den Kunstszenen und in der ganzen Wissenschaft so – und diese Person im Ausland bleibt. Leute gehen nach Deutschland und werden ausgebildet. Dann erscheint die Perspektive, zurück zu kommen mit den Gehältern und den Hindernissen, die man hier hat, als schwierig. […] Und natürlich hat man dann viel investiert in etwas und die jeweilige Institution oder Szene hat dann trotzdem nichts davon. Das ist kein leichtes Thema. […] Es liegt oft daran, dass Kunstschaffende hier eine Perspektive brauchen und sie hier Möglichkeiten sehen müssen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder was Interessantes machen zu können ohne direkt beschränkt zu werden. […] aber natürlich muss man diese Dinge mitdenken, wenn man so Sachen plant.“10

Aufgrund der politischen und strukturellen Bedingungen der Kunstproduktion in Äthiopien, kann es durchaus vorkommen, dass sich einzelne Kunstschaffende genötigt sehen, das Land zu verlassen. Andere Künstler_innen – besonders aus dem Bereich der Performance Art – bewegen sich permanent und sind Teil internationaler Kunstnetzwerke, während sie ihren Lebensmittelpunkt in Äthiopien haben. Die Gruppe der performativen Kunstschaffenden allein in Addis Abeba ist diversifiziert und hat unterschiedliche Problemlagen, worauf sie mit verschiedenen Strategien reagieren. Ein adäquter Umgang damit ist – so lese ich das Zitat – auch für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts teils schwer zu finden.

10 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 10.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

FÜR DAS

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Eine andere Komponente des Problems von Auswahlverfahren umschreibt der äthiopische Künstler Frew Kebede mit dem Schlagwort ‚to hustle‘. Es verweist auf eine Situation, in der äthiopische Künstler_innen sich darum bemühen, im Markt der Sichtbarkeit die Aufmerksamkeit von Mitarbeiter_innen ausländischer Kulturinstitute auf sich zu ziehen: „All of us artists in Addis Ababa know that there are hustlers around the foreign cultural institutions, whom you cannot escape. They know already the game […] I am tired of it. Why can I participate? Why am I imitating? I already know who will be selected. So why shall I cooperate with them? […] Some people want to promote themselves. If you are more concerned to your work, you don’t have energy to compete with the others.“11

An der Aussage wird deutlich, dass solche Künstler_innen aus seiner Sicht eher mit Fragen des Selbstmanagements und der Selbstvermarktung als mit qualitativer Kunstproduktion beschäftigt sind. Er lehnt eine Rivalität gegenüber anderen Künstler_innen ab und hinterfragt, ob er westliche Kunstmaßstäbe zu imitieren habe, um in Auswahlverfahren bestehen zu können. Interessant daran ist, dass er engagierte und stets präsente Kunstschaffende mit dem Begriff ‚hustler‘ bezeichnet, der eine negative Konnotation aufweist, während eine Kulturarbeiterin des Goethe-Instituts diese Künstler_innen als ‚pro-aktiv‘ einschätzt und in deren Engagement eine Qualität der Selbstvermarktung erkennt. „Und dann gibt es auch die pro-aktiven Künstler, die zu uns kommen und mit der Zeit auffallen, da sie sehr pro-aktiv sind. Ich finde das einerseits gut, da es ja auch etwas ist, was wir eigentlich fördern wollen, denn das sind oft die Leute, die auch international Erfolg haben. Dennoch bleibt es zweischneidig. Nicht derjenige, der am lautesten schreit, sollte nur gehört werden. Es ist wichtig, die anderen nicht aus dem Blick zu verlieren. Es gibt auf jeden Fall auch die sehr pro-aktiven, die immer herkommen, bei jeder Veranstaltung mit dabei sind. Sie haben oft ihren CV fertig in der Tasche, was gut ist. […] Und wenn sie dann noch gute Arbeit machen, haben sie schon sehr gute Chancen. Andere, die das nicht machen und eventuell auch sehr gute Arbeit machen, die werden dann oft nicht wahrgenommen. […] Es gibt einige Leute, die sich sehr gut verkaufen und andere, die sich weniger gut verkaufen. Das ist auch Teil des gesamten Kulturbetriebs.“12

An den zwei konträren Positionen zeigt sich deutlich, dass die eine Person solches Handeln als Erschleichen arbeitsrelevanter Vorteile wertet, während die an-

11 Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 5 f. 12 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 17 f.

240 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

dere Person es als berufliches Engagement deutet. Es ist ein konkretes Beispiel für Kulturaustauschbeziehungen, wie sie von Bhabha als antagonistischer und konfliktgeladener Austausch von Bedeutungen theoretisch gefasst wurde.13 Auch an diesem Beispiel wird ersichtlich, dass unterschiedliche Vorbedingungen und Annahmen der Zusammenarbeit konfliktives Potential in sich bergen, da mit unterschiedlichen Wertmaßstäben operiert wird. Bezüglich der Auswahlverfahren erscheint es notwendig, mehr Expertise verschiedener Personen einzubeziehen, öffentliche Ausschreibungen vorzunehmen, Auditions zu organisieren und wechselnde Auswahljurys zusammenzustellen, um programmatisch objektive Auswahlverfahren und multiperspektivische Blicke auf die Arbeiten einzelner Künstler_innen vor Ort zu gewährleisten. Das würde einen enormen Vertrauensgewinn auf Seiten der Künstler_innen schaffen, der u.a. in Äthiopien derzeit erforderlich scheint.

G ESTALTUNG

DER

M ULTIPLIKATOREN -R OLLE

Wichtig für die Zusammenarbeit mit einzelnen Künstler_innen ist u.a. das Kriterium ihrer potentiellen Eignung als Multiplikator_innen – also deren eigene Vernetzung und Position innerhalb der lokalen Kunstszenen. Der Grund dafür ist der Anspruch, dass Künstler_innen, ihre gesammelten Arbeitserfahrungen in ihr eigenes Arbeitsumfeld vor Ort weitertragen sollen, so dass eine größere Anzahl von Personen davon profitiert.14 Demnach sind wesentliche Kriterien für die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden das potentielle Multiplizieren von Wissen und Erfahrungswerten sowie die Bereitschaft zu langfristiger Kooperation. Trotz des häufig formulierten Anspruchs, die Arbeits-, Ausstellungs- und sonstigen Projekterfahrungen ausgewählter Künstler_innen wieder zurück in die jeweiligen Kunstszenen vor Ort einfließen zu lassen, stellt es eine Herausforderung dar, detailliert zu konzipieren, durch welche Formate die Multiplikator_innen-Rolle der Künstler_innen gestaltet werden kann. „Wenn jetzt ein Künstler oder eine Künstlerin ins Ausland geht und dort Erfahrungen macht, dann zurückkommt […]: wie kann das dann hier umgesetzt werden? Da gibt es diese ganzen Spannungen plötzlich. […] Es stellt sich die Frage, wie gelingt es den Künst-

13 Vgl. Bhabha, 2000, S. 2. 14 Vgl. Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 8.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

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lern, Erfahrungen aus dem Ausland hier positiv einzubringen, ohne dass es abgelehnt wird und das Ganze wirklich für eine Szene konstruktiv wird.“15

Dieser Ansatz der praktischen Kulturarbeit entspricht dem Anspruch des UNESCO-Aktionsplans „The Power of Culture“ – siehe Kapitel 4 –, in dem ebenfalls davon ausgegangen wird, dass individuelle Erfahrungen in soziale Gruppen zurückgebunden werden können. Das würde im Sinne Glissants nach rhizomischem Prinzip unzählige Beziehungen und Austauschkanäle von allen mit allen kreieren. Jedoch scheint die Kreation eines solchen Austauschgeflechts mittels einer Multiplikation von Erfahrungen kein simpler Prozess zu sein, der quasi einfach entsteht, sondern der konkrete Gestaltungen benötigt. In dem vorab zitierten Interviewausschnitt gibt Elke Kaschl-Mohni zu bedenken, dass Künstler_innen durchaus mit Ablehnung, Desinteresse oder Indifferenz vor Ort konfrontiert sein können, wenn sie ihre Arbeitserfahrungen teilen, kommunizieren oder produktiv machen wollen.16 Auf dieses Dilemma hatte bereits Bharucha hingewiesen, als er die Frage aufwarf, was eigentlich mit Künstler_innen und deren Reputation passiere, nachdem sie ins Ausland entsandt wurden und heimkehren.17 Ablehnungen können z.B. entstehen, wenn die Auswahlkriterien bereits angezweifelt werden oder wenn Kolleg_innen den Eindruck haben, davon nicht direkt profitieren zu können und die Ausstellung solcher Erfahrungen als Ironie gegenüber ihrer eigenen Lebensrealität vor Ort wahrnehmen. An dem oben angeführten Zitat wird ersichtlich, dass innerhalb der äthiopischen Kunstszenen auf die Entsendung einzelner Künstler_innen unterschiedlich reagiert wird und die Prozesse des Wissenstransfers und -aneignens auch konfliktiv sein können. Es bleibt die Frage, welche Formate sich eignen würden, damit Impulse von anderen Kunstschaffenden angenommen werden können. Dabei bedarf es auch einer Reflektion darüber, welche Formen von Wissen wie zu transferieren sind und welcher Bedarf vor Ort von den Akteur_innen selbst artikuliert wird. „Ich muss zugeben, da wir sehr, sehr viel machen, können wir oft gar nicht wirklich die Multiplikatoren-Funktion so mitgestalten, wie man es eigentlich machen sollte. Aber manchmal machen wir es schon. Z.B. Henok Getachew und Marc Eshete waren ja in Leipzig, kamen zurück und wir haben hier für sie einen Abend organisiert, wo sie über ihre Leipzig-Erfahrungen sprechen konnten und vorstellten, was sie in Leipzig gemacht

15 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 4. 16 Vgl. ebd. S. 4. 17 Vgl. Bharucha, 1993, S. 36.

242 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN hatten. […] Das stieß hier auf großes Interesse und es ist eine Form, dass hier zurück in die Öffentlichkeit zu bringen.“18

An der Aussage ist zu erkennen, dass vom Goethe-Institut Addis Abeba, erste Ansätze erprobt wurden, um die Multiplikation von Wissen zu gewährleisten und dass dafür die verbale Repräsentation als Methode genutzt wurde. Es ist möglich, dass zur Gestaltung der Multiplikatorfunktion partizipative und interaktive Methoden, mediale Vermittlungen und der performative Vollzug ähnlicher künstlerischer Ereignisse notwendig wären, so dass Kunstschaffende vor Ort ebenfalls ähnliche Erfahrungen sammeln können. Das entspräche dann nicht mehr einer fixierten Situation des Theatralen, die frontal auf die berichtenden Künstler_innen ausgerichtet ist und andere Kunstschaffende zu passiven Rezipient_innen fremder Erfahrungen macht. Sondern es erlaube eine Situation des performativen Mitvollzugs, der Wirklichkeitskonstituierung und des kollektiven Plenums, wo Prozesse durchlaufen, performativ gestaltet und miteinander erfahren werden können. Um der Herausforderung der Gestaltung von Multiplikatoren-Rollen zu begegnen, zeichnet sich mittlerweile die Tendenz beim Goethe-Institut ab, weniger Projekte zu machen und diese dafür nachhaltiger, umfangreicher und langfristiger auszuführen. Bei dieser Idee liegt der Fokus auf einer sinnvollen Nachbereitung von Projekten und dem Erzeugen längerer Wirkungsketten.19

D ISKONTINUITÄT Mit der Absicht längere Wirkungsketten erzeugen zu wollen, ist u.a. die Frage der Kontinuität verbunden, die für viele äthiopische Künstler_innen drängend ist. Aufgrund ihrer Resignation gegenüber den Arbeits- und Produktionsbedingungen vor Ort wächst ihre Erwartungshaltung an die finanzielle und logistische Förderung der zeitgenössischen Kunst durch ausländische Kulturinstitute. Diese wiederum sind davon überfordert und verweisen darauf, dass sie nur im begrenzten Rahmen künstlerische Prozesse fördern können.20 Die Mittel und Kapazitäten des Goethe-Instituts sind limitiert und die eigene Arbeit auf die Förderung temporär begrenzter Projekte konzentriert. Somit steht der Anspruch an Kontinuität

18 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 15. 19 Vgl. ebd. S. 16. 20 Vgl. ebd. S. 14.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

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von Seiten äthiopischer Künstler_innen teils im Widerspruch zur Ausrichtung des Goethe-Instituts, welches projektbasiert arbeitet. Jedoch ist es eine der elementaren Herausforderungen für Kulturinstitute wie dem Goethe-Institut, eine programmatische Kontinuität auch bei personellen Änderungen zu gewährleisten. Die Beobachtung vieler äthiopischer Künstler_innen bezüglich der wechselnden Schwerpunktsetzung der Kulturprogramme in Abhängigkeit der Personalwechsel auf Leitungsebene wird von Interviewaussagen und Recherchen in den Online-Archiven bestätigt. Zwischen 2004 und 2008 wurden punktuell Projekte wie „Free Art Felega I-III“ an der Schnittstelle zwischen bildender Kunst und Performance Art initiiert, doch der Schwerpunkt der Programmarbeit lag auf Literatur und Bildender Kunst. Zwischen 2009 und 2012 wurden überwiegend Projekte in den Bereichen der performativen Künste, der bildenden Kunst und der Mode realisiert. Aufgrund spezifischer Fachkenntnisse der Leitung über performative Künste wurde in diesem Zeitraum eine Zusammenarbeit mit äthiopischen Künstler_innen aus den Bereichen Tanz und Performance Art realisiert. Zwischen 2012 und 2015 lag die Konzentration auf den Arbeitsbereichen Architektur, Stadtplanung, Kulturerbe, Museumsarbeit und Äthiopistikforschung. Seit 2015 zeichnet sich die Tendenz ab, Kunst im öffentlichen Raum zu realisieren sowie Fotografie und Literatur zu fördern. Von der Expertise einzelner Kulturarbeiter_innen profitieren die Kulturinstitute enorm. Allerdings bedeutet es auch, dass abhängig von den jeweiligen Fachkompetenzen dieser Akteur_innen teils gravierende Schwerpunktverlagerungen der Kulturprogramme vorgenommen werden, wodurch die programmatische Kontinuität in einzelnen Kunstsparten nicht garantiert werden kann.21 Da dieses Problem Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts bereits selbstkritisch reflektierten, wurde institutsintern entschieden, zunehmend auf die Gewährleistung von Kontinuität zu achten und diesen Aspekt als einen Teil der Regionalstrategie zu defnieren. „[…] ein Leiterwechsel beim Goethe-Institut bedeutet immer auch neue Impulse, neue Themen und Schwerpunktverschiebungen usw. Etwas was besonders seit den letzten Jahren […] wichtig ist, ist, dass Maßnahmenprojekte längerfristig und mehrjährig sein sollen. Es ist wichtig, dass es eben nicht ein beliebiges Projekt nach dem anderen gibt […]. Sondern es wird zunehmend wichtig, dass man sich an der Strategie orientiert und auch an der

21 Vgl. Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 2 ff.; Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 1.

244 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN Überlegung, wie erzielt man längerfristige Wirkung. Und das erreicht man in der Regel, indem man Projekte größer und längerfristiger plant.“22

Es bleibt abzuwarten, wie eine an der Strategie orientierte programmatische Kontinuität in der praktischen Kulturarbeit umgesetzt werden kann. Die fachliche Beurteilung der Kunstszenen vor Ort, die von Kulturarbeiter_innen vorgenommen wird, kann teils gravierend auseinandergehen. So schätzen einzelne Kulturarbeiter_innen die Kunstszenen performativer Kunst vor Ort als interessant und engagiert ein, während andere Kulturarbeiter_innen an denselben Kunstszenen Professionalität bemängeln.23 Das verweist darauf, dass verschiedene Akteur_innen mögliche Netzwerkbildungen und potentielle Anknüpfungspunkte eines gegenseitigen Austauschs sehr unterschiedlich beurteilen, was ebenfalls Auswirkungen auf die Initiierung von Kunstprojekten und die Kontinuität einer Zusammenarbeit hat. Meine bisher dargelegten Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die Szenen zeitgenössischer, performativer Künste allein in Addis Abeba bezüglich der Positionen und Arbeitsansätze der Künstler_innen sehr differenziert und hinsichtlich der Expertise und Ausbildungen der Kunstschaffenden professionalisiert sind. Das verweist auf die Notwendigkeit, innerhalb des Goethe-Instituts generiertes Wissen über die Dynamiken der lokalen Kunstszenen zu transferieren und eine interne Handhabe zu entwickeln, um die Komplexität lokaler Kunstszenen mit ihren strukturellen und personellen Besonderheiten, die rasanten gesellschaftlichen Transformationsprozesse und die ortsspezifischen Besonderheiten genauer zu erfassen.

P OLITISCHE ASPEKTE

DER

K ULTURARBEIT

Der Punkt der politischen Reglementierung künstlerischer Arbeit vor Ort stellt ebenfalls eine Herausforderung für das Goethe-Institut dar. Wie ich bereits darlegte, sind Zensur und Selbstzensur für viele äthiopische Künstler_innen relevant, denn sie bestimmen wesentlich die Parameter des Möglichen und Erlaubten in der künstlerischen Praxis. Im Gegensatz dazu wird ausländischen Kulturinsti-

22 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 1. 23 Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 4 f.; Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 5.

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tutionen mehr Freiraum zugestanden als inländischen Institutionen und Kulturakteur_innen. „Ich hatte hier am Goethe-Institut noch nie eine direkte Einflussnahme in keinem Bereich. Dennoch ist es eine schwierige Situation – zum einen wegen der Schere im Kopf. Bei den äthiopischen Künstlern selbst spielt die Selbstzensur eine große Rolle. […] Was Leute bereit sind, im privaten Bereich zu machen oder zu äußern und was auf der Bühne, sind zwei sehr verschiedene Sachen. Dabei geht es nicht nur um das Politische, sondern auch um das Gesellschaftliche, um die Repräsentation des eigenen Körpers und um das Bewegungsverständnis etc. […] Und ich denke, natürlich schaut man zu, was wir hier machen. Wir haben mehr Spielraum als andere Institutionen hier, da wir ein ausländisches Kulturinstitut sind und weil wir bei der Botschaft dabei sind. Wir können damit auch spielen und uns mehr trauen. Aber es ist immer so eine Geradwanderung und Aushandlung, denn dann würde vielleicht mir nichts passieren, aber doch schon dem Künstler. Das sind so Sachen, die man mitdenken muss. Aber ich denke, da sind die Künstler selbst die beste Messlatte, wenn sie sagen: ‚ok, das mache ich‘ oder wenn sie sagen: ‚das mache ich nicht‘.“24

Das Zugeständnis von mehr Artikulationsfreiheiten verweist einerseits auf die exklusive Stellung ausländischer Kulturinstitute im Kunstfeld vor Ort, was machtpolitisch ambivalent ist. Denn es bedeutet, dass ausländischen Kulturinstituten von den äthiopischen Behördern mehr Repräsentationsmacht zugestanden wird als den inländischen Kulturinstituten. Andererseits können dadurch auch Nischen geschaffen, Produktionsprozesse und Arbeiten von Künstler_innen geschützt bzw. Erlaubnisse für Zugänge zu bestimmten Räumen vereinfacht werden. Darin besteht für Kunst- und Kulturschaffende vor Ort auch eine Chance, thematische Wagnisse einzugehen oder ästhetische Grenzen auszuloten. Dennoch ist staatliche Zensur auch bei gemeinsamen Produktionen möglich. Umgekehrt liegt ein Potential der Zusammenarbeit im Schaffen künstlerischer Artikulationsräume, denn eine Zensur ist relativ unwahrscheinlich, weil das Auswärtige Amt – dem das Goethe-Institut untersteht – bilaterale Abkommen mit der äthiopischen Regierung unterhält. Allerdings bleibt in dem politischen Klima immer die Option erhalten, dass ästhetische und inhaltliche Grenzüberschreitungen sanktioniert werden können. Damit verbunden ist das Dilemma, dass für inter- und transkulturelle Kunstprojekte oft Künstler_innen aus dem Ausland eingeladen werden, die den politischen, sozialen und ökonomischen Kontext äthiopischer Künstler_innen nicht kennen. Ebenso wenig wie sie politische Realitäten vor Ort und deren Auswir-

24 Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 11 f.

246 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

kungen auf die Kunstproduktion einschätzen können, sind ihnen kunsthistorische Spezifika oder Strukturbedingungen der lokalen Kunstszenen bekannt. In den künstlerischen Arbeitsprozessen prallen daher teils sehr konträre Lebensrealitäten, Weltsichten, Kunstansprüche und Erwartungen an das Kunstprojekt aufeinander. Die Begrenzung des Artikulationsraums kann von ausländischen Künstler_innen nicht ermessen werden, wodurch es zu Fehleinschätzungen und Spannungen innerhalb des Arbeitsprozesses kommen kann. Folgendes Zitat verdeutlicht das Problem: „Aber ich glaube, das ist hier auch gerade das Interessante, gerade wenn jemand von außen kommt und mit hiesigen Künstlern zusammen arbeitet mit der Idee ‚wie kann man denn das, was hier läuft, irgendwie neu darstellen‘. Es muss dieser Mittelweg gefunden werden zwischen Bekanntem und Nicht-Bekanntem […]. Wir haben ja auch kein Interesse daran, dass wir etwas machen und dann das Stück nicht zur Aufführung kommt. Für die ‚Vagina Monologues‘ wurden teilweise die Organisatoren und Künstler verhaftet. Das kann nicht der Sinn sein, dass nachher Leute im Gefängnis sitzen. Da ist die Frage und das wissen meistens die Kunstschaffenden ganz gut: wie kann man etwas machen, was konstruktiv ist und die Leute bewegt, aber ohne Leute in Gefahr zu bringen?“25

Daran lässt sich das Dilemma eines adäquaten Umgangs mit der Politisierung von Kunst vor Ort erkennen. Gleichzeitig ist damit eine weitere Paradoxie verbunden: einerseits versuchen ausländische Kulturinstitute Spielräume mittels Kunst auszuloten, andererseits können sie diese Artikulationsfreiheiten nicht gewähren, weil andere juristische und politische Bedingungen vor Ort existieren. Insofern befinden sich Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts in der bizarren Situation, nicht selbst Zensur ausüben zu wollen, doch gleichzeitig Freiräume nicht garantieren zu können. Für die Realisierung von Kunstprojekten bedeutet es, dass eine Verantwortungsübernahme für Artikulationen und grenzüberschreitende Experimente in der künstlerischen Arbeit heikel bleibt, da es den Aspekt der Grenzüberschreitung im symbolischen und politischen Raum betrifft.

25 Ebd.S. 12.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

FÜR DAS

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U MGANG MIT K UNSTDISKURSEN Wie bereits in Kapitel 8 ausgeführt betreiben etliche Künstler_innen Äthiopiens eine von etablierten Kunstdiskursen häufig losgelöste Arbeit und bleiben stark auf die äthiopische Kunst- und Theatergeschichte, auf sich selbst oder ihren direkten Kontext bezogen. Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts hinterfragen daher, inwiefern solche Arbeitsansätze exzeptionell, innovativ und professionell26 oder international ausgerichtet und konzeptuell interessant27 seien. „Die Szene der performativen Kunst in Addis Abeba ist definitiv nicht riesig. Sie ist eher klein, sehr interessiert, aber auch nicht ganz einfach und sie ist doch sehr in sich geschlossen irgendwie. […] Aber man merkt in dieser Szene, dass der Anschluss an das Internationale nicht da ist. Es fällt den Kunstschaffenden sehr schwer, konzeptionell zu arbeiten, abstrakt zu arbeiten und auch darüber zu sprechen, was sie machen. Das ist sehr deutlich.“28

Die im Interview verwendete Redefigur „Anschluß an das Internationale“ deute ich so, dass von den Künstler_innen erwartet wird, sich innerhalb eines Kunstdiskurses verorten zu können, Positionierungen vorzunehmen, aktuelle Tendenzen zu beobachten und kunsthistorische Umbrüche zu kennen. In verschiedenen Arbeitszusammenhängen, Hintergrundgesprächen und Interviews habe ich ebenfalls wiederholend die Erfahrung gemacht, dass ein gemeinsames ästhetisches Bezugssystem nicht vorauszusetzen ist. Vielmehr existieren differente ästhetische Bezugssysteme und somit Fragestellungen, Konzepte, Wahrnehmunsgweisen und Stile, die aus verschiedenen Kontexten herrühren. Diesbezüglich betonte Bourdieu stark den Einfluss der umgebenden materiellen Kulturgüter und der institutionell vermittelten Aneignungsstrategien von Kunst auf die Handlungen von Akteur_innen im künstlerisch-kulturellen Feld. Bezüglich dem Schaffen des Künstlers/Intellektuellen formuliert er: „Noch seine bewußtesten intellektuellen Entscheidungen unterliegen stets seiner Bildung und seinem Geschmack, den Internalisierungen der objektiven Kultur einer Gesellschaft, Epoche oder Klasse.“29 Somit ergeben sich für Akteur_innen allein aufgrund einer unterschiedlichen ästhetischen Bildung zwangsläufig verschiedene Bezugssysteme von Relevanz.

26 Vgl. Köppen: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014, S. 1. 27 Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 4, 13. 28 Ebd. S. 4. 29 Bourdieu, 1974, S. 116.

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Das Prekäre daran ist – und das ist ein gravierendes Dilemma für alle Akteur_innen, die in inter- und transkultuellen Kunstkontexten arbeiten -, dass der etablierte Kunstkanon Abbild eines historisch bedingt ungleichen Repräsentationsverhältnisses ist, das weiterhin wirkt. Als eine Folge des Kolonialismus und Eurozentrismus30 sind überproportional viele Arbeiten von Künstler_innen des Westens in diesen Kunstkanon eingegangen und damit zur Referenz geworden, während bis Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeiten von Künstler_innen aus den Peripherien unter dem Stichwort ‚Primitivismus‘ subsummiert, exotisiert und marginalisiert wurden. Dieses Problem beschreibt der Kunstwissenschaftler Rasheed Araeen als eine Art des diskursiven Ausschlusses der Ge-Anderten und bezeichnet es als „exclusion from the contexts and grand narratives of art history“.31 Insofern geht der Bezug verschiedener Akteur_innen auf unterschiedliche Kunstdiskurse mit der Frage nach einer diskursiv erzeugten Hierarchie der Kunstproduktion einher, die Glissant – wie in Kapitel 3 ausgeführt – als Hierarchisierung kultureller Elemente bereits fasste.32 Damit verbunden ist außerdem ein weiteres Problem, auf das Araeen aufmerksam macht und was Glissant als das „Recht auf Präsenz“33 bezeichnete – die Schwierigkeit für viele Künstler_innen in den Peripherien, ihren Platz innerhalb des Kunstkanons und der Kunstgeschichte einzunehmen und durch ihre Positionen und Artikulationen zum Teil des dominanten ästhetischen Bezugssystems zu werden. „While pursuing what white artists take for granted, their place in history, the others have constantly to struggle against this taking-for-granted position.“34

Während in der europäischen Kunstgeschichte seit ca. den 1910er Jahren konzeptuelle Arbeitsansätze, ästhetische Normbrüche und programmatisch formalästhetische Grenzüberschreitungen an Relevanz gewannen und derzeit Fördermittel häufig aufgrund konzeptuell-ästhetischer Ansätze des Innovativen vergeben werden, orientieren sich viele äthiopische Künstler_innen an anderen kunst-

30 Anm.: „Eurozentismus, ideologisches Pendant zur politischen und ökonomischen Hegemonie der westlichen Gesellschaften (Europa und Nordamerika) über den ‚Rest der Welt‘. In der Wissenschaft kritisiert E. (e.g. Eurozentrismus) […] die Tendenz, die sozialen Verhältnisse außereuropäischer Gesellschaften mit westlichen Maßstäben zu bewerten.“ (Schetsche, 2007, S. 183) 31 Araeen, 2005, S. 57. 32 Vgl. Glissant, 2005, S. 13. 33 Glissant, 1986, S. 143. 34 Araeen, 2005, S. 59.

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historisch gewachsenen Bedingungen und Ansprüchen. Etliche bewerten ihre Arbeiten teils stärker nach den Kriterien des direkt umgebenden Kontexts und betonen Schönheit, Unterhaltsamkeit, Massentauglichkeit und Profitabilität in der Kunstpraxis35, v.a. weil sie die politischen Begrenzungen künstlerischer Artikulationsfreiheit von Seiten des Staates permanent kalkulieren müssen. Dieses Kunstverständnis unterscheidet sich jedoch teils vom Anspruch des GoetheInstituts, Arbeiten mit brisanten Themen, provokanten Positionen, innovativen Formaten und progressiven Konzepten fördern zu wollen.36 Diese Differenz in den Ansprüchen an Kunstproduktionen verweist auf eine grundlegende Herausforderung, mit der äthiopische Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts gleichermaßen umgehen müssen und der sie sich nicht auf pragmatischer Ebene stellen können. Die Artikulation des Anspruchs an eine innovative, progressive, konzeptuelle und gesellschaftskritische Kunst von sich selbst-entfaltenden, individuellen, kreativen Künstler_innen ist eine in Europa historisch gewachsene Idee – und somit ein regionalspezifisches Konstrukt –, das unter bestimmten politischsozialen Bedingungen entstand, doch häufig universalistisch ausgelegt wird. Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz macht diesbezüglich deutlich, dass bei der Beurteilung künstlerischer Ansätze „[…] die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (Texten, Bildern, Kommunikation, Verfahrensweisen, ästhetischen Objekten, Körpermodifizierungen), vor einem an Originalität und Überraschung interessiertem Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist.“37

Er argumentiert, dass die Idee des kreativ-schöpferischen Eingriffs in die Umgebung seit dem 18. Jahrhundert in Europa propagiert und später auf andere soziale Bereiche übertragen wurde.38 Ein spezifischer Prozess der Ästhetisierung führte schließlich zu der Bevorzugung des Innovativen, Neuen, Utopischen, Progressiven und Individuellen.39 Es ist jedoch keineswegs davon auszugehen, dass daraus abgeleitete Ansprüche an ästhetische Maßstäbe für die Kunstproduktion re-

35 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 2, S. 12; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 6; Köppen: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012, S. 3. 36 Vgl. Köppen: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012, S. 13. 37 Reckwitz, 2012, S. 11. 38 Vgl. ebd. S. 13 ff. 39 Vgl. ebd. S. 34-38.

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gional übertragbar und universal gültig sind. Direkt damit verbunden ist ein Problem, auf das die Kulturwissenschaftlerin Birgit Mandel verwies: „Für die Bedeutsamkeit und den Marktwert eines Kunstwerks sind weniger kunstimmanente Faktoren verantwortlich, sondern die Menge der Beachtung. Diese kann gezielt gesteuert werden.“40 In dieser Hinsicht stellt sich den ausländischen Kulturinstituten die Herausforderung, eine Verschränkung von ökonomischer, repräsentativer und diskursiver Macht zu reflektieren. Das wird – wie in Kapitel 8 bereits ausgeführt – deutlich in der kritischen Haltung einiger äthiopischer Kunst- und Kulturschaffender gegenüber der Setzung ästhetischer Wertmaßstäbe durch ausländische Kulturinstitute, den Auswahlverfahren und der diskursiven Macht im Feld der Kunst vor Ort.41 Wenn Kulturinstitute die Arbeiten von Künstler_innen an Parametern eines dominanten, westlich orientierten Kunstdiskurses messen – ohne diesen selbst als Konstruktion und Instrument der Machtausübung kritisch zu hinterfragen -, besteht die Gefahr auf Ebene der Repräsentation kulturelle Macht im Sinne Halls auszuüben und bestimmte Formen der Ästhetik zu begünstigen oder ggf. zu erzwingen.42 Mit Hall lässt sich argumentieren, dass Ungleichverhältnisse im Bereich der Kunst durch die Vorgabe ästhetischer Parameter von Seiten europäischer Kulturinstitute reproduziert werden, wenn diese spezifische Kunstvorstellungen, ästhetische Maßstäbe, Artefakte und Stile der westlichen Moderne auf andere Kontexte übertragen.43 Damit einher ginge die Gefahr – im Sinne Glissants Theorie –, im Feld des Künstlerisch-Ästhetischen ein „Universum des Gleichartigen“44 zu erhalten, sofern das „Recht auf Präsenz“45 und damit das Recht auf ‚andere‘ Referenzpunkte, Artikulationsformen und ästhetische Strategien nicht genügend einbezogen werden. Diesbezüglich verweist Rasheed Araeen auf die Notwendigkeit, dass westliche Kulturinstitutionen ihre eigenen ästhetisch-philosophischen Grundannahmen über Kunst gänzlich in Frage stellen sollten:

40 Mandel, 2008, S. 137. 41 Vgl. Köppen: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012, S. 4 f., 7, 9; Köppen: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014, S. 8. 42 Vgl. Hall, 2004, S. 145 f. 43 Vgl. Hall, 2008, S. 213 ff. 44 Glissant, 1986, S. 143. 45 Ebd. S. 143.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

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„Unless the need to de-colonise the philosophical underpinning of its art institution is recognized by the West itself, whatever does will remain disturbingly contained by and within the legacies of its colonial past.“46

An dieser Position Araeens wird deutlich, dass er den Prozess der Dekolonisation im Bereich des Ästhetischen an die Institutionen ehemaliger Kolonialgesellschaften delegiert und an sie appelliert, einen Dekolonisationsprozess als notwendig zu begreifen und selbst aktiv zu gestalten, um progressive Haltungen im Feld der Kunst überhaupt einnehmen zu können. Insofern besteht eine grundlegende Herausforderung sowohl für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts – und andere europäische Kulturinstitute, Initiator_innen von künstlerischen Austauschprogrammen, Kulturmanager_innen von Tanz- und Theaterfestivals oder Biennalen etc. – als auch für Kultur- und Kunstwissenschaftler_innen darin, den westlichen Kunstkanon als eine Form des Kolonialerbes und der Dominanz im Bereich des Ästhetischen mitzudenken, daraus abgeleitete Wertmaßstäbe kritisch zu reflektieren und historisch zu verorten sowie den Bezug von Künstler_innen auf andere Diskurse anzuerkennen. Für Künstler_innen wiederum besteht ebenso eine Herausforderung darin, über diesen dominanten Kunstdiskurs informiert zu sein, um mittels ästhetischer Ansätze eigene Positionen zu Fragen der Repräsentation, Produktion, Zirkulation und Definition von Kunst beziehen zu können, Abgrenzungen vorzunehmen, Räume der Verschiebung auszuloten und Dominanzverhältnisse in der Kunst dekonstruieren zu können. Angesichts dessen kann ein Scheitern von Austauschprozessen beim Verhandeln von ästhetischen Praktiken und Wertmaßstäben in inter- und transkulturellen Kunstproduktionen nicht ausgeschlossen werden. Eine Dynamik würden die Aushandlungen der an Kunstprozessen beteiligten Akteur_innen dann gewinnen, wenn Definitionshoheit aufgegeben, unterschiedliche Perspektiven und Argumentationen integriert, Prozesse historisiert, Konstruktionen des westlichen Kunstkanons zur Disposition gestellt und andere Kunstdiskurse umfassend einbezogen werden würden, um mögliche Schnittmengen zu definieren, die für künstlerische Zusammenarbeiten interessant sein können. Dadurch könne der Prozess eintreten, den Glissant als ‚Kreolisierung‘ bezeichnet – unter der Bedingung, dass die zueinander in Beziehung gesetzten kulturellen Elemente als gleichrangig und somit gleich stark wirkungsmächtig gelten.47 Diese Praxis würde ebenfalls der Gestaltung des von Bhabha definierten ‚dritten Raums‘ nah

46 Engelmann/Lauf, 2005, S. 64. 47 Vgl. Glissant, 2005, S. 13.

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kommen und einen Zwischenraum der Intervention eröffnen48, in dem eurozentristische Positionen im Feld der Kunst basierend auf der Artikulations- und Handlungsmacht von äthiopischen Künstler_innen dekonstruiert werden könnten. Durch solche Verhandlungsprozesse könnte im Sinne Halls ein Oszillieren zwischen differenten Wertmaßstäben produktiv gemacht werden, in denen Akteur_innen Formen der Übersetzung, Übertragung bzw. Verschiebung erproben, kulturelle Verflechtungen bewirken und performativ Kunstproduktionen hybrider Kultur hervorbringen.49 Insofern ist die Verhandlung einer ästhetischen Bühnensprache, die Einigung auf zu verwendende theatrale Mittel, der Bezug auf transparent gemachte Referenzrahmen etc. eine komplexe Arbeitssituation, in der entweder asymmetrische oder egalitäre Ansätze verfolgt werden können. Es macht durchaus Sinn, die Narration des harmonischen Kulturaustauschs durch Kunst in der Praxis sowie in der Wissenschaft kritisch zu hinterfragen und anstelle dessen alternative Perspektiven zuzulassen, um im Feld der Kunst Räume des Verhandelns, des Konflikts, des Scheiterns und Misslingens anzuerkennen. Erst dann können konträre Positionen zu ästhetischen Ansätzen in den Blick geraten, der Dissens zwischen Produzent_innen anerkannt und ergebnisoffene Produktionsprozesse befördert werden. Darin besteht die Chance, politische Vereinnahmungen in der Kunst zu vermeiden, die Bhabha zufolge praktiziert wird, wenn per se von konfliktfreien und dialogischen Austauschbeziehungen ausgegangen wird.50 Intensive Verhandlungen ästhetischer Ansätze und Strategien würden Formen der ‚kulturellen Übersetzung‘ – im Sinne Glissants, Bhabhas und Halls – von Konzepten, Ideen, Referenzsystemen, daraus abgeleiteten Maßstäben und Positionierungen ermöglichen. Darin läge das Potential, im Feld der Kunst Übersetzungen zu kreieren, die etwas Unvorhersehbares herstellen51 und Formen von Überbrückung52 leisten. Solche Versuche könnten gegebenenfalls Werke zum Scheitern bringen, doch den künstlerischen Arbeitsprozessen und Austauschbeziehungen von Akteur_innen erlauben, konfliktiv, beweglich und veränderbar zu sein. Intensive Auseinandersetzungen über unterschiedliche Referenzen im Feld der Kunst sind dringend notwendig, um nicht westliche Maßstäbe an die Kunstproduktion für universal gültig zu behaupten und womöglich – im Sinne Glis-

48 Vgl. Bhabha, 2000, S. 10, 56 ff. 49 Vgl. Hall, 2008, S. 218. 50 Vgl. Bhabha, 2000, S. 2, 49, 52. 51 Vgl. Glissant, 2005, S. 36 f. 52 Vgl. Hall, 2008, S. 218.

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sants – einen Zustand der Kolonisierung als „Universum des Gleichartigen“53 im Bereich des Ästhetischen zu erzeugen. Das kann vermutlich nur durch ein aktives Bestreben nach Dekolonisation des Kunstkanons und ein Beharren auf das „Recht auf Präsenz“54 in der Kunstgeschichte und im aktuellen Kunstbetrieb realisiert werden, um anderen Referenzpunkten, Artikulationsformen, Praktiken und Kategorien mehr Geltung und Präsenz zu verschaffen. Nur durch die Artikulationen verschiedener Referenzsysteme können der etablierte Kunstkanon und daraus abgeleitete Wertmaßstäbe an die Kunstproduktion hinterfragt, dynamisiert und relativiert werden.

F AZIT Die Gestaltung von Auswahlverfahren der Künstler_innen stellt eine Herausforderung und eine Chance gleichermaßen dar, um Transparenz und Objektivität zu signalisieren. Es ist mit dem Gestus verbunden, öffentliche Ausschreibungen vorzunehmen, die Auswahlkriterien vorab zu definieren, Jurys zu berufen und dadurch mehrere Personen in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen sowie die Erwartungshaltung an eine pro-aktive Selbstvermarktung von Künstler_innen zu kommunizieren. Sofern an der Idee festgehalten wird, dass Kunstschaffende als Multiplikator_innen fungieren und sie ihre Erfahrungswerte in die Szenen transferieren sollten, stellt sich die Herausforderung der konkreten Gestaltung dieser Multiplikatorfunktion. Nur in Kommunikation mit den Kunstschaffenden vor Ort können lokalspezifisch angemessene Formate prozessual erarbeitet werden, die dann auch von anderen Künstler_innen als Bereicherung erfahren werden. Die Kontinuität in der Kulturprogrammarbeit kann angesichts der projektbezogenen Arbeit und der personengebundenen Themenverschiebungen sowie der unterschiedlichen Gewichtung von Kunstsparten derzeit nur schwer gewährleistet werden. Allerdings wurde die Absicht der programmatischen Kontinuität bereits als Teil der Regionalstrategie formuliert und das Umsetzen von Folgeprojekten über den Zeitraum eines Leitungswechsels hinaus kann dazu beitragen, programmatische Kontinuität zu verfolgen. Potentiell können durch die Zusammenarbeit zwischen Kunstschaffenden Äthiopiens und Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts Nischen geschaffen werden, um Dinge zu erproben und sichtbar zu machen, die im offiziellen staat-

53 Glissant, 1986, S. 143. 54 Ebd. S. 143.

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lich-kontrollierten Kunstbetrieb wenig Raum finden. Allerdings bleibt dennoch bei konkreten Produktionsprozessen im Plenum zu klären, wie die beteiligten Akteur_innen mit den Aspekten künstlerischer Verantwortung angesichts der politischen Realität von Zensur und Selbstzensur umzugehen beabsichtigen. Hinsichtlich der Teilfrage, die sich aus Glissants theoretischen Schriften an mein Material ergibt – nämlich, ob und warum in der Zusammenarbeit Probleme im Sinne des Sich-aufeinander-Beziehens erkennbar werden – , zeigt sich, dass sich eine der gravierendsten Herausforderungen hinsichtlich ästhetischer Maßstäbe und künstlerischer Arbeitsansätze stellt, die aus verschiedenen kunsthistorischen Bedingungen, der Bezugnahme auf unterschiedliche Kunstdiskurse und Relation zum dominanten Kunstkanon herrühren. Für diese Diskrepanz bietet sich keine operative Lösung an, da ästhetische Präferenzen sozial konstruiert, konditioniert und internalisiert sind. Allerdings besteht eine grundlegende Herausforderung im reflektiert-kritischen Umgang mit etablierten, dominanten, westlich-orientierten und marginalisierten Kunstdiskursen. Sofern der westliche Kunstkanon als alleiniger Referenzpunkt jeder Kunstproduktion dient, besteht die Gefahr, innerhalb der Kunst zu hierarchisieren, kulturelle Macht auszuüben und bestimmte Formen der Ästhetik strukturell zu begünstigen. Sofern ästhetische Wertmaßstäbe übertragen werden, die sich aus einem europäisch/amerikanisch/weißen Kunstkanon ableiten, besteht die Gefahr, mittels Definitionshoheit über spezifische Kunstmaßstäbe eine historisch gewachsene Machtrelation fortzusetzen. Der Herausforderung der Dekolonisation im Bereich des Ästhetischen könnten europäische Kulturinstitute sich beispielsweise stellen, indem diskursive Praxen einschließlich Veröffentlichungen kritischer Stimmen und Positionen von Kunst- und Kulturschaffenden aus den Peripherien stärker gefördert werden.55 Auf praktischer Ebene bedeutet es, dass spezifische Wissensbestände des dominanten Kunstkanons und -diskurses für Künstler_innen anderer Räume möglicherweise keinerlei Bedeutung haben oder von ihnen kritisch in Frage gestellt oder gar abgelehnt werden. Es bedeutet außerdem, dass bei künstlerischen Arbeitsprozessen in der Zusammenarbeit weder ein gemeinsames Vokabular noch ein gemeinsamer Bezugsrahmen vorausgesetzt werden können. Daraus entsteht die Herausforderung, sich diese beiden Komponenten im künstlerischen Produktionsprozess prozessual zu erarbeiten. Sich auf Diskursstränge und Vokabular als gemeinsame Bezugspunkte der Arbeitsgrundlage zu einigen, ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der das Changieren zwischen Produktion und Reflektion beinhaltet. Genau an diesem Punkt kann aber vermutlich eine ernsthafte Beziehung – im Sinne Glissants des Sich-aufeinander-Beziehens –

55 Diesen Ansatz hatte bislang v.a. das Goethe-Institut Nairobi verfolgt.

9. H ERAUSFORDERUNGEN

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einsetzen, in der Wissensbestände, Perspektiven und Reflektionen ausgetauscht werden, um von einem Punkt der Verhandlung aus eine Kunstproduktion kollektiv umzusetzen. Dabei kommt der Idee von Verhandlung eine besondere Bedeutung zu, weil diese kontrovers geführt werden kann, konfliktgeladen sein kann und das Risiko eines Scheiterns beinhaltet, aber ebenso das Potential des SichAufeinander-Beziehens in sich birgt. Dieses mögliche Scheitern von Verhandlungen zwischen beteiligten Kunst- und Kulturschaffenden verweist jedoch auf das komplizierte Beziehungsgeflecht, in dem sich Akteur_innen begegnen, die bei inter- und transkulturellen Produktionen zusammenarbeiten. Insofern besteht eine grundlegende Herausforderung darin, Beziehungen als komplex und potentiell konfliktiv anzunehmen und Vereinnahmungstendenzen zu widerstehen. Darin besteht auf außenkulturpolitischer Ebene auch die Chance, sich vom Diktat der dominanten Narration ewig harmonischer Kulturbeziehungen zu lösen und das Potential dynamischer Verhandlungsprozesse zu erkennen, die Teil einer postkolonialen Realität sind.

10. Produktionsprozesse als künstlerische Zusammenarbeit

Einerseits liegt das Potential inter- und transkultureller Theaterproduktionen darin, unterschiedliche ästhetisch-künstlerische Strategien miteinander zu verhandeln und kollektiv zu entwerfen, um z.B. Fragen zur Differenzierung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ oder auch Fragen zur Dominanz und Subversion im Bereich des Ästhetischen aufzuwerfen. Auch liegt darin das Potential, ‚dritte Räume‘ des kreativen Widerstands zu erzeugen, bei dem es weder um universalistische noch um differenzästhetische Bestrebungen, sondern um die Schaffung von etwas Neuem geht. Dazu bedarf es der Proben am Theater: „Die Probe ist der Ort, an dem die Aufführung konzipiert und ihre Modelle durchgespielt werden. Proben beschreibt damit einen spezifischen Prozess des Produzierens wie auch eine besondere Beobachtungssituation, eine Form kollektiver Kreativität.“1

Andererseits bleiben grundlegende Probleme bestehen, die sich in den Probenund Produktionsprozessen äußern wie die Rahmung der Produktionen sowie das Finden adäquater Arbeitsmethoden bei den Proben. Im Folgenden werde ich nun die Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“, die in Zusammenarbeit von den Akteur_innen in Addis Abeba realisiert wurden, hinsichtlich der künstlerischen Produktionsprozesse beleuchten und mich der Teilfrage zuwenden, was die Arbeitsweisen in den Produktionen kennzeichnet. Solche produktionsästhetischen Ansätze werden bislang nur selten in der Theaterwissenschaft verfolgt, wodurch die Forschung häufig auf Aufführungen fokussiert bleibt, doch tendenziell die künstlerischen Arbeitsprozesse zu reflektieren vernachlässigt. So betont die Theaterwissenschaftlerin und Performance-

1

Matzke, 2012, S. 88.

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künstlerin Annemarie Matzke, dass Theaterproben ebenso wie äußere Einflussfaktoren auf die künstlerische Arbeit nur selten in die Forschung einbezogen werden: „In der Theaterwissenschaft fehlt eine grundlegende Untersuchung zum Verhältnis von Theater und Arbeit, zu Probenprozessen wie auch zur Geschichte des Probens. […] Dass der Probenprozess nicht nur durch die Interaktion verschiedener Künstler, sondern auch durch ökonomische und soziale Fragen und Probleme beeinflusst wird, ist dabei meist kein Thema.“2

Dieses Forschungsdesiderat wirkt sich besonders nachteilig auf Untersuchungen des inter- und transkulturellen Theaters aus, denn diese Theaterproduktionen sind Regus zufolge immer von ökonomischen und politischen Konfliktfeldern gerahmt.3 Der Rahmen der von mir untersuchten Inszenierungen zeichnet sich – wie bereits ausführlich in Kapitel 4 dargelegt – durch eine Initiierung des Austauschs durch das Goethe-Institut und die außenkulturpolitischen Bestrebungen der Bundesregierung aus. Die ökonomische Rahmung ergibt sich durch eine finanzielle Förderung der Projekte von Seiten des deutschen Staates und die Vergabe der Mittel durch ein westliches Kulturinstitut. Indem die Rahmenbedingungen für die Produktionen vom Goethe-Institut geschaffen werden, definiert dieses auch die Parameter der Kunstproduktionen wie Zeitdauer, Produktionskosten, Ensemblegröße, Arbeitsteilung, Aufführungsort, Thema etc. Allerdings wird von institutioneller Seite aus die künstlerische Leitung den Kunstschaffenden selbst überlassen und nur selten darin eingegriffen. Austauschprozesse finden vor allem intersubjektiv in gemeinsamen Proben und Trainings sowie durch die Beschäftigung mit verschiedenen Trainingsformen und Körpertechniken statt.4 Diesbezüglich gibt Dirk Eilers die transkulturelle Komponente auf mikrosoziologischer Ebene zu bedenken: „Häufig wird im Kontext ‚interkultureller Theaterarbeit‘ der Begriff des ‚Kulturkontaktes‘ oder des ‚Dialogs der Kulturen‘ benutzt. Jedoch stehen nicht wie auch immer gedachte Kulturen auf der Bühne und nehmen an den Theaterprojekten teil, sondern Menschen mit individuellen Biografien, Bezügen und Erfahrungen.“5

2

Ebd. S. 103 f.

3

Vgl. Regus, 2009, S. 47.

4

Vgl. König, 1992, S. 115 f.; Pavis, 1996, S. 15.

5

Eilers, 2011, S. 544.

10. P RODUKTIONSPROZESSE ALS KÜNSTLERISCHE ZUSAMMENARBEIT

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Bei konventionellen Beziehungsgeflechten zwischen Regisseur_innen bzw. Choreograph_innen und Performer_innen ist meistens eine theaterspezifische Machtstruktur wirksam. Daher – so Bharucha – sei es gerade in den künstlerischen Produktionsprozessen relevant, alternative Arbeitsmethoden zu finden, die den Prinzipien des Austauschs entsprechen.6 „One of the challenges in intercultural experiments is to find a method of work that reflect larger principles of ‚exchange‘. In this regard, the dynamics of power embodied in the director-actor relationship pose problems in any tradition.“7

Tendenziell können im Produktionsprozess Machtrelationen dadurch aufgelöst werden, dass Darstellende in den Produktionsprozess eingreifen und aktiv Rollen als Ko-Autor_innen, Ko-Regisseur_innen oder Ko-Choreograph_innen einnehmen. Die von mir untersuchten Produktionen sind dem Körper- und Bewegungstheater zuzuordenen. Pavis zufolge werden gerade im Körpertheater häufig neue Verfahren im Produktionsprozess erprobt: „The practice of physical theatre constitutes a large part of contemporary mise en scène, all the while challenging the director’s control. Indeed, physical theatre does away with directing, delegating to the actor the power to build the complete score, and to put together what Eugenio Barba called the dramaturgy of the actor. Physical theatre is in the hands of the actors, who thus invent a new way of working.“8

Auch wenn dieses Zitat m.E. eher einem Euphemismus gleicht als eine Realität beschreibt, ist daran die Tendenz ablesbar, dass Kunst- und Kulturschaffende, die in diesem Genre arbeiten, häufig Arbeitsteilungen und theaterimmanente Machtstrukturen im Produktionsbetrieb durchaus in Frage stellen. Auch in den Produktionen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ versuchten Künstler_innen und Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts, dem Dilemma der Machtrelation in künstlerischen Produktionsprozessen zu begegnen, indem sie choreographische Teams mit je drei Personen bildeten und die Arbeitsmethode der kollektiven Stückentwicklung anwendeten, so dass künstlerische Elemente und Entscheidungen für die Stückgestaltung untereinander verhandelt werden mussten. Aufgrund dieser Arbeitsstruktur konnten alle beteiligten Künst-

6

Vgl. Bharucha, 1993, S. 6.

7

Ebd. S. 6.

8

Pavis, 2009, S. 149.

260 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

ler_innen Vorschläge für Umsetzungen, Modifikationen oder Streichungen der Bühnenhandlungen vornehmen. Aus meinen Beobachtungen zu den Proben- und Produktionsprozessen der Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ ableitend erweist sich jedoch das Finden adäquater Arbeitsmethoden für die Akteur_innen als besonders schwierig, da auch solche alternativen Arbeitsstrukturen und -methoden konfliktives Potential bergen, mit denen intentional ein Ansatz egalitärer Arbeitsteilung verfolgt wird. Ästhetische und arbeitsmethodische Konflikte gehen teils auf unterschiedliche Konzeptionen der Probe und auf unterschiedliche Erfahrungen der Theaterarbeit zurück. Solche Diskrepanzen geraten jedoch erst durch Einbezug einer produktionsästhetischen Perspektive in den Blick. Einige der interviewten Künstler_innen haben an beiden Produktionen mitgearbeitet und andere waren nur an einem der Projekte beteiligt. Als Herausforderungen im Produktionsprozess thematisieren sie die Aspekte Ensemblebildung, Produktionsdauer, Training und Proben, Aufgabenteilung und Arbeitsstruktur.

E NSEMBLEBILDUNG UND G RUPPENDYNAMIK Beide Produktionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ensemblezusammensetzung voneinander. Für die Produktion von „DanceMove UrbanSpace“ arbeiteten 23 Performer_innen und ein choreographisches Team für zwei Wochen zusammen. Da es nach ca. 15 Jahren die erste Arbeit des Goethe-Instituts Addis Abeba im Bereich performativer Künste war und kein Netzwerk zu Tanz- und Theaterschaffenden vor Ort bestand, war es notwendig, einen Überblick über die lokalen Kunstszenen zu gewinnen. Insofern entschied das Goethe-Institut, für diese Produktion eine öffentliche Ausschreibung vorzunehmen, um Künstler_innen über die Möglichkeit der Zusammenarbeit zu informieren und sie zu motivieren, sich auf das Pilotprojekt zu bewerben. Die ersten Auswahlverfahren (‚auditions‘ ) fanden an staatlichen Theaterhäusern, in der Studiobühne der Addis Abeba Universität und in kleinen Hinterhofstudios statt, bei denen zwei der partizipierenden Künstler_innen von ca. 250 Bewerber_innen 50 Performer_innen auswählten und zum Vortanzen in das Nationaltheater einluden. Bei dieser ‚audition‘ erarbeiteten die eingeladenen Künstler_innen nach einem gemeinsamen Aufwärmtraining jeweils kurze Improvisationssequenzen basierend auf individueller Bewegungsfindung und führten mehrere tanztechnisch vorgegebene Sequenzen synchron auf. Bei dem Auswahlverfahren ging es im Wesentlichen darum, Performer_innen mit unterschiedlichen Bewegungsqua-

10. P RODUKTIONSPROZESSE ALS KÜNSTLERISCHE ZUSAMMENARBEIT

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litäten und institutionellen Hintergründen zu finden, die mindestens eine Körpertechnik sehr gut beherrschen und sich schnell Bewegungsabläufe aneignen können. Auch ging es darum, solche Künstler_innen zu finden, die potentiell unterschiedliche Impulse in einen kollektiven Gestaltungsprozess geben würden. Als Resultat des Auswahlverfahrens fanden sich 23 Performer_innen in einer ihnen unbekannten Gruppenkonstellation wieder, was bedeutet, dass sie sich erst im Verlauf des Arbeitsprozesses gegenseitig kennenlernten. Die Erfahrung beim Pilotprojekt „DanceMove UrbanSpace“, innerhalb einer neuen Gruppe zusammenzuarbeiten und ein Stück gemeinsam zu konzipieren, 9 wurde von teilnehmenden Künstler_innen positiv reflektiert. Für Ensemblemitglieder aus Theaterhäusern ergab sich die Erfahrung außerhalb gewohnter institutioneller Hierarchien des Theaters in einen Austauschprozess mit Kunstschaffenden zu treten, die normalerweise selbstständig ihre Arbeitsmethoden und Produktionsverfahren festlegen. Für freischaffende Tänzer_innen war die Integration in eine temporäre Ensemblestruktur mit einer Öffnung für andere Akteur_innen desselben Feldes verbunden, was teils die Reflektion eigener Arbeitsansätze bewirkte.10 Durch die plötzliche Sichtbarkeit unterschiedlicher performativer Künstler_innen von Addis Abeba setzte im Arbeitsprozess zu „DanceMove UrbanSpace“ bei den Akteur_innen ein Bewusstsein für die Existenz einer relativ großen Szene vor Ort ein, was den künstlerischen Selbstanspruch und die Bereitschaft verstärkte, miteinander neue Arbeitsmethoden zu erproben.11 Die Gruppendynamik reizte einige Künstler_innen, sehr intensiv am Produktionsprozess teilzunehmen.12 Andere waren fasziniert von der Möglichkeit, ihre tanztechnischen Kompetenzen miteinander teilen und ästhetisch fusionieren zu können: „It was amazing to work with different dancers from different fields in the project. Some of them came from Hip Hop, some came from Traditional Dance, others had Contemporary Dance background, and several had African Dance influences and one was

9

Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 1 ff.; Köppen: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012, S. 7; Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4.

10 Vgl. Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 1, 3; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S.4; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3, 6. 11 Vgl. Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 4. 12 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9 f.

262 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN trained in Martial Arts etc. It was not only one single technique. I found that connection and collaboration with different types of dance very interesting and challenging. How can they understand each other and create one piece? […] it was great to work with all these dancers.“13

In dem Zitat beschreibt Shiferaw Tariku von der Adugna Dance Compagnie seine Begeisterung für die Zusammenarbeit mit anderen äthiopischen Künstler_innen, die unterschiedliche tanztechnische Voraussetzungen und Erfahrungen mitbrachten. Die Tänzerin Meseret Jirga betont ein Bewusstsein für die Stärke der Kunstszene vor Ort, die durch die spezifische Gruppenkonstellation in dem Projekt für sie sichtbar wurde: “We could see the power of sharing experiences. It is very interesting to work together.“14 Daran ist ablesbar, dass einzelne Künstler_innen an dieser Produktion besonders das Zusammenkommen mit anderen Kunstschaffenden Äthiopiens und das daraus resultierende wachsende Bewusstsein für die eigene künstlerisch-gesellschaftliche Gestaltungskraft wertschätzten. Insofern wurde tendenziell die interpersonelle und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kunstschaffenden vor Ort für relevanter als die Erfahrung der interkulturellen Zusammenarbeit eingestuft. Im zweiten Projekt „Play with the Senses“, das zunächst als Nachfolgeprojekt konzipiert war und mit dem gleichen Ensemble umgesetzt werden sollte, wurden in Folge einer temporären Leitungsvertretung am Goethe-Institut die Rahmenbedingungen der Produktion neu definiert und die Gruppenkonstellation der Künstler_innen verändert. Damit betraute das Goethe-Institut erneut ein Team aus zwei Personen partizipierender Künstler_innen, die insgesamt 12 Performer_innen auswählten. Dieses Mal gab es jedoch die Vorgabe, dass sechs der Kunstschaffenden aus der Adugna Dance Compagnie und sechs weitere Künstler_innen aus dem Ensemble des vorherigen Projekts kommen sollten. Der Auswahlprozess wurde somit vom Institut gesteuert und erneut an Künstler_innen delegiert, die Ensemblegröße allerdings reduziert und die Zusammensetzung durch ein erneutes Auswahlverfahren reguliert.15 Die neue Gruppenkonstellation wurde von beteiligten Künstler_innen unterschiedlich aufgenommen. Teils wurde diese Entscheidung begrüßt, weil es den Produktionsprozess stark vereinfachte und aufgrund der minimierten Ensemble-

13 Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4. 14 Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2. 15 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 7.

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größe einen intensiveren Austausch untereinander ermöglichte.16 Teils wurde die Veränderung der Gruppenkonstellation auch kritisiert, weil damit vorherige Absprachen übergangen und Künstler_innen in neuer Konstellation zusammengesetzt wurden.17 Dennoch wurde auch in diesem Projekt die Gruppenarbeit insgesamt als dynamisch und positiv erlebt.18 Allerdings entschied sich während der Produktion einer der beteiligten Künstler_innen, Shiferaw Tariku, freiwillig aus dem Arbeitsprozess in der zweiten Phase auszuscheiden, was er u.a. damit begründete, dass er die Material- und Ideensammlung für die Stückentwicklung als problematisch und politisch sensibel einstufte. „We took this choreography process for one week. I personally didn’t really find it interesting and I told them ‚no, no, no‘, because sometimes if you need to do something in a different country before you apply that idea you have to be aware of the surrounding and getting more information about that country first. Sometimes it might be that you think, one idea is good, but it might cause you some tough problems and it will not be the same reality as your thoughts. In that case I was telling them ‚Guys, come on, stop it‘, because here in Ethiopia it is not possible to deal either with politics or with religion. […] I wasn’t happy and I told them I don’t want to be a part of that choreography group. […] Each of us came up with our own project ideas. I think the final idea for ‚Play with the Senses‘ came from Sello Pesa. […] That is why I said ‚if you need to work with politics, you have to be very aware and very smart. Otherwise it will become very difficult for you or for us‘.“19

In dem Zitat beschreibt Shiferaw Tariku aus seiner Sicht die Dynamik innerhalb der choreographischen Arbeitsgruppe, die seine Bedenken bezüglich des künstlerischen Artikulationsraums überging. In diesem kollektiven Arbeitsprozess wurde er mit Stückideen konfrontiert, die ihm angesichts des politischen Kontexts als sensible Themen erschienen und für die er keine künstlerische Verantwortung übernehmen wollte. Daran werden mehrere Aspekte deutlich: Einer der Künstler_innen kalkulierte aufgrund des spezifischen Kontexts sein Risiko bei der Produktion und veränderte die Gruppenkonstellation aufgrund seiner Entscheidung, das Projekt zu

16 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9. 17 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 6 f.; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 2, 4. 18 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 10. 19 Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 6.

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verlassen. Dieser Entscheidung ging ein Konflikt voraus, der nicht nur als ein Interessenkonflikt der beteiligten Künstler_innen gelesen werden kann, sondern als ein Problem der Dekontextualisierung erscheint, was Bharucha mehrfach thematisierte.20 Als konkrete Erfahrung im Arbeitsprozess spricht der Performer Shiferaw Tariku das Dilemma der latenten Gefahr bei Grenzüberschreitungen in Kunstproduktionen, der eigenen Haftung für künstlerische Artikulationen und das Problem der Unkenntnis über den politischen, sozialen und ökonomischen Kontext in Äthiopien an. Die Tendenz zur Dekontextualisierung, Dehistorisierung und Simplifizierung der Kunstproduktion wird demnach von ihm u.a. auch bei beteiligten Künstler_innen aus dem Ausland beobachtet. Eine Simplifizierung des Kontexts vor Ort entsteht potentiell, wenn Kunstschaffende zum Produzieren aus einem anderen politischen Kontext für einige Wochen in ein Gastland eingeladen werden und sich daraus Fehleinschätzungen für die Kunstproduktion vor Ort ergeben, für die inländische Kunstschaffende eine künstlerische Mitverantwortung übernehmen müssen. Obwohl in dem choreographischen Team der Produktion, auf die sich Shiferaw Tariku bezieht, vier Künstler_innen aus Äthiopien und ein Künstler aus Südafrika zusammenarbeiteten, bleibt das Problem der Dekontextualisierung dennoch bestehen, denn eine Simplifizierung des jeweiligen Kontexts kann ebenso auftreten, weil die jeweiligen Realitäten und Arbeitsbedingungen der Akteur_innen innerhalb des Kontinents extrem differieren.

P RODUKTIONSDAUER Der gesamte Zeitraum des Proben- und Produktionsprozesses für die Inszenierung „DanceMove UrbanSpace“ von der Konzeption bis zur Generalprobe betrug zwei Wochen. Das umfasste das Kennenlernen und die Vertrauensbildung der Künstler_innen untereinander, das Training, das Erarbeiten von Bewegungsmaterial durch Improvisation und das Arrangement von Bewegungsabläufen, die Strukturierung der Szenen, das Polieren der Szenen mit Auf- und Abgängen der Performer_innen, die Lichtproben auf der Bühne des Nationaltheaters sowie die Gestaltung von Bühnenraum, Beleuchtung, Kostüm, Musik etc. Für einen solchen Arbeitsumfang mit dem Ziel, eine einstündige Inszenierung zu kreieren, war die geplante Produktionsdauer knapp kalkuliert und ergebniszentriert. Die Produktionsdauer ist ein auschlaggebendes Kriterium für die künstlerische Arbeit und wird in der Regel nicht von den Kunstschaffenden selbst, sondern von äußeren Faktoren bestimmt.

20 Vgl. Bharucha, 1993, S. 4 f, 39; Vgl. Bharucha, 1996, S. 196, 206 f.

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„Vielmehr ist die Probenphase ein räumlich und zeitlich kontingenter Arbeitsbereich, der einen Rahmen setzt, welcher zunächst eine rein äußere quantitative Vorgabe ist, die ökonomischen und administrativen Notwendigkeiten gehorcht. Die zur Verfügung stehende Probezeit ist limitiert. Das erste, was bei einer Probe feststeht, ist der Zeitpunkt, an dem sie beendet sein wird.“21

Die Produktionsdauer bei „DanceMove UrbanSpace“ war deshalb kurz angelegt, weil es sich um ein Pilotprojekt handelte und keine Erfahrungswerte vorlagen. Einige der teilnehmenden Künstler_innen haben den enormen Zeitdruck der Produktion bewusst wahrgenommen und dennoch engagiert die Inszenierung einer einstündigen Aufführung erarbeitet. Diesen Arbeitsprozess empfanden sie als sehr intensiv, teilweise aber auch als anstrengend und herausfordernd.22 Eine künstlerische Arbeit unter hohem Zeitdruck anzufertigen, bedeutet, dass Kontemplations- und Erholungsphasen ausbleiben, der Leistungsdruck hoch ist, die Feinakzentuierung von Bewegungsabläufen nur minimal umgesetzt und der mehrfache Probendurchlauf der gesamten Aufführung vor der Premiere limitiert ist. Gleichzeitig kann es dazu führen, dass Künstler_innen ihre Konzentration innerhalb eines fixierten Zeitfensters stark bündeln, ihre Solidarität miteinander erhöhen und auf der Bühne eine enorme Körperpräsenz aufweisen, weil sie Bewegungsabläufe ausführen, die eben nicht gänzlich automatisiert und routiniert einstudiert sind. Barbara Gronau zufolge kann die Probenarbeit im Theater u.a. dazu führen, eine Kunst des Weglassens, Unvollendet-Lassens und Reduzierens zu erkunden. In den von ihr unterschiedenen sieben Typen listet sie auch eine Form des Anreißens auf, die sich meines Erachtens bei der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ als Folge der Bedingung einer kurzen Produktionszeit ergeben hat. „Das Weglassen beim Probieren kann sich auch als Anreißen oder Unvollendet-Lassen äußern, bei dem an die Stelle klarer Festlegungen allgemeine Spielregeln bzw. lockere Verabredungen gesetzt werden. Diese Art des Weglassens ist eine beliebte Strategie in Formen des postdramatischen Theaters.“23

Solistische Teile, die in der Probe mittels Improvisation erarbeitet und zwar räumlich, zeitlich und musikalisch fixiert wurden, waren dennoch im genauen

21 Roselt, 2011, S. 21. 22 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 8. 23 Gronau, 2011, S. 193.

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Arrangement des Bewegungsmaterials den Performer_innen auf der Bühne überlassen. Auch Bewegungssequenzen, die auf Kontaktimprovisation basierten, konnten im Rahmen der vorgegebenen Produktionsdauer nur locker verabredet und nicht exakt wiederholbar einstudiert werden. Insofern wurden zwar die einzelnen Szenen und die Übergänge in den Proben erarbeitet und trainiert, jedoch eine gewisse Unschärfe beibehalten. Diese Form von Probenarbeit als „Anreißen oder Unvollendet-Lassen“24 hat teils Verunsicherung bei den Kunstschaffenden im Arbeitsprozess erzeugt. Aufgrund der kritischen Resonanz der Akteur_innen gegenüber der kurzen Produktionsdauer für das Pilotprojekt „DanceMove UrbanSpace“ wurde vom Goethe-Institut die zeitliche Rahmenbedingung für das Folgeprojekt „Play with the Senses“ verbessert und der gesamte künstlerische Arbeitsprozess somit entschleunigt. Auch wurde der Arbeitsprozess in drei Workshop-Phasen und dazwischen liegenden Ruhezeiten unterteilt. Die erste Phase umfasste eine Woche und diente dem Kennenlernen aller Beteiligten, dem gemeinsamen Training und der ersten Ideensammlung. Die zweite Arbeitsphase mehrere Monate später nutzten vier Künstler aus Äthiopien und ein Künstler aus Südafrika für konzeptionelle und choreographische Entwürfe. Die dritte Arbeitsphase umfasste die gemeinsame Stückentwicklung mit allen zwölf beteiligten Künstler_innen, die verschiedene Szenen direkt am Aufführungsort probten, mit dem Raumgefüge experimentierten und abschließend ihre Arbeit als ‚work-in-progress‘ öffentlich aufführten. Diese Form der Produktion in mehreren Phasen verlangt von Performer_innen eine andere Art der Konzentration ab, die durchgehend über einen längeren Zeitraum gehalten werden muss. Es erfordert die Bereitschaft, immer wieder bereits entwickeltes Bewegungsmaterial zu modifizieren und zu präzisieren.25 Andererseits ermöglicht es Künstler_innen, einen ergebnisoffeneren Arbeitsprozess zu gestalten und Zeit für Reflektionen, Gespräche sowie die eigene Netzwerkbildung zu haben. „In the last workshop […] we were creating a one hour show in two weeks rehearsal time. Right now we worked already two weeks for the production with Sello Pesa. […] We have masses more time, we are so relaxed and Sello might say ‚please focus on this and that‘ and we have time to do that. […] But we have all that time, so we are more doing the scenes repeatedly and repeatedly. Last time, we were building new and new stuff again.

24 Ebd. S. 193. 25 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 8; Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 5.

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And we have been so many dancers. The time calculation is better now. We need more time for focusing.“26

Die im zweiten Projekt „Play with the Senses“ regelmäßig durchgeführten Reflektions- und Diskussionsrunden wurden von den Künstler_innen sehr positiv bewertet.27 Die Entscheidung hinsichtlich der zeitlichen Modifikation bedeutet, dass das Goethe-Institut direkt auf den Bedarf der Künstler_innen reagierte und die Rahmenbedingungen hinsichtlich der Produktionsdauer trotz höherer Produktionskosten verbesserte. Das räumte den Performer_innen insgesamt mehr Zeit für ihre Stückentwicklung ein, was einen intensiven Austausch zwischen den Künstler_innen begünstigte. Es ermöglichte ein längeres Experimentieren und abwechselnde Arbeits- und Kontemplationsphasen. Diese zeitliche Kalkulation erlaubte es den Akteur_innen, gelassener in den Produktionsprozess einzusteigen sowie fokussierter an der künstlerischen Umsetzung einer Idee zu arbeiten.

T RAINING UND P ROBEN In dem Versuch zu beschreiben, was eine Theaterprobe auszeichnet, sollen im Folgenden drei Definitionen der Theaterwissenschaftler_innen Gronau, Düffel und Matzke dienen. In ihnen wird das Moment der Unvorhersehbarkeit als ein Wesensmerkmal bestimmt, sofern die Probe als eine Suchbewegung mit unbestimmtem Ausgang verstanden wird. „Das Ziel jeder Probe besteht darin, sich eine Vorstellung zu machen. Probieren ist demgemäß ein Prozess des Entwerfens und Verwerfens, eine Auswahl aus einem Spektrum von Möglichkeiten, die man als Kunst des Weglassens bezeichnen kann.“28 „Eine gelungene Probe ist für mich die Ermittlung eines gemeinsamen Interesses, nicht im Sinne eines Ausgleichs, sondern einer aneinander gesteigerten Radikalität. So sehe ich auch den Prozess der Suche, die auf Proben stattfindet. Es ist ein Prozess, in dem dieses gemeinsame Interesse ermittelt, weitergetrieben und konkretisiert wird.“29

26 Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9. 27 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 5; Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 1. 28 Gronau, 2011, S. 205 f. 29 Düffel, 2011, S. 70.

268 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN „Keine generalisierten Verfahren, sondern die Suche im Unbekannten wird zum Paradigma der Probenarbeit […].“30

Die in diesen Definitionen stark betonte gemeinsame Suche als zentrales Element der künstlerischen Arbeit war auch ein wesentliches Merkmal der Proben zu „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“. Es verweist zugleich auf ein spezifisches Verständnis von Probenarbeit, das weder universalistisch auslegbar ist noch egalitäres Arbeiten im Theater garantiert. Vielmehr kann dieses Verständnis von Proben spezifische Arbeitsweisen begünstigen und andere ausschließen sowie zu konfliktiven Momenten führen. Für die beiden Produktionen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ waren tägliche Proben mit je fünf Stunden angesetzt, in denen die Kunstschaffenden zusammen trainierten und an den Szenen, den Abläufen und Übergängen miteinander arbeiteten. Täglich ein mehrstündiges Probentraining zu absolvieren, verlangt den Künstler_innen eine gute körperliche Konstitution und hohe Konzentration ab. In den Interviews haben beteiligte Künstler_innen die täglich stattfindenden, mehrstündigen Proben mit unterschiedlichen Akzentuierungen reflektiert. Einige bewerteten die langen Proben positiv, weil sie dadurch ein intensives Training absolvierten. „The new thing for me was to work for long hours. I felt it as an opportunity to show my power.“31

Andere betonten die Anstrengung eines solchen Arbeitsprozesses, den sie als ‚non-stop‘-Produktionsmarathon empfanden.32 Zu Beginn jeder Probe trainierten alle beteiligten Kunstschaffenden für eine Stunde gemeinsam, was als Aufwärmphase diente und je nach Übungsabläufen Bodenarbeit, Balance, Kraft, Körperkoordination oder Wahrnehmungssensibilisierung förderte. Dieses Training wurde von teilnehmenden Künstler_innen aktiv mitgestaltet, denn etliche Tänzer_innen boten während des Arbeitsprozesses an, selbst Tanz- und Bewegungstrainings anzuleiten. Somit teilten sie ihre Wissensbestände mit anderen Künstler_innen und übernahmen selbstbestimmt eine Mitverantwortung für das Tanztraining. Dadurch entstand auf Intervention der Künstler_innen hin im Arbeitsprozess ein Rotationsprinzip, welches einen Wissenstransfer bezüglich unterschiedlicher Trainingsformen und Körpertechniken

30 Matzke, 2011, S. 134. 31 Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 3. 32 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 8 f.

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förderte und zu einer Dehierarchisierung der Arbeitsweise beitrug. Nach dem jeweiligen Tanz- und Bewegungstraining wurde mit unterschiedlichen Methoden der Bewegungsfindung gearbeitet, die größtenteils von den choreographischen Teams vorgeschlagen wurden, wobei das einzelne Bewegungsmaterial jedoch von den Peformer_innen gestaltet wurde. Die Künstler_innen erarbeiteten das Bewegungsmaterial für viele Szenen mittels strukturierter Improvisationen, die auf Imaginationen basierten. Tanzund bewegungstechnisch wurde bei der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ für drei zentrale Szenen mit dem Finden, Fixieren, Rhythmisieren, Synchronisieren und Verfremden gestischen Materials gearbeitet. Außerdem experimentierten die Performer_innen mit der Interaktion zwischen Objekt und Körper, dem Gestalten von symmetrischen und asymmetrischen Körperpositionen, der Verinnerlichung von abrupten Bewegungsimpulsen und der extremen Verlangsamung von Bewegungsabläufen. Bei dem Arbeitsprozess von „Play with the Senses“ erarbeiteten Künstler_innen ebenfalls Szenen auf der Grundlage von strukturierten Improvisationen und Techniken, bei denen der Einsatz von Imaginationen, die Aufnahme von äußeren Bewegungsimpulsen und daraus resultierende physische Resonanzen Ausgangspunkte der Bewegungsfindung waren, die individuelle Besonderheiten der Künstler_innen berücksichtigten.33 Darüber hinaus erforderte das Konzept für eine ‚side-specific‘-Arbeit die künstlerische Auseinandersetzung mit Raum und Körper. Insofern suchten Performer_innen mittels Improvisationen Bewegungsmaterial in Relation zu einem spezifischen Raumelement, wobei die Bewegungen und die Wahl des Ortes von ihnen selbst zu bestimmen waren.34 Bezüglich der Proben und des Trainings artikulierten einige Künstler_innen ihre Wertschätzung für die Fusionierung unterschiedlicher Bewegungsansätze und für die Integration vielseitigen Tanzmaterials. Indem die Bewegungstechniken und -qualitäten aller beteiligten Künstler_innen in Form von strukturierten Improvisationen herausgearbeitet und für die Aufführungen verwendet wurden, konnten ihre unterschiedlichen Bewegungsansätze sichtbar gemacht werden und nebeneinander existieren. Die bewegungstechnische Verflochtenheit hat z.B. Shiferaw Tariku als sehr bereichernd beschrieben.35 Dawit Desalegn deutet die konzeptuelle Herangehensweise als innovativen Ansatz, den er in seine eigene

33 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 8 f.; Köppen: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012, S. 2. 34 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 8. 35 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4.

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Arbeit integrieren wolle.36 Jedoch betont er, dass bei zukünftigen Produktionen stärkeres Gewicht auf die Vermittlung von Techniken gelegt werden solle und eine stärkere Differenzierung zwischen konzeptueller und tanztechnischer Arbeit vorgenommen werden müsse.37 „I would love, if we could separate the teaching of concept from the teaching of movement and to give it a day and to focus on the movement exclusively for a while.“38

Ein Verständnis von Probe als Suchbewegung kann aufgrund der Unvorhersehbarkeit mitten im Arbeitsprozess Unsicherheit erzeugen und gleichzeitig das Arbeiten mit Improvisationen begünstigen, um das Neue, Individuelle oder Experimentelle herauszufiltern sowie einen egalitären Ansatz der Arbeit zu verfolgen. Durch Improvisationen, die häufig Bestandteil der Probenarbeit sowie der Aufführungspraxis sind, können in kollektiven Arbeitsprozessen die Performer_innen Fragmente von Figuren, Handlungen und Atmosphären mittels ihres improvisierten Bewegungsmaterials mitbestimmen und auf die Konzeption der Inszenierung direkt Einfluss nehmen, was die Theaterwissenschaftlerin Miriam Dreysse als Strategie der „multiplen Autorschaft“ beschreibt: „Einerseits ist so jeder Performer für das verantwortlich, was er oder sie sagt, ist Autor […] seiner eigenen Figur. Gleichzeitig haben wir es, betrachtet man den Aufführungstext als Ganzes, mit einer multiplen Autorschaft zu tun, die sich auch im Laufe jeder einzelnen Performance durch den Improvisations- und Spielcharakter, durch den Einfluss, den die Zuschauer auf den Verlauf der Aufführung nehmen, noch multipliziert.“39

In den Proben zu den Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ waren improvisatorische Techniken zentral, um Material gemeinsam zu suchen. Diesbezüglich betont der Performer Dawit Desalegn im Interview jedoch, dass besonders die Erarbeitung des Materials mittels Improvisationen Frustration bei den beteiligten Künstler_innen auslöste, sofern sie den Eindruck hatten, im Arbeitsprozess wenig neue Techniken zu erlernen und stattdessen nur aus eigenem Bewegungsrepertoire zu schöpfen.40 Einerseits kann mit der Impro-

36 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 3. 37 Vgl. ebd. S. 10. 38 Ebd. S. 10. 39 Dreysse, 2012, S. 95. 40 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalgn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 10.

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visation also ein Ansatz der egalitären Arbeitspraxis verfolgt werden, doch andererseits ebenso eine immaterielle Ausbeutungstendenz von Kunstschaffenden einsetzen. Einige Künstler_innen haben in den Interviews kritisiert, dass sie in den Aufführungen kaum getanzt hätten und dadurch ihre Qualitäten als Tänzer_innen nicht ausreichend auf der Bühne vorführen konnten.41 Tanz als Ausdrucksmittel auf der Bühne auf simple Bewegungsabläufe des Alltags wie Gehen, Laufen, Stehen, Sitzen, Fallen etc. zu reduzieren, kann als ein Affront gedeutet werden. So beschreibt Shiferaw Tariku die Irritation unter beteiligten Künstler_innen, als in der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ eine Person des choreographischen Teams vorrangig alltägliche Bewegungsabläufe zu proben beabsichtigte. „People didn’t really understand, why she was bringing in such kinds of things and they weren’t really happy. Walking, standing, mh, yeah; sometimes you can have it in a choreography […], but if the whole thing is going into that direction it doesn’t make sense for the very most Ethiopian artists, because we are not used to such things at all.“42

Sofern beteiligte Künstler_innen den Eindruck hatten, nicht genügend ihrer vorhandenen Tanz- und Bewegungsqualitäten präsentieren zu können und dazu angehalten wurden, ornamentale Bewegungen wegzulassen, Mimik und Gebärde zu reduzieren und anstelle dessen simple Alltagshandlungen in das Bewegungsvokabular aufzunehmen, rief es bei ihnen teils Frustration und Konfusion hervor.43 Das verweist auch auf eine Diskrepanz bezüglich eines unterschiedlichen Verständnisses der Kunstform und der Probe. Während das Verwerfen, Reduzieren und Extrahieren von Elementen aus dem gefundenen Bewegungsmaterial wesentlicher Teil des Arbeitsprozesses für die choreographischen Teams war, stand für einzelne Performer_innen stärker das Entwerfen, Erweitern, Vervielfachen und Perfektionieren des Materials im Vordergrund. Die beschriebene Desillusionierung der Performer_innen geht m.E. auf ein angewandtes Reduktionsprinzip in den Proben zurück, welches im Widerspruch zu dem Interesse vieler äthiopischer Kunstschaffender nach gesellschaftlicher Akzeptanz ihrer Profession steht, die durch das Beherrschen von Tanztechniken, das Erweitern des Bewegungsvokabulars und das Prinzip der Addition erreicht werden könne.

41 Vgl. Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 3; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9. 42 Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 5. 43 Vgl. ebd. S. 4; Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 3.

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Außerdem steht das ästhetische Reduktionsprinzip auch im Widerspruch zur gängigen Praxis im zeitgenössischen äthiopischen Theater, wo hyperbolische Zeichensprache und der Gestus des Zeigens stark betont werden. Die in den Proben zu „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ mehrfach geäußerte Aufforderung zur Reduktion kann potentiell einen prekären Zustand der Verunsicherung bei performativen Künstler_innen im Arbeitsprozess erzeugen, den Gronau wie folgt beschreibt: „Das Weglassen zeugt dabei einerseits vom modernen Streben nach Askese, Reduktion und Verzicht und offenbart andererseits eine prekäre und instabile Dimension des Entgleitens. Es ist nicht nur ein strategisches Unterlassen, sondern ebenso ein Sich-Öffnen für eine Leere, für einen Zustand der Potentialität.“44

In den Proben zu beiden Produktionen arbeiteten die Künstler_innen mit dem Verfahren einer gemeinsamen Stückentwicklung, was bedeutet, dass sie um grob umrissene Themenkreise herum kollektiv nach Ideen, Konzepten und Material suchten, um daraus Szenen zu entwickeln, die von den choreographischen Teams zu größeren Aktionsbögen assoziativ montiert wurden. In der sukzessiven Stückentwicklung werden die Elemente Unvorhersehbarkeit und Offenheit eines kollektiven Gestaltungsprozesses stark betont und „multiple Autorschaften“45 insofern realisiert, da die Szenen zum großen Teil auf Improvisationen der einzelnen Performer_innen und somit auf die Generierung ihres eigenen Materials basieren. Jedoch ist die Arbeitsweise in Proben nicht voraussetzungslos gegeben, sondern kontextabhängig und kann sehr unterschiedlich konzipiert werden. „Auch die Theaterprobe bewegt sich – wird sie auch als noch so experimentell gefasst – in einem historischen Kontext und hat immer die historischen Theaterverfahren, von denen sie sich absetzen möchte, als Ausgangspunkt und Bezugsgröße.“46 Obwohl es im äthiopischen Theaterbetrieb der 1930er/40er Jahre durchaus üblich war, mittels kurzen Proben, dem Verfahren der kollektiven Stückentwicklung und der Technik der Improvisation abendfüllende Inszenierungen zu realisieren, ist es im aktuellen Theaterbetrieb eher üblich, sechsmonatige Probenpha-

44 Gronau, 2011, S. 206. 45 Dreysse, 2012, S. 91-118. 46 Matzke, 2011, S. 136.

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sen zu durchlaufen und die Konzeption des Stücks der Gestaltungsmacht eines Regisseurs zu überlassen.47 Insofern ist es interessant, dass während einer Probe zu „DanceMove UrbanSpace“ ein konfliktiver Moment hinsichtlich des Verständnisses von Probe zu beobachten war. In dieser Situation – nach einer Woche gemeinsamen Probens und intensiven Generierens von Bewegungsmaterial – formulierte plötzlich einer der Performer_innen wütend die Frage, wie denn innerhalb einer noch zu verbleibenden Arbeitswoche aus den ganzen Fragmenten ein bühnenfertiges Stück aufzuführen sein solle. Diese Frage mitten im Produktionsprozess löste eine punktuelle Verunsicherung aus, weil deutlich wurde, dass die Verfahren der kollektiven Stückentwicklung, der Szenencollage und der offenen Dramaturgie eben keine universell gültigen oder voraussetzungslosen künstlerischen Praxen sind. Vielmehr sind auch die Formen des Produzierens wesentlicher Teil theaterhistorischer Entwicklungen, die kontextabhängig sind. Diese Äußerung verweist darauf, dass die verschiedenen Formen des Produzierens in inter- und transkulturellen Produktionen zur Debatte stehen und das explizite Einverständnis aller Akteur_innen zu solchen Arbeitsweisen benötigen. Nur teilweise haben Künstler_innen ihren Unmut innerhalb des gemeinsamen Arbeitsprozesses offen angesprochen; häufig haben sie diesen untereinander privat oder nach Beendigung des jeweiligen Projekts artikuliert.48 Die direkte Auseinandersetzung über unterschiedliche Auffassungen von der Kunstform und über das Proben als Prozess des Reduzierens wurde während des Arbeitsprozesses weitestgehend vermieden. Jedoch forderten äthiopische Künstler_innen diese Vermittlungsarbeit – das Sammeln und Auffächern verschiedener Zugänge zur Kunstform, das Erfassen eines Spektrums an Arbeitsmethoden und die Bewusstmachung von unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber der gemeinsamen Produktion – mit ihrer später geäußerten Kritik ein. Bei beiden Produktionen machten die choreographischen Teams sowie die Leitungen des Goethe-Instituts am Anfang des Arbeitsprozesses explizit deutlich, dass es sich um Gemeinschaftsprojekte handle, bei denen allen Beteiligten eine Gestaltungsfreiheit zukomme und sie ihre Bedürfnisse sowie Kritiken direkt artikulieren können. Dennoch zeigt sich, dass das einmalige Besprechen eines kollektiven Arbeitsansatzes keinesfalls garantiert, dass alle beteiligten Akteur_innen auch in den Prozess eingreifen, diesen offen kritisieren oder direkt umgestalten. Schließ-

47 Anm. Vereinzelt werden auch Inszenierungen wie „Yekeletaw Mender“ („The Chaotic Quarter“) am Hager Fikir Theater basierend auf multipler Autorschaft erarbeitet. 48 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9.

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lich handelt es sich um Arbeitsverhältnisse, die existentiell sind – umso mehr in der spezifisch prekären Situation vieler Kunstschaffender Äthiopiens. Für eine kollektive Gestaltung in inter- und transkulturellen Produktionen liegen Herausforderungen darin, zeitintensive Auseinandersetzungen während des Produktionsprozesses einzuplanen sowie Konflikte im Bereich des Ästhetischen anzuerkennen. Das verweist für den Probenablauf auch auf die Notwendigkeit, bewusst (Zeit-)Räume der konfliktiven Artikulation zu schaffen und Debatten über Produktionsweisen wie der Stückentwicklung, über Arbeitsmethoden wie den strukturierten Improvisationen und über die Kunstform selbst zuzulassen, weil erst dadurch eine aushandelnde Dynamik ermöglicht wird.

AUFGABENTEILUNG UND ARBEITSSTRUKTUREN Der Anspruch im Team zu arbeiten, wurde in beiden Produktionen verfolgt, jedoch waren die Aufgabenteilungen nicht immer klar abgesteckt. Teils wurden auch im Verlauf der Produktion Modifikationen in der Verschiebung von Verantwortungsbereichen vorgenommen. „Wenn Arbeitsteilungen und Hierarchien nicht eindeutig zementiert sind, sind die Chancen auf einen ergebnisoffenen, Widersprüche und Zweideutigkeiten zulassenden Prozess groß. Wenn die künstlerische Autorität nicht in den Händen eines Individuums konzentriert ist, werden dialogische oder vielstimmige Strukturen gestärkt, Selbstverständlichkeiten hinterfragt und das Bewusstsein aller Beteiligten für die Möglichkeit und Produktivität verschiedener Lösungen, uneindeutiger Antworten geschärft.“49

Bei der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ haben zwei beteiligte Kunstschaffende Aufgaben des Produktionsmanagements übernommen. Für die Proben und die Aufführung arbeiteten 23 Performer_innen und ein choreographisches Team aus drei Personen zusammen. Dabei handelte es sich um einen Künstler aus Äthiopien und zwei Künstler_innen aus Deutschland. Die Verantwortung, die anfangs der eingeladenen Künstlerin aus Deutschland, Helena Waldmann, oblag, wurde auf Wunsch ihrerseits aufgeteilt und mit auf die zwei choreographischen Assistent_innen verlagert. Dadurch konnten die Entscheidungen bezüglich der Inszenierung von drei Personen getragen werden, wodurch

49 Dreysse, 2012, S. 116.

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die künstlerische Leitung geteilt und ebenfalls „multiple Autorschaften“50 im Sinne Dreysses erzeugt wurde. Bei dem Projekt „Play with the Senses“ übernahmen ebenfalls zwei der beteiligten Künstler_innen Aufgaben der Regie und des Produktionsmanagements.51 Nach der ersten einwöchigen Arbeitsphase des gegenseitigen Kennenlernens, des gemeinsamen Ideen-Sammelns und Experimentierens aller am Projekt beteiligten Kunstschaffenden wurde nach einer mehrmonatigen Pause die zweite Arbeitsphase angesetzt. Dafür arbeiteten vier Künstler_innen aus Äthiopien und der aus Südafrika eingeladene Künstler Sello Pesa zusammen, die gemeinsam choreographische Ansätze konzipierten und diese miteinander debattierten. In der dritten Arbeitsphase des Projekts teilte sich ein Team, bestehend aus zwei äthiopischen Künstler_innen und dem aus Südafrika eingeladenen Künstler, die Leitung. Die beiden choreographischen Assistenten waren wesentlich für das tägliche Tanztraining verantwortlich. Dieses Team aus drei Personen ermöglichte das Finden spezifischen Bewegungsvokabulars durch die Strukturierung von Improvisationen und traf gemeinsam Entscheidungen über den Stückverlauf sowie die Dramaturgie.52 Somit bestand das engere Team in beiden Produktionen aus mehreren Akteur_innen, die sich Aufgaben der Probenleitung, Regie und Choreographie teilten. Während im Pilotprojekt zwei Künstler_innen aus Deutschland und ein Künstler aus Äthiopien beteiligt waren, bestand im Folgeprojekt das Team aus zwei Künstler_innen aus Äthiopien und einem Künstler aus Südafrika. Diese Entscheidung von Seiten des Goethe-Instituts signalisiert ein Bewusstsein für die Problematik des inter- und transkulturellen Austauschs im Theater und entspricht dem eigens artikulierten Anspruch der institutsinternen Regionalstrategie, den panafrikanischen Austausch von Kunstschaffenden untereinander zu fördern. Darin liegt das Poential, regionale Kunstnetzwerke innerhalb des Kontinents zu bestärken. In beiden Projekten haben sich jeweils mehrere Personen die Aufgaben der Choreographie/Regie, Dramaturgie, des Tanztrainings und der Produktion geteilt. Sofern bei den Proben von diesen Akteur_innen unterschiedliche Herangehensweisen vorgeschlagen, Methoden der Bewegungsfindung wieder verworfen oder gesammeltes Material gestrichen wurde, rief es teilweise Irritationen bei beteiligten Künstler_innen hervor. Die Konfusion bezog sich einerseits auf die letztendliche Entscheidungsgewalt bezüglich der Inszenierung, die nicht an ein

50 Ebd. S. 91-118. 51 Vgl. Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 6. 52 Vgl. Köppen: Interview Dawit Desalgen, Addis Abeba, 12.04.2012, S. 9.

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einziges Künstlersubjekt gebunden blieb, sondern auf mehrere Personen verteilt war. Während die Teams eine unvorhersehbare Suche nach unterschiedlichen Materialien und Methoden in der Probe verfolgten, nahmen einige performative Künstler_innen diese Suchbewegung teils als Widerspruch in den Anleitungen der Improvisationen oder als Konflikt in der Arbeitsteilung wahr.53 Eine ausdifferenzierte Arbeitsteilung hat die Vorteile, eine auktoriale Perspektive eines einzigen Künstlersubjekts zugunsten multiperspektivischer Blickweisen eines Kollektivs aufzugeben, Arbeitshierarchien im Theater zu minimieren und umfassende Arbeitsbereiche aufteilen zu können. Es hat jedoch die Nachteile, dass Rollen nicht klar abgesteckt und Funktionen changieren können, wodurch Missverständnisse entstehen können. Außerdem ist das Erproben konträrer künstlerischer Ansätze zeitintensiv, auch wenn es in ästhetischer Hinsicht durchaus ergiebig sein kann. Da das Erproben unterschiedlicher Kunstansätze Konfusion bei Künstler_innen erzeugen kann, besteht eine Herausforderung darin, auch methodische Herangehensweisen während des gesamten Arbeitsprozesses wiederholend zur Disposition zu stellen. Allerdings zeigt sich an der Arbeitsweise mit choreographischen Teams, kollektiver Stückentwicklung und dem Rotationsverfahren in Trainingsanleitungen die Intention aller Akteur_innen, dem theaterspezifischen Machtgefüge der Arbeitsteilung bewusst entgegenzuwirken. Diesbezüglich wurde in beiden Produktionen versucht, einen alternativen Ansatz auf Produktionsebene zu verfolgen, den Rustom Bharucha einfordert, um Arbeitsmethoden zu finden, die den Prinzipien des Austauschs entsprechen.54

F AZIT Für inter- und transkulturelle Austauschprozesse zwischen Kunstschaffenden, die bei der Theaterarbeit überwiegend in gemeinsamen Proben und Trainings stattfinden, liegen die wesentlichen Herausforderungen darin, mit konventionellen Beziehungsgeflechten als Teil einer theaterspezifischen Machtstruktur umzugehen und alternative Arbeitsmethoden zu finden, die den Austausch fördern. Bezüglich der eingangs formulierten Teilfrage, was die künstlerischen Arbeitsweisen in der Zusammenarbeit kennzeichnet, zeigte sich, dass in den Produktio-

53 Vgl. Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012, S. 4, 6; Köppen: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012, S. 4; Köppen: Interview II Mintsinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 6. 54 Vgl. Bharucha, 1993, S. 6.

10. P RODUKTIONSPROZESSE ALS KÜNSTLERISCHE ZUSAMMENARBEIT

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nen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ die beteiligten Akteur_innen versuchten, dieser Herausforderung dadurch zu begegnen, strukturell mit choreographischen Teams und methodisch mit der kollektiven Stückentwicklung sowie dem Rotationsprinzip in Trainingsanleitungen zu arbeiten. Außerdem diente die Arbeitsmethode der strukturierten Improvisation als Grundlage der Bewegungsfindung, was „multiple Autorschaften“55 bewirkt. Jedoch erweist sich das (Er-)finden adäquater Arbeitsmethoden als besonders schwierig, da auch solche alternativen Arbeitsstrukturen und -methoden konfliktives Potential bergen, mit denen intentional ein Ansatz egalitärer Arbeitsteilung verfolgt wird. Die Methode der Stückentwicklung bewirkte einerseits, dass künstlerische Elemente kollektiv entworfen und Entscheidungen für die Stückgestaltung untereinander verhandelt werden mussten, doch erzeugte hinsichtlich der Unvorhersehbarkeit und Ergebnisoffenheit auch Unsicherheit bei den performativen Künstler_innen. Die Improvisationen bedingten einerseits eine kollektive Autorschaft, doch erzeugten auch Frustrationen, weil somit performative Künstler_innen das Bewegungsmaterial überwiegend aus sich selbst heraus schöpfen mussten, statt von einem tanztechnischen Wissenstransfer zu profitieren. Das Verständnis von Probe als eine unvorhersehbare kollektive Suchbewegung, die das Verwerfen, Redigieren oder Reduzieren von Material sowie den Wechsel zwischen verschiedenen Verfahren einschließt, erzeugte bei performativen Künstler_innen teils Irritation, weil sie darin statt einer produktiv-kreativen Suche eine Konfusion der Aufgabenteilung sahen. Daran wird ablesbar, dass die Probe als unvorhersehbare Suchbewegung sowie das Verfahren der kollektiven Stückentwicklung, der Szenencollage und der offenen Dramaturgie keine universell gültigen oder voraussetzungslosen künstlerischen Praxen sind, sondern von verschiedenen theaterhistorischen Kontexten abhängig sind. Unter Einbezug der produktionsästhetischen Perspektive auf das empirische Material zeigt sich, dass die verschiedenen Formen des Produzierens konfliktive Momente im Arbeitsprozess erzeugen können und auch diese miteinander immer wieder verhandelt werden müssen, um konstruktiv über Produktionsweisen aus unterschiedlichen Perspektiven debattieren zu können, weil erst dadurch eine aushandelnde Dynamik befördert wird. Das ist bei inter- und transkulturellen Austauschprozessen im Theater besonders notwendig, um Universalisierungstendenzen entgegenzuwirken.

55 Dreysse, 2012, S. 91-118.

11. Ästhetik der Inszenierungen

Postkolonialtheoretische Ansätze wurden bislang für theaterwissenschaftliche Untersuchungen inter- und transkulturellen Theaters sowie theaterspezifischer Verflechtungen kaum berücksichtigt. Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme definierte postkoloniales Theater wie folgt: „Streng genommen handelt es sich um Theaterformen, die im Kontext der Entkolonisierung der ehemaligen europäischen Territorien, v.a. der britischen und französischen entstanden. […] Angesichts der schwierigen Eingrenzung der räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Phänomens ist die Geschichte des postkolonialen Theaters umstritten.“1

Was sich an dieser Definition des postkolonialen Theaters zeigt, sind m.E. gravierende Missverständnisse darin, das Postkoloniale als Epochenbezeichnung für die Zeit nach der Kolonisation zu begreifen – so wie Balme es tut2 – und ebenfalls darin, die mit Kolonisation und asymmetrischen Beziehungsmustern einhergehenden Problemlagen an die ehemals Kolonisierten zu delegieren. Diese Begriffsbestimmung ist unzureichend, denn es ist zunächst davon auszugehen, dass nicht ein postkoloniales Theater im Zuge der Dekolonisation entstand, sondern von Künstler_innen verschiedene ästhetische Strategien des Postkolonialen entwickelt wurden und weiterhin werden, die je nach Subjektposition sehr unterschiedlich sein können. Das verweit vielmehr auf die Notwendigkeit, vielfältige postkoloniale und dekoloniale Ästhetiken theoretisch zu bestimmen sowie empirisch zu erforschen. Außerdem ist die Vorannahme, dass nur ehemals Kolonisierte ästhetische Strategien des Postkolonialen erproben, bedenklich, weil somit die Auswirkungen des Kolonialismus und die kritische Auseinandersetzung mit

1

Balme, 2005, S. 248 f.

2

Vgl. Balme, 1995, S. 6.

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Kolonialismus an sie delegiert werden. Ein grundlegendes Problem liegt dabei in der Simplifizierung des Postkolonialismus als eine Form abgeschlossener Historie. Dem gegenüber macht Anita Moser darauf aufmerksam, dass Spuren des Kolonialismus weiterhin auf sehr unterschiedliche Weise in verschiedenen Gesellschaften zu identifizieren sind: „Kolonisierung ist ein Prozess, der ambivalente Wechselwirkungen zeitigt und seine Spuren nicht nur in den kolonisierten, sondern auch in den kolonisierenden Gesellschaften hinterlässt. Beide Gesellschaften werden durch die Kolonisierung zu Kolonialgesellschaften […].“3

Der Begriff Postkolonialismus bezieht sich eben nicht auf eine zeitlich oder räumlich begrenzte Entität: „Das Präfix ‚post‘ verweist vielmehr darauf, dass es Langzeiteffekte des Kolonialismus gibt, die noch heute nachwirken und die thematisiert werden müssen, wenn man die postkoloniale Gegenwart […] verstehen möchte.“4 Vielmehr, so ließe sich mit Hall argumentieren, bezieht sich der Begriff auf strukturelle Ungleichheiten, die historisch gewachsen sind, sich in einer veränderten Konfiguration bis heute fortsetzen und ein hierarchisches Spannungsverhältnis begründen, in dem „westliche Interessen und westliche Modelle Vorrang haben.“5 So wie es sehr unterschiedliche postkoloniale Realitäten gibt, die nur im Partikularen zu erfassen sind, gibt es auch verschiedene thematische Setzungen und ästhetische Strategien des Postkolonialen in der Kunst. So kann es Künstler_innen mit einer postkolonialen Perspektive in der Praxis z.B. um die Verhandlung diskursiver Räume, um die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen, um alternative Repräsentationsformen, um dekoloniale Ästhetiken oder um die Hinterfragung eines etablierten Kunstkanons und Kunstbetriebs gehen, in die sich koloniale und postkoloniale Realitäten eingeschrieben haben. Eine postkoloniale Perspektive bietet sich für die Untersuchung inter- und transkultureller Theaterformen besonders an, um Überlegungen zu ästhetischen Strategien in der performativen Kunst und zu den politischen Effekten solcher Strategien anzuregen. Um im Folgenden meiner eingangs formulierten Teilfrage nach den ästhetischen Strategien nachzugehen und um weitere Überlegung zu den (kultur-)politischen Effekten der Produktionen anzustellen, dienen mir als

3

Moser, 2011, S. 72.

4

Kerner, 2012, S. 9.

5

Hall, 2004, S. 192.

11. Ä STHETIK DER I NSZENIERUNGEN

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theoretische Grundlage die Konzepte der postkolonialen Ästhetik von der Theaterwissenschaftlerin Christine Regus und der hybriden Ästhetik von dem Kulturwissenschaftler Homi Bhabha. Christine Regus zufolge können im interkulturellen Theater sehr unterschiedliche ästhetische Strategien eingesetzt werden, was ihre verschiedenen künstlerischen Ansätze charakterisiert. Dabei seien viele zeitgenössische Theaterproduktionen tendenziell selbstreflexiv, in denen bewusst ein Spiel der Wahrnehmungsverwirrungen praktiziert wird, um die Unmöglichkeit des vollkommenen Verstehens und Aneignens ad absurdum zu führen. Das versteht sie auch als einen politischen Impetus solcher ästhetischen Strategien in Aufführungen.6 Bislang blieb jedoch häufig unerforscht, wie in interkulturellen Produktionen theaterästhetisch vorgegangen wird und ob postkoloniale Züge in den Arbeiten erkennbar sind.7 Das ist ihrer Ansicht nach deshalb wichtig zu untersuchen, da auch mittels Ästhetik liminale Räume der Verunsicherung und Transgression produziert werden können, worin eine politische Erfahrung im Feld der Ästhetik möglich wird. Daher ist auch eine Beschäftigung allein mit den Themen der Produktionen nicht ausreichend, sondern die Analyse der künstlerischen Strategien notwendig.8 Zeitgenössische Formen des inter- und transkulturellen Theaters unterscheiden sich von den Formen des interkulturellen Theaters der historischen Avantgarde dadurch, dass sie teils eine postkoloniale Ästhetik aufweisen. Die postkoloniale Ästhetik definiert Regus als anti-essentialistisch, postdramatisch und institutionskritisch.9 Aufführungen können eine solche Ästhetik aufweisen, wenn sie die theatrale Grundsituation selbst zum Gegenstand der Inszenierung machen und den institutionellen Rahmen der Kunstproduktion mitreflektieren. Dabei können postdramatische Inszenierungsstrategien relevant sein, sofern unterschiedliche Techniken, Medien, Ausdrucksformen und Sprachen nebeneinander in Form von Montage, Collage oder Sampling stehen, ohne homogenisiert und synthetisiert zu werden. Weitere Indizien für eine solche Ästhetik sind z.B. eine Verweigerung der Hierarchisierung theatraler Mittel und die Auflösung der Text-Dominanz, die Betonung des Partialen gegenüber den Metaerzählungen, die Auflösung von Figuren und die Verweigerung der Mimesis in Form der Verwandlung leiblicher Körper der Performer_innen in semiotische Körper.10

6

Vgl. Regus, 2009, S. 11.

7

Vgl. ebd. S. 33.

8

Vgl. ebd. S. 93.

9

Vgl. ebd. S. 268.

10 Vgl. ebd. S. 271 f.

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Da Regus zufolge diese drei Kriterien – Anti-Essentialismus, Institutionskritik und postdramatische Elemente – charakteristisch für eine Ästhetik des Postkolonialen sind, ist es an dieser Stelle erforderlich, auf die Ästhetik des Postdramatischen einzugehen, die der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann theoretisch fundierte. Ihm zufolge befreiten Künstler_innen die Kunstform des Theaters vom Diktat des dramatischen Textes, von der Idee einer Fabel und vom Prinzip der Mimesis, wodurch die Performativität stärker in den Vordergrund treten konnte.11 Postdramatisches Theater ist „[…] mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information.“12 Merkmale einer postdramatischen Ästhetik sind Lehmann zufolge: Performativität statt Mimesis13, Selbstreflexivität14, Entzug der Synthesis15 , „Enthierarchisierung der Theatermittel“16, „Simultanität“17, „Spiel mit der Dichte der Zeichen“18, Körperlichkeit als „Eigenrealität“19, der „Einbruch des Realen“ 20 als Gestaltungsmittel sowie die Betonung der Ereignishaftigkeit und des Vollzugs im „Hier und Jetzt“21. Ästhetisch wird somit das Fragmentarische, Partikulare, Präsentische und Ko-existierende besonders betont. Durch diese Form der Ästhetik entwickelt sich ein spezifischer Wahrnehmungstypus: „Indem der Zuschauer des modernen Theaters eine immer weiter fortschreitende Fähigkeit zur Verknüpfung des Heterogenen einübt, wird die gemächliche Ausbreitung von Zusammenhängen immer weniger sinnvoll, begnügt sich das ungeduldiger werdende Auge mit immer knapper werdenden Andeutungen.“22

Dieses Zitat verweist u.a. auf die subtile Wirkung der ästhetischen Praxis, bei der verschiedene Elemente in nicht eindeutiger Weise miteinander kombiniert oder

11 Vgl. Lehmann, 2011, S. 21, 53 f. 12 Ebd. S. 146. 13 Vgl. ebd. S. 54. 14 Vgl. ebd. S. 82. 15 Vgl. ebd. S. 92 f. 16 Ebd. S. 133. 17 Ebd. S. 149. 18 Ebd. S. 151. 19 Ebd. S. 166. 20 Ebd. S. 170. 21 Vgl. ebd. S. 178. 22 Ebd. S. 110.

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gegeneinander geschnitten werden und die Zuschauer_innen in einen Zustand anhaltender Aufmerksamkeit versetzt werden können.23 Durch diese ästhetische Strategie werden sie angeregt bzw. herausgefordert, simultane Eindrücke zu verarbeiten, beliebig zu verknüpfen, selbstständig Sinneinheiten zu produzieren und potentielle Handlungsstrukturen zu entwickeln.24 Wie sich am Forschungsstand zum interkulturellen Theater bereits zeigte, gehen Theaterwissenschaftler_innen wie Pavis, Balme oder Pfeiffer davon aus, dass die Hybridität ein entscheidendes Kriterium für den gelungenen interkulturellen Austausch im Theater sei. Sie verstehen allerdings Hybridität als die Kreation von etwas Neuem, das quasi als Fusion aus zwei distinkten Theatertraditionen abgeleitet wird.25 Regus versteht die Gestaltung der Hybridität als eine Zirkulation und Vermischung von Zeichen sowie als eine Fusionierung von bereits Hybridem.26 Bhabha dagegen formulierte die Ästhetik des Hybriden dahingehend, dass er Elemente wie Subversion, Verschiebung und Widerstand in der Kunstproduktion hervorhob. Durch eine ästhetische Praxis der Hybridität könne gleichfalls eine politische Intervention im Bereich des Kulturellen vorgenommen werden, sofern die Wiederaufführung vergangener Erfahrungen und die Produktion ‚dritter Räume‘ als Gestaltungen der Ambivalenz in der Kunst erzeugt werden. Ein künstlerisches Mittel kann die Produktion von Zuständen der Liminalität sein, die die Erfahrung der Verunsicherung erzeugt. Somit können z.B. binäre Konstruktionen sowie die Konstruktion der Differenzmarkierung bewusstgemacht und Hierarchien dekonstruiert werden.27 Darüber hinaus definiert Bhabha die Ästhetik der Hybridität auch als politischen Gestus: „Sie erzeugt ein Verständnis des neuen als eines aufrührerischen Aktes kultureller Übersetzung. Diese Art von Kunst gewärtigt Vergangenheit nicht einfach als gesellschaftliche Ursache oder ästhetischen Vorläufer; sie erneuert die Vergangenheit, indem sie sie neu als angrenzenden ‚Zwischen‘-Raum darstellt, der die konkrete Realisierung der Gegenwart innoviert und unterbricht.“28

Die Unterbrechung der Gegenwart und die Thematisierung der Vergangenheit als Teil jetziger Realitäten könne somit von Künstler_innen vorgenommen wer-

23 Vgl. ebd. S. 148. 24 Vgl. ebd. S. 151. 25 Vgl. Pavis, 1996, S. 8; Balme, 1999, S. 5; Pfeiffer, 1994, S. 42. 26 Vgl. Regus, 2009, S. 85 f. 27 Vgl. Bhabha, 2000, S. 5, 57. 28 Ebd. S. 10.

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den, um sie zurück ins Spiel der politischen Diskussion und Reflektion zu bringen. Genau dadurch können mittels Kunst Momente der Störung und Irritation erzeugt und dominante Diskurse in Frage gestellt werden, um Bedeutungen und Repräsentationsmodi neu auszuhandeln.29 Aus diesen theoretischen Überlegungen leitet sich die Frage nach den ästhetischen Strategien an den Forschungsgegenstand ab. Um die künstlerische Zusammenarbeit der Akteur_innen ästhetisch erfassen zu können, werde ich im Folgenden die zwei Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ exemplarisch analysieren, um der Frage nachzugehen, welche ästhetischen Strategien und thematischen Setzungen darin privilegiert wurden. Anhand dieser Erkenntnisse lassen sich Überlegungen dazu ableiten, welche Effekte diese Inszenierungen potentiell erzeugen. Die zwei Stücke analysiere ich inszenierungsanalytisch anhand der Kategorien Struktur, Schilderung des Anfangs, wiederkehrendes Thema, Raum, Zeit, Mimik, Gestik und Bewegung sowie Interaktion der Performer_innen, um die ästhetischen Strategien sichtbar zu machen. Allerdings ist es dabei ebenso notwendig, die Besonderheiten jeder Inszenierung im Blick zu behalten. Dabei ist ausschlaggebend, dass die Wahrnehmung der Kunst von Seiten der Analysierenden wesentlich durch die Sozialisation und die Konditionierung des eigenen Blicks geprägt ist, wodurch immer der Ort des Sprechens und Wahrnehmens markiert ist. Methodisch sei diesbezüglich außerdem angemerkt, dass ich sowohl durch leibliche Ko-Präsenz am Bühnengeschehen teilnahm, als auch später auf das videografische Dokumentationsmaterial zurückgreifen konnte.

I NSZENIERUNGSANALYSE „D ANCE M OVE U RBAN S PACE “ Die Inszenierung „DanceMove UrbanSpace“ wurde am äthiopischen Nationaltheater in Addis Abeba aufgeführt. Dem voraus ging eine wirksame und breitangelegte Öffentlichkeitsarbeit von Seiten des Goethe-Instituts, die mittels einer extravaganten Plakat-Kampagne auf die Aufführung aufmerksam machte. Die Fotografien der Plakate, produziert von Natalie Bertrams, zeigten junge, teils bekannte Performer_innen und teils durch Kleidungsstil, Habitus oder extravagante Haarfrisuren optisch auffallende Künstler_innen in gehaltenen Tanzposen inmitten einer Baustelle. Die Fotos fixierten den sich rasant verändernden urbanen Raum von Addis Abeba und die junge Generation Äthiopiens in einem visuellen Image und deuteten so bereits auf die Thematik des Stadtraums (‚urban space‘)

29 Vgl. Lin, 2010, S. 66; Moser, 2011, S. 45.

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hin. Dabei war es dennoch ebenso wichtig, im Titel der Inszenierung und in der fotografischen Repräsentation die Dimension der Bewegung (‚move‘) zu integrieren, was mehrfach gedeutet werden kann. Zum einen ist es eine Neubewertung und demonstrierte Wertschätzung der Kunstform Tanz als Bewegung und Ausdrucksmittel, was in Äthiopien sehr wohl von vielen Kunstschaffenden in Form von Zeitgenössischem Tanz, Breakdance, Trad HipHop etc. praktiziert und produziert wird, jedoch kaum auf staatlichen Bühnen sichtbar wird und nur wenig gesellschaftliche Anerkennung findet. Zum anderen verweist die Idee der Bewegung auf die Komponente der sozialen und städtischen Bewegung und deutet sowohl die Themenfelder der Urbanisierung, der Landflucht, der Arbeitsmigration und der Transformation städtischer Räume an, welche dennoch auch die Möglichkeit einer sozialen Reformbewegung in sich bergen. In diesem Sinne ist ‚Bewegung‘ im übertragenen Sinne auch als soziales und politisches Phänomen zu verstehen. Dies ist insofern nicht zu unterschätzen, da zu dem Zeitpunkt der Aufführung „DanceMove UrbanSpace“ die Protestbewegungen des arabischen Frühlings weitreichende Veränderungen zu verheißen schienen – und für latente, subtile oder offene Anspannungen in Ländern weiterer Regionen sorgten. In diversen Zeitungen und Radiosendern Addis Abebas gab es Ankündigungen für das Stück „DanceMove UrbanSpace“. Die Tickets waren gratis, um einen barrierefreien Zugang zu ermöglichen. Diese Vorbedingungen führten dazu, dass am Tag der Aufführung hunderte von Zuschauer_innen sich vor dem Nationaltheater versammelten und innerhalb kürzester Zeit 1400 Sitzplätze und weitere Stehplätze belegten. Das Publikum setzte sich zum überwiegenden Teil aus jungen Äthiopier_innen im Alter von 15 bis 30 Jahren zusammen. Struktur der Inzenierung Die Inszenierung besteht aus einer montierten Szenencollage mit insgesamt 14 Szenen. Die Szenenwechsel sind entweder durch Soundveränderungen, Lichtveränderungen oder lediglich durch Auf- und Abtritte von Performer_innen eindeutig erkennbar. Somit sind sowohl das Montageprinzip des Stücks als auch die szenischen Einzelteile wahrnehmbar, wobei die Elemente nicht eindeutig verbunden werden und auf dramaturgischer Ebene keine kausale Handlungslogik oder gar Fabel vorgeben. Der Eindruck des Fragmentarischen und die Abkehr von eindeutiger, bedeutungsstiftender Sinnproduktion werden durch den Verzicht auf Text und Sprache verstärkt. Die Dominanten dieser Inszenierung sind Körperlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit.

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Schilderung des Anfangs Der Zuschauerraum ist verdunkelt. Die Bühne ist unbeleuchtet und der Vorhang geöffnet. Zwischenzeitig ertönt in der anfänglichen Unruhe des Publikums ein Klatschen, Pfeifen oder Rufen von Seiten diverser Zuschauer_innen. Es folgt kurzes Aufflackern des Bühnenlichts – ohne, dass ersichtlich wird, ob es stilistische Absicht oder ein technisches Versehen ist. Einige Zuschauer_innen reagieren daraufhin stimmlich mit einem Kreischen. Die visuelle Wahrnehmung wird durch den abrupten Wechsel von Licht und Dunkelheit kurz irritiert. Plötzlich geht das Bühnenlicht an. Die Beleuchtung der Bühne besteht aus zehn tief herunterhängenden, sich bewegenden Glühbirnen, die in ihrer eigenen Dynamik unkontrolliert hin und her schwingen. Obwohl das Bühnenlicht hereingefahren ist, bleibt es gedämpft und taucht die Bühne in schwaches gelb-weißes Licht. Die riesige Bühne ist leer – ein gigantischer Raum, der weder durch Requisiten oder Installationen noch Hintergrundbemalungen definiert ist. Dadurch wird kein spezifischer Raum abbildend vorgegeben, sondern der Raum erscheint als das, was er ist – eine leere, halbdunkle, tiefe und sehr breite Bühne. Nur Silhouetten von nebeneinander aufgereiht stehenden Menschen, die sich in Zeitlupe vom hinteren Bühnenbereich frontal auf das Publikum zubewegen, sind sichtbar. Da sie ihre Gehbewegungen extrem langsam ausführen und eine Zeitdehnung durch Verzögerung von Bewegungsimpulsen (‚slow motion‘) künstlich erzeugen, erscheint die Atmosphäre der ersten Szene irreal – wie ein Phantasma oder ein düsteres Bildes des Unbewussten. Diese Atmosphäre weicht von der alltäglichen Dynamik der umgebenden Metropole ab, denn die verlangsamten Bewegungen der Performer_innen bilden einen extremen Kontrast zu den rasanteren, stetigen, eiligen Bewegungen der Menschen im realen Stadtraum außerhalb des Theaters. Kombiniert werden minimalistisch angelegte, kinästhetische Abläufe mit reduzierten visuellen Zeichen des Raums in Form schwingender Glühbirnen und einer leeren Bühne sowie mit akustischen Zeichen eines psychedelisch-elektronischen Sounds, der einen fragmentarischen Klangteppich mit vereinzelt auftauchenden Elementen wie Gesprächsfetzen, das Ticken einer Uhr, Schläge eines Metronoms oder Echos hörbar werden lässt. In der Betonung des Bruchs zur realen Außenwelt erscheint das minimalistisch-reduzierte Bühnengeschehen durch diesen Anfang als die Behauptung einer artifiziellen Welt oder eines Modells, in dem die erzeugten Zeichen der Bühne überwiegend selbstreferentiell angelegt, aber auch referentiell in Bezug auf eine umgebende Realität wahrgenommen werden können.

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Die Zuschauer_innen sehen sich schweigend eine atmosphärisch düstere Szene an, die ca. fünf Minuten andauert und eine Konzentration auf nur drei signifikante Bewegungselemente entäußert, die die Performer_innen synchron ausführen. Durch Körpertechnik und die Gruppierung von Tänzer_innen im Raum erscheinen sie in der Formation als eine auf das Publikum zukommende Wand. Sie erzeugen diese Wirkungen, indem sie den Schwerpunkt ihres Körpers durch Beugen der Knie und Konzentration auf ihr Zentrum weiter nach unten verlagern und die Oberkörper aufrecht halten, während sie ihre Beine minimal nach vorne bewegen. Die einzelnen Schritte werden nah am Boden langsam ausgeführt und sind dadurch kaum wahrnehmbar. Nach Verstreichen einiger Zeit wird deutlich, dass die Performer_innen zusätzlich ihre zu Fäusten geballten Hände ganz langsam öffnen, so dass ihre Handflächen allmählich sichtbar werden. Sie verändern außerdem sukzessive ihre Mimik von einem neutralen Gesichtsausdruck über das Öffnen der Münder hin zu einem kollektiven Schrei, der jedoch stimmlos ausgeführt wird. Schließlich verharren die Performer_innen nah am Bühnenrand in einer stark angespannten Körperposition mit aufgerissenen Augen, angespannter Gesichtsmuskulatur, weit offenem Mund und dem Zeigen ihrer inneren Handflächen. Währenddessen werden an der Bühnenrückwand die überdimensional großen Schatten ihrer Körper sichtbar. Als sie am vorderen Bühnenrand für kurze Zeit in dieser Position verharren und einen nur visuell wahrnehmbaren Schrei kollektiv präsentieren, löst sich die konzentrierte Anspannung plötzlich von Seiten des Publikums durch dessen lautes Toben, Dröhnen, Kreischen, Grölen, Klatschen und Pfeifen auf. Diese Reaktion, die zwar aus den inszenatorisch gesetzten Impulsen folgt, entlädt sich jedoch erst in der Aufführung im Zusammenspiel zwischen Performer_innen und Zuschauer_innen. Wiederkehrendes Thema Das wiederkehrende Thema der Aufführung entäußert sich als motivische Reihung in verschiedenen Formen, wird allerdings in der zweiten und der letzten Szene des Stücks besonders deutlich. Aus einem Schwarm löst sich ein Tänzer, geht zielgerichtet zur Bühnenmitte, macht abrupt eine viertel Drehung und bewegt sich geradezu Richtung Publikum. Er bleibt mit frontaler Ausrichtung stehen, dreht seinen Kopf nach rechts, hält die linke Hand am Herzen und führt eine pantomimische Geste des Umblätterns von Buchseiten aus. Durch die Platzierung seiner Hand erscheint es aber, als würde er an seinem Herzen blättern. Dann ändert er die Position und blättert an seinem Ohr, an seinem Kopf, an seinem Bauch, im Außenraum mit ausgestreckten Armen etc. Eine Irritation der Wahrnehmung wird durch diese Bewegungsabläufe hervorgerufen, da zwar die

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Gestik erkennbar und einem Alltagsgeschehen zuzuordnen ist, aber gleichzeitig am Körper oder im Raum von den Tänzer_innen (de-)platziert und isoliert von jeglichem Kontext ausgeführt wird. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten für verschiedene Assoziationsketten. So ließe sich das Blättern am Kopf womöglich als Freilegen von Erinnerungs- oder Gedankenschichten interpretieren. Das Blättern am Ohr lässt vielleicht zuvor wahrgenommene Gespräche wieder hörbar werden und das Blättern im Außenraum provoziert eine Assoziation des Umblätterns hin zu neuen Realitäten. Da die Performer_innen dazu stetig die Ausrichtung des Kopfes ändern und den Blick abwenden, wirken die Ausführungen ihrer Gesten ungelenk und gedankenverloren – als würden sich die Bewegungen unabhängig ihres Willens quasi selbst erzeugen, was den Eindruck der Entpsychologisierung der Figuren bewirkt. Eine andere Performerin winkt pausenlos in verschiedene Richtungen und modifiziert die Bedeutung des Winkens durch Positionsänderungen ihrer Hand. Dadurch erscheint dieselbe Bewegung mal als Winken zum Abschied, mal als Fächern von Luft und mal als Verstecken des Gähnens trotz stetig gleichbleibender Bewegung der Hand. Ein Performer führt eine pantomimische Handlung aus, die an das Verschließen eines Reißverschlusses erinnert. Indem er jedoch diese konkrete Bewegungsfolge an verschiedenen Körperteilen ausführt, erzeugt er Ebenen der visuellen Metaphorik. Durch die Kombination seiner Bewegungen in der Nähe unterschiedlicher Körperteile sieht es aus als verschließe er sich den Mund, den Kopf, den Bauch, das Ohr sowie das Auge. Eine Tänzerin deutet auf etwas mit gehobenem Zeigefinger, während sie sich den Mund zuhält. Dabei variiert sie die Richtung ihres ausgestreckten Armes und richtet u.a. direkt ihren Zeigefinger auf andere Personen im Raum. Ein Performer kriecht in verschiedenen Positionen am Boden entlang und nimmt die Perspektive von unten ein. Ein anderer klopft permanent an verschiedenen Körperteilen und im Umraum bzw. an Körperteilen anderer Performer_innen. Ein Tänzer greift stetig nach etwas, während ein weiterer eine Geste des Fütterns ausführt. Ein anderer Performer imitiert Bewegungen des Tippens auf einer Schreibmaschine, verlagert dann diese Handlung auf den Boden, in den Umraum, auf den Rücken eines Anderen etc. Einige Tänzer_innen führen gestische Bewegungen des stetigen An- und Auskleidens vor. All die Performer_innen führen isoliert voneinander unterschiedliche Gesten in differenten Tempi aus, was eine Heterogenität der simultan ausgeführten Handlungen erzeugt, jedoch in der Fülle kaum wahrgenommen werden kann. Zuschauer_innen werden in ihrer Wahrnehmung überfordert, gleichsam mit dem Fragmentarischen jeder Wahrnehmung konfrontiert und dazu angeregt, die Synästhesie der Fragmente dieses Bühnengeschehens selbst zu leisten. Indem die

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Bühnenhandlungen kaum bedeutungsstiftende Sinneinheiten erzeugen, werden außerdem die Blicke der Zuschauer_innen dahingehend provoziert, ein Spektrum nicht-mimetischer Körpersprache auf sich wirken zu lassen. Die Gesten und Bewegungen werden zunächst nahe des eigenen Körperumraums von den Tänzer_innen zu treibendem elektronischem Sound performt, jedoch zunehmend mechanisiert, in den Umraum verlagert, in verschiedenen Körperpositionen ausgeführt und in Kombination mit anderen Performer_innen gespiegelt, gebrochen, kombiniert und variiert. Dabei bewegen sich die Perfromer_innen nicht synchron, sondern ändern individuell stetig die Richtung ihres Ganges, die Ausrichtung ihres Kopfes und die Formation im Raum. Der Blick der Zuschauer_innen wird dadurch zusätzlich irritiert, da er nicht gelenkt einem Geschehen nach dem anderen folgen kann, sondern gleichzeitig viele unterschiedliche und parallel ablaufende visuelle Eindrücke erfassen muss. Die ästhetische Strategie besteht darin, Gesten des städtischen Alltags ausschnitthaft wie unter einem Mikroskop zu vergrößern und zu verfremden – wie man sie teils in jeder anderen Metropole und teils speziell nur in Addis Abeba beobachten kann. So ließe sich das Winken als Geste des stetigen Abschieds von Freunden interpretieren, die zeitweise oder endgültig das Land verlassen. Das gegenseitige Füttern und Nähren (‚gurscha‘) ist eine Geste, die gesellschaftlich im äthiopischen Alltag Relevanz hat, da gemeinsame Freunde, Liebespaare und andere Personen sich mit dem ‚‚gurscha‘ gegenseitig ihre Nähe, Zuneigung und Verbundenheit demonstrieren. Das Verschließen des Mundes, des Ohres, des Auges kann mit dem Schweigen, dem Wegsehen und dem Weghören in einer engen politischen Realität assoziiert werden. Das Zeigen auf etwas oder jemanden lässt Interpretationen hinsichtlich einer Sozialkontrolle zu. Es kann ebenfalls an das religiöse Tabu erinnern, über dritte Personen negativ zu sprechen. Aber diese Geste kann auch politisch als ein Zeichen für Denunziationen interpretiert werden. Das Kriechen auf dem Boden weckt Assoziationen an Umsiedlungsmaßnahmen verarmter Bevölkerungsgruppen. Das Tippen auf Schreibmaschinen für das Verfassen von Schriftstücken ist einerseits in Büro-Marktständen auf den Straßen zu beobachten und weckt andererseits Assoziationen an einen perfekt funktionierenden, bürokratischen Apparat. Obwohl man solche oder ähnliche Situationen stetig in Addis Abeba beobachten und erleben kann, erscheinen die einzelnen Bewegungselemente in diesem Stück stark verfremdet durch das spezifische Ausführen dieser Gesten mittels Isolation von Körperpartien, die Wechsel der Bewegungstempi und der Raumrichtungen, die Variationen der Kraftausübung und die Kombination der Bewegungsmuster, die in Interaktion mit anderen handelnden Performer_innen entstehen. Das physische Abbilden des Tippens auf einer Schreibmaschine zum

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Beispiel ist deutlich, wenn es kurzzeitig pantomimisch dargestellt wird und realitätsabbildend erscheint. Aber wenn der Performer diese Bewegung z.B. auf dem Rücken liegend in der Luft, an seinem Bein, neben seinem Körper, auf dem Körper eines anderen Tänzers mit enormer Kraft in die Tasten hauend oder in extremer Langsamkeit ausführt und zusätzlich diese Geste durch die Isolation der Kopfbewegungen noch verfremdet, wird diese im städtischen Alltag zu beobachtende Gestik auf der Bühne stark verzerrt. Insofern sind die Bewegungen größtenteils nicht mimetisch abbildend, sondern durch Repetition, Duration und Variation modifiziert. Die isolierten Gesten erscheinen wie unter einer Lupenoptik vergrößert, verzerrt, neu kombiniert, ineinander verschränkt und übereinander geschichtet. Die Deutungen der Gesten bleiben abhängig von eigenen Kombinationsmöglichkeiten der Zuschauer_innen, welche dahingehend aktiviert werden, die einzelnen Fragmente beliebig zu montieren und sie in Bezug auf die umgebende Realität zu deuten. Da die Handlungen nicht-mimetisch und nicht an narrativen Strukturen gebunden sind, werden sie erst in der Regie des eigenen Blicks zu Fetzen einer vieldimensionalen Realität, was die Zuschauer_innen zu KoAutor_innen des Geschehens macht. Indem durch stetige Bewegungsveränderungen das Transitorische als Prinzip betont wird, sind physisch produzierte Bilder außerdem meistens nur extrem kurzzeitig erfahrbar. Und die Bewegungsausführungen können selbstreferentiell wahrgenommen oder referentiell gedeutet werden. Gerade dadurch wird jedoch der Raum der eigenen Produktion auf Seiten der Zuschauer_innen und der Raum der Ambivalenz auf Seiten der Kunstschaffenden eröffnet. Formen der physischen Artikulation können Bilder, Projektionen, Irritationen oder Fragen hervorrufen, weil sie relativ vage bleiben und zwischen Konkretem und Abstraktem oszillieren. Dennoch werden sie von Seiten der Zuschauer_innen gesehen, verkettet und gedeutet, ohne dass ihre Bedeutungsebenen von den Künstler_innen eindeutig fixiert oder limitiert werden. So kann beispielsweise die Szene, in der drei Frauen mit Schirm quer über die Bühne gehen, aufgrund des Requisits Assoziationen an die täglichen Gänge der Frauen in die orthodoxen Kirchen Addis Abebas hervorrufen, das Einsacken der Tanzkörper auf der Bühne an soziale Lasten oder an physische Schwäche aufgrund der Hitze erinnern, dennoch bleibt es seitens der künstlerischen Produktion ein Gehen der Tänzerinnen im Hintergrund der Bühne, welches durch Brüche der Gehbewegung, kurzzeitiges Anhalten des Bewegungsflusses, Verlagerung des Körperzentrums und des Körpergewichts, Fallenlassen des Schritts und des Kopfes verfremdet wird. Indem die Bewegungen, der Raum und die Zeit nicht eindeutig determiniert werden, eröffnen sich unzählige Deutungsräume, die weder kontrolliert noch sanktioniert werden können.

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In diversen Szenen werden Facetten und Teilaspekte des städtischen Lebens wie soziale Ko-Existenz, Beziehungen, Kommunikation oder Infrastruktur bruchstückhaft thematisiert und ineinander verschränkt. In einigen Szenen sind die Bewegungs- und Tanzelemente, bestehend aus Spins, Drehungen, Sprüngen, Fallen oder Schreiten recht abstrakt und erzeugen Eindrücke von Bewegungsart und Bewegungsfluss im Raum. Darin wird vorranging mittels akustischen Zeichen auf der Ebene der Musikalität der Eindruck des Sich-Bewegens-imStadtraum erzeugt. Das Hören akustischer Fragmente wie das An-, Ab- und Vorbeifahren von Autos, das Hupen von Fahrzeugen oder Gesprächspassagen vorbeigehender Passant_innen lassen sich aufgrund der konkreten Ähnlichkeit mit Urbanität assoziieren. In anderen Szenen ist der eindeutige thematische Bezug zum städtischen Raum offensichtlich. In der vierten Szene beispielsweise, in der vier Performer_innen in einer Formation des Rechtecks stehen und die Namen der MinibusEndstationen von Addis Abeba rufen, begleiten sie mit ihren Stimmen die als Schwärme sich bewegenden Menschengruppen. Allein durch die akustischen Zeichen, nämlich das Rufen von bekannten Bezirksbezeichnungen Addis Abebas wie Arat Kilo, Mexiko, Siddest Kilo, Piazza, Bole, Kassanchis etc. wird die Stadt auf der Bühne erzeugt, die sich u.a. durch spezifische Infrastrukturbedingungen, Transportbedarf und räumlicher Expansion auszeichnet. In dieser Bewegungssequenz enthalten sind physische Zeichen wie Laufen, Drängeln, Schieben, Schupsen oder Klettern diverser Performer_innen und das Ziehen, Stützen und Heben von einem Performer, der sich mit gekrümmter Körperhaltung langsam durch den Raum bewegt. Diese mimetischen Handlungen verdeutlich einander scheinbar widersprechende, dennoch gleichzeitig auftretende Phänomene wie soziale Auseinandersetzungen aufgrund mangelnder Mitfahrgelegenheiten und das Kämpfen um Sitzplätze in Bussen, aber auch die stetige Solidarität, die fürsorgliche Hilfe und der gegenseitig bekundete Respekt, der im urbanen Mikrokosmos Minibus erfahrbar wird, wenn für das Wohlergehen von älteren Menschen oder schwangeren Frauen Verzicht geübt und der eigene Sitzplatz wieder geräumt wird. Solche Szenen, die punktuell mit Elementen der Nachahmung und Ähnlichkeit operieren, begeistern anscheinend das Publikum, welches mit Klatschen und mehrfachem Jubeln und Lachen direkt darauf reagiert. Andere Szenen thematisieren den Teilaspekt der zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen in der Stadt. Eine Szene, die mit enormer Reduktion der Zeichendichte und mit dem Prinzip der Zeitdauer operiert, zeigt im hinteren Bühnenraum eine Frau, die ihren Kopf tief neigt und an die Brust eines ihr gegenüber stehenden Mannes lehnt. Die beiden Performer_innen bewegen sich im ‚slow motion‘ rückwärtsgehend und sich einander fixierend auseinander.

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Während dessen bewegen sich im vorderen Bühnenteil zwei Trios mittels Kontaktimprovisation, die sukzessive Veränderungen ihrer Beziehungskonstellation durch das Prinzip der Nähe und Distanz bzw. der Zu- und Abwendung ihrer Körperhaltungen vollziehen. Ihre jeweiligen Beziehungen werden ausschließlich anhand der Körperpositionen zueinander und anhand der Bewegungsaktionen miteinander veranschaulicht, bei denen das Prinzip einer kontinuierlichen Metamorphose erfahrbar wird. Diese physische Interaktion der Performer_innen eröffnet neben symbolischen Konnotationsmöglichkeiten auch sinnliche Wahrnehmungsdimensionen, weil die Performer_innen nicht vorgeben, eine Rolle, einen Typus oder eine Figur innerhalb einer narrativen Handlungslogik zu repräsentieren, sondern miteinander körperliche Interaktionen im Hier und Jetzt ausführen, die durch die Zeitdauer intensiviert werden. Ihre Interaktionen erzeugen – abhängig von der individuellen Erfahrungswelt der Zuschauer_innen – potentiell differente Bilder, Erinnerungen und Gedächtnisspuren zwischenmenschlicher Erlebnisse. Anhand des Bewegungsablaufs des sich räumlich trennenden Paares im Bühnenhintergrund können Assoziationen um das Dilemma von Liebesbeziehungen kreisen. Die Fragilität von Beziehungen, die stetigen Wechsel in Sozialbeziehungen und die hohe Fluktuation von Bezugspersonen, die in Metropolen bekannte soziale Erscheinungen sind, sind räumlich keineswegs begrenzt und ebenso Teil einer komplizierten Realität in Addis Abeba. Das legt die Resonanz des Publikums nahe, welches am Ende dieser Szene jubelt und klatscht. Kurz vor Schluss wird in einer weiteren Szene das Motiv der Beziehung als Relation zwischen Individuum und Kollektiv aufgegriffen. Ein Performer steht in der Mitte einer großen Gruppe von Personen, die ihn umzingeln, mit ihren Blicken fokussieren und sich ihm mit kraftvollen Stoß-, Greif-, Schlagbewegungen der Arme, Wendungen des Torsos und Bewegungen der Hüfte nähern, während er kontrastiv dazu geschmeidige Bewegungsabläufe meditativ ausführt. In dieser Bühnenhandlung eines sozialen Beziehungsgeflechts können Assoziationen zu der Diskrepanz zwischen Anpassung und Bevormundung, Integration und Marginalisierung, Normierung, Abweichung und Individualität entstehen, die auf mögliche Konfliktpotentiale des sozialen Zusammenlebens verweisen. Am Ende des Stücks „DanceMove UrbanSpace“ wird eine umfassende Variation des wiederkehrenden Themas deutlich, wenn durch partielle Repetition erneut einzelne Gesten des vorherigen Bewegungsvokabulars ausgeführt werden. Durch die starke Reduzierung des gestischen Materials und die synchrone Ausführung werden die einzelnen gestischen Bewegungen deutlicher sichtbar – das Tippen auf einer Schreibmaschine, das Zeigen des Fingers, der zugehaltene Mund, der lautlose Schrei, das Blättern von Buchseiten und das gegenseitige Nähren (‚gurscha‘) etc., jedoch auf Ebene der Zeitlichkeit beschleunigt und

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rhythmisiert und im Zusammenspiel mit anderen Performer_innen verdoppelt, gespiegelt oder gebrochen. Raum Eine raumästhetische Entscheidung war es, die Bühne des Nationaltheaters leer zu lassen. Dadurch erhält das reale Raumgefüge, dessen außergewöhnliche Größe, Breite und Tiefe wahrnehmbar ist, etwas Präsentes und Unmittelbares. Es korrespondiert mit der Erfahrung in städtischen Räumen, die häufig unüberschaubar, ausufernd und gigantisch groß wirken. Auf räumlicher Ebene wird eine extreme Reduktion der Zeichendichte vorgenommen, was einerseits im Kontrast zu der Überfülle von Zeichen, Symbolen, Hinweisen auf Verkehrsschildern oder Werbetafeln der Großstädte steht und andererseits in ästhetischer Hinsicht eine deutliche Abkehr von Bedeutungszuschreibungen signalisiert. Dieser Raum bedeutet nicht den Raum x, sondern ist in erster Linie ein Raum, der x, y, z oder a bedeuten kann. Im Hintergrund ist eine weiße Leinwand gespannt. In den Raum hinein hängen Kabel und Glühbirnen, die im Abstand von ca. zwei Metern zueinander platziert sind und die Höhe des Bühnenraums betonen. Die große Bühne wirkt karg, ist als Raumgefüge nicht determiniert und bleibt daher abstrakt. Durch diese Reduktion behält der Raum das Potential, stetig durch einzelne Theatermittel wie Anordnungen und Aktionen der Performer_innen, Musikalität und Soundfragmente oder Beleuchtung gleichermaßen temporär definiert zu werden. Der leere Raum provoziert außerdem Auseinandersetzungen mit eigenen Rezeptionshandlungen auf Seiten der Zuschauer_innen, die ihn mittels Projektionen und Assoziationen stetig selbst ergänzen und transformieren können. Nur vereinzelt agieren Performer_innen mit einem Requisit. So wird beispielsweise eine Plastikscheibe in drei Szenen eingesetzt, die optische Täuschungen in Form von Verzerrungen produziert. In einer anderen Szene bewegen sich drei Performerinnen, jeweils einen Schirm tragend, hintereinander, deren Gehbewegungen durch Einsacken und Verlieren der Balance behindert wird. Die Requisiten werden nur temporär eingesetzt und erfüllen eine visuell unterstützende Funktion für die Sichtbarmachung spezifischer Bewegungsmuster. Die Lichteinstellungen verändern sich stetig von Szene zu Szene und teilweise sogar innerhalb der Szenen. Doch die Bühnenbeleuchtung besteht im Wesentlichen aus nur zwei Beleuchtungsquellen: den Glühbirnen, die mit schwachem Licht die hintere Bühne ausleuchten und dem Frontlicht, dass am Boden der vorderen Bühne angebracht ist und in der Intensität stark variiert.

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Zeit Der Sound strukturiert die Szenenabfolge und markiert die einzelnen Szenenwechsel. Häufig werden elektronische Sounds verwendet, die ein Spektrum von Dubstep, Trip Hop, Break-Beat bis Techno abdecken. Außerdem wird mit fusionierten Klangteppichen gearbeitet, die aus Originalaufnahmen von Geräuschen des Verkehrs und umgebenden Stadtlärms oder Gesprächsfragmenten bestehen und über Lautsprecher verstärkt werden. Des Weiteren produzieren die Performer_innen selbst körperlich, stimmlich, rhythmisch und musikalisch diverse Soundkulissen auf der Bühne. Zeitlichkeit ist ein wesentliches Strukturmerkmal der Inszenierung. Durch die abrupten Wechsel der Szenen, starke Brüche thematischer Fokuspunkte in der Szenenfolge, den ständigen Wechsel des Sounds, das schnelle Tempo der Bewegungsfolgen, die Fülle und Simultanität des ausgeführten Bewegungsmaterials, die sich permanent verändernden Formationen im Raum wirkt das Stück insgesamt rasant und dynamisch. Erst nach mehrmaligem Betrachten des videodokumentarischen Materials von der Aufführung, fallen die ruhigen Momente und die zeitlichen Kontraste innerhalb der Szenen auf. Etliche Szenen basieren auf Prinzipien der Repetition von Bewegungssequenzen, Langsamkeit der Ausführungen und sukzessiv erzeugten Verwandlungen von Köperbildern, Positionen und Interaktionen. Somit werden auf zeitlicher Ebene die Prinzipien der sukzessiven Metamorphose und der abrupten Brüche miteinander kombiniert. Mimik, Gestik, Bewegung Die Mimik der Performer_innen ist weder im Zuschauerraum noch auf dem Videodokument deutlich zu erkennen. Das kann der Größe des Hauses und der Distanz der Aufnahmequelle geschuldet sein. Die Gestik dagegen ist ein Strukturmerkmal dieser Inszenierung, für die viele Gesten aus dem Stadtbild Addis Abebas gesammelt und von den Performer_innen ästhetisch vergrößert, erweitert, wiederholt, modifiziert, minimalisiert, rhythmisiert und verfremdet wurden. Besonders auffällig ist die Verwendung gestischen Materials in der zweiten und letzten Szene des Stücks. Darüber hinaus basieren die Bewegungsabläufe der Trios und Duette ebenfalls auf stark modifiziertem gestischem Material. Die Bewegungen sind größtenteils losgelöst von narrativen Handlungsmustern und entziehen sich einer Bedeutungsproduktion. Mit Hans-Thies Lehmann ließe es sich wie folgt beschreiben: „Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Köper zum Zentrum. Das zentrale Theaterzei-

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chen, der Körper […], verweigert den Signifikantendienst.“30 Nur vereinzelt gibt es mimetische Elemente in dem Stück, wenn z.B. in der vierten Szene das soziale Miteinander im Transportwesen dargestellt wird. Das in der Inszenierung verwendete vielfältige Bewegungsmaterial und Tanzvokabular entspringt nicht ausschließlich gestischen Bewegungen des Alltags, sondern auch unterschiedlichen Stilen und Körpertechniken, die mittels Kompositionsprinzip verknüpft oder fusioniert wurden. Dazu zählen u.a. Elemente des Zeitgenössischen Tanzes, des Breakdance, Crumping, Capoiera, Thai Chi und der Kontaktimprovisation. Die Bewegungstechnik der Kontaktimprovisation besteht im Wesentlichen aus Verlagerungen des Körperkontakts mit anderen Performer_innen, der nonverbalen Kommunikation untereinander, der eindeutigen physischen Impulsgabe, der gegenseitigen Resonanz, dem Spiel mit gegenseitiger Gewichtsverlagerungen und dem Rollen, Klettern, Reiben, Gleiten, Schwingen und Fallen verschiedener Tanzkörper im Zusammenspiel. Dadurch wird eine Vielfalt körperlicher Aktionen und Kombinationen produziert, die vom Wesen der interpersonellen Beziehung der Performer_innen abhängen, denn die Bewegungen werden durch ihre Interaktion miteinander gestaltet und wirken wiederum auf ihre Präsenz und Beziehung zueinander. Auf der Bühne kann es improvisiert oder aber choreographisch organisiertes und fixiertes Material sein, welches im vorherigen Arbeitsprozess gefunden wurde. Für Zuschauer_innen wird dabei vor allem das Transitorische sichtbar. Allerdings wird in der achten Szene, die auf Kontaktimprovisation basiert, auch besonders deutlich, dass eine Ambivalenz in der Wahrnehmung hinsichtlich der Differenzierungen zwischen Kunstobjekt und Künstler_innen sowie zwischen ästhetisch und persönlich motivierter Handlung erzeugt wird. Um dieses Changieren – welches zugleich künstlerisch-ästhetisches Spiel mit der Ambivalenz ist – deutlich zu machen, möchte ich folgendes Beispiel anführen: wenn in dieser Szene zwei Männer und eine Frau miteinander im Trio physisch interagieren, verändern sie ihre Köperpositionen und -haltungen ständig. Wenn ein Tänzer den Kopf auf die Schulter des anderen Tänzers legt, während die Tänzerin ihren Kopf wiederum gegen die Stirn des Zweiten presst, woraufhin der erste Tänzer sie hochhebt und entlang seiner Körperfront zum Boden gleiten lässt, während der zweite Tänzer ihr den Arm nach hinten schleudert etc. können Zuschauer_innen davon ausgehen, dass diese Bewegungsabläufe detailliert geprobt oder aber improvisiert sind – Kunst oder Realität. Die Zuschauer_innen wissen es nicht. Die Details der Bewegungsimpulse, Dynamikveränderungen und Konstellationswechsel sowie die Nähe-Distanz-Relationen,

30 Lehmann, 2011, S. 163.

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die Häufigkeit des direkten Körperkontakts, die Vehemenz der Bewegungsausführung der Performer_innen können somit auf die Beziehung zwischen den realen Personen oder auf die Beziehung zwischen den Kunstobjekten zurückgeführt werden.31 Die sinnliche Interaktion zwischen ihnen und die daraus resultierenden Effekte können als Zustände der Leiber realer Personen oder als Zustände des Körpermaterials von Kunstobjekten gesehen werden. Das ist nicht eindeutig bestimmbar und hat mit dem Phänomen von Körperlichkeit auf der Bühne zu tun, da der Körper sowohl Material des Kunstwerks als auch Leib der Künstler_innen ist.32 Indem aber bei „DanceMove UrbanSpace“ bewusst auf eine Kostümierung, Figurenkonzeption, narrative Handlungsebene, Definition der Räumlichkeit und fiktiven Zeitlichkeit verzichtet wird, tritt diese Ambivalenz verstärkt in den Fokus. Auf Ebene der Bewegung sind auch Elemente des Breakdance in dem Duett von Hawaryat Asefa und Yared Kenny in der zwölften Szene identifizierbar, welche jedoch mit anderen Bewegungsformen gemischt werden. Beide Performer tanzen abwechselnd hinter einem Vergrößerungsglas, das aufgrund der spezifischen Optik groteske visuelle Impressionen hervorruft, aber auch die minimalen, gleitenden, brechenden oder schiebenden Bewegungen am Platz und die spezifischen Bewegungsqualitäten vergrößert sichtbar macht. Die Performer verwenden u.a. die für den Breakdance typische Methode des ‚popping‘, welches durch präzise Verschiebungen verschiedener Körperpartien und der Fußpositionen den Tanzkörper mechanisch erscheinen lässt. Außerdem verwenden sie das Prinzip des ‚freeze‘ – dem stetigen kurzen Innehalten in einem Bewegungsfluss – und arbeiten mit dem Rotieren entlang diverser imaginärer Körperachsen, die als ‚powermoves‘ bezeichnet werden. Auch in anderen Szenen kann man Elemente des Breakdance identifizieren, z.B. in der fünften Szene, in der vor allem die männlichen Tänzer bodennahe Wellenbewegungen und kurzzeitiges Verharren in schwierigen Standpositionen ausführen. Darüber hinaus sind Sprung- und Bodenelemente des Breakdance und des Capoeira enthalten, die miteinander so fusioniert werden, dass sie nicht mehr eindeutig voneinander abzugrenzen sind. Die Tanztechnik des Crumping ist ebenfalls in einer Szene zu identifizieren, in der zwei Frauen und acht Männer gemeinsam in Formation synchron miteinander zu Break-Oriental-Beats tanzen. Aus dieser Formation löst sich mittendrin

31 Anm.: Zur Verkörperung im Theater basierend auf der Differenz von Körper-Haben und Leib-Sein. (Vgl. Fischer-Lichte, 2004, S. 130-160) 32 Anm.: Fischer-Lichte differenziert diesbezüglich den phänomenalen Leib und den semiotischen Körper in Anlehnung an Plessner. (Vgl. Fischer-Lichte, 2012a, S. 61)

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die Tänzerin Hermon Asfa und performt ein kurzes Solo im schnell ausgeführten Crumping-Stil, der eine Weiterführung und Fusionierung von Breakdance und Street Dance ist, für den stampfende Fußbewegungen, abrupt hochschnellende Schlagbewegungen des Oberkörpers und durch einzelne Körperteile gelenkte Wellenbewegungen markant ist. Auch die im Crumping erzeugten Bewegungsflüsse werden körpernah oder innerhalb des Körpers ausgeführt und erfordern eine enorme Präzision. Außerdem ist fragmentiertes Bewegungsrepertoire aus der Kampfkunstform Thai Chi sichtbar, die in China als Übungsserie für den Nahkampf entwickelt wurde. Der Performer Daniel Ashenafi im vorderen Bühnenraum und die beiden anderen Performer_innen im hinteren Teil der Bühne führen synchron präzise festgelegte Bewegungsabläufe des Thai Chi aus, die sie jedoch vereinzelt mit tänzerischen Elementen versetzen. Durch die Konzentration der Performer_innen, die Wendungen ihrer Köpfe, die schiebenden Hände, das Klatschen ihrer Handflächen auf den Boden, die Kickbewegungen der Beine und die Schlagbewegungen der Arme erscheint es, als würden sie mit einem imaginären Gegner kämpfen. Die unterschiedlichen Bewegungsmaterialien werden in der Produktion „DanceMove UrbanSpace“ überwiegend zu elektronischem Sound mit tiefen Bässen ausgeführt oder in Stille oder aber zu eigens produzierten Geräuschkulissen performt. Sound und Bewegung sind allerdings nicht aufeinander abgestimmt, sondern isoliert voneinander organisiert, so dass sie auch kontrastiv oder komplementär zueinander wahrgenommen werden können. Die Bewegungen werden nicht eindeutig durch Melodie, Rhythmus, Takt oder Stimmung des Sounds motiviert oder von der Musikalität beherrscht. Dass die visuellen, kinästhetischen und akustischen Zeichen unabhängig voneinander organisiert sind, kann für das Publikum in der Wahrnehmung ambivalent und irritierend wirken. Eine Kontrastierung dieser theatralen Mittel entsteht z.B., wenn in einer Szene der Performer seine Bewegungen gemächlich, gelassen, behutsam oder konzentriert ausführt und den ihn umgebenden Raum mittels seiner Körpermaße langsam durchmisst, während die Soundeffekte eine hohe Dynamik und räumliche Konfusion suggerieren. Komplementär können Sound und Bewegungsstil z.B. wirken, wenn Bewegungselemente des Breakdance und die spezifische Bewegungsqualität der Brüchigkeit durch den Sound des Break-Beats noch unterstützt werden. In der vorletzten Szene des Stücks sind die Bewegungsimpulse des Ensembles direkt auf die Musik abgestimmt während die Bewegungen des individuellen Tänzers kontrastiv zu dem Sound und zum Bewegungsfluss des Kollektivs gestaltet sind. Dadurch wird die Wirkung der Bewegungskraft auf Seiten der

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Gruppe verstärkt, weil sich die akustischen Zeichen des Sounds mit den visuellen Zeichen ihrer Bewegungsabläufe einander verdoppeln. Markant auffällig ist außerdem, dass in der siebten Szene des Stücks „DanceMove UrbanSpace“ ein Kreistanz demonstrativ vorgeführt wird, der auf Fragmenten von bekannten äthiopischen Tanz- und Gesangsmaterialien basiert, bei dem sich alle 23 Performer_innen gleichzeitig zu den von ihnen stimmlich, melodisch und rhythmisch erzeugten Soundfragmenten bewegen. Je nach Sound ändern sie ihre Bewegungsabläufe, wodurch das aus unterschiedlichen Kontexten zitierte Bewegungsmaterial in der Ausführung immer wieder abrupt abgebrochen wird. Das Bewegungsrepertoire ist Teil eines umfassenden ‚folkloristischen‘ Tanzvokabulars und gelebter Alltagskultur. Sowohl die Rhythmen als auch die Bewegungsabläufe sind vielen äthiopischen Zuschauer_innen bekannt, da diese im Rahmen von Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und Wettkämpfen ausgeführt werden. In der Inszenierung jedoch wird dieses Bewegungsmaterial nur angedeutet, fragmentarisch zitiert und immer wieder abrupt beendet, was sich als ein widerständiger Gestus in der Kunstpraxis gegenüber essentialistischen Vorstellungen deuten ließe.

I NSZENIERUNGSANALYSE „P LAY

WITH THE

S ENSES “

2012 wurde die Inszenierung „Play with the Senses“ von zwölf Performer_innen erarbeitet, als ein ‚work-in progress‘ auf dem Gelände des Goethe-Instituts aufgeführt und von ca. 250 Zuschauer_innen besucht. Die Öffentlichkeitsarbeit für dieses Projekt wurde mittels Bekanntgabe durch den Newsletter des Instituts und durch Werbung im Radio vorgenommen. Der spezifische Kontext dieser Inszenierung ist dadurch gekennzeichnet, dass das Stück zum 50. Jahrestag des Bestehens des Goethe-Instituts Addis Abeba aufgeführt wurde und dieses Jubiläum als Anlass der Produktion diente.33 Struktur der Inszenierung Die Inszenierung „Play with the Senses“ besteht aus einer montierten Collage mit insgesamt neun Szenen. Die Szenenwechsel sind durch die Organisation eines Zuschauerparcours, das Wechseln der Räumlichkeiten und die Ansagen von Performer_innen eindeutig erkennbar. So bewegen sich die Zuschau-

33 Vgl. Köppen: Interviews Yared Kenny, S. 2, 4; Köppen: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012, S. 6, 7, 9 f.

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er_innen langsam von Szene zu Szene durch den Raum – vom Vorgarten über das Seitengelände zum Hinterhof des Goethe-Instituts, durch den Saal, entlang der Seitenmauer und wieder zurück zum Vorgarten, wo jeweils Performer_innen unterschiedliche Aktionen durchführen. Die Szenen sind räumlich aber auch thematisch stark voneinander isoliert. So setzt sich die Arbeit wie ein ‘patchwork‘ aus verschiedenen einzelnen Teilen zusammen, die in der Wahrnehmung von Zuschauer_innen unterschiedlich organisiert werden können und sehr unterschiedliche Sinnproduktionen ermöglichen. Abhängig davon, wie Zuschauer_innen die Bewegungsabläufe visuell erfassen, sie in Bezug zueinander oder zu Handlungen in vorherigen Szenen setzen, ergeben sich sehr unterschiedliche Erfahrungen dieser Kunstaktion. Da thematische Linien kaum erkennbar sind, bleibt es gänzlich der Entscheidung der Zuschauer_innen überlassen, ob sie die parallel in Erscheinung tretenden Bewegungen und Sprachhandlungen der Performer_innen als in einem Zusammenhang befindlich anerkennen. Es bleibt ihnen überlassen, die Elemente anhand einer internen Handlungslogik assoziativ zu organisieren und zu hierarchisieren oder die Elemente losgelöst voneinander als solche wahrzunehmen. Schilderung des Anfangs Die Zuschauer_innen sitzen am Abend im Vorgarten des Goethe-Instituts auf niedrigen Holzstühlen im Gras unter freiem Himmel. Sie sehen sich gegenseitig und die Performer_innen, die im 3x3m Wasserbassin des Gartens mit Rücken zum Publikum sitzen, Luftballons aufblasen und diese ins Wasser hinter sich fallen lassen. Im Hintergrund läuft leise Reggae-Musik. Es ist nicht klar, ob diese Handlungen inszenierungstechnisch intendiert sind und zum szenischen Ablauf gehören oder privat ausgeführt werden, was bedeutet, dass nicht eindeutig erkennbar ist, ob das Kunstereignis bereits beginnt. Die so erzeugte Irritation ist Ergebnis einer künstlerischen Strategie aus dem postdramatischen Theater, die darin besteht, die vage Trennung zwischen Kunst und Leben zur Disposition zu stellen. Lehmann zufolge entspricht dieses Prinzip der „Strategie und Ästhetik der Unentscheidbarkeit“34, wodurch Zuschauer_innen in einen liminalen Zustand versetzt werden. Dieser zeichnet sich aus durch „[…] die Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat. Von dieser Ambiguität geht die theatrale Wirkung und die Wirkung auf das Bewußtsein aus.“35 Insofern werden die Zuschauer_innen von Anfang an verunsichert darü-

34 Lehmann, 2011, S. 171. 35 Ebd. S. 173.

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ber, ob sie vorrangig Teil eines bereits ablaufenden Kunstereignisses oder aber vorrangig Bestandteil einer sozialen Wirklichkeit sind. Plötzlich gehen alle Performer_innen – außer einer – weg. Die dort verbleibende Performerin, Nuria Mohammed, trägt ein klassisches äthiopisches, weißes Baumwollkleid mit Ornament-Bordüren. Sie tritt in das Wasserbassin und geht mit ihrem Kleid durch die schwimmenden Ballons hin und her. Sie bewegt die Ballons und bindet einige um ihren Oberkörper. Dann wird das Publikum instruiert, sich zu bewegen und einem Performer zu folgen, woraufhin sich die Zuschauermenge langsam zum Seitenflügel des Gebäudes bewegt. Dort steht ein anderer Performer mit Rücken zum Publikum und klebt in großer Kreisformation Zettel an die Außenwand, auf denen amharische Ziffern lesbar sind. Diese Installation wirkt wie eine überdimensional große Uhr aus Papier, die an der Außenwand angebracht wird. Nachdem der Performer einige Ziffernblätter glatt gestrichen hat, wendet er sich ab. Vier Tänzer stellen sich nun in zwei Reihen gegenüber auf. Die Performerin mit dem weißen Baumwollkleid stellt sich auf einen Stuhl und streckt ihre Arme aus, die sie abrupt und temporär stoppend im Uhrzeigersinn bewegt. Die Tänzer_innen gehen auf den Stuhl zu, gruppieren sich um die Performerin, welche sich auf die Schulter eines anderen Performers setzt. Gemeinsam beginnen sie synchron zu tanzen und übernehmen das Element der sich bewegenden Arme, welche die Bewegungen eines Uhrzeigers zu abstrahieren scheinen. Durch die Beleuchtungsverhältnisse, ausgelöst von der Anordnung weniger Scheinwerfer, sind große Schatten ihrer Körper und Bewegungen auf der dahinter liegenden Wand sichtbar. Die Performer_innen drehen sich plötzlich zueinander, agieren miteinander in Spiegelformation, die ihre Bewegungsabläufe im Raum verdoppeln. Durch minimale Veränderungen ihrer Körperpositionen im Raum suggerieren die Ausführungen derselben Armbewegungen nun Elemente eines Kampfes. Sie verlagern die Bewegungsqualität der ausgestreckten, zackig und abrupt bewegenden Arme zusätzlich in die Beine und marschieren dann hintereinander in der räumlichen Formation eines Karees auf und ab. Es erscheint wie die pantomimisch-karikierte Vorführung einer militärischen Geste. Nachdem sich nun einer der Performer_innen auf den Stuhl setzt, wird er von anderen in die Höhe gehoben, die seinen statisch gehaltenen Körper durch den Umraum bewegen. Zusätzlich wird ein Schirm über ihm aufgespannt. Dieses Bild lässt die Interpretation einer Darstellung von Machtverhältnissen zu, die räumlich und körperlich symbolisch erzeugt wird. Der Stuhl als Symbol der Herrschaftsausübung, die Geste des Schattenspendens durch den Schirm und die Statik-Bewegungsrelation können als Elemente royaler Machtrepräsentation gedeutet werden.

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Als die Performer_innen plötzlich in einem Standbild verharren, hält eine Kulturarbeiterin des Goethe-Instituts Addis Abeba rechts im Hintergrund nun eine kurze Rede für das Publikum. In der Ansprache wird bekannt gegeben, dass diese Aufführung Resultat einer künstlerischen Zusammenarbeit zwischen den äthiopischen Tänzern und Choreographen Mintesinot Getachew und Junaid Jemal Sendi mit dem südafrikanischen Choreographen Sello Pesa sei, welche in Kooperation mit dem Goethe-Institut und zehn weiteren Performer_innen einen gemeinsamen Arbeitsprozess durchliefen. Daran wird eine ästhetische Strategie des postdramatischen Theaters erkennbar, die Lehmann als „Einbruch des Realen“36 bezeichnete, und die wiederholend in der Inszenierung „Play with the Senses“ angewandt wird. Die Ankündigung kann als Teil der Inszenierung, aber auch als Teil der Kontextualisierung wahrgenommen werden. Sie verdeutlicht durch die Einbettung in ein Kunstereignis gleichsam das Theatrale kulturpolitischer Repräsentation. Die Ankündigung funktioniert wie eine Unterbrechung des szenischen Ablaufs, die der Repräsentation des Kulturinstituts und der Bekanntgabe der Autorschaft dient, ist aber zugleich Teil des Kunstereignisses. Wiederkehrendes Thema Das Erzeugen parodistisch-kritischer Momente gegenüber dem Aufführungskontext von „Play with the Senses“ kann als wiederkehrendes Thema dieser Inszenierung bezeichnet werden. Auffällig sind außerdem die Verwendung der ästhetischen Strategie „Einbruch des Realen“37 sowie der raumspezifische Ansatz in Verbindung mit der Aktivierung von Zuschauer_innen. Die ästhetische Entscheidung, im Kunstereignis den „Einbruch des Realen“38 zu gestalten, ist auch in der vorletzten Szene des Stücks zu beobachten. Zu sehen sind anfangs drei Performer auf dem Dach eines Pförtnerhäuschens, die im schwachen Licht der Straßenlampen agieren, so dass die Zuschauer_innen ihre Silhouetten, jedoch nicht die Details ihrer Bewegungsfolgen erkennen können. Der Performer Junaid Jemal Sendi steht mit einem aufgespannten Schirm unbewegt auf dem Dach, während gedämpft-langsamer, elektronischer Sound hörbar wird. Die Tänzer Bedilu Isaias und Mintesinot Getachew führen ein Duett mittels Kontaktimprovisation aus, welches durch gleichleibendes und sehr langsames Tempo gekennzeichnet ist. Für diese Bewegungssequenz charakteristisch sind die Ausführungen vieler Hebefiguren nacheinander, die lange gehalten wer-

36 Ebd. S. 171. 37 Ebd. S. 171. 38 Ebd. S. 171.

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den, wodurch stärker der statische Aspekt gehaltener Posen als der Bewegungsfluss betont wird. So verharrt der Tänzer Bedilu Isaias in einer Ruheposition auf dem Bauch des anderen, während er seinen Kopf auf dessen Knie ablegt oder der Tänzer Mintesinot Getachew liegt in einer Embryoschlafhaltung auf dem Rücken seines Tanzpartners. Diese Szene ist anfangs geprägt von Konzentration auf eine poetische Bildsprache zwischenmenschlicher Interaktionen, die durch die Langsamkeit in der Ausführung meditative Effekte erzeugen kann. Doch dann bricht plötzlich die Stimme der Performerin Meseret Jirga herein, welche durch Mikrofon und Lautsprecher verstärkt wird. Auf akustischer Ebene wird dadurch eine Störung produziert, die einen starken Kontrast zum visuell wahrnehmbaren Geschehen bildet. Die Performerin geht mit ihrem Mikrofon durch das Publikum und befragt einzelne Zuschauer_innen plötzlich, wie ihnen die Performance gefällt und was sie über zeitgenössischen Tanz denken. In dem Moment bricht erneut die Realität in das Kunstereignis ein, in der plötzlich das Publikum zu einer direkten Stellungnahme in der Öffentlichkeit gedrängt wird. Nur sehr wenige Zuschauer_innen reagieren verbal auf diese sprachlichen Aktionen; die meisten bevorzugen es, zu schweigen. Auf Amharisch erklärt die Performerin, dass in der Aufführung mit Prinzipien des zeitgenössischen Tanzes gearbeitet wird. Indem sie eine Differenz zwischen der Darstellung und dem Thematisieren des Darstellungsvorgangs vornimmt, provoziert sie eine innere Distanzhaltung gegenüber dem Bühnengeschehen. Sie durchbricht das Prinzip der Illusion und fordert eine Distanz gegenüber der vorgeführten Handlung ein. Dann erzählt die Performerin, welche Veranstaltungen am Goethe-Institut stattfinden, wodurch sie vom szenischen Raum in den realen Raum wechselt und als Repräsentantin für das Kulturinstitut auftritt. Die Äußerungen sowie die direkte Befragung des Publikums durch eine Performerin erinnert an Agitation, Unterweisung, Belehrung und Werbung gleichermaßen, was mit der jeweiligen Anweisung des Publikums, sich zu bewegen, korrespondiert. Während das Publikum der Aufforderung zum Gehen durch die Räume folgt, entzieht es sich jetzt jedoch der Aufforderung zur öffentlichen Stellungnahme. Einige Zuschauer_innen verlassen nun die Performance und nehmen somit eine Haltung gegenüber dem Kunstereignis ein, indem sie sich dieser Situation entziehen. Die Reaktion auf die Strategie des „Einbruch des Realen“ ist auch im Kontext theaterhistorischer Erfahrungen zu deuten, da Agitation und Belehrung mittels Bühnenkunst in Äthiopien lange relevant war. Die Aufforderung zur Stellungnahme im Raum des Theaters hatte während der Derg-Zeit in Inszenierungen wie „Tehadiso“ („Renaissance“) – siehe Kapitel 5 – sogar zur Selbstdenunziaton von Zuschauer_innen geführt. Insofern kann das Schweigen der Zuschau-

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er_innen und ihr Verlassen der Performance als Protest gegenüber solchen künstlerischen Verfahren interpretiert werden. Sofern die Aufklärung des Publikums über das ausländische Kulturinstitut nicht unter dem Aspekt des Didaktischen, sondern des Ironischen wahrgenommen wird, kann diese Handlung jedoch auch als selbstreflexiver Gestus der Kunstschaffenden gegenüber dem Kontext dieser Aufführung gedeutet werden. Dann verweist die sprachliche Handlung der Performerin Meseret Jirga noch auf etwas anderes: Die Entscheidung für einen Aufführungsort, der den szenischen Raum wesentlich vorgibt, ist normalerweise Teil künstlerischer Entscheidungen für den Inszenierungsablauf. Bei „Play with the Senses“ jedoch wurde der reale Raum des Goethe-Instituts als Spielort von Seiten des Instituts vorgeschlagen, dem wiederum durch die Inszenierung mithilfe eines side-specific-Ansatzes mehr öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Insofern kann diese Szene auch als kritische Reflexion der Rahmenbedingungen dieser Produktion – hinsichtlich des Jubiläums als Anlass und des Aufführungsorts – gedeutet werden. In „Play wih the Senses“ ist wiederholend eine Parodie des spezifischen Aufführungskontexts erkennbar, obwohl die damit verbundene Kritik teils auch wieder relativiert wird. Die Karikatur und Kritik der Kunstschaffenden wird in einer Szene besonders deutlich, in der sich die zehn Performer_innen dicht nebeneinander aufstellen, als würden sie für ein Foto posieren. Sie stehen aufrecht frontal zum Publikum ausgerichtet und blicken mit einem neutralem Gesichtsausdruck ins Publikum. In dieser Formation beugt sich ein Performer vor und berührt den Mund eines vor ihm auf dem Stuhl sitzenden Performers. Er zieht ihm die Mundwinkel nach oben, so dass dieser grinst und ein groteskes Lächeln zur Schau stellt – alle anderen grinsen nun ad-hoc auch. Das vermittelt den Eindruck einer gehaltenen Pose, die oft für Fotoaufnahmen kollektiv eingenommen wird. Nach dem Verharren in dieser Pose wechseln die Performer_innen ihre Position im Raum und bleiben dort erneut in einer fixierten Pose (‚freeze‘) stehen. Die gesamte Szene ist so aufgebaut, dass die Performer_innen von Standbild zu Standbild ihre eigenen Köperpositionen und die Gruppenkonstellation im Raum verändern, so dass in jedem Tableau neue Positionen und Relationen deutlich werden: so steht ein Performer tief gebeugt, während eine andere Person auf ihm sitzt. In einem anderen Tableau sitzt ein Performer breitbeinig auf einem Stuhl, während ein zweiter Performer vor ihm mit gesenktem Kopf und gebeugtem Oberkörper steht. In einem weiteren Tableau stehen ein Mann und eine Frau nebeneinander, deren Arme ineinander verhakt sind, während sich andere um sie herum gruppieren und ihre Gesten durch Impulse von außen manipulieren. Die durch räumliche Anordnungen und Körperausdruck erzeugten Relationen können als symbolische Arrangements von Machtrelationen interpretiert werden.

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Diese Szene, die überwiegend durch lang gehaltene, fixierte Posen im Raum, kurz andauernde Positions- und Konstellationsänderungen und die Symbolik differenter hierarchischer Relationen gekennzeichnet ist, wird abrupt unterbrochen durch rotes Licht, von der Decke herunterhängende Kopfhörer, psychedelischelektronischen Sound und das improvisierte Tanzen aller beteiligten Performer_innen, die sich in wechselnden Konstellationen losgelöst zu dem Sound bewegen. Die Dynamik dieser Szene bildet einen enormen Kontrast zu den zuvor stark reduzierten Bewegungsabläufen. Nun jedoch treten die Tänzer_innen erstmals in Interaktion miteinander auf und werden in ihrer individuellen Präsenz sichtbar. Jedoch positionieren sie sich abrupt erneut im Raum, als würden sie wieder für eine imaginäre fotografische Aufnahme posieren und führen dieselben wechselnden Standposen wie zuvor aus. Als einer von ihnen auf dem Stuhl platziert mit nach vorne ausgetreckten Armen aufrecht sitzt und ein anderer seine Hände korrigiert und ein weiterer eine Torte vor ihm anzuschneiden beginnt, klatschen, kreischen und singen die dahinter stehenden Performer_innen ‚happy birthday‘ mit verzerrter Melodie. Eine Performerin weist sie zurecht und sortiert nacheinander die singenden Performer_innen aus, die wegen ihres unangepassten Tons den Raum verlassen müssen, bis schließlich niemand mehr da ist. In dieser Szene parodistischer Anmerkungen wird eine Gruppe von Personen sichtbar, die bizarr grinsend den Blick geradeaus richtet. Wegen schnell wechselnden Anordnungen von Körperpositionen, den gehaltenen Standpositionen, den Blickrichtungen und der kollektiv ausgeführten Mimik des ausgestellten Lächelns ruft diese Szene Assoziationen zu fotografischen Aufnahmen von Gruppenbildern hervor. Fotografische Aufnahmen werden u.a. häufig im Kontext politischer Repräsentationen gemacht, wobei das ausgestellte Lächeln abgebildeter Personen Teil einer Konvention der Höflichkeit ist, die im fotografischen Dokument fixiert wird. Indem die Performer_innen ihr Lächeln jedoch vergrößern, erzeugen sie eine groteske Mimik, die diese Konvention zugleich unterläuft. Ebenso wird am Ende derselben Szene das Lied ‚happy birthday‘ gesungen und stimmlich von den Performer_innen stark verzerrt, so dass ihr Gesang sämtliche Melodik einbüßt. Die Geste der Gratulation kann sich auf den Kontext des 50-jährigen Jubiläums des Goethe-Instituts beziehen, welches zum Anlass der Performance erklärt wurde. Durch die Verzerrung des kollektiven Gesangs, der vielmehr einem Kreischen, Quieken oder Brüllen ähnelt, wird die Geste der Gratulation allerdings ins Absurde verkehrt. Die damit einhergehende Demonstration einer kritischen Haltung gegenüber dem spezifischen Produktionskontext ist als künstlerische Strategie zu deuten, die Arbeits- und Produktionsbedingungen als selbstreflexive Praxis in die Aufführung einzubeziehen und gleichzeitig

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eine Institutionskritik vorzunehmen. Außerdem wird es thematisch um die Komponente der Kritik von Machtrelationen erweitert, wenn am Ende der Szene diejenigen Performer_innen des Raums verwiesen werden, die besonders laut und unpassend singen. Die Szene endet schließlich damit, dass alle Performer_innen den Raum der Sichtbarkeit verlassen müssen. Das ließe sich als Metapher für die Zusammenarbeit von Künstler_innen und Institutionen deuten und als zu erwartende Folgeerscheinung bei Nicht-Einhaltung der Konventionen im Kunstbetrieb interpretieren. Die Parodie gegenüber dem Arbeits- und Aufführungskontext, der Erwartung an Kunstschaffende, der eigenen Rolle, dem institutionellen Rahmen sowie gegenüber Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts ist auch in der Abschlussszene erkennbar, bei der es zugleich zu einer Rücknahme der kritischen Haltung zu kommen scheint. In dieser Szene schreit der Performer Addisu Demissie ins Mikrofon und begrüßt euphorisch das Publikum, welches sich allmählich aufzulösen beginnt. Auf Amharisch erklärt er, dass das Goethe-Institut Addis Abeba den 50. Jahrestag seines Bestehens in der Stadt feiert. Im Vorgarten stehen vier Performer_innen, die Sporthosen und Trikots in den Farben der äthiopischen Flagge tragen. Die Läufer_innen werden vom Sprecher am Mikrofon namentlich vorgestellt, wobei sich unter diesen auch der reale Name einer äthiopischen Mitarbeiterin des Goethe-Instituts Addis Abeba befindet. Auf Anpfiff des Agitators hin beginnen die Läufer_innen mehrfach um das kleine Wasserbassin herum zu laufen, bis der Performer am Mikrofon verkündet, dass die Mitarbeiterin des Goethe-Instituts den Wettlauf gewonnen hätte. Die benannte Person befindet sich real im Publikum und erscheint aufgrund ihres Kopfschüttelns verärgert darüber, dass ihr bürgerlicher Name als Element in diesem Stück verwendet und sie in einem öffentlichen Kunstereignis vorgeführt wird. In dem Stück gewinnt die Figur mit ihrem Namen den Wettlauf, was unterschiedliche Interpretationen zulässt, die um Aspekte wie Effizienz, Ausdauer, Ressourcenzugang, Privilegien etc. kreisen können. Auffällig ist, dass auch mittels des strategischen „Einbruch des Realen“ zugleich eine Institutionskritik vorgenommen wird, die wesentlicher Bestandteil der Inszenierung „Play with the Senses“ ist. Im weiteren Verlauf der Abschlussszene wird einerseits das Jubiläum als Anlass der Aufführung ad absurdum geführt und andererseits die Rolle, die den performativen Künstler_innen dabei zugeschrieben wird, kritisch kommentiert. Die vier Performer_innen treten zu einem neuen Wettrennen auf einer geraden Raumlinie an. Dazu ertönen rhythmisch arrangierte Laute durchs Mikrofon, was die laufenden Performer_innen dazu animiert, ihre Bewegungsqualitäten zu variieren und während des Laufens Elemente aus verschiedenen Tanzstilen zu integrieren. Dann versammeln sich die Performer_innen um das Mikrofon und pro-

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duzieren durch ihre Stimmen sowie das Klatschen ihrer Hände unterschiedliche Soundfragmente und deuten je nach Rhythmus kurzweilig verschiedene ‚folkloristische‘ Tanzstile an. Durch die schnellen Unterbrechungen wirkt ihr vorgeführtes Bewegungsmaterial wie eine Zitatstrategie, in der tradierte Bewegungsabläufe kurz vorgeführt und sogleich wieder unterbrochen werden. Anschließend wird von den Performer_innen eine Sektflasche geöffnet, Wunderkerzen angezündet, geschrien und gesungen. Sie demonstrieren eine Verweigerungshaltung gegenüber den Erwartungen an sie, in dem sie die Gratulation zum Jubiläum durch Vergrößerungen der Gesten, Verzerrungen des Gesangs und stimmlicher Verausgabung am Mikrofon ins Groteske verkehren und indem sie tänzerische Bewegungsfolgen zitieren, die sie sofort wieder abbrechen. Gerade durch die stetigen Unterbrechungen des vorgeführten folkloristischen Tanzmaterials wird Raum eröffnet, einen widerständigen Gestus gegenüber einer erwarteten Rolle als Unterhaltende zu betonen. Da allerdings die Performer_innen Elemente des Slapsticks verwenden, die das Publikum zum Lachen, Pfeifen und Jubeln animieren, sowie erneut ‚happy birthday‘ singen und Wunderkerzen anzünden, führen sie andererseits die Situation des Gratulierens mehrfach vor, animieren zum gemeinsamen Feiern und bleiben stark auf das Jubiläum bezogen. Somit verweigern sie einerseits den vorgegebenen Produktionsrahmen und erkennen diesen zugleich auch an, was ihn wirkungsmächtiger zu machen scheint. Raum Raum ist eine der dominanten Komponenten in der Inszenierung „Play with the Senses“, die dem Ansatz raumspezifischer Kunstproduktion (‚side-specific‘) entspricht. Side-specific-Arbeiten sind Raumexperimente, die mittels spezifischer Interaktionen mit dem Umraum neue Rezeptionsmöglichkeiten des gegebenen Raums ermöglichen und das Kunstgeschehen von eindeutig definierten Kunsträumen loslösen sowie eine Hinterfragung der Differenz zwischen Realität und Kunstereignis provozieren.39 Der relativ großflächige Um- und Innenraum des Goethe-Instituts wurde als Aufführungsort und szenischer Raum genutzt. Es ist ein realer, fest definierter Nutzungsraum, der für das Stück verwendet und von den Aktionen der Performer_innen in Szene gesetzt wird, wodurch er zugleich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Dabei nehmen in „Play with the Senses“ die Bewegungen der Zuschauer_innen wie Gehen, Laufen, Stehen, Sitzen oder das Sich-Orientieren im Raum Einfluss auf den Stückverlauf. Diesbezüg-

39 Vgl. Kaye, 2000, S. 11.

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lich ist die Aktivierung der Zuschauer_innen, die sich von Szene zu Szene bewegen müssen, eine weitere ästhetische Strategie, die für die Inszenierung tragend ist. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Raum wird in verschiedenen Szenen vorgenommen: In der dritten Szene z.B. steht ein junger Mann im großflächigen Innenhof, der zunächst in diversen Standpositionen raumgreifende Bewegungen ausführt, bis er beginnt, Elemente und physische Anordnungen des Umraums in sein Bewegungsrepertoire aufzunehmen – so setzt er sich neben eine überdimensional große Steinskulptur in exakt derselben Pose, kopiert ihre Haltung durch seine Körperposition und erzeugt dadurch einen Dialog mit der Skulptur. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit der Zuschauer_innen auf die stetige Anwesenheit dieses Objekts als ein Merkmal der Beschaffenheit des realen Raums. Auch nutzt der Performer die Baustruktur der Treppe als Impuls für seine Bewegungssequenzen, indem er seinen Körper entlang der Treppenstufen rollt und so den Blick der Zuschauenden auf das spezifische Raumgefüge und die Form der Treppe selbst lenkt. Ebenso bewegt sich in einer anderen Szene der Performer Addisu Demissie auf einer Mauer, deren oberer Teil mit einem Scheinwerfer beleuchtet ist. Dort läuft, geht und trippelt der Performer entlang, bevor er vor einem Baum verharrt, mit dem er anschließend interagiert. Durch die körperliche Aktion und die Beleuchtung wird die Wahrnehmung der Zuschauer_innen ebenfalls auf ein gegebenes Raumgefüge gelenkt, welches im Alltag teils unbewusst bleibt. In diesen Szenen wird mit der Beschaffenheit des Raums gearbeitet und vorhandene Raumelemente sowie architektonische Formationen werden bewusst gemacht, wodurch der reale Raum einerseits neu besetzt wird und ihm zugleich eine intensivierte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zukommt. Einige Szenen, wie die im Hinterhof oder im Vorgarten, finden in unübersichtlichen Räumen statt. Indem auf theatrale Mittel wie Licht oder Sound verzichtet wird, die eine Fokussierung ermöglichen könnten, ist es Teil der Inszenierungsstrategie, die Konzeption der Blickregie und die Ordnung diffuser Sinneseindrücke dem Publikum zu überlassen. So bestehen in unüberschaubaren Räumen einzelne parallel auftauchende Aktionselemente der Performer_innen nebeneinander, die vom Auge nicht gleichzeitig erfasst werden können. Insofern wird die Blickmacht von Zuschauer_innen hinsichtlich der eigenen Fokussetzung herausgefordert und mit dem Fragmentarischen konfrontiert. In enger Verbindung zum Umgang mit Raum steht die Aktivierung der Zuschauer_innen in dieser Inszenierung, denn das Publikum wird durchgehend mittels Ansagen und dem Vorlaufen einzelner Performer_innen von Schauplatz zu Schauplatz geleitet. Zuschauer_innen können den Ansagen Folge leisten oder

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inmitten des Parcours aussteigen und das Geschehen verlassen – darin wird ebenfalls ihre Handlungsmacht erkennbar, sich gegenüber dem Geschehen zu verhalten. Einige Zuschauer_innen nutzen den Rundgang durch das Kunstgeschehen dafür, um miteinander zu sprechen, sich zu begrüßen oder SMS zu versenden. Nun sind sie es, die durch ihre eigenen Handlungen die Trennung zwischen alltäglichem Leben und Kunstereignis porös machen, so dass die fließenden Übergänge zwischen Realität und Kunst offensichtlich werden. Gleichzeitig wird durch die Aktivierung und Bewegung der Zuschauer_innen eine Abkehr von der räumlichen Konvention im Theater demonstriert und die Aufteilung zwischen Bühne und Zuschauerraum als Differenzmarkierung zwischen agierenden Performer_innen und passiven Zuschauer_innen ad absurdum geführt. Je nach Raumempfindung entscheiden Zuschauer_innen spontan über ihre Anordnung im Raum. Manchmal sind sie aufgrund der räumlichen Beschaffenheit gezwungen, ihre Position im Raum zu verändern. In einer Szene verteilen sich die Zuschauer_innen im Saal oder im Bibliotheksflügel des Gebäudes, wobei die Räume durch eine Wand voneinander getrennt sind, welche durch drei große Flügelfenster unterbrochen ist. Auf den Fensterbänken führen jeweils zwei Performer_innen stehend oder sitzend unterschiedliche Gesten aus, jedoch ist die Perspektive des Saalpublikums eine andere als die der Zuschauer_innen in der Bibliothek. Letztere können die gestischen Handlungen der Performer_innen nicht sehen, weil diese frontal zum Saalpublikum ausgerichtet sind. Daraufhin verändern einige Zuschauer_innen ihre eigene Position und bewegen sich in den Saal, um das Geschehen besser beobachten zu können. Durch diese Option werden Zuschauer_innen indirekt aufgefordert, sich zum Geschehen individuell zu verhalten. Das setzt von Seiten der Zuschauer_innen eine bewusste Wahrnehmung des Raums voraus, verlangt eine Entscheidung für das ästhetische Erlebnis und eine Aktion ihrerseits. Das Wechseln der eigenen Standposition wird nun eine von den Zuschauer_innen durchgeführte Aktion im szenischen Raum, die in die Performance eingreift und sowohl von den handelnden Performer_innen als auch von den anderen Zuschauer_innen wahrgenommen wird. Damit werden Zuschauer_innen selbst temporär zu Performer_innen, sofern sie ihre Blickachse zu optimieren beabsichtigen. Die Handlungsmacht der Zuschauer_innen wird provoziert, in dem sie in einer aktiven Rolle des Mitgestaltens, Eingreifens und Veränderns angesprochen werden. Solche Erprobungen im Erfahrungsraum Theater besitzen das Potential, politische Nebenwirkungen hinsichtlich der Beteiligung und des aktiven Eingreifens in öffentliche Prozesse zu erzeugen. Durch die Strategie spezifisch räumlicher Anordnungen der Zuschauer_innen wird auch die Subjekt-Objekt-Differenz und die damit einhergehende Machtrelation aufgezeigt, wenn z.B. in der fünften Szene die Zuschauer_innen sich außen

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an den Fenstern um einen engen Raum positionieren, der zu drei Seiten aus Glasfenstern besteht, um dem Geschehen innen beizuwohnen. In dem Raum befindet sich die Performerin Nuria Mohammed, die mit um ihren Oberkörper geschnürten Luftballons in dem Glaskasten auf- und abgeht, vor und zurück, nach links und nach rechts. Sie macht eine Pose des Laufens vor dem Start und presst ihren Körper an die Glaswände, so dass die Ballons dort platzen, woraufhin Zuschauer_innen erschrocken zurückweichen. Da die Zuschauer_innen zu beiden Seiten des Raumes positioniert sind, können sie sich gegenseitig sehen, die Reaktionen der anderen beobachten und einander ebenso wahrnehmen wie die Aktionen der Performerin. Diese Anordnung erzeugt zwei Effekte: einerseits zerstreut sie den Blick der Zuschauer_innen. Indem eine für alle verbindende Raumperspektive – gemeinsam geteilte Zentralperspektive auf ein Bühnengeschehen – aufgegeben wird, eröffnen sich unterschiedliche, individuelle und jeweils vom Standort abhängige Perspektiven. Da die Blickwinkel und Perspektiven wesentlich auf die Wahrnehmung der Zuschauer_innen einwirken und diese frei sind, zu entscheiden, welchen Platz im Raum sie einnehmen wollen, werden sie gleichermaßen dazu aufgefordert, während des gesamten Stückverlaufs Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen wiederum haben ästhetische Auswirkungen auf ihr Erlebnis der performativen Handlungen und sie verleihen den Zuschauer_innen selbst Handlungsmacht. Andererseits können mittels dieser Anordnung Blickmachtrichtungen bewusst gemacht und dekonstruiert werden. Indem eine Masse von Personen auf ein Individuum im Glaskasten blickt, werden Assoziationen an Ausstellungskontexte hervorgerufen, bei denen die Personen im Blickfeld objektiviert werden. Das war und ist eine wesentliche Komponente bei unterschiedlichen Kontroll- sowie Inszenierungsformen wie Völkerausstellungen, Striptease-Shows oder Gefängnissen, bei denen Subjekte durch den Blick anderer objektiviert, in ihrer Identität fixiert und letztendlich reduziert oder gar dehumanisiert werden. Indem die Zuschauer_innen in dieser Situation nicht nur die performative Handlung, sondern eben auch sich gegenseitig bei der Beobachtung beobachten können, wird ebenso der eigene voyeuristische Blick dieser gesellschaftlichen Situation parodiert und die Reflektion dessen durch die räumliche Anordnung der Zuschauer_innen begünstigt. Zeit Die Dynamik des Stückes ist relativ gleichbleibend und ebenmäßig; Prinzipien der Dauer und Langsamkeit werden favorisiert. Bewegungsabläufe sind gekennzeichnet durch Langsamkeit, alltägliches oder symbolisches Bewegungsmaterial und das lange Verharren in Standpositionen, was einen Minimalismus erzeugt.

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Dem gegenüber gibt es wenig variiertes, strukturiertes und eindeutig choreographiertes Bewegungsmaterial, kaum schnelle Richtungsänderungen und keinerlei dynamisch oder synchron getanzte Bewegungssequenzen. Durch diese Stilmittel verlängert sich in der Wahrnehmung die Zeitdauer der gesamten Aufführung. Indem die Inszenierung mit Minimalismus, einer Reduktion der Zeichendichte, dem Spiel mit Langeweile, Langsamkeit und enormer Zeitdauer einzelner Abläufe operiert und so Zeit verdeutlicht, in der scheinbar nichts Signifikantes geschieht, wird das Publikum mit eigenen Erwartungshaltungen an ein Kunstereignis konfrontiert. Verstärkt wird der Eindruck eines ebenmäßig gleichbleibenden Tempos auch durch das langsame Bewegungstempo der Zuschauermasse, welches die Aufführung wesentlich mitstrukturiert. Am auffälligsten ist der überwiegende Verzicht auf Geräuschkulisse und Musik, was eine gefühlte Zeitdehnung begünstigt. Sowohl für Performer_innen als auch für Zuschauer_innen ist das Ausführen sowie das Aufnehmen von Bewegungssequenzen ohne Sound sehr herausfordernd, weil die sinnliche Wahrnehmung überwiegend auf das Visuelle reduziert bleibt. Insofern wird auch auf akustischer Ebene mittels starker Reduzierung der Zeichen ein Minimalismus umgesetzt, mit dem Zuschauer_innen konfrontiert werden. Auf der anderen Seite ermöglicht der Verzicht auf akustische Sinneseindrücke wiederum, körpereigene Sounds wie das Pusten, Schnaufen oder Auftreten der Füße zu hören und innerhalb der scheinbaren Stille zufällig auftretende Geräusche wahrzunehmen. Solche Sounds werden bei „Play with the Senses“ entweder vom Publikum selbst produziert oder vom Lärm des realen Umraums erzeugt. Mimik, Gestik, Bewegung Die Mimik der Performer_innen ist durchgehend wahrnehmbar und sie ist teilweise fixiert. In einigen Szenen wird das sehr deutlich, wenn z.B. Performer_innen die Mimik der anderen Performer_innen manipulieren und zu einem grinsenden Lächeln verzerren. Gestisches Bewegungsmaterial ist für die Inszenierung signifikant. In der dritten und in der sechsten Szene z.B. werden Gesten der Gebärdensprache integriert und variiert. Außerdem werden mimetische und zitierende Gesten in der Abbildung von Herrschaftsverhältnissen oder beim Wettlauf in Form von ‚traditionellen‘ Bewegungsstilen genutzt. Auffällig beim Umgang mit gestischem Material ist außerdem die Kontrastierung unterschiedlicher Zeichen, die zeitweise Komik erzeugen. So geht beispielsweise in der dritten Szene eine Performerin in einem roten Tüllkleid im Innenhof auf und ab. Währenddessen führt sie körpernah Gesten aus, welche an physische Artikulationsmuster einer Gebärdensprache

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erinnern. Ein Mikrofon in ihrer Hand haltend führt sie Elemente der Gebärdensprache physisch vor. Das Charakteristikum der Gebärdensprache ist, kinästhetische statt akustische Zeichen zu entäußern. Insofern werden hier zwei Elemente kontrastiv gegeneinander geschnitten: das Mikrophon, welches akustische Zeichen verstärkt und ein Sprachsystem, welches ohne akustische Zeichen auskommt. Die Kontrastierung erzeugt eine gewisse Komik. Ein anderes Mal rollt sich der Performer Sello Pesa mit rot-weißem Klebestreifen ein und verklebt seinen Mund, seinen Hals, seinen Oberkörper sowie seine Beine. In dem Zustand ist es ihm unmöglich, verbal zu kommunizieren oder physisch zu agieren. Die Frau unterhält sich mit ihm in Gebärdensprache und hält anschließend ihr Mikrofon der Steinskulptur hin, die aufgrund ihrer Beschaffenheit per Definition reaktionsunfähig ist. Diese performativen Handlungen lassen sich als Demonstration einer ironischen Haltung interpretieren, die auf Möglichkeiten der Artikulationsfreiheit, der Handlungsmacht durch Sprache und der sprachlichen Verweigerung mittels Schweigen verweisen. Die Bewegungssequenzen sind teilweise narrativ angelegt wie die zweite Szene über den kontinuierlichen Verlauf von Zeit oder die sechste Szene mit dem Anschneiden der Torte, aber auch die Abschlussszene mit der Durchführung des Wettlaufs. Andere Szenen sind abstrakter angelegt und fokussieren die Bewegungen und physischen Aktionen von Performer_innen wie das Duett auf dem Dach. Der größte Teil des Bewegungs- und Tanzvokabulars entspringt Alltagshandlungen wie das Gehen, Stehen, Sitzen, Laufen, Springen, Lachen, Sprechen, Singen oder das Öffnen einer Flasche. Daneben lassen sich im Stück Elemente von Gebärdensprache, Breakdance, Thai Chi und Kontaktimprovisation identifizieren. Beinahe durchgehend agieren die Performer_innen nebeneinander, isoliert voneinander oder zeitgleich im Raum, aber nur sehr selten direkt miteinander, wodurch eine Dynamik negiert und eine Isolierung der Handlungen und der Performer_innen betont werden. Sofern Interaktionen zwischen Performer_innen doch sichtbar werden, werden diese entweder alsbald unterbrochen oder kurzweilig eine anwachsende Dynamik zugelassen, um diese dann abrupt abzubrechen.

ÄSTHETISCHE R EFLEXX X ION DER I NSZENIERUNGEN Für die Klärung meiner zentralen Forschungsfrage ist es unter Einbezug der Inszenierungsanalysen relevant, welche ästhetischen Strategien umgesetzt werden, ob mit diesen künstlerischen Strategien – das betrifft einen wichtigen Aspekt im

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Diskurs über interkulturelles Theater – tendenziell eine Universalisierung, Essentialisierung oder Hybridisierung in der Kunstpraxis betrieben wird und schließlich, welche Effekte durch diese ästhetischen Strategien potentiell erzeugt werden. Meine Untersuchung zeigt, dass in den Inszenierungen ästhetische Strategien umgesetzt werden, die Merkmale einer postkolonialen Ästhetik und einer hybriden Ästhetik aufweisen, deren Spezifika ich mit Rekurs auf die Theorien von Christine Regus, Hans-Thies Lehmann und Homi Bhabha vorab darlegte. Beide Inszenierungen weisen Merkmale einer Ästhetik des Postkolonialen auf, die Regus als postdramatisch, anti-essentialistisch und institutionskritisch definierte.40 Besonders Aspekte des Postdramatischen sind in beiden Stücken sehr auffällig, denn die Inszenierungen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ dienen nicht im konventionellen Sinn der Repräsentation eines dramatischen Textes, der Steigerung eines Handlungsverlaufs oder dem Abbilden von Realität. Jedwede Metaerzählung eines Themas wird in den Inszenierungen negiert und anstelle dessen das Fragmentarische und Partikulare mittels Montagetechniken betont, was erst von den Zuschauer_innen als thematische Sinnverkettung produziert wird. Bei „DanceMove UrbanSpace“ werden die Körperbewegungen und Handlungen im leeren Bühnenraum vollzogen. Durch den weitestgehenden Verzicht auf Requisiten, Bühnenbemalung, Kostümierung und Narration, durch die Abkehr einer Synthesis und die Parataxis der Theatermittel, in der fragmentarische Elemente nebeneinander bestehen, ohne logisch verknüpft und hierarchisiert zu werden, befinden sich Zuschauer_innen in der Situation, permanent Entscheidungen über ihre Blickregie zu treffen und individuell eine Handlungslogik unter dem Themenkomplex ‚Stadtraum‘ zu organisieren. Durch die Isolierung visueller und akustischer Zeichen, das Nutzen differenter Bewegungsstile und das Montageprinzip entsteht eine raum-zeitliche Bewegungscollage, die polyvalent ist. Indem eine Anzahl heterogener, fast ausschließlich non-verbaler Elemente in rasant wechselnden Abfolgen oder simultan auf der Bühne sichtbar gemacht werden, betont die Inszenierung das Prinzip des Transitorischen, Beweglichen und Unbeständigen. Bei dem Stück „Play with the Senses“ bleibt es angesichts der Montagetechnik heterogener Elemente, die weder eine Handlungslogik noch eine Thematik festlegen, gänzlich den Zuschauer_innen überlassen, die Handlungen, Textpassagen, Gesänge und Objekte assoziativ zu strukturieren und darüber hinaus beliebig Sinnzusammenhänge zu entwerfen. In dieser Inszenierung wird außerdem

40 Vgl. Regus, 2009, S. 268.

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stetig eine ästhetische Strategie des Postdramatischen eingesetzt, die Lehmann als „Einbruch des Realen“41 bezeichnete – beispielsweise wenn das reale Jubiläum des Goethe-Instituts thematisiert, Zuschauer_innen während der Aufführung über das Goethe-Institut informiert und zum zeitgenössischen Tanz interviewt oder wenn der Arbeitsprozess beteiligter Künstler_innen von der Institutsleitung mitten im Stückverlauf öffentlich gemacht wird. In Verbindung mit dem raumspezifischen Ansatz steht die Aktivierung der Zuschauer_innen, welche permanent einbezogen und zu Entscheidungen oder Äußerungen aufgefordert werden. Indem diese Inszenierung nicht im Rahmen eines abgesteckten Theaterraums sondern in einem konkreten Raum produziert wird, der „Einbruch des Realen“ und die Aktivierung der Zuschauer_innen mehrfach als ästhetische Mittel eingesetzt werden, erscheint die Kunstaktion vorrangig als soziale Situation und als Ort des politischen Handelns. So zeichnet sich „DanceMove UrbanSpace“ überwiegend durch Parataxis, Simultaneität, visuelle Dramaturgie und Fokussierung auf Präsenz der Körperlichkeit aus. „Play with the Senses“ operiert mit Parataxis, Simultaneität, Reduktion der Zeichendichte, Fokussierung auf konkrete Räumlichkeit und „Einbruch des Realen“. Das wiederum verweist darauf, dass ein wesentliches Charakteristikum der postkolonialen Ästhetik nach Regus – nämlich der Aspekt des Postdramatischen – elementarer Bestandteil der ästhetischen Strategien in beiden Inszenierungen ist. Darüber hinaus ist auch der Aspekt des Anti-Essentialismus sowohl in „DanceMove UrbanSpace“ als auch in „Play with the Senses“ jeweils anhand einer Szene erkennbar, in der Bewegungsmaterial ‚traditioneller‘ Tanzformen im Modus des Zitats kurz vorgeführt und sogleich wieder abgebrochen wird. Das deute ich als eine ästhetische Strategie, ein neokoloniales Begehren nach der Beschäftigung mit ‚traditionellen‘ Darstellungsformen im außereuropäischen Kontext, welche Bharucha als Teil des ‚othering‘ problematisierte42, zu konterkarieren. Mit dieser ästhetischen Strategie wird eine anti-essentialistische Haltung gegenüber performativen Kunstpraxen betont, indem die Idee einer Repräsentation ‚originaler‘ und kulturell determinierter Kunstformen und -techniken ad absurdum geführt wird. Indem die Vorführungen ‚traditioneller‘ Gesänge und Tänze in beiden Inszenierungen zitierend vorgeführt und wiederholend unterbrochen werden, wird mittels Brüchen und Stillständen potentiell dem Scheitern solcher essentialistisch-orientierten Repräsentationsmuster Ausdruck verliehen. So wird

41 Lehmann, 2011, S. 171. 42 Vgl. Bharucha, 1996, 207.

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ein Sich-Widersetzen gegen eine Essentialisierung, Vereinnahmung, Simplifizierung und Dekontextualisierung des ‚Anderen‘ öffentlich aufgeführt. Institutionskritik – das dritte Kriterium der postkolonialen Ästhetik nach Regus – ist ausschließlich in dem Stück „Play with the Senses“ zu identifizieren, wo es einen zentralen Teil der Inszenierung bildet. Dass auf der Bühne die eigene Arbeitssituation und das 50-jährige Jubiläum des Goethe-Instituts als Anlass der Produktion teils parodiert werden, verweist auf einen selbstreflexiven Umgang mit der eigenen Produktionssituation. Eine Resonanz auf die Produktionsbedingungen sowie eine institutskritische Haltung in diesem spezifischen Kontext sind in teils symbolischen und teils grotesken Handlungen der Performer_innen ablesbar, wenn z.B. Sello Pesa seinen Körper mit Klebeband verschnürt, die Performerin Meseret Jirga trotz Mikrophon ohne Stimme spricht, die Performerin Nuria Mohammed im Schaukasten ausgestellt gegen Wände läuft und Performer_innen des Platzes verwiesen werden, wenn sie den Ton bei der gesanglichen Gratulation verfehlen. Das verweist auf einen ambivalenten Subtext bezüglich der Repräsentation im spezifischen institutionellen sowie politisch-ökonomischen Kontext der Produktion und auf eine Verweigerungshaltung der Künstler_innen gegenüber einer möglichen Vereinnahmung. In beiden Inszenierungen wird außerdem offenkundig eine Ästhetik der Hybridität dadurch erzeugt, dass unterschiedliche Körper- und Bewegungstechniken nebeneinander gestellt oder miteinander fusioniert werden. Diese Ästhetik des Hybriden als die Kreation von etwas Neuem durch Vermischung von Zeichen entspricht dem Verständnis von Pavis, Balme, Regus und Pfeiffer43, die darin ein Kriterium für den gelungenen interkulturellen Austausch im Theater sehen. Allerdings unterscheidet sich dieses Verständnis der hybriden Ästhetik von Bhabhas Konzept, der den widerständigen politischen Gestus solcher Kunstproduktionen durch Thematisierung der Vergangenheit, Gestaltung von Ambivalenz, Erzeugen von Liminalität sowie Dekonstruktion binärer Logik betonte und das Moment der Verschiebung und Subversion mittels Kunst besonders hervorhob.44 In den analysierten Inszenierungen überwiegt vielmehr eine ästhetische Strategie der Hybridität im Sinne der Vermischung verschiedener Kunstelemente, -formen und -techniken. Insofern kann zunächst für die Beantwortung der Teilfrage nach den ästhetischen Strategien festgestellt werden, dass in den untersuchten Inszenierungen Strategien angewandt werden, die einer postkolonialen und einer hybriden Ästhetik entsprechen. Hinsichtlich des Aspekts, ob mit diesen Strategien tenden-

43 Vgl. Pavis, 1996, S. 8; Balme, 1999, S. 5; Pfeiffer, 1994, S. 42; Regus, 2009, S. 85 f. 44 Vgl. Bhabha, 2000, S. 5, 57.

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ziell eine Universalisierung, Essentialisierung oder Hybridisierung in der Kunstpraxis betrieben wird, komme ich zu der Erkenntnis, dass in den Inszenierungen weder explizit eine theaterästhetische Differenz in den Vordergrund gerückt, noch eine universalistische Bühnensprache zu finden versucht wird. Entgegen der theaterwissenschaftlichen Diskussion über interkulturelles Theater, die stark an einer dichotomen Konstruktion – nämlich an der Unterscheidung zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ im Theater – gebunden blieb, ist anhand des empirischen Materials und den Inszenierungsanalysen ersichtlich, dass Bewegungsmaterial nicht eindeutig dem ‚Eigenen‘ oder ‚Fremden‘ zugeordnet werden kann, wenn äthiopische, südafrikanische und deutsche Künstler_innen in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und mit der Arbeitsweise einer kollektiven Stückentwicklung Bewegungselemente aus Thai Chii, Crumping, Break Dance, Capoeira, Zeitgenössischem Tanz oder Trad HipHop miteinander sampeln, verschränken und modifizieren. Etliche Trainings- und Bewegungsformen sowie Körpertechniken lassen sich nicht mehr dem ‚Selbst‘ oder dem ‚Anderen‘ zuordnen, weil sie unabhängig von der räumlichen Verortung der praktizierenden Kunstschaffenden durch Wissenstransfer, Informationszirkulation und künstlerischer Zusammenarbeit über Jahre mobilisiert, angeeignet und variiert wurden und werden. Das wiederum verweist darauf, dass es grundsätzlich kritisch zu hinterfragen bleibt, welche ästhetischen Strategien als ‚eigene‘ bezeichnet werden können und wem diese dann zuzuordnen sind. Diesbezüglich ließe sich z.B. anhand der postdramatischen Elemente exemplifizieren, dass sie Lehmann zufolge seit ca. den 1970er Jahren im westlichen Theater zunehmend zu beobachten sind.45 Insofern könne behauptet werden, dass die in den Inszenierungen verwendeten ästhetischen Strategien des Postdramatischen darauf verweisen, dass eine in Europa etablierte – quasi ‚eigene‘ – Theaterästhetik in den Produktionen privilegiert und mittels einer westlichen Kulturinstitution wie dem Goethe-Institut in Äthiopien verbreitet wird. Dagegen sprechen jedoch folgende Argumente: Elemente des Postdramatischen können nicht ausschließlich als Teile einer ‚eigenen‘ Theaterästhetik aufgefasst werden, wenn etliche Neuerungen im europäischen Theater bereits auf diverse Aneignungsprozesse zurückgehen, die einzelne Theatermacher_innen in der Beschäftigung mit außereuropäischen Kontexten vollzogen. Somit ist auch die ‚eigene‘ Theaterästhetik immer schon eine hybride Theaterästhetik ebenso wie die ‚fremde‘ Theaterästhetik eine hybride ist. Außerdem zeigt die Beschäftigung mit Ansätzen der zeitgenössischen Kunstszene Addis Abebas, dass Künstler_innen vor Ort in den Bereichen Tanz und Performance Art selbst

45 Vgl. Lehmann, 2011, S. 27.

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mit ästhetischen Strategien des Postdramatischen arbeiten und die Dominanz des dramatischen Theaters an den Theaterhäusern als eine Form der Musealisierung teils scharf kritisieren. Daraus schlussfolgere ich, dass die Kategorien ‚eigen‘ und ‚fremd‘ Bestandteile einer dichotomen Konstruktion sind, die eine Auffassung einander abweichender und voneinander abgrenzbarer Theaterästhetiken in der theaterwissenschaftlichen Debatte um interkulturelles Theater beförderte, jedoch diese Konstruktion weder damals der Realität entsprach noch im Zeitalter einer durch digitale Medien begünstigten rasanten Informationszirkulation haltbar sein kann. Vielmehr ist das Prinzip der Hybridität als Aneignung, Mischung und Verwandlung von Bewegungsmaterial und Köpertechniken ein gängiges Prinzip in der performativen Kunstproduktion, die durch transkulturelle Verflechtungen und eine hohe Mobilität von Künstler_innen zusätzlich begünstigt wird. Und die Ästhetik der Hybridität kann u.a. dazu beitragen, die auf einer dichotomen Konstruktion basierenden Annahme ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Theaterästhetik in Frage zu stellen und ein Bewusstsein für wechselseitige, künstlerischästhetische Beeinflussungen und Verflechtungen zu stärken. Dennoch erscheint es mir angebracht, auch Überlegungen darüber anzustellen, welche kulturpolitischen Effekte solche ästhetischen Ansätze potentiell erzeugen – ohne dass diese von den beteiligten Akteur_innen intendiert sein müssen. Im Kontext der performativen Kunstproduktion in Addis Abeba, der sich u.a. durch ein relatives Spannungsverhältnis zwischen Ansätzen der freien Kunstszene und Normierungen an den staatlichen Theatern auszeichnet, kreieren Kunstund Kulturschaffende durch solche Produktionen Nischen für ästhetische Normabweichungen. Sie machen Arbeiten sichtbar, die institutionskritisch, antiessentialistisch und nicht-mimetisch sind und in denen auf dramatische Handlungslogik, Figurenzeichnung und Sprache weitestgehend verzichtet wird. Dadurch weichen sie einerseits von den kulturpolitischen Vorgaben des äthiopischen Theaterbetriebs und von den standardisierten Inszenierungsabläufen an den staatlichen Theatern ab und generieren eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für experimentelle Kunstpraxen. Andererseits nutzen beteiligte Kunstschaffende das Interesse ausländischer Kulturinstitute an der Reputation mittels Kunstförderung, um die Sichtbarkeit ihrer eigenen Ideen und Arbeitsansätze zu erhöhen, um selbst an Reputation im Feld der Kunst zu gewinnen und teils auch um institutionskritische Äußerungen vorzunehmen, die sich sowohl auf inländische als auch auf ausländische Kulturinstitutionen beziehen können. Anhand der Analyse der Inszenierungen sind überwiegend künstlerische Strategien zu identifizieren, die einer postkolonialen und einer hybriden Ästhetik entsprechen. Damit wird zugleich der institutsinterne Anspruch des Goethe-

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Instituts, in der Region ‚Subsahara Afrika‘ mittels Kunst Auseinandersetzungen zu postkolonialer Erfahrung und Hybridität anzuregen, indirekt erfüllt. Besonders in Hinblick auf die angewandte Ästhetik des Hybriden können ambivalente Effekte erzeugt werden. Die hybride Ästhetik im Sinne der Vermischung und formal-ästhetischen Transgression, die in beiden Inszenierungen in Form des Kombinierens und Fusionierens verschiedener Bewegungsstile und Körpertechniken erfahrbar ist, entspricht einem Verständnis von Hybridität, welches Kien Nghi Ha zufolge zunehmend zur kulturellen Dominante wird. „In diesem Kontext dient der Begriff der Hybridität zur Benennung einer Hoffnung auf gesellschaftliche Überschreitung ebenso wie für die Verfügbarkeit neuer kultureller Formen, die nicht länger durch modernistische Exklusion und fixierter Zugehörigkeit zu Identitäten determiniert sind. Aber die Sehnsucht nach heterogenen und transnationalen Kulturen ist nicht nur in kritischen künstlerischen oder akademischen Artikulationen wahrzunehmen, sondern auch in grenzüberschreitenden Formationen der Populärkultur innerhalb spätkapitalistischer Ökonomien. […] Zum ersten Mal in der Kulturgeschichte des Westens ist die Idee der Vermischung nicht mit Angst, Abwertung, Minderwertigkeit, Sünde oder kultureller Krise besetzt.“46

So ist ein grundlegender Deutungs- und Bewertungswandel dahingehend festzustellen, dass nun auch von Seiten westlicher Kunst- und Kulturinstitute das Prinzip der Hybridität besonders betont, affirmativ umgedeutet, positiv konnotiert und für Interessen der Selbstrepräsentation genutzt wird. Die Hybridität als Sampling und Fusionierung heterogener Formen entspricht einer Ästhetik, die Ha zufolge durch die Zirkulation von Zeichen und die Vermischung verschiedener Codes, Praktiken und Symbole erzeugt wird und sehr gut für kulturpolitische und kulturindustrielle Interessen verwertbar gemacht werden kann. So könne diese Art hybrider Ästhetik dahingehend nutzbar gemacht werden, dass mit ihr auf repräsentativer Ebene die Idee der Nation durch die Anerkennung des Hybriden erneuert und selbst aufgewertet wird.47 „Ich schlage vor, kulturelle Hybridität und nationale Identität nicht als begriffliche Gegensätze zu lesen, sondern als eine funktionale Beziehung, die es der Nation erlaubt, sich zu erweitern und das symbolische Feld ihrer Selbstrepräsentation zu modernisieren, in dem sie ein farbiges, fröhliches und attraktives Bild ihrer selbst entwirft. Im globalen Wettbewerb nationaler Ökonomien und Kulturen ist es sogar für die Nation eine Aufgabe mit

46 Ha, 2006, http://eipcp.net/transversal/1206/ha/de, 23.12.2014. 47 Vgl. ebd.

318 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN wachsender Bedeutung, kosmopolitisch und offen für produktive Flüsse von migrierendem Kapital, kreativen Subjekten und mächtigen Symbolen zu erscheinen.“48

Die Ästhetik der Hybridität, die in der bisherigen theaterwissenschaftlichen Debatte als Indiz für gelungene interkulturelle Kunstproduktion gedeutet wird, kann demnach ebenso dazu dienen, nach außen hin Modernisierung und Weltoffenheit zu demonstrieren. Dieser kulturpolitische Effekt kann u.a. dann eintreten, wenn der widerständige Gestus der Hybridität, den Bhabha im Gegensatz dazu stark betonte, unberücksichtigt bleibt oder aufgegeben wird und anstelle dessen das Prinzip der Hybridität affirmativ angeeignet werden kann. Auch in Bezug auf die ästhetischen Strategien des Postkolonialen in den Inszenierungen können ambivalente kulturpolitische Effekte erzeugt werden, weil damit einerseits auf repräsentativer Ebene ein wachsendes Problembewusstsein für postkoloniale Realitäten ausgestellt und gleichzeitig das Thema politischökonomisch-struktureller Ungleichheit ausgespart werden kann. Besonders interessant ist dabei der Aspekt der Institutionskritik. Einerseits entspricht die Zulassung der Institutionskritik einem Trend vieler Kulturinstitutionen im Westen, die zur Selbsterneuerung an solchen kritischen Impulsen durch Kunstschaffende interessiert sind. Durch die Inklusion dieser Kritik in den eigenen institutionellen Kontext wird diese jedoch zugleich abgeschwächt. Außerdem erzeugt es den Effekt, sich als kritikfähige Institution von anderen abzusetzen. Den beteiligten Kunstschaffenden ermöglicht eine artikulierte Institutionskritik in diesem Kontext jedoch wiederum, indirekt auch eine kritische Position gegenüber der inländischen Kulturpolitik vornehmen zu können. Dem gegenüber erzeugt die in den Inszenierungen mittels kritischer Zitation und Dekonstruktion vorgeführte Verweigerung gegenüber essentialistischen Produktions- und Rezeptionsmustern den Effekt, sich der Vereinnahmung durch ausländische sowie inländische Kulturpolitik zu widersetzen. Die Paradoxie jedoch besteht darin, dass die ästhetischen Ansätze, die in den Inszenierungen zu identifizieren sind, teils kritisches Potential besitzen und durch die strategische Verbindung zwischen Künstler_innen und Institutionen eine größere Sichtbarkeit erhalten. Dadurch können vor Ort Nischen der Artikulation geschaffen werden, in denen normabweichende ästhetische Ansätze erprobt werden. Gleichzeitig können in dem gegebenen institutionellen und kulturpolitischen Kontext diese Ansätze abgeschwächt und auf repräsentativer Ebene umgedeutet und gar angeeignet werden, ohne die politisch-ökonomischstrukturellen Relationen des Beziehungsgeflechts antasten zu müssen.

48 Ebd.

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D EKOLONIALE

UND

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P OSTKOLONIALE ÄSTHETIKEN

Durch die Inszenierungsanalysen sind Artikulationen und ästhetische Strategien sichtbar geworden, die einer postkolonialen Ästhetik und einer hybriden Ästhetik entsprechen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass postkoloniale Ästhetiken durch sehr unterschiedliche Verfahrensweisen erzeugt werden können. Sie sind nicht darauf festzulegen, Aspekte des Postdramatischen, Anti-essentialistischen und Institutionskritischen zu beinhalten. Dabei erscheint mir allerdings der Ansatz anti-essentialistischer und institutionskritischer Kunstpraxis – wie Christine Regus es bereits für postkoloniale Ästhetiken definierte – wesentlich für eine postkoloniale sowie für eine dekoloniale Kunstproduktion zu sein. Bei dekolonialen Ästhetiken stehen darüber hinaus meistens Widerstand, Intervention, Subversion und Dekonstruktion kolonialer Relationen, Repräsentationen und Praktiken sowie rassistisch und klassistisch geprägter Denkweisen im Mittelpunkt der künstlerischen Arbeiten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Dekolonisation ein konkreter, umfassender politischer und wirtschaftlicher Prozess im 20. Jahrhundert v.a. antikolonialer Widerstands- und Befreiungsbewegungen von Seiten afrikanischer Akteur_innen war, der die „Auflösung mehrerer interkontinentaler Imperien“49 zum Ziel hatte: „Dekolonisation in diesem Sinne ist also ein in der historischen Zeit präzise fassbarer Moment.“50 Jedoch gibt es darüber hinaus eine ideengeschichtliche, philosophische, ästhetische und diskursive Dekolonisation, die v.a. von Intellektuellen und Kunstschaffenden aus Senegal, Kenia, Algerien, Martinique und der Karibik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umgesetzt wurde, die weiterhin von postkolonial orientierten Kulturproduzent_innen weltweit fortgesetzt wird und die zunehmend mehr Bedeutung im Kunstbetrieb gewinnt. Dekoloniale Theorien betonen sehr viel stärker als postkoloniale Theorien die Notwendigkeit der Veränderung politischer und ökonomischer Machtrelationen – auch für den Kunstkontext. Mit Überlegungen zur postkolonialen und dekolonialen Wissensproduktion in der Kunst definierte die Kulturwissenschaftlerin Anne Peterson dekoloniale Ästhetik wie folgt: „Rather than seeing postcolonial studies and decolonial thinking as descrete fields of knowledge; I argue that decolonial thinking could be seen as a faction of the broad field of postcolonial studies; a certain mode of practising a critique which favors an interventionist

49 Ebd. S. 7. 50 Ebd. S. 16.

320 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN mode of ‚doing‘ a performing art and culture with the aim of ‚mining‘, and thereby undermining, colonial perceptions of the world. If decoloniality is understood as a critical, interventionist strategy, it is of particular relevance to the revision of European museums.“51

Dekoloniale Ästhetik beschreibt demnach – und m.E. unabhängig von der jeweiligen Kunstgattung – eine interventionistische Strategie, die dazu beiträgt, koloniale Wahrnehmungen von Welt zu unterlaufen bzw. zu überschreiten. In dem Zitat wird deutlich, dass Peterson Dekolonisation und Postkolonialität als ein Kontinuum denkt, in dem dekoloniale Praktiken in Form von Interventionen eine Störung der noch anhaltenden kolonialen Realität erzeugen. Der umfassende, vielschichtige und komplexe Prozess eines dekolonialen Widerstands war und ist eine Zusammensetzung aus vorrangig politischen, jedoch auch intellektuellen und künstlerischen Setzungen. Da durch den Kolonialismus nicht nur eine politische Dominanz und ökonomische Ausbeutung erzeugt, sondern auch eine kulturspezifische Gewalt verübt wurde, die darauf abzielte, den Kolonisierten Kultur abzusprechen und ihre Kunstproduktionen abzuwerten, ist das Feld der Kunst ein Schauplatz für dekolonialen Widerstand sowie für ästhetische Spielräume der Subversion. Es bleibt auch zu berücksichtigen, dass während des Kolonialismus eine Produktion und Verbreitung von Wissen vorgenommen wurde, das nach wie vor zirkuliert. Damit verbunden sind koloniale, rassistische, klassistische und misogyne Denkweisen, die „mit dem Bedeutungsverlust des Kolonialismus als politische Institution nicht verschwunden sind“52. Daher bedarf es vielseitiger Gegenstrategien, die ein anderes und geandertes Wissen produzieren, artikulieren, sichtbar machen und erweitern. In einer postkolonialen Realität sind dafür dekoloniale Ästhetiken in der Kunstproduktion entscheidend. Der Literaturwissenschaftler Walter Mignolo betont diesbezüglich, dass dekoloniale Ästhetiken sich aus vielseitigen Verflechtungen ergäben, jedoch nur von Akteur_innen aus dem globalen Süden und aus dem ehemaligen Osteuropa kreiert werden können:

51 Peterson, 2014, S. 129 f. 52 Jansen/Osterhammel, 2013, S. 27.

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„Decolonial transmodern aesthetics is intercultural, inter-epistemic, inter-political, interaesthetical and inter-spiritual, but always from perspectives of the global south and the former-Eastern Europe.“53

An diesem Zitat wird deutlich, dass Mignolo das Gestalten dekolonialer Ästhetiken in der Kunstpraxis bei solchen Kunst-und Kulturschaffenden verortet, die in ihrem kulturellen Gedächtnis die kollektive Erfahrung des Kolonialismus als Kolonisierte verankert haben. Dem gegenüber verweist jedoch Rasheed Aereen darauf, dass gerade die westlichen Kunst- und Kulturinstitutionen sich einer Dekolonisation unterziehen müssen. Damit betont er, dass dieser Prozess von verschiedenen Seiten vollzogen werden muss. Und er macht deutlich, dass eine koloniale Vergangenheit präsent und intakt bleibt bzw. indirekt fortgesetzt wird, sofern von Seiten westlicher Akteur_innen keine Verantwortung für einen eigenen aktiv gestalteten Dekolonisationsprozess übernommen wird.54 Aereens Position grenzt sich von Mignolo dahingehend ab, dass gerade auch Personen und Institutionen, die aus dem Kontext ehemals Kolonisierender kommen, dekoloniale Ansätze verfolgen sollten. Diese Frage, von wem dekoloniale Prozesse und Ästhetiken gestaltet werden können und sollten, bleibt insofern umstritten. Allerdings spielt die jeweilige Positionalität der Akteur_innen dabei immer eine entscheidende Rolle, da sie darüber entscheidet, welche Repräsentationsformen möglich sind, in welcher Kontinuität diese stehen und welche Wirkungen bzw. Effekte bestimmte ästhetische Strategien im jeweiligen Kontext erzeugen. Diesbezüglich sei an Hall erinnert: „Practices of representation always implicate the positions from which we speak and write – the positions of enunciation. […] We all write and speak from a particular place and time, from a history and a culture which is specific. What we say is always ‚in context‘, positioned.“55

So können z.B. Formen der Aneignung und Dekodierung durchaus widerständige Praxen in der Kunst darstellen, deren widerständiges Potential sich jedoch u.a. daraus ergibt, dass sie von Marginalisierten strategisch eingesetzt werden, um auf die politische Konstruktion und reale Wirkung ihrer Marginalisierung aufmerksam zu machen. Wenn jedoch diese ästhetischen Strategien erneut von

53 Mignolo, 2011. https://transnationaldecolonialinstitute.wordpress.com/decolonial-aes thetics/, 21.3. 2016. 54 Vgl. Engelmann/Lauf, 2005, S. 64. 55 Hall, 1990, S. 222.

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Personen einer Mehrheitsgesellschaft oder – im internationalen Kontext – von Künstler_innen aus wirtschaftlich und politisch dominanten Gesellschaften des globalen Nordens verwendet werden, handelt es sich dem gegenüber statt um eine widerständige Praxis um eine perpetuierende Handlung, die – bewusst oder unbewusst – auf die Kontinuität einer weiterführenden Marginalisierung abzielt. Im Kunstbetrieb europäischer Metropolen ist aktuell die Tendenz zu beobachten, dass vermehrt neue kuratorische Praktiken erprobt und Programme verschiedener Kunstsparten – Theater, Tanz, Performance Art, Installation, Video, Fotografie, Film etc. – teils auch mit ergänzenden Diskursprogrammen gestaltet werden, die zum Nachdenken über koloniale Gewaltverhältnisse, Postkolonialität und Dekolonisation anregen. Diese Bewegung entsteht sowohl durch das Engagement von Kunst- und Kulturschaffenden, die sich als diasporisch, people of color oder als marginalisiert begreifen sowie durch Akteur_innen der Mehrheitsgesellschaften, die postkolonial informiert sind und an den komplexen Diskursverschiebungen in den Künsten, Wissenschaften, subkulturellen Szenen sowie (kultur-)politischen Bewegungen aktiv teilhaben. Etliche künstlerische Arbeiten und kuratorische Ansätze werden als ‚sites of resistance‘ konzipiert, in denen geandertes Wissen aufgewertet wird. Damit verbunden ist u.a. das Schaffen alternativer Wissensräume und solidarischer Publikumsgemeinschaften. Dekoloniale und postkoloniale Wissensproduktionen in der Kunst gehen häufig mit der Reflektion, Dekonstruktion oder Subversion kolonialpolitischer Themen im weitesten Sinne einher. Thematisch gefasst kann dieses Wissen in den Künsten z.B. die Behandlung der Auswirkungen des Kolonialismus, die Kontinuität von Zwangsarbeit und Menschenhandel, die Sklavenwirtschaft als Prototyp des kapitalistischen Systems, die Erinnerungen an antikoloniale Widerstandsbewegungen und Aufstände, die Psychopathologie von Gewaltverhältnissen, aber auch die Erfahrungen der Diaspora(s), Europas Grenz-, Asyl- und Außenpolitik sowie die Auseinandersetzung mit Rassismus oder aber die Kritik an der nationalen Kunstgeschichtsschreibung und am dominanten Kunstkanon sowie das Hinterfragen von Repräsentationsformen im Feld der Kunst umfassen. Über die Themensetzungen hinaus kann in der Kunst mittels ästhetischer Strategien eine grundlegende Verschiebung von Wissensformen erzeugt und eine Veränderung der Wahrnehmung von Welt begünstigt werden. Kunstschaffende, die alternative Wissensformen zu produzieren beabsichtigen, um eurozentrische Sichtweisen auf Kunst und Politik zu dezentrieren – was der Kurator Okwui Enwezor bei der Venedig Biennale 2015 mit ‚PostWesternism‘ bezeichnete –, beziehen sich häufig auf postkoloniale Theorien, die jedoch in sehr unterschiedlichen Räumen und Zeiten entstanden sind. Diese wiederum waren informiert und beeinflusst durch vielseitige vorangegangene künst-

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lerische Artikulationen, kritische theoretische Positionen und dekoloniale Widerstandsbewegungen in den Peripherien. Das bedeutet, dass andere Wissensformen in den Künsten bereits auf eine Geschichte verweisen, die bislang von westlichen Kulturinstitutionen kaum zur Kenntnis genommen wird. Für eine künstlerische sowie wissenschaftliche Forschung kann es daher relevant sein, solche Spuren marginalisierten Wissens aufzuzeigen. Das können neben unzählig vielen anderen Einflüssen z.B. Impulssetzungen durch Négritude, African Renaissance, Harlem Renaissance, Ethiopianism, Creolité, Afropolitanismus, Black Atlantic etc. sein. Die im Folgenden skizzierten ästhetischen Strategien bieten potentiell die Möglichkeit dekolonialer Interventionen und postkolonialer Artikulationen. Einige ästhetische Strategien wurden bereits in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in der Musik erprobt; können aber ebenso für die performativen Künste zunehmend relevant werden. Eine solche mögliche Strategie ist es, mit dem Prinzip des ‚double consciousness‘ zu arbeiten. Du Bois beschrieb aus dem Kontext afroamerikanischer Erfahrung heraus mit dem Konzept des ‚double consciousness‘ einen internen Konflikt, der daraus entsteht, auf das Selbst mit den Augen eines dominierenden Anderen zu blicken.56 Damit macht er auf einen doppelten oder nahezu gespaltenen Bewusstseinszustand aufmerksam, der dadurch entsteht, die eigene Identität immer wieder auch mit dem rassistischen Blick einer dominant weißen Kultur zu erfassen und somit Unterdrückungsmechanismen zu internalisieren. Das könnte ästhetisch z.B. das Arbeiten mit autobiographischen Fragmenten, Fragmentierung der Identität/Figur oder auch die Dopplung von Performer_innen einschließen, aber ebenso die Gestaltung innerer Dialoge meinen, bei denen reflexives und zitierendes Sprechen als ‚speaking back‘ konzipiert wird. Eine andere intertextuelle Strategie, die in der Literatur und im Theater angewandt wird, kann die des ‚writing back/re-writing‘ sein, also die Konzeption eines kritisch reflektierenden Dialogs mit einem Originaltext, der zum klassischen Kanon zählt. Dabei geht es überwiegend um eine Offenlegung, Dekonstruktion und Reaktion auf die im Text enthaltenen kolonialen, imperialistischen oder rassistischen Spuren, um eine ge-anderte Wissensproduktion zu erzeugen und entscheidende diskursive Räume neu zu besetzen.57 Eine weitere Strategie kann die Produktion von Gegenerzählungen (‚counter narratives‘) sein und sich z.B. thematisch äußern, indem verdrängte historische

56 Vgl. Du Bois, 2003. 57 Vgl. Ashcroft/Grifftiths/Tiffin, 1989, S. 33.

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Anteile von Modernität und Kolonialismus behandelt, Ideen von Entwicklung, Zivilisierung und Fortschritt dekonstruiert oder Erzählungen von Marginalisierten und Subalternen in Inszenierungen als Gegengewicht zu den ‚grand narratives‘ ver- und bearbeitet werden. Eine andere Möglichkeit für das Sprechtheater ist der gezielte Einbezug von Neologismen, um auf die Begrenzung und Verfasstheit einer historisch spezifisch gewachsenen Sprache deutlich zu machen, die mit unzähligen Begriffen auf koloniale und rasstistische Realitäten verweist und dem entsprechend komplexer Umgestaltungen bedarf, wobei durch die Neologismen indirekt auf die zu ersetztenden Begriffe verwiesen wird ohne diese erneut zu benennen. Es gibt andere Strategien wie Doppelkodierung und Signifizierung, die nur unter bestimmten Voraussetzungen – jedoch stark abhängig von der Positionalität der sich artikulierenden Künstler_innen und des Kontexts – ebenso Strategien dekolonialer und postkolonialer Ästhetiken sein können. Doppelkodierung ist eine Form der Zitatstrategie, die bislang überwiegend im Blues, Hip Hop, Dancehall verwandt wurde. Sie besteht darin, solche Begriffe selbstbezogen und inflationär zu nutzen, die im Alltag als externe Zuschreibung zur Objektivierung und Dehumanisierung wesentlich beitragen, so dass sie durch Wiederholung und Revision ihre pejorativen Konnotationen verlieren und gleichzeit auf die Rassifizierung und Sexualisierung der betroffenen Personen und die damit einhergehende komplexe Gewalterfahrung verweisen. Signifizierung dagegen arbeitet mit Umkehrung der Konnotation eines Begriffs oder Ausdrucks: „Signifyin(g) is a way of saying one thing and meaning another; it is a reinterpretation, a metaphor for the revision of previous texts and figures; it is tropological thought, repetition with difference, the obscuring of meaning – all to achieve or reverse power 58

[…].“

Formen der Aneignung, der Umkehrung und der Mimikry sind weitere mögliche Strategien dekolonialer Ästhetiken, bei denen ebenfalls die Positionalität der Künstler_innen und der Kontext ganz entscheidende Parameter sind. So kann eine Aneigung zum Beispiel die strategisch gezielte Verkörperung von Stereotypen oder Klischees bedeuten, mit der die eigene Identität als Zuschreibung von außen ständing konfrontiert wird. Diese Strategie wird teils genutzt, um Techniken der Dehumanisierung sowie verbalen und visuellen Gewalt erkennbar zu machen und diese zugleich mittels Übertreibung und Ironie ins Groteske zu

58 Floyd, 1995, S. 95.

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überführen. Mimikry meint dagegen die Spiegelung des Anderen, jedoch mit einer spezifischen Markierung. Demnach handelt es sich nicht um eine Nachahmung im Sinne der Mimesis, sondern eine Nachahmung, die bewusst mit einem verfremdenden Element versetzt und somit unterbrochen wird.59 Eine weitere Strategie dekolonialer Ästhetik, die enorm wirkungsvoll sein kann, ist die Umkehrung von Macht- und Blickmachtrelationen, weil die Verschränkung von dominanter Sehgewohnheit und realer hegemonaler Machtverteilung plötzlich durch die Umkehrung offensichtlich und zugleich entkräftet wird. Die Prinzipien des Synkretismus und des Sampling als Rekombination sowie die Techniken des ‚cross-over‘ und ‚cut-and-mix‘ 60 als Zitatstrategien können weitere Strategien sein, mit denen dekoloniale und postkoloniale Ästhetiken erzeugt werden. Beim Sampling geht es darum, einzelne Fragmente aus ihrem originären Zusammenhang herauszulösen und in neue Kontexte zu stellen, so dass die vorherigen Referenzen teils erhalten bleiben sowie durch Neuakzentuierung verschoben werden, um eine ge-anderte Bedeutungsproduktion zu erzielen. Ebenso können das Changieren und Überlappen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bzw. die Durchbrechung und Ermessung der Gegenwart durch koloniale Vergangenheiten neue Bedeutungsspielräume eröffnen. Eine weitere Strategie kann das Re-Enactment von politischen Reden und das Re-Enactment mit ironischen Brechungen sein, die einerseits auf ein koloniales Wissensarchiv verweisen und andererseits die Konstruktion politischer Realität und den inhärenten Aspekt der Theatralität im Bereich des Politischen entäußern. Dem gegenüber können Re-Enactments politischer Reden aus verschiedenen Kontexten antikolonialer Widerstände auf marginalisierte Wissensarchive verweisen. Damit verbunden ist ein bewusster Umgang und Einbezug dekolonialer Wissens-, Bild-, Foto- und Filmarchive, die im Zuge konkreter antikolonialer Befreiungsbewegungen entstanden. Auch die Dekonstruktion und Reflektion ethnographischer Techniken in Form von Fotografien, Filmen, Zeichnungen oder Erzählungen und die damit verbundene orientalistische Wissensproduktion, die bis heute nachwirkt und/oder fortgesetzt wird, können ebenso wie die Befragung von historischem Archivmaterial disparater Quellen künstlerische Strategien dekolonialer und postkolonialer Ästhetiken sein. Dabei kann die sprachliche, musikalische sowie bildliche Polyphonie dazu beitragen, dichotome Wahrnehmungsstrukturen aufzulösen.

59 Vgl. Bhabha, 2000, S. 51, 134. 60 Vgl. Hall, 1990, S. 236.

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An dieser Skizzierung soll deutlich werden, dass nicht von einer postkolonialen oder einer dekolonialen Ästhetik auszugehen ist, sondern diese Ästhetiken durch sehr verschiedene Strategien erzeugt werden und jeweils von den jeweiligen Kontexten und Subjektpositionen der Künstler_innen abhängig wirkungsvoll sein können. Die Differenz der kolonialen Erfahrungen und der damit verbundenen Widerstände gehen mit der Ausbildung sehr unterschiedlicher ästhetischer Strategien und thematischer Setzungen einher. Darüber hinaus ist die Positionalität einzelner Kunst- und Kulturschaffender immer relevant, da davon abhängt, wer aus welchem geschichtlichen Kontext heraus agiert und welche ästhetische Strategie in Abhängigkeit von dieser Positionalität als dekoloniale Praxis gedeutet werden kann. Das widerum ermöglicht polyperspektivische Zugänge in der Kunstpraxis, wobei die Verantwortung für eine umfassende Dekolonisierung nicht an die ehemals ‚Kolonisierten‘ delegiert werden kann.

12. Schlussbetrachtung

Die zentrale Forschungsfrage lautete: Welche Herausforderungen und Potentiale liegen in der künstlerischen Zusammenarbeit von Akteur_innen bei Produktionen performativer Künste im Rahmen internationaler Kulturbeziehungen? Diesbezüglich komme ich zu dem Schluss, dass gerade in der künstlerischen Zusammenarbeit inter- und transkultureller Produktionen Potentiale der Verhandlung und Verschiebung liegen, jedoch damit auch ein ganzes Spektrum an Herausforderungen verbunden ist. Dem gehen vielfältige Herausforderungen in den spezifischen Arbeitskontexten der jeweiligen Akteur_innen voraus. Um die Forschungsfrage beantworten zu können, erwies es sich als sinnvoll, die Reichweite der Forschung hinsichtlich des Standortes, der Akteur_innen und der exemplarischen Inszenierungen stark zu begrenzen, um unterschiedliche historische, politische und ästhetische Faktoren herauszuarbeiten, die eine Zusammenarbeit wesentlich beeinflussen. Ausgangspunkt meiner Argumentationslinie ist ein anti-essentialistisches Kulturverständnis, das ermöglicht, Kultur als ein dynamisches politisches Handlungsfeld zu begreifen, welches durch Handlungen von Akteur_innen u.a. mittels Kunstproduktionen prozessual verändert wird. Insofern verstehe ich die äthiopischen Künstler_innen sowie die Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts als individuelle Akteur_innen, die miteinander transkulturelle Austauschbeziehungen real umsetzen und jeweils performativ in das Handlungsfeld Kultur eingreifen. Die Vorstellungen von einem essentialistischen Kulturverständnis, welches Kultur als räumlich eingrenzbar und nationalstaatlich definierbar versteht und die Idee der Interkulturalität sind besonders im Bereich der Außenkulturpolitik wirkungsmächtig. Dem gegenüber setzen in der künstlerischen Praxis verschiedene Akteur_innen die Idee einer netzwerkartig funktionierenden und kollektiv gestalteten Kultur basierend auf intersubjektiven, transkulturellen Beziehungen um. Konkrete Arbeitsbeziehungen zwischen Künstler_innen Äthiopiens und

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Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts sind jedoch nicht ausschließlich als transkulturelle Beziehungen zu fassen, sondern auch als Begegnungen und Austauschprozesse von Akteur_innen, die innerhalb internationaler Kulturbeziehungen und auswärtiger Kulturpolitik stattfinden, da die Kunstprojekte von der Mittlerorganisation Goethe-Institut koordiniert und vom Auswärtigen Amt der deutschen Bundesregierung finanziert werden. Dadurch sind sie in kulturpolitische Rahmenbedingungen der UNESCO und des Bundes eingebunden, was bedeutet, dass politische Faktoren die Zusammenarbeit dieser Kunst- und Kulturschaffenden wesentlich beeinflussen. Meiner Argumentation zufolge befördert die konzeptionelle Ausrichtung der UNESCO am erweiterten Kulturbegriff den Umgang mit einem diffusen Verständnis von Kultur und trägt dazu bei, dass eine Abgrenzung der praktischen Kulturarbeit zu anderen Arbeitsfeldern verhindert wird. Besonders die Verschränkung von Kulturarbeit mit Ideen der ‚Entwicklung‘ und des ‚Dialogs‘ – die von der UNESCO für die Gestaltung internationaler Kulturbeziehungen empfohlen wird – ist problematisch. Die Verschränkung mit ‚Entwicklung‘ ist problematisch, weil damit thematische Setzungen forciert werden, die den Ideen von Modernisierung, Reformierung oder Verwandlung nach westlichem Maßstab verhaftet sind und die Annahme der ideellen Modifizierung von Strukturen, Institutionen oder Organisationen von außen hinsichtlich der historischen Erfahrung des Kolonialismus und der Legitimation zu hinterfragen bleibt. Der Dialogansatz suggeriert reziproke Austauschverhältnisse zwischen gleichrangigen Partnern, während aus postkolonialtheoretischer Perspektive asymmetrische Beziehungsmuster aufgrund politisch-ökonomischer Machtrelationen und struktureller Ungleichheiten betont werden. Dieses Problem spiegelt sich ebenso im Konzept des interkulturellen Theaters, wo weitestgehend von harmonischen Austauschbeziehungen ausgegangen wird, bei denen erfolgreiche Produktionen entweder in Form der Hybridität oder durch Betonung der theaterästhetischen Differenz entstehen könnten. In der Debatte um interkulturelles Theater sind die Tendenzen zur Dehistorisierung, Dekontextualisierung, Simplifizierung, Kulturalisierung und vor allem Entpolitisierung auffällig. In meiner Arbeit hat sich dem gegenüber erwiesen, dass kunst- und theaterhistorische, politische, ökonomische und strukturelle Spezifika den Arbeitskontext von performativen Kunstschaffenden in Äthiopien wesentlich prägen und somit neben den außenkulturpolitischen Konzeptionen eben auch all diese Faktoren die Zusammenarbeit der Akteur_innen im Feld der performativen Künste wesentlich beeinflussen.

12. S CHLUSSBETRACHTUNG

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Skizzieren lassen sich meine Forschungsergebnisse wie folgt: Abbildung 2: künstlerische Zusammenarbeit der Akteur_innen unter Berücksichtigung der Einflussfaktoren

Der kunsthistorische Kontext in Äthiopien weist vier markante Charakteristika auf: die enge Verbindung von Kunst und Religion des orthodoxen Christentums, die enge Verbindung von Kunst und Politik, eine ambivalente gesellschaftliche Position von Kunstschaffenden und transkulturelle Austauschbeziehungen zwischen Kunst- und Kulturschaffenden. Der aktuelle Kontext performativer Kunstproduktion zeichnet sich durch ein relatives Spannungsverhältnis zwischen strikten Normierungen an den staatlichen Theatern und neuen Ansätzen der freien Kunstszenen aus. Um das Interesse äthiopischer Kunstschaffender an der Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten wie dem Goethe-Institut nachvollziehen zu können, ist es notwendig, die strukturellen Besonderheiten des äthiopischen Theaterbetriebs sowie die Arbeits- und Produktionsbedingungen performativer Künstler_innen vor Ort zu berücksichtigen. Der äthiopische Staat verfolgt einerseits eine verfasste Kulturpolitik und finanziert den Produktionsbetrieb der Theaterhäuser in Addis Abeba. Dort werden täglich Stücke für große Zuschauermengen aufgeführt und Abteilungen für Tanz, Theater und Musik unterhalten. Andererseits werden die Produktionen durch

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Komitees kontrolliert, die thematische und ästhetische Richtlinien für die Inszenierungen aufstellen, Motive der Bühnenhandlungen vordefinieren, Aufführungen prüfen oder auch verhindern können. Dadurch werden thematische und ästhetische Normierungen vorgenommen, was performative Künstler_innen in Interviews wiederholend kritisieren. Außerdem tragen die enorme Größe und die Unterhaltungskosten der Theaterhäuser dazu bei, massentaugliche Produktionen zu favorisieren, um die Profitabilität zu gewährleisten. Das begünstigt ebenfalls Standardisierungen im Theater. Indizien dafür sind Favorisierung einzelner Genres, einander stark ähnelnde Handlungsverläufe, ein Grundstock an Figurenund Raumkonzeptionen, ein Repertoire an Motiven, Textzentrierung und hyperbolische Zeichensprache. Neben dem offiziellen Betrieb arbeiten in Addis Abeba etliche performative Künstler_innen freischaffend, für die allerdings aufgrund der Abwesenheit eines staatlichen Kunstförderungssystems die Produktionsbedingungen extrem herausfordernd sind. Unter diesen strukturellen Voraussetzungen nehmen meiner Argumentation zufolge ausländische Kulturinstitute eine zentrale Funktion im Feld der Kunst ein, sofern sie Produktionsprozesse logistisch, finanziell oder personell fördern. Die derzeit existierenden Kunstszenen Addis Abebas habe ich als komplexe Felder in Hinblick auf die Akteur_innen, ihre Arbeitsansätze und Vernetzungen skizziert, in denen individuelle Künstler_innen verschiedene Positionen gegenüber ihren Arbeitskontexten vor Ort vertreten, wobei viele eine kritische Haltung gegenüber der inländischen Kulturpolitik, den staatlichen Kultureinrichtungen und ihren eigenen Arbeits- und Produktionsbedingungen einnehmen sowie Ansprüche auf gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit erheben. Die Kunstszenen zeichnen sich aktuell durch folgende Merkmale aus: differente Strukturbedingungen für die Kunstbereiche Theater, Tanz und Performance Art, Betonung der Trennung von Kunstsparten, Konkurrenz unter Künstler_innen aufgrund mangelnder Ressourcen bei gleichzeitiger Tendenz zur wachsenden Interdisziplinarität sowie personeller Erweiterung der Szenen und Bestrebungen zur Sichtbarmachung eines internen Kunstdiskurses. Im Gegensatz zu Theatermacher_innen, die fast ausschließlich lokalspezifische Produktionen in Zusammenarbeit mit staatlichen Bühnen erarbeiten, arbeiten Kunstschaffende aus den Szenen für Tanz und Performance Art häufig in Verbindungen mit ausländischen Kulturinstitutionen. Bezüglich der Teilfrage, wie die äthiopischen Kunst- und Kulturschaffenden ihren Arbeitskontext reflektieren, zeigte sich in den für diese Forschung erhobenen Interviews, dass viele der befragten Künstler_innen die materiellen und technischen Voraussetzungen, die organisatorischen Abläufe, die Professionali-

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| 331

tät und die Normierung der Ästhetik an den staatlichen Theaterhäusern als konkrete Herausforderungen artikulieren. Sie betonen somit stark die von Stuart Hall thematisierte materialistische Prämisse ihrer Kunstproduktionen und zählen zu den spezifischen materiellen Bedingungen u.a. eine veraltete technische Ausstattung an den Bühnen, hohe Produktionskosten sowie eine ökonomische Armut unter den Künstler_innen selbst. In Verbindung damit reflektieren sie die kulturpolitischen Rahmenbedingungen kritisch, unter denen sie arbeiten. Dazu zählen die Ablehnung eines Kunstverständnis mit Fokus auf Folklore, das Problem der diffus gehaltenen Zensur und der daraus resultierenden Selbstzensur sowie das freischaffende Produzieren von zeitgenössischen Kunstansätzen ohne staatliche Förderungen. Aufgrund dessen sind ausländische Kulturinstitute wie das GoetheInstitut zentrale Anlaufstellen für äthiopische Kunstschaffende, sofern sie eine Ersatzfunktion in der Förderung performativer Künste erfüllen. Allerdings reflektieren etliche äthiopische Künstler_innen die Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstituten vor Ort ebenfalls kritisch. Einerseits loben sie die aktive Rolle, die diese in der strukturellen Förderung zeitgenössischer Kunst spielen und wertschätzen die finanzielle Förderung sowie die logistische Unterstützung für Produktionen, die Vergabe von Stipendien für Arbeitsaufenthalte im Ausland und die Durchführung von Trainings. Gleichzeitig wird die Möglichkeit der finanziellen Förderung von Kunst durch ausländische Institutionen und die Nichtförderung durch den äthiopischen Staat als ein Indiz für ökonomische Konfliktfelder und existierende politisch-ökonomische Machtgefüge gedeutet. Darüber hinaus beobachten etliche der äthiopischen Künstler_innen skeptisch die Anbindung der Kulturprogrammgestaltungen ausländischer Kulturinstitute an individuellen Präferenzen einzelner Akteur_innen und hegen Zweifel am institutsinternen Wissenstransfer über den kunsthistorischen Kontext, die aktuellen Kunstszenen sowie die Arbeits- und Lebenssituationen der Künstler_innen vor Ort. Im Besonderen werden die Auswahlverfahren von Kunstschaffenden und die damit verbundene Setzung konzeptioneller Maßstäbe für die Kunstproduktion durch europäische Institutionen kritisiert, weil sich dort die Dominanz westlicher Wertvorstellungen in der Kunstproduktion, die diskursive Macht im Feld der Kunst und die Asymmetrie in Kulturbeziehungen zeige. Daraus resultiert für Kulturarbeiter_innen des Goethe-Instituts sowie anderer ausländischer Institute die grundlegende Herausforderung, sich eines indirekten Eingriffs in die lokalen Kunstszenen bewusst zu bleiben und Auswahlverfahren transparent und mit Fokus auf Rotation zu gestalten, so dass nicht zwischen lokalen Künstler_innen Spannungen aufgrund des Zugangs zu Ressourcen bzw. Netzwerken verstärkt werden. Eine weitere Herausforderung ist, eine programmatische Kontinuität trotz personeller Änderungen zu gewährleisten. Darüber

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hinaus entsteht unter der Bedingung der Politisierung von Kunst vor Ort eine grundlegende Diskrepanz für alle beteiligten Akteur_innen, weil einerseits Produktionen reguliert werden können, andererseits aber den ausländischen Kulturinstituten von lokalen Behörden erfahrungsgemäß mehr Freiräume zugestanden werden. Insofern können unter dem Namen eines ausländischen Kulturinstituts potentiell Nischen der experimentellen Kunstpraxis geschaffen werden, in denen Spielräume für thematische und ästhetische Grenzgänge in der Kunst ausgelotet werden, jedoch diese Artikulationsfreiheiten eben nicht von den Kulturinstituten garantiert werden. Auf der Produktionsebene lassen sich von den dargelegten Forschungsergebnissen weitere Potentiale und Herausforderungen in der künstlerischen Zusammenarbeit ableiten: da im aktuellen Theaterbetrieb textzentrierte Theaterformen dominant sind, ist eine Umsetzung von körper- und bewegungszentrierten Ausdrucksformen eine künstlerische Entscheidung der Dominantenverschiebung. Diese kann potentiell ästhetische Standardisierungen unterlaufen, erfordert jedoch auch in den Proben- und Produktionsprozessen Strategien der Durchbrechung ästhetischer Normen unter allen beteiligten Akteur_innen auszuhandeln, weil sie Begrenzungen und Grenzüberschreitungen im symbolischen Raum betreffen. In ästhetischer Hinsicht ist die Zusammenarbeit herausfordernd, weil die jeweiligen Kunst- und Kulturschaffenden sich bei einer gemeinsamen Kunstproduktion auf unterschiedliche Kunstdiskurse, auf verschiedene Referenzsysteme und ästhetische Konventionen beziehen und weil an dieser Stelle das einsetzen würde, was Glissant, Hall und Bhabha als ‚Prozess der kulturellen Übersetzung‘1 beschrieben. Der Herausforderung der gemeinsamen Reflektion, Verhandlung und Verschiebung ästhetischer Referenzpunkte können sich die beteiligten Akteur_innen nur stellen, wenn ihre Arbeitsprozesse ergebnisoffen konzipiert werden. Während jedoch die Idee einer ‚kulturellen Übersetzung‘ nahe legt, quasi einen Transfer auf kognitiver oder intellektueller Ebene zu gestalten, lassen sich m.E. ästhetische Präferenzen nur schwer verhandeln, weil sie oft internalisiert sind. Insofern sind auf dieser Ebene potentiell konfliktive Momente wiederholend zu erwarten, die nicht per se zu lösen sind. Jedoch besitzen diese Konflikte im Bereich des Ästhetischen in besonderer Weise das Potential des Miteinanderin-Beziehung-Tretens im Sinne Glissants, indem eigene Referenzpunkte möglichst bewusst gemacht, artikuliert und quasi übersetzt sowie fremde Referenzpunkte wahrgenommen und anerkannt werden. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, den etablierten Kunstkanon als westlich-orientiert kritisch zu reflek-

1

Vgl. Glissant, 2005, S. 38; Hall, 2004, S. 208; Bhabha, 2000, S. 10.

12. S CHLUSSBETRACHTUNG

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tieren, der eine wirkungsmächtige Konstruktion ist und durch ein spezifisches Machtverhältnis bezüglich der Repräsentation, der Archivierung und Verbreitung von künstlerischen Ansätzen zustande kam. Insofern bestehen nicht nur im politisch-ökonomischen Sinne, sondern auch im ästhetisch-künstlerischen Sinne fundamentale Ungleichheitsverhältnisse, in denen nicht-westliche Kunstentwicklungen und -diskurse lange marginalisiert wurden. Damit verbunden ist eine Einsicht in den Partikularismus des etablierten Kunstkanons, der nicht universell auslegbar ist. Sofern der westliche Kunstkanon als alleiniger Referenzpunkt jeder Kunstproduktion konstruiert wird, besteht die Gefahr, innerhalb der Kunst zu hierarchisieren, kulturelle Macht auszuüben und bestimmte Formen der Ästhetik strukturell zu begünstigen. Sofern ästhetische Wertmaßstäbe übertragen werden, die sich überwiegend aus einem europäisch/amerikanisch/weißen Kunstkanon ableiten, besteht die Gefahr, im Feld der Künste eine historisch gewachsene Machtrelation fortzusetzen und das „Recht auf Präsenz“2 im Kunstkanon nicht einzulösen. Das wiederum erfordert eine dekoloniale Praxis im Bereich des Ästhetischen besonders von Seiten europäischer Kulturinstitutionen, weil sie bislang über größeres Kapital sowie eine Definitionshoheit bei der Festlegung von Auswahlkriterien und Fördermaßstäben verfügen. Für den künstlerischen Produktionsprozess beim inter- und transkulturellen Theater bedeutet es, dass weder ein gemeinsames Vokabular noch ein gemeinsamer Bezugsrahmen vorausgesetzt werden können, sondern die Erarbeitung dieser beiden Komponenten Teil des Arbeitsprozesses ist. Dabei kommt der Idee von Verhandlung eine besondere Bedeutung zu, weil diese kontrovers geführt werden kann, konfliktgeladen sein kann und das Risiko eines Scheiterns beinhaltet, aber ebenso das Potential des Sich-aufeinander-Beziehens in sich birgt. Insofern besteht eine fundamentale Herausforderung darin, Beziehungen als komplex und potentiell konfliktiv anzunehmen, was wiederum auf außenpolitischer Ebene die Chance birgt, sich vom Diktat der dominanten Narration ewig harmonischer Kulturbeziehungen zu lösen und das Potential dynamischer Verhandlungsprozesse zu erkennen. Das ist besonders relevant, da die Behauptung harmonischer Kulturbeziehungen von Seiten (halb-)staatlicher Akteur_innen aus europäischen und ehemals kolonisierenden Ländern im Kontrast zu den historischen Erfahrungen all derjenigen stehen, die die Gestaltung von Kulturbeziehungen als erzwungenes Gewaltverhältnis erinnern oder als bis heute andauerndes, ungleiches Machtverhältnis wahrnehmen. Die konkreten Austauschbeziehungen im Feld der Kunst gestalten letztlich individuelle Kunst- und Kulturschaffende, wenn sie in Trainings, Proben und

2

Glissant, 1986, S. 143.

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Produktionsabläufen zusammen Inszenierungen erarbeiten. Unter Einbezug einer produktionsästhetischen Perspektive habe ich herausgearbeitet, was die künstlerischen Arbeitsweisen kennzeichnet und exemplarisch ästhetische sowie arbeitsmethodische Konflikte aufgezeigt, die auf die Rahmung der Produktionen, auf unterschiedliche Konzeptionen der Probe und auf unterschiedliche Erfahrungen der Theaterarbeit zurückgehen. Für Austauschprozesse zwischen Kunstschaffenden in Proben- und Produktionsprozessen liegen die wesentlichen Herausforderungen darin, mit konventionellen Beziehungsgeflechten als Teil einer theaterspezifischen Machtstruktur umzugehen und alternative Arbeitsmethoden zu finden, die den Austausch fördern. In den von mir untersuchten Produktionen „DanceMove UrbanSpace“ und „Play with the Senses“ versuchten die beteiligten Akteur_innen, dieser Herausforderung dadurch zu begegnen, dass mit choreographischen Teams, Rotationsprinzip in Trainingsanleitungen, kollektiver Stückentwicklung, strukturierter Improvisation als Grundlage der Bewegungsfindung und mit „multiplen Autorschaften“3 gearbeitet wurde. Jedoch erweist sich das (Er-)finden adäquater Arbeitsmethoden als besonders schwierig, da auch solche alternativen Arbeitsstrukturen und -methoden konfliktives Potential bergen, mit denen intentional ein Ansatz egalitärer Arbeitsteilung verfolgt wird. Darüber hinaus zeigte sich, dass ein Verständnis von Probe als unvorhersehbare kollektive Suchbewegung, das Verfahren der Szenencollage sowie die Gestaltung einer offenen Dramaturgie keine universell gültigen oder voraussetzungslosen künstlerischen Praxen sind, sondern ebenso Verhandlungsprozesse benötigen. Das Debattieren über Kunst aus unterschiedlichen Perspektiven erweist sich bei einer solchen Zusammenarbeit als zwingend notwendig, um Universalisierungstendenzen entgegenzuwirken. Durch Inszenierungsanalysen habe ich herausgearbeitet, dass in der künstlerischen Zusammenarbeit ästhetische Strategien umgesetzt wurden, die Merkmale einer postkolonialen Ästhetik und einer hybriden Ästhetik aufweisen. Demnach sind in den Inszenierungen postdramatische, anti-essentialistische, institutionskritische und hybride Aspekte auffällig. So wird das Potential der künstlerischen Zusammenarbeit auf dieser Ebene deutlich: Die Inszenierungen setzen sich von den etablierten Normen des aktuellen äthiopischen Theaterbetriebs vor allem dadurch ab, dass in beiden Stücken die Metaerzählung eines Themas negiert und anstelle dessen das Fragmentarische und Partikulare mittels Montagetechniken betont wird. Außerdem wird in einem der Stücke offenkundig Institutionskritik geübt, was nicht nur ein Charakteristikum der postkolonialen Ästhetik nach Re-

3

Dreysse, 2012, S. 91-118.

12. S CHLUSSBETRACHTUNG

| 335

gus ist, sondern auch als Kritik an ausländischen wie inländischen Kulturinstitutionen gelesen werden kann. Die in beiden Inszenierungen erkennbare Form der kritischen Zitation, der Spaltung und der Dekonstruktion ‚folkloristischer‘ Elemente kann als demonstrierte Verweigerung gegenüber essentialistischen Produktions- und Rezeptionsmustern gedeutet werden, um sich der Vereinnahmung durch ausländische sowie inländische Kulturpolitik zu widersetzen. Darüber hinaus ist in beiden Inszenierungen das Element der Hybridität im Sinne der Vermischung und formal-ästhetischen Transgression in Form des Kombinierens, Fusionierens und Sampelns verschiedener Bewegungsstile und Körpertechniken besonders auffällig. Dieses Prinzip – was häufig als Indiz für erfolgreiche interkulturelle Produktionen gedeutet wird, um eine Universalisierung sowie differenzbetonte Essentialisierung in der Kunstpraxis zu vermeiden – unterscheidet sich jedoch von Homi Bhabhas Konzept der hybriden Ästhetik, in dem er die Dekonstruktion binärer Logik, die widerständige Artikulation gegenüber dominanten Diskursen und die Thematisierung der Vergangenheit als Irritationsfaktor der jetzigen Realität betont. An dieser Stelle wird ein weiteres Problem ersichtlich. Obwohl die in den Stücken realisierte Ästhetik der Hybridität dazu beitragen kann, die Annahmen ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Theaterästhetik zu dekonstruieren und ein Bewusstsein für wechselseitige, künstlerisch-ästhetische Beeinflussungen zu stärken, kann auf kulturpolitischer Ebene besonders das Prinzip des hybriden Sampelns einen gegenläufigen Effekt erzeugen und zur scheinbaren Erneuerung westlicher Kulturinstitutionen beitragen, indem die Anerkennung des Postkolonialen suggeriert wird, ohne die politisch-ökonomisch-strukturellen Relationen des Beziehungsgeflechts ernsthaft reflektieren oder antasten zu müssen. Daran wird eine grundlegende Paradoxie erkennbar: einerseits kreieren Kunst- und Kulturschaffende durch solche Produktionen Nischen für ästhetische Normabweichungen im lokalspezifischen Kontext und generieren eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für experimentelle Kunstpraxen. Dabei nutzen sie das Interesse ausländischer Kulturinstitute an der Reputation mittels Kunstförderung, um die Sichtbarkeit ihrer eigenen Arbeitsansätze zu erhöhen und teils auch um kritische Positionierungen vorzunehmen, die sich sowohl auf inländische als auch auf ausländische Kulturinstitutionen beziehen können. Zwar können damit normabweichende, ästhetischen Ansätze der Inszenierungen durch die strategische Verbindung zwischen Künstler_innen und Institutionen eine größere Sichtbarkeit erhalten, jedoch gleichzeitig auch die kritischen Aspekte durch den institutionellen und kulturpolitischen Kontext abgeschwächt werden. Für die Forschung erweist sich eine kritische Lektüre das Konzept des ‚interkulturellen Theaters‘ als durchaus ergiebig, welches nur als ambivalent und

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hochgradig politisch zu verstehen ist. Der Einbezug postkolonialtheoretischer Ansätze ermöglicht dabei, stärker die politischen Aspekte der Kunstproduktion zu fokussieren – was m.E. in der bisherigen theaterwissenschaftlichen Forschung zu kurz kommt. Das kann bedeuten, das Politische der Kunst einerseits in der jeweiligen ästhetischen Form zu identifizieren und andererseits in der jeweiligen Struktur, die die Bedingungen vorgibt, in der diese Kunst produziert wird. Das inter- sowie das transkulturelle Theater sind nicht nur auf inhaltlicher oder ästhetischer Ebene politisch, sondern das Ausmaß des Politischen wird v.a. in den strukturellen Differenzen und in den diskursiven Räumen ersichtlich. Kunst- und Kulturschaffende treffen zeitweilig für gemeinsame Produktionen aufeinander, deren Arbeitskontexte sehr verschieden sind, die innerhalb unterschiedlicher Strukturen zu arbeiten gewohnt sind, deren Zugänge zu Ressourcen different sind und für die teils verschiedene Kunstdiskurse relevant sind. Das sind entscheidende Charakteristika des inter- und transkulturellen Austauschs im Theater. Die Bestimmung dessen, welche Kunstdiskurse und welche Formen von ästhetischem Wissen als belangvoll und welche dem gegenüber als belanglos eingestuft werden, ist u.a. mit einer Geschichte der Sichtbarkeit und mit der Autorität politischer und ökonomischer Macht verknüpft. Als Teil ästhetischer Strategien der Kunstschaffenden kann im inter- und transkulturellen Theater anstelle der Universalisierungsbestrebung und der Betonung theaterästhetischer Differenz zwar die Hybridisierung theatraler Formen treten. Doch diese Form der Hybridität hat nicht automatisch eine Widerständigkeit in der Kunstproduktion, die Dezentrierung dominanter Diskurse und eine Aushandlung von Bedeutungen, Arbeitsmethoden oder Machtrelationen zur Folge. Inszenierungsstrategien des inter- und transkulturellen Theaters, für die das Prinzip der Vermischung ausschlaggebend ist, können ebenso dazu beitragen, dass Kulturinstitutionen die eigene Position im Feld der Kunst aufwerten, sofern sie sich das Prinzip der Hybridität affirmativ aneignen. Insofern wird es für Untersuchungen der performativen Künste im Kontext der Globalisierung (und besonders der Relation zwischen globalen Süden und globalen Norden) und im Zeitalter des Postkolonialen zunehmend relevant werden, verschiedene Formen und Strategien dekolonialer und postkolonialer Ästhetiken zu untersuchen. In einem ersten Schritt habe ich dafür 22 mögliche ästhetische Strategien knapp skizziert. Da dies ein Desiderat in der Forschung darstellt, sind diesbezüglich dringend vertiefende Studien in den Theater- und Kunstwissenschaften notwendig. In weiteren Forschungen zu Formen künstlerischen Austauschs im Theater wäre es m.E. außerdem sinnvoll, konkret von länderspezifischen Kontexten auszugehen. Dadurch können verstärkt historische, kulturpolitische, institutionelle,

12. S CHLUSSBETRACHTUNG

| 337

strukturelle und materielle Faktoren der Kunstproduktion in die Untersuchungen einbezogen werden. Dadurch ließen sich Aspekte der strukturellen Differenz und der daraus resultierenden asymmetrischen Beziehungen im Feld der Kunst besser skizzieren, die jeden künstlerischen Austausch im Theater maßgeblich prägen. In der Beschäftigung mit außereuropäischen Kontexten ist für zukünftige theaterwissenschaftliche Forschungen wichtig, den zeitgenössischen Kunstströmungen und Veränderungen der jeweiligen Kunstszenen sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu widmen, weil sonst tendenziell eine Konstruktion aufrechterhalten werden kann, in der zeitgenössische oder avantgardistische Kunstproduktion europäischen Akteur_innen zugeordnet und außereuropäischen Akteur_innen eine dazu konträre, nämlich traditionelle – quasi ‚rückständige‘ – Kunstproduktion unterstellt wird. Außerdem erweisen sich produktionsästhetische Forschungsansätze als sehr ergiebig, da mit ihnen die Proben- und Produktionsweisen untersucht werden können, um Erkenntnisse über die jeweiligen Arbeitsbeziehungen und methoden zu erhalten, die wiederum Aufschluss über das gemeinsame Gestalten des kreativen Prozesses geben können. Die Erforschung dessen mittels produktionsästhetischer Ansätze ist in der theaterwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre zugunsten rezeptionsästhetischer Ansätze stark in den Hintergrund getreten. Für die Beantwortung der Fragen, mit welchen Techniken, Strategien und Verfahren Künstler_innen Inszenierungen erarbeiten und welche machtpolitischen Aspekte dabei im inter- und transkulturellen Austausch auftreten können, sind jedoch produktionsästhetische Ansätze unabdingbar. Postkolonialtheoretische Ansätze sind bislang kaum in der Theaterwissenschaft rezipiert worden, obwohl es ein wachsendes Interesse an Verflechtungen von Theaterkulturen, Formen inter- und transkulturellen Theaters sowie postmigrantischen Theaters gibt. Da eine Untersuchung dieser ästhetischen Praxen nicht ohne die Verortung des eigenen Blicks, die Bestimmung der Subjektposition, die Einsicht in partikulare Wissensproduktion und die Reflektion forschungsspezifischer Machtgefüge auskommt, sind diese Ansätze jedoch unabdingbar und vielversprechend. Mit einer Beschäftigung postkolonialtheoretischer Ansätze könnte für die Theaterwissenschaft auch ein breites Forschungsfeld eröffnet werden, welches ein Spektrum an Untersuchungsgegenständen betrifft wie die Analyse des internationalen Festivalbetriebs unter Berücksichtigung von Repräsentationsmacht und Reproduktion von Exotismus oder Rassismus im Theater. Ebenso könnten Facetten widerständiger Strategien in der ästhetischen Praxis wie Dekonstruktion, Verkehrung, Persiflage oder Mimikry etc. untersucht werden. Darüber hinaus könnten auch im Bereich der Theaterhistoriographie Inszenierungsstrategien von Völkerschauen in den Blick geraten oder das Theater

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als Mittel der kolonialistischen Kulturpolitik kritisch reflektiert sowie performative Kunstpraxen als Formen des antikolonialen Widerstands berücksichtigt werden. Dabei bleibt zu bedenken, dass die postkolonialtheoretischen Ansätze selbst aus kritischen Widerstandsbewegungen und subalternen Perspektiven heraus entstanden und nicht einfach adaptiert werden können, sondern vielmehr Anregungen zum Selbstverständnis und zur Rekonzeptualisierung von Arbeitsweisen sein können.

Anhang

AUFLISTUNG VON P RODUKTIONEN ÄTHIOPISCHER R EGISSEUR _ INNEN Diese Auflistung ist nicht vollständig. Sie dient nur zur Orientierung und basiert auf Informationen aus der Sekundärliteratur und aus den gesammelten empirischen Daten. Tabelle 1: Produktionen ähtiopischer Regisseur_innen1 Künstler_in

Titel (Amharisch)

Titel (Englisch)

Jahr

Teklehawariat Tekle-Mariam

• Fabula: Yawreoch

• Fable: A Comedy

• 1921

Comedia

of Animals

Yoftahe Negussie

• Afayeshion

• You Got Me

• • • •

1

Teyater Misikir Meshe Bekentu Terefu Yetebeq

• • • •

Quarrel Theatre Witness Futieliely Dusk Keep the Border

• 1934 • 1934 • 1934

Vgl.: Ayele, http://www.ethiopians.com/tsegaye; Gebeyehu/Edemariam, 1997, S. 113129; Kavanagh, 1988a, S. 325-327; Kavanagh, 1988b, S. 959 ; Kavanagh, 1988c, S. 1007; Kavanagh, 1988d, S. 656; Kavanagh, 1988e, S. 63; Kavanagh, 1988f, S. 392; Köppen: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010; Köppen: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012; Köppen: Interview I Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011; Okagbe, 2002, S. 259-260; Plastow, 1994, S. 31-36; Plastow, 2004a, S. 192-205; Plastow, 2004b, S. 125-154; Plastow, 1996.

340 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

• Alem Atalay • Arbeite Tsehay • Negusuna Zewdu

• Cunning World • Rearing of Sun • The King and his

• Gobez Eyn • Eyayu Mazen

• Brave Eyes • Sad Observation

• 1935 • 1941

• Gonderew Gebre

• Adventures of

• 1933

Crown

Melaku Begosew

Mariam

Sennedu Gebru

Gebre Mariam of Godar

• Ye Nuro Sihitet

• The Mistake of

• Be Graziani Gize

• Graziani’s Febru-

Life ary Massacre

Yeyekatit Qenoch • Yelibe Metshaf

• Book of My

• 1949

Heart N.N.

• Ethiopian Yikchi

• This is Ethioia

• 1936

Nat N.N.

• Hagerihun Wuded

• Love our Country

• 1940er

Girmachew Teklehawariat

• Tewodros

• Tewodros

• 1959

Mekonnen Endalkeshew

• • • • •

Yedem Dims Taytu Bettul Salisawi Dawit David ena Orion Teqem Yallabbet Chewata • Talaku Dagna

• • • • •

• Kaleb • Ato Belaineh • Yetinbit Ketero

• Kaleb • Mr. Belaineh • Appointment of

Kebede Mikael

Echo of Blood Queen Taytu King David III David and Orion A Useful Play

• 1948 • 1951 • 1955

• The Great Judge

Prophecy • Romeo and Juliet • Macbeth • Beyond Pardon

• 1949 • 1947 • 1954

A NHANG

• Hanibal

| 341

• 1955

Iyoel Yohannes

• 1950-

1960s Tsegaye Gebre-Medhin

• Yedem Azmera • Joro Degef • Tewodros • Azmari • Yekermew Saw • Ha Hu Besiddist

Wer • Enat Alem Tenu • Melekte Wez

Ader • Abugida Keyiso

• Petros Yatchin

Macbeth King Lear Hamlet Tartuffe Blood Harvest Mumps Oda Oak Oracle Tewodros The Minstrel A Man of Tomorrow • ABC in Six Months • • • • • • • • • •

• 1963

• • • •

1964 1966 1966 1975

• 1975

• Mother Courage • Message of the

• 1976 Worker • 1976 • Abugida Transform • 1977 • Collision of Altars • Petros at the Hour

Seat • The Crown of • Yesho Aklil

Thorns • Othello

• 1980 • 1982

Mengistu Lemma

• Telfo Bekisse

• Marriage by Ab-

• 1962

• Yallacha Gabicha

• Marriage of Une-

• 1963

• Tsere Colonialist • Balekabara

quals • Anti-Colonialist • The Mighty and the Lowly

• 1978 • 1974

duction

Baledaba

342 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

Tesfaye Gessesse

• Kassa • Shumiya

• Kassa (Name) • Office Scramble

• 1980 • 1985

• Moresh

• Moresh • Rhinoceros • Who is afraid of

• 1979

Virginia Woolf? • Waiting for Go• Yeshi • Tehadiso • Iqaw

• Theatre Sidada

Tadele GebreHiwot

• Man Now

dot Yeshi Renaissance The Object The Verdict is Yours • When Theatre Begins to Crowl • • • •

• 1979 • 1975 • 1984 • 1989

• Who is Ethiopian

• 1970er

• Othello • The Farewell of

• 1970er

Ethiopiawe

Abate Mekuria • Ye Mekdela • • • •

Senebet Abugida Keyeso Mekdem Gammo Ras Allulah Aba Negha

• • • •

Mekdela Abugida Keyeso Prelude Gammo Ras Allulah Aba Negha

Melaku Ashagere Tekle Desta Haimanot Alemu

• Tiglachin

• Our Struggle

• 1977

Getachew Abdi

• Mestawt

• The Mirror

• 1979

Sahlu Assefa

• Blacha Abba

• Blacha Abba

Nefiso

Nefiso • The Merchant of

Venice

A NHANG

Ayalneh Mulat

Melaku Ashagre

• Isat Sined

• When Fire is

• Shater Beyeferju

Burning • The Peasant Woman’s Beacon • Sabotage at different Levels • Pumkin and Gourd

• Barbur

Getachew Abdi Fisseha Belaye-Mariam

| 343

• 1975 • 1977

• 1979

• The Train • 1928

• 1990er

• Hoda Yifejew • Simegn Sintayehu

• Better Leave It • I Saw So Much

• 1985 • 1988

• Alkash na Zefagn

• The Mourner and

• 1994

• Wetété

the Minstrel • My Milk

• 1987

When I Wished

Asterdkachew Yehun Manyazwal Endeshaw

• The Zoo Story • The Stronger • The Birthday Par-

• 1990er

ty • Waiting for Go-

dot • Caligula • Friends

Nebiyou Mekonnen Aboneh Ashagrie

• Bahir Mado

• Abroad

Tamrat Gebeyehu

• Ye Cupid Kest

• Cupid’s Arrow

• 1989

Tsegaye

• Ha Hu Weyim

• Abc or Xyz

• 1992

344 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

Gebre-Medhin

Pa Pu • Zikegnaw Joro

• The Lower Ear

• 1989

Abate Mekuria

• Ye Listros Opera

• Shoe Shine Opera • Oedipus Rex

1990

Cast Production

• Yekeletaw Mender

• The Chaotic

1999

Quarter Nebiyou Tekalign

• Ye Rom Wedket • Enbitegninet • Keadmas Bashager

• The Fall of Rome • Defiance • Beyond the Hori-

• 1988 • 1992

zon Solomon Alemu

• Kedankira Beseg-

• Behind the Dance

• 1990s

Adey Ababa Begame Mikrat

• Staying Unmar-

• 1980er • 1990er

Yegeter na Fana

• Light of the

Yementa Enat Deha Adeg Tibebegnawa Galamota

• Mother of Twins • Child of Poverty • The Artful

erba Telahun Gugsa Alemu Abera Djoro Ayalneh Mulat

• • • • • • • •

ried Country

Tesfaye Gessesse Getnet Eneyew

• 1993 • 1994

Widow • Nathan the Wise

• 1990er

• Addis Ababa Wey • Ye Tewodros Rai

• Oh Addis Abeba • The Vision of

• 2005

• Hamsa Amet Sinte

• How long last 50

Tewodros New? • Webeten Felega

years? • In the Search of

Beauty

A NHANG

• • • •

Widinek Kifle

Hindeke Misterinotchu Ye Igzier Etat Berhan Yehun

• Babylon Be Salon

• • • •

Hindeke Secrets God’s Finger The Future is Bright

| 345

• 2011

• Babylon on the

Living Room Netsanet Workneh Azeb Worku Sibane

• Miskelkel • Simintu Setotch

• Freshmen

• 2008

• Disorganized • The Eight

• 2006

Women • Yemist Yalehe

• Diaspora • Where Can I find

• 2009 • 2011

my Wife Zakarias Berhanu N.N.

• Be Dem Nefs

• Actions of Un-

conscious State

Meaza Worku

• Ke Selamta Gar

• Desperate to

• 2014

Fight Webet Abate (Tanz)

• Phenomenal

Berhanu Ashagrie (Performance Art)

• Morning Beauty • Emergency Exit

• 2010er

• Thoughts of

• 2009

Mihiret Kebede (Performance Art)

Helen Zeru (Performance Art)

• 2000er

Woman • Chat

• Netsa Hasab

Freedom

• Neither in Nos-

talgia, nor…

• 2014

346 | P ERFORMATIVE K ÜNSTE IN ÄTHIOPIEN

Robel Temesgen (Performance Art)

• Semone Himamat

• 2014

Junaid Jemal Sendi • Ene Man Negn und Addisu Demissie (Tanz)

• Who am I

Adugna Dance Compagnie (Tanz)

• Helping Hand • Right Offspring • Street Dreams

• Shireferafi

• 2000-

2014

Hilmotch • Yene Hager • Alsemam

• My Country • Don’t listen,

Alnegerem

don’t speak

Z EITTAFEL : AUSTAUSCHBEZIEHUNGEN UND D EUTSCHLAND

ÄTHIOPIEN

Diese von mir zusammengestellte Zeittafel – basierend auf Informationen aus der Sekundärliteratur – dient nur der groben Orientierung für einen schemenhaften historischen Nachvollzug der diplomatischen Beziehungen und kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Äthiopien und Deutschland, wobei Veränderungen in der kulturpolitischen Ausrichtung der jeweiligen Länder sichtbar werden sollen. Äthiopien unterhielt Jahrhunderte lang andauernde wirtschaftliche Beziehungen v.a. mit Ägypten, der mediterranen Welt, dem Mittleren Osten, Indien und Südostasien; kulturelle Austauschbeziehungen wurden vorrangig mit Jerusalem und der arabischen Welt des Mittleren Ostens gestaltet.2 16. Jh.: Pilgerreisen von Äthiopiern nach Jerusalem und Rom; äthiopische Gelehrte halten sich am Collegium Aethiopicum in Rom auf3 1649: Abba Gorgoryus lehrt in Rom den Erfurter Juristen Hiob Ludolf Ge’ez und geht 1652 nach Erfurt für eine wissenschaftliche Zusammenarbeit4

2

Vgl. Zewde, 2002, S. 13; Tessore, 1984, S. 491.

3

Vgl. Schmidt, 2006, S. 48

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17. Jh.: Portugiesische Jesuiten versuchen, das überwiegend christlich-orthodox geprägte Äthiopien katholisch zu missionieren, werden jedoch der Staatsgrenzen verwiesen; daraufhin wird Äthiopien von David II. abgeschottet und ausländischen Einflüssen weitestgehend misstraut5 Europa erhofft militärische Unterstützung Äthiopiens gegen das osmanische Reich; deshalb versucht der römisch-deutsche Kaiser Leopold I. diplomatische Beziehungen mit Äthiopien aufzunehmen6 1830: deutsche, italienische, französische und schwedische Missionarsversuche in Äthiopien7 Ab 1869: Eröffnung des Suez-Kanal befördert ökonomische Interessen Deutschlands in Nordostafrika und am Roten Meer hinsichtlich des Erschließens neuer Absatzmärkte für eigene Exporte und Zugangssicherung zu Rohstoffen8 Um diplomatische Beziehungen bemühen sich sowohl Äthiopien als auch Deutschland: „These contacts were basically necessitated by the development of at least two historical phenomena of the age: the first was colonial imperialism which, on the one hand, threatened the existence of Ethiopia as a sovereign state and which, on the other hand, touched upon Germany’s interest in world power politics. The second, often closely linked with imperialism, was trade whose expansion was required by the rapid growth of German industry.“9

Ab 1880: Bismarck entsendet Forschungsgesellschaft an äthiopischen Kaiserhof10; Versuche europäischer Länder, Äthiopien zu erobern und zu kolonialisieren11 1884: Berliner Konferenz: Aufteilung Afrikas unter europäischen Machthabenden

4

Vgl. ebd. S. 49.

5

Vgl. Tessore, 1984, S. 491.

6

Freiberg, 2008, S. 5.

7

Tafla, 1981, S. 29.

8

Vgl. Tafla, 1981, S. 31.

9

Tafla, 1981, S. 75.

10 Vgl. Zimen, 2005, S. 18. 11 Vgl. Tessore, 1984, S. 492.

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1896: Schlacht von Adwa: Unter Kaiser Menelik II gewinnt Äthiopien den italienisch-äthiopischen Krieg und bewahrt die staatliche Souveränität 1904: Die Rosengesandtschaft reist von Deutschland nach Äthiopien, um diplomatische Beziehungen aufzubauen. Die Delegation setzt sich aus dem Diplomaten und Orientalisten Dr. Friedrich Rosen, dem Repräsentanten des Museums für Völkerkunde in Berlin Felix Rosen, dem Bibliothekar Johannes Flemming und dem Mediziner Hans Vollbrecht zusammen12 1905: Aufnahme bilateraler Beziehungen zwischen souveränen Staaten Deutschland und Äthiopien durch Vertrag zwischen Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Menelik II.13 Mit Unterzeichnung des Freundschafts- und Handelsvertrags verfolgt Kaiser Wilhelm II. neben Handelsinteressen u.a. die Absicht, Rechte für Ausgrabungen in der äthiopischen Kaiserstadt Aksum zu erhalten und altchristliche Forschungen zu betreiben.14 Kaiser Menelik II. verfolgt das Interesse, durch ausländische diplomatische Vertretungen seine Macht zu legitimieren und unterhält aus politisch-strategischen Gründen bilaterale Beziehungen zu Großbritannien, Russland, USA, Italien und Frankeich.15 1906: Erste diplomatische Vertretung Deutschlands in Addis Abeba16 1907: Nach Gründung des Ministeriums für Außenpolitik in Addis Abeba reist die erste äthiopische Delegation nach Berlin und wird von Kaiser Wilhelm II empfangen.17 1920: Im Auswärtigen Amt Deutschlands wird erstmals eine Kulturabteilung gegründet.18 1923: Gründung der Deutschen Akademie in München; Institution sollte nach innen hin Kohäsion sowie Bewusstsein für kulturellen Zusammenhalt einer Nation vermitteln und nach außen hin Sendungsfunktion erfüllen19

12 Vgl. Tafla, 1981, S. 58; Scholler, 2007, S. 18. 13 Vgl. Tafla, 1981, S. 58; Zimen, 2005, S. 6; Scholler, 2007, S. 4. 14 Vgl. Zimen, 2005, S. 29, 34, 36; Freiberg, 2008, S. 9. 15 Vgl. Tessore, 1984, S. 493; Zimen, 2005, S.38. 16 Vgl. Zelleke, 2004, S. 10. 17 Vgl. Both, 2004, S. 109; Zelleke, 2004, S. 10. 18 Vgl. Michels, 2001, S. 15.

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1928: Erste diplomatische Vertretung Äthiopiens in Berlin20 1933-1945: Kulturpolitik des NS-Regimes ist direkt an Kriegspropaganda gekoppelt; Verschränkung von politisch-ideologischer Machtausweitung, territoriale Expansion und kultureller Durchdringung21 1935: Der äthiopische Kaiser Haile Selassie II veranlasst Waffenkäufe in NSDeutschland zur Verteidigung Äthiopiens gegen italienische Invasion unter Mussolini22 1935-1941: Besatzung Äthiopiens durch Italien; Massaker in Addis Abeba; Aufruf zum antikolonialen Widerstand u.a. durch ‚azmaris‘ 1942: Bruch diplomatischer Beziehungen zwischen Äthiopien und Deutschland23 1945: Auflösung der Deutschen Akademie durch amerikanische Besatzungsmacht24 1951: Gründung des Goethe-Instituts als Rechtsnachfolger der Deutschen Akademie; trotz der Neugründung und Namensänderung gibt es finanzielle und personelle Kontinuitäten25 1950er: Aufbau von Strukturen und Gründung von Auslandsinstituten des Goethe-Instituts im Ausland; Sympathiewerbung für Nachkriegs-Deutschland26 1960er: Während des Kalten Krieges überwiegt außenpolitisch das Interesse an Imagepolitik der BRD und deren Repräsentation als Demokratie in Abgrenzung

19 Vgl. Michels, 2001, S. 13-15. 20 Vgl. Zelleke, 2004, S. 13. 21 Vgl. Michels, 2001, S. 19. 22 Vgl. Scholler, 2007, S. 27. 23 Vgl. Zelleke, 2004, S. 14. 24 Vgl. Michels, 2001, S. 13. 25 Vgl. Michels, 2001, S. 14; Kathe, 2005, S. 28. 26 Vgl. Lau, 2001, S. 41.

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zur DDR27; Verlagerung der Schwerpunktsetzung hin zu „Entwicklungshilfe, Bildungshilfe und Kulturaustausch“28 1962: Eröffnung des Goethe-Instituts in Addis Abeba 1970er: Reformdebatte über auswärtige Kulturpolitik in der BRD; Konzeption des erweiterten Kulturbegriffs, um gesellschaftskritische Strömungen zu integrieren und ein Bewusstsein für Reziprozität zu schärfen29 1977: In Äthiopien wird unter der Derg-Regierung das Ministerium für Kultur und Sport gegründet und u.a. die Überwachung von 41 Theater- und Kinosälen veranlasst; das Goethe-Institut in Addis Abeba setzt seine Arbeit in eingeschränktem Maße fort30 1979: Unterzeichnung bilateraler Kulturbeziehungen zwischen Äthiopien und der DDR31 „The common articles of cultural exchange and co-operation, as stipulated in the agreements, include exchange of experts and scientific personnel in art, literature, theatre, music, archeology, cultural heritage preservation, libraries and archives, etc., exchange of lecturers, exhibitions, musical and theatrical performances, films and sport teams.“32

1980er: Innerhalb des Goethe-Instituts wird intern an der Idee von Kulturarbeit als Entwicklungshilfe festgehalten.33 In der Afrikapolitik der DDR unter Honecker werden die diplomatischen Beziehungen zu Äthiopien, Mozambique und Angola priorisiert. Damit verbunden sind u.a. Waffenlieferungen an Äthiopien, Zusammenarbeit in Polizei- und Militärbereich sowie Ausbildung äthiopischer Kader an der Karl-Marx-Universität in Leipzig34

27 Vgl. Lau, S. 41. 28 Kathe, 2005, S. 50. 29 Vgl. Schumacher, 2011, S. 18; Kathe, 2005, S. 57; Bauer, 2009, S. 129 f. 30 Vgl. Eshete, 1982, S. 37. 31 Vgl. Eshete, 1982, S. 41. 32 Eshete, 1982, S. 42. 33 Vgl. Kathe 2005, S. 51 f. 34 Vgl. Kaiser, 2006, S. 256.

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„[…] the GDR government wished to impact the Ethiopian state leadership in such a manner as to ideologically shape it in its own image. […] The exchange of high profile government and party delegations was pretty frequent.“35

1990er: Nach Auflösung der DDR verstärkt das Goethe-Institut die kulturelle Zusammenarbeit mit ehemals sozialistisch orientierten Ostblock-Ländern36 1998-2002: Diplomatische Krise der bilateralen Beziehungen zwischen Äthiopien und Deutschland; die äthiopische Regierung ruft ihren Botschafter aus Berlin zurück und kritisiert die Haltung der deutschen Regierung zum eritreischäthiopischen Krieg37 Ab 2001: Neue Ziele des Auswärtigen Amts der BRD formuliert: stärkere Präsenz in islamisch geprägten Ländern, in Krisenregionen und in wirtschaftlich wachsenden Regionen38

G LOSSAR aquaquam azmaris bitwedded chintz däbtära Derg durijee eskista Ge’ez

ritualisierte Bewegungsabläufe für religiöse Zeremonien in orthodox-christlichen Kirchen und Klöstern Minnesänger hohe militärische Auszeichnung durch diese Betitelung in der kaiserlichen Armee religiöse Gesänge Schriftgelehrte Militärregierung Mengistu Haile Mariams, die umgangssprachlich als Derg bezeichnet wird Draufgänger, Landstreicher, ‚Hansdampf in allen Gassen‘ bekannteste Tanzform in Äthiopien, für die das Bewegen von Schulter- und Halspartie kennzeichnend ist erste äthiopische Schriftsprache, die heute als Liturgiesprache in der orthodoxen-christlichen Kirche Äthiopiens verwendet wird

35 Dagne, 2006, S. 21 f. 36 Vgl. Lau, 2001, S. 42. 37 Vgl. Scholler, 2007, S. 34. 38 Vgl. Schneider, 2008, S. 18.

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gurscha mashaf bet quiné quiné bet semna werq

tsillet zema bet zikre tibeb

Vergabe von Essen an Personen, denen man sich nahe fühlt Haus der Theologie: Theologieausbildung am christlichorthodoxen Kloster Poesie Haus der Poesie: Poesieausbildung im Kloster ‚Wax und Gold‘ als Bezeichnung für ein künstlerisches Verfahren, in dem mittels Metaphorik und Mehrdeutigkeit heikle Inhalte verdeckt transferiert werden können religiöse Handlung im christlich-orthodoxen Kontext Haus des Gesangs: Gesangsausbildung im Kloster Showformat, bestehend aus Musik, Tanz, Rezitation, kurzen Sketchen und animierter Moderation

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAU Anm. ebd. EPRDF

EPRP

etc. EU GI Kap. m.E. Mei’son

Mio. NGO o. A. TAZ UdK

Addis Ababa University Anmerkung ebenda Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (Regierungspartei seit 1991, die aus der Rebellenbewegung der TPLF hervorging) Ethiopian People’s Revolutionary Party (sozialistische Partei, die von in Berlin lebenden äthiopischen Akademiker_innen 1972 gegründet wurde.) et cetera Europäische Union Goethe-Institut Kapitel meines Erachtens Mälla Ithiopya Sociyalist Neqnaqee (marxistisch-leninistische Partei, die überwiegend von Äthiopier_innen in der Diaspora 1968 gegründet wurde) Million Non-Governmental Organization ohne Aufnahme Tageszeitung Universität der Künste, Berlin

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UNESCO UNICEF v.a. vs. u.a. z.T.

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United Nations Educational, Scientific & Cultural Organizations United Nations International Children’s Emergency Fund vor allem versus unter anderem zum Teil

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V ISUELLE Q UELLEN Muluneh, Aida: Dokumentation von „DanceMove UrbanSpace“, Nationaltheater, Addis Abeba, 26.02. 2011, (Standkamera) Köppen, Grit: Dokumentation von „Play with the Senses“, Goethe-Institut, Addis Abeba, 26.04.2012, (Handkamera)

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I NTERVIEWS Köppen, Grit: Interview Getnet Eneyew, Addis Abeba, 15.02.2010. Köppen, Grit: Hintergrundgespräch Aron Yeshitila (o.A.), Addis Abeba, 05.02.2010. Köppen, Grit: Interview Abate Mekuria, Addis Abeba, 08.02.2010. Köppen, Grit: Hintergrundgespräch Ayalneh Mulat (o.A.), Addis Abeba, 11.02.2010. Köppen, Grit: Interview I Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 22.01.2011. Köppen, Grit: Interview Lealem Berhanu, Addis Abeba, 28.02.2011. Köppen, Grit: Interview Johannes Hossfeld, Köln, 06.11.2011. Köppen, Grit: Interview Aron Yeshitila, Chur, 14.01.2012. Köppen, Grit: Interview II Mintesinot Getachew, Addis Abeba, 17.03.2012. Köppen, Grit: Interview Mihiret Kebede, Addis Abeba, 23.04.2012. Köppen, Grit: Interview Tesfaye Gessesse, Addis Abeba, 12.05.2012. Köppen, Grit: Interview Junaid Jemal Sendi, Addis Abeba, 31.03.2012. Köppen, Grit: Interview Adissu Demissie, Addis Abeba, 24.04.2012. Köppen, Grit: Interview Meseret Jirga, Addis Abeba, 24.04.2012. Köppen, Grit: Interview Frew Kebede, Addis Abeba, 28.03.2012. Köppen, Grit: Interview Shiferaw Tariku, Addis Abeba, 29.04.2012. Köppen, Grit: Interview Dawit Desalegn, Addis Abeba, 12.04.2012. Köppen, Grit: Interview Yared Kenny, Addis Abeba, 18.04.2012. Köppen, Grit: Interview Helen Zeru, Addis Abeba, 10.05.2012. Köppen, Grit: Interview Tafari Getachew, Addis Abeba, 20.03.2012. Köppen, Grit: Hintergrundgespräch Bedilu Iassaja o.A., Addis Abeba, 16.04.2012. Köppen, Grit: Interview Elke Kaschl-Mohni, Addis Abeba, 04.05.2012. Köppen, Grit: Interview Katharina von Ruckteschell-Katte, Skype, 14.11.2012. Köppen, Grit: Interview Irmtraud Hubatsch, Addis Abeba, 22.09.2014. Köppen, Grit: Interview Abebew Ayelew, Addis Abeba, 19.09.2014. Köppen, Grit: Interview Bekele Mekonnen, Addis Abeba, 25.09.2014. Köppen, Grit: Interview Henok Getachew, Addis Abeba, 24.09. 2014. Köppen, Grit: Interview Tibebeselassie Tigabu, Addis Abeba, 23.09.2014. Köppen, Grit: Hintergrundgespräch Negashe Abdu (o.A.), Addis Abeba, 20.09.2014. Köppen, Grit: Interview Berhanu Ashagrie, Berlin, 02.11.2014.

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Marion Leuthner

Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)

Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)

Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer

Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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