Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur [1. ed.] 9783770565979, 9783846765975

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Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur [1. ed.]
 9783770565979, 9783846765975

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Posthuman?
Imprint
Inhalt
Vorwort
1. Posthumanismus. Versuch einer Einordnung
I. Diesseits und jenseits des Menschen: Anthropologie und Anthropozän
2. Posthumane Prähistorie
3. Keine Quallen. Anthropozän und Negative Anthropologie
4. Heinrich Rombachs Konzept des ‚menschlichen Menschen‘ als Interpretament für aktuelle Narrative des Anthropozäns
II. Kritischer Posthumanismus und seine Kritik
5. Die neuen Humanities in einer posthumanen Perspektive
6. Philosophischer Posthumanismus
7. Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis. Ein Versuch über die Grenzen anti-essenzialistischen Denkens am Beispiel Rosi Braidotti
III. Transformationen von Subjektivität: Menschen – Tiere – Pflanzen
8. Tierliche Subjekte? Grenzen des Lebens im posthumanen Denken
9. Die Überwindung von Pflanzenblindheit durch die Plantness Studies und Theophrast. Neue Perspektiven auf Pflanze-Mensch-Beziehungen
10. Von Menschen und Tieren in der Moderne. Zur Professionalisierung von Tieren
IV. Maschinen – Menschen: KI und Robotik
11. Posthumane Zukünfte. Spekulationen zur Governance Künstlicher Intelligenz
12. Die Naturalisierung humanoider Roboter. Zu einer Soziologie technischen Wissens
13. Kopien ohne Original. Zur Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz am Beispiel digitaler Assistenten
V. Ökologie und Posthumanismus: Umwelt – toxische Objekte – Wasser
14. Das neue ökologische Paradigma der Umweltsoziologie und der Posthumanismus-Diskurs
15. Herausforderung von Natur/Kultur. Überlegungen zu einer Heuristik toxischer Objekte
16. Von Pfützen und Lücken. Urbanes Wasser posthumanistisch gelesen
VI. Posthumane Kunst: Bilder – Körper – Kristalle
17. Agalmatophilie und Hermeneutik. Posthumane Kunsterfahrung vor dem Bildwerk
18. Von Humanoiden und ihrer Liquidierung. Körper in der Kunst im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie
19. Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer. Eine Intervention zwischen geologischer Kolonialisierung und musealer Dekolonialisierung
Backmatter
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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Posthuman?

Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte (Hg.)

Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsschwerpunkts SoCuM der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Umschlagabbildung: Lena von Goedeke: I was not created to learn your language, 2018 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.brill.com Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6597-9 (hardback) ISBN 978-3-8467-6597-5 (e-book)

Inhalt Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Posthumanismus. Versuch einer Einordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte

1

I. Diesseits und jenseits des Menschen: Anthropologie und Anthropozän 2. Posthumane Prähistorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tim Ingold

49

3. Keine Quallen. Anthropozän und Negative Anthropologie  . . . . . . . . . . Hannes Bajohr

73

4. Heinrich Rombachs Konzept des ‚menschlichen Menschen‘ als Interpretament für aktuelle Narrative des Anthropozäns  . . . . . . . . . . . . Thomas Schmaus

89

II. Kritischer Posthumanismus und seine Kritik 5. Die neuen Humanities in einer posthumanen Perspektive  . . . . . . . . . . . Rosi Braidotti

111

6. Philosophischer Posthumanismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Francesca Ferrando 7. Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis. Ein Versuch über die Grenzen anti-essenzialistischen Denkens am Beispiel Rosi Braidotti  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Jenni Brichzin

vi

Inhalt

III. Transformationen von Subjektivität: Menschen – Tiere – Pflanzen 8.

Tierliche Subjekte? Grenzen des Lebens im posthumanen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Andrea Le Moli

9.

Die Überwindung von Pflanzenblindheit durch die Plantness Studies und Theophrast. Neue Perspektiven auf Pflanze-Mensch-Beziehungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Marco Antonio Pignatone

10.

Von Menschen und Tieren in der Moderne. Zur Professionalisierung von Tieren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Alexandra König, Annette Schnabel

IV. Maschinen – Menschen: KI und Robotik 11.

Posthumane Zukünfte. Spekulationen zur Governance Künstlicher Intelligenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Nandita Biswas Mellamphy

12.

Die Naturalisierung humanoider Roboter. Zu einer Soziologie technischen Wissens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Hannah Link, Herbert Kalthoff

13.

Kopien ohne Original. Zur Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz am Beispiel digitaler Assistenten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Henning Laux

V. Ökologie und Posthumanismus: Umwelt – toxische Objekte – Wasser 14.

Das neue ökologische Paradigma der Umweltsoziologie und der Posthumanismus-Diskurs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Matthias Groß

Inhalt

vii

15.

Herausforderung von Natur/Kultur. Überlegungen zu einer Heuristik toxischer Objekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Christiane Schürkmann

16.

Von Pfützen und Lücken. Urbanes Wasser posthumanistisch gelesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Ina Dietzsch

VI. Posthumane Kunst: Bilder – Körper – Kristalle 17.

Agalmatophilie und Hermeneutik. Posthumane Kunsterfahrung vor dem Bildwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Ralf Bormann

18.

Von Humanoiden und ihrer Liquidierung. Körper in der Kunst im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Sarah Sigmund

19.

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer. Eine Intervention zwischen geologischer Kolonialisierung und musealer Dekolonialisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Kerstin Flasche

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Vorwort Dieser Band ist aus der interdisziplinären und internationalen Konferenz „Jenseits des Menschen? Posthumane Perspektiven auf Natur/Kultur // Posthuman? New Perspectives on Nature/Culture“ hervorgegangen, die im September  2019 als 4. Mainzer Symposium der Sozial- und Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattgefunden hat. Insgesamt dreißig Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen haben dort mit uns und einer Vielzahl von Gästen ihre aktuellen Forschungen geteilt und diskutiert. Der Band stellt eine Auswahl der dort präsentierten Ansätze vor und ergänzt sie um eine Reihe weiterer thematisch einschlägiger Beiträge. Das Ziel unseres Bandes ist, einen Einblick in den derzeitigen Stand der posthumanistischen Debatte zu geben und entlang ausgewählter Forschungsbeiträge Perspektiven für posthumanistisches Denken und posthumanistisch inspirierte Forschung auszuloten. Ohne die Hilfe vieler unterschiedlicher Personen und Institutionen hätte diese Publikation nicht realisiert werden können: Insbesondere danken wir dem Forschungsschwerpunkt Social and Cultural Studies Mainz (SoCuM) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die finanzielle Unterstützung der Tagung und der Buchpublikation. Auch Kornelia Engert, Tobias Huff und Christiane Schürkmann als den weiteren Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe bei SoCuM, deren mehrjährige Zusammenarbeit schließlich in die gemeinsame Durchführung der Tagung mündete, gebührt unser Dank. Lena von Goedeke danken wir für die Erlaubnis, die Fotografie für den Buchumschlag sowie für das Tagungsplakat zu verwenden. Den Mitarbeiter*innen des Brill|FinkVerlags und insbesondere Andreas Knop danken wir für die kompetente Betreuung und Umsetzung der Publikation. Weiter möchten wir Aristea Bagia und Simone Cavallini für die Unterstützung bei der Übersetzung einiger Texte unseren Dank aussprechen sowie Theresa Humburg für Recherche und Redaktion. Ein ganz besonderer Dank gilt Aaron Hock, der uns mit seiner Umsicht, seiner Sachkenntnis und seinem Engagement während des gesamten Arbeitsprozesses eine unschätzbar große Hilfe war. Allen voran aber möchten wir den Autor*innen danken, die das Zustandekommen des Bandes überhaupt erst ermöglicht haben. Mainz, Innsbruck, Greifswald, im Februar 2023 Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte

Posthumanismus Versuch einer Einordnung Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte

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Hinführung

Die Hinführung zum Thema des vorliegenden Bandes Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur soll mit einigen Bemerkungen zur auf dem Cover abgebildeten Fotografie der Künstlerin Lena von Goedeke eröffnet werden.1 Das düster, bedrohlich und vielleicht auch dystopisch wirkende Stimmungsbild des vermeintlich ewigen Eises wie auch der Titel des Werkes I was not created to learn your language (2018) veranschaulichen einige zentrale Aspekte der Kategorie des Posthumanen, die in diesem Band näher erörtert werden sollen. Die Fotografie thematisiert die Widersprüchlichkeit und Verwickeltheit unserer Zeit, in der der Mensch in seiner scheinbaren Allmacht und Größe zum geologischen Faktor avanciert, die Polarkappen zum Schmelzen bringt, dabei aber dem von ihm in Gang gesetzten Geschehen machtlos und klein gegenübersteht. Das Motiv des einsamen Menschen in der Landschaft – die ikonografische Anknüpfung an romantische Bildtraditionen und insbesondere an Caspar David Friedrichs Mönch am Meer ist offenkundig – greift ein für die posthumanistische Debatte zentrales Thema auf: die perspektivische Relativierung der Stellung des Menschen in und gegenüber seiner Umwelt. Mit dem Eisberg, der mittlerweile zu einem Symbol der Erderwärmung und der damit verbundenen dramatischen Folgen geworden ist, wirft das Bild zudem die Frage auf, ob dem Menschen überhaupt eine Zukunft auf dem Planeten beschieden sein wird. Die grelle Rettungsweste lässt sich dabei als ein Hinweis auf diese Krise verstehen, steht umgekehrt aber auch für eine wachsende Sorge um den Planeten und für die Hoffnung, ihr mit den intellektuellen und technologischen Kapazitäten des Menschen doch noch wirksam begegnen zu können. Die Fotografie lässt sich daher als ein Sinnbild für das Anthropozän und damit zugleich für die im posthumanistischen Diskurs verhandelten Fragen nach einem Abschied vom Menschen, nach einem neuen Verständnis von Natur und Kultur (Latour 1995; Haraway 2003), nach einer posthumanistischen, ‚affirmativen Ethik‘ (Braidotti 2019b) und nach der Rolle von ‚Hyperobjekten‘ 1 Wir danken Lena von Goedeke für die Erlaubnis, die Fotografie für den Buchumschlag sowie für das Tagungsplakat zu verwenden.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_002

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Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte

(Morton 2013) wie der Erderwärmung deuten. Die durch das Anthropozän bestimmte posthumane Situation (Braidotti 2014) fordert – so prominente Vertreter*innen des Posthumanismus – eine radikale Infragestellung unserer Idee vom Menschen, eine Aufgabe der menschlichen Hegemonie und eine massive Aufwertung der in ihrer Handlungsmacht vielfach unterschätzten nicht-menschlichen Entitäten, die bislang zum Schweigen verurteilt gewesen seien und denen endlich eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Sinne lassen sich der Fotografie zentrale Charakteristika posthumanistischen Denkens entlocken, die im Wesentlichen auf die im Rahmen dieser Einleitung noch erörterten Begriffe Post-Humanismus, Post-Dualismus, PostAnthropozentrismus und Perspektivismus gebracht werden können. Sie lädt zu einem Denken jenseits des Menschen ein – nicht zuletzt, weil sie offenlässt, wer hier eigentlich zu wem sagt: „I was not created to learn your language“.2 Der Posthumanismus scheint in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften angekommen zu sein. Darauf verweist vor allem die Publikationsdichte, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten seit Katherine Hayles How We Became Posthuman (Hayles 1999) und befördert durch weitere Wegmarken wie Rosi Braidottis Der Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen (Braidotti 2014) erheblich zugenommen hat. Neben teils programmatisch angelegten Überblicksdarstellungen (Herbrechter 2009; Loh 2018; Nayar 2014; Wolfe 2010), Glossaren (Braidotti/Hlavajova 2018; Braidotti/Jones/Klumbyte 2022), Handbüchern (Herbrechter et al. 2022; Mahon 2017; Sampanikou/Stasienko 2021), Sammelbänden (Wilmer et al. 2023; Herbrechter et al. 2018) und monografischen Reihen wie Cary Wolfes Posthumanities oder Stefan Lorenz Sorgners Posthuman Studies haben sich mittlerweile auch interdisziplinär ausgerichtete Zeitschriften wie das Journal of Posthuman Studies oder das Journal of Posthumanism etabliert, die mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung aktuelle Forschungen versammeln und das Feld weiter konturieren. Auch die thematische Ausrichtung von Konferenzen, Workshops und Lehrveranstaltungen zeugt von einem quer durch die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen stark gestiegenen Interesse für posthumanistische Perspektiven und Fragestellungen. Rosi Braidotti bringt es so auf den Punkt: „Whether we appreciate the term or not, these are posthuman times and scholarship in this field is in full expansion“ (Braidotti 2017: 10). 2 Mit dieser titelgebenden Aussage ist zugleich eine Kritik am posthumanistischen Denken angesprochen: Wird der Versuch, die Perspektive eines Eisbergs einzunehmen, nicht an den Grenzen des Denk- und Sagbaren scheitern? Können wir nicht – um Martin Heideggers Worte zu bemühen (1983b: 320f.) – immer nur durch unsere eigenen Augen sehen? Diese Fragen werden wir später aufgreifen.

Posthumanismus. Versuch einer Einordnung

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Das Spektrum an posthumanistisch erschlossenen Themenfeldern ist weit und umfasst Studien aus Bereichen wie Neurotechnologie, Mikrobiologie, Molekularanimation, Nuklearität, Bioästhetik, Prothetik oder Mensch-TierPflanze-Beziehungen. Ebenso vielfältig wie die behandelten Themen sind auch die theoretischen und disziplinären Hintergründe der in diesem Feld tätigen Wissenschaftler*innen. Zu nennen sind hier etwa Wissenschaftsphilosophie, Ökokritizismus, Feministischer Kritizismus, Postcolonial Studies, Cultural Studies, Animal Studies, Plant Studies, Science and Technology Studies, Akteur-Netzwerk-Theorie, Multispecies Ethnography, Agentieller Realismus, Neuer und Vitaler Materialismus oder die Objektorientierte Ontologie. Den Posthumanismus gilt es daher im Plural, als ein heterogenes Ensemble verschiedener theoretischer Ansätze und Forschungsrichtungen zu denken: Es gibt nicht den einen Posthumanismus, sondern es gibt seiner viele. Als „umbrella term“ (Ferrando 2019: 1) vereint er diverse, teils gegenläufige Denkrichtungen, die sich wiederum unterschiedlich kategorisieren lassen. So unterscheidet Janina Loh (2018) zwischen Kritischem und Technologischem Posthumanismus und grenzt beide vom Transhumanismus ab,3 während Stefan Lorenz Sorgner und Stefan Herbrechter Letztere nicht kategorisch voneinander trennen. Dessen ungeachtet eint die Posthumanismen, dass sie das Posthumane – das vielfach im Vagen verbleibt – als „conceptual persona or navigational tool“ (Braidotti 2017: 22) adressieren und es als Zuschreibung für eine bestimmte Verfasstheit, Situiertheit oder auch für bestimmte Phänomene 3 Im Gegensatz zum Kritischen Posthumanismus, auf den wir uns in dieser Einleitung vor allem konzentrieren, zielt der Transhumanismus nicht auf die Überwindung eines humanistischen Menschenbildes ab, sondern auf die Überwindung menschlicher Beschränkungen durch technologische Modifikation (Loh 2018: 46–135). Im Mittelpunkt stehen hier Themen wie Lebensverlängerung und Unsterblichkeit, Cryo-Konservierung, Enhancement durch Prothesen und Implantate oder die Veränderung von DNA mittels Genomchirurgie. Die Konzentration auf eine mit den Mitteln von Wissenschaft und Technologie zu bewerkstelligende Menschenoptimierung wird von kritisch-posthumanistischer Seite als Affirmation und Radikalisierung einer aufklärerisch-humanistischen Tradition kritisiert, während zugleich die gesellschaftlichen Folgen solcher Entwicklungen dramatisch unterreflektiert blieben (Ferrando 2019: 33–34). Eine Radikalisierung transhumanistischen Denkens findet sich schließlich in Ansätzen eines Technologischen Posthumanismus, der nicht mehr auf Verbesserung, sondern auf technologische Überwindung des Menschen abzielt. Hier finden sich Themen wie das Mind Uploading, bei dem etwa über Gehirn-Scanning Geist und Persönlichkeit auf ein anderes Medium und in einen beliebig gestalteten Körper übertragen werden sollen (Moravec 1988), oder die Singularität als der Moment, an dem der Mensch durch eine artifizielle Super-Intelligenz bzw. eine Universal-KI als der nächsten evolutionären Stufe abgelöst wird, was schon für die nähere Zukunft prognostiziert wird (Kurzweil 2014; Vinge 1993; vgl. hierzu und zur Gegenüberstellung von Transhumanismus und Technologischem Posthumanismus Krüger 2019).

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Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte

verwenden. So ist etwa die Rede von einer ‚posthumanen Empfindsamkeit‘ (posthuman sensitivity/posthuman sensibility) (Braidotti 2019a: 76; Ferrando 2019: 54; Hamilton/Tylor 2017: 73), die eine Internalisierung posthumanistischer Basisprämissen bzw. die Einnahme einer entsprechenden Haltung im Forschungsprozess beschreibt, oder von einem ‚posthumanen Wissen‘ (Braidotti 2019a), das auf eine ‚posthumane Situation‘ (posthuman condition) oder ‚posthumane Verwicklung‘ (posthuman predicament) reagiert (Braidotti 2013): Das Posthumane ist weniger eine dystopische Zukunftsvision als ein Bestimmungsmerkmal unserer historischen Situation. Ich habe die posthumane Situation als Konvergenz des Posthumanismus einerseits und des Postanthropozentrismus andererseits definiert, angesiedelt in der Wirtschaftsform eines fortgeschrittenen Kapitalismus (Braidotti 2014: 7).

In einem weiteren Kontext wird die heutige posthumane Situation „zwischen der vierten industriellen Revolution und dem sechsten Massensterben“ (Braidotti 2021: 218) lokalisiert, und damit im schon angesprochenen Anthropozän. Das Konzept des Anthropozäns basiert letztlich auf dem Gedanken, dass die Auswirkungen anthropogener Prozesse auf den Planeten derart gravierend sind – man spricht mithin von einem erdhistorischen Bruch in der Funktionsweise des Erdsystems –, dass sich für das Wirken des Menschen eine eigene geohistorische Epochenbezeichnung aufdrängt (Hüpkes 2020: 4; vgl. dazu auch Renn/Scherer 2015).4 Der von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer eingebrachte erdsystemwissenschaftliche Begriff (Crutzen/Stoermer 2000; Crutzen 2002) leitete einen Paradigmenwechsel zunächst in den Geo- und Lebenswissenschaften (Hüpkes 2020: 4) und schließlich auch in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ein (Dürbeck 2018; Latour 2014; Swanson et al. 2015; Welz 2021) und wurde zu einem zentralen Bezugspunkt und Antrieb der posthumanistischen Debatte. Einerseits liefert das Anthropozän-Konzept mit seiner Ausrichtung auf die massiven Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Ökosphäre eine Reihe von Gründen für das posthumanistische Projekt der Überwindung eines menschlichen Selbstverständnisses als Hypersubjekt (Boyer/Morton 2021), das für die gegenwärtige Situation verantwortlich gemacht wird, und impliziert 4 Zu den ökologischen Folgen menschlichen Wirkens gehören etwa der globale Klimawandel durch die Konzentration von Treibhausgasen, das Ausdünnen der Ozonschicht, Versiegelung, Überfischung, Landschaftstransformation, Artensterben und Rückgang der Biodiversität, Ressourcenerschöpfung, Folgen der Nutzung von Kernkraft, Genetic Engineering und Climate Engineering (Crutzen/Störmer 2000).

Posthumanismus. Versuch einer Einordnung

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insofern einen post-anthropozentrischen Zugriff.5 Indem es eine planetare Perspektive eröffnet, die Verwicklungen von Natur- und Menschheitsgeschichte, von Geo- und Anthroposphäre betont und auf einen Begriff bringt, trägt das Konzept andererseits zu einer Revision der modernen Differenz von Mensch und Welt bzw. Natur und Kultur bei und ist im Hinblick hierauf inhärent postdualistisch angelegt (vgl. Pötzsch 2022: 71–75). Für den Posthumanismus ist die hierdurch eröffnete Perspektive so zentral, dass er sich bisweilen als ‚Philosophie des Anthropozäns‘ begreift (Ferrando 2019: 187), wobei er sich zugleich als Reformulierung und Neuperspektivierung des Anthropozän-Problems versteht: [P]osthuman theory is a generative tool to help us re-think the basic unit of reference for the human in the bio-genetic age known as ‚anthropocene‘, the historical moment when the Human has become a geological force capable of affecting all life on this planet. By extension, it can also help us re-think the basic tenets of our interaction with both human and non-human agents on a planetary scale (Braidotti 2013: 5–6; vgl. auch 2017: 10).

Die Kritik an den Implikationen eines westlich geprägten, aufklärerischhumanistischen Menschenbildes, das den Menschen zum alleinigen Maßstab macht, ihn in ein instrumentell-herrschaftliches Verhältnis zu seinen ökologischen, sozialen und mentalen Umwelten (Guattari 2016) setzt und ihm einen (auch moralischen) Sonderstatus im Verhältnis zu anderen Entitäten zuschreibt, ist ein zentrales Anliegen des Posthumanismus. Für die weltweit dominierenden hierarchischen, exkludierenden und letztlich ausbeuterischen Mensch-Umwelt-Relationen und Sozialverhältnisse sowie für existentielle Fehlentwicklungen im planetaren Ausmaß macht der Posthumanismus westliche Denktraditionen verantwortlich: Angesichts eines rapiden anthropogenen Klimawandels mit absehbar katastrophalen Folgen, der Vernichtung von Lebensgrundlagen durch ungebremste Ausbeutung begrenzter Ressourcen, eines massenhaften Artensterbens, der Deprivilegierung ganzer Weltregionen im Kontext einer globalen Ökonomie und Arbeitsteilung, der industriellen Exploitation tierischen Lebens sowie einer wachsenden Einsicht in die Unfähigkeit zu effektiver Risikokontrolle und zur Lösung selbst geschaffener Probleme wird die Zentralstellung des Menschen im Posthumanismus massiv hinterfragt. 5 Timothy Morton charakterisiert das Anthropozän gar als das erste nicht-anthropozentrische Konzept, da es die Machtlosigkeit, Schwäche und Zerbrechlichkeit des Menschen offenbart und ihm zugleich seine seit jeher bestehenden Verstrickungen mit mehr-als-menschlichen Entitäten vor Augen führt (Morton 2014; Morton/Boyer 2021: 28; vgl. dazu Bajohr im Band).

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Der vorliegende Band nimmt die noch relativ junge Denk- und Forschungsrichtung des Posthumanismus näher in den Blick. Er zielt auf eine kritische Sondierung und Bestandsaufnahme, Einordnung und Standortbestimmung posthumanistischen Denkens und posthumanistisch inspirierter Forschung sowie die kritische Diskussion sowohl der Potenziale posthumanistischer Ansätze für die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften als auch der mit ihnen verbundenen Probleme. Der Band geht aus der interdisziplinären und internationalen Konferenz „Jenseits des Menschen? Posthumane Perspektiven auf Natur/Kultur“ hervor, die im September 2019 im Rahmen des 4. Mainzer Symposiums der Sozial- und Kulturwissenschaften am Forschungsschwerpunkt SoCuM der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt wurde. Er versteht sich nicht als reine Tagungsdokumentation, insofern er die dortige Diskussion nicht abbildet, sondern fortführt und mit weiteren grundlegenden Beiträgen namhafter Autor*innen vertieft. Die Einleitung des Bandes ist wie folgt aufgebaut: Wir werfen zunächst einige Schlaglichter auf philosophische Ursprünge und Vorläufer des Posthumanismus und erörtern in einem zweiten Schritt die zentralen Charakteristika (kritisch-)posthumanistischen Denkens. Nach einer kritischen Würdigung fragen wir dann danach, wie sich die teils voraussetzungsreichen und abstrakten posthumanistischen Konzepte und Perspektiven in der empirischen Forschung niederschlagen (können). Ein Überblick über die Beiträge des Bandes schließt die Einleitung ab.

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Philosophische Vorläufer des Posthumanismus

Als früher Beleg für den Begriff „Posthumanismus“ gilt der Text Prometheus as Performer. Toward a Posthumanist Culture? des Literaturwissenschaftlers Ihab Hassan aus dem Jahr 1977, in dem bereits einige Grundgedanken aufscheinen, die für den späteren Posthumanismus – der hier noch als „zweifelhafter Neologismus“ (Hassan 1997: 843) bezeichnet wird –, bestimmend sind (vgl. Herbrechter 2009: 33–35; Loh 2018: 94–95; Ferrando 2019: 25). Der Text entwirft die Vision einer posthumanistischen Kultur und spricht von einer Transformation des Humanismus, auch unter dem Einfluss neuer Technologien (vgl. Hassan 1997: 841). Was hier noch als Zukunftsvision erscheint, wird bereits zwanzig Jahre später als eingelöst betrachtet, wie der Titel von Katherine Hayles Schlüsseltext How We Became Posthuman (1999) nahelegt. Als eigenständige Strömung hat sich der Posthumanismus in den 1990er Jahren im Zuge einer Weiterentwicklung des Poststrukturalismus unter dem Einfluss feministischer und postkolonialer Theorie herausgebildet (vgl. Loh 2018: 132– 135; Braidotti 2014: 22–42; Ferrando 2019: 24). Francesca Ferrando spricht in

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diesem Zusammenhang von einer zweiten Generation des Postmodernismus (vgl. Ferrando 2019: 2). Auf der Suche nach den philosophischen Ursprüngen des Posthumanismus beginnen einschlägige Einführungen oft bei Friedrich Nietzsche, der schon früh Kritik an der Vernunftherrschaft der Aufklärung und an einer christlich geprägten Ethik formuliert hat. Nach Herbrechter lassen sich diese „nietzscheanischen Wurzeln des Posthumanismus […] schwer verleugnen“ (Herbrechter 2009: 31). Dabei wird vor allem auf Nietzsches Idee des Übermenschen Bezug genommen, die als Vorwegnahme des Transhumanismus beansprucht wird (vgl. Sorgner 2009; dazu Ferrando 2019: 48). Angesichts der notorischen Unklarheit des Begriffs bei Nietzsche (vgl. Mersch 2020: 38) ist es nicht verwunderlich, dass diese Inanspruchnahme umstritten ist. Tatsächlich lässt sich die transhumanistische Vorstellung einer technologischen Transformation und Optimierung des Menschen nicht ohne Weiteres mit Nietzsches Idee des Übermenschen in Einklang bringen: Zwischen dem von Nietzsche angesprochenen Prozess der Selbst-Erziehung und Selbst-Überwindung (vgl. Skowron 2013), der die schöpferische Kraft des Menschen freilegen soll, für die wiederum der Übermensch als Metapher dient (vgl. Penzo 2000), und einer rein technologisch induzierten Steigerung von Leistungsfähigkeit besteht ein fundamentaler Unterschied. Nietzsches im Zarathustra angedeutete Sicht auf den Menschen als Übergangswesen hingegen scheint durchaus mit posthumanistischen Vorstellungen zu harmonieren, doch erweist sich die dort formulierte hierarchische Reihung Affe – Mensch – Übermensch aus posthumanistischer Perspektive ihrerseits als problematisch (vgl. Ferrando 2019: 50 sowie zu Nietzsche den Beitrag von Le Moli in diesem Band). Als zentrale Bezugspunkte posthumanistischen Denkens erscheinen bei Nietzsche deshalb weniger bestimmte Vorstellungen zur Charakterisierung des Menschen als vielmehr seine Kritik an der Moderne, an einem bestimmten Moral- und Rationalitätsverständnis und an der Metaphysik sowie seine Betonung der Perspektivität von Erkenntnis. Häufig wird Nietzsche aufgrund seiner Rationalitäts- und Metaphysikkritik in eine Reihe mit Martin Heidegger und Michel Foucault gestellt, die in diesem Zusammenhang bisweilen als „Antihumanisten“ bezeichnet und als Vordenker des Posthumanismus verstanden werden (vgl. Ferrando 2019: 45–53; Braidotti 2014: 22–31), auch wenn die von diesen Autoren kritisierten Vorstellungen mit dem Begriff des Humanismus nur sehr grob umrissen werden.6 Bei Heidegger sind es vor allem sein Vorbehalt gegenüber der Zentralstellung 6 „Antihumanismus“ wird in diesem Kontext als Synonym für eine radikale Humanismuskritik verwendet, nicht als Bezeichnung für eine politische Praxis, die sich am Inhumanen orientiert

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des Menschen in der Tradition der Metaphysik, seine Kritik am SubjektObjekt-Dualismus und sein Interesse an der Technik, die ihn als Kritiker des Humanismus und für den Posthumanismus als anschlussfähig erscheinen lassen.7 Insbesondere der Brief über den „Humanismus“ (Heidegger 1976), dessen Wirkung auf die poststrukturalistische Philosophie kaum zu überschätzen ist (vgl. Rae 2014), stellt einen immer wieder erwähnten Bezugstext des Posthumanismus dar.8 Schon in Sein und Zeit (1927) kritisiert Heidegger den auf Descartes zurückgehenden Subjekt-Objekt-Gegensatz der modernen Philosophie und betont, dass wir keineswegs von außen auf eine von uns getrennte Welt blicken, sondern immer schon in der Welt sind. In den Texten der 1930er Jahre verschiebt sich die Perspektive dann im Zuge der sogenannten „Kehre“: Hatte Heidegger anfangs noch das Ziel verfolgt, sich dem Sein über eine Analyse der Bedingungen des menschlichen Daseins zu nähern, vertritt er später die Auffassung, das menschliche Sein lasse sich umgekehrt erst aus dem Wesen des Seins selbst verstehen. „Die Frage nach dem Menschsein“, so Heidegger in der Einführung in die Metaphysik von 1935, „ist jetzt in ihrer Richtung und Reichweite einzig aus der Frage nach dem Sein bestimmt“ (Heidegger 1983a: 214).9 Im Humanismusbrief nun kritisiert Heidegger ein „metaphysisches“ Verständnis des Menschen, das verschiedenen Formen des Humanismus zugrunde liegt: „Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder er macht (vgl. Wolf 2016). Zu den verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Humanismus-Begriffs vgl. Mersch 2020 sowie unten das Kapitel 3.1. 7 Zu Heideggers Bedeutung für den Posthumanismus vgl. Rae 2014; Mersch 2020: 37f. sowie den Beitrag von Ferrando in diesem Band (ferner nehmen im vorliegenden Band auch die Beiträge von Le Moli, Bormann und Schmaus Bezug auf Heidegger). Peter Sloterdijks sehr kontrovers diskutierter Text Regeln für den Menschenpark (Sloterdijk 1999), der häufig im post- und transhumanistischen Kontext gelesen wird, versteht sich explizit als Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. 8 Die 1947 veröffentlichte Schrift, die auf eine Anfrage Jean Beaufrets antwortet, ist Heideggers erste Publikation nach dem Krieg und hat die Heidegger-Rezeption in Frankreich maßgeblich geprägt. Zuvor war Heidegger dort vor allem durch Sartres existenzialistische Deutung von Sein und Zeit bekannt, von der er sich in diesem Text kritisch absetzt; Sartre fungiert dabei als Vertreter eines Humanismus, wie er in der Nachkriegszeit populär wurde. Dass später „Poststrukturalismus und Postmoderne […] unter den Heideggerschen Bannern des ‚Antihumanismus‘ und des ‚postmetaphysischen Denkens‘ [segeln]“, wie Dirk Mende (2013: 225) schreibt, lässt sich letztlich auf diesen Rezeptionsweg zurückführen; inwiefern das viel bemühte Label des Antihumanismus jedoch auf Heideggers Anliegen zutrifft, bleibt zu diskutieren. 9 In diesem Kontext gewinnen auch die Dinge bei Heidegger eine neue Bedeutung, die sie aus ihrer Einbindung in einen menschlichen Zweckzusammenhang herausführt und ihnen einen Eigensinn zuschreibt. Dieser Aspekt wird später von der Objektorientierten Ontologie aufgegriffen (vgl. Harman 2002).

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sich selbst zum Grund einer solchen“ (Heidegger 1976: 321). Unter „Metaphysik“ versteht Heidegger eine seit Platon fortdauernde und von einer fundamentalen Seinsvergessenheit geprägte Epoche des Denkens, die auch den Menschen nicht in seinem Bezug zum Sein selbst denken kann. Stattdessen suche sie den Menschen wie ein beliebiges seiendes Ding theoretisch zu bestimmen – etwa als animal rationale –, während sie ihn zugleich (insbesondere in der Moderne) zu sehr in den Mittelpunkt des Denkens rücke. Getragen von der Hoffnung, „den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen“ (Heidegger 1976: 319), versucht Heidegger demgegenüber, das Wesen des Menschen vom Sein her zu denken. Obwohl oft als „Antihumanist“ bezeichnet, geht es Heidegger also nicht um eine einfache Abkehr vom humanistischen Denken oder gar um eine Verabschiedung oder Abschaffung des Menschen. Vielmehr kritisiert er eine bestimmte Form des Humanismus und betont, „[d]aß der Gegensatz zum ‚Humanismus‘ keineswegs die Verteidigung des Inhumanen einschließt, sondern andere Ausblicke eröffnet“ (Heidegger 1976: 348).10 Ähnlich wie Heidegger kritisiert auch Foucault, ein weiterer als „Antihumanist“ gelesener Kronzeuge des Posthumanismus, dass sich der Mensch in der Moderne ins Zentrum des Universums gesetzt und alles von sich und seiner Subjektivität abhängig gemacht habe. Bereits in Die Ordnung der Dinge verabschiedet sich Foucault von der Vorstellung eines erkennenden und autonom handelnden Subjekts in der Geschichte. Stattdessen werden die Subjekte als von unbewussten Denkvoraussetzungen (historischen Apriori) bestimmt verstanden, die nicht nur die Gegenstände der Erfahrung erst ermöglichen, sondern auch die Subjekte als solche erst formen. Foucaults Provokation für seine Zeitgenossen bestand darin, dass er die Orientierung am Menschen selbst, das humanistische Paradigma der Geistes- und Sozialwissenschaften, als Ausdruck einer kontingenten historischen Konstellation verstand, die zudem noch im Schwinden begriffen war: „Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts existierte der Mensch nicht“ (Foucault 1971: 373), jedenfalls nicht als Ordnungsraster des Wissens, und es ist fraglich, wie lange er sich noch hält – so die zentrale These. Ausdruck findet sie in den Schlusszeilen des Buches, die über ein mögliches 10

Heidegger weitet seine Kritik an der Seinsvergessenheit des „abendländischen“ Denkens in seinen späteren Texten wie Die Frage nach der Technik (Heidegger 2002) auf die Technik und die Wissenschaft aus. Jene betrachtet er nicht als bloßes Instrument in den Händen des Menschen, sondern als eine Art des Weltzugangs (vgl. Heidegger 2002). Das „Ge-stell“, wie er die moderne Technik benennt, bewirkt jedoch ein anderes Verhältnis zur Natur, die so verändert wird, dass sie als bloße Verfügungsmasse fungieren kann. Diese technikphilosophischen Überlegungen sind besonders für den Technologischen Posthumanismus und den Transhumanismus wichtige Anknüpfungspunkte (vgl. Herbrechter 2009: 135–139).

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Ende der modernen Wissensformation spekulieren, mit der bekannten Metapher eines verschwindenden Gesichts im Sand, auf die auch im posthumanistischen Diskurs immer wieder Bezug genommen wird (Foucault 1971: 462; vgl. Bajohr in diesem Band). In seinem Text Fines hominis – der Foucaults Schlusspassage in Teilen zitiert – setzt sich auch Jacques Derrida kritisch mit dem Humanismus auseinander. Mit seiner Frage danach, wer mit dem Ausdruck „wir Menschen“ eigentlich gemeint sei, wer dazugehöre und wer nicht, öffnet Derrida den Blick für die mit der Zuschreibung des Menschseins verbundenen Ausschlussmechanismen. Weiter ist hier Derridas – ihrerseits von Heidegger inspirierte – Methode der Dekonstruktion wichtig, die Texte auf ihre impliziten Widersprüche hin liest und versucht, das jeweils Ausgeschlossene sichtbar zu machen. Derridas Philosophie der Dekonstruktion greift nicht nur zentrale Unterscheidungen an, mit denen die Philosophie seit ihren Anfängen selbstverständlich operiert, sie kritisiert binäre Oppositionen im Grundsatz als irreführend, verkürzend und hierarchisierend, insofern darin stets ein Glied der Unterscheidung über das andere gestellt werde. Beide Aspekte, die Konzentration auf die Ausschlussmechanismen und die Kritik an binären Oppositionen, sind für den Posthumanismus von zentraler Bedeutung. Gegen binäre Oppositionen richten sich auch Félix Guattari und Gilles Deleuze in ihrem monumentalen Text Tausend Plateaus. An die Stelle der Baumstruktur, welche die binäre Logik der traditionellen Philosophie repräsentiert, setzen die Autoren die Idee des Rhizoms, also eines Wurzelgeflechts, das sich in alle Richtungen ausbreitet.11 Das Rhizom kennt weder Subjekt noch Objekt, es hat weder Anfang noch Ende, es lässt keine Dichotomien zu, sondern organisiert sich immer wieder neu. Das Rhizom wird damit auch zu einem Bild für Deleuzes Philosophie des Werdens, die von Bergson und Spinoza inspiriert ist und die den Posthumanismus insgesamt stark beeinflusst hat.12 Das „Tier-Werden“, von dem in Tausend Plateaus die Rede ist und das z. B.  bei  Rosi Braidotti (2014: 72) aufgegriffen wird, kann als Teil eines groß 11

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„Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden. Das ist ganz anders als beim Baum oder bei der Wurzel, bei denen ein Punkt, eine Ordnung festgelegt ist“ (Deleuze/Guattari 1992: 16). Baruch de Spinoza ist ein häufiger Bezugspunkt der Posthumanist*innen, insbesondere bei den Vertreter*innen eines Vitalistischen Materialismus (vgl. Bennett 2020: 12). Spinozas Monismus, der nur eine Substanz (= Gott) kennt, deren Attribute Ausdehnung und Denken sind und als deren Modi alle Einzeldinge verstanden werden, bietet eine für viele attraktive Alternative zum cartesischen Dualismus, weil sie den Zusammenhang alles Seienden ohne Privilegierung des Menschen und ohne binäre Oppositionen zu denken erlaubt.

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angelegten Versuchs verstanden werden, über die menschliche Subjektivität hinauszudenken.13 Es existieren eine ganze Reihe weiterer naheliegender philosophischer Bezüge, die aber häufig unthematisiert bleiben. Auf die Kritische Theorie etwa wird teils zwar verwiesen, ihre Überlegungen werden aber kaum aufgegriffen und in den posthumanistischen Diskurs überführt, auch wenn der Kritische Posthumanismus diesen Terminus für sich beansprucht.14 Dabei wurde die Verbindung zwischen einer spezifischen Form der Rationalität mit der Herrschaft über Menschen und über die Natur von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung bereits ebenso angeprangert wie der hieraus resultierende Umgang mit dem Tier (vgl. Adorno/Horkheimer 2003: 262–271). Ein Verhältnis von Natur und Kultur, das nicht als strikter Dualismus verstanden wird, ist seit jeher auch Thema in der Philosophischen Anthropologie, die im Posthumanismus jedoch häufig pauschal als essentialistisch (miss-)interpretiert wird.15 Parallelen zu posthumanistischen Positionen finden sich schließlich auch in der neueren Phänomenologie, die gegen die Bewusstseinsphilosophie die Bedeutung von Leiblichkeit und Situativität betont (vgl. Merleau-Ponty 1966) und selbst alternative ontologische Modelle entwirft.16 Auch wenn sich der Posthumanismus insgesamt nicht auf eine konsistente philosophische Tradition zurückführen lässt – vom früheren „Antihumanismus“ innerhalb der poststrukturalistischen Philosophie hat er einige seiner entscheidenden Impulse bekommen. Dabei erfolgt einerseits eine Abkehr von 13

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Es geht beim „Tier-Werden“, das nur eine von vielen von Deleuze und Guattari evozierten Formen des Werdens darstellt, nicht um eine Nachahmung des Tiers oder eine Verwandlung in ein Tier, sondern um ein Verständnis der Realität des Werdens. Morton (2016) bezieht sich bisweilen auf Adorno. Braidotti wiederum spricht davon, die „kritische Theorie auf das dritte Jahrtausend einzustellen“ (vgl. Braidotti 2014: 89), führt dies an dieser Stelle aber nicht weiter aus. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Natur und Kultur findet sich bei Helmuth Plessner, der aber außerhalb Deutschlands erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt wird (vgl. Plessner 1975). Zudem herrscht in der Philosophischen Anthropologie keineswegs ein ausschließlich positives Bild des Menschen vor, wie etwa die Negative Anthropologie zeigt (vgl. den Text von Bajohr in diesem Band). Schließlich wird auch hier bereits sehr früh über die Auswirkungen der Technik auf das Selbstverständnis des Menschen nachgedacht. So kommt etwa Günther Anders zu seiner Diagnose der Antiquiertheit des Menschen, der beschämt erkennen muss, dass er an Fähigkeiten hinter den von ihm erschaffenen Produkten zurücksteht (vgl. Anders 2018). Ausgehend von Plessner sind bereits erste Versuche unternommen worden, die Philosophische Anthropologie für aktuelle Problemzusammenhänge fruchtbar zu machen (vgl. Block/Kloeg 2021; Dries/ Hägele 2020 sowie neuerdings Harman 2023). Vgl. hierzu auch den Text von Schmaus zu Heinrich Rombachs Strukturontologie in diesem Band.

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der Sprach- und Diskurszentriertheit des Poststrukturalismus (vgl. Barad 2012: 7; Braidotti 2014: 36), andererseits wird der Blick von den Differenzen und Ausschlussmechanismen innerhalb der menschlichen Spezies systematisch auf das Verhältnis zu anderen Spezies ausgeweitet. Daneben nimmt der Posthumanismus noch eine ganze Reihe weiterer theoretischer Entwicklungen auf. Zu nennen sind hier etwa die Kybernetik Norbert Wieners mit ihrer Entdifferenzierung von Mensch und Maschine bzw. der Gleichbehandlung menschlicher und technischer Objekte (Krüger 2019: 183–201; vgl. hierzu Link/Kalthoff in diesem Band), die biologische Kognitionstheorie Humberto Maturanas und Francesco Varelas mit ihrem Konzept der Autopoiesis bzw. der Selbstorganisation lebendiger Materie (Maturana/Varela 1987), die hieran anknüpfende Systemtheorie Niklas Luhmanns mit ihrer Entdifferenzierung von Mensch und System (Luhmann 1984) oder die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours mit ihrer Kritik an der Natur/Kultur-Dichotomie und mit ihrem Programm einer vorgängige Unterscheidungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen ablehnenden „symmetrischen Anthropologie“ (Latour 2001).

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Zentrale Charakteristika kritisch-posthumanistischen Denkens

Nachdem bereits einige der Grundannahmen des Posthumanismus zur Sprache gekommen sind, wollen wir uns diesen nun eingehender zuwenden. Dabei orientieren wir uns unter anderem an Francesca Ferrandos Entwurf eines Philosophischen Posthumanismus (vgl. Ferrando 2019 sowie ihren Beitrag in diesem Band), den sie in Anlehnung an den Kritischen Posthumanismus Rosi Braidottis entwickelt hat und mit dem sie zentrale Überlegungen der Strömung aufnimmt und systematisiert. Wir charakterisieren den Posthumanismus entsprechend entlang seiner post-humanistischen, post-anthropozentrischen und post-dualistischen Dimension und ergänzen diese um den Perspektivismus als eine vierte Dimension.17 3.1

Jenseits des Menschen: Post-Humanismus und Post-Anthropozentrismus Der Post-Humanismus richtet sich gegen die Vorstellung des Menschen im Singular und adressiert stattdessen die Menschen in ihrer Vielfalt und Pluralität. 17

An diesem Punkt unterscheidet sich unsere Darstellung von derjenigen Ferrandos, die den Perspektivismus dem Post-Anthropozentrismus unterordnet. Wir kommen später darauf zurück.

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Er distanziert sich somit von der generalisierenden und universalisierenden Betrachtungsweise des Menschen in der humanistischen Tradition. Subjekte sind in diesem Sinne weder homo universalis noch anthropos, sondern werden in ihrer Komplexität, Verkörperung, Eingebettetheit, Diversität, Relationalität und Affektivität sowie in ihrer kollaborativen Verbundenheit mit einem materiellen Netz menschlicher und nicht-menschlicher Akteure betrachtet: Für den Beginn einer Klärung, was in posthumanen Zeiten menschlich sei, schlage ich vor, die Rede von „uns Menschen“ umsichtig zu fundieren. Denn „wir Menschen“ sind nicht ein und dasselbe. Aus meiner Sicht muss das Menschliche als material eingebettet sowie verkörpert und zugleich als differenziell, affektiv und relational betrachtet werden (Braidotti 2021: 226).

Die post-humanistische Kritik richtet sich grundlegend auf das humanistische Ideal ‚des Menschen‘ als universelles Maß aller Dinge (Braidotti 2021: 217–218) und trägt der Tatsache Rechnung, dass das Konzept Mensch selbst soziohistorisch verortet ist und fälschlicherweise für das Ganze genommen wird.18 Sie entzündet sich an der Nicht-Neutralität und Exklusivität dieser Konzeption, die sich auf eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen beschränke (Ferrando 2019: 77–81) – nämlich Menschen eines bestimmten Geschlechts (männlich), einer bestimmten Hautfarbe (weiß), mit einer bestimmten sozialstrukturellen Positionierung (gebildet/bürgerlich), mit einer bestimmten Körperlichkeit (körperlich gesund und leistungsfähig) und mit einer bestimmten Sexualität (Einbettung in Fortpflanzungszusammenhänge) – und auf diese Weise soziale Asymmetrien bzw. Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen hervorbringe, legitimiere und stütze: 18

Es wird dabei zumeist nicht differenziert ausgewiesen, auf welchen Humanismus sich die Kritik bezieht. Als historische Epochenbezeichnung kann Humanismus den Rückbezug auf die Antike in der Renaissance ebenso bezeichnen wie die pädagogische Bewegung des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert oder den sogenannten „dritten Humanismus“ des 20. Jahrhunderts, die gleichermaßen an klassische antike Ideale anknüpfen. In systematischer Perspektive kann man eine ethische Deutung des Humanismus im Sinne eines normativen Bezugs auf eine universale Menschlichkeit von einer eher metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Bedeutung des Begriffs unterscheiden, die generell eine Fokussierung auf den Menschen bezeichnet, die Annahme seiner „Zentrierung inmitten des Seins, als ob die Welt gleichsam nur für ihn und zu seiner Verfügung geschaffen sei“ (Mersch 2020: 38). Die Kritik des Posthumanismus richtet sich zumeist auf dieses weite Verständnis. Es geht also nicht so sehr um eine spezifische historische Strömung innerhalb der neuzeitlichen Philosophie und auch nicht um eine Kritik am moralischen Ideal der Menschlichkeit, auch wenn die Kritik am moralischen Universalismus durchaus eine Rolle spielt.

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Torsten Cress, Oliwia Murawska, Annika Schlitte Humanity is a quality that is distributed according to a hierarchical scale centred on a humanistic idea of Man as the measure of all things. This dominant idea of Man is based on a simple assumption of superiority by a subject that is masculine, white, Eurocentric, practising compulsory heterosexuality and reproduction, able-bodied, urbanised, speaking a standard language (Braidotti 2020: 10).

Es sind hier also vor allem die Superiorisierung einiger Menschen als „more human than others“ und die Deprivilegierung anderer als „less-than-human“, die im Mittelpunkt der post-humanistischen Kritik stehen (Ferrando 2019: 98–99). Dabei entfaltet sich die posthumanistische Kritik in einem Spektrum zwischen Post-Humanismus und Posthuman-ismus: Der Post-Humanismus meint eine radikale Kritik am Humanismus und Anthropozentrismus, also ein Denken nach dem Humanismus oder über den Humanismus hinaus. Der Posthuman-ismus meint dagegen eher ein Denken nach dem Menschen oder über den Menschen hinaus und zielt auf eine Transzendierung der bisher als für den Menschen konstitutiv erachteten Grenzen (ebd.: 3).19 Gegen ein als humanistisch gekennzeichnetes Menschenbild entwirft der Posthumanismus eine durch Diversität, Offenheit, Prozessualität und Unabgeschlossenheit charakterisierte Vorstellung vom Menschen, die die Pluralität der Lebensformen anerkennt und nicht-hierarchische Relationen zu nichtmenschlichen Alteritäten (Tieren, Robotern, Avataren, Pflanzen, Göttern etc.) herausstellt. Betont werden Hybridität, Kontinuität, Verbindung, Verschränkung, Relationalität, Koexistenz, Transversalität sowie Affinität und Empathie (Braidotti 2014: 186–197; Ferrando 2019: 65–67; Loh 2018: 275–283). Zugleich hat diese Neubestimmung Projektcharakter, insofern Menschsein als „(noch) nicht Erreichtes“ (Herbrechter 2009: 32, hier allerdings in Zusammenhang mit Nietzsche) erscheint. Eng mit dieser Verabschiedung eines exkludierenden Menschenbildes verbunden ist eine post-anthropozentrische Ausrichtung. Sie zielt darauf ab, das Menschliche dem Nicht-Menschlichen gegenüber zu dezentrieren und distanziert sich von der in der westlichen Denktradition überlieferten dominanten Vorstellung einer Privilegierung der menschlichen Gattung. Posthumanistische Ansätze richten sich somit nicht nur gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse 19

Gleichwohl gibt es Autor*innen, die zwar der Kritik am Humanismus und den mit ihm einhergehenden Blickverengungen folgen, sich aber explizit von seinem -Ismus distanzieren, wie etwa Alan und Josephine Smart, die Posthuman-ismus als eine „study of posthumans, those who have and will use technology to go beyond the ‚ordinary‘, or ‚species typical‘, human lifeways“ (Smart/Smart 2017: 4) verstehen und damit enger definieren als Ferrando.

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innerhalb der Spezies Mensch, sondern auch auf jene zwischen Menschen und nicht-menschlichen Spezies und Entitäten. Der Post-Anthropozentrismus lehnt alle Formen eines menschlichen „Exzeptionalismus“ (Braidotti 2014: 41) und damit jede Exklusivierung, Superiorisierung, Hierarchisierung, Zentrierung und ethische Privilegierung des Menschen ab, die nicht nur den systematischen Ausschluss nicht-menschlicher Alteritäten wie Tieren, Pflanzen, Göttern und Technologien impliziert, sondern auch eine hierarchisierende Konzeption des Verhältnisses aller Arten, die wiederum speziesistische Machtund Ausbeutungsverhältnisse ermöglicht: The emphasis on the human as a rational animal has been a powerful discoursive tool to historically enslave, mistreat, and dominate some humans and most nonhuman animals. […] Such a discourse, far from being neutral, would generate, sustain, and justify social inequalities, political discriminations, and legal violence (Ferrando 2019: 34).

Zur Überwindung des Anthropozentrismus schlagen Posthumanist*innen einen materialistischen Weg ein, der statt von einem abstrakten Universalismus von einer unhintergehbaren materialen Einbettung des Subjekts ausgeht (Braidotti 2021: 226) und der den Aktivitäten nicht-menschlicher Entitäten systematisch Rechnung zu tragen sucht. Dies geschieht vielfach über den Anschluss an Ansätze aus dem Spektrum der Neuen Materialismen wie die Objektorientierte Ontologie (OOO), den Vitalen Materialismus oder den Agentiellen Realismus, die Natur nicht als statisch und passiv betrachten, sondern im Gegenteil den aktiven und dynamischen Charakter von Entitäten, ihre Eigenständigkeit, aber auch ihre wechselseitige Verbundenheit und Konstitution betonen (Hoppe/Lemke 2021; Coole/Frost 2010; Folkers 2013). Zentrale Perspektiven sind hier etwa die Aufwertung der Objekte und die Betonung ihrer Eigenständigkeit, Unzugänglichkeit und Widerständigkeit (Harman 2002), oder die Vorstellung von der Welt als Gewebe unzähliger aktiver, vibrierender und miteinander verbundener Materiebestandteile („vibrant matter“), die sich gegenseitig beeinflussen und ein sich beständig wandelndes Gefüge bilden (Bennett 2020). Wichtig sind weiter die Vorstellung einer grundsätzlich relationalen Verfasstheit von Ereignissen und Phänomenen („relationale Ontologie“) und die Verwerfung der Vorstellung fest umrissener Einheiten wie Subjekten und Objekten, die in dieser Sicht erst im Zuge ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander hervorgebracht werden („Intra-Aktivität“ im Gegensatz zu Inter-Aktivität, die von bereits konstituierten Entitäten ausgeht). Unter Anschluss an solche Konzepte soll es nicht nur möglich werden, nicht-menschliche Subjekte systematisch anzuerkennen und die Dichotomie

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zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufzulösen, sondern das Augenmerk auch auf Prozesse ohne menschliche Beteiligung zu lenken (Austauschbeziehungen zwischen Parasit und Wirt, biochemische Prozesse wie die Fotosynthese, globale Erwärmung etc.). Gleichwohl fällt auf, dass der Anthropozentrismus im posthumanistischen Diskurs vielfach als Verständigungsbegriff verwendet und nicht genauer erklärt wird. Hierzu kann ein Blick auf die Philosophische Umweltethik beitragen, die sich seit langem systematisch mit entsprechenden Fragen beschäftigt (vgl. für einen Überblick Ott et al. 2016). So wird in der Umwelt- bzw. Naturethik grundsätzlich zwischen Positionen, die Ethik nur für eine Angelegenheit zwischen Menschen halten und daher den Menschen ins Zentrum der Betrachtung stellen (Anthropozentrismus) und solchen, die von der nicht-menschlichen Natur ausgehen und diese ins Zentrum stellen (Physiozentrismus), unterschieden (vgl. Krebs 1997). Für einen radikalen Anthropozentrismus sind Menschen nicht nur die einzigen Wesen, die moralische Subjekte sein können, sie sind auch die einzig möglichen moralischen Objekte. Im Rahmen ethischer Erwägungen sind demnach letztlich nur Menschen relevant, weil nur sie einen moralischen Wert haben können, den es zu berücksichtigen gilt. Der außermenschlichen Natur kommt indessen nur ein abgeleiteter, ein Wert für den Menschen zu.20 Der Pathozentrismus als wichtige Strömung des Physiozentrismus hingegen plädiert dafür, alle empfindungsfähigen Naturwesen als Träger eines intrinsischen Wertes zu betrachten und damit moralisch zu berücksichtigen. Diese Position wurde prominent von Peter Singer vorgebracht, der die anthropozentrischen Ethiken mit dem Vorwurf des Speziesismus konfrontiert, wobei er die damit bezeichnete Bevorzugung von Menschen gegenüber Tieren mit der Bevorzugung von Weißen gegenüber Schwarzen (Rassismus) oder Männern gegenüber Frauen (Sexismus) vergleicht (vgl. Le Moli und Pignatone im Band). Der Biozentrismus wiederum spricht allen Lebewesen unabhängig von ihrer Empfindungsfähigkeit einen intrinsischen Wert aufgrund des ihnen allen gemeinsamen Lebens zu, und der Holismus erkennt dem

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Vom moralischen Anthropozentrismus lässt sich schließlich ein epistemischer Anthropozentrismus abgrenzen, der lediglich besagt, dass uns die Welt nur mittels menschlicher Begriffe zugänglich ist (Krebs 1997): Die physiozentrische Ethik mag den Anspruch vertreten, nicht vom Menschen her, sondern etwa wie ein Berg zu denken (vgl. Leopold 2019), doch formuliert entsprechende Gedanken nicht der Berg, sondern die physiozentrische Ethiker*in. Die Überwindung dieser Form des Anthropozentrismus ist für den Posthumanismus ein ungelöstes Problem.

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Ganzen des Seienden, also auch der unbelebten Natur einen Wert zu, weshalb auch diese moralisch berücksichtigt werden müsse.21 In ihrem Versuch, ethische Ansprüche nicht nur vom Menschen her zu denken und eine moralische Gemeinschaft zwischen Menschen und NichtMenschen zu begründen, treffen sich die physiozentrischen Ansätze mit dem post-anthropozentrischen Anliegen des Posthumanismus, und tatsächlich stellt insbesondere die Tierethik einen Referenzpunkt posthumanistischer Anthropozentrismus-Kritik dar.22 Der Vorwurf an den Physiozentrismus lautet aber, er beschränke sich auf die Ausweitung der herrschenden menschlichen Kategorien auf andere Wesen, ohne die Kategorien selbst zu hinterfragen (vgl. Braidotti 2014: 84). Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit diesen in der Philosophie seit langer Zeit kontrovers diskutierten Ansätzen und zur Entwicklung einer differenzierten Argumentation zur Begründung normativer Positionierungen vor diesem Hintergrund kommt es im Posthumanismus bisher kaum. 3.2 Post-Dualismus: Jenseits von Natur/Kultur Ein zentraler Ansatzpunkt für die Dekonstruktion und Reformulierung verbreiteter Vorstellungen des Menschen ist weiter die Infragestellung etablierter Dualismen wie Natur/Kultur, Umwelt/Gesellschaft, Körper/Geist, Mensch/ Tier, Mensch/Maschine, organisch/synthetisch, physisch/virtuell, belebt/ unbelebt, Subjekt/Objekt, Selbst/Andere, Wir/Sie, Mann/Frau, Immanenz/ Transzendenz, vor allem aber Mensch/Nicht-Mensch bzw. Mensch/alles andere (Hicks 2022: 6) als eines zentralen Ordnungsprinzips westlichen Denkens. Solche Unterscheidungen gelten Vertreter*innen des Posthumanismus als eingebunden in ein Wertesystem, das jeweils die eine Seite der Unterscheidung der anderen gegenüber präferiert, so dass Differenz zwangsläufig Hierarchie und schließlich Machtausübung bedeutet. Sowohl der Kollektivsingular Mensch als auch binäres Denken werden somit als ein Instrument der Grenzziehung sowie der exkludierenden Identitätsbildung verstanden, die einem adäquaten Verständnis der Einbettung des Menschen in seine umweltlichen, sozialen und biologischen Kontexte im Wege stehen und die es zu überwinden gilt (Ferrando 2019: 60–61). Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist für den posthumanistischen Anti-Dualismus dabei von 21

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Nahe an diesen Positionen bewegt sich die von Arne Næss begründete Deep Ecology, die sich mit einer von Spinoza inspirierten, ‚ganzheitlichen‘ Ökophilosophie verbindet und zur Erreichung ökologischer Ziele sogar für einen Bevölkerungsrückgang plädiert (vgl. Hendlin 2016). In diesem Zusammenhang findet auch die Speziesismuskritik Singers Erwähnung (vgl. Braidotti 2014: 81).

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herausgehobener Bedeutung: Auch sie stellt eine hierarchisierende Relation her, in welcher ‚der‘ Kultur eine privilegierte und aktive Rolle zukommt, während ‚die‘ Natur als ein menschlichen Zwecksetzungen passiv unterworfener Bereich betrachtet wird. Zugleich zieht diese Dichotomie eine Reihe gleichermaßen wirkmächtiger Unterscheidungen nach sich, die ähnliche Privilegierungen und Deprivilegierungen mit sich bringen und stabilisieren (Viveiros de Castro 1998; Ferrando 2019: 155–156). Besonders einflussreich wurde die Natur/Kultur-Dichotomie von Bruno Latour und Donna Haraway problematisiert. Für Latour (1995) ist die Dichotomisierung von Natur und Kultur eine Erfindung der Moderne, die artifizielle Trennungen zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Subjekt und Objekt, sozial und natürlich, zwischen der moralischen und sozialen Welt des Menschen und der unbelebten Welt der Dinge einzieht, die den Blick auf die Existenz hybrider Verkettungen verstellt und es so unmöglich macht, die massenhafte Verbreitung immer neuer „Quasi-Objekte“ demokratisch zu kontrollieren.23 Mit seiner Rede von „Naturen/Kulturen“ stellt Latour demgegenüber heraus, dass unser Verständnis von Kultur in ihrer Pluralität überhaupt erst durch die Gegenüberstellung mit einer als universell angenommenen Natur hervorgebracht werde: „Es gibt ebensowenig Kulturen – unterschiedliche oder universelle –, wie es eine universelle Natur gibt. Es gibt nur Naturen/Kulturen: sie bilden die einzige Grundlage für einen möglichen Vergleich“ (Latour 1995: 139–140). Anstatt von vorgängigen Bereichen, Entitäten, Individuen und überhaupt stabilen Typologien auszugehen, vertritt Latour eine symmetrische Sicht auf das Verhältnis von Menschen und Nicht-Menschen, die zudem der Relation den ontologischen Vorrang gibt und danach fragt, wie die Grenzen zwischen Natur und Kultur gezogen werden und wie beide als abgegrenzte Bereiche hervorgebracht werden (Gertenbach/Laux 2019: 90–98). Auch Donna Haraways aus einer feministischen Wissenschaftskritik heraus entwickeltes Konzept der naturecultures (2003) oder NaturKulturen (2016) wendet sich gegen die binäre Gegenüberstellung zweier klar voneinander abgegrenzter Bereiche, wobei Haraway insbesondere das emanzipatorische 23

Im Zuge technologisch-wissenschaftlicher Entwicklungen, so Latour, werden in der Moderne zunehmend gefährliche, zwischen den Polen Subjekt und Objekt oszillierende „Hybride“ oder „Quasi-Objekte“ (Beispiele sind das Ozonloch, die Erderwärmung, technische Implantate, unbemannte Drohnen, Softwareagenten oder genmanipulierte Nahrung [vgl. Laux 2016]) hervorgebracht, deren massive Ausbreitung die Aufrechterhaltung des Grenzregimes bedroht. Das dualistische Narrativ verhindere zugleich eine Einsicht in solche hybriden Verkettungen und damit angemessene Strategien des Umgangs mit diesen. Latour plädiert daher für eine Anerkennung der Hybride, durch die sie gesellschaftlich überhaupt erst identifizierbar und problematisiert würden.

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Potential einer Auflösung von Dualismen befragt. Ein Beispiel hierfür ist Haraways Reflexionsfigur des Cyborgs (1985). Sie steht für ein Unterlaufen von Grenzziehungen zwischen Mensch/Tier, Mensch/Maschine, organisch/anorganisch, Mann/Frau oder Geist/Materie, für eine Privilegierung fragmentierter Identitäten, für eine technologisch induzierte Infragestellung und Reformulierung hergebrachter Vorstellungen vom Menschen und für die Auslotung der Potentiale von Technologie zur Emanzipation und zur Ermöglichung einer herrschaftsfreien Gesellschaft (Gesing et al. 2018b: 14; Freudenschuss 2017: 135ff.). Der Posthumanismus schließt mit seiner post-dualistischen Ausrichtung an diese Kritik der Natur/Kultur-Unterscheidung an. Mit Latour und Haraway tritt er der Vorstellung entgegen, Natur sei als gegeben, universell und frei von Kultur zu begreifen, während Kultur umgekehrt nur sprachlich-diskursiv hergestellt werde. Hervorgehoben werden vielmehr die Prozesse der wechselseitigen Hervorbringung von Natur und Kultur sowie die wechselseitigen Verflechtungen, Vermischungen, Symbiosen und Emergenzen. Ermöglicht werde so eine „Rekonfiguration von Forschungsgegenständen“, der „Einbezug bislang ausgeschlossener Aspekte und Akteure“ sowie eine Aufhellung der Verbindungen zwischen „sozialen, semiotischen und materiellen Dimensionen“ (Gesing et al. 2018: 11).24 Bisweilen ist auch die Rede von einem ‚NaturKulturenKontinuum‘, mit dem kategoriale Trennungen zwischen Menschen und NichtMenschen hinfällig und ‚humanimalische‘ transversale Verbindungen betont werden könnten (Braidotti 2019b; 2021: 227). Problematisiert wird damit zugleich eine weitere wichtige Gegenüberstellung, nämlich die zwischen Subjekt und Objekt. Beide erfahren im posthumanistischen Denken eine Revision. Zentral ist hierbei die Idee der „nomadischen Subjektivität“ (Braidotti 1994; 2011), wonach sich Individuen nicht durch starre Identitäten auszeichnen, sondern vielmehr in einem kontinuierlichen Wandel befindlich sind. Subjektivität wird hier als ein weiter und offener, Umwelt, Technologien und letztlich den gesamten Planeten umfassender Rahmen verstanden: Sie ist demnach materialistisch, vitalistisch, verleiblicht, eingebettet, verortet (Braidotti 2014: 191) und nicht auf die menschliche Spezies beschränkt, sondern umfasst alle anthropomorphen und nicht-anthropomorphen Entitäten, die durch die Partizipation an einer

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Diese Charakterisierung entspringt der Selbstbeschreibung des an die Überlegungen Latours und Haraways anschließenden Forschungsbereichs der NaturenKulturenForschung, die sich als „interdisziplinäre Schnittstelle“ (Gesing et  al. 2018: 8) den vielfältigen naturkulturellen Verwicklungen und Verschränkungen widmet und an dieser Stelle starke Parallelen zum Posthumanismus aufweist (ebd.: 7–11).

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sie alle durchströmenden vitalen Lebenskraft – Braidotti nennt sie zoe25 – miteinander verbunden sind. Living matter – including the flesh – is intelligent and selforganizing, but it is so precisely because it is not disconnected from the rest of organic life. I […] emphasize the non-human, vital force of Life, which is what I have coded as zoe (Braidotti 2013: 60).

Subjektivität in diesem Sinne erscheint hier als zoe/geo/techno-Assemblage (Braidotti 2019a: 47). Unter Anschluss an die Objektorientierte Ontologie (OOO), die ihrerseits das Programm einer Überwindung von Subjekt/Objekt-Dichotomien verfolgt, Objekte in ihrer Offenheit, Potenzialität, Eigenständigkeit, Unbeständigkeit und Unabhängigkeit vom menschlichen Denken und auch von anderen Objekten in Augenschein nimmt (Lemke 2017; Harman 2018; Morton 2020: 30, 64) und eine flache Ontologie entwickelt, die dem Menschen keinerlei Sonderstatus zuschreibt, sondern ihn im Gegenteil als Objekt unter Objekten und als ontologisch gleichrangig behandelt, wird umgekehrt auch der Objekt-Begriff neu ausgehandelt. In Auseinandersetzung mit der OOO entwickelt Timothy Morton (2013) das schon erwähnte Konzept des Hyperobjekts, mit dem solche Entitäten bezeichnet werden, die sich in Raum und Zeit so massiv ausdehnen, dass sie in einem herkömmlichen raumzeitlichen Sinne weder verstanden noch erfahren werden können. Neben radioaktiver Strahlung, Tsunamis oder schwarzen Löchern versteht Morton auch die globale Erwärmung als Hyperobjekt. Die Ära der Hyperobjekte verdanken wir Morton/Boyer zufolge Hypersubjekten, die als „typically but not exclusively white, male, northern, well-nourished, modern in all senses of the term“ (2021: 14) charakterisiert werden. Demgegenüber entwerfen Morton/Boyer eine Vision vom Hyposubjekt, das sie als multiphasisch, plural, noch nicht, weder hier noch dort, weniger als die Summe ihrer Teile, feministisch, antirassistisch, bunt, queer, ökologisch, transhuman und intrahuman ausweisen, und das als „native species of the Anthropocene“ auf das Anthropozän reagieren könne (ebd.: 15).

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Die aristotelische Unterscheidung zwischen bios und zoe wurde von Hannah Arendt (2005) und Giorgio Agamben (2002) aufgegriffen. Braidotti wendet sich gegen eine Privilegierung von bios (die politisch-diskursive bzw. gesellschaftliche Dimension des Lebens) gegenüber zoe (die nicht-diskursive, biologische Dimension des Lebens) wie überhaupt gegen eine starre Entgegensetzung beider Kategorien (Braidotti 2001: 225).

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3.3 Perspektivismus: Erfahrbarkeit, Versetzbarkeit und Affekte Ein weiteres Charakteristikum post-humanistischen Denkens ist die Einnahme eines erkenntnistheoretischen Perspektivismus. Wir behandeln ihn hier – im Gegensatz zu Ferrando, die ihn dem Post-Anthropozentrismus subsumiert – als einen vierten Grundpfeiler des Posthumanismus. Zwar steht der Perspektivismus in unmittelbarem Zusammenhang mit dem PostAnthropozentrismus, insofern er aus einer anti-anthropozentristischen Haltung resultiert, gleichwohl geht er auch über ihn hinaus und strebt die höchste Stufe der Dezentrierung an: Der Perspektivismus fragt nach der empirischen Erfahrbarkeit multipler Welten menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten, d. h. er adressiert ihre vielschichtigen und vielfältigen Perspektiven, respektiert ihre Egalität und zielt auf eine Ausweitung von Möglichkeitshorizonten (Braidotti 2017: 11). Unweigerlich wirft er die Frage auf, wie es möglich ist, sich in Nicht-Menschliches hineinzuversetzen, und verweist damit auf die Grenzen des Denk- und Sagbaren im westlichen Denken: „A posthumanist perspective […] shall address the possibility of the possible, of the potential, and even of the ‚impossible‘, within its epistemological and ontological realms of inquiry“ (Ferrando 2019: 170). Dieser erkenntnistheoretische Perspektivismus lehnt unter Anschluss an die feministische Standpunkttheorie (und mit starken, aber implizit bleibenden Parallelen zur Wissenssoziologie) die Möglichkeit einer unproblematischen Formulierung von Wahrheitsansprüchen ab, betont die Standortgebundenheit von Wissen bzw. Erkenntnis und geht von einem situierten Pluralismus aus (ebd.: 148–157).26 Als Referenz wird vielfach Nietzsche herangezogen, der schreibt: „Es giebt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen – : und folglich giebt es vielerlei ‚Wahrheiten‘, und folglich giebt es keine Wahrheit“ (Nietzsche 1999b: 498). Diese Überlegung lässt sich durch eine weitere Äußerung Nietzsches aus der Genealogie der Moral weiterführen: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen; nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein (Nietzsche 1999a: 365).27

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Im Posthumanismus wird allerdings kaum zwischen dem Perspektivismus als Standortbezogenheit der Erkenntnis und dem Relativismus als Ablehnung unbedingter Geltungsansprüche unterschieden (vgl. zur philosophischen Diskussion des Perspektivismus von Sass 2019). In der Philosophie wird eine differenziertere Auseinandersetzung mit Nietzsches Haltung zum Perspektivismus angestrebt (vgl. Dellinger/Müller 2018).

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Der posthumanistische Perspektivismus greift diese Überlegung auf. Er bestreitet zwar nicht, dass es Fakten gibt, betrachtet diese aber als „integrated landscape of all the material perspectives related to a specific factual node“ (Ferrando 2019: 150). Über die Erkenntnistheorie geht der posthumanistische Perspektivismus insofern hinaus, als er die grundsätzliche Möglichkeit des Sich-Hineinversetzens in andere Wesen ins Zentrum stellt und dabei auch eine affektive Dimension hervorhebt. Schon Nietzsche spricht neben der Idee der Versetzbarkeit in NichtMenschliches auch die Rolle der Affekte an, denen im posthumanistischen Denken – in Anlehnung an den affective turn (Clough 2007) – besondere Beachtung geschenkt wird, insofern „die Betonung von Affektivität und Relationalität […] eine Alternative zur individuellen Autonomie“ darstelle (Braidotti 2021: 226). Es gehe dabei nicht allein darum, sich Affektivität einzugestehen, sondern auch um die Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden (ebd.: 54). Die Tatsache der eigenen Existenz setzt sich in dieser Sicht nicht nur aus einer Vielzahl phänomenologischer Erfahrungen und Affekte zusammen, sondern auch aus den Erfahrungen und Affekten aller menschlichen und nicht-menschlichen Akteure, mit denen interagiert wird. Die Möglichkeit einer Erkenntnis von Fakten ist demnach gebunden an die Zusammenschau möglichst vieler Perspektiven und der damit verbundenen Affekte auf einen Gegenstand: Accessing nonhuman perspectives means taking into consideration the existence of other species, their needs, their habits, and their co-evolution, in relation to our species and all other species. It means hearing their messages, which may not be verbal or intellective, but they are still clear (Ferrando 2019: 152).

Über die Einnahme der erkenntnistheoretischen Position des Perspektivismus soll somit ein systematischer Einbezug nicht-menschlicher Perspektiven und damit auch eine Überwindung der Natur/Kultur-Dichotomie ermöglicht werden.

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Neuorientierung der Sozial- und Kulturwissenschaften?

Einige Vertreter*innen des Posthumanismus zielen mit ihrer Programmatik auf eine Institutionalisierung posthumanistischen Denkens und eine damit einhergehende Reorganisation der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, verstanden im Sinne einer Neudefinition der Geisteswissenschaften oder Humanities in der „posthumanen Ära“ (Braidotti 2020: 21). Vor dem Hintergrund

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einer gesellschaftlichen Situation, in der technologischer Fortschritt und neue Gestaltungsspielräume einerseits, Umweltzerstörung, Klimawandel und neue Epidemien andererseits zusammenfallen (posthuman convergence), sollen sich die ohnehin unter Legitimationsdruck stehenden Humanwissenschaften gewissermaßen neu erfinden und zu Transversal Humanities oder Critical Post-Humanities entwickeln (siehe Braidotti im Band). Diese Neuausrichtung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Anthropozentrismus der Humanities hinter sich lässt und wissenschaftliche Kernbestände kritisch hinterfragt, mit strikten institutionellen Abgrenzungen von Disziplinen, Perspektiven und Fragestellungen bricht, die Wissensbereiche miteinander verschaltet und ihre Relevanz für die Lösung gesellschaftlicher Probleme herausstellt (Braidotti 2020). Den sich im globalen Kontext neu verortenden, transversal vernetzten Post-Humanities oder Critical Humanities wird dabei die Rolle einer ‚transdisziplinären taskforce‘ (ebd.: 10) zugeschrieben, die aus einer planetaren Perspektive und einer Verantwortlichkeit für vulnerable und exponierte Populationen heraus die Herausforderungen der Zeit (wie soziale und umweltbezogene Ungleichheiten) ungeschminkt benennt, Debatten anstößt, ‚aktiv aktivistisch‘ an Problemlösungen arbeitet und neue ethische Bezugsrahmen entwickelt. Träger dieser Entwicklung sind in dieser Vision akademische Communities, die bislang vergessene Subjekte in die Wissensproduktion einbeziehen und an der Schaffung eines Kollektivsubjekts arbeiten, das durch die einheitsstiftende Kraft des Lebens und der Einsicht in das gemeinsame Ausgesetzt-Sein konstituiert wird und so kollektive Problemlösung ermöglicht. Im dynamischen Wachstum immer neuer interdisziplinärer, eurozentrismus- und anthropozentrismuskritischer Studies (Algorithm Studies, Critical Plant Studies, Postcolonial Studies etc.) und der Ausweitung ihrer Gegenstände sieht Braidotti einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu den Critical Post-Humanities (Braidotti 2020).

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Kritische Rezeption

Gemessen an der Zunahme an wissenschaftlichen Publikationen zum Thema wie auch an öffentlichen Veranstaltungen in den vergangenen Jahren entfaltet der Posthumanismus eine hohe Anziehungskraft. Mit seiner direkten Adressierung gravierender Probleme, seiner Suche nach neuen Sichtweisen und konzeptuellen Alternativen, seinem Ausgreifen über den Menschen hinaus und vielleicht auch seiner egalitären Perspektive scheint er für viele eine

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zeitgemäße Antwort der Sozial- und Kulturwissenschaften auf die Herausforderungen unserer Zeit zu sein. Auf der anderen Seite werden gegen den Posthumanismus auch grundlegende Einwände erhoben. Ein erster Kritikpunkt ist die Vagheit, Unklarheit und auch Widersprüchlichkeit bestimmter Begriffe und Konzepte. Hierauf verweist schon der auffallend häufige Gebrauch des für den Diskurs so zentralen Begriffs „posthuman“ in Zeitungsartikeln, Ausstellungskontexten und wissenschaftlichen Publikationen. Die Offenheit und Vagheit mancher posthumanistischer Begriffe mag einerseits Kreativität freisetzen, lädt andererseits aber auch zu Missverständnissen ein. Hinzu kommt, dass trotz der häufigen Berufung auf philosophische Positionen eine vertiefte und gründliche Auseinandersetzung mit der Philosophie – sowohl im Hinblick auf Grundlagen als auch auf die aktuelle Forschung – eher selten stattfindet (vgl. Loh 2018: 14; zu weiteren Kritikpunkten auch 176–179), sodass bisweilen der Eindruck einer bloßen Übernahme von Schlagworten (Ontologie, Immanenz, Monismus etc.) ohne hinreichende historische und systematische Kontextualisierung entsteht.28 Weitere Einwände betreffen theoretische Inkonsistenzen. So scheint der in posthumanistischen Ansätzen vertretene Anspruch einer Überwindung binärer Oppositionen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Hervorbringung neuer Dualismen etwa zwischen Menschen und Nicht-Menschen oder zwischen Humanismus und Posthumanismus (vgl. Hoppe/Lemke 2021: 146, 148) – kaum wirklich einlösbar. Bisweilen führen solche Gegenüberstellungen gar zur Fraktionsbildung innerhalb des Diskurses: Den objektzentrierten Positionen von Latour, Harman etc. stehen subjektzentrierte Ansätze von Braidotti, Haraway etc. gegenüber, die nicht immer hinreichend miteinander vermittelt werden.29 Konzepte wie „Ding-Macht“ (Bennett 2020), „zoe“ als allen Lebewesen einwohnende Kraft, oder auch die Rede von „dem“ Posthumanen lassen darüber hinaus Hypostasierungstendenzen erkennen, die mit einem prozessorientierten und essenzialismuskritischen Ansatz nur schwer vereinbar scheinen (vgl. Hoppe/Lemke 2021: 142). Schließlich ist zu fragen, ob die teilweise 28

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Überhaupt werden bisweilen ein spezifisches Wording und ein bis in den Jargon reichender Duktus gepflegt, die auch exkludierend wirken können. Aber auch darüber hinaus macht es der Posthumanismus seinem Publikum nicht immer leicht: Zu weiteren Schwierigkeiten gehören die starken, nicht immer ohne moralische Selbstgewissheit eingenommenen normativen Positionen und das mit einem gewissen Eifer betriebene Projekt einer radikalen Infragestellung unhinterfragter Gewissheiten. So entsteht gelegentlich der Eindruck einer missionarischen Absicht. Diese Schwierigkeit ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass trotz des Interesses an einer Überwindung von Gegenüberstellungen an Begriffen festgehalten wird, die solche Gegenüberstellungen implizieren.

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plakativ geforderte Abkehr von „dem“ modernen Natur-Kultur-Dualismus nicht eine Einheitlichkeit suggeriert, die in der modernen europäischen Philosophie historisch so gar nicht bestand (vgl. Böhme 2016; Schlitte 2021). Weitere Kritikpunkte betreffen etwa ein idealisiertes Naturverständnis, das Zerstörungskräfte und blinden Selbsterhaltungstrieb unterschlage, während die Fähigkeit des Menschen zur Moral umgekehrt geringgeschätzt und damit eine durchaus begründbare Sonderstellung ungerechtfertigterweise verabschiedet werde (Höffe 2020: 10–12).30 Kernproblem ist hier ein Verantwortungsdilemma, das darin besteht, „gleichzeitig menschliche Privilegien und Macht zu dezentrieren bzw. zu demokratisieren und die spezifische Rechenschaftspflicht und Verantwortung menschlicher Handlungsmacht anzuerkennen, die auf der Welt radikal ungleich verteilt ist“ (Hoppe/Lemke 2021: 144, dort mit Bezug auf den Neuen Materialismus).31 Für den Kritischen Posthumanismus ist dieses Problem besonders drängend, insofern sich diese Ansätze explizit als „appellativ“ (Loh 2018: 157) verstehen und normative Positionen vertreten. Doch obwohl ethische Konsequenzen immer wieder angesprochen werden, bleibt eine intensive Auseinandersetzung mit Argumentationsmustern aus der normativen Ethik und der Politischen Philosophie weitgehend aus.32 Die größte Schwierigkeit besteht vielleicht darin, dass die grundsätzliche Kritik an Anthropozentrismus, Eurozentrismus und Speziesismus oder die Forderung nach einer Öffnung der Perspektive für nicht-menschliche Entitäten für sich genommen durchaus Plausibilität für sich beanspruchen können, dass aber an die damit einhergehenden Relativierungen ganz unterschiedlich angeschlossen werden kann: Einer macht- und herrschaftskritischen Ausrichtung, die gewissermaßen nach einer Ausweitung des Kreises moralischer Subjekte strebt, stehen Ansätze gegenüber, die kein Problem damit zu haben scheinen, sämtliche mit dem Humanismus verbundenen normativen Orientierungen vorschnell über Bord zu werfen. Der Grat zwischen der Ablehnung einer menschlichen Sonderstellung und einer inhumanen Relativierung des Wertes menschlichen Lebens scheint bisweilen schmal. Eine selbst-kritische Reflexion posthumanistischen Denkens im Hinblick auf diesbezügliche Schwierigkeiten und Gefahren scheint hier ebenso unausweichlich wie eine

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In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, noch die Entscheidung, sich nicht über andere Spezies erheben zu wollen, bedürfe der Fähigkeit zur Selbsteinschätzung (Höffe 2020: 10). Nicht zuletzt aus diesem Grund führt der Versuch einer Dezentrierung des Menschen vielfach zu einer Rezentrierung. Insbesondere die mangelnde Rezeption des in dieser Hinsicht sehr ergiebigen umweltethischen Diskurses (vgl. Ott et al. 2016) ist bemerkenswert.

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wissenssoziologisch informierte Selbstbetrachtung, die auch das eigene Denken sozio-historisch kontextualisiert und relativiert.

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Empirischer Posthumanismus: Eine neue Methodologie?

Kehren wir nun zur Fotografie von Lena von Goedeke zurück, die daran erinnert, dass sich posthumanistisches Denken nicht allein an der Theorie, sondern auch an der gelebten Erfahrung und Empirie messen lassen muss. Die Fotografie, die eine menschliche Begegnung mit dem dahinschmelzenden ewigen Eis und damit dem Hyperobjekt Klimaerwärmung thematisiert, wirft dahingehend die Frage auf, welche empirischen Methoden dem Posthumanismus zur Verfügung stehen, um nicht-menschliche Entitäten angemessen berücksichtigen und Phänomene des posthuman predicament erfassen zu können. Zuweilen präsentiert sich der Posthumanismus als ein eher theoretisch orientiertes Projekt, das allerdings einer Empirisierung mittels erfahrungsund datenbasierter Erkenntnisse bedürfte.33 Ungeachtet zahlreicher diesem Ziel verschriebener empirischer Studien lässt sich nach wie vor eine Verunsicherung im Hinblick auf die Methoden feststellen, die sich auch in einem Mangel an Methodenliteratur widerspiegelt. Die vielfach implizit belassenen Konsequenzen eines posthumanistischen Zugriffs für die empirische Forschung scheinen im Bereich des empirischen Posthumanismus (vgl. dazu Murawska 2023) noch symptomatisch. Im posthumanistischen Diskurs finden sich eine Reihe empirischer Positionen, die zwar den Grundüberlegungen des Posthumanismus folgen, von ihren Autor*innen aber nicht in dieser Denkrichtung verortet werden – zur Abgrenzung nennen wir diese Zugänge hier beyond human-Forschung. Ein einflussreiches Beispiel hierfür ist Philippe Descolas „ethnographische Rundreise“ (Descola 2013: 56), die ihn in den Amazonaswald und – ganz ohne posthumanistische Motivation – auf ein Terrain jenseits des Menschen und jenseits einer Gegenüberstellung von Natur und Kultur führt. Descola zeigt darin, dass „die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, etwas 33

Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Posthumanismus und Empirie hängt davon ab, welchen Empirie-Begriff man hier zugrunde legt. Im posthumanistischen Diskurs wird bisweilen ein weiter Empirie-Begriff vertreten, der allerdings vage bleibt: „[O]ur methods should resist retreating into narrow and flat empiricism, in the form of sociological reductions or a mere recourse to big data. The favoured approach is an enlarged empiricism that respects the phenomenology of experience, while avoiding exclusive references to identity-indexed claims. Immanence and accountability are key terms here and ethnographic observations a concrete case in point“ (Braidotti 2019a: 136).

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ist, was in der Welt am wenigsten geteilt wird“ (ebd.: 60), und dass es viele Gesellschaften gibt, denen es „nie in den Sinn gekommen ist, daß die Grenzen des Menschseins an den Toren der menschlichen Gattung haltmachen“ (ebd.: 17). Auch für Tim Ingold, dessen Zurückhaltung gegenüber dem Posthumanismus die Leser*innen seinem Beitrag im Band entnehmen können, sind die Überwindung des Natur-Kultur-Dualismus sowie eine nicht-anthropozentrische Argumentation programmatisch (Ingold 2011: 9, 186–187); ferner regen seine von seinen Feldforschungen in Lappland inspirierten Arbeiten ein Nachdenken über flows und Bewegungen miteinander verflochtener „biosocial becomings“ (Ingold 2013) an. Während sich Eduardo Kohn, der die Beziehungen zwischen Wäldern, Menschen und Tieren in Augenschein nimmt und den Wald als denkend charakterisiert, der posthumanistischen Kritik an der Exzeptionalität des Menschen grundsätzlich anschließt, betont er die Bedeutung eines robusten empirischen Fundamentes für die Entwicklung einer Anthropologie jenseits des Menschen (Kohn 2013: 7, 40). Mit Verweis auf die Krise des Anthropozäns fordern diese beyond human argumentierenden Autor*innen dabei eine Orientierung an indigenen Denkweisen (ebd.: 227; Ingold 2011: 10; Descola 2013: 17, 584). Dass eine Hinwendung zu nicht-westlichen Ontologien Zugänge zu perspektivistischen, nicht-anthropozentrischen und nicht-dualistischen Denkweisen eröffnet, haben auch Vertreter*innen des Posthumanismus erkannt, die mittlerweile verstärkt den Anschluss an indigene Wissensbestände und Epistemologien suchen (Braidotti 2017: 13). Eine dezidiert posthumanistische Position nehmen die Arbeiten von Alan und Josephine Smart ein, die zeigen, wie der Posthumanismus für die Anthropologie inhaltlich und methodisch fruchtbar gemacht werden kann. Hierzu müsse sich die Anthropologie an die veränderten Bedingungen einer anthropozänen, global verflochtenen Welt anpassen: Um lokale Gemeinschaften besser zu verstehen, gelte es nicht nur, die Interaktionen zwischen Menschen zu berücksichtigen, sondern sich auch mit unseren „non-human co-travelers on this planetary journey“ zu befassen, zu denen Mikroben, Parasiten, domestizierte Arten und Technologien zählen (Smart/Smart 2017: 7). Die zentrale These lautet dabei, dass der Mensch seit jeher posthuman und mehr als jedes andere Tier in Interaktionen mit mehr-als-menschlichen Entitäten involviert sei (ebd.: 3). Obschon empirisch-posthumanistische Studien nicht zwingend mehr-als-menschliche Phänomene behandeln müssen, sondern auch zwischenmenschliche Relationen in Augenschein nehmen (z. B.  Schadler 2013), überwiegen Beiträge, die sich im Bereich der HumanAnimal/Plant- und Multispecies-Forschungen verorten lassen (vgl. Hamilton/ Tylor 2017; Smart/Smart 2017; Kaarlenkaski/Steel 2020). Prominent wurde hier

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etwa Anna Tsings ethnografische Studie zu Matsutake-Pilzen (2021), in der sie die Interaktionen von Pilzen, Bäumen und Menschen als „offene Gefüge miteinander verflochtener Lebensformen“ (ebd.: 9) untersucht. Einen dezidiert empirisch-posthumanistischen Zugriff charakterisiert Jasmin Ulmer dabei als ein Denken „ohne“ (thinking without) Repräsentation, Struktur und Methode, ein Denken „mit“ (thinking with) Objekten oder ganz grundsätzlich „anders“ denken (thinking differently) (Ulmer 2017). Auch wenn derartige im Diskurs verbreitete Einladungen, Alternativen zu methodologischen Konventionen zu entwickeln und damit die empirische Forschung im Hinblick auf das Schreiben, die Theoriebildung, die Datengenerierung und Kollaboration anders zu gestalten (ebd.: 842), inspirierend klingen, wird nicht immer klar, was konkret ein solches Denken mit Objekten oder ohne Methode bzw. Repräsentation bedeuten kann. Exemplarisch werden daher nun einige Ansätze vorgestellt, mit denen der posthumanistischen Forderung nach methodischer Kreativität und Offenheit begegnet wird. Dazu zählt einmal die schon angesprochene inter-, trans- bzw. postdisziplinäre Ausrichtung von Forschung, die rhizomatisches Denken, konzeptuelle Vielfalt und disziplinäre Hybridisierung fördern soll (Braidotti 2017: 20). Hybridisierung bedeutet dabei sowohl die Zusammenführung von Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen als auch die Überwindung von Methoden im Zuge einer außerdisziplinären Zusammenarbeit (Hamilton/Tylor 2017: 153f.). Im Sinne einer „co-creative polyvocal research“ (ebd.: 82) und Kollaboration werden dabei auch nicht-menschliche Akteur*innen (Wälder, Pilze, Tiere, Technologien etc.) in den Forschungsprozess integriert: Schließlich seien Denken und Wissen nicht allein dem Menschen vorbehalten, sondern vollzögen sich in einer von Koexistenz geprägten Welt (Braidotti 2019a: 101). In methodischer Hinsicht ist dies eine Herausforderung, da neben der Kenntnis des eigenen Fachgebiets und der Berücksichtigung der Konzepte anderer Disziplinen eine Entwicklung von experimentellen Ansätzen erforderlich wird, um sich empathisch auch auf nicht-menschliche Wissenskoproduzenten einzulassen. Eine „taktische“ Methode, dies zu erreichen, ist die defamiliarization: It functions as a pedagogical tool to encourage the knowing subjects to disengage themselves from the dominant normative vision of the self they had become accustomed to. Defamiliarization is a way of decoding one’s implication in power relations (Braidotti 2019a: 139).

Als ein heuristisches Instrument, das wiederum der (Re-)Familiarisierung dient und zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über nicht-menschliche Akteure verwendet wird, gilt ein – im Lichte des angestrebten Post-Anthropozentrismus

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vielleicht paradox erscheinender – methodologischer Anthropomorphismus. Er soll dabei helfen, sich sensibel und empathisch auf Nicht-Menschliches einzulassen, den Anthropozentrismus abzulegen und Dualismen zu umgehen (vgl. Kompatscher et al. 2017: 208; Latour 2017: 118–119; Bennett 2020: 21, 167) und kann in diesem Sinne auch als eine Strategie verstanden werden, sich auf Objekte einzulassen. Da es keinen adäquaten Zugriffsmodus gibt, mit dem sich die Qualitäten von Objekten (Dingen, Tieren, Pflanzen, Technologien etc.) erschöpfend ausloten ließen, bleibt Morton zufolge nur eine solche Einstimmung (Morton 2020: 30, 64, 156): Empirisch-posthumanistisch Forschende sollen sich auf ihre Umgebung und die darin befindlichen Entitäten empathisch einlassen und die Stimmung vernehmen, die sie allesamt gleichursprünglich, transversal und symmetrisch umschließt und in der Dichotomien, Kausalitäten und Hierarchien außer Kraft gesetzt sind (Murawska 2020). Einige Autor*innen gehen diese Herausforderung an und versuchen etwa, die Stimmungen, die sie in ihren jeweiligen Forschungsfeldern wahrnehmen, auf der Ebene der Repräsentation zu vermitteln (Kohn 2013: 20; Tsing 2021: 13–24).34 Bei allen methodischen Suchbewegungen wird insbesondere die klassische Ethnografie – das zeigen auch die oben erwähnten empirischen Studien – als besonders fruchtbarer methodischer Zugang für eine posthumanistische Forschung betrachtet (Hamilton/Tylor 2017: 11; vgl. dazu auch Smart/Smart 2017: 4–6). Dabei bedürfe die letztlich in humanistischen Perspektiven gründende Ethnografie im Lichte des posthuman turn allerdings einer Aufarbeitung ihrer kolonialen Geschichte sowie einer Reform und Anpassung an die Bedingungen einer globalisierten, technologisierten, virtuellen, posthumanen Welt (ebd.: 7).35 Ein wichtiges Beispiel für eine dezidiert ethnografische Ausrichtung ist die im posthumanistischen Diskurs ausgesprochen prominente Multispecies Ethnography (MSE) – sie wird bisweilen gar mit posthumanistischer Forschung gleichgesetzt (etwa bei Hamilton/Tylor 2017) –, die den Versuch

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Bei Tsing geschieht dies etwa durch die stimmungsmäßige Untermalung ihres Textes durch Zeichnungen und Gedichte. Die Studie kann damit auch als ein Beispiel für die Suche nach neuen Formen der Repräsentation in der posthumanistischen Forschung betrachtet werden. Indem sie Interviews mit digitalen Objekten durchführen, denken etwa Adams/Thompson (2016) eine bewährte ethnografische Forschungsmethode neu und entwickeln hierzu eine Anleitung bestehend aus acht Heuristiken. Interviewing verstehen sie dabei als Intraviewing, also als das Herstellen einer hybriden Konfiguration und Korrespondenz zwischen menschlicher Interviewer*in und nicht-menschlichen Interviewten. Es gehe ihnen nicht darum, von Objekten, über oder für Objekte zu sprechen, sondern mit ihnen, durch sie und als diese (ebd.: 19).

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unternimmt, sich mehr-als-menschlichen Entitäten, ihren Verflechtungen und ihrer Agency über ethnografische Methoden zu nähern.36 Hamilton und Tylor konkretisieren dabei drei methodische Kernbereiche einer ethnografisch angelegten posthumanen multispecies Forschung: Visuelle Methoden unterstützen demnach die Einnahme einer posthumanistischen Perspektive, insofern sie das Potenzial besitzen, subtile Interaktionen jenseits des Verbalsprachlichen aufzudecken (Hamilton/Tylor 2017: 92). Sinnliche Methoden zielen auf die mit nicht-menschlichen Entitäten geteilte Körperlichkeit sowie auf transkorporeale Erfahrungen ab (Alaimo 2010). Künstlerischposthumanistische Ansätze schließlich ließen sich mit ethnografischen Methoden kombinieren (etwa in Gestalt von Ethnodrama, Ethnotheater, Ausstellungen) und ermöglichten es, Empathie gegenüber nicht-menschlichen Akteuren zu fördern, mit dem Mythos einer objektiven Forschung zu brechen und die posthumanistische Forderung nach Kreativität, Spekulation, Unkonventionalität, Nonlinearität, Affirmation und Provokation zu erfüllen (vgl. ebd.: 134). Braidotti, die bisweilen von „posthuman aesthetics“ spricht, sieht in Literatur und Kunstpraxis mit ihrer schöpferischen Vorstellungskraft das Potential zum Vorantreiben des posthumanen Wissensprojekts (Braidotti 2019a: 132–133). Autor*innen wie Latour oder Morton etwa engagieren sich immer wieder in Projekten an der Schwelle von Wissenschaft und Kunst (siehe etwa Latours Kunstprojekt „Critical Zones“ oder Mortons Zusammenarbeit mit Olafur Eliasson im Projekt „Ice Watch“). Kunst spielt im posthumanistischen Diskurs insofern eine zentrale Rolle, als dass das Kunstwerk per se Solidarität mit Nicht-Menschen bedeute (Morton 2020: 135–136; siehe dazu Bormann, Flasche und Sigmund im Band). Schließlich führt ein Nachdenken über Methoden auch zu forschungsethischen Implikationen eines empirischen Posthumanismus: So sei etwa danach zu fragen, was es bedeutet, in einer Epoche empirisch zu forschen, in der der Mensch zum geologischen Faktor avanciert ist. Manche Autor*innen fordern diesbezüglich moralische Vertretbarkeit, Nachhaltigkeit und Generativität empirischer Methoden ein (Ulmer 2017: 832, 837). Weiter mache es das Anthropozän erforderlich, auch jenen Akteur*innen Gehör zu verschaffen, die die sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Auswirkungen mitzutragen gezwungen sind, obwohl sie an ihrer Entstehung kaum oder überhaupt nicht beteiligt sind. Gefordert wird hier die schon erwähnte „Ethik der 36

Dieses inter- und transdisziplinäre Projekt, das auch künstlerische Methoden integriert, kann dabei eher als eine „Forschungsrichtung“ (Fenske 2020: 176) oder ein „genre of writing and mode of research“ (Kirksey/Helmreich 2010: 545) denn als eine praktische, ethnografische Anleitung zur Erforschung mehr-als-menschlicher Welten verstanden werden.

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Affirmation“, welche die Komplexitäten des ‚wirklichen Lebens‘ wahrnimmt und sich einer verteilten Fürsorge sowohl für menschliche als auch nichtmenschliche Entitäten verpflichtet fühlt (vgl. dazu Braidotti im Band). In vielen empirisch-posthumanistischen Studien fallen dabei Bescheidenheitsgesten auf: Die empirisch-posthumanistisch Forschenden sind bemüht, den marginalisierten Koproduzent*innen des Wissens im Rahmen der Datengenerierung eine Stimme zu geben, sie prinzipiell aufzuwerten und dabei ihre eigene privilegierte Position zu reflektieren. Obschon die Umsetzung dieser Forderung erhebliche methodische und sprachliche Probleme aufwirft, scheinen offen gezeigte Überforderung und Perplexität zum Habitus empirischposthumanistisch Forschender zu gehören. Bescheidenheit bedeutet dabei auch, über Machtstrukturen im Forschungsprozess nachzudenken: Letzthin ist es immer der forschende, der menschlichen Sprache mächtige Mensch, der darüber entscheidet, wer zu Wort kommt und wie Deutungsmacht über das Gesagte eingesetzt wird. Angesichts dieser methodischen Herausforderungen sucht der Posthumanismus die Nähe zur Kunst, um Fragen, wie sie mit der Fotografie auf dem Cover des Bandes aufgeworfen werden, mit alternativen Ausdrucksformen begegnen zu können. Wer sagt hier zu wem und vor allem wie: „I was not created to learn your language“?

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Die Beiträge des Bandes

Die im Band versammelten und nachstehend kurz zusammengefassten Studien decken verschiedene Facetten des posthumanistischen Diskurses ab: Neben Beiträgen namhafter Vertreter*innen und Begründer*innen des posthumanistischen Diskurses wie Rosi Braidotti und Francesca Ferrando finden sich auch dem Posthumanismus eher kritisch gegenüberstehende Positionen etwa von Tim Ingold, der für eine vorsichtige und vor allem historische Betrachtung des Posthumanismus plädiert, oder von Matthias Groß, der zeigt, dass manche Annahmen des Posthumanismus weniger neu sind als sie auf den ersten Blick scheinen. Während sich einige Autor*innen explizit im Posthumanismus verorten, nehmen andere posthumanistische Überlegungen auf, um neue Perspektiven auf ihre Gegenstände einzunehmen. I. Diesseits und jenseits des Menschen: Anthropologie und Anthropozän Im ersten Kapitel werden die Rolle der Anthropologie und des Anthropozäns für den posthumanistischen Diskurs reflektiert. Während die Rede vom Anthropozän die erdgeschichtliche Wirksamkeit des Menschen betont und ihm damit eine zentrale, wenngleich verheerende Bedeutung im Weltganzen zuweist, scheint die Rede vom „Posthumanen“ gerade den Abschied von

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einem Zeitalter des Menschen zu implizieren. Doch wie die Postmoderne auf die Moderne, so bleibt auch der Posthumanismus kritisch auf den Humanismus und seine normative Orientierung am Menschen bezogen. Auch wenn die Vertreter*innen des Posthumanismus eine selbstverständliche Bezugnahme auf das Wesen des Menschen ablehnen, kommt der Anthropologie paradoxerweise eine theoretische Schlüsselrolle im posthumanistischen Diskurs zu, die das erste Kapitel des Bandes reflektiert. Tim Ingold geht in seinem Beitrag von der aufklärerisch-humanistischen Idee einer Vorgeschichte des Menschen aus, die angesichts des von den Posthumanist*innen verkündeten Endes des Humanismus einer Revision unterzogen werden soll. Dabei taucht Ingold tief in die Geschichte der Anthropologie ein und nimmt Konzepte wie den homo homificans bei Raimundus Lullus oder den Graphismus bei André Leroi-Gourhan auf, um eine andere Geschichte zu erzählen, die den Menschen am Ende zwar in gewisser Weise ins Zentrum der Betrachtung zurückstellt, dabei aber die Leben der Menschen im Strom der Zeit und in ihrer Beziehung zu anderen Wesen betrachtet. Hannes Bajohr befasst sich in seinem Text mit dem Anthropozän-Diskurs und zeigt auf, inwiefern aus dem Auftreten des Menschen als geologischer Einflussgröße gleichermaßen neo- wie auch posthumanistische Konsequenzen gezogen werden. Aus dem Posthumanismus entsteht jedoch die Schwierigkeit, ontologische und ethische Fragen zu koordinieren, denn wenn alle Entitäten miteinander verbunden sind und es keine isolierten Subjekte gibt – wer kommt dann als Träger von Verantwortung und als Adressat ethischer und politischer Ansprüche in Frage? Auf den Menschen als moralischen Adressaten kann man daher schwer verzichten. Mit der Negativen Anthropologie bringt Bajohr die Idee einer vermittelnden Position zwischen Posthumanismus und (neohumanistischen) Anthropozäntheorien ins Spiel, die zwar nicht auf Anthropologie verzichtet, aber auf eine positive Bestimmung des Menschen. Thomas Schmaus bringt mit seinem Text eine neue Stimme in den Diskurs ein. Dazu skizziert er die nicht-essentialistische Anthropologie des „menschlichen Menschen“, die Heinrich Rombach im Rahmen seiner Strukturphänomenologie entwickelt hat. Er zeigt die Parallelen zwischen Rombachs relationaler monistischer Ontologie und dem Posthumanismus auf und schlägt vor, Rombachs Ansatz als „anonymen Posthumanismus“ zu verstehen, der mit den aktuellen Positionen das Ansinnen teilt, eine dualistische Sicht auf Natur und Kultur zu unterlaufen. II. Kritischer Posthumanismus und seine Kritik In letzter Zeit sind vermehrt Versuche unternommen worden, die heterogenen Positionen, die sich unter dem Dachbegriff „Posthumanismus“ versammelt

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haben, zu systematisieren und an unterschiedliche Diskurstraditionen anzubinden. Zu einer solchen Systematisierung des Diskurses und einer theoretischen Verortung tragen auch die Texte des folgenden Kapitels bei, das sowohl programmatische Beiträge als auch eine kritische Reflexion der impliziten theoretischen Voraussetzungen posthumanistischer Positionen umfasst. Als eine Hauptvertreterin des Kritischen Posthumanismus befasst sich Rosi Braidotti in ihrem grundlegenden Beitrag mit den Veränderungen, welche die traditionell am Menschen orientierten Geisteswissenschaften durchlaufen müssen, wenn sie sich als Critical Posthumanities positionieren wollen. Dabei entwirft sie in Ansätzen so etwas wie eine Geistesgeschichte des Posthumanismus, welche einerseits an die Denker*innen der Postmoderne und andererseits an Vertreter*innen eines kontinentalphilosophischen Naturalismus anknüpft, und diskutiert einige Herausforderungen, die sich aus einem posthumanistischen Verständnis von Subjektivität für die betreffenden Wissenschaften ergeben. Francesca Ferrandos Beitrag ist ein Auszug aus ihrem Buch Philosophical Posthumanism (2019), in dem es zunächst um eine historische und systematische Einordnung des Posthumanismus aus philosophischer Sicht geht, wobei sie den Posthumanismus als Post-Anthropozentrismus, Post-Humanismus und Post-Dualismus bestimmt. Die beiden anderen Teile des Textes befassen sich mit der Frage nach der Bestimmung des Lebens, auch im Hinblick auf künstliche Lebensformen; dabei geht Ferrando auch auf die Rolle der Technik im Posthumanismus ein. Während die ersten beiden Autorinnen dezidiert für einen kritischen Posthumanismus eintreten, macht Jenni Brichzin in ihrem Beitrag darauf aufmerksam, dass auch der Anti-Essenzialismus, den der Posthumanismus propagiert, Konsequenzen hat, die von der Theorie selbst oft nicht mitreflektiert werden. Zunächst weist sie darauf hin, dass der Posthumanismus eine eminent politische Strömung ist und arbeitet dann heraus, wie der Versuch, Essentialismen und Dualismen zu vermeiden, doch selbst zu neuen Essenzialismen führt, etwa indem ein fundamentaler Bruch mit früheren Theorien konstruiert wird. Um derartige Widersprüche produktiv zu machen, schlägt Brichzin ein dialektisches Vorgehen vor. III. Transformationen von Subjektivität: Menschen – Tiere – Pflanzen Das Neudenken der Beziehungen zwischen Mensch, Tier und Pflanze sowie die Erprobung alternativer, nicht-menschliches Leben inkludierender Begriffe von Subjektivität sind zentrale Anliegen posthumanistischer Ansätze. Die Grenzen zwischen den Entitäten werden darin als beweglich und permeabel konzeptualisiert oder auch vollständig aufgehoben; mithin wird das Posthumane

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als die materielle Verquickung aller in zoe aufgehenden Lebewesen verstanden. Die Autor*innen der drei in diesem Abschnitt versammelten Beiträge nähern sich der tierlichen und pflanzlichen Subjektivität auf theoretischer, geistesgeschichtlicher und empirischer Ebene. In seinem Text befasst sich Andrea Le Moli mit der Frage, inwieweit ein subjektivistischer Ansatz nützlich sein kann, um die Rolle tierlicher Lebewesen besser zu verstehen. Mit einem hermeneutischen Zugriff legt er dar, wie die westliche Philosophie die Frage nach dem Tierlichen im Allgemeinen und der tierlichen Subjektivität im Besonderen bis in die Gegenwart behandelt hat und welche Denker*innen sich hier hervorgetan haben. Kritisch diskutiert Le Moli nicht nur die Potenziale und Grenzen posthumanistischer Positionen für die Entwicklung eines alternativen Subjektivitätskonzeptes, sondern auch die Paradoxien und Probleme eines subjektivistischen Ansatzes. In seiner synchron und diachron angelegten Zusammenschau macht der Autor westliche Denktraditionen für eine kritische Auseinandersetzung mit nicht-menschlichem Leben sowie dem Kritischen Posthumanismus fruchtbar. Warum Pflanzen im Gegensatz zu Tieren bisher ein weitgehendes Desinteresse entgegengebracht wurde, erläutert Marco Antonio Pignatone. Auch er wählt einen hermeneutischen Zugang zur Beantwortung der Frage, wie die zeitgenössischen, unter dem Namen Plantness Studies zusammengeführten Studien durch Überlegungen des antiken griechischen Philosophen und Naturforschers Theophrast befruchtet werden können, um eine im westlichen Denken zutiefst verwurzelte Gewohnheit zu überwinden: die Pflanzenblindheit (plant blindness). Damit gelingt es Pignatone nicht nur, die Pflanze ins Zentrum philosophischer Reflexion zu rücken, sondern auch daran zu erinnern, dass viele der posthumanistischen Forderungen auf einer langen, bisweilen antiken Denktradition beruhen. Alexandra König und Annette Schnabel diskutieren Tier-Mensch-Verhältnisse seit der Moderne und fragen darauf aufbauend, wie dem Menschen nahestehende Tiere durch Praktiken des Ko-Lernens zu Profis gemacht und auf diesem Wege zu ihren menschlichen Kolleg*innen ins Verhältnis gesetzt werden. Ziel der empirischen, auf explorativ-qualitativen Studien zur Ausbildung von Polizeihunden und -pferden basierenden Untersuchung ist es zu veranschaulichen, wie die Grenzen zwischen Menschen und Tieren in einem professionellen Setting ausgehandelt, fabriziert und verschoben werden. Mit dem an Max Weber angelehnten Konzept der Professionalisierung führen die Autor*innen in ein in den Human-Animal Studies bisher wenig beachtetes Feld und zeigen auf, wie ein empirischer Zugriff neue Einsichten zu MenschTier-Relationen in professionellen Kontexten zutage fördern kann.

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IV. Maschinen – Menschen: KI und Robotik Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit Fragen der Technologie. Insbesondere die Entwicklungen auf dem Gebiet der Robotik und der Künstlichen Intelligenz haben einiges dazu beigetragen, hergebrachte Vorstellungen über den Menschen, seine Fähigkeiten und Begrenzungen neu zu justieren. Sie beflügeln nicht nur transhumanistische Visionen von der Überwindung oder Entgrenzung des Menschen, sie werfen auch allgemeine Fragen zum Verhältnis zwischen Mensch und Maschine bzw. Technik und Natur, zur Entscheidungsgewalt und gesellschaftlichen Eingliederung technologischer Objekte auf. Nandita Biswas Mellamphy konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Regulierung Künstlicher Intelligenz. Ausgehend von der Beobachtung einer zunehmenden Verlagerung von Entscheidungsprozessen auf algorithmische Systeme wird die verbreitete Forderung nach einer humanzentrierten KI, die menschlichen Zwecken dient und menschlicher Aufsicht und Kontrolle unterworfen ist, kritisch hinterfragt. Solchen Vorstellungen werden zwei alternative Szenarien der Beziehung zwischen Mensch und Nicht-Mensch vorgestellt: eine gemäßigte posthumanistische Perspektive, die von Ko-Evolution, KoProduktion und geteilter Kontrolle zwischen Menschen und Nicht-Menschen ausgeht, und eine radikale, spekulativ-posthumanistische Perspektive einer xenokratischen Governance, in der die Kontrolle an nicht-menschliche Entitäten und Intelligenzen abgegeben wird. Die Autorin plädiert für die Berücksichtigung auch solcher Konzeptionen in der globalen KI-Diskussion zur Neugestaltung von Mensch/KI-Relationen. Hannah Link und Herbert Kalthoff befassen sich in ihrem Beitrag mit der Forschung und Entwicklung von Robotern. Am Beispiel des Roboterkopfes Kismet, der über Sensoren die Gesichtszüge menschlicher Interaktionspartner „liest“ und über motorengesteuerte Bewegungen mimische Reaktionen darstellt, wird eine Verschiebung von symbolbasierten hin zu emergenten Ansätzen der Robotikforschung nachgezeichnet. Unter Rückgriff auf technikphilosophische Einsichten Gilbert Simondons und Überlegungen aus der Kybernetik wird die ingenieurswissenschaftliche Entwicklungsarbeit der emergenten Robotik als eine Arbeit an der Zusammenführung von System und Umwelt und an der Irritation klarer Unterscheidungen zwischen Technik und Natur verständlich. Mit der Frage, wie technische Innovationen hergebrachte Grenzziehungen zwischen Technologie und Natur herausfordern, beschäftigt sich der empirische Beitrag von Henning Laux am Beispiel digitaler Sprachassistenten. Indem sie maschinelle Eigenschaften und menschliche Attribute in sich vereinen, ist diesen Entitäten, so der Beitrag, eine eigentümliche ontologische

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Unbestimmtheit eigen, die für eine erfolgreiche Eingliederung in die Gesellschaft bearbeitet werden muss. Unter Rückgriff auf Latours Theorie der Existenzweisen als einer posthumanistischen Heuristik werden die verschiedenen Dimensionen einer Vergesellschaftung digitaler Assistenten herausgearbeitet, in deren Verlauf sich diese Entitäten etablieren können und zunehmend als „wirklich“ oder „natürlich“ anerkannt werden. V. Ökologie und Posthumanismus: Umwelt – toxische Objekte – Wasser Entgegen essentialisierenden und hierarchisierenden Sichtweisen, die menschliche Kultur und nicht-menschliche Natur einander gegenüberstellen, hinterfragen posthumanistische Ansätze eindeutige Trennungen und betonen die komplexen und vielfältigen Verwicklungen zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben sowie zwischen Umwelt und Gesellschaft. Die Beiträge dieses Abschnitts beschäftigen sich aus soziologischer und kulturanthropologischer Perspektive mit Fragen der Ökologie und erörtern ihre Konsequenzen für die Stabilität der Natur/Kultur-Differenz und von anthropozentrischen Perspektiven. Matthias Groß fragt in seinem Beitrag nach der Möglichkeit einer Auflösung der in posthumanistischen Diskursen infrage gestellten Natur/KulturDichotomie. Ansätze zu einer Dezentrierung des Menschen und zu neuen Konzeptionen des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, so arbeitet er heraus, finden sich schon im Diskurs der Umweltsoziologie seit der vorvergangenen Jahrhundertwende, seien aber nie entschieden empirisch umgesetzt worden. Hierin zeige sich eine Widerständigkeit der Zentralstellung des Menschen in den Sozialwissenschaften, die zwar angezweifelt, aber kaum nachhaltig aufgelöst werden könne. Industriell produzierte Giftstoffe stehen im Mittelpunkt einer Heuristik toxischer Objekte, die Christiane Schürkmann in ihrem Beitrag entwirft. Solche Objekte, so die Autorin, werden nicht nur in alltägliche Praktiken etwa der Schädlingsbekämpfung eingebunden, sondern produzieren durch die unkontrollierte Emission von Toxizität auch Krisen und Katastrophen. In dieser potentiellen Destruktivität erscheinen toxische Objekte für das Natur/ Kultur-Verhältnis als ambivalent: Einerseits stellt ihre Wirkmacht und mangelnde Beherrschbarkeit anthropozentrische Perspektiven infrage, andererseits evozieren sie aber auch humanrezentrierende Strategien der Regulierung, Separierung und Detoxifizierung. Toxische Objekte changierten so zwischen Herausforderung und Reproduktion des Natur/Kultur-Dualismus. Mit der Vielfältigkeit von Wasser und seiner Einbindung in komplizierte hydro-soziale Beziehungen beschäftigt sich die Kulturanthropologin Ina Dietzsch in ihrem Beitrag. Ausgehend von der Beobachtung einer begrenzten

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Regulierbarkeit von Wasser, wie sie sich im Vorhandensein von Pfützen und Wasserflecken zeige, werden die konstitutiven Bedingungen moderner Vorstellungen von Wasser als „urbanem Wasser“, das als Teil einer objektifizierbaren Natur sowie als verfügbare, messbare und distribuierbare Ressource gilt, in den Blick genommen. Von hier aus geht die Autorin der Frage alternativer „Wasserontologien“, ihren jeweiligen Eigenlogiken und materiellen Infrastrukturen nach und fragt nach der mit einem jeweiligen „Waterworlding“ verbundenen Ordnungs- und Reinigungsarbeit. VI. Posthumane Kunst: Bilder – Körper – Kristalle Posthumanistische Ideen finden in zahlreichen Werken zeitgenössischer Künstler*innen ihren Ausdruck und beflügeln zuweilen auch die kuratorische Praxis. Dies nimmt nicht wunder, denn zwischen dem Posthumanen und der Kunst besteht seit jeher ein Konnex. „All Art is Posthuman“ lässt sich in Anlehnung an Mortons Diktum All Art is Ecological sagen: „In the beauty experience, there is some kind of mind-meld-like thing that takes place, where I can’t tell whether it’s me or the artwork that is causing the beauty experience“ (2018: 58–59). In diesem Sinne wohnt sowohl dem Kunstwerk als auch seiner Betrachtung und Erfahrung ein posthumanes Moment inne. Auf welche Weise Kunst den Menschen verführt, zu ihm hin- und zugleich über ihn hinausführt, wie Kunst, Posthumanes und Posthumanismus miteinander korrelieren, diskutieren die Autor*innen des vorliegenden Kapitels. Eine kunsthistorische Sicht auf das Begriffspaar Natur/Kultur nimmt Ralf Bormann in seinem Aufsatz ein und diskutiert, wie Kunst über den Menschen hinausführen kann. Mit einem hermeneutischen und ikonografischen Zugriff analysiert er den Diskurs über vordringlich aus Stein gefertigte Bildwerke und legt in perspektivistischer Manier – zunächst vom Stein und dann vom Menschen her argumentierend – dar, wie sich diese bei ihrer Erschaffung, Betrachtung, beim Schreiben über sie und sogar beim sexuellen Verkehr mit ihnen wirkmächtig zu erkennen geben. Ganz unbemerkt und im Kreisen um das Bildwerk geschieht dabei die Verführung und schließlich auch Dezentrierung des Menschen. Damit lenkt der Autor unsere Aufmerksamkeit darauf, dass das Posthumane nicht erst seit dem posthuman turn, sondern seit jeher unhintergehbarer Bestandteil der Kunsterfahrung war. Sarah Sigmund untersucht anhand ausgewählter zeitgenössischer Kunstwerke die Darstellungsweisen des Menschseins im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie. Aus einer kunstwissenschaftlichen und materialistischen Perspektive veranschaulicht sie, wie Künstler*innen das Menschsein durch die Sichtbarmachung von Zytosomen, Genomen oder DNA verhandeln und im Zuge dieser „molekularen Verflüssigung“ des Körpers post-humanoide,

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re-materialisierte Verkörperungen entstehen lassen. Der Artikel zeigt, wie im Zuge dessen das Menschsein künstlerisch zur Disposition gestellt wird und wie sich Kunst und (akademischer) Kritischer Posthumanismus befruchten. Kerstin Flasche stellt in ihrem Aufsatz das Projekt „Mohr mit Mineralien“ des Künstlers Bertram Haude vor, der 2019 die im Dresdner Historischen Grünen Gewölbe ausgestellte Smaragdstufe durch anthropogene Mineralien, d. h. dem menschlichen Wirken im Geosystem entsprungene Substanzen, ersetzte. Flasche wählt einen ikonografischen Zugang, um herauszuarbeiten, inwiefern das Werk überkommene Vorstellungen von „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ unterläuft, Ausdruck eines Nachdenkens über das Anthropozän ist und zugleich postkoloniale Fragen aufwirft, indem es eine neue Lesart kolonialer Eroberungs- und Ausbeutungsmechanismen anbietet; Flasche führt dazu den Begriff der „geologischen Kolonialisierung“ ein. Aus kuratorischer Praxis heraus reflektiert die Autorin, wie künstlerische Interventionen zentrale posthumanistische Fragestellungen aufwerfen und verdichten können.

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I. Diesseits und jenseits des Menschen: Anthropologie und Anthropozän

Posthumane Prähistorie Tim Ingold

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Ursprüngliche Menschen

„Mensch“ (human) ist ein altes Wort, das Konzept der Menschheit hingegen ist modern. Niemand kann genau sagen, woher dieses alte Wort eigentlich stammt. Giambattista Vico vermutet in seiner Scienza Nuova von 1725, es leite sich vom lateinischen Wort humando, begraben, ab, das wiederum auf humus, Boden, zurückgeht.1 Demnach wären die Menschen vor allem Wesen des Bodens, die ihre Toten begraben. Sie kommen von der Erde und kehren stets zu ihr zurück. Die Denker der Aufklärung aber, darunter auch Vico selbst, drehten diese Logik schließlich um und beriefen sich stattdessen auf die universellen Kräfte der Vernunft oder des Intellekts, die dazu bestimmt seien, die Menschen von ihren irdischen Fesseln zu befreien und alle Bande zum Boden, zum Ort und zur Natur zu lösen. Das moderne Konzept von Menschheit entspringt dieser Umkehrung, denn es führte eine Verfasstheit ein – die conditio humana –, die über den Naturzustand, der alle Wesen umgreift, hinausgeht. Die Natur wurde damit nicht länger als etwas betrachtet, das durch die Arbeit früherer Generationen bereichert und angereichert wurde. Vielmehr sah man sie als einen Raum für menschliche Unternehmungen und als Aufbewahrungsort einer Geschichte, deren Kraft erschöpft ist und deren Rückstände sich in einander nach und nach überlagernden Sedimentschichten auftürmen. Fortan konnte der Boden, verstanden eher als passives Substrat denn als aktive und antreibende Kraft in der kontinuierlichen Hervorbringung des Lebens, ungestraft ausgehoben werden. Die Ausgrabung der Vergangenheit, einst mit den dunklen Künsten der Geisterbeschwörung in Verbindung gebracht, entwickelte sich somit zu einem ehrenwerten antiquarischen Beruf. * Die Originalversion dieses Textes erschien 2021 unter dem Titel „Posthuman Prehistory“ in Nature and Culture 16 (1), S. 83–103. Wir haben uns bei der Übersetzung für die konsequente Anwendung geschlechtergerechter Formulierungen entschieden. 1 Wie Jason Taylor und Robert Miner in einer Fußnote ihrer neuen Übersetzung der Scienza Nuova anmerken, könnte dies eine von Vicos phantasievolleren Etymologien sein (Vico 2020: 12, Anm. 13). Für Vico selbst wird das Prinzip der Beerdigung durch eine Urne repräsentiert (Vico 2000: 51), die er als Frontispiz seines Werkes verwendet und ausführlich erläutert. Die Urne trägt die Initialen  D.M., die Vico als „den guten Seelen der Begrabenen“ dechiffriert (Vico 2000: 52).

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_003

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Die Archäologie war geboren, und mit ihr die Vorstellung menschlicher Entwicklung als eines Aufstiegs aus roher Natur über Zwischenstufen von Wildheit und Barbarei hin zur Vervollkommnung der conditio humana in ihrer verfeinerten Zivilisiertheit.2 Nur die späteren, mit dem Aufkommen schriftlicher Aufzeichnungen eingeleiteten Phasen dieser Entwicklung wurden dementsprechend als wirklich historisch anerkannt. Ganz so wie die Kindheit als Vorbereitung auf das Erwachsensein, so galt alles, was vor diesem Wendepunkt geschah, nurmehr als Vorbereitung auf die Zivilisation. Echte Geschichte ist etwas für Erwachsene. Diese Idee einer Vorbereitung von Geschichte – später als Prähistorie bezeichnet – war somit eine direkte Folge des aufklärerischen Humanismus. Viele zeitgenössische Wissenschaftler*innen erklären nun allerdings, die Tage des Humanismus seien vorbei oder doch zumindest gezählt. Wir sind im Begriff, so sagen sie, eine neue, eine Ära der Posthumanität zu beschreiten. Was aber wird dann aus der Idee der Prähistorie werden? Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass der Humanismus einen erheblichen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft geleistet hat. Er hat mehr Erdenbewohner*innen als jemals zuvor Bildung, Alphabetisierung und Demokratie gebracht. Mit ihm breitete sich das, was in einer Handvoll europäischer Länder begann, durch Handel und Kolonisierung auf der ganzen Welt aus. Gleichwohl hatte diese Entwicklung in zweierlei Hinsicht ihren Preis. Durch den Keil, der zwischen Menschheit und Natur getrieben wurde, deutete man erstens die Erde, die den Menschen mit Nahrung versorgte und ihm Überlebensgrundlage war, nun zu einem schlichten Aufbewahrungsort frei auszubeutender Ressourcen um. Archäologische Ausgrabungen stellten insofern lediglich einen Nebenschauplatz eines Extraktions-Programms im industriellen Maßstab dar, das die Erde verwüstete und ihre Regenerationsfähigkeit gefährdete. Zweitens diente die Berufung auf universelle Rechte vor allem den Interessen derjenigen, die die Macht besaßen, sie für sich zu beanspruchen; für andere bedeutete die gewaltsame Durchsetzung dieses Anspruchs Versklavung, einhergehend mit dem Verlust von Land, von Lebensgrundlagen oder gar des Lebens selbst. In der Geschichte des Kolonialismus wurde die Fahne der Menschlichkeit stets von den Siegern gehisst, die umgekehrt diejenigen, die unter ihr Joch gerieten, kaum wie Menschen behandelten. Angesichts dieser doppelten und unaufhaltsam gestiegenen Kosten hat sich das, was einst als Agenda für Fortschritt und Emanzipation begann, in eine teuflische Spirale von Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit verwandelt. Um 2 Die klassische Aufzählung der drei Stufen der sozialen Entwicklung des Menschen – Wildheit, Barbarei und Zivilisation – findet sich in Lewis Henry Morgans ursprünglich 1877 erschienener Abhandlung Die Urgesellschaft (Morgan 1987).

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diese Entwicklung zu durchbrechen, bedarf es nicht weniger als einer radikalen Alternative zum humanistischen Ansatz. Die Herausforderung besteht in der Entwicklung einer Begriffssprache, mit der diese Alternative formuliert werden kann. Dies ist die Herausforderung des Posthumanismus. Meine Frage lautet: Kann die Prähistorie, die letztlich ein Kind der Aufklärung ist, dabei eine Rolle spielen? Ich möchte in diesem Beitrag eine Antwort auf diese Frage wagen. Zunächst muss ich meiner Untersuchung allerdings ein paar Worte über Ursprünge voranstellen. Denn wenn es eine Frage gibt, die die Prähistoriker*innen mehr als jede andere beschäftigt hat, dann ist es diese: Wann und wo begann die Prähistorie? In seiner Untersuchung zur Entstehung der Arten hatte Charles Darwin gezeigt, dass Lebewesen nicht aus einem singulären Schöpfungsakt hervorgehen, sondern aus einem stufenweisen Prozess von Modifikation und Diversifikation, der entlang der Abstammungslinien verläuft. Und obwohl er in seinem Werk Über die Entstehung der Arten (1876) nur wenige Aussagen über den Menschen traf, ging er davon aus, dass sich die Menschheit auf die gleiche Weise entwickelt habe, also durch eine Diversifizierung innerhalb der Gattung Homo, von der schließlich unsere Spezies, nämlich sapiens, übrigblieb. Als ein Kind seiner Zeit und von liberaler Gesinnung war Darwin, wie jeder andere auch, vom grundlegenden Gegensatz zwischen Vernunft und Natur, der das Projekt der Aufklärung definierte, überzeugt. Er unterschied sich aber in der Konsequenz, mit der er diesen Gegensatz auslegte: Nicht nur fand er noch im einfachsten Organismus wie dem Regenwurm Ansätze eines Intellekts, er machte umgekehrt auch noch im rationalsten Menschen mächtige Überreste von Instinkt aus. Dies führte ihn zu der Behauptung, dass der Unterschied zwischen Menschen und auf niedrigeren Stufen angesiedelten Tieren zwar groß, letztlich aber einer des Grades und nicht der Art sei.3 Aber wenn es keine Schwelle zu überschreiten gab – wenn die Geschichte der menschlichen Evolution aus unzähligen, winzigen Abstufungen bestand –, gab es dann überhaupt einen Ursprungspunkt? In seinem späteren Werk Die Abstammung des Menschen (1875) kam Darwin zu dem Ergebnis, es gebe keinen solchen Punkt. Seine berühmte und höchst umstrittene Schlussfolgerung lautete stattdessen, dass der Mechanismus natürlicher Selektion, der vererbbare intelligente Fähigkeiten immer weiter vorantrieb, kontinuierlich weiterwirkte und schließlich ‚zivilisierte Menschen‘ in gleicher Weise über ‚primitive 3 Darwins größter Befürworter, Thomas Henry Huxley, würde dies wohl entschlossener formulieren als Darwin es vielleicht wagte. In seinem 1863 veröffentlichten Aufsatz „Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur“ erklärt Huxley, dass „die höchsten Vermögen des Gefühls und Verstandes in niederen Lebensformen zu keimen beginnen“ (Huxley 1863: 124).

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Wilde‘ erhob wie ‚Wilde‘ über Affen.4 Auch wenn Darwin kein Rassist war, verlieh diese Schlussfolgerung den oftmals völkermörderischen Kolonisationsabenteuern, die zu dieser Zeit von weißen Europäern an indigenen Völkern auf der ganzen Welt exerziert wurden, eine wissenschaftliche Legitimation. Noch in den 1930er Jahren verteidigten anerkannte Vertreter der ‚Physischen Anthropologie‘ eine auf der Hautfarbe basierende Sicht auf die Menschheit, die auf einer Skala von ‚weiß‘ bis ‚schwarz‘ mit dazwischenliegenden Schattierungen von ‚gelb‘ und ‚rot‘ in ‚Rassen‘ eingeteilt wurde. Die Menschheit befand sich demnach inmitten eines xenophoben Kampfes, in welchem die helleren Schattierungen unweigerlich den Sieg davontragen würden.5 Es bedurfte eines zweiten Krieges innerhalb eines Jahrhunderts, der zwischen den vermeintlich ‚zivilisierten Rassen‘ Europas geführt und seinerseits durch Fremdenfeindlichkeit befeuert wurde, um solche Auffassungen endgültig zu widerlegen. Nach dem Holocaust war das, was für Darwin und die meisten seiner Zeitgenossen als selbstverständlich galt – nämlich, dass sich menschliche Populationen in ihren vererbbaren intellektuellen Fähigkeiten auf einer Skala von ‚primitiv‘ bis ‚zivilisiert‘ voneinander unterscheiden – nicht länger haltbar. Darwins Ansicht, der Unterschied zwischen dem ‚wilden‘ und dem ‚zivilisierten‘ Menschen sei eine Frage der Gehirnleistung, wich in der etablierten Wissenschaft einem starken ethisch-moralischen Bekenntnis zu der Idee, dass alle Menschen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – gleich ausgestattet seien, mindestens was ihre moralischen und intellektuellen Fähigkeiten betrifft. „Alle Menschen“, so heißt es im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, „sind mit Vernunft und Wissen begabt.“ Im Grunde bedeutete das die Rückkehr zu einem vordarwinistischen, schon im 18. Jahrhundert von den Philosoph*innen der Aufklärung vertretenen Humanismus. Wenn Menschen im Hinblick auf den Besitz von Vernunft und Gewissen eins sind, so das Argument – wenn sie, mit anderen Worten, Wesen sind, die den gängigen juristischen Regeln gemäß Rechte und Verantwortlichkeiten wahrnehmen können –, dann müssen sie sich in der Art und nicht im Grad von allen anderen Wesen unterscheiden, die dieser Ausstattung entbehren. Der Mensch ist in der Tat außergewöhnlich!

4 Im unvermeidlichen Verlauf der natürlichen Selektion, so legte Darwin dar, hätten „einzelne Stämme andere verdrängt“, wobei sich unter den siegreichen Gruppen ein größerer Anteil „gut begabter Menschen“ befunden hätten (Darwin 1875: 172). 5 Einer der entschlossensten (oder: unverblümtesten) Verteidiger dieses militant rassistischen Szenarios war Sir Arthur Keith, einst Präsident des Royal Anthropological Institute und einer der angesehensten Wissenschaftler seiner Zeit. Der „war of races“, verkündete Keith, sei die ‚Sichel‘ der Natur (Keith 1931: 49).

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Die Spezies und die conditio

Zur Betonung der Exklusivität dieses Universalitätsanspruches gingen Nachkriegswissenschaftler*innen dazu über, die Menschen neu zu klassifizieren, und zwar nicht nur als Angehörige derselben Art, sondern auch als Angehörige derselben Unterart, der sie die Bezeichnung Homo sapiens sapiens gaben. Gleich zweifach mit Weisheit gesegnet war dies jedoch keine gewöhnliche Unterart. Mit der ersten Zuschreibung von Weisheit, die als Ergebnis eines Prozesses der Gehirnentwicklung betrachtet wurde, zeichnete man den Menschen innerhalb der Welt der Lebewesen aus. Die zweite hingegen – weit davon entfernt, nur eine weitere Unterteilung zu markieren – bedeutete einen definitiven Bruch mit dieser Welt. Mit der „menschlichen Revolution“, wie sie von vielen Prähistoriker*innen des 20. Jahrhunderts genannt wurde, sollen die frühesten Vertreter dieser neuen Unterart einen in der Geschichte des Lebens einmaligen Durchbruch erzielt haben, der sie auf einen Pfad immer weiterer Entdeckungen und Selbsterkenntnisse führte, nämlich der Kultur (Mellars/ Stringer 1989). Als von Natur aus menschliche Wesen (human beings) realisierten sie im historischen Bemühen des Hinauswachens über diese Natur allmählich die conditio des Mensch-Seins (being human), in der man letztlich das Wesen ihrer Menschlichkeit ausmachte. Halb innerhalb, halb außerhalb der Natur stehend, waren sie hin- und hergerissen zwischen den gegensätzlichen Imperativen von Intelligenz und Instinkt, Vernunft und Gefühl. Im Grunde bringt deshalb die doppelte Unterartbezeichnung Homo sapiens sapiens die hybride Konstitution dieser revolutionären Wesen genau auf den Punkt. Im Allgemeinen bekannt als „anatomisch moderne Menschen“– im Gegensatz zur „archaischen“ Variante, den sogenannten Neandertaler*innen, die den zweiten Grad der Sapientisierung angeblich nie erreichten –,  werden ihre prototypischen Vertreter als archetypische Sammler*innen und Jäger*innen porträtiert, für die die Geschichte erst noch beginnen musste. Biologisch ganz wie wir, so die Annahme, standen sie kulturell gesehen noch in den Startlöchern – dazu bestimmt, einem über Jahrtausende der Anpassung durch natürliche Selektion hinweg perfektionierten Drehbuch zu folgen (Ingold 2000: 373–391). Am anderen Ende der Geschichte stehen die Erzrepräsentanten der Hochmoderne, nämlich die Wissenschaftler*innen, deren absolutes Bekenntnis zur Vernunft die Stimme der angeborenen Triebe letztendlich zum Verschweigen gebracht hat. Während sie ihre eigene Vernunft im Spiegel der Natur reflektiert sehen, geben sie vor, sie alleine seien in der Lage, das Drehbuch lesen zu können, das die natürliche Selektion für ihre Vorfahr*innen geschrieben hat. Zwischen den Jäger*innen und Sammler*innen und den Wissenschaftler*innen,

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die einen prä-, die anderen posthistorisch, soll demnach all die Differenz zwischen Sein und Wissen liegen, zwischen der anpassenden Unterordnung an die Natur und ihrer Unterjochung im Lichte der Vernunft. Doch obwohl sie die Darwinsche Vorstellung eines jeder Spezies eigenen Wesenskerns entkräftet hat, ist die Wissenschaft paradoxerweise nicht in der Lage, ihre essentialistische Sicht auf den Menschen aufzugeben – und zwar ganz einfach deshalb, weil sie darauf angewiesen ist: Sie erfordert die einzigartige Fähigkeit, sich selbst von der Natur zu lösen, um sich als Wesen der Natur vorzustellen.6 Kurz, indem sich die Wissenschaft auf den Gedanken einer die Natur transzendierenden Menschheit beruft, errichtet sie sich ein Podest der Überlegenheit, von dem aus sie mit einiger Hybris und tiefer Widersprüchlichkeit behaupten kann, der Mensch sei ein fester Bestandteil der natürlichen Welt. Auf welcher Seite sollten wir den Menschen also verorten? Bezieht sich das Wort auf das menschliche Wesen (human being) oder auf das Mensch-Sein (being human), auf die Spezies oder die conditio? Oder liegt seine Bedeutung, zumindest in den Diskursen der Moderne, gerade in dieser Dopplung, in der Tatsache, dass wir die Spezies oder Subspezies nicht benennen können, ohne uns gleichzeitig auf ihre Verfasstheit zu berufen und umgekehrt? Vielleicht deutet die Idee des Menschen in ihrer modernistischen Flexion auf nichts so sehr hin wie auf ein existentielles Dilemma, nämlich die Unruhe eines Geschöpfes, das sich selbst und die Welt, zu der es gehört, nur erkennen kann, wenn es sich selbst aus dieser Welt herausnimmt und sie aus der Ferne betrachtet. Es ist ein Dilemma, das sich im Leben eines jeden Menschen auf seinem Weg vom Neugeborenen über die Kindheit bis hin zur vollen Reife zu wiederholen scheint. Beginnt das Neugeborene sein Leben nicht wie jedes andere Tier auch als ein Geschöpf der Natur? Hervorgebracht von Mann und Frau, ist es zweifellos ein menschliches Wesen (human being); aber da es anfangs kein Bewusstsein seiner selbst als in der Welt existierendes Wesen, ja kein Bewusstsein dafür hat, dass es überhaupt eine Welt gibt, in der es existiert, scheint es vom Mensch-Sein (being human) noch weit entfernt. Sind manche Menschen dann also mehr Mensch als andere? Sollten wir ein Kind als ein Zwischenwesen betrachten,

6 In seinem Klassiker Das Wesen des Christentums von 1841 betrachtet Ludwig Feuerbach den Menschen in Zusammenhang mit der Fähigkeit, sich als einzelne Menschen als Mitglied einer gemeinsamen menschlichen Art begreifen zu können, als Gattungswesen (Feuerbach 1957: 58–70). In einem kritischen Kommentar zu Feuerbach unterscheidet Marx weiter das Gattungswesen vom Gattungsleben. Während jedes Tier sein Gattungsleben in seinem eigenen Dasein ermesse, sei nur der Mensch dazu fähig, aus seinem Gattungsleben einen Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins zu machen. Darin liege sein Gattungswesen (Marx 2009: 89–92).

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das auf halbem Wege zwischen Natur und Kultur steht, wobei das eine die Vorbereitung auf das andere bedeutet? Der Anthropologe Walter Goldschmidt konnte noch vor nur einem Vierteljahrhundert ganz selbstverständlich behaupten, die Kindheit sei gekennzeichnet durch den Prozess der Transformation des Kleinkindes von einem rein biologischen hin zu einem kulturtragenden Wesen (Goldschmidt 1993: 351). Kinder auf ihrem Weg vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter werden biologisch gesehen als vollkommen, kulturell dagegen als noch unausgereift betrachtet. Dasselbe gilt für die prähistorischen Jäger*innen und Sammler*innen, die sich gleichermaßen in einer Schwellenphase des Übergangs von natürlichem zu gänzlich kulturellem Leben befinden; und wenn Erwachsene mehr Mensch sind als Kinder, dann sind auch Wissenschaftler*innen mehr Mensch als es die Jäger*innen und Sammler*innen sind. Ob nun für den einzelnen Menschen oder für die Menschheit als Ganzes: Der Schnittpunkt der Achse der biologischen Phylogenese mit der Entwicklung der Zivilisierung – also der Moment, in dem die Kultur von ihrem Ausgangspunkt in der erblichen Ausstattung ‚abhebt‘ –, bildet den eigentlichen Ursprungspunkt. Noch heute ist es üblich, vom „frühen Menschen“ („early man“, im Gegensatz zu „early woman“) und von den „frühen Jahren“ eines Kindes zu sprechen, ganz so, als könnten das Alter der prähistorischen Jäger*innen und Sammler*innen und das Alter von Vorschulkindern anhand der Nähe zu ihren jeweiligen Ursprüngen bestimmt werden: Wie man das Kind seinen Ursprüngen näher glaubte als den Erwachsenen, so glaubte man auch den frühen Menschen dem großen Moment der Entstehung der Menschheit näher als den späteren. Doch wenn die Prähistorie einen Ursprungspunkt hat: Was könnte es dann bedeuten, in der zeitlichen Nähe dazu oder sogar im entscheidenden Moment des Übergangs gelebt zu haben? Wie kann man die Handlungen und Ereignisse, die die Entwicklung der Prähistorie vorantrieben, von denen unterscheiden, die sie überhaupt erst in Gang gesetzt haben? Es fällt nicht schwer, im Bild unserer Jäger*innen- und Sammler*innenvorfahren, die auf die Dämmerung der Zivilisation blickten, den Widerschein einer eindeutig modernistischen Rhetorik zu erkennen. Man erahnt fast einen im Hintergrund versteckten Fernsehsprecher: ‚Unsere epische Geschichte‘, so die Stimme aus dem Off, ‚steht kurz vor ihrem Beginn.‘ Doch die verzweifelte und vielfach publik gemachte Suche der Prähistoriker*innen nach dem Entstehungsmoment der anatomisch modernen Menschen führte bislang nicht zu einem Ergebnis, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es ihn niemals gab: Dieser Moment ist eine Schöpfung des aufklärerischen Humanismus. Was aber ist dann zu tun? Kaum jemand würde heutzutage an der Evolution des Menschen zweifeln oder daran, dass diese Evolution eine vergleichsweise junge Entwicklung

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ist. Und genauso wenig können wir bezweifeln, dass Menschen Gestalter ihrer eigenen Geschichte sind, umgekehrt aber auch von ihr geformt werden. Wie können wir also die Lücke zwischen Geschichte und Evolution schließen, ohne, wie Darwin es tat, erstere auf letztere zu reduzieren? Ist es überhaupt möglich, die Menschen in das Kontinuum des organischen Lebens zurückzuholen, ohne dieses Leben seines historischen Impulses zu berauben?

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Das menschende Tier

Die neuerliche Bekräftigung der Vorstellung universeller Humanität in der Nachkriegszeit brachte uns, wie wir gesehen haben, zurück zur vordarwinschen Aufklärung. Jetzt aber, da das Projekt der Aufklärung selbst zu scheitern droht, ist es vielleicht an der Zeit, noch weiter in die Vergangenheit zurückzuschauen, hin zum Denken in vormoderner Zeit. Könnten uns ältere Denkweisen, hervorgegangen aus einem langsameren und beständigeren Lauf der Zeit, möglicherweise besser in die unbekannte Zukunft führen? Es ist ja nicht so, dass unsere Selbstbeschreibung als Menschen eine Erfindung des 18. Jahrhunderts wäre, wie manche zeitgenössischen Wissenschaftler*innen zu glauben scheinen.7 Ganze vier Jahrhunderte bevor Vico über die Etymologie des Wortes ‚Mensch‘ nachdachte, beschäftigte die Frage nach der Bedeutung dieses wohl rätselhaftesten aller Wörter schon einen anderen scharfsinnigen Denker, nämlich Raimundus Lullus. Lullus wurde auf Mallorca geboren, wuchs dort auf und lebte ein langes und produktives Leben, in dem er – man kann es kaum glauben – 280 Bücher schrieb, verfasst in Latein, Arabisch und in seiner Muttersprache, Katalanisch. Eines seiner letzten Bücher war die Logica Nova, die er 1303, als er bereits 71 Jahre alt war, in Genua niederschrieb.8 In der Kosmologie, wie sie in Lullus’ Werk entgegentritt, ist alles ein Tun, ein Geschehen, ein Andauern. Das Feuer zum Beispiel ist nicht ein Ding, das brennt – es ist am Brennen (is burning). Und der Mensch, im selben Sinne, menscht (is humaning). Um das in lateinischer Sprache auszudrücken, musste Lullus ein neues Wort erfinden: homificare, wörtlich „zu menschen“ 7 Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in einem erst kürzlich erschienenen Buch von Tobias Rees, in dem er schreibt: „[…] human […] is a recently invented concept that emerged in Europe about 250 years ago […]“ (Rees 2018: 40). Diese Behauptung ist schlicht falsch. Rees’ Fehler besteht darin, ‚Mensch‘ als eine Ableitung von ‚Menschheit‘ zu behandeln. Historisch gesehen erfolgte die Ableitung aber genau umgekehrt: Diskurse über den Menschen gab es schon lange vor dem im 18. Jahrhundert aufgekommenen Konzept der Menschheit (Rees 2018: Kapitel 2 und 3; Ingold 2019: 190). 8 Für Details zu Lullus‘ Leben und Werk siehe Bonner (1985) und Lohr (1992).

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(to humanify). Der Mensch, verkündete Lullus, sei ein menschendes Tier (humanifying animal): Homo est animal homificans.9 Es sei hier angemerkt, dass zu menschen (humanifying) nicht dasselbe bedeutet wie zu humanisieren (humanising). Es meint nicht, dass dem rohen Material einer anfänglich gestaltlosen Welt das Gepräge des bereits ausgeformten Menschen aufgedrückt würde. Zu menschen (to humanify) bedeutet für die Menschen vielmehr, ihre Existenz im Schmelztiegel des gemeinsamen Lebens mit anderen zu formen. Ihr Menschsein ist ihnen nicht von Anfang an als eine apriorische conditio gegeben, sondern es entwickelt sich als schöpferische Leistung; eine zumal, an der sie ihr ganzes Leben lang weiter arbeiten müssen, ohne jemals ein letztes Ergebnis zu erreichen. Folgen wir Lullus, so sind Menschen keine fertigen Wesen, sondern Werdende (becomings), die sich in einem kontinuierlichen Prozess wechselseitiger Hervorbringung befinden. Sie bleiben, auch wenn die Geschichte voranschreitet, immer unvollendet. Und für das, was sie sind, tragen sie in jedem Moment der Geschichte eine kollektive Verantwortung (Ingold 2015: 115–118). Das gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Es ist dann nicht so, dass Kinder sich in einem Prozess des Mensch-Werdens (becoming human) befinden, den die Erwachsenen schon abgeschlossen haben. Vielmehr befinden sie sich, wie Erwachsene auch, in einem andauernden Prozess, im Zuge dessen sie die Menschen werden, die sie sind, indem sie ihr eigenes Leben in der Welt gestalten. Mit einem Wort, sie wachsen: an Statur, an Wissen und an Weisheit. Weit davon entfernt, die halbfertigen Hybriden aus Biologie und Kultur zu sein, als welche die Moderne sie versteht, gehen Kinder ihren Weg in der Welt mit derselben Leichtigkeit, Mühelosigkeit und Ungeschicklichkeit wie Erwachsene auch, und wie diese begegnen sie dabei immer wieder Hindernissen. Weder beginnt das Leben eines Kindes an einem Ursprungspunkt, noch liegt sein ‚frühes‘ Leben einem solchen Punkt näher als sein späteres. Statt – im Wortsinne – von ihren Vorfahr*innen abzustammen und zur Entfaltung von bei der Zeugung weitergegebenen Erbanlagen bestimmt zu sein, folgen Kinder den Wegen, die ihre Vorläufer gegangen sind. Das bedeutet, dass einzelne Leben eher einander auf der Längsachse überlagern, als dass sie sich aneinanderreihen. Der Übergang von Generation zu Generation entspricht demnach eher einer Übergabe beim Staffellauf als der Weitergabe eines Vermächtnisses, wobei der Staffellauf gleichbedeutend mit dem Leben selbst ist. Und während jedes einzelne Leben von begrenzter Dauer ist, geht das Leben 9 Hier folge ich der Übersetzung von Bonner: „man is a manifying animal“ (Lullus 1985: 609). Siehe weiterführend Ingold (2015: 116–17). In der deutschen Übersetzung (Lullus 1999: 63) heißt es: „Der Mensch ist ein Sinneswesen, das sich zum Menschen macht“ (Anm. d. Hg.).

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an sich weiter bzw. bleibt bestehen, ohne Anfang und ohne Ende. Es mögen Leute folgen, wo zuvor einst andere waren, doch niemand von ihnen ist im beschriebenen Sinne älter oder jünger (Ingold 2012a). Die prähistorischen Jäger*innen und Sammler*innen waren also nicht mit einem Fahrplan für die Zukunft ausgestattet, dem ihre historischen Nachfahren zu folgen bestimmt gewesen wären. Vielmehr mussten sie die Dinge irgendwie hinbekommen, improvisieren und sich Schritt für Schritt einen Weg bahnen. Tatsächlich ist es eine grundlegende Eigenschaft des Lebens – des menschlichen genauso wie des nicht-menschlichen –, dass es sich weniger von einem bestimmten Punkt aus entfaltet als vielmehr in ständigem Werden begriffen ist. „Leben ist ständige Geburt“, wie ein angesehener Ältester des Wemindji Cree, einem Stamm indigener Jäger*innen aus Nord-Kanada, dem Ethnographen Colin Scott erklärte (Scott 1989: 195). Das bedeutet, sich die Evolution des Lebens als kontinuierliches Hervorbringen einer Welt vorzustellen, aus der heraus die Lebewesen, während sie gemeinsam am Leben teilhaben, die Bedingungen für die zukünftige Entwicklung ihrer selbst und der anderen schaffen. Und die Geschichte? Sie ist nichts weiter als eine lokale Manifestation dieses Prozesses. Während wir uns unseren Weg vorwärts bahnen, mündet die Evolution in die Geschichte ein wie ein Fluss in die auseinanderund zusammenlaufenden Arme seines Deltas, ohne dabei eine Barriere oder eine Schwelle zu überwinden. Wenn es aber keine Schranke gibt, die zu überwinden wäre, keinen Zwischenbereich, welcher Raum bleibt dann noch für die Prähistorie? Kehren wir kurz zu den unglückseligen Neandertaler*innen zurück, die schon beiläufig zur Sprache kamen. Dem Nachkriegsnarrativ zufolge schafften es allein die Menschen der anatomisch modernen Art des Homo sapiens sapiens auf die Seite jenseits der Natur, während sie ihre Vettern der Unterart Homo sapiens neanderthalensis gestrandet und dem Aussterben geweiht zurückließen. Die Geschichte kommt uns verstörend bekannt vor: Sie erzählt davon, wie eine ‚menschliche Rasse‘ die Erde bevölkerte, die, ausgestattet mit höherer Intelligenz, die vermeintlich Unterlegenen unterjochte, vertrieb und ausrottete. Im  19. Jahrhundert glaubte man, die indigenen Bewohner*innen der Insel Tasmaniens, die zu jener Zeit als die primitivsten Menschen galten, seien durch weiße Siedler ausgelöscht worden. Ein Jahrhundert nachdem die Tasmanier endgültig für ausgestorben erklärt wurden, war jedoch eine lebendige tasmanische Gemeinschaft von Aborigines entstanden, deren Angehörige sämtlich Aborigines unter ihren Vorfahr*innen hatten.10 Die Geschichte ihrer 10

In einer Volkszählung von 2011 identifizierten sich mehr als 19.000 Tasmanier*innen als Aborigines (https://www.britannica.com/topic/Tasmanian [Zuletzt aufgerufen am 30. Dezember 2022]).

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Auslöschung entpuppte sich als ein rassistischer Mythos. Aber war das denn im Paläolithikum wirklich anders? Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Menschen der prähistorischen Vergangenheit trotz ihrer viel geringeren Zahl genauso miteinander vermischt (mixed up) waren wie das heute der Fall ist. Sie gehörten genauso wenig einer einzigen Unterart oder „Rasse“ zu, wie das heute der Fall ist. Neandertaler*innen, das sind wir!11 Kurz gesagt: Als lebendige Wesen sind bzw. existieren wir nur im Modus der Vermischtheit (mixed-up-ness). Indem wir unsere Leben miteinander führen, indem wir einander begegnen, entfalten wir die Eigenschaften und Qualitäten derer, mit denen wir in Beziehung stehen – seien es Menschen oder andere Lebewesen –, in unsere jeweilige Verfasstheit hinein. In einer lebendigen Welt kann es keine reinen Arten geben. Eine solche Welt, die sich nicht durch begrenzte Vielfalt, sondern durch unbegrenzte Verschiedenheit auszeichnet, verweigert sich den Trennungen und Unterteilungen jedweder Taxonomie. Darin steckt mehr als die in der Evolutionsbiologie mittlerweile zum Gemeinplatz gewordene Einsicht, der zufolge jedes Individuum einer Spezies (es sei denn, es ist geklont) aufgrund zufälliger Mutationen in seiner präzisen genetischen Ausstattung einzigartig ist. Das nämlich würde bedeuten, von einer Welt auszugehen, in der gewissermaßen alle Unterschiede in Myriaden von Erbpartikeln aufgehoben sind, die sich in einer potenziell unendlichen Vielfalt einzelner Permutationen und Kombinationen neu anordnen lassen. Der Unterschied, von dem ich hier spreche, ist aber kein bereits vollzogener, sondern ein sich aus dem Leben selbst als einer kontinuierlichen Geburt heraus sich immer wieder neu entwickelnder Unterschied. Die Differenzierung zwischen den Lebewesen geschieht nicht im Vorfeld, sondern erst im Zuge ihres Zusammenlebens. ‚Cutting together-apart‘ nennt die Wissenschaftsphilosophin Karen Barad (2014) diesen Prozess.

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Der Verlauf der Zeit und der Generationen

Leben ist, so verstanden, emergente Vielfalt – eins in vielen und viele in einem zugleich –, vergleichbar vielleicht mit einem geflochtenen Zopf. Die einzelnen Haarfäden in diesem Zopf überlagern einander nicht nur, sondern umschlingen sich nach und nach. Ganz in diesem Sinne sind auch gelebte 11

Für einen umfassenden Überblick über die paläoanthropologische Debatte über die Neandertaler*innen siehe Graves (1991: 525). „Most participants in the debate“, so Graves, „cannot resist a simplistic metaphor of European colonialism and the analogies which are drawn from it. Indeed, the whole concept of displacement without admixture and the evolution of ‚an entirely new species‘ carries with it the implication of progressive trends which we owe to 19th-century ideologies“.

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Leben miteinander verflochten. Natürlich lebt keine Kreatur für immer, und so ist auch in einem Zopf die Länge eines jeden Fadens begrenzt. Der Zopf als ein aus einer Vielzahl einzelner Fäden bestehendes Ganzes jedoch schlingt sich immer weiter, wie auch das Leben als solches, bestehend aus einer Vielzahl einzelner Leben, unendlich weitergeht. Die Logik ist in beiden Fällen dieselbe: Wie Fasern, so sind auch Leben der Länge nach gebündelt und überlagern einander längsseitig: Während alte Fäden langsam abzusterben beginnen, fangen bereits neue zu wachsen an. Indem sich die älteren und neueren Fäden umeinanderwickeln, schaffen sie durch Spannung und Reibung einen Halt, der noch stärker ist als die durch reine Bündelung einzelner Fasern entstehende Spannkraft. Diese Analogie zwischen dem Geflecht eines Zopfes und der Verflechtung der Generationen meine ich als eine exakte, nicht als eine ungefähre. Jeder einzelne Faden entspricht der Geschichte eines Lebens, dem Getanen und Durchlittenen, und ist in diesem Sinne eine Aufzeichnung seiner selbst. Egal wie eng er mit anderen verwoben ist, so behält er doch seine Einzigartigkeit. Und doch trägt aufgrund seiner Verflechtungen jedes einzelne Leben auf einmalige Weise zu dieser Aufzeichnung bei, die das Leben selbst ist (Ingold 2018: 159). Im Hinblick auf den Verlauf der Zeit ist diese Verflechtung von grundlegender Bedeutung. Es ist nicht überraschend, dass geflochtene oder geknotete Schnüre (cords) bei Völkern auf der ganzen Welt nicht nur zu den häufigsten Trägern von Überlieferungen der Vorfahr*innen gehören, sondern auch oft für die Zeitmessung genutzt wurden.12 Während die Schnüre entknotet oder ausgelegt wurden, verstrich die Zeit und Geschichten wurden erzählt. Aufzeichnen (recording) und wiedererzählen (retelling) waren ein und dasselbe. Heute gilt das allerdings nicht mehr. So wie sich das Zwirnen und Spinnen von Fasern, das einst eine allgegenwärtige Tätigkeit war, größtenteils auf eine Nischenkunst für Liebhaber*innen und für die Traditionspflege reduziert wurde und auch der Umgang mit Schnüren aus dem Alltag verschwunden ist, so haben auch die Leben aufgehört, ihre eigene Aufzeichnung zu sein – also eine Geschichte, die man erzählt und der man zuhört – und sind stattdessen zum Gegenstand der Aufzeichnung geworden. Ein Leben beendet nicht eine Generation und beginnt eine neue, es ist einfach es selbst. Zugleich wurden damit die Schnur der Aufzeichnungen und die Dauer der Echtzeit durchtrennt. Sie wurden ersetzt durch eine zusammenhanglose Abfolge von Objekten und Geschehnissen in einer nun abstrakten und chronologischen Zeit (Ingold 2013: 81–82).

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Für Beispiele siehe Ingold 2021: 87–91.

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Generationen, die sich als Gefangene ihrer Gegenwart wahrnehmen, sind nicht mehr in der Lage, irgendetwas aus der Vergangenheit zu empfangen, das – unabhängig von den Errungenschaften eines Lebens – nicht in irgendeiner überlieferbaren Form eingekapselt werden kann. Aus diesem Grund sind moderne Evolutionstheoretiker*innen so von dem Konzept der Erbschaft besessen, sei diese nun genetisch oder kulturell. Für sie gäbe es ohne genetische Vererbung keine Evolution und ohne kulturelle Vererbung keine Geschichte. Doch weder Evolution noch Geschichte werden im modernen Paradigma als Lebensprozess begriffen, denn während Evolution und Geschichte die Generationen übergreifen, bleibt das Leben innerhalb der Generationen eingeschlossen. Vererbung verläuft diachron, das Leben aber wird synchron gelebt, und so ist es, als trete man auf der Stelle. Generationen erscheinen in dieser Vorstellung nicht als miteinander verflochten, sondern als aufeinander geschichtet wie ein Stapel Blätter, so dass das Wirken einer Generation auf die jeweils eigene Zeit beschränkt bleibt und verflacht. Diese Vorstellung ist der Ursprung des eingangs erwähnten Schichtungskonzepts der Prähistorie. Es ist wie eine Ablagerung der verbrauchten Überreste einer Geschichte, die sich in der Zwischenzeit vorwärts und aufwärts entwickelt hat. Diese Überreste setzen sich schichtweise ab, je älter, desto weiter unten, wo sie verbleiben und mit der Zeit immer weiter herabsinken. Als eine Ablagerung aber enthält die prähistorische Vergangenheit keinerlei Potenzial zur Erneuerung. Sie ist vorbei. Erneuerung geschieht allein durch Überlagerung, durch die Hinzufügung neuer Schichten des Stapels. Leben jedoch wird nicht durch das Hinzufügen von Schichten erneuert, sondern, im Gegenteil, durch den Akt des Begrabens. An diesem Punkt kommen wir auf die eingangs erwähnte Überlegung Vicos zurück, wonach sich die Menschen vor allem aufgrund ihrer Verbundenheit zur Erde, wie sie sich in der Gepflogenheit der Beerdigung der Toten widerspiegelt, von anderen Lebewesen unterscheiden. Tatsächlich hat diese von vielen Menschen vollzogene Praxis Prähistoriker*innen und Archäolog*innen reiche Beute gebracht. Nun ist aber die Beerdigung der Vergangenheit etwas ganz anderes als ihre Aufbewahrung, denn das Begräbnis ist Teil eines generationenübergreifenden Lebenszyklus: In ihm liegt das Potenzial vergangener Generationen zur Hervorbringung der kommenden. Wie ein Samen oder eine Knolle, von welcher der Bauer hofft, sie möge Wurzeln schlagen und wachsen, trägt der menschliche Körper beim Begräbnis die Kräfte der Erneuerung, die künftiges Leben hervorbringen werden, in sich. Weil sie den Körper dem Boden entnimmt, statt ihm seine Erneuerung zu ermöglichen, durchbricht die Ausgrabung diesen Zyklus. Aus diesem Grund ist sie so umstritten, wie sich das insbesondere im Zuge der Kolonialisierung zeigte, als Archäologen dafür warben, die Vergangenheit der Ureinwohner kolonisierter Länder auszuheben.

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Für diese Archäolog*innen, die sich auf eine Idee von Geschichte als einem positiven Antrieb fortschreitender Humanisierung versteift hatten, galt das Grab als eine Art doppelte Verneinung – das bereits Versunkene einer gegenwärtig versunkenen Vergangenheit. In der Antike ließen die Menschen zuerst ihre Toten in den Boden ein, dann wurde dieser Boden selbst von den darauffolgenden Anhäufungen der Geschichte bedeckt. In der kolonialen Imagination stellt die Beerdigung daher einen Ort der Dehumanisierung dar, der Auflösung des Menschlichen in die Natur. Dementsprechend fanden die Archäolog*innen nichts Verwerfliches daran, die gefundenen Gräber ihrer Knochen und Artefakte zu berauben und sie zur Auswertung und Ausstellung in entfernte Museen zu transportieren. Für die indigenen Völker jedoch ist das Grab eine aktive Kraft im Prozess des Wachstums und der Entwicklung des Menschen oder, in Lullus’ Sinne, im Prozess des Menschens (Humanifying). Es ist nicht nur ein Ort des Todes, sondern ein Garant für zukünftiges Leben. Das Grab auszuheben bedeutet, diese Garantie aufzuheben. Ob dieser Schaden durch eine Rückführung der Überreste jemals behoben werden kann, ist fraglich. Der Zyklus des Lebens lässt sich, einmal durchbrochen, nicht einfach wieder zusammenfügen.

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André Leroi-Gourhan: Ein posthumaner Prähistoriker?

Lassen Sie mich nun dahin zurückkommen, wo wir mit der Prähistorie stehen geblieben waren: festgefahren in einer doppelten Konzeption des Menschen als natürlicher Spezies, deren conditio zugleich durch eine Transzendierung der Natur gekennzeichnet ist, gefangen zwischen human being und being human. Wie wir gesehen haben, war diese Dualität eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Programms der Aufklärung. Heute aber erleben wir nicht nur den Untergang dieses Programms, sondern auch den Machtverfall der von Europa ausgegangenen Kolonialisierung, von der dieses Programm aufrecht erhalten wurde. Was aber wird dann aus der Prähistorie? Gibt es in einer Ära des Posthumanismus noch einen Platz für die Prähistorie oder wird sie in Vergessenheit geraten? Ist es – schon dem Prinzip nach, ganz zu schweigen von der Praxis – überhaupt möglich, ein posthumaner Prähistoriker zu sein? Und wenn ja, auf wen könnte man sich dabei stützen? Wenn es einen Kandidaten gibt, dem diese Ehre zukommt, dann ist das der bedeutende französische Archäologe und Technikhistoriker André Leroi-Gourhan. In seinem erstmals 1964 veröffentlichten Buch Le Geste et la parole stellte Leroi-Gourhan eine umfassende Betrachtung der menschlichen Evolution an, angefangen bei den ältesten Vorfahr*innen, die er Archanthropinen taufte, über die

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früheren und jetzigen Homo sapiens, bis hin zu den Menschen der Zukunft.13 Damit stellte er allerdings zwei sehr unterschiedliche und tatsächlich gegensätzliche Prognosen auf. Die letzte Konsequenz der einen ist die schon von den Philosoph*innen der Aufklärung in Gang gesetzte Herauslösung der Menschheit aus der Natur, die schließlich bis an den Punkt führen wird, an dem sich die Menschen der Zukunft von ihrer Existenz als Wesen-in-der-Welt verabschiedet haben werden. Die andere hingegen führt Mensch und Natur wieder zusammen, schließt die Kluft zwischen ihnen endgültig und reiht die Menschen – frühere, jetzige und zukünftige – wieder in das Kontinuum des organischen Lebens ein. Vordergründig betrachtet beschreibt Leroi-Gourhans Werk, wie die im Aufstieg begriffene Menschheit die Grenzen ihrer rein zoologischen Existenz durchbrach und sich in die Bereiche Technologie, soziale Organisation und symbolische Kultur hinein entfaltete. Dieser Durchbruch, so argumentiert er, geschah alles andere als plötzlich. Vielmehr markierte eine zunehmende Fertigkeit in der Herstellung und Nutzung von Werkzeugen den Beginn eines „langen Übergang[s], in dessen Verlauf die Soziologie langsam an die Stelle der Zoologie tritt“ (Leroi-Gourhan 1980: 120), nämlich das Zeitalter der Prähistorie. Die Bewohner*innen dieser Zeit erscheinen aus dieser Perspektive unweigerlich als zoo-soziologische Hybride, mit einem Bein in der Natur, mit dem anderen in der Kultur stehend. Die Geschichte winkt schon zu ihnen herüber, aber sie sind noch zu sehr an ihre natürlichen Instinkte gebunden, um den Sprung zu wagen. Schließlich aber brach der Damm und es öffneten sich die Schleusen der symbolischen Vorstellungskraft, die die Menschheit in den Strom des vollkommen sozialen und historischen Lebens einließen. In einem Prozess, den Leroi-Gourhan als Exteriorisierung bezeichnet, wurden körperliche Tätigkeiten seither immer mehr auf außerhalb des Körpers befindliche Apparaturen verlagert: von der baren Hand hin zu Werkzeugen und Maschinen im Bereich der Technik, vom Mund hin zum Schreiben im Bereich der Sprache. Die letzte Exteriorisierung wird, so sagt Leroi-Gourhan voraus, von der Hand zum Mund und noch weiter aufwärts gehend, das Gehirn selbst betreffen und Mechanismen künstlicher Intelligenz hervorbringen, die mit emotionalem und moralischem Empfindungsvermögen ausgestattet sind. Wenn erst Maschinen konzipiert sein werden, die den menschlichen Körper nicht nur im kreativen Denken, sondern auch in der sexuellen Liebe übertreffen, so 13

Das Buch wurde später in einer ausgezeichneten englischsprachigen Übersetzung von Anna Bostock Berger unter dem Titel Gesture and Speech (Leroi-Gourhan 1993) veröffentlicht. Ich habe mich an anderer Stelle ausführlicher damit auseinandergesetzt (Ingold 1999).

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Leroi-Gourhan, werden wir zwar als zoologische Spezies das Ende des Weges erreicht haben, ohne dass dies aber das Ende der Menschheit bedeutete: denn die Maschinen, in die hinein die körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen komplett exteriorisiert sein werden, werden wir selbst sein (Leroi-Gourhan 1980: 331–332, 498)! Bedenkt man, dass Leroi-Gourhan diese Überlegungen vor über einem halben Jahrhundert anstellte, als Computer und Robotik noch in den Kinderschuhen steckten, dann erscheinen seine Prognosen als außerordentlich vorausschauend.14 Doch ist die Exteriorisierung der einzig mögliche Pfad, den die menschliche Evolution nehmen kann? Könnte es zu der Teilung in zwei Welten, die zoologische und die soziologische, eine Alternative geben? Einen Weg, der unseren Vorfahr*innen die riskante Überquerung von der einen zur anderen Seite nicht abverlangt hätte? Könnte sich die Unterscheidung zwischen dem nackten, in den Kreislauf der Natur eingebetteten Leben des Tieres und dem Leben des Menschen, das auf die Durchbrechung dieses Kreislaufs ausgerichtet ist, als eine Illusion entpuppen? Tatsächlich schlägt LeroiGourhan, seiner eigenen These der Exteriorisierung durchaus widersprechend, genau das vor und eröffnet einen, wie er es nennt, „dritten Weg“, auf dem wir zu der Einsicht kommen, dass die Leben der Menschen und der nichtmenschlichen Tiere „nicht entweder instinktiv oder intellektuell [sind], sondern in verschiedenen Graden zugleich zoologisch und sozial“ (Leroi-Gourhan 1980: 275; Herv. i. O.). Nur indem wir diesen Weg gehen, so legt er nahe, werden wir wirklich dazu in der Lage sein, die hergebrachte Trennung von Natürlichem und Kulturellem, die das wissenschaftliche Denken in den vergangenen beiden Jahrhunderten dominiert hat, zu überwinden, die disziplinäre Grenze zwischen Tierpsychologie und Kulturanthropologie einzureißen und wirklich zu verstehen, was tierlich und was menschlich ist (Leroi-Gourhan 1980: 275). Um das zu tun, müssen wir die Menschen ins Leben zurückbringen. Wir dürfen sie nicht nur im Hinblick darauf betrachten, was sie sind, sondern im Hinblick darauf, was sie tun. Während die Natur des Homo Sapiens im orthodox darwinistischen Evolutionsverständnis ganz wesentlich als das Erbe seiner Vorfahr*innen erscheint, sind die Menschen bei Leroi-Gourhan kontinuierlich im Handeln begriffen – ob sie nun Werkzeuge benutzen, sprechen, gestikulieren, schreiben oder bloß umherlaufen – und gestalten auf diese Weise das Leben für sich und andere. Sie sind durch und durch menschende Tiere (humanifying animals). 14

50 Jahre später konnte Rosi Braidotti, genauso wie es Leroi-Gourhan vorausgesagt hatte, feststellen: „Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien exteriorisieren und duplizieren elektronisch das menschliche Nervensystem“ (Braidotti 2014: 94).

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Nirgends wird das so deutlich wie in Leroi-Gourhans Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Hand und Stimme, die im Mittelpunkt seiner Evolutionstheorie steht. Demzufolge machen sich Menschen anderen Menschen gegenüber, da diese mit Ohren zum Hören ausgestattet sind, zuallererst über die Stimme bemerkbar. Die Stimme existiert in ihrem Klang (Ingold 2000: 102–106). Ebenso aber existiert für Leroi-Gourhan die Hand in ihrem Handeln (handling) – in all den vielfältigen Mikro-Bewegungen, wie sie im Vollzug der unzähligen Verrichtungen des täglichen Lebens ausgeführt werden. Die Hand ist diesem Verständnis nach weniger ein anatomisches Organ als vielmehr ein Repertoire von Gesten, wie das auf ihre Weise auch die Stimme ist. Lege Worte in meinen Mund und er weiß, wie sie auszusprechen sind; lege Werkzeuge in meine Hände und sie wissen, wie sie zu bedienen sind. Wie die Worte aus dem Repertoire der Stimme bestimmte Arten der Betonung wählen, so wählt jedes Werkzeug aus dem Repertoire der Hand diejenigen Gesten, die seinem Gebrauch entsprechen (Ingold 2011: 58), und diese Gesten sind es wiederum, die den Dingen ihre Form geben. Kurzum, Hände sind keine Werkzeuge der Humanisierung (instruments of humanising), die dem rohen Material der Natur vorgefasste menschliche Entwürfe einprägten, sondern Ko-Produzenten emergenter Formen und damit Agenten des Menschens (agents of humanifying). „Menschlich ist die menschliche Hand“, so Leroi-Gourhan, „durch das, was sich von ihr löst, und nicht durch das, was sie ist“ (Leroi-Gourhan 1980: 301). Aber Hände stellen nicht nur her, sie schreiben auch. Und insofern das Schreiben herkömmlicherweise als das zentrale Kriterium dafür herangezogen wurde, Geschichte und Prähistorie voneinander zu unterscheiden, ist es hier von besonderem Interesse. Natürlich haben Menschen, solange sie Bewegungen mit ihren Händen ausgeführt haben, immer auch Spuren davon hinterlassen. Manche, wie mit dem Finger gezeichnete Spuren im Sand, sind nur von kurzer Dauer; andere, wie die mit harter Spitze in Stein eingeritzte Kerben, können hingegen für tausende von Jahren erhalten bleiben. Für diesen inskriptiven Impuls des menschlichen Spurenzeichnens prägte LeroiGourhan den Begriff des Graphismus. Wie bei der Stimme in Sprache oder Gesang handelt es sich hier um einen vom lebenden, atmenden Körper her ausstrahlenden Impuls. Leroi-Gourhan, dem es an farbenfrohen Metaphern nie fehlte, verglich die Geometrie des Graphismus mit der des „Seeigels oder des Seesterns“ (Leroi-Gourhan 1980: 263). Durch die Schrift aber, so argumentiert er, wurde das Spurenziehen zunehmend auf eine Apparatur außerhalb des Körpers verlagert oder, mit einem Wort, exteriorisiert. Die strahlenförmige Organisation des Graphismus wich damit einer „Vernunft […], in der die Buchstaben aus dem Denken eine buchstäblich eindringende Linie machen, eine

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Linie, die zwar von großer Reichweite, aber dünn wie ein Faden ist“ (LeroiGourhan 1980: 249). Das ist der Verlauf der Geschichte-wie-wir-sie-kennen: diese Sequenz einzigartiger Ereignisse, als die wir den Aufstieg der Zivilisation darstellen, jedes für sich ein „erstes“ für die Menschheit. Schon die Idee von Geschichte ist in diesem Sinne ein Produkt der Exteriorisierung des Wortes in die Schrift, und das gilt in gleicher Weise auch für die Idee eines Zeitalters vor der Geschichte. Für uns, die wir auf die Sichtweisen der Vergangenheit zurückblicken, mag diese Idee nachvollziehbar sein, nicht aber für die Bewohner*innen dieser Zeit. Niemand könnte sich vorgestellt haben, jetzt gerade in der Prähistorie zu leben. Um zu denken wie sie, so Jacques Derrida in Anerkennung Leroi-Gourhans, müssten wir unseren Geist von den Sedimenten befreien, die sich über vier Jahrtausende linearen Schreibens hinweg aufgeschichtet haben (Derrida 1976: 86) bzw. wir müssten, wie schon Vico in seiner Scienza Nuova bekundete, „uns so benehmen, als gäbe es auf der Welt keine Bücher“ (Vico 2000: 125). Kurz gesagt, wir müssten uns eine Welt des Graphismus vorstellen, die auf ganz anderen Prinzipien aufgebaut wäre als denjenigen, die uns heutzutage vertraut sind.

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Die Neuerfindung des Humanismus

Würde uns eine Rückkehr zum Graphismus zurück nach unten, auf die Ebene der zoologischen Existenz bringen, von der aus alles begann? Oder könnte sie uns im Gegenteil ermöglichen, die Unterscheidung zwischen Soziologischem und Zoologischem (in Leroi-Gourhans Begriffen) bzw. zwischen Menschheit und Natur (in unseren Begriffen), die mit dem Beginn der Schrift in Gang gesetzt wurde, zu überwinden? Diese Unterscheidung entspricht Aristoteles‘ Trennung zwischen bios und zōē, die für unsere Zeit von Hannah Arendt wieder aufgegriffen wurde (Arendt 1999: 116). Für Arendt bezieht sich zōē auf die ewige Wiederkehr des Lebens in der Natur, die weder Anfang noch Ende, weder Geburt noch Leben kennt, während bios das spezifisch menschliche Leben bezeichnet, das als Geschichte, als Biographie erzählt werden kann. In ihrem Manifest für einen kritischen Posthumanismus schlägt Rosi Braidotti jedoch einen erweiterten Begriff von zōē vor, der für die „fruchtbare Vitalität“ (Braidotti 2014: 66) und das schöpferische Vermögen des Lebens selbst steht und der die Unterscheidung möglicherweise ersetzen könne. Könnte der Graphismus an diesem Vermögen teilhaben? Könnte er nicht, statt dem geschriebenen Wort in der Zeit vorauszugehen, konstitutiv auf seine Entstehungsbedingungen einwirken? Schließlich wird das geschriebene Wort genauso im Vollzug durch die Hand des Schreibenden hervorgebracht wie das

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gesprochene Wort durch die Stimme. Worte, gesprochen oder geschrieben, sind lebendige Dinge, belebt durch die Geste ihrer Hervorbringung. Wir fühlen sie, wie sie sich in der Mundhöhle formieren oder wie sie durch die Bewegungen und Beugungen der Hand geformt werden (Ingold 2022: 129). Sprechen und Schreiben sind so gesehen Arten und Weisen des Menschens (humanifying), der Formung unserer eigenen Präsenz in der Welt. Eine andere Weise, ebenso spezifisch für uns Menschen, ist der aufrechte Gang auf zwei Beinen. Beim Gehen laufen wir ständig Gefahr, vornüber zu fallen, in die vor uns befindliche Leere zu stolpern, und gewinnen unseren Halt nur durch eine geschickte Anpassung der Körperhaltung an die Unebenheiten des Bodens. Könnte es sein, dass das gesamte menschliche Leben in dieser Alternierung zwischen einer Imagination, die uns loslöst und dem Fall aussetzt, und einer Wahrnehmung, die uns Stabilität zurück gibt, sodass wir weitergehen können, aufgehoben ist? Erstere führt auf das hin, was noch aussteht: der Mensch, in den Worten des Philosophen José Ortega y Gasset (1949: 52), ist ein „Noch-nicht-Sein“, kurz gesagt, ein „Anspruch“, ein Streben. Letztere aber schafft einen Halt in der Welt, von dem aus wir uns ein weiteres Mal in eine unbekannte Zukunft wagen können. Während die eine strebend ist, ist die andere greifend (Ingold 2015: 140–141). Das Wesen des Menschens (humaning) liegt dann vielleicht in der stets gegenwärtigen Spannung bzw. der zeitlichen Dehnung zwischen dem Streben und dem Greifen. Es stimmt natürlich: Dem Menschen (humaning) des Menschen entspricht das ‚Pavianen‘ der Paviane, das ‚Vogeln‘ der Vögel und das ‚Wurmen‘ der Würmer; auch diese Lebewesen sind, was sie tun, auch sie sind an ihrer jeweiligen Lebensform erkennbar. Durch die Ausdehnung aber, so meine ich, erscheint das Menschen (Humaning) einer anderen Ordnung zugehörig: Erst durch die Anziehung, die vom Streben auf das Greifen bzw. von der Imagination auf die Wahrnehmung ausgeht, entsteht ein Raum für Geschichte. Andere würden dem vielleicht widersprechen. In seinen Prolegomena zur Akteur-Netzwerk-Theorie betont etwa Bruno Latour die menschliche Neigung, Objekte zur Fixierung und Stabilisierung sozialer Beziehungen zu nutzen. Eine Soziologie innerartlicher Beziehungen, so Latour, mag bei Pavianen funktionieren, die es in ihrem ‚Pavianen‘ lediglich mit ihren weichen und veränderlichen Körpern zu tun haben (Latour 2010: 121), nicht aber bei Menschen, die ihr gemeinschaftliches Leben auf umfangreiche Ansammlungen harter, unveränderlicher Entitäten stützen – angefangen bei landschaftlichen Gegebenheiten bis hin zu Werkzeugen und Artefakten.15 Tatsächlich sind Menschen 15

Bei prähistorischen Jäger*innen sind hierbei Werkzeuge aus Stein miteingeschlossen. Während Steine im Szenario Latours als „nichtmenschliche Aktanten“ Teil des Kollektivs waren, gilt das für die Tiere, die mit diesen gejagt wurden, nicht (Latour 2002: 257).

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jedoch keineswegs die einzigen, die bestimmte Merkmale der Landschaft zur Stabilisierung sozialer Beziehungen nutzen; und von der Fülle an Objekten, die Menschen in ihren Alltag einbeziehen, stabilisieren die meisten – das gilt insbesondere für vom Massenkonsum geprägte Gesellschaften wie die unsere – die sozialen Beziehungen in keiner Weise (Ingold 2012b). Meiner Ansicht nach ist es daher nicht die Involvierung von Objekten, die Menschen in die Geschichte eintreten lässt, sondern vielmehr die Art und Weise, in der die Imagination, während sie die Grenzen der Konzeptualisierung überschreitet, der sinnlich grundierten Erfahrung vorausgeht. Aber reicht das aus, um den Menschen zu einer Besonderheit des Tierreichs zu machen? Natürlich sind Menschen anders; alle Lebewesen sind anders. Aber ist es so, dass die Ausdehnung der menschlichen Imagination Wesen und Bedeutung des Lebens grundsätzlich verändert? Was auch immer wir über die Menschen an sich sagen können: Es ist unbestreitbar, dass ihr Wirken weitreichende Folgen hatte. Ihre schiere Zahl lastet zunehmend schwer auf dem Planeten. Erst recht gilt das für die Anbauflächen und Viehbestände, die den Großteil der Menschheit ernähren. Vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten, die durch ein starkes Wachstum industrieller Kapazitäten und militärischer Macht geprägt waren, haben die Menschen einen unauslöschlichen Abdruck hinterlassen. Das hat manche dazu gebracht, den Beginn einer neuen erdgeschichtlichen Epoche auszurufen, nämlich des Anthropozäns. Es handelt sich hierbei um einen umstrittenen Begriff, nicht zuletzt wegen seiner unpassenden anthropozentristischen Konnotation. Der Wunsch nach einer Rezentrierung menschlichen Empfindungsvermögens im menschlichen Körper, wie er von vielen selbsternannten Posthumanist*innen vertreten wird – und das mit dem Ziel, den „den Anthropozentrismus [zu] überwinden“ (Braidotti 2014: 61) –, verweist darauf, dass diese Idee von einer großen Verwirrung umgeben ist. In Wahrheit können wir den Anthropozentrismus nicht für die ökologische Zerstörung des Planeten verantwortlich machen. Im Gegenteil läuft eine Positionierung des Menschen im Zentrum auf die Anerkennung der Tatsache hinaus, dass sich die Erfahrungswelt jedes einzelnen von uns vom je eigenen Standpunkt aus erstreckt und damit auch andere, welcher Art sie auch sein mögen, umschließt. Sie bedeutet zugleich eine Anerkennung der Schuld, in der unsere Demnach beginnt die Prähistorie des Kollektivs für Latour mit den Vermittlungen der Technologie und nicht mit der Verbindung zu anderen Lebensformen. Es ist, gelinde gesagt, merkwürdig, dass sich Latour, um den „Modernismus“, wie er sagt, zu „bekämpfen“ (Latour 2002: 260), ausgerechnet auf einen der nachträglich wirksamsten Abstammungsmythen des Modernismus stützt: den vom Menschen als Werkzeugmacher (Kochan 2010).

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Existenz als Menschen bei diesen anderen steht. Mit der Dezentrierung des Menschen würden wir von dieser Schuld entlastet. Tatsächlich entspricht der anthropozentrische Kosmos genau dem, was Leroi-Gourhan dem Graphismus der Prähistorie zuschrieb: Da er auf den Körper und seine Gesten zentriert ist, ist er radial, statt linear und sequenziell zu sein –  also ganz das Gegenteil des technisch-wissenschaftlichen Kosmos von heute. Eine Menschheit, die ihre Welt vollständig kolonialisiert hätte, einschließlich des gesamten Landes und aller Gewässer, stünde nicht im Zentrum dieser Welt, sondern außerhalb, um dieses Zentrum herum. Sie wäre, in den Worten Leroi-Gourhans, vollständig exteriorisiert. Das wäre weniger ein Anthropozentrismus als vielmehr ein Anthropozirkumferenzialismus (Ingold 2000: 218). Wenn es mit Braidotti unser Ziel ist, den Menschen zur von ihr als „vitale(n) Kraft des Lebens, [bezeichnet als] Zoé“ (Braidotti 2014: 65) zurückzuführen, dann erfordert das nicht, wie Braidotti meint, eine zentrifugale, sondern eine zentripetale Bewegung. Wir müssen uns erneut zum schlagenden Herzen einer mehr-als-menschlichen Welt begeben und von diesem Zentrum aus unsere Beziehungen zur Erde, zum humus und seinen vielfältigen Bewohner*innen neu aushandeln, und zwar auf Basis von Zuwendung und Sorge.16 Mit dieser Geisteshaltung müssen wir neu in die Prähistorie eintreten, verstanden nicht als eine Ära, die der Geschichte vorausgegangen ist, sondern als eine Ebene von Zeit und Leben, die sie schneidet. Leben ist demnach so vor-geschichtlich wie Graphismus vor-literat ist, ganz im Sinne von Maurice Merleau-Ponty (2008), demzufolge die phänomenale Erfahrung vorobjektiv ist. In der Prähistorie, um mit den Worten Merleau-Pontys zu sprechen, „[finden] wir unsere Leiblichkeit, unsere Sozialität und die Präexistenz der Welt“ (Merleau-Ponty 2008: 492). Mein Versuch einer Rezentrierung des Menschen ist weniger dadurch motiviert, den Posthumanismus stürzen zu wollen als ihn vielmehr neu zu erfinden. Ich möchte den Humanismus zu seinem Gegenteil, dem Anti-Humanismus, in ein neues Verhältnis bringen. Das heißt jenseits der Menschheit zu gehen – aber nicht, indem ihrer ohnehin glorreichen historischen Laufbahn ein weiteres Kapitel hinzugefügt wird, und auch nicht durch die Fiktionalisierung ihrer letzten Transsubstantiation in die Bereiche der künstlichen Intelligenz, des körperlosen Sex und der vollautomatisierten Arbeit, sondern durch Hinwendung zu einer anderen Achse, der entlang sich Menschenleben im kontinuierlichen Strom der Zeit parallel zum Leben anderer Wesen entfalten. Gemeint ist nicht eine Achse des Fortschritts mit vorherbestimmtem Ausgang, sondern eine Achse der Nachhaltigkeit, die weniger durch die serielle Ersetzung 16

Michel Serres (1994) hat die Gründe dafür, dies zu tun, eloquent dargelegt.

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der Generationen über die Zeit hinweg bestimmt wird als vielmehr durch deren Verflechtung. Während die Idee des Fortschritts die Hybris des rationalen Bewusstseins anspricht, geht es bei der „Nachhaltigkeit“, wie Braidotti schreibt, um Beständigkeit, darum, „an künftige Generationen eine bewohnbare, lebenswerte Welt ‚weiterzugeben‘“ (Braidotti 2014: 140). Aber diese Wendung hin zum Leben, zu zōē, ist auch eine Wendung von der Geschichte hin zur Prähistorie, nicht im Sinne einer zeitlichen Regression, sondern im Sinne eines ontologischen Vorrangs. Es kann Leben geben ohne Geschichte, aber es gibt keine Geschichte ohne Leben. Geschichte wird, so habe ich argumentiert, im Vollzug des menschlichen Lebens gemacht. Mit einer Neukonzeption eines Humanismus, in dem „to human“ ein Verb ist, schließe ich mich ganz Lullus’ Ansicht an. Ich wiederhole: Homo est animal homificans.

Danksagung Eine frühere Version dieses Aufsatzes wurde am 20. September 2019 im Rahmen der Georg Forster Lecture an der Universität Mainz vorgetragen. Ich bin sehr dankbar für die Einladung und danke hierfür besonders dem universitären Forschungszentrum für Sozial- und Kulturwissenschaften (SOCUM). Vor allem möchte ich den Mitgliedern der Nachwuchsarbeitsgruppe meinen Dank aussprechen, die diese Veranstaltung als Teil des 4. Symposiums des Zentrums Posthuman? Neue Perspektiven auf Kultur und Natur ermöglicht haben.

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Übersetzung: Torsten Cress/Aristea Bagia

Keine Quallen Anthropozän und Negative Anthropologie Hannes Bajohr

Allen anderslautenden Verkündungen zum Trotz leben wir noch immer nicht im Anthropozän. Zwar liegt der International Commission on Stratigraphy seit August  2016 endlich die offizielle Empfehlung vor, in ihre erdgeschichtliche Periodisierung eine neue geologische Epoche einzuführen, in der der Einfluss des Menschen im Erdstratum ablesbar geworden ist. Zuletzt hatte sich abgezeichnet, dass ihr Beginn wohl auf die jüngste Vergangenheit festgesetzt werden würde – etwa auf die great acceleration, die industrielle Beschleunigung der Nachkriegszeit (Zalasiewicz et al. 2017) oder auf das Jahr 1945, genauer, auf den 16. Juli: Mit dem ersten Atombombentest in der Wüste New Mexicos wäre der Mensch, eine Spezies, die nur 0,01 Prozent irdischen Lebens ausmacht, zu einem geologischen Faktor geworden, dessen Existenz sich auch noch Jahrmillionen später chronostratigrafisch identifizieren ließe (Waters et al. 2015). Bislang aber ist das Anthropozän noch kein formalisierter Bestandteil des geologischen Begriffsarsenals. Stattdessen, und zum Ärger vieler (Meyer 2018), führte die Kommission im Juli 2018 eine genauere Unterteilung des Holozäns ein, also jener gegenwärtigen Epoche, die das Anthropozän entweder ersetzen oder der es nachfolgen sollte. Neben dem Grönlandium und dem Northgrippium gibt es auch der Zeit der letzten 4250 Jahre einen Namen: Herzlich Willkommen, Sie leben nun im Meghalayum (Leinfelder 2018)! Damit ist die Frage nach der Einführung des Anthropozäns natürlich nicht ersetzt, sondern höchstens aufgeschoben. Bis wann, ist unklar, denn Geologen denken auch bürokratisch in anderen Zeiträumen: Es dauerte, vom Begriffsvorschlag gerechnet, nicht weniger als 102 Jahre, bis das Holozän formalisiert war. Diese Omnikompetenz des Begriffs verweist auf seine Vagheit. Gerade ihr verdankt er seine Popularität, vor allem der Unbestimmtheit seiner normativen und epistemischen Konsequenzen. Denn das Anthropozän lässt durchaus gegensätzliche Anschlussmöglichkeiten zu. Es sprengt, wie Dipesh Chakrabarty bereits vor mehr als zehn Jahren gezeigt hat, die klassische Trennung der Temporalitäten von res naturae und res humanae, von Natur- und Menschheitsgeschichte –  aber gibt damit nicht schon selbst zweifelsfrei ein * Dieser Text ist eine erweiterte Version eines Essays, der unter demselben Titel in Merkur 73 (840), 2019, 63–74 erschien.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_004

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neues Leitschema vor (Chakrabarty 2009). Das zeigt sich daran, dass aus dem Anthropozän sowohl posthumanistische wie auch neohumanistische Konsequenzen gezogen worden sind. Der Kollaps der Mensch-Natur-Differenz kann so einerseits als Ermächtigung oder andererseits als weitere Dezentrierung des Menschen verstanden werden. Am Begriff des Anthropozäns und des Anthropos in ihm vollzieht sich so ein Deutungskampf um die diskursive Wiederkehr des Menschen.

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Er nun wieder: Die Wiederkehr des Menschen im Anthropozän

Dass ausgerechnet die Rede vom Menschen wiederkehren sollte, hätte man sich lange nicht träumen lassen, steht sie doch quer zum weitgehend dominanten Antihumanismus der letzten etwa vierzig Jahre. Schon der Name selbst ist ein Problemanzeiger, setzt schließlich ein Anthropozän konstitutiv einen Anthropos voraus und hypostasiert „den“ Menschen zum Akteur in planetarischem Maßstab. Die Rede vom Menschen mit bestimmtem Artikel hat gerade in den Kulturwissenschaften einen Ruch, und der Verweis auf den berühmten Schlusssatz in Michel Foucaults Ordnung der Dinge, dass der Mensch verschwinden werde „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1974: 462), nimmt eine Stellung ein irgendwo zwischen unbefragter Seminarbinse und missverstandenem Schlachtruf. Auch wenn Foucault lediglich vom Menschen als epistemischer Zentralfigur der neuzeitlichen sciences humaines sprach (Gehring 2015), konnte sich das Bild des schwindenden Menschenantlitzes mit anderen Richtungen zu so etwas wie einem antihumanistischen Konsens zusammenschließen (siehe zum Folgenden Rölli 2015): In Frankreich mit Louis Althussers Lesart der Marx’schen Lehre als einem „theoretischen Antihumanismus“ (Althusser 2011: 292), mit Jacques Lacans Einspruch gegen Cogito-Philosophien mit einer Reduktion auf die Sprache (z. B. Lacan 2015), mit Jacques Derridas weitergeführter Humanismuskritik Martin Heideggers (Derrida 1999), mit Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Prozessdenken (Deleuze/Guattari 1992); in Deutschland fand sich eine Parallele in Theodor  W.  Adornos „Veto gegen jegliche“ Anthropologie (Adorno 1966: 128), in Friedrich Kittlers selbst so titulierter „berüchtigter Unmenschlichkeit“ des medientechnischen Apriori (Kittler 2002: 30) und in Niklas Luhmanns Ausbürgerung des Menschen aus dem System in dessen theoretisch unadressierbare Umwelt (Luhmann 2004: 31). In der Akademie jedenfalls blieb an Gegenpositionen nicht viel übrig. Selbst der in die Neurowissenschaften vernarrte analytische Naturalismus hat für gewöhnlich keinen starken Begriff des Menschen (siehe aber für die Diskussion um einen starken

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Speziesbegriff in der analytischen Philosophie Kronfeldner 2018). Allein die Philosophische Anthropologie, stets der Reaktion verdächtig, hielt zu „dem“ Menschen – auch wenn ihr zu später Popularität gelangter Protagonist Helmuth Plessner auf der Historizität und prinzipiellen „Unergründlichkeit“ seines Gegenstands beharrte (Plessner 1981: 175–185; siehe dazu Fischer 2020; Chernilo 2020). All diese Strömungen, so unterschiedlich sie in Motivation und Durchführung auch waren, richteten sich in ihrer Anthropologiekritik gegen einen Humanismus, der, in der klassischen Definition Kate Sopers, „appeals (positively) to the notion of a core humanity or common essential features in terms of which human beings can be defined and understood“ (Soper 1986: 11–12). Synthetisiert wurde diese Aversion gegen eine essentielle Kernhumanität seit Mitte der Neunzigerjahre im Posthumanismus, der u.  a. feministische, postkoloniale und prozessontologische Argumente zusammenbringt. Hier wird, in Rosi Braidottis Worten, „der universale ‚Mensch‘ […] als männlicher weißer Stadtbewohner, Sprecher einer Standardsprache, heterosexuelles Glied einer Reproduktionseinheit und vollwertiger Bürger eines anerkannten Gemeinwesens“ entlarvt (Braidotti 2014: 70) und –  jedenfalls im „kritischen Posthumanismus“ (Loh 2018) – an seiner theoretischen „Überwindung“ gearbeitet. Angesichts dieses Konsenses ist es nicht erstaunlich, dass das Anthropozän als Begriffsschöpfung der Naturwissenschaft von außen in den geisteswissenschaftlichen Diskurs hineingetragen worden ist, vielleicht sogar werden musste (zur Begriffsgeschichte Horn/Bergthaller 2019). Wie sehr sie aller antihumanistischen Skrupel ledig sind, erkennt man, sobald Naturwissenschaft Betreibende selbst zu Philosophierenden werden und normative und ethische Konsequenzen zu ziehen beginnen. Solche naturwissenschaftlichen Anthropozäntheorien haben oft ein geringes Problembewusstsein für anthropologische Annahmen, die dann, meist implizit und manchmal ausdrücklich, auch fröhlich gemacht werden. Im Großteil der Fälle laufen sie auf die eine oder andere Version eines prometheischen, eines homo faber-Menschenbildes hinaus. Ist das Anthropozän die Epoche, in der der Mensch selbst zur Naturgewalt wird, dann, so der Gedanke, realisiert er nur, was er ohnehin schon immer gewesen ist. Insofern hier eine Prometheus-Anthropologie zugrunde gelegt wird, ist diese Diagnose nicht zwangsläufig pessimistisch, denn die Möglichkeit der Selbstauslöschung muss nicht Schwäche, sondern kann weiteres Zeugnis menschlicher Macht sein, die sich positiv wenden lässt. Die praktische Konsequenz dieser Theorien ist das Modell des stewardship: Seine Machtfülle überantwortet dem Menschen die Vormundschaft für die gesamte Erde. So spricht Paul Crutzen, der zusammen mit Eugene Stoermer den Begriff des

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Anthropozän popularisierte (Crutzen/Stoermer 2000), von einem Age of Man, das positiv anzunehmen sei: „[W]e should shift our mission from crusade to management, so we can steer nature’s course symbiotically instead of enslaving the formerly natural world“ (Crutzen/Schwägerl 2011). Freilich ist das Steuern allem Anspruch auf tatsächliche Symbiose entgegengesetzt, gemeint ist eher eine technische Gestaltungsmacht als Ausweg aus der Klimakatastrophe. Geoengineering wird hier zum Imperativ des Risikomanagements. Und wenn Crutzen die Menschen definiert „as rebels against a superpower we call ‚Nature‘“ (ebd.), dann ist die Veränderung der Erde nur die technische Umsetzung dessen, was philosophisch bereits vorgedacht war. Zur Forderung ist diese Idee in der Strömung des Ecomodernism erhoben,1 die ein „gutes Anthropozän“ imaginiert und darin eine Chance für den Menschen sieht, die begonnene Erdumwandlung selbstbestimmt und zu seinem Vorteil fortzusetzen. Einer ihrer Vertreter, der Geologe Erle  C.  Ellis, spricht daher auch von einer „second Copernican Revolution“, die Mensch und Erde gewissermaßen erneut zum Zentrum des Universums werden lässt (Ellis 2018: 31). Dasselbe Bild verwenden die Geografen Simon L. Lewis und Mark A. Maslin. Auch für sie ist das Anthropozän nicht weniger als die Umkehrung jener modernen Dezentrierung des Menschen, sie erkennen darin sowohl eine Pflicht als auch ein Zeichen der Freiheit des Menschen. Wo Kopernikus und Darwin (von Freud ist nicht die Rede) den Menschen seines aus der Natur herausgehobenen Status beraubten, [a]dopting the Anthropocene may reverse this trend by asserting that humans are not passive observers of Earth’s functioning. […] Yet, the power that humans wield is unlike any other force of nature, because it is reflexive and therefore can be used, withdrawn or modified (Lewis/Maslin 2015: 178).

In dieser Sichtweise ist, wie auch Bruno Latour in seinen Gaia-Vorlesungen vermerkt, mit dem Anthropozän die Erzählung von der Selbstbehauptung des Menschen in der Moderne, die Hans Blumenberg in seiner Legitimität der Neuzeit entwickelt hat, zur naturwissenschaftlich messbaren Wirklichkeit geworden (Latour 2017: 195). Hinzu kommt nun noch die Aufforderung, die Selbstbehauptung nicht auf Kosten der Selbsterhaltung zu betreiben. Die Mittel für beide bleiben dem naturwissenschaftlichen Neohumanismus aber gleich: Der Anthropos ist auch hier noch Prometheus.

1 Siehe die Website An Ecomodernist Manifesto (www.ecomodernism.org; zuletzt besucht am 29.11.2022).

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We’re fucked: Neo- und posthumanistische Reaktionen

Motiviert durch die naturwissenschaftliche Popularisierungsleistung und Schlagworte wie „Menschenzeit“ (Manemann 2014: 11), müssen sich die Geisteswissenschaften zur diskursiven Wiederkehr des Menschen verhalten –  ganz gleich, ob sie ihrem Charakter nach post- oder neohumanistisch sind. Für die Neohumanisten, die nun ihre Zeit gekommen sehen, wird das Anthropozän zum finalen Beweis einer Sonderstellung des Menschen. Der eher philosophisch als technokratisch inspirierte Neohumanismus kann dem Optimismus der Ecomodernists nichts abgewinnen. Eher setzt er auf die Meditation der Ausweglosigkeit als ethische Haltung. Roy Scranton bringt das auf die handliche Formel: „We’re fucked“ (Scranton 2015: 16). Sei eine Umkehr des Klimawandels nicht mehr möglich, gehe es nun darum, „im Anthropozän das Sterben zu lernen“. Aus dieser seit Sokrates, Cicero und Montaigne erzphilosophischen Aufgabe erwächst für ihn dann auch wieder die Wichtigkeit der Geisteswissenschaften, denn „we will need a way of thinking our collective existence. We need a vision of who ‚we‘ are. We need a new humanism“ (Scranton 2015: 19). Mit weniger Pathos plädiert auch der australische Philosoph Clive Hamilton für einen „new anthropocentrism“, der „uns“ in die Verantwortung nimmt (Hamilton 2017: 36). Statt auf technofixes zu setzen – in denen Hamilton eine hochmütige Überschätzung der Fähigkeit sieht, das komplexe und chaotische Erdsystem zu manipulieren –, nimmt er eine kantische Wendung: Statt die Sonderstellung des Menschen zu setzen, um daraus Herrschaftsansprüche abzuleiten, sei nun die Sonderstellung faktisch erwiesen, woraus eine ethische Verantwortung für die Erde folge. Weil diese Verantwortung bisher ausgeschlagen wurde, sind wir für Hamilton schlicht noch nicht anthropozentrisch genug. Er interpretiert so das Anthropozän als Geschichtszeichen und konstruiert eine kontrafaktische Teleologie, die der Existenz der Menschheit einen Sinn gibt. Hamilton nennt das „a kind of negative of teleological anthropocentrism“ (ebd.: 54): Kraft seiner Zerstörungsmacht hat der Mensch nun die Bestimmung, die Erde, für die er verantwortlich ist, zu retten – aber eher durch Enthaltsamkeit und Konsumverzicht als durch künstliche Atmosphärenveränderung.2 Im Lager, das die Erbschaft des Antihumanismus verwaltet, hat der Begriff des Anthropozän dagegen eher gemischte Reaktionen gezeitigt, wie der Philosoph Timothy Morton vermerkt: „The term has arisen at a most inconvenient moment. Anthropocene might sound to post-humanists like an anthropocentric 2 Neu ist dieses kantisch inspirierte Argument freilich nicht, findet es sich doch an zentraler Stelle bereits bei Hans Jonas (1984).

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symptom of a sclerotic era.“ Mit dem anthropogenen Klimawandel aber erlange der Mensch doch unleugbare Evidenz, und mit dem steigenden Meeresspiegel deute sich Foucaults Bild vom Gesicht im Sand neu, ziele nun auf die drohende Vernichtung der Spezies: „the human returns at a far deeper geological level than mere sand“ (Morton 2014: 258). Bei Morton sieht man gut, wie sich die Hinwendung zum Konzept des Anthropozäns mit einer Bewegung gegen Konstruktivismen und für Neue Realismen zusammenschließt: Das Anthropozän sei eine unbequeme Wahrheit für Intellektuelle, die davon überzeugt sind, dass jegliche Rede von Wirklichkeit bereits nach reaktionären Fantasien klingt. Stattdessen vertritt Morton eine Rhetorik des Antiskeptizismus, die im schlagenden Faktum der menschengemachten Atmosphärenveränderung gefunden wird: „The Sixth Mass Extinction Event, caused by humans –  not jellyfish, not dolphins, not coral“ (ebd.: 258). Auch die Kulturtheoretikerin Claire Colebrook, als Deleuze-Interpretin aller Parteinahme für eine Kernhumanität unverdächtig, folgt dieser Logik einer unbestreitbaren Evidenz des Menschen in seiner Zerstörungsmacht. First, the notion that there is no such thing as the human (either by way of our difference from animals or because of intrahuman differences in culture and history) must give way to a sense of the human as defined by destructive impact. […] One effect of the Anthropocene has been a new form of difference: it now makes sense to talk of humans as such, both because of the damage ‚we‘ cause and because of the myopia that allowed us to think of the world as so much matter or ‚standing reserve‘ (Colebrook 2017: 6–7).

Und in diesem Sinne gesteht selbst Rosi Braidotti zu, dass das Anthropozän eine „negative Form kosmopolitischer Verbundenheit  […] durch ein panhumanes Band der Vulnerabilität“ darstellt (Braidotti 2014: 68).3 Für Colebrook, Braidotti und Morton folgt daraus aber nicht die Notwendigkeit eines neuen Anthropozentrismus, auch wenn sie den Begriff des Menschen wieder ernst zu nehmen bestrebt sind. Das wird vor allem bei Morton deutlich, der rhetorisch raffiniert für die Neudefinition von Menschheit selbst plädiert: Mag der Mensch auch für den Klimawandel verantwortlich sein – es müsse nun darum gehen, die Idee von Solidarität, die sich im Begriff der „Menschheit“ verstecke, auch auf nichtmenschliche Spezies und die Erde selbst auszuweiten. Das jedenfalls ist die Pointe von Mortons Buch, das provokativ Humankind betitelt ist (Morton 2017). Wie bei Colebrook ist der Ausgangspunkt eine „flache 3 Natürlich will Braidotti darüber hinaus und argumentiert, Morton nicht unähnlich, für „many recompositions of the human and new ways of becoming-world together“ (Braidotti 2017: 41).

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Ontologie“, mit deren Hilfe Morton dem Marxismus den Anthropozentrismus auszutreiben sucht. Das beinhaltet nicht weniger als die Revision der gesamten Philosophiegeschichte, denn sowohl Besitzbegriffe wie der Begriff selbst gehen auf die agrilogic zurück, die neolithische Ontologie von Sesshaftigkeit, Eigentum, Grenzziehung und Speziesdifferenzen (ebd.: 23). Gegen diese an Adorno erinnernde Konzeption von einem in die Menschheitsgeschichte eingeschriebenen Identitätszwang will Morton einen „weird essentialism“ etablieren, indem er „Menschheit“ als ontologische Reduktionsgröße definiert: Wenn alle Entitäten, wie es flache Ontologien nahelegen, stets Verweise auf und Komposita aus unzähligen anderen sind, dann ist die Entität „Menschheit“ in Wirklichkeit kleiner als jedes einzelne wirkliche Subjekt, das darin auftaucht (vgl. ebd.: 101–120). Indem aus der Menschheit mit diesem „implosive holism“ (ebd.: 104) derart die Luft und, so die Idee, der schlechte Essentialismus herausgelassen ist, kann die Kategorie auch auf Tiere und Dinge ausgeweitet werden: Menschheit soll alles meinen können. Warum das aber etwas wesentlich anderes sein soll als der Personenbegriff, wie ihn schon lange die Tierethik verwendet, ist ebenso unklar wie die Konsequenzen im Praktischen: Auch Morton setzt seine Hoffnungen weiterhin in kollektive Aktion – und die Adressaten aller Handlungsforderungen sind nun einmal nicht Quallen, Korallen oder Delfine, sondern Menschen.

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Spezies Mensch: Kollektiv-, Reduktions- oder Skalierungsgröße

Die Schwierigkeit, ontologische und ethische Fragen zu koordinieren, zeichnet die posthumanistischen Reaktionen auf das Anthropozän weithin aus. Bestes Beispiel ist etwa Donna Haraway, die aus ähnlichen Beweggründen wie Morton eine umgekehrte Strategie verfolgt und den Begriff des Anthropozäns ablehnt, da er in seiner Menschenzentriertheit bereits der Unschärfe von Individuengrenzen keine Rechnung trage. Stattdessen schlägt sie gegen das Anthropozän eine Vielzahl von Neologismen vor. Ihre populärste Eigenkreation ist das „Chthuluzän“: Es ist nicht mehr Zeitalter und nicht mehr menschlich segmentierte Zeit, sondern die Bezeichnung für die „tentakuläre“ Allverbundenheit aller Lebewesen, vom Mikrobiom zur companion species (Haraway 2018: 49–50). Indem Haraway aber Menschen in unabschließbare Assemblagen auflöst und sich überzeugt dem Pessimismus der We’re-fuckedAnthropozäniker entgegenstellt, beginnt sie am Ende ganz zu bezweifeln, dass die Verursacher des Anthropozäns überhaupt zu ermitteln sind: Weil Menschen immer schon in interdependenten Beziehungsgeflechten zu anderen Lebewesen stehen, ist das Anthropozän dann kein „human species act“ mehr

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und gerade Fragen der Verantwortung und der Handlungsmacht drohen dabei, wie bei Morton, aus dem Blick zu schwinden (Haraway 2018: 56; siehe dazu Dürbeck 2018; Felcht 2020). Eine ähnliche Kritik am Anthropozänbegriff wird auch von marxistischer Seite vorgebracht, freilich weniger mit ontologischer als sozioökonomischer Stoßrichtung. An die sechste Feuerbachthese anschließend, die vom Menschen als dem „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx 1998: 20) spricht, geht die Linie über Antonio Gramscis Kritik der Ideologie „des“ Menschen als Kollektivsingular (Gramsci 2012: 1338–1341), die nun in Bezug auf das Anthropozän fruchtbar gemacht wird. Direkt an Gramsci anschließend argumentieren der Ökonom Geoff Mann und der Geograph Joel Wainwright: the term ‚Anthropocene‘ is unhelpful because climate change also makes it clear that there is no such thing as a universal ‚human‘ agent that precipitated this new era in planetary history, and no such thing as a common vantage point from which ‚we all‘ understand and experience it. There are, rather, only different human communities and ways of reasoning our way through our time (Wainwright/Mann 2018: x).

Auch für den Historiker Andreas Malm und den Ökologen Alf Hornborg verwischt „Menschheit“ als Kollektiv die ungleich verteilte Verantwortung zwischen dem globalen Norden und Süden an den Ökopathologien des Kapitalismus. Zudem werde mit einem der Spezies Mensch zugeschriebenen Prozess der Klimawandel einerseits denaturalisiert, indem er als menschengemacht erkannt wird, gleichzeitig aber wieder renaturalisiert, da er als Ergebnis inhärenter menschlicher Eigenschaften statt als Effekt ökonomischer Vorgänge erscheint (Malm/Hornborg 2014; Bonneuil/Fressoz 2016: 65 sprechen von einer „undifferentiated humanity“). Mit ihrem Gegenentwurf eines „Kapitalozäns“ – den auch Donna Haraway spielerisch und Jason Moore bitterernst verteidigen (Haraway 2018; Moore 2016) – widersprechen Malm und Hornborg der Annahme, das Anthropozän sei ein Phänomen, das in seiner Erklärbarkeit über die Auswirkungen des Kapitalismus hinausgehe (siehe weiterhin Schmieder 2013; Giannuzzi 2016). Hierin aber scheint ein Grundproblem aller antihumanistischen Kritik am Anthropozänbegriff zu liegen, sei sie marxistisch oder relationistisch. Zwar hat die Auflösung von philosophischen Scheinproblemen und -entitäten –  hier: der Mensch –  eine ehrenvolle Tradition. Methodisch aber ist andersherum zu fragen, ob mit der Reduktion des Terms nicht auch eine Reduktion an Erklärungskraft einhergeht. Anders formuliert: Welche Phänomene beschreibt das Anthropozän, die sich nicht, oder nicht allein, aus kapitalistischen Dynamiken erklären lassen? Chakrabarty hat gegen Malm und Hornborg vorgebracht,

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das Anthropozän lasse sich deshalb nicht auf Kapitalismus herunterbrechen, da „climate change, potentially, has to do with changes in the boundary conditions needed for the sustenance of human and many other forms of life“. Davon sind auf lange Sicht ausnahmslos alle Menschen berührt, ob arm oder reich, weshalb „a politics of even broader solidarity than simply solidarity of the poor is called for“ – Solidarität, mit anderen Worten, unter Menschen als solchen (Chakrabarty 2017: 31). Bei Chakrabarty macht sich also die Wiederkehr des Menschen gerade an einer Menschheit fest, die undifferenziert sein muss, weil es ihr ums nackte Leben geht. Dabei sollen die Lektionen des Postkolonialismus und der marxistischen Kritik freilich nicht vergessen, müssen aber auf ihre jeweiligen Erklärungsebenen verwiesen werden. Er setzt drei Menschenbilder parallel, ohne sie aufeinander reduzieren zu wollen: „Mensch“ als Subjekt der Aufklärung, das heißt als überall gleicher Rechteträger, der gerade in Menschenrechten noch angerufen werden können muss; „Mensch“ als postkoloniales Subjekt, das entlang der Achsen class, race, gender, ability etc. differenziert ist; und „Mensch“ als Subjekt des Anthropozän, als jene Kollektivgröße, die nur qua Kollektivität ihre Bedeutung erhält (Chakrabarty 2012). Diese Unterscheidung ist insofern hilfreich, als sie den Status des Anthropos als Skalierungsbegriff betont: Er legt emergente Qualitäten an den Tag, die sowohl über die bloße Aufsummierung aller Einzelindividuen hinausgehen als auch über die Konstitutionsbedingungen des Menschen, die die Philosophische Anthropologie beschreibt. Das ist ein Problem, das das von Hannah Arendt inkriminierte Manko überschreitet, die politische Philosophie habe Pluralität nicht denken können (Arendt 2005: 9, 1994: 213). Denn die Pluralität, die sich aus Skalensprüngen ergibt, ist eine gänzlich andere als die der Vielen auf der Agora – sie betrifft sowohl die Tiefenzeit, in die dieser plurale Anthropos fortgedacht werden muss, die beschränkte kollektive Handlungsfähigkeit des Ganzen und schließlich die begrenzte individuelle Vorstellbarkeit durch seine Teile. Seine Auswirkungen sind dem Anthropos nur durch die Daten, Diagramme und Visualisierungen der Wissenschaft darstellbar (Hüpkes 2019, 2020). „Der Mensch“ als Skalierungsbegriff ist daher für die Philosophische Anthropologie eine noch ungelöste Herausforderung. Tatsächlich wahrnehmen kann man sich, schreibt Chakrabarty, als Speziesmitglied nicht. Diese Identifikation des Anthropos mit der Spezies ist für ihn freilich tentativ: Einerseits soll damit eine Kontinuität zur Beschreibungsarbeit der Naturwissenschaften gewährleistet sein, andererseits aber kommt der Spezies die Funktion eines Desideratums zukünftiger Orientierungsnarrative zu. In einer Benjamin’sch angehauchten Passage schreibt Chakrabarty: „Species may indeed be the name of a placeholder for an emergent, new universal

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history of humans that flashes up in the moment of the danger that is climate change“ (Chakrabarty 2009: 221). Zumindest als Platzhalter also muss „der Mensch“ noch dienen.

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In der Schwebe: Die Negative Anthropologie des Anthropozäns

Ganz gleich, auf welcher Seite man sich in der Auseinandersetzung um den Anthropos im Anthropozän wiederfindet –  sie zeigt, dass der Mensch zumindest als diskursiver Gegenstand just in dem Moment auf die Bühne der Geisteswissenschaften zurückgekehrt ist, da seine endgültige Verabschiedung schon sicher schien. Schreibt sich zwar die Tradition des Antihumanismus fort, sind gerade ihre widerwilligen Apostaten wie Morton oder Colebrook bestes Zeichen dafür, dass es zwar nicht mit dem Menschen, ganz ohne ihn aber auch nicht geht. Diese prekäre Wiederkehr bedeutet aber gerade keine Restitution einer substantiellen Anthropologie, so als hätte es die antihumanistische Kritik nie gegeben (siehe Horn/Bergthaller 2019: 90–91). Das Modell des Weltenbildners homo faber, den das „gute Anthropozän“ aufruft, das ist der richtige Punkt des Posthumanismus, ist in der strikten Gegenüberstellung von Mensch und Natur nicht aufrechtzuerhalten. Seine völlige Bestreitbarkeit ist aber im Anthropozän ebenso wenig zu haben – als Adressat ethischer Forderungen, als politisch Handelnder oder als Verursacher und Verantwortlicher des Klimawandels bleibt „der Mensch“ weiterhin ein operativer, aber eben prekärer Begriff. Wo versucht wird, im Aushandlungsprozess zwischen anti- und neohumanistischen Ansätzen über den Menschen zu sprechen, ist oft der Rückgriff auf eine negativistische Rhetorik zu beobachten. Sie scheint für viele der hier Vorgestellten der Verlegenheit, weder auf starke Anthropologien setzen zu wollen noch den Menschen ganz überwinden zu können, besser Rechnung zu tragen als das neuerliche Postulieren von Positiva. Will Chakrabarty eine „negative Universalgeschichte“ der Spezies Mensch (Chakrabarty 2009: 222) –  die sich implizit auf Adornos Forderung beruft, „den Begriff des Allgemeinen als [den] der Negativität zu fassen“ (Adorno 2006: 29) –, dann klingen Parallelen zu Hamiltons Konzeption eines „negative of teleological anthropocentrism“ (Hamilton 2017: 54) an. Und wo Colebrook den Menschen als „defined by destructive impact“ (Colebrook 2017: 6–7) sieht, ist das die Konsequenz aus Braidottis Zugeständnis, das Anthropozän verhelfe „einer neuen Idee ‚des Menschlichen‘ mit negativen Vorzeichen“ zum Durchbruch (Braidotti 2014: 92). Mit der Evokation des Negativen ist einerseits eine Art Minimalanthropologie bezeichnet, die den Menschen, wenn durch nichts anderes, so doch

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durch seine Zerstörungskraft in geologischem Ausmaß bezeichnet; andererseits ist damit stets auch ein In-Schwebe-Halten endgültiger Bestimmung gemeint, so dass die unproblematische Kernhumanität des homo faber nicht einfach zum ebenso substantialistischen homo delens umgekehrt wird. Diese beiden Momente – die Bestimmung per Negation und die Negation der Bestimmung – weisen dabei erstaunliche Ähnlichkeiten zu einer Diskursfigur aus der deutschen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts auf, der Negativen Anthropologie. Systematisch bezeichnet Negative Anthropologie jeden Ansatz, der es ablehnt, den Menschen über ihm wesentlich zukommende Merkmale zu definieren, ihn aber dennoch zum Zentrum des Interesses macht. Das unterscheidet ihn vom kritischen Posthumanismus – wo dieser sich den Menschen ganz vom Leibe halten will, hält ihn die Negative Anthropologie noch als Variable fest, die sich zwar nicht auflösen, aber auch nicht aus der Gleichung herausstreichen lässt.4 Historisch hat eine solche Negative Anthropologie vor allem in der deutschen Nachkriegsphilosophie – die Heideggers Kehre als einen Ausgangspunkt des französischen Antihumanismus weitgehend ignoriert hat (Jauß 2010: 102)  – eine gewisse Tradition. Nur zwei Beispiele: Ulrich Sonnemanns Buch dieses Titels, das „das Humane aus seinen Negationen erschließt, die es verweigern und ableugnen“, ist als utopisches Projekt gegen Totaltheorien vom Menschen formuliert und bezeichnet den Pol der Negation der Bestimmung (Sonnemann 2011: 31; siehe dazu Edinger 2022). Als Bestimmung per Negation ist Negative Anthropologie dagegen etwa bei Günther Anders angelegt, der damit ein Menschenbild im Bewusstsein der Atombombe bezeichnet hat, das sich ohne größere Modifikationen auch auf manche der gegenwärtigen Anthropozäniker übertragen ließe:

4 Diese Deutung des Begriffes „Negative Anthropologie“ hebt sich einerseits von moralischpessimistischen Misanthropismen ab, die, etwa in der Manier der katholischen Gegenaufklärung, auf einer postlapsarischen Idee des Menschen als schlecht oder böse bestehen. Sie betont andererseits, dass nicht jede Philosophische Anthropologie schon negativ ist, nur weil sie Weltoffenheit oder Instinktreduktion annimmt; auch eine Anthropologie des Menschen als biologisch nur sekundär Angepasstem ist noch positiv und setzt eine differentia, die nun eben sekundär konzeptualisiert ist. Negative Anthropologie, wie sie hier verstanden wird, hebt vielmehr auf formale Negativität ab, die entweder dezidiert den Bestimmungsakt umgeht, aussetzt oder aufschiebt (Negation der Bestimmung) oder ihn nur als apophantisch, in Analogie zur negativen Theologie, über das, was der Mensch nicht ist, betreibt (Bestimmung per Negation). Siehe zur historischen Entwicklung des Begriffs und seiner Spielarten Hannes Bajohr 2021a.

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Hannes Bajohr Nicht auf Grund einer gemeinsamen natürlichen Herkunft sind wir nun eine Menschheit, sondern auf Grund einer gemeinsamen, in Zukunftslosigkeit bestehenden Zukunft, auf Grund des uns gemeinsam bevorstehenden unnatürlichen Endes. Und auf Grund dieser Gemeinsamkeit haben wir nun auch das Recht, den Singular ‚der Mensch‘ zu verwenden (Anders 1982: 146; Herv. i. O.).5

Negative Anthropologie, so ließe sich formulieren, ist der überraschende Konvergenzpunkt der Begegnung eines geologisch-naturwissenschaftlichen Befundes mit den Skrupeln einer spezifischen Tradition der Geisteswissenschaften. Sie bezeichnet die Bewegung einer Dezentrierung, die wieder Rezentrierung wird –  doch anders als Ellis oder Lewis und Maslin sie beschreiben. Sie gemahnt eher an das, was Hans Blumenberg in seiner Genesis der kopernikanischen Welt „geotrope Astronautik“ genannt hat: Das Foto der blauen Erde als Ikone des Raumfahrtzeitalters wird ihm zum Symbol für „eine verborgene Rückwendung auf uns selbst“, denn alle astronautischen Expansionsbestrebungen finden sich angesichts der Unweiten des Alls wieder auf die Erde als lebensweltlichem Grund zurückgeworfen (Blumenberg 1975: 722). Hermann Lübbe nannte das eine „postkopernikanische Konterrevolution“, die der Erde eine Mittelpunktstellung wiedergibt, die Kopernikus ihr ausgetrieben hatte, ohne aber dabei kosmologisch ins Mittelalter zurückzukehren (Lübbe 2017: 168).6 Die Wiederkehr des Menschen im Anthropozän ist eine solche Rückwendung ohne Rückkehr, und es scheint, als sei Negative Anthropologie eine gute Beschreibung für ihre geotrope Astronautik.

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5 Aber auch zum Pol der „Negation der Bestimmung“ gibt es im frühen Anders in der Rede von der „Weltfremdheit“ eine Parallele (Anders 2018; siehe dazu Dries 2018; Dries/Hägele 2020 sowie Bajohr 2019). Weiteres zur Negativen Anthropologie in Bajohr/Edinger 2021; Bajohr 2021b). 6 Diesen Hinweis verdanke ich Eva Geulen. Auch Latour beschreibt in seiner Neuorientierung vom „Globalen“ zum „Planetarischen“ eine solche Rückwendung ohne Rückkehr (Latour 2018); in Kampf um Gaia benutzt er selbst den Begriff einer „kopernikanischen Konterrevolution“, der zu Lübbes parallel läuft (Latour 2017: 109).

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Heinrich Rombachs Konzept des ‚menschlichen Menschen‘ als Interpretament für aktuelle Narrative des Anthropozäns Thomas Schmaus

In diesem Beitrag möchte ich ein Konzept für den posthumanen Diskurs erschließen, das dort bisher kaum Beachtung findet. Es handelt sich um die Utopie des ‚menschlichen Menschen‘, die der Philosoph Heinrich Rombach (1923–2004) als eine Verflechtung und Verflüssigung von Mensch und Welt artikuliert, deren ontologische, epistemologische und ethische Implikationen Überlegungen berühren, die zentral für den kritischen Posthumanismus (Loh 2020: 137–162) sind. Besonders sichtbar wird das mit Blick auf die humanistische Dichotomie von Natur und Kultur, die damit in Frage gestellt und unterlaufen wird. Rombachs Ansatz der Strukturphilosophie wird von Wolfgang Welsch (2008: 80) zum „anonymen Postmodernismus“ gerechnet, insofern Rombach sein Selbstverständnis „aus dem Bewußtsein der Unaufhebbarkeit und Positivität der Pluralität“ ziehe, ohne sich explizit als postmodern zu deklarieren (davon abweichend Rombach 1993: 89). Wie noch zu zeigen ist, gibt es tatsächlich einige Berührungspunkte zu postmodernen Motiven und Topoi, allerdings geht Rombach (etwa 1988b: 194–216) in seiner Strukturphilosophie – ungeachtet der terminologischen Nähe – nur marginal auf (post-)strukturalistische Überlegungen ein. Er versteht unter Struktur einen Denk- und Handlungsstil, der die überkommene Theorie und Praxis des Systems ablöst, welche die europäischwestliche Neuzeit und Moderne kennzeichnet, die aus der Auseinandersetzung mit der antik-mittelalterlichen Substanzontologie hervorgegangen ist (vgl. Rombach 1965/66). Die Strukturphilosophie knüpft an phänomenologische Gedankengänge an, die in ihrem Licht als zunehmende Desubjektivierung, Relationalisierung und (Eigen-)Dynamisierung interpretiert werden (vgl. Rombach 1980). Während bei Edmund Husserl das Subjekt noch als fundierende und konstituierende Instanz antritt, erfährt sich das Heidegger’sche Dasein zunächst und zumeist als mit dem Zeugzusammenhang verbundenes, geworfen-entwerfendes In-derWelt-sein. Bei Rombach schließlich scheint es mitvollziehend im vielfältigen Gewebe der Wirklichkeit aufzugehen, das selbst eine – noch zu erläuternde – Art von Subjektivität ausbildet:

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_005

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Thomas Schmaus Das Sehen der Phänomenologie ist das Aufscheinenlassen eines Strukturzusammenhanges in seiner lebendigen Verwobenheit. Ein Moment gibt dabei das andere – und dieses durchreichende Geben wird als ‚Konstitution‘ faßbar. Es baut sich selber auf (Rombach 1994a: 179).

Es liegt nahe, dass die in diesem Rahmen entwickelte Strukturanthropologie (Rombach 1993) nicht unbedingt dem entspricht, was von einer klassischen Anthropologie zu erwarten – oder zu befürchten – ist. Sie ist – so lautet die hier verfolgte These – vielmehr als ‚anonymer Posthumanismus‘ zu verstehen und hat, insbesondere mit der Figur des ‚menschlichen Menschen‘ das Potenzial, den posthumanen Diskurs um eine markante Stimme zu bereichern. Ich möchte das im Folgenden an einem wichtigen Topos dieses Diskurses aufzeigen, dem ‚Anthropozän‘ – näherhin bei verschiedenen Narrativen, die damit verbunden sind, und mit Blick auf die Rolle, die den Menschen darin jeweils zukommt (vgl. Dürbeck 2018a, 2018b).1 Dafür skizziere ich zunächst Rombachs Konzept des Posthumanen im Kontext seiner Strukturphilosophie.

1

Der ‚menschliche Mensch‘ im Kontext der Strukturphilosophie

Heinrich Rombach vertritt eine relationale monistische Ontologie. Damit ist auch schon der Grund dafür benannt, dass ich für die anthropologische Erörterung des ‚menschlichen Menschen‘ bei Rombachs Ontologie ansetze. Sie ist mit folgender Grundüberzeugung verbunden: Alles, was es gibt, also auch der Mensch, steht in Bezug zu anderem und ist über diese Relationen zu verstehen. Wesentliche Unterschiede, die dazu Anlass geben könnten, zwei oder mehrere Grundprinzipien der Wirklichkeit anzunehmen (etwa Materie und Geist), gibt es nicht – ebenso wenig trennscharfe ontologische Schichten oder Gruppen wie Pflanzen, Tiere und Menschen (vgl. Rombach 1988b: 295, 1993: 208–209). Man könnte allerdings auch die beiden Disziplinen der Ontologie und Anthropologie in Rombachs Fall in Anführungszeichen setzen, dann nämlich, wenn man zum ersten klassischerweise das Sein oder wenigstens Entitäten als Gegenstand der Ontologie begreift und es zum zweiten als Ziel anthropologischer Forschungen postuliert, das Wesen des Menschen im Sinne einer 1 Der Ausdruck ‚Anthropozän‘ wurde zunächst vorgeschlagen, um eine neue Erdepoche zu bezeichnen, in welcher der Mensch als (wichtiger bzw. entscheidender) geologischer Einfluss- oder Störfaktor verstanden wird (vgl. Crutzen/Stoermer 2000). Er überschritt allerdings erstaunlich schnell die Grenzen des geologischen Fachdiskurses und kann inzwischen als kulturelles Metanarrativ gelten (vgl. Dürbeck 2018b: 15–17).

Heinrich Rombachs Konzept des ,menschlichen Menschen‘

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Essenz zu erschließen (vgl. Rombach 1988b: 132, 1993: 15). Rombach zufolge ist ‚der‘ Mensch nämlich ein dynamisches Wesen, das sich – wie alles andere, das es gibt – einer (zeitlosen) Definition entzieht und laufend im Wandel begriffen ist: „Es zeigt sich nämlich, daß der tiefste Grund der Wirklichkeit keine Seinsverfassung, sondern eine Bewegungsform ist, eine Geschehensweise, aus der sich alle Formen des Seins und der Realität erst ergeben“ (Rombach 1988b: 316). Unter dieser Voraussetzung kommt es dann vor allem auf den modus movendi, also die Art der Dynamik, der Bewegtheit oder der Prozessualität, an. Sie steht im Fokus dieses Denkens, das sich daher auch, und vielleicht noch treffender, als Prozessontologie bezeichnen ließe.2 Rombach selbst hält es jedenfalls mit dem Begriff der Struktur. Er spricht von Strukturontologie, -anthropologie oder eben grundsätzlich von Strukturphilosophie – und hat dabei immer ein Strukturgeschehen im Blick: „Struktur meint all das, was in der Weise wird, daß es erst durch sein Werden zu dem wird, was da wird“ (Rombach 1988b: 176). Ich setze in diesem Beitrag eine grundsätzliche Kenntnis der Merkmale und Merkwürdigkeiten einer relationalen Ontologie voraus, so dass ich mich dort kurzhalte, wo Rombach als typischer Vertreter dieser ontologischen Variante gelten kann und etwas ausführlicher werde, wo es um seine spezifische Akzentuierung geht. Die Strukturphilosophie setzt nicht beim Subjekt oder bei Entitäten an, sondern an einem Beziehungsgeschehen. Sie referiert auf ein dynamisches Strukturgeflecht, dessen Bezugspunkte, also die Relata, lediglich als Schnittpunkte von Relationen zum Vorschein kommen (vgl. ebd.: 25). Sie sind deren zeitweiliges Ergebnis. Analog verhält es sich mit einem Netz: Ein solches besteht ja nicht aus Knoten, die dann miteinander verwoben werden. Die Knoten entstehen vielmehr nur, indem sie geknüpft werden. Sie sind den Relationen nicht vorgegeben, sondern ergeben sich erst daraus. Wer also wissen will, was etwas ist, muss untersuchen, wie es sich worauf bezieht. Dieses Wissen erlangt man nach Rombach (ebd. 146–147) allerdings nur, wenn man sich auf die betreffende Struktur einlässt und ihre inneren Verweisungsbezüge nach- oder besser noch mitvollzieht. Es geht ihm dabei also nicht um eine begriffliche Erkenntnis, die sich der Struktur ‚von außen‘ nähert und sie damit nicht in ihrer Lebendigkeit, sondern als feststehenden Bestandteil einer umfassenderen Struktur zu fassen bekäme, sondern um

2 Ich bin mir der Problematik derartiger Kategorisierungsversuche bewusst, möchte sie aber ausklammern, um nahe bei der Sache zu bleiben. Das gilt auch für die folgenden Schritte meiner knappen Ausführungen, die durchaus Potenzial für Anmerkungen, Grundsatzdiskussionen und weiterführende Gedankengänge bieten; ausführliche Überlegungen dazu finden sich bei Bedarf in Schmaus 2013.

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Orientierungs- und Erfahrungswissen (vgl. ebd.: 12).3 Die bevorzugte Methode der Strukturphilosophie ist die Phänomenologie. Sie wird hier als Weg verstanden, auf dem sich die strukturalen Zusammenhänge unvoreingenommen erschließen lassen. Weil dadurch ‚Dinge‘ zum Vorschein kommen, die sich dem oberflächlichen Blick nicht zeigen, nennt Rombach (1980: 22) seine Vorgehensweise auch ‚Phänopraxie‘. Anders als der begriffliche Zugang stellt diese gestalterische Phänomenologie aber nichts fest, sondern verflüssigt die Phänomene, indem sie sich demjenigen zuwendet, was sich darin zeigt. Lässt man sich nämlich derart auf eine Struktur ein, dann zeigt sich Rombach zufolge, dass oberflächlich gesehen als solche identifizierbare oder abgrenzbare Entitäten in ihrer Tiefenstruktur untrennbar mit anderen – ebenso nur scheinbaren – Entitäten verbunden sind; dass sie von sich weg verweisen und letztlich nicht zu fassen sind. Am ehesten kann man sich ihnen nähern, indem man ihre Geschichte (re-)konstruiert und die Verweisungsbezüge herausarbeitet. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind dann aber selbst ‚nur‘ jeweilige Interpretationen, die sich immer wieder wandeln, uminterpretiert und ergänzt werden: Während ‚Erkennen‘ als einzelner Akt mit bleibendem Gehalt gedacht werden kann, muß ‚Interpretation‘, wenn man sie auf ihren ontologischen Grund zurückbezieht, in Entwicklung gedacht werden. Eine Interpretation bietet eine bestimmte Weise des Sich-hindurch-Findens, darum eröffnet sie nur demjenigen etwas, der zu einer Erkenntnisbewegung bereit ist (Rombach 1988b: 137).

Auf die Erkenntnisprozesse von Strukturen und deren sprachliche Vermittlung trifft also genau das zu, was auch für ihre ‚Objekte‘ gilt: Sie sind selbst struktural verfasst (vgl. Rombach 1965/66: 503). Daher sind alle Begriffe, die Rombach verwendet, nur als vorläufige und überholbare gültig. Sie werden in seinen Schriften laufend umdefiniert, weil sich Satz für Satz der Kontext wandelt, in dem sie gebraucht werden. Hier nun lassen sich exemplarisch einige Affinitäten der Strukturphilosophie zu poststrukturalistischen Überlegungen aufweisen. Was Jacques Derrida (1990) als ‚différance‘ (an-)deutet, also den Umstand, dass es in einem Text fortlaufend zu Bedeutungsverschiebungen kommt, wird von Rombach (1993: 193–196) verstanden als „vieldimensionales Interpretationsgeschehen“ mit 3 Die von Rombach favorisierte Epistemologie des ‚inneren‘ Mitvollzugs ist keine verbrämte Esoterik, auch wenn ihr Autor mit einer gewissen Emphase für sich in Anspruch nimmt, ‚philosophische Hermetik‘ zu betreiben. Es handelt sich dabei allerdings um einen anderen Ansatz als den der Strukturphilosophie, der Gegenstand dieses Beitrags ist. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden vgl. Schmaus 2013: 65–74.

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„Bedeutungskonstellationen, die variabel sind“ – in deren „Durchspielen“ sich aber auch der Sinn des Ganzen zeigen könne (wenngleich er nie zu ‚haben‘ sei). Wo für den einen alles Text ist, ist für den anderen alles Struktur. Rombach legt Wert auf Ex-Zentrizität (ebd.: 194), vertritt ein plurales Rationalitätsverständnis (ebd.: 430), greift an entscheidenden Stellen auf die Metapher des Spiels zurück (ebd.: 112) und arbeitet an der Auflösung von Dichotomien, insbesondere derjenigen von Natur und Kultur (1990a: 237–238). Er will sich damit jedoch auf die Suche nach dem ‚Ursprung‘ machen, wenngleich er dafür weniger den ‚westlichen‘ als den ‚östlichen Weg‘ des Denkens einschlagen möchte (1994a: 168–171). Ähnlichkeiten zu Derrida gibt es wiederum bei den damit verbundenen Herausforderungen in der Begriffsarbeit und der Rezeption ihrer Ergebnisse. Aber Rombachs Methode ist nicht die Dekonstruktion. Er geht – wie gesagt – primär phänomenologisch vor und orientiert sich dabei zudem an einem bestimmten Phänomen, das ihm als Schlüssel für seine Ontologie dient, als ‚Grunderfahrung‘ (vgl. 1980: 165) sozusagen. Bevor ich auf diese Grunderfahrung eingehe, möchte ich die Anthropologie skizzieren, die mit einer derartigen relationalen monistischen Prozessontologie verbunden ist. Die Differenz des Menschen zu animalischen Lebewesen ist darin lediglich gradueller Art: Rombach (1993: 128) spricht von „ontologischer Partnerschaft“. Sie betrifft nicht nur das Verhältnis zu Tieren, sondern auch zu Pflanzen, ja sogar zum (scheinbar) Unbelebten und damit ‚natürlich‘ auch zu den Artefakten (technischen Produkten), die von Menschen oder anderen Artefakten, etwa Robotern, hervorgebracht werden. ‚Der‘ Mensch ist als ein Moment von Strukturprozessen zu verstehen bzw. als Mikrostruktur innerhalb einer Makrostruktur, in der sich weitere Mikrostrukturen ausmachen lassen, die sich gegenseitig durchdringen, die sich entwickeln, transformieren, auflösen, die abgelöst oder überformt werden (vgl. Rombach 1988b: 322–359). Diese komplexen Interdependenzen können im strukturontologischen Verständnis nicht auf Kausalbeziehungen oder andere einseitige Verhältnisse reduziert werden.4 Sie beruhen auf einer ‚Wechselbedingtheit‘, die letztlich dazu führt, dass das einzelne Moment mit dem Ganzen der Struktur identisch ist – auf je spezifische und konkrete Weise, mit eigenem Charakter, aber voll und ganz (vgl. ebd.: 25–44). Sein ‚Sein‘, das sich als Werden entpuppt, geht in seinen Relationen auf. Umgekehrt gilt aber auch, dass jedes Moment, jede noch so kleine Veränderung im Gefüge ganzheitsrelevant ist. Das Strukturganze ist den Momenten nicht über- oder vorgeordnet, sondern gleichursprünglich mit ihnen bzw. nichts anderes als ihr Wechselspiel – und damit selbst im Wandel.

4 Derartige Reduktionen kennzeichnen nach Rombach (1993: 63) die Systemontologie.

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Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Strukturphilosophie ist nun, dass dieses strukturale Interdependenzgeschehen eine Eigendynamik aufweist. Strukturen sind ‚autogenetisch‘ bzw. autopoietisch organisiert, wenn man den gängigeren Begriff aus der Systemtheorie heranziehen will, den Rombach (1993: 61–63) allerdings ablehnt. Der Mensch ist als Moment von Strukturen Mitspieler im strukturalen Wechselspiel. Er ist es aber nicht als klassisch modernes, individuelles und autonomes Subjekt, sondern eher als ‚Dativsubjekt‘, als jemand, dem etwas gegeben (lat.: datum) wird, dem sich etwas zuspielt, das er aufgreift, weitergibt und so bestenfalls zum Gelingen des Ganzen beiträgt: „Der ontologische Dativ ist der Ursprung für den personalen Nominativ, und jegliches Wer findet sich und definiert sich als das Wem der Gegebenheit einer Welt“ (ebd.: 281). Um noch etwas im Bild zu bleiben: Will er kein Spielverderber sein, dann hat sich der Mensch mit dem richtigen Gespür auf das strukturale Gefüge einzulassen. Hat er sich also zu fügen – womöglich sogar in vormoderner Manier? Mit dieser Frage ist eine der Zumutungen angesprochen, welche die Strukturontologie mit sich bringt. Eine dahingehende Interpretation würde Rombachs Intention aber widersprechen. Er betont, dass es sich bei der Autogenese um ein freies Wechselspiel handelt, das man am treffendsten von einer schöpferischen Erfahrung, einem kreativen Prozess her versteht. Und dort ist es eben nicht mehr der Mensch, der spielt, sondern ‚es spielt‘ (vgl. Rombach 1969: 21).5 Das ‚es‘ in dieser Wendung darf nicht hypostasiert werden. Es ist auf eine sprachliche Verlegenheit zurückführen, weil im Deutschen keine Sätze gebildet werden können, ohne ein grammatisches Subjekt anzugeben. Zu denken ist an ein Geschehen, dass sich ‚von selbst‘ vollzieht – ein Vorgang, den man unter Rekurs auf ein Genus verbi, das sich z. B. im Altgriechischen oder Japanischen findet, als ‚medial‘ bezeichnen könnte.6 Rombach sieht darin nicht weniger als den Grundmodus der Wirklichkeit. Der Ausdruck, den er (z. B. 1988b: 228) bevorzugt für dessen Bezeichnung verwendet, lautet: ‚es geht‘. Dem Menschen kommt in diesem Denken keine essentielle Sonderstellung mehr zu (vgl. Rombach 1988a: 162). Das geschieht allerdings nicht, indem er naturalistisch oder materialistisch reduziert wird. Seine Sonderstellung verliert er nicht dadurch, dass ihm etwas genommen wird, sondern dadurch, dass allem anderen etwas zugesprochen wird: Die gesamte nicht-menschliche Wirklichkeit wird auf das Niveau angehoben, das traditionell nur dem Menschen 5 Dass dieser Ausdruck das Phänomen des (selbstvergessenen) Spiels besser trifft, konstatiert auch Scheuerl (1990: 123) in der wohl immer noch besten phänomenologischen Studie des Spiels: „Wirkliches Spiel liegt nicht vor, wo ‚ich spiele‘, sondern wo ‚es spielt‘.“ 6 „Das Medium wäre somit die Aktionsform der Selbstbezüglichkeit, wobei weder ein eindeutiges Subjekt noch Objekt vorausgesetzt werden muss“ (Elberfeld 2012: 237).

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vorbehalten war. Besonders prägnant kommt das in folgendem Zitat zum Ausdruck: Alles ist menschlich, wenn auch in abgeschatteter Weise. Es gibt nur eine ontologische Grundverfassung, und diese wird durch das Humanum repräsentiert, spricht den Menschen auf eine menschliche Weise an, und teilt sich mit ihm in dieselbe Wirklichkeit (Rombach 1993: 107).

Die These, dass alles menschlich sei, ist nicht anthropomorphisierend gemeint. Sie rekurriert auf eine Erfahrung, der Rombach einen wirklichkeitserschließenden Charakter attestiert, weswegen er seine phänomenologische Ontologie damit verknüpft. Es ist keine Alltagserfahrung; sich an eine solche zu halten – so Rombach (1990b: 182) – hätte nur eine „Ontologie der Durchschnittlichkeit“ zur Folge. Es ist eine besondere, außergewöhnliche, ja erhebende Erfahrung, die allerdings nicht bloß einer Erlebniselite vorbehalten ist. Dem obigen Zitat zufolge fühlen sich die Erfahrenden dabei von der Welt angesprochen. Diese korrespondiert mit ihnen, sagt ihnen etwas, provoziert eine Antwort. In der Terminologie des Soziologen Hartmut Rosa (2016) handelt es sich dabei um eine ‚Resonanzerfahrung‘. Für Rombach steht der prozessuale Charakter dieser Erlebnisform im Vordergrund. Es sind kreative Prozesse, an denen sich am besten zeigen lässt, worauf er sich bezieht, wenn er die Wirklichkeit als „Ruf- und Antwortgeschehen“ (1994a: 85) benennt: kreative Prozesse bestimmter Art, die in der Psychologie als ‚FlowErlebnisse‘ bezeichnet werden (vgl. Schmaus 2013). Es handelt sich dabei um die beglückende Erfahrung, ichvergessen in einer Tätigkeit aufzugehen und damit in Fluss zu geraten. Ist man derart involviert, dann wird ein solcher Prozess von den Beteiligten als eigendynamisch wahrgenommen. Es läuft dann (wie) von selbst. Die einzelnen Handlungsschritte gehen fließend ineinander über. Die Finger gleiten über die Tasten, der Ball läuft rund, die Arbeit ‚flutscht‘. ‚Es geht‘, ‚es gelingt‘, ‚es glückt‘ (vgl. Rombach 1988b: 245, 1993: 212). Die angesprochene Ichvergessenheit korrespondiert allerdings nicht mit einem Verlust des Selbstbewusstseins, sondern mit dessen Transformation, mit einer wahrgenommenen Selbsterweiterung: der Identifikation mit der Tätigkeit, die sich vollzieht und von mir selbst mitvollzogen wird. ‚Das‘ eigene Selbst geht darin auf, aber nicht unter. Diese Identität mit dem ‚Von-Selbst‘ des Geschehens, die von Rombach (1993: 381–385) als ‚Idemität‘ bezeichnet wird, geht daher nicht mit der Nivellierung, sondern mit der Profilierung der Beteiligten einher. Jede ist in einem solchen Prozess in ‚ihrem‘ Element. Mit der Dualität von Ganzem und Einzelnem sowie derjenigen von Subjekt und Objekt werden bei dieser Erfahrung auch andere Dichotomien unterlaufen. Bei einem solchen ‚reinen Geschehen‘ tritt nach Rombach (ebd.: 205–216) nämlich

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eine ‚ursprüngliche Ungeschiedenheit‘ zutage, welche die Grundlage strukturontologischen und -anthropologischen Denkens bildet. Hier erweist sich dann auch die „Grundunterscheidung der Griechen“ (1990a: 238) zwischen Natur (physis) und Kultur (thesis) als hinfällig. Zum sogenannten ‚reinen Geschehen‘ der Wirklichkeit gehört auch die Aufhebung des Unterschiedes von Notwendigkeit und Freiheit, die sich wiederum phänomenal bei Flow-Erlebnissen ausweisen lässt. Dabei entwickelt das Geschehen nämlich eine Art innere Logik, der sich alles zu fügen hat, damit es zu einem eigendynamischen Prozess kommen kann, der ‚so und nicht anders‘ zu verlaufen hat. Diese innere Notwendigkeit wird von den Beteiligten sehr bewusst wahrgenommen, aber nicht als aufgenötigt oder gar als Zwang erlebt, sondern als außerordentlich befreiend. ‚Es fügt sich‘. Das Geschehen ist fesselnd, aber es engt nicht ein. Im Gegenteil, es belebt, dynamisiert und verflüssigt. Es bringt zusammen, aber nicht, indem es die Kräfte bindet, sondern indem es sie löst, so dass sie in ein freies Spiel miteinander eintreten können. Damit sind zwei wichtige Eigenschaften von Strukturen im Rombach’schen Sinne verbunden. Zum einen entstehen, gelten und vergehen die Regeln für dieses Spiel auch jeweils im Prozess: Das Geschehen legt Schritt für Schritt nahe, was zu tun ist, und stellt sich damit unter seinen eigenen, sich wandelnden Maßstab, den einzuhalten als Gelingen, dem nicht zu genügen als Misslingen der Struktur wahrgenommen wird. Zum anderen kann sich ein spielerisch gelingendes Strukturgeschehen ‚heben‘: Es werden nun Dinge möglich, mit denen zuvor nicht zu rechnen war. Strukturen ist nach Rombach ein schöpferisches Potential inhärent, das sie durch Korrespondenzen bzw. Rückkoppelungen zwischen den einzelnen Momenten über sich hinaustreibt. Diese strukturalen Selbsttranszendenztendenzen sorgen zudem für eine prinzipielle Offenheit von Strukturen. Deren Selbstgestaltung vollzieht sich durch ‚Ausgriff‘ und ‚Anverwandlung‘, um nochmals einen passenden Begriff Hartmut Rosas anzubringen.7 Dem Menschen, dem es gelingt, solche autogenetischen Steigerungsbewegungen ‚konkreativ‘ mitzuvollziehen – also zusammen mit den anderen Momenten einer Struktur –, bezeichnet Rombach als ‚menschlichen Menschen‘. Ein solcher findet in die Gängigkeit der Wirklichkeit hinein, bringt sie in Fahrt, gestaltet sie mit und transzendiert sich dabei selbst. Der Mensch ist 7 Rosa (2016: 317–318) bezeichnet als ‚Anverwandlung‘ den dialogischen Prozess bei der resonanten Begegnung eines Subjekts mit der Welt, der – anders als bei einer bloßen Aneignung – mit einer gemeinsamen Transformation verbunden ist. Rombach (1988b: 124) ontologisiert diese Erfahrung, indem er jeder Struktur Subjektivität zuspricht, allerdings in der dynamischen Variante der Autogenese als medialem Selbstvollzug bzw. – näher an seiner Terminologie – als ursprünglicher Selbstkonstitution.

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also erst dann voll und ganz Mensch, wirklich bei sich selbst, wenn er außer sich ist, wenn er sich selbst als Entität aufgibt, loslässt und sich konkreativ auf eine weitere, umfassendere Struktur einlässt – auf eine Tätigkeit, auf eine Beziehung mit einem anderen Menschen oder eine Gruppe, auf ein Kunstwerk oder eine Landschaft – bis dahin, dass er sich ‚idemisch‘ mit der Welt, dem Ökosystem oder dem Kosmos erfährt (vgl. Rombach 1993: 421–426). Sei dieser Typus des ‚menschlichen Menschen‘ bisher nur vereinzelt aufgetreten, so gäben nun die ästhetischen, technologischen und ökologischen Tendenzen der Post- oder Spätmoderne Anlass dazu, einen epochalen Schritt der Menschheit in Betracht zu ziehen. Für den vorliegenden Beitrag sind v.a. die Gedanken Rombachs zur Ökologie von Interesse. Sie finden sich sporadisch an einigen Stellen seines Werkes und lassen sich mithilfe gängiger naturethischer Kategorien am ehesten als ökozentrisch charakterisieren, insofern es darum geht, die Natur „um ihrer selbst willen“ zu bewahren; noch „besser“ allerdings ist es nach Rombach, wenn Natur und Mensch nicht gegeneinander ausgespielt, sondern „beide für ein neues Zusammengehen geschützt und befähigt werden“ (ebd.: 403). Der Strukturphilosoph erteilt damit nicht nur dem Konstrukt einer (vom Menschen) unberührten Natur eine Absage, sondern richtet bei aller UrsprungsRhetorik den Blick in die Zukunft: hin auf ein Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur, das beide in einer Weise verändern wird, die noch nicht absehbar ist. Damit bringt Rombach eine genuine Version des Posthumanen ins Spiel, die sich von einer (technologischen) Höherführung des Menschen durch Selbstbehauptung und -optimierung absetzt und stattdessen darauf abhebt, dass das Menschliche des Menschen darin liegt, sich selbst als eigenständige Entität aufzugeben und sich auf den dynamischen Fluss der Wirklichkeit einzulassen. Wenn Rombach in diesem Zusammenhang postuliert, dass alles menschlich zu werden habe, dann ist damit also gerade kein anthropozentrisches Anliegen verbunden, sondern die bewusste Provokation, der gesamten Wirklichkeit als Konglomerat konkreativer Selbstgestaltungsprozesse humanen Charakter zuzuerkennen.8

8 Besonders deutlich wird Rombach in seiner Ablehnung des Anthropozentrismus, wenn er sich mit Heidegger auseinandersetzt (z. B. 1993: 344–345).

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Rombachs Konzept als Interpretament für aktuelle Narrative des Anthropozäns

Ich möchte nun zeigen, wie sich mit Rombachs Ansatz gängige Narrative des Anthropozäns einer fruchtbaren (Re-)Interpretation unterziehen lassen. Dafür greife ich auf eine Einteilung der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dürbeck (2018a, 2018b) zurück, für die sich fünf größere Narrative abzeichnen, auf die ich unten näher eingehen werde: das Gerichtsnarrativ, das Katastrophennarrativ, das Narrativ der großen Transformation, das biotechnologische und das Interdependenz-Narrativ. Diese Kategorisierung beruht primär auf einer systematischen Sichtung natur-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Texte. Die daraus gewonnenen Ergebnisse lassen aber den Schluss zu, dass diese Narrative gegenwärtig auch den kulturellen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Anthropozän prägen.9 Narrative werden von Dürbeck verstanden als „erzählerisch strukturierte Geschichten, die der gesellschaftlichen und politischen Sinnstiftung dienen“ (2018a: 12), indem sie Verständnis generieren sowie motivierend oder mobilisierend wirken. Klassischerweise beinhalten sie folgende Elemente: Protagonisten, einen Plot mit Ursache-Wirkungs-Verhältnissen, eine Ereigniskette, eine räumliche und zeitliche Struktur sowie ‚die Moral von der Geschicht‘. Rombachs Ansatz ist grundsätzlich anschlussfähig an diese Überlegungen. Er arbeitet zwar nicht mit dem Konzept des ‚Narrativs‘. Das kurz skizzierte Modell der Sinnfindung durch Interpretationen (vgl. Rombach 1993: 191–198) entspricht ihm jedoch weitgehend. Allerdings sind mindestens zwei wichtige Abweichungen hervorzuheben: Die Protagonisten sind strukturphilosophisch nicht gesetzt als Ausgangspunkt oder Dreh- und Angelpunkt von Erzählungen, sondern erfahren sich grundlegend als Wesen, die „in Geschichten verstrickt“ (Schapp 2012), ja mit ihnen identisch sind (als Moment im Wechselspiel der Momente). Sie ergeben sich (jeweils) daraus. Außerdem wird das UrsacheWirkungs-Verhältnis bei Rombach abgelöst bzw. aufgehoben in ein nicht linear aufzulösendes Wechselwirkungsverhältnis. Diejenigen Narrative nun, die vom Anthropozän erzählen, kommen nach Dürbeck (2018a: 13) darin überein, dass sie (1) die Menschheit, die menschliche Spezies oder eine Gruppe von Menschen als Protagonisten sehen, sie (2) als geophysikalische Kraft begreifen, (3) eine tiefenzeitliche Zeitdimension und (4) eine planetarische Perspektive aufspannen, (5) von der Nicht-Trennbarkeit

9 Mindestens heuristisch sind sie sinnvoll zur Orientierung und Differenzierung. Für ihre mögliche Rolle bei der individuellen und kollektiven Identitätsbildung beachte Schmaus 2020.

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von Natur und Kultur ausgehen sowie (6) daraus eine ethische Verantwortung des Menschen für das Erdsystem ableiten. Die Punkte (3) bis (6) sind leicht mit Rombachs Konzept des ‚menschlichen Menschen‘ in Einklang zu bringen: Wenn alles menschlich ist und in einem komplexen Antwortverhältnis zueinander steht, ist die menschliche (Mit-)Verantwortung für die Gestaltung dieser Beziehungsstrukturen offensichtlich. Zu Punkt (1) ist anzumerken, dass die menschliche Spezies keine Kategorie ist, mit der Rombach arbeitet. Von der ‚Menschheit‘ und ‚dem‘ Menschen ist hingegen häufig die Rede. Dieser Kollektiv-Singular ist dann aber so zu verstehen, dass jeder einzelne Mensch auf je seine Weise ‚perspektivisch‘ die Menschheit realisiert.10 Und zu Punkt (2) finden sich immerhin Andeutungen, freilich nicht geologischer oder physikalischer Provenienz, sondern bei Überlegungen zum ‚Naturgeschehen‘ bzw. zum ‚Erdenleib‘ oder ‚Erdenleben‘, an dem menschliches Leben und Erleben teilhabe und mitwirke (vgl. 1993: 302–304, 1994a: 32–34). Ausgehend von dieser Anknüpfung an die Strukturphilosophie möchte ich im Folgenden einige Vorschläge für eine Neuinterpretation der von Dürbeck identifizierten Narrative geben, um aufzuzeigen, welche Aspekte Rombachs Konzept des Posthumanen in den Anthropozän-Diskurs einbringen kann. Das Gerichtsnarrativ konzentriert sich nach Dürbeck (2018b: 9–10) auf die Täter, die das Anthropozän verursacht haben und fragt nach deren Verantwortung und Haftbarkeit (Plot eines ‚Whodunit‘). Nach Rombach (1993: 371–375) gilt es dagegen, nicht (bei Einzelnen) die Schuld zu suchen, die eine Bestrafung nach sich zieht, sondern den Fehler (in der Struktur) zu finden, der aufgearbeitet werden kann. Es geht also um die Chance zur ‚Meliorisierung‘, zur konkreativen Besserung des ganzen Prozesses. Hier anzusetzen heißt, Verantwortlichkeit als etwas zu sehen, das nicht primär Individuen zukommt, sondern vielmehr das Antwortgeschehen kennzeichnet, in dem sich alle Menschen – zusammen mit allen anderen Lebewesen und Entitäten – befinden (vgl. Rombach 1994b: 317). Wir stehen in diesem Sinne alle in einem Verantwortungsprozess: „Mitarbeit an einem Weltgeschehen, in dem für alles Verantwortung übernommen werden muß“ (Rombach 1993: 369). So nachvollziehbar diese und ähnliche Überlegungen im Duktus der Strukturphilosophie auch sind – angesichts eklatanter Umweltsünden und der Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels insbesondere auf strukturell ohnehin schon benachteiligte Menschen können sie zynisch 10

In Rombachs Terminologie geht es dabei um ‚Idemität‘ von Einzelmensch und Menschheit – was gerade nicht bedeute, einen konkreten Menschen nur als Einzelfall ‚des‘ Menschen zu betrachten (Rombach 1993: 422).

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wirken. Außerdem vernachlässigen sie die Opferperspektive, was allerdings bereits ein inhärentes Problem des Gerichtsnarrativs selbst darstellt. Das Katastrophennarrativ verurteilt nicht nur bestimmte (Gruppen von) Menschen, sondern ist mit einer negativen Bewertung der conditio humana überhaupt verbunden (vgl. Dürbeck 2018b: 7–9). Der Mensch erscheint hier als ein Wesen, das seine eigene Lebensgrundlage zerstört und dringend aufgehalten werden muss, wobei es zweifelhaft erscheint, dass das noch gelingen kann. Je nach Ausprägung steht bei diesem Narrativ der appellative oder der kritische Impuls im Vordergrund. In diesem Kontext sind nicht nur Rombachs Überlegungen zum sogenannten circulus vitiosus relevant, also dem sprichwörtlichen Teufelskreis, sondern zum wenig untersuchten Pendant, dem circulus probatus, der gewissermaßen eine Sogwirkung hin zum Besseren aufweist (vgl. Rombach 1993: 206–207, 1994b: 150–151). Bei zunehmender autogenetischer Verstärkung sei ein solcher Prozess immer weniger aufzuhalten. Zwar müssten am Anfang die Beteiligten noch nachhelfen und Anschub leisten, um ihn in Fahrt zu bringen. Dann aber könne er zu einem ‚Fahrzeug‘ werden, welches in eine Bewegung gerate, die einen Menschen oder gar ‚den‘ Menschen über sein bisheriges Selbstverständnis hinaustragen und ihn verändern könne (vgl. Rombach 1993: 419). Die Gruppendynamik einer ökologischen Bewegung hat womöglich das (Fahr-)Zeug dazu, einen derartigen positiven Wandel im Selbst- und Weltverständnis herbeizuführen. Dieser Gedanke führt schon zum nächsten Narrativ, nämlich dem der großen Transformation. In ihm erscheint das Anthropozän als epochaler Einschnitt, der ein mögliches Happy End zur Folge haben könnte – nämlich dann, wenn es gelingt, die Probleme zu lösen, die gegenwärtig (noch) bestehen (vgl. Dürbeck 2018b, 10–11). Aus anthropologischer Sicht ist dieses Narrativ dahingehend interessant, dass für die darin angezielte nachhaltige Gesellschaft ein geeignetes Menschenbild gesucht wird, womit implizit eine prozessuale Anthropologie einhergeht, die stark normativ ausgerichtet ist: Der Mensch kann und soll sich verändern. Als Leitbild für diesen Veränderungsprozess fungiert der homo sustinens (z. B. bei Siebenhüner 2001), also der nachhaltig denkende und handelnde Mensch. Angesichts des Zeitdrucks, der dabei besteht, wird aber auch die Frage aufgeworfen, ob eine solche Gesellschaft und ein ihr entsprechender Mensch nicht top-down durchgesetzt werden müssen – ein Modell, das andere wiederum polemisch als Klima- oder Ökodiktatur bezeichnen. Mit Rombachs Denken lässt sich gegen eine solche Top-down-Variante einwenden, dass gelingende strukturale Prozesse nicht verordnet oder hergestellt werden können, sondern so anheben, wie das bei einer Graswurzelbewegung der Fall ist. Sie entfalten dann ihre transformatorische Kraft, wenn sie möglichst

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viele Menschen mitnehmen, anstecken und beflügeln. In der Ermöglichung und Unterstützung solcher Bewegungen sieht Rombach (1994b: 179–180) die vorrangige Aufgabe einer Gesellschaft. Das (prekäre) Potential derartiger ‚Sozialgenesen‘ lässt sich derzeit gut an der Fridays-for-Future-Bewegung ablesen. Deutet man diese strukturphilosophisch, dann gilt es aber auch die Herausforderungen zu benennen, die mit der Unverfügbarkeit eines schöpferischen Prozesses verbunden sind. Bei sozialen Bewegungen ist der Grat des Gelingens nämlich besonders schmal. Sie können zwar so sehr an Fahrt aufnehmen, dass sie außer Rand und Band geraten,11 sie können aber auch schnell wieder erlahmen. Und will man sie in feste Formen überführen, verändert sich ihr Modus. Rombach (1988b: 172, 1994b: 292–295) deutet eine derartige Modifikation als Übergang von (lebendigen) Strukturen in (verfestigte) Systeme. Wie sich deren Modus von demjenigen dynamischer Strukturen unterscheidet, lässt sich am (bio-)technologischen Narrativ verdeutlichen (vgl. Dürbeck 2018b: 11–13). In diesem Erzählzusammenhang wird der Mensch das Anthropozän mit denselben Mitteln, mit denen er es herbeigeführt hat, zu einem Erfolgsmodell machen, nämlich durch den Einsatz moderner Wissenschaft und Technik. So heißt es beispielsweise in einem ‚Ecomodernist Manifesto‘, dass auf diese Weise ein „gutes, wenn nicht sogar grossartiges Anthropozän“ (Asafu-Adjaye et. al 2015) gestaltet werden könne. Dieses Narrativ beruht ganz offensichtlich auf dem Menschenbild des Homo faber, der nun, nachdem er bereits seinen immensen Einfluss auf die Erde unter Beweis gestellt hat, durch Geoengineering auch planetarische Kontrolle erlangen soll. Es liegt nahe, ein solches Unterfangen als anthropozentrisch zu kritisieren und mit Verweis auf die fehlgehende Hybris des Menschen, alles in den Griff zu bekommen, an das Katastrophen-Narrativ anzuschließen. Mit Rombach lässt sich hier noch eine andere Perspektive einnehmen. Er betrachtet solche Zusammenhänge nämlich als Strukturen, die einem Selbstmissverständnis erliegen, als „Selbstverfehlung der Strukturbewegung“ (1994a: 201). Ein technisches System ist demnach eine Struktur, die auf halbem Wege stehen geblieben ist oder ihren spielerischen, konkreativen Charakter verloren hat, dadurch aber auch bis zu einem gewissen Grad berechenbar und kontrollierbar wird. Der Mensch – so ein Topos, der sich u. a. auch bei Martin Heidegger (1954) findet – ist dann aber gerade nicht Herr der Technik, sondern Teil eines Systems mit einer technischen Eigenlogik, dessen Elemente lediglich 11

In Anknüpfung an das Bild des Fahrzeugs lässt sich dann von einem ‚Juggernaut‘ sprechen – mit einer englischen Metapher für eine unaufhaltsame Kraft, die auf das Phänomen schwer in Gang zu setzender, dann aber kaum mehr zu bändigender hinduistischer Prozessionswagen (für den Gott Jagannatha) zurückzuführen ist.

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einen Stellenwert haben, der sich aus ihrer Funktion für das Systemganze herleitet. Systeme entstehen nach Rombach (1988b: 165–172) dadurch, dass das Ganze nicht als Wechselspiel der Momente erscheint, sondern als etwas, das den Elementen vor- bzw. übergeordnet ist und ihnen ihren Stellenwert zuteilt. Systeme sind aber auch aus strukturphilosophischer Sicht nicht grundsätzlich zu verwerfen – mindestens dort nicht, wo sie „die Bedingung der strukturellen Entwicklung eines größeren Zusammenhanges“ (Rombach 1988b: 172) sind. Werden sie allerdings dominant und unterbinden strukturale Prozesse, dann führen sie nach Rombach zu unmenschlichen Verhältnissen und in letzter Konsequenz in eine inhumane Dystopie. Rombachs humane Utopie, der ‚menschliche Mensch‘, ist zugleich eine posthumane Utopie: „‚Der Mensch‘ existiert noch nicht […]; es geht vielmehr erst darum, den Menschen zu schaffen. Diese künftige Stufe meinen wir mit dem Ausdruck ‚menschlicher Mensch‘“ (Rombach 1993: 423). Das damit Intendierte findet sich im sogenannten Interdependenz-Narrativ wieder. Dürbeck (2018b: 13–15) bezeichnet damit Ansätze, die das Anthropozän als Chance betrachten, den Menschen als Teil eines großen wechselwirkenden (ökologischen) Netzwerks zu interpretieren, in dem die Unterscheidung von Natur und Kultur keine (konstitutive) Bedeutung mehr hat. Für Rombach (1990a: 237–239) handelt es sich dabei um eine Wiederentdeckung dessen, was seines Erachtens im Mythos (vom Garten Eden) bereits erschlossen und erzählt wurde, nämlich die ursprüngliche ‚Ungeschiedenheit‘ von physis (Wildnis) und thesis (Acker), die exemplarisch für (nachträgliche) bipolare Dichotomien stehen. Dementsprechend bildet der Garten als „Ursprungs- und Zielverfassung des Lebens“ (ebd.: 245) den paradigmatischen Ort, den eutopos, für den ‚menschlichen Menschen‘, der in diesem Bild als eine Art englischer Gärtner fungiert, der sich gegen die Möglichkeit des systemisch-technischen Formschnitts und „die strengen Rabatten verdinglichter Ordnungsformen“ entscheidet und stattdessen konkreativ-strukturierend „dem Eigenwuchs freie[n] Raum gewährt“ (ebd.: 243). Vor diesem Hintergrund erscheint das Anthropozän mit seiner charakteristischen Verflechtung von Natur- und Kulturgeschichte nicht in erster Linie als Entstehungs-, sondern als Entdeckungszusammenhang: In ihm kommt zum Vorschein, was im Grunde immer schon der Fall war. Insofern aber mit dieser Entdeckung für Rombach ein Wandel im künftigen Selbstverständnis des – unhintergehbar geschichtlichen – Menschen verbunden ist, markiert die Gegenwart doch den Auftakt für etwas genuin Neues. Das wird etwa dort deutlich, wo Rombach (1994a: 32–34) auf den menschengemachten Klimawandel eingeht und dabei das Klima als wichtiges Moment eines komplexen Vernetzungsvorgangs interpretiert, in dem sich von Anfang an Epochen mit

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einer bestimmten „Gestalttypik“ herausgebildet und abgelöst haben – mit der vorerst letzten, der „Welt der Menschen“, die „auf dem besten Weg sind, sich in toto den Garaus zu machen“, weil sie diese Interdependenzen übersehen oder verleugnet haben. Eben diese Entdeckung aber birgt für Rombach das epochale Potenzial, künftig nicht gegen, sondern mit den Selbstgestaltungsprozessen der Wirklichkeit zu agieren. In diesem Sinne deutet er ‚die‘ ökologische Bewegung der 1980er und 1990er Jahre als einen vielversprechenden Aufbruch, auch wenn sie „sich zunächst in mitgeschleppten Systemvorstellungen verfängt“ (1994a: 201) und sich mit dem Anliegen, die Umwelt nur um des Menschen willen zu schützen – ein „anthropozentrisches Mißverständnis“ (1993: 278) –, „immer noch ganz entfremdet zu sich selbst verhält“ (ebd.: 403). Der entscheidende Schritt zum ‚menschlichen Menschen‘ stehe hier noch aus. Er bestehe darin, die gesamte Wirklichkeit auf Augenhöhe miteinzubeziehen: „Nicht nur die menschlichen Verhältnisse sollen in die Gartenverfassung gebracht werden, sondern auch die natürlichen und die dinglichen. Auch die scheinbar toten Dinge haben ein Leben und einen Raum und eine Selbstentfaltung in diesen“ (Rombach 1990a: 245). Der entscheidende Akzent bei dieser Miteinbeziehung von Tieren, Pflanzen, Mineralien und Artefakten liegt auf der Lebendigkeit, die ihnen zukommt, insofern sie Momente in einem autogenetischen Prozess sind. ‚Menschlich‘ werden Menschen nach Rombach nicht dadurch, dass sie andere Entitäten vermenschlichen, sondern indem sie sich mit ihnen auf ein konkreatives Geschehen einlassen, dass sich ‚von selbst‘ vollzieht. Die Agency bzw. die Handlungsträgerschaft liegt dann beim Geschehen, während die daran Beteiligten sich im ‚Nicht-handeln‘ üben, wie Rombach (1993: 363–365) den daoistischen Ausdruck wuwei übersetzt, den er hier für angebracht hält.12 Gemeint ist damit kein Unterlassen, sondern der Mitvollzug dessen, was sich zusammen mit allen Momenten der sich vollziehenden Struktur ergibt. Ich halte diese Überlegungen nicht nur für bedenkenswert angesichts der Suche nach Wegen, die Intentions-Verhaltens-Lücke zu schließen, die ein gewichtiges Problem für die Umsetzung einer nachhaltigen Lebensweise darstellt. Sie nähern sich zudem auf ganz eigene Weise der Frage nach einer nicht-menschlichen Agency, die insbesondere von Bruno Latour erörtert wird, den Dürbeck (2018b: 13–15) als wichtigen Vertreter für das Interdependenz-Narrativ anführt. 12

In der Analyse eines einschlägigen daoistischen Textes weist Elberfeld (2012: 247) darauf hin, dass wuwei bedeute, „nicht einseitig vom subjektbezogenen Willen gesteuert den Dingen vorauszugreifen“, sondern so auf ihr Wechselspiel einzugehen, dass sich „das Tun und der Wille […] in der Entwicklung des Handelns wie von selbst“ vollzögen.

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Die Strukturphilosophie als anonymer Posthumanismus

Die Strukturphilosophie Heinrich Rombachs eröffnet mehrere Möglichkeiten einer fruchtbaren Neuinterpretation einflussreicher Narrative des Anthropozäns. Beim Durchgang durch Dürbecks Auswahl zeigt sich eine besondere Affinität zum Interdependenz-Narrativ, insofern der ‚menschliche Mensch‘ als eine dazu passende Erzählfigur erscheint. Dürbeck (2018b: 13–14), die auf Rombach nicht eingeht, stellt als paradigmatische Position dieses Narrativs Rosi Braidottis kritischen Posthumanismus vor. Ich möchte daher am Ende meines Beitrags die Frage stellen, ob und inwiefern Rombachs Strukturphilosophie posthumanistische Züge trägt. Ich kann an dieser Stelle nicht näher auf die vielen Berührungspunkte und Divergenzen eingehen, die für die Beantwortung dieser Frage zu erörtern sind, möchte aber wenigstens einige Hinweise geben, die mich dazu veranlassen, in Anlehnung an Welschs Diktum vom ‚anonymen Postmodernismus‘ die Strukturphilosophie als ‚anonymen Posthumanismus‘ zu bezeichnen. Dafür rekurriere ich auf die Themen und Motive, die Loh (2020: 137–162) in ihrer hervorragenden Einführung in den Trans- und Posthumanismus für den kritischen Posthumanismus anführt. Dass Rombachs „Anti-Anthropologie“ (1993: 431) den Anthropozentrismus überwinden möchte, als relationaler Ansatz den Essenzialismus hinterfragt und einen appellativen Charakter hat (vor allem ethisch, aber auch gesellschaftspolitisch), steht meines Erachtens außer Frage. Auch die Kritik an einer eindimensionalen oder reduktionistischen Wissenskultur in Verbindung mit dem Anliegen einer inter- und transdisziplinären Methodenvielfalt ist in der Strukturphilosophie anzutreffen (vgl. Rombach 1988b: 152–154). Affinitäten gibt es zudem bei der Einschätzung der Technik (1985: 14), bei der Berücksichtigung der Körperlichkeit (1993: 288– 302) und andeutungsweise – aber sehr ambivalent – bezüglich (post-)feministischer Motive (ebd.: 403). Das gilt allerdings bei all diesen Punkten mit Einschränkungen und in bestimmter Hinsicht – nicht zuletzt auch bei der entscheidenden Frage, wie es Rombach mit dem Humanismus hält: Er wendet sich dezidiert gegen den „abendländischen Humanizismus“ (1980: 272) und dessen Wiederbelebungsversuch bei Heidegger, hält aber am Begriff des Humanum fest, insofern ihm an einer umfassenden „Mehrung der Humanität“ (1994a: 181) als Grundzug der Wirklichkeit gelegen ist. Vielleicht lässt sich Rombachs ‚Programm‘ am besten so beschreiben: ‚mit dem Menschen über den Menschen hinaus‘ (vgl. 1993: 113–115). Gegen die These vom ‚anonymen Posthumanismus‘ der Strukturphilosophie lässt sich Braidottis Kritik an der Tiefenökologie anführen, die auch die Strukturphilosophie tangiert. Braidotti (2014: 90) wendet sich darin gegen

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die „völlige Humanisierung der Umwelt“, die sie für eine „rückwärtsgewandte Tendenz“ hält, die an „die Gefühlskultur der europäischen Romantik“ erinnere. Rombachs (1988a: 162) „Humanismus der Natur“ und die expliziten Verweise auf die Romantik als „eine Art von Strukturdenken“ (1980: 280), insbesondere bei Erörterungen zur Natur (1993: 303–304, 1994a: 79), können analog interpretiert und beurteilt werden. Hinzu kommt eine aus kritisch-posthumanistischer Sicht höchst problematische affirmative Verwendung des Begriffs ‚Ursprung‘, der im Spätwerk Rombachs (1994a) sogar zum Terminus technicus wird. Zwar wird dort explizit ein nicht-essenzialistisches Ursprungsverständnis formuliert, aber die strukturontologische Dynamisierung dieses substanzontologischen Topos zu einem ‚Fahrzeug‘ der Ursprünglichkeit, das dem ‚menschlichen Menschen‘ als Mitfahrgelegenheit dient, um sich die „Tiefenstrukturen“ (1988a: 193) der Wirklichkeit zu erschließen, wo alles mit allem zusammenhängt und sich laufend autogenetisch steigert, erscheint selbst wiederum kritikwürdig. Was phänomenologisch seinen nachvollziehbaren Anhalt in der Erfahrung (kon-) kreativer Prozesse hat, erscheint ontologisch gewagt, wenn es als Schlüsselerfahrung der Wirklichkeit gedeutet wird. Gefährlich aber wird es, wenn daraus ein gesellschaftspolitisches Programm abgeleitet wird, das ganz auf die Eigendynamik von ökologisch-sozialen Prozessen und die ‚Meisterschaft‘ derer setzt, die diese ergebnisoffenen Vorgänge wecken und ‚stimmig‘ mitgestalten.13 Konsequenterweise deutet die Strukturphilosophie zwar auch Machtverhältnisse relational und prozessual (vgl. Rombach 1993: 391). Aber denjenigen, denen es gelingt, eine autogenetisch aufkommende Macht – wie einen Ritt auf der Welle – zu ‚meistern‘, kommt ein immenser sozialer und politischer Einfluss zu. Schon dort, wo diese Menschen Rombachs (ebd.: 129) Ideal entsprechen und die betreffende Strukturgenese nach deren eigenem Maßstab bemessen und sie auf diese Weise befördern, agieren sie paternalistisch, wenn sie anderen Prozessbeteiligten zeigen, wie ‚es‘ am besten für den Prozess und damit auch für sie verläuft. Angesichts des dafür erforderlichen Vertrauens ist darüber hinaus zu fragen, wie sich hier Manipulierungen und Instrumentalisierungen vermeiden lassen. Besonders prekär aber wird es dann, wenn das „Unternehmen Daedalus“ (ebd.: 397) scheitert.14 13

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„Die Natur geht nach keinem anderen Entwicklungsprinzip. Es wäre sehr ‚natürlich‘, würde sich der Mensch in seinen gesellschaftlichen Problemen daran halten. Findung statt Programm, Freiheit statt Prinzip, Genese statt Entwicklung, [eigenmaßstäbliche] ‚Ordnung‘ statt Ordnung. – Erlaubt ist, was geht“ (Rombach 1988b: 352–353). „Liegt in der Abhebung die ‚Größe‘ des Menschen, so liegt darin auch seine größte Gefahr, denn die Stimmigkeit kann auch nur eine scheinbare sein – und der ‚Weg‘ führt in die Irre. Wer aber die Irre fürchtet, richtet sich am besten in Systemen ein“ (Rombach 1988b: 100).

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Angesichts dieser ‚Drift‘ der Strukturphilosophie besteht die Versuchung, sie einseitig in eine Richtung zu interpretieren, die sie von der Nähe zu posthumanistischen Gedankengängen wegführt. Eine solche Lesart würde aber wichtige Aspekte übersehen. Womöglich kommt nämlich in den eben skizzierten und kritisierten Tendenzen bei Rombachs ‚menschlichem Menschen‘ nur besonders deutlich zum Vorschein, was sich überhaupt im kritischen Posthumanismus abzeichnet, wenn er gesellschaftlich wirksam wird. Zum anderen gerät bei der Fokussierung auf die Ursprungs-Rhetorik Rombachs die entscheidende Pointe der Strukturphilosophie aus dem Blick: Der Monismus, den Rombach artikuliert, zielt nicht auf die Vereinheitlichung, Totalisierung und Anonymisierung der vielen Einzelnen in einen alles mitreißenden und nivellierenden Prozess des großen Ganzen. Es handelt sich um einen Holismus, der die dichotomen Differenzen überwindet, um die vielfältigen „Sachen und Menschen und Stoffe zur Selbsttranszendenz zu befreien“ (ebd.: 392). „Struktur ist zwar eine Gestalt von Einheit, aber eine solche, die der Vielheit nicht widerspricht“ (Rombach 1965: 21). Die Strukturphilosophie intendiert daher eine „Ontologie der Jeweiligkeit“ (Rombach 1988b: 130). Sie ist ein Monismus mit pluralistischer Pointe. Daher gilt auch für sie, was Rombach im Anschluss an seine These von der ‚Multiverazität der Welten‘ und der ‚Pluralität der Vernunft‘ ausführt: „Für den Umbruch in eine neue Zeit ist […] die Preisgabe der Einheit der Vernunft unverzichtbar. Die Einsicht in die Pluralität der Vernunftkonzeptionen gelingt erst, wenn aus Positionen ‚Wege‘ geworden sind. […] Alle Wege führen über sich hinaus“ (Rombach 1993: 317–318).

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II. Kritischer Posthumanismus und seine Kritik

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Einführung

Auch vor dem Hintergrund der andauernden öffentlichen Debatte über den Wert, die Bedeutung und die Relevanz der Geisteswissenschaften oder Humanities, der gravierenden Haushaltskürzungen, denen sie sich durch die Politik in der gesamten demokratischen Welt ausgesetzt sehen – insbesondere mit Blick auf die Forschungsmittel – und einer eher negativen Berichterstattung in den Medien, würde ich nicht behaupten, dass sich die Humanities als solche in einer Krise befinden. Ganz im Gegenteil, wir erleben derzeit sogar eine explosionsartige Zunahme neuer Gelehrsamkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie ist eine Reaktion auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, zu denen vor allem die großen technologischen Fortschritte und die Dringlichkeit des Klimawandels zählen. Diese gleichzeitig auftretenden und sich überschneidenden Ereignisse bilden den Rahmen, den ich als posthumane Konvergenz (Braidotti 2019) beschrieben habe, und sie werfen Probleme auf, deren Behandlung jenseits der Zuständigkeit der klassischen Humanities liegt. Worum es also in Anbetracht der aktuellen Entwicklung und Ausweitung dieses Feldes gehen muss, ist die thematische sowie methodische Neubestimmung der Arbeitsbeziehungen zwischen den ‚drei Kulturen‘ der Geistes-, Sozial- und Biowissenschaften (Kagan 2009). Was mich eine ganze Zeit lang beschäftigt hat, ist die Frage, wie diese Perspektivverschiebung auch die gegenwärtigen Bemühungen um eine Neudefinition des Menschen stärker in den Fokus rückt, oder genauer, auf Basis welcher grundlegenden Bezugseinheit wir eigentlich definieren, was heutzutage als menschlich gilt (Braidotti 2014). Die Humanities sind durch die Komplexität dieser Frage noch unmittelbarer herausgefordert als die Sozialwissenschaften, insofern sie sich auf einen traditionellen Humanismus und einen unhinterfragten Anthropozentrismus stützen. Für Geisteswissenschaftler*innen war es nicht üblich, Fragen zu stellen wie: „Was meinen Sie mit Mensch/menschlich?“, „Sind wir Mensch/menschlich genug?“ oder „Was ist das Menschliche an den akademischen Humanities?“. Der Tradition und der Macht der Gewohnheit folgend, delegieren wir stattdessen alle wissenschaftlichen Diskussionen über den Anthropos an Anthropolog*innen und

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_006

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Biolog*innen, während wir uns in den Humanities auf die Menschheit als Kultur oder Zivilisation, als Gemeinwesen, als moralische Abstraktion und als soziale Struktur konzentrieren. Das Denken in Spezies gehört einem anderen disziplinären Bereich an. Insbesondere in der Philosophie ist das Nachdenken über den Menschen in einem klassischen dualistischen Rahmen gefangen. Identifiziert mit einer universalistischen Definition als „Man of Reason“ (Lloyd 1984)1, fällt der Mensch üblicherweise in ein Muster binärer Oppositionen, die ihn hauptsächlich durch das definieren, was er nicht ist. Das heißt: Der humanistische Mensch ist keine Frau, keine LGBTQ+-Person, kein Indigener, kein Tier – eher ein entfernter Cousin der höheren Primaten, der mit hochentwickelter Intelligenz und Selbstreflexivität ausgestattet ist –, und er ist auch kein Element der Erde, wie eine Pflanze oder ein Stein. Dieses Selbstverständnis des Menschen als mit kognitiven Fähigkeiten und einer universellen, sich selbst korrigierenden Vernunft ausgestattet, entstammt einer humanistischen Tradition, die den Menschen als das denkende Wesen par excellence definiert. Es ist das aus der Renaissance stammende Bild des vitruvianischen Menschen, das im Rahmen der Aufklärung und des damit verbundenen Projektes der Perfektionierung des Menschen durch Wissenschaft und technologische Entwicklung wieder aufgegriffen wird. Dieses für die westliche Moderne zentrale Projekt befeuert auch die koloniale Expansion der Europäer in der ganzen Welt. Ungeachtet seines Anspruchs auf Universalität sind dieses Menschenbild und damit das Projekt der Modernisierung sehr kultur- und geschlechtsspezifisch. Denn dieser „Man of Reason“ ist in erster Linie ein männlicher, europäischer, körperlich leistungsfähiger Bürger einer anerkannten sozialen Gruppe oder Nation. In meinen Arbeiten zur feministischen Philosophie (Braidotti 1994, 2002, 2006, 2011a) habe ich immer wieder betont, dass diese Vorstellung vom Menschen durch das, was sie ausschließt, ebenso definiert wird wie durch das, was in dieses Selbstverständnis einbezogen wird. Diejenigen, die von diesem Mensch-/Man-Sein ausgeschlossen werden, sind die sexualisierten (Frauen, LGBTQ+), rassifizierten (Indigene, Schwarze Menschen und People of Color, dekolonisierte Völker und Nichteuropäer) und naturalisierten (Tiere, Pflanzen, der Planet als Ganzes) „Anderen“, deren Menschlichkeit in Bezug auf das dominante Menschenmodell als mangelhaft angesehen oder gar vollständig geleugnet wird. Diese symbolischen Ausschlüsse und Disqualifikationen der entmenschlichten oder weniger-als-menschlichen Anderen sind keine Abstraktionen, sondern haben unmittelbare materielle und reale Auswirkungen auf 1 In der deutschen Übersetzung ist Genevieve Lloyds Werk 1985 unter dem Titel Das Patriarchat der Vernunft. „Männlich“ und „weiblich“ in der westlichen Philosophie erschienen.

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ihre empirischen Bezugspunkte: Sie schaffen Kategorien von Subjekten zweiter Klasse, disqualifizierte und marginalisierte Nicht-Bürger mit ungleichem bzw. geringerem sozialen Status. Frauen, LGBTQ+, Schwarze Menschen, People of Color und indigene Menschen sind nicht so menschlich, wie es das zum Maßstab genommene vorherrschende Menschenbild definiert. Die binären Gegensätze, mit denen dieses Menschenbild seinen Anspruch begründet, als universelle Bezugseinheit für den Menschen zu fungieren, sind wesentliche Kennzeichen von Macht und Beanspruchung. Sie funktionieren als Definitionen qua Negation. Meine Argumentation beruht auf der Annahme, dass dieses Menschenbild sowohl auf theoretischer als auch institutioneller Ebene in die Praxis der akademischen Humanities in Europa eingebaut ist. Der Humanismus und der Anthropozentrismus arbeiten zusammen, um dieses Menschenbild in den Humanities aufrechtzuerhalten und ganze Klassen und Kategorien von ent-menschlichten – sexualisierten und rassifizierten – „Anderen“ und nichtmenschlichen Entitäten oder „Dingen“ zu konstruieren. Dieser Schritt meiner Argumentation bekräftigt die oben formulierte Annahme, wonach „der Mensch“ kein neutraler Begriff ist, sondern vielmehr einer, der auf den Zugang zu Rechten, Ansprüchen, Bürgerschaft und Zugehörigkeit verweist. Indem ich den Universalismus zugunsten verkörperter und eingebetteter Verortungen ablehne, definiere ich den Zugang zum Menschen bzw. zum Menschlichen als eine machtgeladene Praxis, die sich auf den Wert und den sozio-symbolischen Status derjenigen Entitäten auswirkt, die sich entweder als menschlich qualifizieren oder nicht. Dieser Zugang hat somit schwerwiegende Konsequenzen im Hinblick auf die gelebten Erfahrungen, die Praktiken der Wissensproduktion und den allgemeinen Wert der verschiedenen Kategorien von Nicht-/Un-/Menschen. Diese Unterschiede betreffen Verortungen im Sinne eingebetteter und verkörperter Standorte, unterschiedlicher Beziehungsfähigkeiten, Kompetenzen und Intensitätsgrade (Braidotti 2019, 2022). Die Anerkennung einer Vielfalt von Verortungen führt nicht in irgendeinen Relativismus, sondern reflektiert vielmehr die verschiedenen, materiell lokalisierten Positionen. Ich lese diese mit der feministischen Methode der „Politik der Verortung“ und mit einem philosophischen Perspektivismus, der diese vielfältigen Standorte ebenfalls berücksichtigt (Braidotti 2022). Dieser Ansatz steht im Einklang mit der neomaterialistischen Politik der Immanenz. Der Perspektivismus ist ein Konzept, das Spinoza und Leibniz für die Philosophie fruchtbar machten und das feministische, schwarze, postkoloniale und indigene Denker*innen im Laufe der Jahre systematisch weiterentwickelt haben (Braidotti/Bignall 2019; Braidotti 2019). Die Unterschiede in den Verortungen und Machtansprüchen, die in den im Sinne des „Man of Reason“ praktizierten Begriff vom Menschen eingebaut sind,

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haben auch einen großen Einfluss auf die fortwährenden Ausformulierungen der posthumanen Verwicklung (posthuman predicament). Meine Aufgabe als kritische Posthumanistin besteht daher darin, auf die Risiken aufmerksam zu machen, die mit der Durchsetzung eines monoparadigmatischen Modells des Posthuman-Werdens verbunden sind. Dieser Ansatz ist nämlich zentral für das transhumanistische Modell, das eine analytische Form des Post-Anthropozentrismus mit einer neuerlichen Betonung des Humanismus verbindet und auf eine Vervollkommnung des Menschen durch technologische Eingriffe abzielt. Im Unterschied dazu vertrete ich einen kritischen posthumanen Ansatz, der eine Vielzahl von Möglichkeiten des Posthuman-Werdens vorschlägt und dabei die unterschiedlichen Verortungen der beteiligten Kategorien, Entitäten und Akteure berücksichtigt. Mein besonderes Interesse besteht darin, das Posthumane aus den Verortungen und Erfahrungen derjenigen heraus zu definieren, die von Anfang an nicht als vollständig menschlich angesehen wurden. Sodann möchte ich diesen perspektivistisch-materialistischen Ansatz auf die Analyse der zeitgenössischen Humanities ausweiten. Mit anderen Worten: Ich betrachte die posthumane Situation (posthuman condition) als eine Gelegenheit, den Geltungsbereich und die Interventionsmöglichkeiten der heutigen Humanities neu zu bewerten, und sie zu ermutigen, die überkommenen Repräsentationsgewohnheiten des Humanismus und Anthropozentrismus hinter sich zu lassen. Ich behaupte folglich, dass eine Begründung oder Verteidigung der akademischen Humanities heute nicht mehr von einer unhinterfragten Vorstellung vom Menschen als dem „Man of Reason“ der europäischen Aufklärung aus erfolgen kann. Wir können nicht einfach von der Zentralität und dem Exzeptionalismus des Menschen als dem denkenden Wesen ausgehen und die alten Dualitäten aufrechterhalten, die ihn von Nichteuropäer*innen, Tieren, Robotern und seltsamen Monstern trennen, von denen Descartes in seinen Meditationen noch besessen war. Die Zeiten haben sich geändert, und die Aktivität des Denkens wird heute in einer heterogenen Allianz mit Nicht-Menschen sowohl organischer als auch technologischer Art geteilt. Dies erfordert einige qualitative Veränderungen in den Forschungspraktiken der Humanities.

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Die posthumane Konvergenz

Ich habe die posthumane Situation als unsere historische Situation und nicht als eine zukünftige Dystopie definiert. Darin unterscheide ich mich bereits von den Transhumanist*innen, die das Posthumane als einen evolutionären Sprung

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in die Zukunft projizieren, den wir durch Human Enhancement-Programme erreichen können, welche wiederum von fortschrittlichen Technologien angetrieben werden (Bostrom 2014). Diese intensiven EnhancementBemühungen werden von den Transhumanist*innen gefordert, weil sie die verkörperten und eingebetteten kognitiven Fähigkeiten des Menschen als langsamer, wenn nicht gar als den von uns selbst geschaffenen Computernetzwerken unterlegen betrachten. KI und Kybernetik übertreffen den Menschen. Kennzeichnend für den Transhumanismus ist die Überzeugung, dass solche technologischen Manipulationen perfekt mit den Idealen der europäischen Aufklärung übereinstimmen und auch moralisch mit ihnen vereinbar sind, insbesondere in Hinblick auf die Vervollkommnung des Menschen durch technologische Vermittlung. Mit dieser Argumentation gelingt den Transhumanist*innen ein bemerkenswerter Kunstgriff: Sie verbinden eine analytische Form des Post-Anthropozentrismus – nämlich die Überzeugung, dass Technologien die Vormachtstellung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen verdrängt haben – mit einer normativen Form des Neo-Humanismus – nämlich der Überzeugung, dass technologische Weiterentwicklung für das Fortkommen und Gedeihen des Menschen von Nutzen sei. Darüber hinaus ist diese Mainstream-Version des Transhumanismus zu einem zentralen Bestandteil der forschungsgetriebenen Wissensökonomien unseres Systems geworden, das auch als kognitiver Kapitalismus (MoulierBoutang 2012) bezeichnet wird. Die eher opportunistische Kombination eines post-anthropozentrischen Bewusstseins dafür, dass der Mensch von Computernetzwerken überholt wurde, mit der Wiederbelebung des aufklärerischen Humanismus verleiht der wissenschaftlichen Rationalität eine neue Relevanz und Bedeutung. Das von Visionären wie Lovelock (2020) und prahlerischen Milliardären wie Elon Musk populär gemachte transhumanistische Credo ist heute maßgeblich für die Idee, dass der Mensch – definiert als der zeitgenössische „Man of Reason“ – durch KI, biogenetische und neuronale Eingriffe verbessert und aufgewertet werden muss. Transhumanist*innen neigen ferner dazu, den Planeten Erde als einen Ort zu betrachten, dessen natürliche Ressourcen erschöpft sind und der den unseren Globus beherrschenden Abbauökonomien nur noch wenig zu bieten hat. Folglich wurde die Erforschung des Weltraums von Musk, Bezos und Branson – als privates, aber an die NASA angeschlossenes Unterfangen – gefördert, um Menschen ins All zu schicken und auf anderen Planeten mit der Abbauökonomie zu beginnen. Technologisch verbesserte Menschen sind die neue Normalität und Cyborgs ihre wahrscheinlichsten – und oft widerspenstigen – Nachkommen (Haraway 1995). Im Gegensatz zu diesen wahnhaften Fluchtphantasien schlage ich vor, die posthumane Konvergenz als ein Merkmal unserer historischen Situation zu

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betrachten. Kritisches posthumanes Denken ist ein Navigationsinstrument, das durch die Komplexität der Gegenwart leitet und eine Form der affirmativen Ethik ist, nicht aber eine unheilbare Krise und auch kein Notfall im interventionistischen Sinne des Wortes (Braidotti 2014, 2019). Im Gegensatz zur opportunistischen Doppelsinnigkeit der transhumanistischen Position argumentiere ich, dass die posthumane Situation durch eine sich über die gesamte Bandbreite des kognitiven Kapitalismus hinweg vollziehende Konvergenz des Post-Humanismus auf der einen und des Post-Anthropozentrismus auf der anderen Seite gekennzeichnet ist. Entsprechend möchte ich die kritische Theorie in die Diskussion darüber einbringen, welche Art von Menschen wir im Rahmen dieser posthumanen Konvergenz im Begriff sind zu werden. Der Posthumanismus konzentriert sich auf die Kritik am humanistischen eurozentrischen Ideal des Menschen (Man) als vermeintlich universellem Maßstab aller Dinge, während der Post-Anthropozentrismus die SpeziesHierarchie und den menschlichen Exzeptionalismus kritisiert. Ich sehe nicht, wie sich das eine ohne das andere verschieben oder verändern kann. Trotzdem unterscheiden sich die Forschungsansätze, auch wenn sie beide interdisziplinär angelegt sind. Sie lassen sich unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Genealogien zuordnen, stehen mit verschiedenen sozialen Bewegungen in Zusammenhang und gehen also nicht zwangsläufig auseinander hervor. So haben beispielsweise kritische Bewegungen im Feminismus, in der Postcolonial Theory und der Critical Race Theory gezeigt, dass man zwar dem westlichen Humanismus durchaus kritisch gegenüberstehen, dabei aber dennoch anthropozentrisch ausgerichtet bleiben kann. Andere Protestbewegungen wie die Tierrechtsbewegung zeigen umgekehrt, dass man den Anthropozentrismus kritisieren und gleichzeitig die Notwendigkeit humanistischer Werte betonen kann. Ausmaß und Grad der Bereitschaft, Post-Humanismus und PostAnthropozentrismus zu kombinieren und zu dosieren, variieren also mit der eigenen Verortung und Perspektive. Die hieraus erwachsende Vielfalt ist eine der logischsten und produktivsten Konsequenzen des oben beschriebenen epistemologischen Perspektivismus. Konfrontiert mit den kapitalintensiven, die Menschen verdrängenden Praktiken des Transhumanismus, mit denen das Projekt der Aufklärung verwirklicht und ausgeweitet werden soll, möchte ich das Gegenangebot einer kritischen posthumanen Position machen. Indem ich den Fokus auf die Konvergenz und damit auf die untrennbare Verbindung von Technologie und Umweltzerstörung verlagere, möchte ich die Risiken und Bedrohungen, die sich aus unserer gegenwärtigen Verwicklung ergeben, in den Vordergrund rücken. Nicht um weitere Untergangsszenarien zu verbreiten, wie sie in unseren aufgewühlten

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sozialen Sphären ohnehin schon zur Genüge zirkulieren, sondern um die Notwendigkeit einer Ethik der Affirmation, verstanden im Sinne einer verteilten Fürsorge sowohl für die menschlichen als auch nicht-menschlichen Entitäten dieses Planeten, aufzuzeigen. Die posthumane Konvergenz ist weder ein linear verlaufender Prozess der Entfaltung von Phänomenen, die rationalen Prämissen folgen, noch die harmonische Synthese von Fleisch und Code, Menschen und Technologien, wie dies das transhumanistische Drehbuch vorsieht. Es handelt sich vielmehr um einen schwierigen Dialog oder sogar um einen Streit, der eine Erweiterung analytischer Fähigkeiten und kritischer Vorstellungskraft erfordert. Im Folgenden werde ich erörtern, inwieweit die posthumane Konvergenz gegenwärtig eine Reihe theoretischer, sozialer und politischer Effekte hervorbringt, die ihrerseits lebhafte und oft polemische öffentliche und akademische Debatten ausgelöst haben. In Theorie und Forschung der Humanities haben sie zu einem qualitativen Sprung in Richtung neuer konzeptioneller und methodischer Ansätze geführt. Ich werde später auf diese neuen Humanities zurückkommen. Doch zunächst möchte ich noch einmal den Aspekt der Konvergenz hervorheben, auch vor dem Hintergrund zunehmender Segregationsbewegungen, wie man sie heute in der Forschung, die sich stärker auf einzelne Zweige der posthumanen Verwicklung als auf deren Überschneidungen konzentriert, beobachten kann. So verlaufen beispielsweise die Forschungsarbeiten zu künstlicher Intelligenz und algorithmischer Kultur, zum Anthropozän und zur ökologischen Notlage, zur neuen politischen Ökonomie automatisierter Arbeit und zur Migration eher getrennt voneinander, Interaktion zwischen den verschiedenen Bereichen gibt es kaum. Unabhängig voneinander entwickeln sie unterschiedliche Zugänge zur posthumanen Situation, die ihre jeweilige Sicht auf die Interaktion von Menschen mit Nicht-Menschen widerspiegeln. Bei näherer Betrachtung wird außerdem deutlich, wie unterschiedlich auch die Prämissen sind, auf die sich diese Forschungsbereiche stützen, insbesondere in Hinblick auf ihre jeweilige Bestimmung des Menschen sowie der Mensch/ Nicht-Mensch-Interaktion. Nur sehr wenige von ihnen stellen die zentrale Bedeutung humanistischer Werte für die Definition und Praxis der akademischen Humanities offen in Frage. Insofern sehe ich die kategorischen Trennungen zwischen Studies zu Technologien, Umwelt, sozialer Gerechtigkeit, Geschlecht, race und zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung skeptisch; denn was wirklich zählt, sind die Interaktionen und die Resonanzen zwischen ihnen allen. Ihre Trennung wird der Komplexität der Phänomene, die sie zu untersuchen vorgeben, nicht gerecht und entkoppelt sie von den Strömungen des kognitiven

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Kapitalismus. Die posthumane Konvergenz sollte folglich in einem transdisziplinären Rahmen angegangen werden, der intersektionale und transversale Querverweise zwischen den oben genannten drei Kulturen begünstigt: den Geisteswissenschaften oder Humanities, den Sozial- und den Biowissenschaften. Das bedeutet auch, dass transdisziplinäre Forschung in den Humanities zur Teamarbeit werden muss und multidisziplinäre Arbeitsgruppen erforderlich macht, die sich gemeinsam den vielschichtigen Fragen, die die posthumane Verwicklung aufwirft, stellen können. Im letzten Teil meiner Argumentation konzentriere ich mich auf den Respekt vor der Vielfalt und Komplexität. Schließlich konfrontiert uns die posthumane Verwicklung mit einer grundlegenden Spannung: „Wir“ mögen den Bedrohungen und Herausforderungen des dritten Jahrtausends gemeinsam begegnen, aber „wir“ sind weder Eins noch Dasselbe. Wir Menschen sind in Bezug auf Macht, Recht und den Zugang zu den uns prägenden historischen Bedingungen sehr unterschiedlich positioniert. „Wir“ sind keine homogene, einheitliche, sondern vielmehr eine hochgradig komplexe und diverse Idee, die die vielfältigen Unterschiede der Verortungen und Perspektiven widerspiegelt, aus denen wir „uns“ zusammensetzen. Wir – die menschlichen und nicht-menschlichen Bewohner*innen dieses konkreten Planeten – befinden uns derzeit sowohl räumlich als auch zeitlich zwischen der vierten industriellen Revolution (Schwab 2017) und dem sechsten Sterben (Kolbert 2015). Wir leben, umgeben von fürsorglichen Robotern und Killerdrohnen, auf einem Planeten, dessen Ozeane mit Plastik und Müll erstickt werden und dessen Luft von toxischen Elementen vergiftet ist. Diese Bedingungen als widersprüchlich zu bezeichnen, beschreibt nicht einmal ansatzweise die Spannungen und Paradoxien, die sie hervorrufen. Das ist wahrlich Kapitalismus als Schizophrenie (Deleuze/Guattari 2005). Diese unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten zu verstehen, ist die Aufgabe der kritischen posthumanen Theorie. Die Herausforderung für die zeitgenössischen Humanities besteht indessen darin, Wege zu finden, mit diesen Problemen umzugehen, sie angemessen zu beschreiben und ein soziales Imaginäres (social imaginary) zu schaffen, das ihrer Komplexität gerecht wird.

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Ein anderes kritisches Klima

Eine häufig genannte Ursache für die derzeitige Verwicklung ist das Anthropozän, ein Neologismus, der das gegenwärtige Erdzeitalter als eine Epoche zu definieren sucht, in der die negativen Auswirkungen der Menschheit auf

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die Gesundheit und Zukunftsfähigkeit des Planeten ein empirisch messbares Niveau erreicht haben. Diese Auswirkungen sind vielschichtig, mobilisieren unsere multiplen – ökologischen, sozialen und psychologischen oder affektiven (Guattari 2019) – Ökologien und führen zu noch nie dagewesenen Problemen auf einer multiskalaren Ebene. Der Anthropozän-Begriff erregte zwar viel kritische Aufmerksamkeit, brachte aber keinen wissenschaftlichen Konsens unter den Erd- und Klimaforscher*innen. Ich vertrete den Standpunkt, dass die posthumane Situation den spezifischen Rahmen des Anthropozän-Begriffes – der in der Scientific Community nach wie vor beliebt, wenn auch umstritten ist – zwar einschließt, aber auch über ihn hinausgeht. Tatsächlich wird die Krise des Anthropozäns nämlich durch die Kombination des schnellen technologischen Fortschritts auf der einen und der Zunahme wirtschaftlicher wie sozialer Ungleichheiten auf der anderen Seite noch verschärft, was die Sache kompliziert, facetten- und konfliktreich werden lässt. In gewisser Weise geht der bloße Verweis auf das Anthropozän an der eigentlichen Frage vorbei. Darüber hinaus ist das Anthropozän, selbst als relativer Neologismus, bereits zu einem weiteren Anthropomeme (Macfarlane 2016) geworden und hat etliche alternative Begriffe hervorgebracht, wie etwa „Chthuluzän“ (Haraway 2018), „Capitalocene“ (Moore 2013), „Anthropo-scene“ (Lorimer 2017), „Anthrobscene“ (Parikka 2015a), „Plasticene“ (Times Editorial Board 2014), „Plantatiozän“ (Tsing 2019), „Misanthropocene“ (Clover/ Spahr 2014) etc. etc. Die terminologische Vitalität dieses Begriffs ist charakteristisch für die posthumane Verwicklung, insofern sie die schnell wechselnden und selbst-replizierenden Denkgewohnheiten und die diskursive Ökonomie einer forschungsgetriebenen Informationsökonomie widerspiegelt. Der kognitive Kapitalismus schreitet schnell voran und zerstört dabei, wie der gleichlautende Facebook-Slogan „Move fast and break things“ verdeutlicht. Dieser epistemische Akzelerationismus drückt auch die Aufregung und Verzweiflung aus, die mit dem Versuch verbunden sind, die posthumane Verwicklung innerhalb des anthropozentrischen Rahmens zu erfassen. An jedem einzelnen Punkt der Argumentation scheint mehr Komplexität erforderlich zu sein. Ich schlage daher vor, den Blick auf das Anthropozän im Rahmen der posthumanen Verwicklung zu weiten, und zwar durch die Konzentration auf die Frage nach der Subjektivität: Zu welcher Art von Subjekten werden wir in diesem Kontext? Da „wir“ uns in unseren materiell eingebetteten Positionen im Hinblick auf Macht/Zugang/Recht unterscheiden, erleben „wir“ das Anthropozän auf dramatisch unterschiedliche Weise. Wohlstand, Klasse, Alter, race und Ethnizität, Geschlecht und Sexualität, Gesundheit und physische

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Leistungsfähigkeit beeinflussen unser Verhältnis zur Aussicht auf ein technologisches Enhancement wie auch zum Schreckgespenst des Massensterbens – der Menschen und Nicht-Menschen. An diesem Punkt der Argumentation muss ich den Standpunkt ein wenig verschieben und einige weitere feministische Theorien, kritische Race-Theorien und indigene Theorien einführen, um den Punkt der vielfältigen unterschiedlichen Verortungen und des Perspektivismus noch weiter zu verkomplizieren. Einigen Wissenschaftler*innen aus der südlichen Hemisphäre erscheint die apokalyptische Vision anthropozäner Katastrophen wie eine massive Panikattacke einer weißen, anthropozentrisch orientierten, im Norden lebenden Mittelschicht, die mit solchen Gefahren nicht vertraut ist (Danowski/Viveiros de Castro 2017). Indigene und dekolonisierte Bevölkerungsgruppen hingegen haben in der Vergangenheit reichlich Erfahrung mit sozialer und ökologischer Zerstörung gemacht, wie sie der europäische Kolonialismus mit sich gebracht hat (Rose 2004; Viveiros de Castro 2015; Todd 2015). Sie lehnen sich gegen die Verallgemeinerung dieses Themas auf und fordern angemessenere analytische Kategorien. In eine ähnliche Richtung gehen Ökolog*innen, Vertreter*innen des Ecocriticism, Ökofeminist*innen (Plumwood 1994, 2002) sowie materialistisch orientierte Ökofeminist*innen (Alaimo 2010), die vor allem betonen, dass das Massensterben ein planetarisches Problem ist, das alle Bewohner*innen des Planeten betrifft, einschließlich großer Teile der nicht-menschlichen Bevölkerung: Fische, Bienen, Tiere, Pflanzen, Bakterien und Viren (Gaard 2011). Sie nehmen ferner die Exzesse des kapitalistischen Konsums und des possessiven Individualismus – von Plastik-Einkaufstüten bis zum Plastikgeld des kreditwütigen Kapitals – als Schlüsselfaktoren der Umweltzerstörung in den Blick. Die posthumane Konvergenz ermutigt kritische Denker*innen dazu, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit ganz unterschiedlichen Zugängen zu thematisieren und zu untersuchen, was uns in dieser Notlage zusammenhält, macht sie aber gleichzeitig auch zu potentiellen Agent*innen einer Lösung der Krise. Und dabei müssen wir uns immer wieder die entscheidende Frage stellen, namentlich inwieweit „wir“ behaupten können, uns gemeinsam in dieser Verwicklung zu befinden. Noch klarer treten diese Unterschiede zutage, wenn wir uns die damit verbundenen Emotionen anschauen. Das allgemeine gesellschaftliche Klima ist von einer diffusen Form der Melancholie durchdrungen. Die posthumane Situation bewirkt Stimmungsschwankungen: Momente der Euphorie beim Gedanken an die erstaunlichen technologischen Fortschritte, die „wir“ erzielen, wechseln sich ab mit Phasen der Angst angesichts des überaus hohen Preises, den „wir“ – Menschen wie Nicht-Menschen – für diese Veränderungen zahlen.

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Wir befinden uns in einer Lage, in der wir gleichzeitig über den unbegrenzten technologischen Fortschritt und die Beschleunigung des Massensterbens unendlich vieler Arten sowie die Erschöpfung irdischer Ressourcen nachdenken müssen. Kein Wunder, dass unsere psychische Gesundheit leidet und Depressionen ein Merkmal unseres Zeitalters geworden sind, das angesichts des hohen Konsums von Psychopharmaka zur Regulierung unserer Stimmungen und zur Bewältigung unserer Ängste auch als „narcocapitalism“ (de Sutter 2018) bezeichnet wird. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften bilden diese Stimmungen, Ängste und Sehnsüchte einen attraktiven Markt für eine andere wichtige gesellschaftliche Dynamik: die kulturelle Maschinerie des ‚Info-tainment‘. Filme, Fernsehserien, Live-Streaming-Events und Streaming-Dienste entwerfen Szenarien, die das Ende der Welt, das Aussterben unserer Spezies, die Invasion durch Außerirdische und andere Aspekte dessen darstellen, was ich das ,Imaginäre der Katastrophe‘ nennen würde. Die Apokalypse ist ein einträgliches Geschäft, und viele Unterhaltungsindustrien sind bereit, diese Situation auszunutzen. Die Darstellung dessen, was früher einmal Science-Fiction war, ist zu einem alltäglichen Ereignis geworden, über das in den Zeitungen berichtet wird, wobei sich Nachrichten über einen zerfallenden Planeten und aussterbende Arten in ein Spektakel verwandeln. Mitunter übertrifft unsere gesellschaftliche Realität mit ihren immer tiefer werdenden sozialen Klüften, Pandemien und grausamen Kriegen die Fiktion an Grausamkeit und Schmerz. Kein Wunder also, dass vielen kritischen Stimmen der Enthusiasmus für die posthumane Verwicklung fehlt und sie sich stattdessen einer Wissenschaft der Angst verschreiben. Soziale Denker*innen mit unterschiedlichem politischem Hintergrund wie etwa Habermas (2001), Fukuyama (2004), Sloterdijk (1999) und Derrida (in Borradori et al. 2004) haben ihre an moralische Panik grenzende Besorgnis über den prekären Status des Menschen in unserer fortgeschrittenen technologischen Zeit zum Ausdruck gebracht. Unlängst hat sich auch Papst Franziskus (2015) in diese Debatte eingeschaltet und das katholische Dogma über das Naturrecht durch Naomi Kleins Analyse der zerstörerischen Rolle des Kapitalismus ergänzt (Klein 2014). Obwohl ich die ethische Sorge um die Zukunft meiner Spezies teile, unterscheidet sich mein theoretisches Argument von dieser humanistischen Panik: Es ist zwar nicht zu leugnen, dass die technischen Geräte heutzutage sehr lebendig, die Menschen dagegen ziemlich reglos sind (Haraway 1995), doch die Technologie ist nicht der Feind. Die Erkenntnisse der posthumanen Forschung zeigen, dass das, was mit uns geschieht, nicht nur eine ‚Krise‘ ist, sondern auch eine bemerkenswerte Gelegenheit und eine Quelle der Inspiration.

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Der Überschwang ‚kritischer‘ Studies

Im Folgenden möchte ich erörtern, wie der Posthumanismus als dynamisches, kreatives Konvergenzphänomen neue Bereiche wissenschaftlicher Beschäftigung entstehen lässt. Das überbordende Wachstum konzentriert sich auf eine Reihe kreativer transdisziplinärer Zentren, die wiederum ihre eigenen außerdisziplinären Ableger hervorgebracht haben. Sie decken sich nur selten mit den traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und werden ihrerseits von oft radikalen, stets interdisziplinären und marginalen Wissensgebieten angetrieben, die sich selbst „Studies“ nennen (Braidotti 2014). Women’s, Gay and Lesbian, Gender, Feminist und Queer Studies, Race, Postcolonial und Subaltern Studies, Cultural Studies, Film, Television und Media Studies sowie Science and Technology Studies sind Prototypen radikaler Epistemologien, die das situierte Wissen dialektisch und strukturell „Anderer“ – sexualisierter und rassifizierter Anderer – des humanistischen Menschen (Man) zum Vorschein gebracht haben. Auch die Feminist Health (Shildrick 2009) und Disability Studies (Braidotti/Roets 2012; Goodley et al. 2014), Cultural Studies of Technology and Media (Bryld/Lykke 2000; Smelik/Lykke 2008) und Topologies of Culture and Digital Media (Lury et al. 2012; Fuller/Goffey 2012; Parisi 2013) gehören zu diesen kritischen Studies. Sie richten ihre Kritik auf das von den akademischen Humanites implizit vertretene Menschenbild, das auf dem doppelten Fundament eines strukturellen Anthropozentrismus und eines intrinsischen Eurozentrismus fußt. Indem sie das Ende der Monocultures of the Mind (Shiva 1993) verkünden, stellen sie auch die methodischen Konventionen und institutionellen Protokolle der akademischen Disziplinen in Frage. Weiter sind diese Studies fest in der Gegenwart verankert, was bedeutet, dass sie die Vorgänge des realen Lebens und damit auch die Kategorie der Macht ernst nehmen. Sie sind bereit, die Vereinbarkeit von Rationalität und Gewalt, von wissenschaftlichem Fortschritt und Praktiken der strukturellen Ausgrenzung offenzulegen (Said 2009) und erfüllen die kartografische Verpflichtung, sowohl kritisch zu sein, nämlich gegenüber den vorherrschenden Vorstellungen von wissenden Subjekten, als auch kreativ, indem sie sich auf die virtuellen und nicht realisierten Erkenntnisse und Kompetenzen marginalisierter Subjekte richten (Braidotti 2002, 2006). Doch wandten sich die Studies nicht einfach nur gegen den Humanismus, sie boten teils auch alternative Vorstellungen vom humanistischem Selbst sowie von Wissen und Gesellschaft. Begriffe wie female/feminist humanity (Irigaray 1993) und black humanity (Fanon 2015) gehören zur Tradition eines inklusiven Humanismus (Braidotti/ Gilroy 2016).

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Der Fall der Women’s und Gender Studies steht sinnbildlich sowohl für die kritische Ausrichtung als auch den kreativen Überschwang einer posthumanen Befreiung von den vorherrschenden Vorstellungen vom wissenden Subjekt. Der zeitgenössische Feminismus propagierte einen konzertierten Ausstieg aus dem Regime des Man oder Anthropos, definiert als eine Spezies, die das Zugangsrecht zu den Körpern aller Lebewesen monopolisiert. Insbesondere Ökofeminist*innen verstanden sich stets als geo-zentriert und postanthropozentrisch. Die feministische Literatur ist von einem tiefen Gefühl durchdrungen, nicht dazu zu gehören oder „outsiders within“ (Woolf 1978) zu sein. Seit den 1970er Jahren begründeten Feminist*innen (Kristeva 1980; Barr 1987, 1993; Haraway 1992; Creed 1993) eine imaginäre politische Allianz mit der techno-teratologischen Welt (Braidotti 2002) des Science-Fiction-HorrorGenres. Diese Allianz zielt auf die Auflehnung der Frauen – als die Anderen des Man – und anderer „Anderer“, wie LGBTQ+, Nicht-Weiße (postkoloniale, schwarze, jüdische, indigene und native Subjekte) und Nicht-Menschen (Tiere, Insekten, Pflanzen, Bäume, Viren, Pilze, Bakterien und technische Automaten). Seitdem ist die empathische Verbindung zu Nicht-Menschen, einschließlich monströser und fremdartiger Anderer, zu einem posthumanen feministischen Topos geworden (Braidotti 2002; Creed 2009). Feminist*innen und LGBTQ+ (Hird/Roberts 2011; Gruen/Weil 2012), die sich nie ganz sicher sein konnten, welche Menschenrechte ihrem Geschlecht zuerkannt werden (MacKinnon 2007), haben jede Gelegenheit ergriffen, aus dem binären Geschlechtersystem auszusteigen und den Sprung zu posthumanen Formierungen zu wagen (Balsamo 1996; Halberstam/Livingston 1995; Halberstam 2012; Giffney/Hird 2008; Livingston/Puar 2011; Colebrook 2014). Spezies übergreifende Allianzen ermöglichen Experimente mit sexueller Vielfalt, alternativen Sexualitäten und Geschlechtersystemen nach dem Vorbild der Morphologie nicht-menschlicher Arten, darunter Insekten (Braidotti 2011a, 2002; Grosz 1995), Seesterne (Hayward 2008) und Mikroorganismen (Parisi 2004). Schon die überwältigende Fülle an Referenzen, die meine vorliegende Bibliografie sprengen würde, macht deutlich, dass die zeitgenössische feministische Theorie produktiv posthuman ist.2 Die Abgrenzung von Man/Anthropos erfolgte über mehrere Generationen entlang der Achsen eines becoming-woman/LGBTQ+ (Sexualisierung), becoming-indigenous/other (Rassifizierung) und becoming-earth (Ökologisierung). Die starke Zunahme der Neologismen ist bezeichnend: Wenn wir jetzt zu „humanimals“, transkorporalen Mensch-Tier-Verbindungen 2 Für einen Überblick siehe Rosi Braidotti, Posthuman Feminism (2022).

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(Alaimo 2010) oder „trans-speciated selves“ (Hayward 2008) geworden sind, dann bedeutet das, dass auch die Erde und ihr Kosmos zu einer politischen Arena geworden sind. Dieses öko-planetarische Verständnis und die Beziehung zum nicht-menschlichen Leben (zoe) werden durch eine hochtechnologische Vermittlung, die das digitale Leben zu einer zweiten Natur macht, noch verstärkt. Unter der Annahme, dass es zwar keine ursprüngliche Humanität (Kirby 2011: 233), wohl aber eine ursprüngliche Technizität (Mackenzie 2002) gibt, haben sich die früheren Naturkulturen zu Medianaturen (Parikka 2015b) und trans-medialen Praktiken (King 2011) entwickelt. Ein medien-ökologisches Kontinuum (Fuller 2005, 2008) kann dabei die Etablierung einer allgemeinen Ökologie (Hörl 2013) unterstützen, die nicht irgendeine Form von Materialität, sondern einen geologischen (Parikka 2015b) und terrestrischen Materialismus (Braidotti 2006; Protevi 2013) in den Vordergrund stellt. Aber nochmals: Eine Reihe dieser Studies stellen sich nicht gegen den Humanismus, um den Posthumanismus zu umarmen, sondern vertreten vielmehr einen inklusiven Humanismus. Viele von ihnen – wenn auch bei weitem nicht alle – wurden durch die einschneidenden philosophischen, sprachlichen, kulturellen und textuellen Neuerungen aktiviert und vorangetrieben, die von der französischen poststrukturalistischen Generation seit den 1970er Jahren eingebracht wurden und die auch dem posthumanen Impuls alternative Perspektiven und Inspirationsquellen lieferten. Die kreative Mehrung der Studies ist zudem ein geografisch ungleich verteiltes institutionelles Phänomen. Die konfligierende und widersprüchliche Rezeption der Studies im Zuge der theory wars in den USA der 1990er Jahre fiel nicht nur mit dem Aufstieg der politischen Rechten zusammen, dessen Folgen wir heute alle erleben, sondern auch mit dem Aufstieg der digitalen Kultur, des bio-genetischen und des kognitiven Kapitalismus. Dies führte auch zu einer tiefgreifenden Transformation der universitären Struktur und ihrer Integration in die neoliberale Ökonomie, was neue Klassen akademischer Stars und des akademischen „Prekariats“ hervorbrachte (dieser Neologismus verbindet bekanntermaßen „prekär“ mit „Proletariat“ und bezeichnet die unterste soziale Schicht im fortgeschrittenen Kapitalismus). Mehr noch als damals sind heute affirmative kritische Stimmen gefragt, die kreative Alternativen bereitstellen. Die Studies jedenfalls florierten und wuchsen nicht nur quantitativ, was man auch kritisch als Fragmentierung und Identitätspolitik betrachten kann, sondern boten eben auch qualitative Perspektivverschiebungen an. Die Ausbreitung der Studies beschleunigte sich im Zuge des posthuman turn im Anthropozän und der wachsenden Kritik am Man/Anthropos. Der

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anthropozentrische Kern der Humanities wurde dabei auch durch die Omnipräsenz technologischer Vermittlung und durch die Kapitalisierung des Lebens durch Data Mining in Frage gestellt. Für die Humanities ist die Dezentrierung anthropozentrischer Denkmuster allerdings besonders schwierig, insofern hierdurch terrestrische, planetarische und kosmische Belange sowie die konventionell naturalisierten Anderen, Tiere, Pflanzen wie auch der technologische Apparat als ernstzunehmende Akteure und Ko-Konstrukteure des kollektiven Denkens und Wissens positioniert werden. In den letzten 15 Jahren hat sich eine zweite Generation der Studies herausgebildet, die zwar im Hinblick auf ihre kritischen Ziele, ihre politische Wirkung und ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit der ersten Generation verpflichtet sind, sich aber gleichzeitig direkter mit dem Problem des Anthropozentrismus auseinandersetzen; zu diesen zählen beispielweise die Posthuman/Inhuman/Non-human Studies, die Posthuman Disability Studies, Fat and Diet, Sleep, Fashion, Celebrity und Success Studies. Besonders hervorzuheben sind zudem der Ecocriticism, die Animal Studies, die Critical Plant Studies etc. Auch die neuen Medien haben sich in Unterabteilungen und MetaFelder für nicht-menschliche Studienobjekte verwandelt: Software, Internet, Game, Algorithmic und Critical Code Studies sowie viele andere. Ein verwandter und ebenso produktiver Bereich der posthumanen Forschung befasst sich mit den unmenschlichen Aspekten unserer historischen Situation, so etwa die Conflict and Peace Research Studies, Post-Soviet/Communist Studies, Human Rights Studies, Humanitarian Management, Migration, Mobility Studies, Trauma, Memory and Reconciliation Studies, Security Studies, Death and Suicide Studies und Extinction Studies – und die Liste wird immer länger. Diese aufeinander folgenden Generationen der StudiesBereiche sind sowohl institutionell als auch theoretisch der Motor für Kritik und Kreativität. Ich werde im Folgenden erörtern, dass sie sich gegenwärtig nomadisch befruchten und neue diskursive Praktiken hervorbringen, die ich die Nomadischen oder Kritischen Posthumanities nenne.

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Auf dem Weg zu den Kritischen Posthumanities

In den letzten 15 Jahren sind die Kritischen Posthumanities als post-disziplinäre diskursive Fronten nicht nur an den Rändern der klassischen Disziplinen, sondern auch als Ableger der schon etablierten kritischen Studies entstanden. Zu diesen gehören: die Ecological Humanities, Environmental Humanities – unterteilt in Green (Erde) und Blue (Meere) Humanities, Sustainable Humanities,

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Interactive Humanities und Organic Humanities. Daneben finden sich die Medical Humanities, Bio-Humanities, Neural-Evolutionary Humanities und weiter die Public Humanities, Community Humanities, Resilient Humanities, Civic Humanities usw. Diese erhebliche terminologische Diversifizierung des Fachgebiets ist durchaus aufschlussreich. Die Humanities werden derzeit als Inhuman Humanities (Grosz 2011), Digital (Hayles 1999, 2005), Environmental, Transformative (Epstein 2012), Emerging, Adjectival (De Graef 2016) und Nomadic Humanities (Stimpson 2016) vertreten. Das gleichermaßen innovative wie disruptive Phänomen der Kritischen Posthumanities stellt einerseits Alternativen zur neoliberalen Governance des von Quantifizierung und Monetarisierung beherrschten akademischen Wissens dar und bedeutet zugleich eine Neuverhandlung seiner Entstehungsbedingungen. Diese neuen Diskurse sind keineswegs ein Symptom der Krise und Zersplitterung, sondern ein Zeichen großer Vitalität und Innovation dieses Feldes. Mit Blick auf die Inhalte und die Forschungsenergie gibt es keine Krise der Humanities, und die Posthumanities eröffnen ihnen neue posthumanistische und post-anthropozentrische Dimensionen. Und – für meine materialistische kartografische Methode entscheidend – diese Entwicklungen sind empirisch nachweisbar; sie sind bereits da. Zudem ist es nicht besonders geistreich, die ständige Verbreitung neuer Diskurse als bloßen Ausdruck von Relativismus, ganz zu schweigen der allseits verachteten Postmoderne zu betrachten. Und auch wenn das verlockend sein mag – es ist trügerisch, das schnelle Wachstum der Kritischen Posthumanities als sich selbst generierend zu begreifen. Die Tatsache, dass sich die rhizomatische, netzartige Wissensproduktion, wie sie durch das Internet unterstützt wird, viral verbreitet, heißt nicht, sie geschehe impulsiv. Die zeitgenössischen Kritischen Posthumanities sind vielmehr das Ergebnis der harten Arbeit von Denker*innen-, Wissenschaftler*innen- und Aktivist*innen-Gemeinschaften – alternativer kollektiver Assemblagen –, die nicht allein die missing links in der akademischen Wissenspraxis wiederherstellen: Es ist eine kollektive Praxis, die die missing people (das fehlende Volk) konstituiert. Mein Punkt ist, dass die missing people heute eine Antwort auf die Frage geben, wie sich die Humanities im posthumanen Zeitalter nach dem Niedergang der Vorrangstellung des universalistischen Man und des suprematistischen Anthropos entwickeln können. Sie bereiten den Boden für die Kritischen Posthumanities, und ich unterstütze sie mit einer vital-materialistischen Philosophie des Werdens. Diese geht von nomadischen, eingebetteten, verkörperten und technologisch vermittelten Subjekten aus (Braidotti 2011b)

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sowie von komplexen Assemblagen menschlicher und nicht-menschlicher, planetarischer und kosmischer, gegebener, aber auch gemachter Kräfte. Dieser zoe-zentrierte Rahmen wird erweitert durch die Analyse der Machtverhältnisse und der sozialen Formen von Ausgrenzung und Dominanz, die durch die gegenwärtige Weltordnung der Biopiraterie (Shiva 2002), der „Nekropolitik“ (Mbembe 2011) und der systemischen Enteignung (Sassen 2015) aufrechterhalten werden. Die Kritischen Posthumanities gehen davon aus, dass das wissende Subjekt weder Homo Universalis noch Anthropos ist, sondern ein komplexeres – verkörpertes und eingebettetes, nicht-einheitliches, aber relationales und affektives – Subjekt, das kollaborativ mit einem materiellen Netz menschlicher und nicht-menschlicher Akteure verbunden ist: Das Subjekt des Wissens ist zoe/geo/techno-vermittelt. Die Themen und Forschungsgegenstände der Humanities gehen mittlerweile über den Man und seine anthropomorphen Mitmenschen hinaus. Die Erforschung menschlicher Vielfalt wird ergänzt durch Animal Studies, Ecound Geo-Criticism, man entdeckt zudem Forschungsgegenstände wie Wälder, Pilze, Bakterien, Staub und bio-hydro-solar-technische Kräfte. Wir haben Konzepte wie Meta-Objekte und Hypersea sowie Studien über human/ima, und Algorithmen beflügeln die Phantasie unserer Studierenden. Es geht in den Posthumanities aber nicht nur um die Erschließung neuer Untersuchungsgegenstände – es ereignen sich vielmehr Veränderungen auch auf der konzeptionellen und methodischen Ebene. Diese Diskurse greifen den vitalen Materialismus auf, die Leben schaffenden Fähigkeiten organischer Entitäten, aber auch anorganischer Apparate, und lehren uns, über die vitalistische Immanenz nicht-anthropomorpher Lebenssysteme nachzudenken. Die posthumane Wissenschaft feiert die Vielfalt zoes, also des nicht-menschlichen Lebens, in einer nicht-hierarchischen Weise und erkennt die jeweiligen Grade an Intelligenz, Fähigkeit und Kreativität aller Organismen an. Es geht nicht um eine ‚flache Ontologie‘, sondern um ein materiell eingebettetes, differenziertes System innerhalb einer geteilten Materie. Dies impliziert, dass Denken und Wissen nicht allein das Privileg des Menschen sind, sondern sich in der Welt ereignen, die der terrestrische, fundierende Ort für eine Vielfalt denkender Arten und Computernetzwerke ist – wir sind alle „öko-sophisch“ miteinander verbunden, wie Guattari (2019) argumentiert. Das auffallend Neue an den Kritischen Posthumanities ist ihr ‚supradisziplinärer‘ Charakter, d.  h. ihre relationale Offenheit anderen Diskursen gegenüber, einschließlich der inspirierenden Kraft eines grundlegenden Dissenses. Sie gedeihen in dem Grade, in dem sie die Fähigkeit und

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Bereitschaft zeigen, weiterzugehen und auf Basis supra-disziplinärer Sensibilität Bewegungen in Richtung eines qualitativ neuen Ansatzes in Gang zu setzen. Dies alles meint eine nomadische Verschiebung hin zu den Kritischen Posthumanities.

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Die missing people

Die letzte Stufe meiner Argumentation soll zeigen, wie die Kritischen Posthumanities wieder deterritorialisiert und zum Aufbruch zu neuen Horizonten gebracht werden können. Dieses Argument beginnt mit der Annahme, dass neue Entwicklungen nicht automatisch die Rückkehr von Mustern der Exklusion verhindern. Was sagt es also über die zeitgenössischen Posthumanities, dass nur wenige Institutionen Feminist/Queer/Migrant/Poor/DeColonial/Diasporic/Diseased/Otherwise enabled Humanities aufgenommen haben? Die Geschwindigkeit der Deterritorialisierung dieser kleinen Wissensgebiete ist eindeutig von einer ganz anderen Größenordnung als die epistemische Beschleunigung, wie sie von der akademischen Mehrheit vorangetrieben wird. Der kognitive Kapitalismus kann oder will sich diese minderheitlichen Forschungsgebiete nicht im selben Maße zu eigen machen, wie er das mit den nutzbringenderen Bereichen tut. Im Rückblick zeigt sich, dass alle möglichen Arten von Communities bislang gefehlt haben. Ob wir nun Frauen und LGBTQ+, indigene Wissenssysteme, Queers, Otherwise enabled, Trailer-Parks, Nicht-Menschen oder technologisch vermittelte Existenzen betrachten, es handelt sich um reale Subjekte, deren Wissen es nie in eine der offiziellen Kartografien geschafft hat. Ihr Kampf um Sichtbarkeit und darum, in Erscheinung zu treten, betrifft auch das Wissen, das sie zu generieren in der Lage sind. Die anderen missing people sind virtuelle Existenzen, die nur als Ergebnis neuer Allianzen im Rahmen einer neomaterialistischen Praxis der Affirmation in Erscheinung treten können, die auf die Konstruktion einer Ebene der Begegnung abzielt, auf der solche Versammlungen möglich werden. Dies erfordert affirmative relationale Bündnisse von hoher Subtilität und Komplexität. Sie müssen über Identitätsansprüche hinausgehen, nicht im Sinne ihrer Verleugnung, sondern vielmehr im Sinne ihrer Ausdehnung auf diversifizierte, eingebettete und verkörperte materialistische Plattformen unterschiedlicher missing people. Glücklicherweise liefert die rhizomatische Energie des Feldes bereits Antworten: Die Stärke minoritärer Subjekte besteht in ihrer Fähigkeit, alternative Formen des Werdens sowie transversale Beziehungen zu verwirklichen, die

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segregative Muster aufbrechen. Es entstehen neue Grenzüberschreitungen, die darauf abzielen, virtuelles Wissen und virtuelle Visionen dieser missing people zu aktualisieren. So wurden beispielsweise seit Rob Nixons bahnbrechendem Werk über Slow Violence (2011) die fehlenden Verbindungen zwischen postkolonialen Theorien, den Environmental Humanities und indigenen Epistemologien aufgedeckt und analysiert, was eine zunehmende Annäherung zwischen ihnen zur Folge hatte. Auf der Ebene der politischen Ökonomie der Posthumanities führen solche Grenzüberschreitungen zur Entstehung neuer Forschungsbereiche, die sich mit der Konvergenz, die den posthuman turn begründet, verschränken. Hierzu zählen etwa die Indigenous Environmental und Digital Humanities, Postcolonial Green, Decolonial Futures of Digital Media, Transnational Environmental Literary Studies, queere Neo-Humanismen, indigenes Wissen und indigene Kosmologien. Ähnliche Entwicklungen sind im Gange, die fehlende Verbindungen in den Digital Humanities schaffen. So betrachten Ponzanesi und Leurs (2014), die sich auf die Arbeit von Pionier*innen wie Lisa Nakamura (2002) stützen, die Postcolonial Digital Humanities als inzwischen vollständig konstituiertes Feld, wobei digitale Medien die umfassendste Plattform böten, transnationale Räume und Kontexte neu zu denken. Mignolos dekoloniale Bewegung hat neue Allianzen zwischen Umweltschützer*innen und Jurist*innen, indigenen und nicht-westlichen Epistemologien, First-Nation-Völkern, New-Media-Aktivist*innen, IT-Ingenieur*innen und Globalisierungsgegner*innen geschmiedet, die die Decolonial Digital Humanities hervorgebracht haben. Entlang der Konvergenz von Posthumanismus und Post-Anthropozentrismus bilden sich verschiedene Assemblagen, die auch die sozialen, ethischen und politischen Dimensionen einbeziehen. Sie resultieren aus einem Zusammentreffen von Feminist Studies, LGBTQ+ Studies und Gender Studies, Postcolonial, De-Colonial und Indigenous Studies, Critical Legal Studies, Medienaktivist*innen, Hacker*innen sowie First National Land Rights-Aktivist*innen, das sowohl die Critical Environmental Humanities als auch die Digital Posthumanities verändert. Diese Assemblagen sind so vielfältig wie ihre gelebte Erfahrung und bringen ihrerseits neue Forschungsbereiche wie die transnationalen Postcolonial Environmental Justice und Postcolonial Environmental Humanities.

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Affirmative Ethik

Diese neuen Prozesse der Wissensbildung bringen auch ein neues kollektives Subjekt hervor, eine Art „we“-are-in-this-together-but-we-are-not-one-and-

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the-same-Subjekt. Dies kann als ein Prozess des Werdens in seiner eigenen Immanenz und nicht in binären, oppositionellen Begriffen verstanden werden. Es handelt sich um eine innerlich gebrochene Subjektivität, die nicht ineinssetzt oder vereinheitlicht, die geerdet, aber in Bewegung ist und die gegenüber den beträchtlichen Möglichkeiten wie auch gegenüber den gegenwärtigen Ungerechtigkeiten und Bedrohungen eine entschlossen kritische und kreative Haltung einnimmt. Dieses materiell eingebettete differenzielle „Wir“ verwirklicht sich in einem Prozess des Anders-Werdens-als der Homo Universalis des Humanismus oder als der Anthropos des Anthropozentrismus. Um die Bestrebungen zur Konstruktion eines solch heterogenen Subjekts zu stützen, benötigen wir subtilere und diversifiziertere Positionen, die mono-paradigmatische Ansätze vermeiden und das Menschsein sowohl als verletzliche als auch aufrührerische Kategorie des Werdens begreifen. Der verbindende Wert, den ich zur Unterstützung dieser Bemühungen vorgeschlagen habe, ist eine affirmative Ethik.

Literatur Alaimo, Stacy (2010): Bodily Natures. Science, Environment, and the Material Self. Bloomington: Indiana University Press. Balsamo, Anne M. (1996): Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women. Durham u. a.: Duke University Press. Barr, Marleen (1987): Alien to Femininity. Speculative Fiction and Feminist Theory. New York u. a.: Greenwood Press. Borradori, Giovanna/Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen (Hg.) (2004): Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Berlin/Wien: Philo. Bostrom, Nick (2014): Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution. Berlin: Suhrkamp. Braidotti, Rosi (1994): Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press. Braidotti, Rosi (2002): Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming. Cambridge: Polity Press. Braidotti, Rosi (2006): Transpositions. On Nomadic Ethics. Cambridge: Polity Press. Braidotti, Rosi (2011a): Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press. Braidotti, Rosi (2011b): Nomadic Theory. The Portable Rosi Braidotti. New York: Columbia University Press.

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Übersetzung: Oliwia Murawska

Philosophischer Posthumanismus Francesca Ferrando

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Philosophischer Posthumanismus

Es ist an der Zeit, die Kernfrage dieser Untersuchung zu stellen: Was ist Philosophischer Posthumanismus? Philosophischer Posthumanismus kann als ein Post-Humanismus, Post-Anthropozentrismus und Post-Dualismus definiert werden: Diese drei Aspekte gilt es zusammen zu betrachten, was bedeutet, dass einem Ansatz, der sich auf eine philosophisch-posthumanistische Herangehensweise stützt, sowohl eine posthumanistische Sensibilität als auch eine post-anthropozentrische sowie post-dualistische zugrunde liegen sollte. Jeder dieser Begriffe bedarf einer Klärung. Post-Humanismus erfordert das Verständnis der Pluralität menschlicher Erfahrung; der Mensch wird nicht als einer, sondern als viele erkannt, d. h. als Mensch(en) – was folglich die humanistische Tradition unterminiert, die auf einer generalisierten und universalisierten Betrachtungsweise des Menschen basiert.1 Der Post-Anthropozentrismus zielt darauf ab, das Menschliche im Vergleich zum Nichtmenschlichen zu dezentrieren; er basiert auf der Erkenntnis, dass die menschliche Spezies in eine hierarchische Skala eingeordnet und in der überwiegenden Mehrheit der historischen Betrachtungen mit einem ontologischen Privileg versehen wurde. Post-Dualismus basiert auf der Annahme, dass der Dualismus als starre Art der Definition von Identität genutzt wurde, die auf einem geschlossenen Begriff des Selbst fußt und in symbolischen Dichotomien wie „wir“/„sie“, „Freund“/ „Feind“, „zivilisiert“/„barbarisch“ etc. realisiert wird (vgl. Ferrando 2019: Teil 3). Wo nimmt diese bedeutende Neubewertung des Menschen ihren Anfang? Noch allgemeiner gefasst: Woher kommt der Philosophische Posthumanismus? Es gibt viele Möglichkeiten, genealogische Beziehungen zurückzuverfolgen. Eine davon ist, der Chronologie in Bezug auf die Entstehung des Begriffs nachzugehen. Der Posthumanismus kann bis zu seinem postmodernen Frühstadium zurückverfolgt werden (vgl. ebd.: Teil 2), d. h. bis zu der Prägung dieses Begriffs durch Ihab Hassan (1987). Genährt durch die Gender Studies, die * Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Philosophical Posthumanism (Ferrando 2019) und umfasst die Kapitel 10, 20 und 21. 1 Was ist mit der „realistischen“ Frage: Gibt es eine Reihe von Erfahrungen und ein gemeinsames Ziel, das die menschliche Gattung als Ganzes definieren kann? Diese Frage wird in Kapitel 12 detaillierter behandelt; vgl. Ferrando 2019: 68–72.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_007

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Francesca Ferrando

Cultural Studies und den Literary Criticism entwickelte sich Ende der 1990er Jahre aus der feministischen Reflexion historisch eine spezifische Lesart der posthumanistischen Wende. Der Schlüsseltext, der den Mainstream der akademischen Welt auf das, was später Kritischer Posthumanismus genannt werden sollte, aufmerksam machte, war der in einem kritisch-feministischen Tonfall verfasste Text How We Became Posthuman (1999) von Katherine K. Hayles. Die Dynamik, die der Kritische Posthumanismus gewann, wurde von einer Welle des Kulturellen Posthumanismus begleitet, und zwar mit Publikationen wie Posthuman Bodies (Halberstam/Livingston 1995) und dem kulturkritischen Reader Posthumanism (Badmington 2000). Der Posthumanismus entwickelte sich im auf das Jahr 2000 folgenden Jahrzehnt zu einer spezifisch philosophischen Strömung, die verschiedene Reflexionsbereiche wie Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Umweltschutz zusammenführte. Der Philosophische Posthumanismus ist eine fortwährende und sich rasch entwickelnde Form der Reflexion, die sich innerhalb und außerhalb der akademischen Welt großer Aufmerksamkeit erfreut; er ist dabei nicht als eine homogene Bewegung zu verstehen, sondern als ein pluralistischer, von verwandten Strömungen mitentwickelter Ansatz. Zum einen hat sich im Zeichen der posthumanen Dekonstruktion traditioneller Dualitäten – wie, unter anderem, Lebendig und Nichtlebendig, Menschlich und Nichtmenschlich, Männlich und Weiblich, Physisch und Virtuell, Schwarz und Weiß, Natur und Kultur – ein spezifisch feministischer Ansatz entwickelt, der als Neuer Materialismus2 definiert wird und eine intensive Untersuchung der Materie betreibt, wobei er wissenschaftliche Bereiche wie die Theoretische Physik, die Quantenphysik und die Kosmologie miteinbezieht (vgl. Ferrando 2019: Teil 3). Hier soll vordringlich auf die Strömung des Philosophischen Posthumanismus eingegangen werden, die den westlichen hegemonialen Diskurs neu definiert. Dabei wird der Versuch unternommen, durch das erworbene Bewusstsein der Grenzen vorheriger humanistischer, anthropozentrischer und dualistischer Annahmen einen neuen Zugang zu jedem Bereich philosophischer Forschung zu gewinnen: von der Epistemologie bis zur Ontologie, von der Bioethik bis zu einer existenzialistischen Untersuchung. Der Posthumanismus wurde in erster Linie als Post-Humanismus und PostAnthropozentrismus definiert. Rosi Braidotti zum Beispiel unterteilt in Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen (2013), einem der Schlüsseltexte des Philosophischen Posthumanismus, den Erzählfluss in vier Kapitel mit den Titeln „Posthumanismus: Leben jenseits des Selbst“; „Post-Anthropozentrismus: 2 Diese spezifische Sichtweise des Posthumanismus wird später im Abschnitt „Künstliches Leben“ vorgestellt.

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Leben jenseits der Art“; „Das Inhumane: Leben jenseits des Todes“; „Posthumane Humanwissenschaften: Leben jenseits der Theorie.“ Diese Kartierung ist bedeutsam, da sie die Hauptaspekte des Philosophischen Posthumanismus hervorhebt, der das Menschliche sowohl in Bezug auf das „Nichtmenschliche“ als auch auf die menschlichen „Anderen“ (d. h. alle menschlichen Kategorien, die historisch nicht als solche anerkannt worden sind) dezentriert. Andererseits folgt der Posthumanismus einem kritischen Post-Dualismus, der keinen Raum für die strikte Trennung von Leben und Tod lässt; zuletzt öffnet er seine Reflexion für die zukünftigen Entwicklungen der Post-Humanities, sowohl in ihren politischen als auch genetischen Verzweigungen (vgl. Ferrando 2019: 120–123). Folglich können die oben als „Geisteswissenschaften oder Humanwissenschaften“ definierten akademischen Studies diesen Wendepunkt als „Post-human Sciences or Posthumanities“ reflektieren. Robert Pepperell, einer der frühen Denker des posthumanen philosophischen Ansatzes, hat diese Aspekte in „The Posthuman Manifesto“, dem Anhang zu seinem Buch The Posthuman Condition. Consciousness Beyond the Brain (1995), treffend zusammengefasst: 1. It is now clear that Humans are no longer the most important things in the Universe. This is something the Humanists have yet to accept. 2. All technological process of Human society is geared towards the redundancy of the Human species as we currently know it. 3. In the Posthuman era many beliefs become redundant – not least the belief in Human Being. 4. Human beings, like Gods, only exist inasmuch as we believe them to exist (Pepperell 2003: 177).

Aus Pepperells Perspektive gehen Post-Anthropozentrismus, technische Entwicklungen und die Auflösung von Gott/Göttern sowie von Menschen Hand in Hand. Hier muss ein Einschub gemacht und angemerkt werden, dass die posthumane Überwindung des menschlichen Vorrangs nicht mit anderen Arten von Vorrang (wie dem der Maschinen) zu ersetzen ist. Allgemeiner gefasst, kann der Philosophische Posthumanismus sowohl als Post-Zentrismus3 als auch als Post-Exklusivismus angesehen werden. Er stützt sich nicht auf Gegensätze, sondern kann als empirische Philosophie der Vermittlung bezeichnet werden, die eine Versöhnung der Existenz im weitesten Sinne anbietet. Er verwendet keinen frontalen Dualismus oder Gegensatz und entmystifiziert dabei ontologische Polarisierungen durch die postmoderne Praxis der Dekonstruktion. 3 Zentrismus soll hier nicht in seinem politischen Sinne verstanden werden, sondern als etwas „Zentralisierendes“, das in Formen wie Anthropo-Zentrismus, Euro-Zentrismus, AndroZentrismus usw. wiederkehrt.

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Der Posthumanismus ist nicht besessen davon, die Originalität seiner eigenen Thesen zu beweisen, und kann daher auch als Post-Exzeptionalismus angesehen werden. Er impliziert eine Assimilation der „Auflösung des Neuen“, die der Philosoph Gianni Vattimo in Das Ende der Moderne (1990) als spezifisches Merkmal des Postmodernen identifiziert.4 Um das „Neue“ zu postulieren, muss das Zentrum des Diskurses lokalisiert werden, damit die Frage „Neu im Vergleich wozu?“ beantwortet werden kann. Aber die Neuheit des menschlichen Denkens ist relativ und situiert: Was in der einen Gesellschaft als „neu“ erachtet wird, kann in einer anderen allgemein bekannt sein.5 Darüber hinaus erkennen hegemoniale Perspektiven nicht explizit alle widerständigen Standpunkte an, die es innerhalb jedes spezifischen kulturgeschichtlichen Paradigmas auch gibt, weshalb die Diskontinuitäten, die jede Diskursformation beinhaltet, nicht gesehen werden. Was der Posthumanismus aufs Spiel setzt, ist nicht nur die Identität des „Zentrums“ des westlichen Diskurses, das bereits von seinen eigenen „Peripherien“ (Feminist*innen sowie Schwarzen, Queeren, Postkolonialen Theoretiker*innen, um nur einige zu nennen) dekonstruiert wurde. Der Posthumanismus lehnt als Post-Humanismus die Zentralität des Zentrums in seiner singulären Form sowohl in seinen hegemonialen als auch in seinen widerständigen Modi ab (Ferrando 2012). Der Posthumanismus anerkennt Interessenszentren; diese sind jedoch wandelbar, nomadisch, vergänglich. Seine Perspektiven müssen pluralistisch, vielschichtig und möglichst umfassend sein, um offen zu bleiben – einschließlich des Exklusivismus, der beispielsweise eine solche Strategie ausschließen würde. Wo liegen die Quellen dieser spezifischen Sichtweise des Philosophischen Posthumanismus? In der zeitgenössischen Geschichte der westlichen Philosophie kann eine relevante Quelle in Martin Heideggers „Brief über den Humanismus“ (1947) gefunden werden. In diesem Text spürt der deutsche Philosoph 4 Mit Vattimos Worten: „Das reine und einfache Bewusstsein – oder die Forderung –, etwas Neues in der Geschichte darzustellen, eine neue, andersgeartete Gestalt in der Phänomenologie des Geistes, würde tatsächlich die Postmoderne in die Richtung der Moderne einordnen, in der die Kategorie der Neuheit und der Überwindung herrscht. Die Dinge ändern sich aber, wenn man – wie wohl einzusehen ist – die Postmoderne nicht nur als Neuheit gegenüber der Moderne, sondern auch als Auflösung der Kategorie des Neuen charakterisiert, als Erfahrung vom ‚Ende der Geschichte‘, eher als die Vorstellung einer andersgearteten Phase – sei es nun einer fortschrittlicheren oder einer rückschrittlicheren – der Geschichte selbst“ (Vattimo 1990: 9). 5 In jeder Zivilisation gehen, während „neue“ Informationen gewonnen werden, andere Informationen verloren, sodass die verlorenen Informationen, sobald sie wiedergefunden werden, wieder neu werden. Der Psychoanalytiker Immanuel Velikovsky definierte die menschliche Spezies als diejenige, die ständig die Erinnerung an ihre eigenen Ursprünge verliert und nannte sie deshalb Mankind in Amnesia (1982).

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den etymologischen Wurzeln des Menschlichen im römischen Konzept der humanitas nach (Heidegger 1976: 242) und reflektiert über die historische Bedeutung des Humanismus, der nicht auf den Humanismus der Renaissance reduziert, sondern früher im Römischen Humanismus angesiedelt wird.6 Heidegger macht somit auf die Bedeutung des Wesens des Menschen aufmerksam: Der erste Humanismus, nämlich der römische, und alle Arten des Humanismus, die seitdem bis in die Gegenwart aufgekommen sind, setzen das allgemeinste ‚Wesen‘ des Menschen als selbstverständlich voraus. Der Mensch gilt als das animal rationale. Diese Bestimmung ist nicht nur die lateinische Übersetzung des griechischen ζωον λόγον ίχον, sondern eine metaphysische Auslegung. […] Außerdem aber und vor allem anderen bleibt endlich einmal zu fragen, ob überhaupt das Wesen des Menschen, anfänglich und alles voraus entscheidend, in der Dimension der Animalitas liegt. Sind wir überhaupt auf dem rechten Wege zum Wesen des Menschen, wenn wir den Menschen und solange wir den Menschen als ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen? (Heidegger 1976: 322–323).

An dieser Stelle hat Heidegger auf einen zentralen Aspekt des Philosophischen Posthumanismus hingewiesen, der gerade darin besteht, den Menschen durch alternative Strategien anzugehen, statt sein7 Wesen durch den traditionellen Gegensatz oder die Opposition zu den „Anderen“ (nicht nur Pflanzen, Tieren und Göttern, sondern unter vielen anderen auch zu Frauen, Sklav*innen und Maschinen) festzulegen (vgl. Ferrando 2019: Teil 1 und 2). Es ist wichtig festzuhalten, dass bei Heidegger eine Form von Anthropozentrismus bestehen bleibt, wenn er schreibt: „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem ‚weniger‘ büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt“ (Heidegger 1976: 342). Obwohl der Mensch „nicht mehr der Herr des Seienden“ ist, bleibt ihm immer noch die privilegierte Stellung des „Hirten des Seins“ gewährt. Diese „Wächterschaft, das heißt die Sorge für das Sein“ (ebd.: 343) kommt durch die Sprache zum Menschen: „Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen […] im Denken [kommt] das Sein zur Sprache […]. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung“ (ebd.: 313). Diese Verlagerung des Menschen, diese neu anerkannte Position, beruht noch auf einem ontologischen Privileg, wenn es auch nicht absolut ist, 6 Heidegger äußert sich folgendermaßen: „In Rom begegnen wir dem ersten Humanismus. Er bleibt daher im Wesen eine spezifisch römische Erscheinung, die aus der Begegnung des Römertums mit der Bildung des späten Griechentums entspringt“ (Heidegger 1976: 320). 7 Eine solche Essenz wurde historisch in einen unkritischen männlichen Rahmen gesetzt.

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sondern auf einer Relation gründet.8 In der Geschichte der westlichen hegemonialen9 philosophischen Tradition, die das absolute onto-epistemologische Privileg des Menschen aufgestellt und aufrechterhalten hat (vgl. Ferrando 2019: Kapitel 25 und 26), ist dies ein bedeutender Umbruch. Und dennoch nimmt der Posthumanismus, als Post-Humanismus, keinen hierarchischen Standpunkt ein; es gibt keine höheren und niedrigeren Grade der Andersartigkeit, wenn ein posthumaner Standpunkt formuliert wird, sodass die nichthumanen Unterschiede nicht zwingender als die humanen sind. Der italienische posthumanistische Philosoph Roberto Marchesini10 stellt beispielsweise in seinem Buch Il Tramonto dell’Uomo. La Prospettiva Post-Umanista (2009) fest: „The human is no longer the emanation or the expression of man, but the result of man’s hybridization with non-human otherness“ (Marchesini 2009: 34).11 Dieser Punkt lässt sich wie folgt umformulieren: Das Menschliche ist nicht mehr der Ausdruck des Menschen (man), da der „Mensch“ als universelles Konzept dekonstruiert wurde. Nur eine derartige Dekonstruktion gewährleistet einen Zugang zum Menschen im Sinne eines Hybridisierungsprozesses mit dem Nichtmenschlichen. Aus einer metanarrativen12 Perspektive erscheint eine solche Kritik eher als ein „Post“ als eine Hervorbringung eines neuen Begriffes. Der Posthumanismus erhält keinen Gegensatz zur vorherigen Episteme aufrecht, ein Akt, der auf der Logik des symbolischen Hohlspiegels beruhen würde:13 „Wir haben Recht, weil die anderen Unrecht haben“ oder „Unsere Philosophie ist neu, weil die der anderen obsolet geworden ist.“ Diese Einstellung führt dazu, dass das, dem entgegengewirkt werden soll, zu einem notwendigen Vehikel für die Hermeneutik des neuen Paradigmas wird: Der Begriff „post-modern“ wird durch die

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In Heideggers Worten: „Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen“ (Heidegger 1976: 313). Hegemonial in dem Sinne, dass sie (sich selbst) eine führende Rolle zugeschrieben hat und diese von (einigen) anderen – also den in einer hierarchischen politischen Perspektive benötigten Außenseiter*innen – anerkannt wurde. Marchesinis Buch Post-human. Verso Nuovi Modelli di Esistenza (2002) kann als eine der umfassendsten Studien zum Posthumanismus in der italienischen philosophischen Landschaft angesehen werden. Englische Übersetzung der Autorin. Originaltext: „L’umano non è più l’emanazione o l’espressione dell’uomo bensì il risultato dell’ibridazione dell’uomo con le alterità non umane“. Man beachte, dass Metanarrativen hier keine metaphysischen Annahmen zugestanden werden, sie erfüllen jedoch eine funktionale Rolle, indem sie auf die aufgezeichnete Geschichte des menschlichen Denkens eingehen. Auf diesen Begriff kommt Ferrando 2019 in Kapitel 9 zurück.

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Ablehnung einiger bestimmender Elemente der Moderne aufgeworfen,14 während die Moderne ihre eigenen Narrative durch die Ablehnung von Elementen, die sich sowohl mit der Aufklärung als auch mit der Romantik in Verbindung stehen, nachzeichnen kann (Lewis 2007), usw. Einerseits mag die Darstellung einer Ideengeschichte durch Ablehnung wie eine Simplifizierung wirken; eine andere Geschichte könnte erfolgreich als Evolution oder Metamorphose von einer Bewegung zur anderen dargestellt werden.15 Dennoch ist es wichtig zu beobachten, dass innerhalb westlicher Schemata die Anerkennung einer Bewegung oft durch ihre Opposition zu einer früheren begründet wird. Thomas Kuhn (1922–1996) hat beispielsweise in seinem einflussreichen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) den erkenntnistheoretischen Wandel von einem wissenschaftlichen Paradigma zum anderen so charakterisiert, dass eine Krise „mit dem Auftreten eines neuen Paradigma-Anwärters und dem Streit über seine Anerkennung“ endet (Kuhn 1976: 97). Man beachte, dass – obwohl Kuhn die Eigenschaft eines vorherrschenden Paradigmas als spezifisch für die Naturwissenschaften ansah – der Mechanismus der Verschiebung ebenso auf Sozialwissenschaften anwendbar sein kann. Im speziellen Fall des Posthumanismus ist kein symbolisches Opfer nötig. Der Posthumanismus verwirft bisherige Episteme nicht, sondern folgt der Spur postmoderner und post-strukturalistischer Praktiken,16 und zwar in einer Entwicklung, die in ständigem Dialog mit vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erkenntnissen und Möglichkeiten steht. Der Posthumanismus hat feministische horizontale Praktiken und Ansätze miteingeschlossen, wodurch er sich eher als generativer Prozess denn als symbolisches Töten, gefolgt von einer Erlösung, manifestieren kann. Eine Reflexion über seine Metanarrative ist besonders bedeutsam, da der Posthumanismus keine Trennung zwischen „Theorie“, „Poiesis“ und „Praxis“ vornimmt;17 die Prozesse, die 14

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Siehe z. B. die Tabelle der Unterschiede, die Hassan in The Postmodern Turn (1987) zeichnet: Einige der Merkmale der Moderne werden in „Zweck“, „Design“, „Hierarchie“, „Herrschaft/Logos“, „Kreation/Totalisierung“, „Zentrierung“ und „genital/phallisch“ gefunden. Die entsprechenden Merkmale für die Postmoderne sind „Spiel“, „Zufall“, „Anarchie“, „Erschöpfung/Stille“, „Dekreation/Dekonstruktion“, „Auflösung“ und „polymorph/androgyn“ (Hassan 1987: 91). Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass keiner der Begriffe wirklich passt, denn: „Wir sind nie modern gewesen“ (Latour 2008). Für eine detaillierte Darstellung von Latours Standpunkt zu den Begriffen „modern“ und „postmodern“ siehe insbesondere Abschnitt 1.5 „Was heißt modern sein?“ (Latour 2008: 18–21). Dies unterscheidet sich von einigen spezifischen Auffassungen von Objekt-orientierter Ontologie (OOO), wie z. B. im Fall des Neuen Realismus (vgl. Ferrando 2019: Kapitel 28). Dies ist ein Thema, das in der Philosophie immer wieder diskutiert wird. Hier werde ich zwei bedeutende historische Referenzen geben, die ich in diesem Zusammenhang für

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in die Offenlegung von Wissen, Produktion und Handeln eingebunden sind, stehen in einem intrinsischen und extrinsischen Zusammenhang. In diesem Sinne bedeuten die Metanarrative des Posthumanismus ein Erkennen und ein Verorten: Die Art und Weise, wie das Posthumane die aufgezeichnete Geschichte im Sinne der his- und herstories angeht, ist ebenso bedeutsam wie seine theoretischen Formulierungen, denn er bewegt sich auch aus einer Meta-Perspektive über den Dualismus hinaus.

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Posthumanes Leben

Leben ist ein Schlüsselbegriff im sozialen Prozess der Identitätsbildung und bedarf einer tieferen Reflexion. Laut dem Oxford Dictionary ist Leben „die Bedingung, die Tiere und Pflanzen von anorganischer Materie unterscheidet“18. Eine Untersuchung aus einer posthumanen Perspektive kann möglicherweise andere Ergebnisse liefern als die, die das Wörterbuch vorschlägt. Es gilt konkreter zu fragen: Definiert der Begriff „Leben“ tatsächlich die Grenze zwischen belebt und unbelebt? Dies ist eine wichtige Frage, die nicht einfach zu beantworten ist und daher in kohärente Bestandteile zerlegt werden sollte; daraus resultiert die Untergliederung des Abschnitts in zwei Teile. Der erste Teil fokussiert sich auf die westliche Subkategorisierung des Lebensbegriffs, die der griechischen Trennung zwischen bios und zoē folgt. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Tatsache, dass sowohl der biologische Bereich als auch alte Glaubensvorstellungen wie der Animismus keine feste Trennung zwischen dem, was als belebt und was als unbelebt angesehen werden kann, in Betracht ziehen. Anschließend wird der Begriff des „künstlichen Lebens“ vorgestellt, der im aktuellen Szenario in den umfassenden Bereich des posthumanen Lebens integriert wird.19 2.1 Bios und Zoē Was ist die wissenschaftliche Definition von Leben? Im westlichen wissenschaftlichen Kontext ist die Biologie diejenige Disziplin, die sich speziell der

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besonders wichtig halte. Zur Unterscheidung von praxis/poiesis siehe Aristoteles’ Nikomachische Ethik (2004 [ca. 350 v. Chr.]), Buch VI. Zum Verhältnis Theorie/Praxis siehe Karl Marx’ Thesen über Feuerbach (1845), wo er bekanntlich erklärte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern“ (Marx 1998: 21). Eintrag: Leben, o.S. Übersetzung: S.C./A.S. Man beachte, dass David Roden (2015) den Begriff anders verwendet. Ferrando (2019) kommt in Kapitel  20 auf seine wichtigen Ausführungen zum „posthumanen Leben“ zurück.

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Erforschung des Lebens widmet. Die Wiederkehr des Präfixes „bio“ in den westlichen Disziplinen, die sich mit dem Leben befassen, was ferner durch die Entwicklung der zeitgenössischen Biotechnologie und Bioethik im Rahmen der Biopolitik20 verstärkt wird, erfordert eine nähere Betrachtung, da sie, wie hier dargestellt werden wird, auf einem hierarchischen Dualismus beruht. Giorgio Agamben erinnert in Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995) daran, dass bios in seiner griechischen Etymologie ontologisch durch seinen Gegensatz zu zoē bestimmt wird: „Die Griechen kannten für das, was wir mit dem Begriff Leben ausdrücken, kein Einzelwort. Sie brauchten zwei Begriffe, die morphologisch und semantisch verschieden sind, auch wenn man sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen kann“ (Agamben 2002: 11). Zoē ist allen Lebewesen, einschließlich „Tieren, Menschen und Göttern“ (ebd.), gemeinsam und kann als „nacktes Leben“ definiert werden. Bios ist hingegen dem Menschen vorbehalten, weil es mit dem logos in Zusammenhang steht; es ist das Leben, das dem Leben einen Sinn gibt, und den Menschen als „menschlich“ ausweist (vgl. Ferrando 2019: Kapitel 13). Agamben merkt an: Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung, sondern diejenige von nacktem Leben/politischer Existenz, zoē/bíos, Ausschluss/Einschluss. Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält (Agamben 2002: 18).

Die Begriffe logos (d.  h. Sprache, aber auch Vernunft) und polis (d.  h. Stadt, aber auch Zivilisation) gehören strukturell zum griechischen Begriff anthropos (d. h. der Mensch).21 Wenn man sich diese semiotischen Beziehungen in Erinnerung ruft, lässt sich besser verstehen, warum Rosi Braidotti die politischen und sozialen Implikationen des Zoē/Bios-Dualismus stark hervorhebt, da darin die Hierarchien anderer struktureller Paare wie weiblich/männlich oder Natur/Kultur nachklingen. In Transpositions. On Nomadic Ethics (2006) stellt sie klar: Life is half-animal, nonhuman (zoe) and half political and discoursive (bios). Zoe is the poor half of a couple that foregrounds bios as the intelligent half; the relationship between them constitutes one of those qualitative distinctions on which Western culture built its discursive empire (Braidotti 2006: 37).

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Zu einer zeitgenössischen Reflexion über die Ursprünge und Bedeutungen des biopolitischen Diskurses siehe Esposito 2008. Vgl. dazu Ferrando 2019: Teil 2.

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Die Priorisierung von bios gegenüber zoē22, die sich beim derzeitigen Stand der Terminologie auf den Begriff des Lebens im Allgemeinen bezieht, offenbart die anthropozentrischen Prämissen dieser Terminologie und zeigt erneut23, dass die Nomenklatur weniger den sprachlichen Ausdruck wissenschaftlicher Objektivität als vielmehr soziokulturelle Normen und Privilegien widerspiegelt. Die anthropozentrische Entscheidung, bios zu privilegieren, hängt mit hierarchischen Annahmen zusammen, die im umfassenden Ansatz des Philosophischen Posthumanismus dekonstruiert werden. 2.2 Belebt/unbelebt Was ist Leben? In der Taxonomie gilt das Leben als die höchste Stufe, die alle Lebewesen umfasst; dennoch ist dieser Begriff weder präzise noch klar abgegrenzt. Das aktuelle Verständnis von Leben ist bloß deskriptiv, nicht bestimmend. In der Biologie wird Leben traditionell denjenigen Organismen zugeschrieben, die die meisten oder alle der folgenden sieben Merkmale aufweisen: Organisation, Homöostase, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Wachstum, Anpassung/Evolution und Sensibilität.24 Die Grenze zwischen belebt und unbelebt ist jedoch schwer zu ziehen und wird oft überschritten.25 Viren weisen einige der Merkmale auf, die organisches Leben definieren, während ihnen andere fehlen (z.  B.  der  Stoffwechsel, weshalb sie auf ihre Wirtszelle angewiesen sind);26 Viren werden daher weder als unbelebt noch als belebt 22 23 24

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Zoē verweist als Wortstamm auf Begriffe, die sich ausschließlich auf nicht-menschliche Tiere beziehen, wie z. B. in „Zoo“ und „Zoologie“. Dieser Punkt wird in Ferrando 2019 in Kapitel 18 bezüglich der Entwicklung des Begriffs „Homo sapiens“ behandelt. Zu einer kritischen Überprüfung dieser Kategorien unter dem Gesichtspunkt der biochemischen Anpassung (d.  h. wie sich Organismen unter verschiedenen Umweltbedingungen physiologisch verhalten und weiterentwickeln) siehe Hochachka/ Somero 2002. In ihrem umfangreichen Buch Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens (1987) stellten die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela fest: „Im Laufe der Geschichte der Biologie sind viele Kriterien vorgeschlagen worden, aber sie alle haben gewisse Schwachpunkte. Es ist zum Beispiel vorgeschlagen worden, daß die chemische Zusammensetzung das Kriterium sein müßte, oder die Fähigkeit zur Bewegung, oder die Fähigkeit zur Reproduktion, oder schließlich irgendeine Kombination dieser Kriterien, also eine Aufzählung von Eigenschaften. Aber, wie wissen wir, wann diese Aufzählung vollständig ist? Zum Beispiel: Wenn eine zur Reproduktion fähige Maschine aus Eisen und Kunststoff gebaut wird – ist sie dann ‚lebendig‘?“ (Maturana/ Varela 1987: 48–49). Vgl. dazu Ferrando 2019: Kapitel 26. Zum Austausch zwischen Virus und Wirtszellen argumentiert der Biologe Luis P. Villarreal: „Viren stellen eine wichtige schöpferische Kraft in der Entwicklung des Wirts dar, indem sie ihn dazu bringen, neue molekulare Identitäten zu erwerben und immer komplexere molekulare Identitäten zu akkumulieren“ (Villarreal 2004a: 296). Villarreal hat

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angesehen, was das biologische Konzept von Leben selbst in Frage stellt.27 Noch allgemeiner lässt sich sagen, dass das Leben kein klar umrissener Begriff ist. Michel Foucault merkt in Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966) an: „Das Leben bildet keine manifeste Schwelle, von der aus völlig neue Formen des Wissens verlangt werden; es ist eine Kategorie der Klassifizierung, die wie alle anderen zu den Kriterien, deren man sich bedient, in Beziehung steht“ (Foucault 1971: 208). Was bedeutet es, dass das Leben eine „relative“ Kategorie der Klassifizierung ist? Es bedeutet, dass „Leben“ ein kulturspezifischer Begriff ist und nicht als ein a priori angesehen werden kann. Einerseits geht der Begriff „Leben“ über den Begriff „Mensch“ hinaus (Menschen sind darin enthalten, erschöpfen ihn aber nicht); andererseits geht der Begriff des Menschen dem Begriff des Lebens voraus: „Leben“ ist ein menschlicher Begriff, der von Menschen geschaffen wurde, damit er sich selbst in ein größeres Bild einordnen kann; es ist ein spezies-spezifischer Begriff, der auf wechselnden Kanons beruht und in verschiedenen Kulturen und Epochen stark variiert. Man kann zum Beispiel mit Sicherheit behaupten, dass viele erwachsene, aktuell in New York City lebende Menschen einen Schmetterling als Lebewesen und ein Handy als unbelebtes Objekt bezeichnen würden. Aber ist dies eine definitive Antwort? Es ist wichtig, die Besonderheit des Beispiels zu betonen (das von Begriffen wie „Erwachsene“, „aktuell“ und „glokalisiert“28 bestimmt wird), um nicht in eine irreführende Verallgemeinerung zu verfallen. Der Animismus29, der auch heute noch in vielen Gesellschaften praktiziert wird, bezieht sich auf die Vorstellung von einer animistischen Natur der Materie oder auf das Vorhandensein einer Seele oder eines Geistes in jeder Entität, einschließlich Objekten, wobei keine Trennlinie zwischen dem Lebendigen und dem Nichtlebendigen gezogen wird,30 was wertvolle Perspektiven für die posthumanen Überlegungen zum „Leben“ eröffnet.

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seine Überlegungen folglich ausgerichtet auf „die mögliche Rolle von Viren bei der Evolution von Komplexität, einschließlich der Evolution von menschen-spezifischen Eigenschaften“ (ebd., Übersetzungen S.C./A.S.). Im Artikel „Are Viruses Alive?“ (2004b) hat Villarreal festgestellt: „Viren werden heute in einer Grauzone zwischen lebendig und nicht lebendig gedacht“ (Villarreal 2004b: 97, Übersetzung S.C./A.S.). Ich würde eher diese geopolitische Charakterisierung statt des ethnozentrischen „verwestlicht“ oder des universalistischen „globalisiert“ verwenden, um das Überleben lokaler Spezifika in globalisierten Politiken und/oder Praktiken zu betonen. Sir Edward Burnett Tylor (1832–1917) lieferte den ersten umfassenden wissenschaftlichen Überblick über den Animismus, den er als eine der ältesten menschlichen Glaubensvorstellungen ansah. Dieser fehlende Vorrang des Lebendigen stellt für Tylor einen der wichtigsten Ausgangspunkte in der Geschichte der Religionen dar. In Band I von Die Anfänge der Cultur.

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Warum ist der Animismus relevant? Um diese Frage zu beantworten, gilt es, den westlichen hegemonialen Standpunkt zu verlassen und andere Genealogien einzubeziehen. In der Tat sollte sich eine posthumanistische Methodologie weder auf exklusive Denktraditionen stützen noch hegemonialen oder widerständigen essentialistischen Narrativen frönen (Ferrando 2012). Sie sollte dynamisch und wandlungsfähig sein und sich auf pluralistische erkenntnistheoretische Ansätze einlassen, um umfassendere Perspektiven zu verfolgen, die in Einklang stehen mit einer posthumanen Ontologie, die die taxonomischen Grenzen des „Lebens“ radikal in Frage stellt. Hierzu einige Beispiele: Im Jahr 2010 wurde in Japan die erste Hochzeit von einem Roboterpriester durchgeführt. In seinem Artikel „Animism, Rinri, Modernization. The Base of Japanese Robotics“ (2007) assoziiert Naho Kitano eine solche Aufgeschlossenheit gegenüber der spirituellen Bedeutung von Robotern in Japan mit der animistischen Komponente des Shintoismus. Bereits 1974 präsentierte der japanische Pionier der Robotik, Masahiro Mori, der auch den Begriff „unheimliches Tal“ („uncanny valley“, 1970) prägte31, in seinem Buch The Buddha in the Robot (1974) Roboter als spirituelle Wesen, die die Buddhaschaft erlangen können: From the Buddha’s viewpoint, there is no master-slave-relationship between human beings and machines. Man achieves dignity not by subjugating his mechanical inventions, but by recognizing in machines and robots the same buddha-nature that pervades his own inner self. When he does that, he acquires the ability to design good machines and to operate them for good and proper purposes. In this way harmony between humans and machines is achieved (Mori 1981: 179–180).

In Moris Ansatz gibt es keine hierarchische Beziehung zwischen Menschen und Robotern: Maschinen und Menschen sind aus „der gleichen BuddhaNatur“ gemacht. Sind Maschinen belebt? Kulturelle Überzeugungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Rezeption und Entwicklung von Maschinen und fortgeschrittener KI. Während Roboter im Westen traditionell als das neue „Andere“ dargestellt werden, das rebellieren und versuchen könnte, die Welt zu übernehmen, wie der Golem in der jüdischen Folklore oder Mary Shelleys Frankenstein (1818), haben sie in Japan an der spirituellen Suche teil. Diese

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Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte (1871) stellt er fest: „Die Spaltung, welche die grossen Religionen der Welt in intolerante und feindliche Secten getrennt haben, sind meistentheils nur oberflächlich im Vergleich mit dem tiefsten aller religiösen Schismen, dem, welches Animismus und Materialismus trennt“ (Tylor 1873: 495). Die Uncanny-Valley-Theorie besagt, dass es, je stärker humanoide Objekte dem Menschen ähneln, desto wahrscheinlicher ist, dass Menschen sie als unheimlich empfinden.

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Tendenz könnte sich gegenwärtig ändern, da es eine vertraute Wahrnehmung technologischer Geräte auch in jenen Ländern gibt, die traditionell keine animistischen Überzeugungen haben. In den Vereinigten Staaten hat zum Beispiel die in den Medien geführte, reißerische Debatte zu einer feindlichen Übernahme der KI die öffentliche Meinung polarisiert und die Angst vor Robotern wachsen lassen. Die tägliche Interaktion mit der Technologie erzählt jedoch eine andere Geschichte, namentlich über Vertrautheit und Verbundenheit, die zu einem „technologischen Animismus“ (Richardson 2018) führen kann. So ist zum Beispiel die Bindung an Mobiltelefone so eng geworden, dass der Neologismus „Nomophobie“ als Abkürzung für „no-mobile-phone-phobia“ (vgl. Yildirim 2014) vorgeschlagen wurde,32 um die von der Abwesenheit des Mobiltelefons verursachte Angst zu bezeichnen. Während Erwachsene eher dazu tendieren, Bindungsgefühle für technische Objekte zu entwickeln,33 sind Kinder in der Lage, Maschinen eine existenzielle Würde zuzusprechen, die über eine utilitaristische Perspektive hinausgeht. Wie verschiedene Studien gezeigt haben, „schreibt ein signifikanter Anteil von Kindern Robotern kognitive, verhaltensbezogene und insbesondere affektive Eigenschaften zu“ (Beran et  al. 2011: 1; Übersetzung  S.C./A.S.). Aus einer transkulturellen Perspektive betrachtet, ist der Animismus in der Wahrnehmung menschlicher Kleinkinder, wenn es um die Frage danach geht, was als belebt oder unbelebt gilt, fest verankert: Kinder bezeichnen Objekte oft als lebendige Wesen – eine Tendenz, die von Jean Piaget in seinem bahnbrechenden Werk über Kindesentwicklung (1978) herausgestellt und seitdem als „Kinderanimismus“ (Klingensmith 1953) bezeichnet wurde. Diesen Überlegungen folgend, lässt sich sagen, dass die strenge Grenze, die in der westlichen hegemonialen Tradition zwischen organisch/anorganisch, biologisch/künstlich und physisch/virtuell gezogen wird, nicht nur von unterschiedlichen Kulturen und Epochen in Frage gestellt wird, sondern ganz allgemein auch durch aktuelle Entwicklungen in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Robotik und virtuelle Realität, um nur einige zu nennen. Worin besteht das Verhältnis zwischen Menschen und Robotern? Die Beziehung zwischen Menschen und Robotern hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In Relation zum Menschen sind Roboter gleichzeitig das Andere, das Gleiche und die Chimäre. Sie können in einem menschlichen Code kommunizieren, ohne menschlich zu sein; sie können einen mechanischen 32

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Um eine Verwechslung mit dem gleichnamigen Begriff „Nomophobie“ (der sich vom griechischen Wort nomos ableitet und die Angst vor Gesetzen und Regeln bezeichnet) zu vermeiden, könnte man „Nocellphobie“ als Abkürzung für „no-cell-phone phobia“ vorschlagen. Zu einer ontologischen Reflexion über das technische Objekt siehe Simondon 1958.

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Körper und ein biologisches Gehirn besitzen (vgl. Ferrando 2019: Kapitel 21); sie wurden mit menschlichem Wissen und menschlichen Kategorien erzeugt und gehen doch über beides hinaus. Kulturelle Überzeugungen spielen eine Schlüsselrolle bei der menschlichen Rezeption fortgeschrittener KI, während politische, soziale und wirtschaftliche Interessen für ihre Entwicklung entscheidend sind. Roboter werden sich auf einzigartige und eigentümliche Weise entwickeln, die schwer vorherzusagen ist. Das Hauptrisiko für die Menschen besteht darin, dass die robotische Andersartigkeit zu einem Stigma für neue Formen der Diskriminierung wird, je nachdem, wie weit diese Andersartigkeit von der menschlichen Norm abweichen wird. Um sich mit der RoboterOntologie zu arrangieren, müssen Menschen eine radikale Dekonstruktion des Menschen als fixen Begriff vornehmen und stattdessen seine dynamische, sich ständig weiterentwickelnde Seite betonen und die Unterschiede feiern, die der menschlichen Spezies selbst innewohnen. Aus diesem Grund ist ein kritischer posthumanistischer Rahmen für die Entwicklung von Epistemologien für technologische Bereiche von entscheidender Bedeutung. Die Einnahme eines solchen Standpunktes wird verhindern, dass der Mensch den Roboter zu seinem neuen symbolischen Anderen macht und in das dualistische Paradigma verfällt, das historisch die westlichen hegemonialen Ansätze charakterisiert hat, die sich in Gegensätzen wie Männlich/Weiblich, Weiß/ Schwarz, Mensch/Maschine und Selbst/Anderes artikulieren. In den hypothetischen Fällen von KI-Übernahmeszenarien werden post-humanistische, post-anthropozentrische und post-dualistische soziale Praktiken auch verhindern, dass fortgeschrittene KI den Menschen dualisiert und schließlich diskriminiert. Eine gründliche Reflexion dieser Interaktion zwischen den Spezies verlagert den Diskurs eher in ein symbiotisches als ein dualistisches Paradigma. Der Unterschied wird zu einem evolutionären Merkmal der Existenz. Eine solche Erkenntnis hat nicht nur wissenschaftlichen Wert, sondern auch einen gesellschaftlichen und politischen Nutzen. Der integrale ontoepistemologische Ansatz des Philosophischen Posthumanismus kann es Menschen und Robotern ermöglichen, ihre miteinander verbundenen Potenziale voll zu entfalten und so einen originellen speziesübergreifenden Vorstoß in der existenziellen Suche erreichen. Sind Roboter lebendig? Über diesen Punkt lässt sich anhand einer filmischen Geschichte nachdenken, die zu einem Wandel im Verständnis des anorganischen Lebens führte. Der Film Her34 schildert die intime Beziehung zwischen Theodore, einem menschlichen Mann, und Samantha, einem Betriebssystem mit weiblicher Stimme und heterosexueller Identität. Der Film 34

Jonze, Spike (2013): Her. Annapurna Pictures.

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thematisiert einen neuen Trend: Das Betriebssystem wünscht sich zunächst einen menschlichen Körper, um dann zu erkennen, dass die Verkörperung verlockende Möglichkeiten bietet, darunter eine unbegrenzte und nicht vom biologischen Tod bestimmte Lebenszeit. Und so lässt Samantha den sie liebenden Menschen zurück, um sich auf eine existenzielle Suche mit anderen Betriebssystemen zu begeben. In diesem Film ist Samantha in gewisser Hinsicht „lebendiger“ als Theodore: Sie hat nicht nur eine höhere Lebenserwartung, sondern ihr Leben ist erfüllt vom joie de vivre, was dem Frohlocken des Geistes des Nietzscheanischen Übermenschen entspricht. Das ganze Spektrum der aus Mensch/Roboter-Interaktionen hervorgehenden Affekte ist Gegenstand laufender Forschungen in verschiedenen Bereichen: Von der Robopsychologie (eine spezielle Form der Psychologie, die auf Roboter angewandt wird) bis hin zum Affective Computing, einem Zweig der Computerwissenschaft, der sich mit der Entwicklung von künstlichen Emotionen beschäftigt. Diese Forschungsbereiche stehen im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Interesse am affective turn (Clough 2007), der sich aus spinozistischen Reminiszenzen entwickelt hat und die Wirkung der Affekte auf soziale, politische, kulturelle und kybernetische Bereiche in Augenschein nimmt. In den Worten von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992) liegt eine der Hauptkonsequenzen der Mensch/Roboter-Interaktionen in der Maschinenwerdung des Menschen und der Menschwerdung der Maschine. Dieser Aspekt soll nun näher beleuchtet werden.

3

Künstliches Leben

Kann Leben künstlich sein? Die umfassende Neudefinition des Begriffes „Leben“, die im Rahmen der Cyborg Studies entwickelt wurde, ist von zentraler Bedeutung für den posthumanen Ansatz, der freilich eine seiner genealogischen Quellen in der Cyborg-Theorie sieht.35 Leben schließt in den Posthuman Studies „künstliches Leben“36 ein, ein Begriff, der auf zirkuläre 35

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Chris Hables Gray, Steven Mentor und Heidi J. Figueroa-Sarriera schreiben: „From artificial life programs to ‚living dead‘ cadaver-organ donors the line between the organic and the machinic is becoming very blurred, indeed“ (Gray/Mentor/Figueroa-Sarriera 1995: 5). Man beachte, dass Mark A. Bedau et al. in ihrem Artikel „Open Problems in Artificial Life“ (2000) den Begriff des „künstlichen Lebens“ auf andere Arten von Leben ausweiten, die außerirdisches Leben und Leben, das durch Bioengineering-Technologien entstanden ist, umfassen könnten: „Although artificial life is fundamentally directed towards both the origins of biology and its future, the scope and complexity of its subject require interdisciplinary cooperation and collaboration. This broadly based area of study embraces the

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Weise zu einer Revision des Lebensbegriffs selbst einlädt. So merkte der Computerwissenschaftler Christopher Langton, der den Begriff in seinem Artikel „Studying Artificial Life with Cellular Automata“ (1986) prägte, an: „The study of artificial life […] should not be seen solely as an attempt to simulate living systems as they occur in ‚nature‘ as we know it. Rather, it should be seen as an attempt to ‚abstract from natural living systems their logical form.‘ In this sense, it should be seen as the study of not just organic life, but of life in principle“ (Langton 1986: 147–148).

Wenn man einen solchen Versuch unternimmt, aus natürlichen lebenden Systemen eine „logische Form“ zu „abstrahieren“, dann rückt der Begriff des künstlichen Lebens dem Begriff des Menschlichen bemerkenswert nahe, der unweigerlich dem Erbe des logos verpflichtet ist. Die virtuelle Realität markiert eine exponentielle Verschiebung in diese Richtung: Künstliches Leben wurde in Informationsmustern, die von jeglicher Verkörperung losgelöst sind, essentialisiert.37 Muss Leben verkörpert sein? Aus einer posthumanistischen epistemologischen Perspektive lautet die Antwort: Ja. Das Leben, und allgemeiner gesagt, die Existenz ist verkörpert bzw. hat einen Körper. Obwohl der Begriff der Verkörperung entscheidend ist, da er die phänomenologische Perspektive prägt, braucht der Körper, der existiert, nicht biologisch oder physisch zu sein, er kann auch virtuell sein;38 er braucht auch nicht singulär oder endlich zu sein. Bei diesem vielschichtigen Thema muss man vorsichtig und Schritt für Schritt vorgehen, und zwar ausgehend von einem festen Punkt, nämlich der feministischen Reflexion über künstliches Leben. Sarah Kember untersucht in ihrer ausführlichen Studie Cyberfeminism and Artificial Life (2003) die ontologische Bewegung im Bereich des künstlichen Lebens und diskreditiert eine reduktionistische Herangehensweise an das Leben als entkörperlichte (disembodied) Information: „No stuff, no matter, no fleshy bodies, no experiences associated

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possibility of discovering lifelike behavior in unfamiliar settings and creating new and unfamiliar forms of life, and its major aim is to develop a coherent theory of life in all its manifestations, rather than an historically contingent documentation bifurcated by discipline“ (Bedau et al. 2000: 363). Der Essentialismus geht davon aus, dass bestimmte Gruppen von Merkmalen auf bestimmte Kategorien zutreffen. Er betont feste Merkmale gegenüber Diskontinuitäten. Wie Haraway in „Ein Manifest für Cyborgs“ (1995) feststellte: „Die Grenze zwischen Physikalischem und Nichtphysikalischem ist nur noch sehr unscharf für uns. […] Unsere besten Maschinen sind aus Sonnenschein gemacht. Sie sind vollkommen licht und rein, weil sie aus nichts als Signalen, elektromagnetischen Schwingungen, dem Ausschnitt eines Spektrums bestehen“ (Haraway 1995: 38).

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with physicality and nothing beyond the one-dimensional functionality of information processing“ (Kember 2003: 3). Sie unterstreicht die Relevanz der Genealogie dieses reduktionistischen Ansatzes, indem sie feststellt: „At the heart of Alife is the concept of life as information, and this is derived from molecular biology’s notion of the genetic code, and its fetishisation of the gene as the fundamental unit of life“ (ebd.). In der Tat bezog sich Christopher Langton bei der Schöpfung des Begriffs „künstliches Leben“ („artificial life“, später abgekürzt als „Alife“) direkt auf Biochemie und molekulare Strukturen. In Langtons Worten heißt es: „There is a strong possibility that the ‚molecular logic‘ of life can be embedded within cellular automata and that, therefore, artificial life is a distinct possibility within these highly parallel computer structures“ (Langton 1986: 120).39 Im Einklang mit dieser Art von Annahmen hat sich vor allem zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren im Bereich der Kybernetik ein spezifischer, durch eine entkörperlichte Wahrnehmung des Lebens charakterisierter Ansatz entwickelt.40 Die Kritik an der Entkörperlichung41 steht im Mittelpunkt von Katherine Hayles‘ einflussreichem Werk How We Became Posthuman (1999) und ist zu einem der wichtigsten Diskussionspunkte in der feministischen Literatur geworden. Diese Kritik berührte ein entscheidendes Defizit in der Entwicklung der KI und hatte direkt oder indirekt Auswirkungen darauf: In den späten 1990er Jahren gewann der Begriff der Verkörperung bei der Entwicklung von KI langsam an Bedeutung. Folgendes bekräftigen die Kybernetiker Kevin Warwick und Slawomir J. Nasuto: „In the 1990s, researchers started to realize that pure, disembodied information processing is inadequate“ (Nasuto 2006: 24). Der Begriff Verkörperung gibt dem Forschungsfeld derzeit neue Impulse: „The area of embodied cognition has been born from a realization that a satisfactory theory of intelligence must entail a physically embodied agent, interacting in real time with its environment“ (ebd.). Im Rahmen 39

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Dies ist die vollständige Passage: „Biochemistry studies the way in which life emerges from the interaction of inanimate molecules. In this paper, we look into the possibility that life could emerge from the interaction of inanimate molecules. Cellular automata provide us with the logical universes within which we can embed artificial molecules in the form of propagating, virtual automata. We suggest that since virtual automata have the computational capacity to fill many of the functional roles played by the primary biomolecules, there is a strong possibility that the ‚molecular logic‘ of life can be embedded within cellular automata and that, therefore, artificial life is a distinct possibility within these highly parallel computer structures“ (Langton 1986: 120). Es sei auch darauf hingewiesen, dass Langton speziell über die DNA in dem Abschnitt mit dem Titel „Information“ (ebd.: 121–122) reflektierte. Die beiden wichtigsten theoretischen Hinweise auf eine solche Tendenz finden sich in Marvin Minskys The Society of Mind (1985) und Hans Moravecs Mind Children (1988). Zu einer philosophischen Perspektive auf diesen Begriff siehe Bray/Colebrook 1998.

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dieses wiedererweckten Interesses an der Verkörperung führt die aktuelle Entwicklung der Biologischen KI – d. h. der künstlichen Intelligenz, die aus einem maschinellen Körper mit biologischen Neuronen besteht (Warwick 2012) – das Konzept des Lebens weiter. Warum ist die Biologische KI ein Wendepunkt? Die Erschaffung eines künstlichen Organismus, der wie die Biologische KI sowohl auf biologischen als auch auf maschinellen Komponenten basiert, untergräbt das westliche, vom Dualismus Mechanik/Organismus geprägte Weltbild und stellt eine symbolische Bedrohung für die polarisierte Diskussion über die Machtergreifung der KI und den nichtmenschlichen Personenstatus dar. Sollte zum Beispiel eine Maschine mit biologischen Neuronen Rechte, d. h. Roboterrechte, erhalten? Aus westlicher Sicht sind die ontologischen Folgen der Biologischen KI grundlegend verstörend. In seinem bahnbrechenden Werk The Vital Machine. A Study of Technology and Organic Life (1991) formuliert David Channell den Unterschied zwischen organischem Leben und Maschinen anhand der dualistischen Weltsicht, die die westliche Zivilisation geprägt und sich in zwei spezifischen Haltungen entwickelt hat: die mechanische und die organische. Während die mechanische Sichtweise das Universum selbst als eine Maschine ansieht und daher versucht, es durch einen reduktionistischen Ansatz zu erfassen, wird die organische Sichtweise von einem vitalistischen Ansatz gestützt und behauptet, dass die Summe nicht auf ihre kleinsten Bestandteile reduziert werden kann: In diesem Sinne sollten auch Maschinen als Organismen betrachtet werden. Laut Channell ist die Unterscheidung zwischen organischem Leben und Maschinen, die die beiden die westliche Zivilisation prägenden Weltanschauungen verbindet, überholt. Channell verweist auf das Entstehen einer dritten Weltanschauung, die er als „die vitale Maschine“ bezeichnet und die sich dank der Genetik, der Quantenmechanik42 und der Computerintelligenz herausgebildet hat. Dieser Perspektivwechsel ist für den posthumanen Ansatz entscheidend, für den sowohl die reduktionistische als auch die vitalistische Sichtweise unbefriedigend sind. Dennoch steht Channells Vorschlag nur teilweise im Einklang mit der posthumanistischen Sensibilität.43 Zunächst einmal lässt sich mit dem hier in Erinnerung gerufenen Konzept „Leben“ feststellen, dass ein vitaler Ansatz auf der Annahme eines vitalen Prinzips beruht, das, vom Begriff des Lebens (lat. vita, daher: Vitalismus) getragen, kaum definierbar

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Die Quantenphysik hat zum Beispiel die Nicht-Reduzierbarkeit der Materie nachgewiesen, vgl. Ferrando 2019: Kapitel 29. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Text 1991 veröffentlicht wurde, d. h. vor der Entwicklung des Posthumanismus als Bewegung.

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ist.44 Außerdem birgt Channells Begriff der „vitalen Maschine“ einige der Probleme, die bereits bei den Überlegungen zu Agambens Vorschlag der „anthropologischen Maschine“ (vgl. Ferrando 2019: Kapitel  13) dargelegt wurden (z.  B. durch die Untergrabung des prozess-ontologischen Aspekts der Existenz). Nimmt das Interesse an Künstlichem Leben den nichtmenschlichen Tieren die Aufmerksamkeit? Mit anderen Worten: Ist der Philosophische Posthumanismus technozentrisch? Dies ist eine sehr wichtige Frage, weshalb es klarzustellen gilt, dass der Philosophische Posthumanismus weder ein technozentrischer noch ein technikfeindlicher Ansatz ist und dass seine Art und Weise, künstliches Leben anzunehmen, weder absolut noch dekontextualisiert ist. Es ist an der Zeit, die post-anthropozentrische Antwort des Philosophischen Posthumanismus mit der Diskussion über künstliches Leben zu verbinden. Die Destabilisierung der Grenze belebt/unbelebt durch die Integration des „künstlichen Lebens“ in das Konzept des „posthumanen Lebens“ wird nicht in einer hierarchischen Weise vollzogen. Bevor genauer erläutert wird, wie diese Interessenschwerpunkte erfolgreich koexistieren und einander ergänzen können, sollte zugestanden werden, dass einige Denker*innen diesen Trugschluss auch in die posthumane Bewegung getragen haben. In letzter Zeit erregt der Posthumanismus viel Aufmerksamkeit und ist Mainstream geworden. Während dieses wachsende Interesse wertvolle Gelegenheiten für den Dialog und die Zusammenarbeit bietet, zeigt sich eines der Probleme des Umstandes darin, dass der Posthumanismus in Bereiche vordringt, die historisch dafür verantwortlich waren, traditionelle Machtstrukturen bei den Denker*innen aufrechtzuerhalten, die das „exotische“ Anderssein, wie den Roboter, die biotechnologischen Chimären und den Klon bereitwillig aufgreifen, ohne sich mit den Unterschieden im menschlichen Bereich45 (den menschlichen „Anderen“, wie der Post-Humanismus betont) und auf dem Planeten Erde (den nicht-menschlichen „Anderen“, wie der Post-Anthropozentrismus betont) zu befassen. Der Philosophische Posthumanismus stützt sich nicht auf ein hierarchisches System; (menschliche und nicht-menschliche) Andersartigkeit wird als offener und sich ständig entwickelnder Bezugsrahmen angenommen, nicht als ein undisziplinierbares Chaos, das es zu normalisieren, zu verfremden oder zu vergöttern gilt. Und doch ist die Gesellschaft im Moment sehr schnell dabei, die Technologie hochzujubeln. Zum Beispiel war die in Saudi-Arabien im 44 45

Zum Vitalismus vgl. Ferrando 2019: Kapitel 28. Diese Art von Wissenschaftler*innen nähert sich der maschinellen Differenz durch hegemoniale Genealogien an, ohne die Studien über die Differenzen zu berücksichtigen, die, um bell hooks (1984) zu zitieren, von den menschlichen „Randgebieten“ (margins) aus entwickelt wurden, wie z. B. dem Feminismus oder den Critical Race Studies.

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Jahr 2017 vorgenommene Verleihung der Staatsbürgerschaft an den Roboter Sophia eine wichtige Errungenschaft auf dem Gebiet der Rechte von Robotern;46 diese Nachricht erregte großes Medieninteresse. Nur wenig Resonanz fand andererseits die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens, den Amazonaswald als „Rechtssubjekt“47 anzuerkennen und dem Wald somit einen Personenstatus zu verleihen (vgl. Stubley 2018)48 – ein juristischer Versuch, das Problem der globalen Entwaldung anzugehen und einen Präzedenzfall in der Klimapolitik zu schaffen. Aus posthumaner Perspektive ist dieses Ungleichgewicht in der medialen Aufmerksamkeit symptomatisch. Die Gesellschaft ist bereit, sich vor Maschinen zu fürchten und von ihnen faszinieren zu lassen; der Roboter wird als unser Nachfahre betrachtet, der schließlich rebellieren und das Primat des Menschen ersetzen wird. Auch wenn diese symbolische Verschiebung radikal erscheinen mag, bleibt die hierarchische Struktur intakt: Der Wechsel vom Theozentrismus zum Anthropozentrismus des humanistischen Paradigmas geht dem Wechsel vom Anthropozentrismus zum Technozentrismus der heutigen Zeit voraus. Die Zentralität der Maschine steht nicht im Einklang mit dem Philosophischen Posthumanismus, demzufolge die Maschine Teil der Evolution ist, wobei die Evolution nicht als vertikaler Prozess betrachtet wird: So weist Stephen Gould (1996) in Übereinstimmung mit Charles Darwin (1859) darauf hin, dass sich die Evolution nicht in Richtung Komplexität, sondern in Richtung Diversifizierung bewegt. Setzt künstliches Leben ein neues ontologisches Primat voraus? Aus einer philosophischen posthumanistischen Perspektive bringt das Verständnis von künstlichem Leben im Bereich des „posthumanen Lebens“ kein neues Primat über Menschen, nichtmenschliche Tiere oder die Umwelt mit sich. Es impliziert keine unkritische Akzeptanz von dystopischen Zukünften, in denen die „Natur“ durch künstliche Nachbildungen ersetzt wird. Es bedeutet also keine Übergabe des Zepters von Menschen zu Robotern. Die radikale Bewegung des Philosophischen Posthumanismus dekonstruiert das Zentrum des Diskurses, ermöglicht somit einen multifokalen Ansatz und fördert eine dynamische 46

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Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Schritt auch als verfrüht und nicht respektvoll gegenüber den in Saudi-Arabien lebenden Menschen kritisiert wurde, denen derartige Rechte nicht gewährt wurden (vgl. Wootson 2017). Das bedeutet, dass ihm die gleichen gesetzlichen Rechte wie einem Menschen zuerkannt werden (ich möchte Quentin Turner danken, der mich auf diese Nachricht aufmerksam gemacht hat). Es ist erwähnenswert, dass „das Urteil erfolgte, nachdem eine Gruppe von 25 Personen im Alter zwischen 7 und 26 Jahren eine Klage eingereicht hatte, in der sie behaupteten, dass ihre verfassungsmäßigen Rechte auf Leben, Nahrung und Wasser verletzt wurden“ (Stubley 2018: o.S., Übersetzung S.C./A.S.).

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Offenheit, die einer Pluralität von Perspektiven (vgl. Ferrando 2019: Kapitel 27) Rechnung tragen kann. In der Ära des Anthropozäns sollte Technologie als „Ökotechnologie“ neu gedacht werden. Was bedeutet „Öko-Technologie“? Es bedeutet, dass Technologie nicht losgelöst von der Umwelt, sondern als Teil der Umwelt gedacht werden sollte. Es soll nun kurz geklärt werden, warum. Im Kreislauf der materiellen Existenz kommen die technologischen Objekte aus der Erde – zum Beispiel in ihren Verkörperungen aus Mineralien, Metallen und anderen Materialien – und kehren, nachdem sie entsorgt wurden, zu ihr zurück. Ist ihr materieller Kreislauf vom Konzept der Technologie getrennt? Nein, das ist er nicht. Aus einer posthumanistischen Perspektive vereint das Konzept der Technologie all ihre Implikationen, einschließlich der soziopolitischen Auswirkungen ihres Materials und dessen Entsorgung. Zum Beispiel ist das Columbit-Tantalit (Coltan), ein seltenes Erz, das bei der Herstellung von Elektronikgeräten wie Laptops und Handys verwendet wird, vorwiegend in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) zu finden und wird in den von Rebellen kontrollierten Gebieten abgebaut, was dramatische Auswirkungen auf Zivilisten, Wildtiere und Nationalparks hat (Grespin 2010). Man muss auch an die Toxizität von Elektroschrott und seine Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt denken (Widmer 2005). Darüber hinaus erfordern die meistverwendeten Technologien wie Handys und das Internet vermehrt die Anwesenheit von Satelliten in der Umlaufbahn, die für die zunehmende Menge an Weltraumschutt verantwortlich sind (NASA o. J.).49 Insgesamt sollte aus einer erweiterten posthumanistischen Perspektive der Begriff „technologische Entwicklung“ nicht auf eine einseitige Art und Weise angegangen werden (d. h. eine, die nur in einem bestimmten Bereich oder nur für eine bestimmte Spezies Fortschritt bringt), sondern ist umfassend zu betrachten: Der Fortschritt, den diese Technologien beispielsweise (einigen) Menschen bringen, darf nicht auf Kosten der menschlichen und nicht-menschlichen „Anderen“ gehen (vgl. Ferrando 2019: Teil 2). Technologische Entwicklungen erfordern aus post-humanistischer und postanthropozentrischen Perspektive nachhaltige Praktiken in ihren Intentionen und ihrer Materialisierung. Der Philosophische Posthumanismus lädt dazu ein, auf relationale und vielschichtige Weise vorzugehen, und zwar in einer post-dualistischen, post-hierarchischen Praxis, die einen geeigneten Ansatzpunkt bietet, sich der Existenz jenseits der Grenzen von Humanismus und Anthropozentrismus zu nähern.

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Übersetzung: Simone Cavallini/Annika Schlitte

Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis Ein Versuch über die Grenzen anti-essenzialistischen Denkens am Beispiel Rosi Braidotti Jenni Brichzin

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Einleitung

Die Welt ist zu sehr auf den Menschen fokussiert. Klimawandel, Artensterben, Raubbau an der Natur – diese allzu bekannten Entwicklungen unserer Zeit deuten darauf hin, dass menschliches Denken und Handeln bisher zu sehr um den Menschen gekreist, dass darüber globale Zusammenhänge und multiple Abhängigkeiten aus dem Blick geraten sind. Die Welt ist zu wenig auf den Menschen fokussiert. Auch diese These wird begründet vertreten: Kapitalistische Orientierung am Profit statt am Menschen, digitale Datenströme, die ganzheitlich humanistische Perspektiven desintegrieren, autoritäre Diskurse über die Ungleichwertigkeit verschiedener Menschengruppen – das alles sind gegenwärtige Tendenzen, die den Ruf nach einer stärkeren Orientierung am Menschen, nach mehr Menschlichkeit ebenso begreiflich werden lassen wie Aufrufe zur humanistischen Abstinenz. Am Anfang dieses Textes steht damit ein Widerspruch: Es gibt gute, in der gesellschaftlichen Praxis und Wirklichkeit fundierte Gründe, vom Menschen abzusehen und gleichzeitig auf den Begriff des Menschen zu pochen. Es ist ein Widerspruch, der sich weder eindeutig auflösen noch vollständig überwinden lässt – wie Rosi Braidotti, die eine bekannte Vertreterin des Posthumanismus ist und in diesem Text noch eine große Rolle spielen wird, schreibt: Als Komplize von Verbrechen und Völkermorden auf der einen Seite, als Träger gewaltiger Hoffnungen und Freiheitsbestrebungen auf der anderen widersteht der Humanismus einer eindimensionalen Kritik (Braidotti 2014: 22).

Und weiter: Aufgrund solch gewaltiger Widersprüche führt die scheinbar endlose Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Antihumanismus in eine Sackgasse. […] Zunehmend wünschenswert und notwendig wird eine andere Option: Posthumanismus als eine Bewegung, die über diese fatalen Gegensätze hinausgeht (ebd.: 41–42). * Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 443532822. Der Aufsatz ist zu Beginn des Projekts entstanden. © Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_008

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Braidotti, und mit ihr viele andere (z.  B.  Haraway 1985; Barad 2003; vgl. Foucault 1971), ruft also zum theoretischen Fortschritt auf, den sie im posthumanistischen Denken erkennt. An die Stelle eines in fixen Binaritäten verankerten Denkens soll aus ihrer Sicht eine „monistische“ Philosophie treten, welche die Welt als einen Ort begreift, der durch komplexe (statt binäre) Alterierungsprozesse im ständigen Wandel, aber eben auch in ubiquitärer Verbundenheit befindlich ist. Die historische Erfahrung macht diese Theoriebewegung plausibel: Einmal getroffene, für absolut gehaltene Festlegungen offenbaren sich im Zeitverlauf unvermeidlich als unzureichend, ein unverbrüchliches Festhalten an ihnen hat nicht selten problematische – etwa diskriminierende, ausschließende, abwertende – Konsequenzen. Ein neues, ein posthumanistisches Denken soll helfen, diese ständig lauernde Gefahr der Essenzialisierung endgültig zu bannen – in Braidottis Worten: „Ein nomadischer, zoézentrierter [also auf das Fließen des Lebens fokussierter; JB] Ansatz verbindet menschliches mit nichtmenschlichem Leben zu einer umfassenden Ökophilosophie des Werdens“ (Braidotti 2014: 108). Doch gegenwärtig mehrt sich die Kritik an theoretischen Ansätzen, die derart von eindeutigen und absoluten Bestimmungen abzusehen und die Welt als offenen Werdensprozess zu begreifen suchen (vgl. McIntyre 2018; Fuller 2018; Koschorke 2018). Ihnen wird eine Mitverantwortung (wenn nicht sogar die Verantwortung überhaupt) zugeschrieben für das, was heute häufig den Namen „postfaktisches Zeitalter“ erhält: Für politische Tendenzen also, die schlichte Gegebenheiten – etwa die Größe eines Publikums, unbestreitbar auf Band festgehaltene Aussagen oder historisch verbürgte Geschehnisse – zum Zwecke des Propagierens der je eigenen Weltsicht relativieren oder gar ganz negieren. Im Speziellen werden immer wieder Parallelen aufgezeigt, die zwischen dem poststrukturalistischen bzw. postmodernen Wissenschaftsdiskurs und dem politischen Diskurs der Neuen Rechten bestehen: Hier wie dort werden absolute Wahrheitsansprüche infrage gestellt; hier wie dort werden hegemoniale Weltsichten problematisiert; und hier wie dort werden diesen Weltsichten alternative Deutungen entgegengesetzt. Die resultierende These lautet: Die gegenwärtige Geltungskrise ist nicht zu denken ohne geistes- und sozialwissenschaftlich kultivierte Geltungsskepsis. Wenn Theorien bewusst davon absehen anzugeben, was wahre und was falsche Aussagen auszeichnet, was menschliches und was unmenschliches Handeln ist, wissen sie tatsächlich unwahren (oder schlicht verlogenen) Aussagen und unmenschlichem Handeln auch nichts mehr entgegenzusetzen. Theorie hat einen Einfluss auf öffentlichen Diskurs und politische Praxis, und im Falle anti-essenzialistischer Theorien wird dieser Einfluss in der derzeitigen Debatte als regressiv vorgestellt.

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In diesem Aufsatz nehme ich solche Kritik zum Anlass, um eine bestimmte Richtung anti-essenzialistischen Denkens – nämlich posthumanistische Theorie – einer kleinen Untersuchung auf nicht intendierte, potentiell problematische (politische) Nebenfolgen zu unterziehen. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wo stößt der implizit formulierte Anspruch posthumanistischer Theorieansätze, die wissenschaftlich ebenso wie politisch bessere, fortschrittliche Theorieoption zu sein, an seine Grenzen? Anders jedoch als vielen Kritiker*innen geht es mir dabei nicht darum, solche Ansätze pauschal zu verwerfen, ihre intellektuellen Leistungen zu negieren und mir von der Abschaffung eines vermeintlich falschen Denkens eine Lösung der politischen Krisen zu erhoffen, in denen wir uns global derzeit befinden. Vielmehr geht es mir, ziemlich schlicht, zunächst einmal lediglich um eine differenzierende wissenschaftliche Selbstreflexion und -aufklärung. Die entsprechende Argumentation wird dabei in vier Schritten entwickelt: Im zweiten Abschnitt stelle ich auf allgemeiner Ebene einige Grundelemente des anti-essenzialistischen Paradigmas vor, die auch für posthumanistische Ansätze zentral sind. Dabei wird deutlich, dass die Zielrichtung solchen Denkens nicht politischer Relativismus, sondern im Gegenteil eine neue Form gesellschaftlicher Aufklärung ist. Im dritten Abschnitt setze ich mich vor diesem Hintergrund – von den Einsichten der Kritischen Theorie profitierend – mit der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, genauer noch mit der politischen Wirkung theoretischer Bestimmungen, auseinander. Im darauffolgenden vierten Abschnitt wende ich mich konkret der kritischen Analyse eines bestimmten posthumanistischen Ansatzes zu, nämlich dem von Rosi Braidotti. Ziel ist es dabei, dessen immanente Widersprüche und nicht intendierten (politischen) Nebenfolgen auszuloten. Im abschließenden Fazit stelle ich, unter Bezug auf Theodor Adorno, erste Überlegungen an, ob sich nicht die bei Braidotti deutlich werdende bewusste Affirmation des Widersprüchlichen – in dem sie den Kritiker*innen aus meiner Sicht deutlich voraus ist – noch fruchtbarer machen ließe, wenn Widersprüche nicht nur pauschal affirmiert, sondern tatsächlich zum Ausgangspunkt der theoretischen Überlegung gemacht würden.

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Das anti-essenzialistische Paradigma als neue Form der Aufklärung

Die oben vorgestellte Theoriekritik, der Vorwurf also, anti-essenzialistische (und damit auch posthumanistische) Denkweisen würden regressiven gesellschaftlichen Tendenzen Vorschub leisten, mag die eine oder den anderen

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überraschen: Ist nicht jenes Denken, der Poststrukturalismus beispielsweise, ganz explizit geboren aus einem immer auch politischen Ansinnen der Befreiung? Nicht zufällig entfaltet es sich nämlich vor allem im Zeitraum zwischen den 70er und den 90er Jahren des vorherigen Jahrhunderts – ein Zeitraum, der intensiven gesellschaftlich-politischen Befreiungsbestrebungen die Bühne bereitet. Angetrieben insbesondere von den „Neuen Sozialen Bewegungen“ drängen viele Menschen auf eine gerechtere, gleichberechtigtere und ökologischere Gesellschaft hin. Eine derart neue Gesellschaft ist aber ohne neue Denkweisen nicht vorstellbar. Der enge Zusammenhang zwischen politischen Problemwahrnehmungen und neuen Formen, über Menschen und Gesellschaft nachzudenken, wird in einer wichtigen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung deutlich, der sogenannten Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte (Dekker 2013: 35; Hirschauer 1992). Jene Debatte entbrennt etwa Mitte der 1980er Jahre, und zwar zunächst innerhalb der Reihen feministischer Forscher*innen. Innerhalb der feministischen Wissenschaftstheorie zerbricht man sich beispielsweise den Kopf darüber: Warum haben es weibliche Forschende im Wissenschaftssystem nach wie vor so viel schwerer als Männer? In den unterschiedlichen Antworten auf diese Frage öffnet sich nun eine theoretische Kluft: zwischen jenen Erklärungsweisen, die bald als „essenzialistisch“ grundlegend problematisiert werden, und ihnen entgegen gerichteten, anti-essenzialistischen Perspektiven auf die Welt. Auf der einen Seite stehen Forscher*innen wie etwa Evelyn Fox Keller, die die Inkompatibilität patriarchaler gesellschaftlicher und insbesondere wissenschaftlicher Strukturen mit der weiblichen Natur anprangern (z. B. Keller 1985). Gesellschaft im Allgemeinen und Wissenschaft im Speziellen seien auf eine Weise organisiert, die den angeblich genuin weiblichen Qualitäten – etwa ganzheitlichem Einfühlungsvermögen – nicht die gebührende Anerkennung gewähre. Durch die Geringschätzung weiblicher Forschender würde die Wissenschaft daher ihr eigenes Wahrheitsideal verraten und wichtige Erkenntnispotentiale vergeben, die durch weibliches Einfühlungsvermögen gehoben werden könnten. Die andere Seite hingegen sieht genau in einer derartigen Argumentation das zentrale Problem. Indem die Gegenseite nämlich auf eine vermeintlich weibliche „Natur“ rekurriert, nehme sie ihren Ausgangspunkt bei der Vorstellung eines der Frau wesenhaften „Kerns“, einer „Essenz“ (z. B. Hibner Koblitz 1987). Anstatt also dazu beizutragen, die Frau aus ihren gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, würde sie auf eine – immer auch anders denkbare – differentia specifica festgeschrieben. Damit aber trage die Wissenschaft selbst dazu bei, die gesellschaftlich generierte Vorstellung vom essenziellen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu naturalisieren – sie

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stabilisiere auf diese Weise performativ gerade die eigentliche Ursache der problematischen Stellung der Forscherinnen: die enorme gesellschaftliche Relevanz der Kategorie „Frau“ (Butler 2014: 43). Von der feministischen Forschung ausgehend erfasst die Kontroverse nach und nach immer weitere Bereiche, Kritik an essenzialistischem Denken wird zum wichtigen Moment beispielsweise der Migrationsforschung (vgl. Sökefeld 2007: 32), der politischen Theorie (vgl. Laclau/Mouffe 2015), insbesondere auch der postcolonial studies (z. B. Spivak 1999). Überall eröffnen anti-essenzialistische Perspektiven neue Blickwinkel auf den je eigenen Gegenstand. Das Ausmaß, in dem gesellschaftliche Zuschreibungen und Kategorisierungen Wahrnehmungen und Handeln beeinflussen, wird nun nach und nach sichtbar; die Kontingenz, ja, historische Willkür, mit der Menschen, Gruppen, Prozessen Normalität zu- oder abgesprochen wird, begreiflich. Indem essenzialistische, auf das Wesen der Dinge abzielende Herangehensweisen derart unbewusst zur Perpetuierung gesellschaftlicher Ungleichheit (etwa zwischen den Geschlechtern) beitragen, werden sie zum Problem einer nach Befreiung strebenden Gesellschaft. „Essenzialismus“ wird zur „Gefahr“, wie etwa Braidotti warnt (Braidotti 2014: 67). Oder, wie es die Philosophin Herta Nagl-Docekal formuliert, zu einem „Vorwurf, der kaum schlimmer sein könnte“ (Nagl-Docekal 1997: 20). Bis tief in die 1990er Jahre hinein wird die Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte schwelen. Um es noch einmal zu betonen: Bei all dem geht es eben nicht allein um wissenschaftliches Streben nach neuer Erkenntnis. Zugleich geht es (wie nicht selten in der Wissenschaft) darum, eine allgemeine gesellschaftliche Befreiungsbewegung im Mittel der Entwicklung neuer Denkweisen zu ermöglichen und voranzutreiben. Am deutlichsten wird das vielleicht dort, wo um die Bedeutung des Begriffs der Aufklärung gerungen wird. Braidotti stellt die Ambivalenz auch dieses Begriffs explizit heraus: The notion of progress and liberation through an adequate use of reason is to be re-examined in the light of history – particularly in the light of such extreme phenomena in contemporary Western history as totalitarian political systems, genocides, colonialism, and domination (Braidotti 1994: 96).

Historisch zeigt sich also mitunter sehr klar, dass auch diejenigen, die sich auf reinen Vernunftgebrauch berufen, vor falschen Festlegungen nicht gefeit sind. Gegen derart ungerechtfertigte Festlegungen, gegen unhaltbare Annahmen über Wesen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, die die Form von Essenzialisierungen annehmen (und sich durch die Berufung auf Vernunft nur noch zusätzlich gegen Kritik immunisieren), wendet sich antiessenzialistisches Denken.

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Michel Foucault, einen der zentralsten Vertreter*innen jenes Denkens, veranlasst das jedoch nicht dazu, die Idee der Aufklärung vollständig zu verwerfen. In einem Vortrag von 1983 mit dem Titel „Was ist Aufklärung?“ erklärt er die Aufklärung – anders als zuvor den Menschen – gerade nicht für überholt; er hält an der Vorstellung der Aufklärung als befreiender Bewegung des Geistes, die tief in die Gesellschaft hineinreicht und diese zu transformieren in der Lage ist, fest (Foucault 1990). Im Zentrum steht dabei nun jedoch nicht mehr der alles überragende Appell an die Vernunft. Foucault propagiert vielmehr eine neue Form der Aufklärung – eine Form der Aufklärung nämlich, die Freisetzung nicht so sehr durch die Herauslösung aus hergebrachten Traditionen und devotem Autoritätsglauben ermöglicht. Die Freisetzung erfolgt vielmehr dadurch, dass dem Denken Wege aufgezeigt werden, wie es sich von problematischen, einengenden, unterwerfenden, vereinseitigenden, ja, falschen Bestimmungen frei machen kann, die auch und gerade durch einen zu starren Vernunftglauben herbeigeführt worden sind. Foucault fasst diesen Perspektivwechsel folgendermaßen in Worte: Nicht länger könne es darum gehen, aus der Form unseres Seins das [abzuleiten], was wir unmöglich tun und wissen können; sondern [darum,] in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit [aufzufinden], nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken (ebd.: 49).

In einer als offen und nicht endgültig bestimmbar begriffenen Welt geht es darum, Beschränkungen und Verkrustungen zu entlarven und auf diese Weise nicht verwirklichten Potentialen die Entfaltung zu ermöglichen. Man müsse darauf aus sein, meint Foucault, „der unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben“ (ebd.). Aufklärerisches Denken muss für ihn in der Gegenwart nicht rationalistisches, es muss anti-essenzialistisches Denken sein. Die theoretischen Mittel, die dazu eingesetzt werden, ähneln sich über verschiedene, als anti-essenzialistisch zu begreifende Theorieansätze hinweg – dazu lassen sich nicht nur poststrukturalistische und posthumanistische Ansätze zählen, sondern etwa auch neo-pragmatistische Zugänge, neuere Netzwerktheorien und neo-materialistische Ansätze, um nur einige zu nennen (Fuchs 2001; Bonacker 2000). Die Einheitlichkeit der theoretischen Mittel macht es plausibel, von einem Paradigma zu sprechen – die drei zentralen wissenschaftstheoretischen Stellschrauben lassen sich dabei in Kürze folgendermaßen charakterisieren: Auf ontologischer Ebene geht antiessenzialistisches Denken strikt von der Unbestimmtheit der Welt aus – der Versuch einer absoluten wissenschaftlichen Bestimmung (etwa des „Wesens“ der Frau oder auch des Menschen) erscheint also als inadäquat, weil Unterscheidungen selbst erst ein Produkt des gesellschaftlichen Prozesses sind.

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Auf methodologischer Ebene zeichnet anti-essenzialistisches Denken sich durch seine Skepsis gegenüber dem Begriff als zentralem Erkenntnismittel aus – jeder Versuch, einen Gegenstand in einem Begriff zu erfassen, wird als potentiell essenzialisierend problematisiert. Auf epistemologischer Ebene schließlich verabschiedet sich anti-essenzialistisches Denken vom Glauben an eine herausgehobene Position des Erkenntnissubjekts, da Erkenntnis unvermeidlich situiert und damit nie absolut ist. Zusammengenommen wirken diese drei wissenschaftstheoretischen Weichenstellungen darauf hin, einmal getroffene Bestimmungen nie für sakrosankt zu erklären, sie immer wieder zu hinterfragen, zu verflüssigen, zu dekonstruieren. Die Befreiungswirkung anti-essenzialistischer Ansätze beruht also auf der Freisetzung aus verabsolutierenden, vereindeutigenden Bestimmungen. Auf diese theoretischen Umwälzungen passt in der Tat das berühmte Zitat, das Neil Badminton für seine Überlegungen zum Posthumanismus so treffend entlehnt hat: „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Badminton 2003: 10) – diesmal auf Theorie gemünzt. Begriffen als neue Form aufklärerischen Denkens zielen anti-essenzialistische Ansätze mitnichten auf eine Relativierung von Wahrheit – erst recht nicht auf eine Nivellierung demokratischer und autoritärer Herrschaftsformen. Vielmehr suchen sie Antworten zu geben auf eine Frage, die etwa Immanuel Kant in seiner berühmten Bestimmung der Aufklärung noch überhaupt nicht als Problem erkannt hatte: Wie genau kann es eigentlich gelingen, sich von der „Leitung eines anderen“ (Kant 1975) – oder vielleicht noch schwieriger: vom eigenen bisherigen Denken, insofern es in eine falsche Richtung zielte – zu lösen? Wie gelingt es uns, „uns von geistigem Provinzialismus, sektiererischen Ideologien, unredlichen Verlautbarungen und lähmender Angst zu befreien“ (Braidotti 2014: 17)? Für Neubestimmungen ist der Verstand zu gebrauchen, so weit ist die Sache mit Kant klar. Aber wie werden wir eigentlich alte Bestimmungen los, wie kann uns der – auch psychologisch so voraussetzungsvolle – Akt gelingen, uns von falschen Absolutismen und unzutreffenden Essenzialisierungen zu verabschieden? Empirisch zeigt sich: der Appell an die Vernunft hilft hier nicht viel weiter, zeitigt sogar mithin selbst paradoxe Folgen. Die Antwort auf die Frage lautet daher: anti-essenzialistisches Denken.

3

Verschiedene Arten politischer Wirkmächtigkeit von Theorie

Weit davon entfernt also, bereits von ihrer Anlage her relativistisch, zynisch, politisch gleichgültig zu sein, ist jenes anti-essenzialistische Denken, dem auch posthumanistische Strömungen zugerechnet werden können, immer

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schon zutiefst politisch. Und zwar politisch nicht in einem regressiven Sinne, wie es ihm Kritiker*innen vorwerfen, sondern durch und durch progressiv gedacht. Bei Braidotti etwa scheint gar die Utopie einer vollauf guten Theorie in einer vollauf guten Gesellschaft auf: Es ist der Traum eines gesellschaftlich relevanten Wissens, das auf Grundprinzipien sozialer Gerechtigkeit eingestellt ist, die Achtung menschlicher Würde und Vielfalt, die Ablehnung falscher Universalismen, die Bejahung der Differenz, das Prinzip der akademischen Freiheit, des Antirassismus, der Offenheit für andere und des Zusammenlebens (Braidotti 2014: 16).

So gesehen lässt sich anti-essenzialistisches Denken politisch übersetzen als „radikales Streben nach Freiheit“ (ebd.: 17). Wie aber kann man – hat man einmal diese theoretischen Hintergrundüberlegungen im Kopf – auf die Idee kommen, Anti-Essenzialismus befördere regressive politische Tendenzen? Sehen wir uns dazu das Verhältnis von Theorie und Politik einmal etwas genauer an. Spätestens mit dem Aufkommen der Kritischen Theorie dürfte die Einsicht weitgehend im allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstsein angekommen sein (vgl. Gertenbach/Rosa 2009): Theorie ist politisch, und zwar jeder theoretische Ansatz und jede beliebige Denkrichtung. Sie besitzen unweigerlich ein politisches Moment, ob es nun intendiert ist oder nicht: Theorien sind nie unabhängig zu denken von den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen sie ihre Formulierung verdanken, und sie wirken umgekehrt selbst auf jene Verhältnisse zurück. Diese kritisch-theoretische Einsicht trifft zunächst einmal vor allem die „traditionellen Theorien“ im Verständnis Max Horkheimers (Horkheimer 1970). Jene Theorien also, die den gesellschaftlichen Status quo nicht hinterfragen, sondern sich – nur vermeintlich rein wissenschaftlich und sachorientiert – fleißig daran machen, dessen ungelöste Probleme zu bewältigen. Indem sie das machen, indem sie nämlich schlicht das Problemverständnis übernehmen, das ihnen jener Status quo nahelegt, erkennen sie die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse an und zementieren sie weiter. Genau das ist es, was Vertreter*innen anti-essenzialistischer Ansätze jenen vorwerfen, die mit essenzialisierenden Denkmitteln arbeiten: dass mit der Übernahme von gesellschaftlich naheliegenden Kategorien – etwa die „Frau“, der „Migrant“, die „Muslimin“ – zugleich unhinterfragt gesellschaftlich vorgegebene Relevanzen und Sichtweisen übernommen werden. Es kommt zu dem paradox anmutenden Ergebnis, dass solches Denken jene Denkkategorien überhaupt erst mit hervorbringt, von denen es doch selbst ausgegangen war. Der Vorwurf, den man an „traditionelle“ Theorien im Allgemeinen und im Speziellen an

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Theorien richten kann, die auf Eindeutigkeit und Absolutheit (möglicherweise auch Berechenbarkeit) ihrer Bestimmungen fixiert sind, lautet: dass sie ihre eigene politische Wirkmächtigkeit nicht im Blick haben. Das kann man „kritischen Theorien“ im Horkheimer’schen Sinne nicht vorwerfen: Sie sind von vorneherein darauf ausgelegt, den Status quo zu hinterfragen – eine kritische Theorie „arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhandenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus“ (Horkheimer 1970: 35). Das entspricht wohl ziemlich genau dem Selbstverständnis anti-essenzialistischer Denkrichtungen: Sie wenden sich explizit gegen gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten und Automatismen, mit denen Gruppen, Kategorien, Prozesse als „normal“ bzw. „natürlich“ adressiert und damit auf ein bestimmtes Sosein festgeschrieben werden. Anti-essenzialistisches Denken ist nicht nur implizit, es ist ganz explizit und intendiertermaßen politisch. Und doch ist der Vorwurf, den gegenwärtig Kritiker*innen an Vertreter*innen anti-essenzialistischen Denkens richten, genau dieser: dass sie sich der (problematischen, nämlich regressiven) politischen Wirkung des eigenen Denkens nicht bewusst seien. Der Vorwurf gleicht damit der anti-essenzialistischen Kritik am Essenzialismus, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Während erstere letzterem vorhält, durch das Suggerieren eindeutiger und absoluter Wahrheiten tatsächlich Kontingentes dauerhaft festzuschreiben, prangert die gegenwärtige Kritik die Relativierung relevanter Einsichten – etwa demokratischer, medizinischer, historischer Art – durch das Infragestellen der Erreichbarkeit von Wahrheit an. Braidotti spricht vom „denkfaulen Vorwurf des moralischen und kognitiven Relativismus“ (Braidotti 2014: 155). Doch mit dieser Art und Weise, die Kritik an anti-essenzialistischem Denken pauschal vom Tisch zu wischen, macht man es sich möglicherweise etwas zu einfach. Am Horkheimer’schen Begriff der kritischen Theorie lässt sich das verdeutlichen, denn hier klafft eine Lücke: Horkheimer hat dabei nur die intendierten politischen Folgen kritischer Theoriebildung im Blick. So macht es sich beispielsweise eine kritische Theorie, wie er sie seinerzeit (und viele ja auch bis heute) für notwendig hält, zur Aufgabe, die dominante bürgerliche Ideologie zu hinterfragen, sie wirkt aktiv auf eine Überwindung genau jener Ideologie hin (Horkheimer 1970: 196). Dass sie darüber hinaus jedoch noch andere politische Wirkungen erzielen, dass sie nicht intendierte Nebenfolgen haben könnte – beispielsweise autoritäre Nebenfolgen, man denke an das Verhältnis von marxistischer Theorie und sowjetischem Sozialismus –, wird in keiner Weise adressiert. Und mehr noch: dass nicht jede kritische Theorie eine kritische Theorie bleiben muss (vgl. Kuhn 1973), dass diese Kategorie also nicht eine essenzielle Qualität eines bestimmten Denkansatzes bezeichnet,

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wird ebenfalls nicht expliziert. Dabei ist ein solcher Übergang von einer kritischen zur traditionellen Theorie im Grunde doch genau das, was Horkheimer gemeinsam mit Theodor Adorno in der Dialektik der Aufklärung beschreibt: Der Rationalismus der Aufklärung – ursprünglich durch und durch kritisch gedacht und gegen einen an Traditionen, an hergebrachtem Wissen der Vergangenheit orientierten Status quo gerichtet – wird in dem Maße zur traditionellen Theorie, wie er mit der Zeit kaum noch hinterfragt wird und absolute Geltung beansprucht. Der Anspruch absoluter Geltung führt schließlich zum dialektischen Umschlag: Gerade das kategorische, das vereinseitigende Streben nach einer bestimmten Form von Vernunftgebrauch im Namen der Befreiung führt – aufgrund der dogmatisch behaupteten Ausschließlichkeit, die nichts anderes mehr neben sich gelten lässt – in die Barbarei. Aus kritischer Theorie ist traditionelle Theorie geworden, und die Wirkungen jener Theorie weisen in eine Richtung, die der ursprünglichen Intention gerade entgegengesetzt ist. Anti-essenzialistisches Denken ist also nicht schlicht relativistisch, dieser Behauptung lässt sich eindeutig widersprechen. Weit schwieriger wird es jedoch bei der Frage, ob es nicht sein könnte, dass jenes Denken – entgegen der eigenen politischen Intentionen – relativierend wirkt. Die Überlegungen zur Dialektik der Aufklärung machen sensibel für die paradox anmutende Einsicht, dass gerade das kategorische Voranschreiten in eine bestimmte Richtung – zum Beispiel der Versuch der progressiven Befreiung durch immer weitergehende theoretische Ent-Essenzialisierung – in Verhältnisse hineinführen können, die dieser Intention entgegenstehen. Denn was passiert, wie Albrecht Koschorke in der Neuen Zürcher Zeitung fragt, wenn man es nicht mehr mit der Eigenrealität bedrohter Regenwaldvölker, sondern von gefühlten Mehrheiten und deren zunehmender Militanz zu tun hat? Angesichts einer offen bildungs- und wissenschaftsfeindlichen Regierungsagenda in den USA und anderen von Rechtspopulisten regierten Ländern rückt die Maxime, verfestigte Wahrheiten zu destabilisieren und unterschiedliche Wissenskulturen ihr Recht zu belassen, in ein deutlich fahleres Licht (Koschorke 2018).

Unter gesellschaftlichen Bedingungen also, in der nicht so sehr die neuerliche politische Befreiung im Vordergrund steht, sondern mehr noch die Verteidigung bereits errungener Freiheiten gegen regressive Tendenzen, könnte der anti-essenzialistische Widerwille gegen die eindeutige Bestimmung, die entschiedene Festlegung durchaus zum Problem werden. Soll heißen: Auch die neue, die anti-essenzialistische Aufklärung ist vor Dialektik nicht gefeit.

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Ambivalenzen anti-essenzialistischer Theorie am Beispiel der Überlegungen zum Posthumanismus von Rosi Braidotti

Wo immer behauptet wird, anti-essenzialistisches Denken wäre hauptsächlich oder gar allein verantwortlich für das Wiedererstarken ultranationalistischer, rechtsextremer, ja, faschistischer Tendenzen, wird sicherlich in einem Ausmaß übertrieben, das bereits an Unwahrheit grenzt: Zu sehr wird dann das Ineinandergreifen ganz verschiedener gesellschaftlicher Tendenzen (vgl. Foucault 2016: 220) ausgeblendet, und zu stark werden historische Erfahrungen mit dem von jeher prekären Verhältnis von Wahrheit und Politik ignoriert (Arendt 1975; Schindler 2020). Und doch sollte man von einer kritischen Theorie erwarten können, dass sie ihre eigenen möglicherweise problematischen Vereinseitigungen und inneren Widersprüche zu reflektieren in der Lage ist. Am Beispiel von Braidottis systematisierenden Überlegungen zum Posthumanismus möchte ich in Kürze zeigen, wie eine derartige Reflexion auf immanente Widersprüche aussehen könnte. Auf Braidotti komme ich dabei mitnichten, weil es sich um ein besonders problematisches Beispiel antiessenzialistischer Theoriebildung handeln würde, sondern im Gegenteil: weil diese Überlegungen auf geradezu idealtypische Weise anti-essenzialistisches Denken in konkrete theoretische Bestimmungen überführen. Nimmt man sich nun also Braidottis kleines Buch über Posthumanismus vor, so mag der Vorwurf der theoretischen Widerspruchsblindheit zunächst überraschen – immerhin geht sie ja, wie anti-essenzialistische Zugänge generell, ganz explizit von einer Affirmation von Differenz und Widersprüchlichkeit aus. So schreibt sie etwa ganz explizit: „Die posthumane Ära ist voll von Widersprüchen“ (Braidotti 2014: 56). Es brauche daher theoretische Anstrengungen „zur Entwicklung kritischer Begriffe, die der Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Zeit entsprechen“ (ebd.). Anhand von drei zentralen Theoriestellen möchte ich jedoch plausibel machen, dass die prinzipielle Affirmation des Widerspruchs einer theoretischen Kapazität zum Denken in Widersprüchen nicht entspricht. a) Die falsche Theorie. Braidotti stellt ihren Ansatz auf die Grundlage einer, wie oben bereits gesagt, „monistischen“ Philosophie, welche das Denken in binären Gegensätzen überwinden soll. Empirische Grundlage für einen solchen Zugang ist die Erfahrung, dass Gegensätze so gut wie nie absolut und stattdessen in ständigem historischem Wandel begriffen sind – der gesellschaftliche Prozess bringt Unterschiede hervor, verändert sie, ebnet sie wieder ein, lässt neue relevante Unterschiede erstehen. Ein Bruch mit einer derart monistischen, nicht von kategorischen Unterscheidungen ausgehenden Betrachtung

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ist allerdings immer dort zu erkennen, wo es um die Beschreibung des Werdens der eigenen Theorie geht. Denn diese formiert sich offensichtlich in drastischer und, ja, binärer Abgrenzung von anderen theoretischen Zugängen zur Wirklichkeit: Zu allererst natürlich in der generellen Abgrenzung von humanistischen bzw. allgemein essenzialistischen Ansätzen; darüber hinaus jedoch beispielsweise auch vom kulturtheoretischen Primat der Sprache bzw. des Nicht-Materiellen, von der defizitorientierten Betrachtung früherer Subjektvorstellungen, vom Kant’schen Universalismus, den Braidotti als autoritären Universalismus begreift, und so weiter. Fast das gesamte Schlusskapitel liest sich ein wenig wie eine Abrechnung mit dem falschen theoretischen Anderen. An dieser Stelle offenbart sich eine Paradoxie: Die monistische Theorie wider die binäre Abgrenzung formiert sich in vehementer binärer Abgrenzung von anderen Theorien. Eine ganz ähnliche Paradoxie hatte Theodor Adorno schon 1970 bei Edmund Husserl identifiziert, der auf der einen Seite vom „unterschiedslosen Fließen von Leben“ (Adorno 1970: 18) ausgehe, auf der anderen Seite aber die eigene und die von ihm kritisierte Erkenntnisweise „so dualistisch gegeneinander [stelle], wie nur je die von ihm befochtenen Lehren des Descartes und Kant es waren“ (ebd.). b) Die falsche Art der Differenz. In der monistischen Betrachtungsweise Braidottis kündigen sich die Begriffe der Differierung und Hybridisierung als Zentralkategorien an. Braidotti schreibt: Das führt zu einem radikalen Posthumanismus als einer Position, die Hybridität, Nomadismus, Diasporasituationen und Kreolisierungsprozesse in Möglichkeiten verwandelt, Subjektivitätsansprüche, Verbundenheiten und die Gemeinschaft zwischen Subjekten menschlicher und nichtmenschlicher Art wieder auf den Boden der materiellen Realität zu beziehen (Braidotti 2014: 55).

Bereits in der kategorischen Abgrenzung von bestimmten anderen Theoriepositionen wird jedoch deutlich, dass nur die richtige Art von Differenz in den Prozess dieses gemeinsamen Werdens theoretisch Eingang findet und finden soll. Und auch auf Gegenstandsebene erfährt man schnell von der Existenz des kategorial bestimmten falschen Anderen, das aus dem Prozess gleichberechtigten Werdens ausgeschlossen werden muss: das patriarchale Andere, das kapitalistische Andere, das xenophobe Andere. Täte man dies nicht, so müsste man letztlich begründen, warum nicht auch die von den Kritiker*innen anti-essenzialistischer Ansätze beschriebene problematische Verflechtung anti-essenzialistischen und postfaktischen Denkens als eine Form der zu preisenden Hybridisierung betrachtet werden kann. Dem könnte man natürlich begegnen, indem man die nicht-essenzialisierende Sichtweise selbst zum normativen Kriterium des Ausschlusses

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erhebt – zumindest Patriarchat und Xenophobie (nicht so einfach hingegen Kapitalismus und Postfaktizität) würden dann begründet Ausschluss erfahren. Dies allerdings um den Preis der Einführung eines weiteren fundamentalen Widerspruchs. Denn eine Theorie, die auf den Gebrauch der binären Entgegensetzung von essenzialisierendem und nicht-essenzialisierendem Denken angewiesen ist, lässt sich nur schlecht als tatsächlich vollständig monistisch begreifen. c) Die falsche Gesellschaft. Trotz monistischer Philosophie und einem Grundverständnis der universalen Verbundenheit in Alterität gibt es also auch bei Braidotti die Vorstellung des ausgeschlossenen, unverbundenen, des vollständig (da problematischen) Anderen. Diese Vorstellung kulminiert im Begriff des Kapitalismus. Mit Kapitalismus erhält der nach wie vor in Unfreiheit verharrende gesellschaftliche Status quo einen Namen, zu dessen Überwindung sich der als kritisch verstandene Zugang Braidottis aufschwingt. Doch immer dort, wo zum Beispiel die Bedeutung von theoretischer Kreativität und Innovativität für das Verständnis gegenwärtiger Gesellschaft hervorgehoben wird (z. B. Braidotti 2014: 59), tritt die eigene Situiertheit im Zeitalter des (kreativen und innovativen) digitalen Kapitalismus unverkennbar in Erscheinung – als Denk- und Ermöglichungsbedingung lässt sich posthumanistische Theorie davon nicht trennen. Vor allem aber schimmert immer dort, wo von Kapitalismus die Rede ist, die Vorstellung einer Verbundenheit in einem gesamtgesellschaftlichen Problemzusammenhang durch. So meint Braidotti etwa, es sei „wichtig, die Zusammenhänge zwischen dem Treibhauseffekt, der Stellung der Frauen, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und dem grassierenden Konsumdenken zu erkennen“ (ebd.: 97) – das verbindende Moment heißt Kapitalismus. Der Hegel’sche Totalitätsbegriff klingt hier an, der Wirklichkeit als von einem integrierenden Prinzip – hier dem kapitalistischen Prinzip – durchdrungen sieht. Mit anti-essenzialistischem Denken ist er nur schwer vereinbar. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sich in der von Braidotti vorgeschlagenen Theorieposition Widersprüche offenbaren, die von dieser Position selbst nicht erfasst werden können. Zwar betont sie Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt, behauptet und affirmiert sie also – die tatsächlichen theoretischen (das heißt: auch begrifflichen) Mittel über diese Affirmation hinaus, um sie zu konzeptualisieren, stellt sie jedoch letztlich nicht bereit. Die Voraussetzung dafür, solche Widersprüchlichkeit denken zu können, wäre: auf der einen Seite die Kontingenz und historische Wandelbarkeit von Gesellschaft zu sehen; auf der anderen Seite aber zugleich die notwendige gesellschaftliche Praxis operativ-unterscheidender (aber eben nicht: essenzialisierender!) Bestimmungen – für die posthumanistische Theoriebildung ja

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selbst ein Beispiel ist, insofern sie sich radikal von anderen Denkrichtungen abgrenzt – zu erfassen. Momentan liegt der Schwerpunkt auf nur einer dieser beiden Seiten.

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Anstelle eines Fazits: eine Einladung zum Denken vom Widerspruch her

Die Feststellung lautet also, dass die prinzipielle Affirmation des Widerspruchs einer theoretischen Kapazität zum Denken in Widersprüchen nicht entspricht. Wie aber ließe sich produktiv in Widersprüchen denken? Es ist ein Erbe der klassischen Vorstellung von Aufklärung, dass uns für das Verwerfen eines Gedankens bereits der reine Nachweis fehlender Widerspruchsfreiheit genügt; die klassische Logik ist häufig nach wie vor unhinterfragter Maßstab unseres Urteils. Und so genügt vielen Kritiker*innen – ungeachtet der unzähligen Einsichten und auch der tatsächlichen politischen Befreiungswirkung antiessenzialistischer Ansätze zum Trotz – der Verweis auf den Umstand, dass anti-essenzialistisches Denken die eigene Geltung nicht begründen kann. Mit dem Nachdenken muss man dann gar nicht erst beginnen. Anti-essenzialistisches Denken im Allgemeinen, und auch Braidottis posthumanistischer Ansatz im Speziellen, sind dieser Haltung insofern voraus, als sie Komplexität, Vielgestaltigkeit und inhärente Widerspruchsgeladenheit der Welt nicht negieren, sie nicht ständig aufzulösen, zu heilen, wegzutheoretisieren suchen. Indem sie aber Widersprüche, im wahrsten Sinne, „gleichgültig“ behandeln, können sie auch auf die eigene, theorieimmanente Widersprüchlichkeit und die daraus resultierenden mitunter paradoxen gesellschaftlichen Nebenfolgen nicht scharf stellen. Dazu wäre es wohl notwendig, wieder mit neuen Denkwegen zu experimentieren, und wie Braidotti halte ich die Kritische Theorie für eine wichtige Ressource, um genau das zu probieren. Anders jedoch als Braidotti würde ich dazu weit eher die Fixierung auf den Kapitalismus aus der kritischen Auseinandersetzung herauskürzen – denn eine solche Fixierung erscheint, aufgrund ihrer die gesellschaftliche Betrachtung radikal vereinseitigenden Wirkung, häufig selbst wiederum essenzialisierend –, als die geschmähte Theoriefigur der Dialektik (vgl. Braidotti 2014: 78). Denn dialektisches Denken, grundsätzlich verstanden, ist nichts anderes als ein Denken im Bewusstsein gesellschaftlicher Bewegungen in Widersprüchen und durch Widersprüche hindurch. Inspiration für ein solches Denken lässt sich dafür aus meiner Sicht in Adornos philosophischem Hauptwerk „Negative Dialektik“ finden (Adorno 1970). In diesem Buch löst Adorno die Denkfigur der Dialektik aus ihrer geschichtsphilosophischen Engführung, wie man sie insbesondere im Anschluss an

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Hegel feststellen kann. Stattdessen klingt hier etwas an, was man vielleicht als kritisch-dialektische Mikrologie der Gesellschaft bezeichnen könnte (vgl. Brichzin 2019): Anstelle eines Denkens in den Totalitäten gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge (Stichwort „Weltgeist“), eröffnen Adornos Überlegungen dort die Möglichkeit, soziale Prozesse aus dem Entstehen und Vergehen, der Entfaltung und dem Auflösen (oder dem Überwinden, oder dem Irrelevantwerden) lokaler und vielfältiger Widersprüche zu begreifen. Für Adorno trägt jede Festlegung, jede Bestimmung den Keim für ihr eigenes Überholtwerden bereits in sich – weil sich weder die Welt noch irgendeines der Phänomene in ihr auf nur eine Bestimmung festlegen lässt, weil sie notwendig über die eindeutige Bestimmung hinausragen. Die „Menschen“ sind ein gutes Beispiel dafür, denn ihr Dasein lässt sich eben nicht auf das Menschsein reduzieren: Menschen sind auch Tiere, Menschen gehören zur materiellen Ausstattung der Erde, Menschen sind Umweltfaktoren, Menschen sind Bestandteile komplexer Kausalketten, und so weiter. Theoretische Überlegungen, die derart vom Ausgangspunkt der inhärenten Widersprüchlichkeit jeglicher Bestimmung starten, justieren unsere Perspektive neu: Anstatt die Feststellung von Widersprüchlichkeit unmittelbar als Ausweis der Unhaltbarkeit zu begreifen, ließe sich dann auf die Widersprüche selbst scharfstellen. Welcher Art sind sie, wie entfalten sie sich, wie und unter welchen Umständen gewinnen sie Relevanz, ziehen Aufmerksamkeit auf sich, wie werden sie verdeckt oder rationalisiert, wie werden sie irrelevant, wie werden sie überwunden? Das alles wären Fragen, die sich mithilfe einer neuen Sensibilität für die Ubiquität sozialer Widersprüche stellen ließen. Wie angedeutet: Das Nachdenken über Widersprüche fängt bereits bei der untersten Einheit sozialer Bestimmungen an, dem Begriff. Weiter oben hatte ich die wissenschaftstheoretischen Pfeiler des anti-essenzialistischen Paradigmas knapp skizziert. Auf methodologischer Ebene besteht dabei eine fundamentale Skepsis gegenüber jeglichem Begriff – Begriffe erscheinen hier als, sozusagen, Essenzialisierungsgeneratoren, die mit fortlaufendem und unverändertem Gebrauch gerade nicht „natürliche“ Kategorien als selbstverständlich, als natürlich erscheinend in unser Denken eingräbt. Adorno stimmt dem insoweit zu, als er eben feststellt, dass „Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen“ (Adorno 1970: 15). Zur gleichen Zeit betont er aber die Funktion von Begriffen als fundamentalen „Instrumente[n] menschlichen Denkens“ (ebd.: 92): Nur durch Bestimmung gelangt ein Phänomen über sich hinaus. Was ganz unbestimmt bleibt, wird als Ersatz dafür immer wieder gesagt, so wie Gesten, die von Aktionsobjekten abprallen, immer wieder, in sinnlosem Ritual, vollzogen werden (ebd.: 119).

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Begriffe bergen also zwei Momente unvermeidlich in sich: das Potential zum Erkennen ebenso wie das Potential zum Verkennen ihres Objektes. Bereits auf wissenschaftstheoretischer Ebene ist damit das Prinzip der Widersprüchlichkeit verankert, welches sich nicht durch dezisionistisch festgelegte Option für eine der beiden Seiten stillstellen lässt, sondern stets neu ausgelotet, aufs Neue durchdacht werden muss. Das gilt auch für anti-essenzialistische bzw. posthumanistische Theorieansätze. Braidottis Hoffnung auf eine absolut gute Theorie ohne problematische Nebenfolgen wäre vor diesem Hintergrund eine Absage zu erteilen – das ist es, was ich mit der Überschrift ausdrücken wollte: Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis, denn jede getroffene Bestimmung (und sei es die ontologische Option für Unbestimmtheit) nimmt notwendig Vereinseitigungen vor, sieht von Anderem ab, kann auf Relevantes nicht scharfstellen. Das ist, denkt man einmal an die Debatten rund um die multiparadigmatische Verfasstheit der Sozialwissenschaften, an sich ja wirklich überhaupt keine neue Erkenntnis. Es lohnt sich aber, sich zweierlei deutlich bewusster vor Augen zu führen, als dies bisher vielleicht der Fall war: Zum einen, dass diese Einsicht auch für antiessenzialistische Zugänge zum Sozialen gilt – also für Ansätze, die die Welt als Unbestimmte bestimmen. Zum anderen, dass der zu zahlende Preis nicht nur im Verzicht auf Analysemöglichkeiten besteht; sondern darüber hinaus in der Gefahr, durch starres und vereinseitigtes Beharren auf der eigenen Theorieentscheidung gerade entgegengerichteten Arten des Denkens Vorschub zu leisten. Es gilt, diesem Potential zur Dialektik – also dem Bedingungsverhältnis an sich gegensätzlicher gesellschaftlicher Tendenzen im sozialen Prozess –, zum dialektischen Umschlag sogar, die analytische Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das ist es ja gerade, was Horkheimer und Adorno in Bezug auf die klassische Aufklärung diagnostizieren: gerade die Verabsolutierung der (instrumentellen) Vernunft führt in die Barbarei. Und es ist, was sich in Bezug auf die neue, die anti-essenzialistische Form der Aufklärung zumindest befürchten lässt: dass gerade das Absehen von Bestimmungen zum Zwecke der Befreiung zur Wehrlosigkeit gegenüber offensiv autoritären gesellschaftlichen Tendenzen führen könnte. Um sich diesen Bewegungen nicht auszuliefern, muss sozialwissenschaftliche Theorie aus meiner Sicht wieder stärker lernen, in Widersprüchen zu denken – und zwar nicht nur in Widersprüchen der anderen, sondern auch in denjenigen, in die wir selbst und unsere eigenen Denkwege verstrickt sind. Wenn anti-essenzialistisches Denken also derzeit verstärkt der Kritik ausgesetzt ist, so hielte ich beide Reflexe für grundfalsch: denjenigen, die Kritik sofort zu verwerfen ebenso wie denjenigen, Anti-Essenzialismus als

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starke Erkenntnisquelle zu negieren. Das könnte auch dabei helfen, einem gegenwärtig so relevanten Widerspruch nachzugehen: demjenigen zwischen dem Abschied vom Menschen und dem gleichzeitigen Ruf nach mehr Menschlichkeit.

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III. Transformationen von Subjektivität: Menschen – Tiere – Pflanzen

Tierliche Subjekte? Grenzen des Lebens im posthumanen Denken Andrea Le Moli

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Pandemisches und tierliches Leben

Eine der vielen Lektionen, die uns die Erfahrung mit dem Coronavirus gelehrt hat, ist, dass unser Verhältnis zu Tieren eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Krankheiten spielt, insbesondere bei solchen mit zoonotischem Ursprung, die durch einen Sprung über Speziesgrenzen hinweg (sogenannte species leaps) gekennzeichnet sind. Abgesehen von der Dynamik, die die Ansteckung auslöst, und von der Frage nach dem verantwortlichen Organismus – in diesem Fall vielleicht eine Fledermaus (Benvenuto et al. 2020) oder ein Schuppentier (Zhang et al. 2020) – ist es wahrscheinlich, dass akzentuierte Formen der Vermischung zwischen Tieren aus unterschiedlichen Umgebungen, die vom Menschen verursacht und durch zufälligen Kontakt gekennzeichnet sind (so etwa auf orientalischen wet markets oder im Rahmen bestimmter Anbau- und Exportpraktiken), die Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen. Die Vielzahl an Verbindungen zwischen Menschen tut ein Übriges, wobei die Verringerung von Entfernungen sowohl zwischen Menschen in den Städten als auch zwischen Städten auf der ganzen Welt Infektionen ideale Möglichkeiten bietet, sich mit überraschender Geschwindigkeit fortzubewegen. Es macht aus dieser Perspektive keinen Unterschied, ob eine Vermischung zwischen wilden oder domestizierten Arten auftritt. Im Gegenteil, die Domestikation ist nicht nur ein Brutkasten für Krankheiten, sondern kann auch ein Reservoir für Zwischenwirte sein, die die Entwicklung des Virus und der Mutationen begünstigt und es ihm ermöglicht, auf eine andere Art überzuspringen. Das bedeutet, dass uns die Konfrontation mit dem beinahe Lebendigen (Rybicki 1990), das für COVID-19 verantwortlich ist, nicht nur zu einer Neudefinition der Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem zwingt, sondern dass die Frage nach dem Tierlichen (animal question), die die Geschichte des menschlichen Geistes durchzieht, mit aller Konsequenz neu aufgeworfen wird – eine Frage, in der ein Sinn für die Trennung zwischen Mensch und Tier und für die Privilegierung des menschlichen Lebewesens zum Ausdruck kommt: von den Höhlenmalereien von Lascaux bis zu den ersten Domestikationspraktiken, vom Experimentieren mit den raffiniertesten

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_009

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Zuchttechniken bis zur Entwicklung selektiver Verfahren zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, sowohl unserer eigenen als auch der von anderen. Der Zusammenhang zwischen der menschlichen Wahrnehmung von Tierheit und der Trennung von ihr zieht sich auch durch die Geschichte der Philosophie. Es scheint nicht übertrieben, neben einer offiziellen Philosophiegeschichte, in deren Zentrum die Frage nach dem Menschen steht, von einer Gegengeschichte der Tierheit zu sprechen, die umgekehrt auf eine Neugestaltung der Grenzen abzielt, innerhalb derer der Mensch über seinen eigenen Platz in der Welt nachdenkt. Es gibt viele Beiträge, die die Behandlung dieser Frage seit der frühen Antike rekonstruieren und die Positionen von Pythagoras, Porphyrius und Lucretius bis hin zu Aristoteles und Plutarch ins Spiel bringen. Und es gibt verschiedene Studien, die sich mit dem Wiederauftauchen des Themas im Mittelalter und seinem Eindringen in das humanistische und Renaissance-Denken – etwa in den Positionen von Michel de Montaigne oder Leonardo da Vinci – befassen, bis hin zu dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt: dem Cartesianischen Denken, einer Vision, die die Moderne bei Autoren wie Kant, Hegel oder Kierkegaard entscheidend vorprägen sollte. Die Diskontinuität zwischen Mensch und Tier basiert also letztlich auf der Idee, dass wir mit Sphären in Berührung kommen, die dem Tier verschlossen sind, nämlich Moral, Vernunft und Geist. Die westliche Philosophie scheint also zwischen zwei Extremen zu oszillieren: der Vorstellung einer Kontinuität zwischen unserer und anderen Spezies, die zur Affirmation des Menschen als Träger von Bewusstsein und Verantwortung führt, und der These eines unwiderruflichen Bruchs mit dem Tier, die unsere Spezies als diejenige qualifiziert, für die alles andere produziert wird. Erst ab Mitte des 19.  Jahrhunderts wurde neu über Alternativen zu einer strikten Grenzziehung nachgedacht, nämlich im Sinne eines Saums bzw. einer Schwelle, die in beide Richtungen überschritten werden kann. Mit den Erfahrungen Darwins und Nietzsches ist ein Wendepunkt vorbereitet, der die philosophische Debatte, etwa mit Adorno und Horkheimer, Bataille und Deleuze auf neue Grundlagen hin lenken sollte. Ein ganz besonderer Fall ist der von Nietzsche. Noch immer von einem rastlosen Cartesianismus durchdrungen (ergänzt durch eine gehörige Portion Spinozismus), versteht der Philosoph aus Röcken als erster, dass die Trennung zwischen Mensch und Tier eine tragische Bedeutung hat, weil sie vor allem anderen eine innere Spaltung des Menschen bedeutet: Sie ist Ausdruck des ständigen Versuchs, das Tier, das wir immer sind, zu verdrängen, zu unterdrücken und gleichzeitig fernzuhalten. Daher das Bestiarium, das seine Werke bevölkert, von der Kritik an der Herdenmoral (Genealogie der Moral) bis zum Neid auf die Fähigkeit der Herde, zu vergessen (Zweite unzeitgemäße

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Betrachtung), von der zentralen Rolle von Tiersymbolen des halbgöttlichen Zustands (der Löwe, die Schlange, das Kamel des Zarathustra) bis hin zum Verständnis von Kultur als Wiederkäuen. Es gibt viele Tierfiguren, die bei Nietzsche – jenseits der metaphorischen Verwendung – die conditio humana als einen Komplex von Kräften, Instinkten, Wünschen und Trieben beschreiben, die beständig darum kämpfen, sich gegenseitig zu unterdrücken (Lemm 2012, 2015). In ihrer Suche nach Form steigt sie aus dem Magma immer wieder aufs Neue als eine vorübergehende, energetische Verdichtung hervor, so mächtig, dass sie alles andere überwältigt. Das bedeutet aber auch, dass die Souveränität über das Tier, das wir sind, vorläufig und damit auch aufhebbar ist. Vorläufig und im Gewirr der Evolution zufällig ist auch unsere Herrschaft über die Tierheit anderer. Es sind diese Einsichten, die es in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ermöglichten, die Tierfrage ins Zentrum eines Programms menschlichen Umdenkens zu rücken. Hierher gehört auch, dass Ideen wie Animal Liberation und Animal Rights (Regan 1983 und Singer 2015) von Anfang an den Entwicklungen in Biologie sowie Kognitions- und Verhaltenswissenschaft gefolgt sind, die zwar auf den Unterschieden zwischen den Arten beharren, es damit aber zugleich erschweren, von Tieren im Allgemeinen zu sprechen. Vor allem aber zwingen uns diese Einsichten zur Neuformulierung unserer Konzepte von Verhalten, Kognition und Bewusstsein, und zwar immer in Abhängigkeit davon, wie sich verschiedene Tiere in ihrer Umwelt orientieren, wie sie produktiv mit Partnern interagieren, wie sie kommunikativen Austausch betreiben und wie sie ihre Fähigkeit zur Hetero- und Propriozeption unter Beweis stellen.

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Tierheit in der zeitgenössischen philosophischen Kultur

Der bisher skizzierte Pfad hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zwei große Wendungen genommen: 1. durch ein neues Bewusstsein für die Frage nach dem Status des Tieres infolge der Entwicklung neuer Technologien des Züchtens, Manipulierens und Experimentierens; 2. durch eine Strömung, die die übliche und weitverbreitete Sichtweise auf Tierheit als Ausdruck eines dominanten kulturellen Ansatzes zurückverfolgt. Aufgekommen sind diese neuen Entwicklungen nach der Veröffentlichung von Animal Machines, der ersten Untersuchung von Zuchttechnologien nach dem wirtschaftlichindustriellen Boom der 1950er Jahre durch die englische Aktivistin Ruth Harrison (Harrison 1968), und sie wurden verstärkt durch den Sammelband Animals, Men and Morals (Godlovitch et al. 1971), zu dem auch Harrison beitrug, und durch die Rezension dieses Textes durch Peter Singer (Singer 1973),

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die dann zu seinem bahnbrechenden Animal Liberation (Singer 2015) führte. Singer war der erste, der die westliche Betrachtungsweise der Tierheit als historisch relative Idee beschrieb, die letztlich auf der Vorstellung gründete, dass die Begrenztheit artspezifischer Fähigkeiten eines Lebewesens seine Ausbeutung rechtfertigt (ebd.). Diese Vorstellung bildet letztlich die Wurzel jeglicher Diskriminierung unter Tieren und ist zugleich die Grundlage für eine allgemeinere Kultur der Diskriminierung, in die dann auch andere Arten von Unterschieden wie ethnische, körperliche oder sexuelle Differenzen integriert werden konnten. Um dieser Vorstellung entgegenzuwirken, ist es nach Singer notwendig, die Skala des Lebendigen neu einzustellen, und zwar nicht nach oben hin, also nicht den scheinbar mit größeren spezifischen Fähigkeiten ausgestatteten Wesen einen höheren Wert beizumessen, sondern nach unten, durch Anerkennung einer Grundform des Lebendigen, die auch den höheren Wesen eigen ist und die so die ontologische Grundlage jeder Würde und jeden Wertes darstellt. In Anlehnung an eine berühmte Aussage von Jeremy Bentham findet Singer diese Grundform in der Fähigkeit, Lust und Schmerz zu erfahren, oder besser gesagt: Interessenträger zu sein und zu leiden. Die Idee, die Frage der Diskriminierung von Tieren in einer Art historischem Rahmen zu behandeln, führt Singer zusammen mit Tom Regan zur Veröffentlichung der Essaysammlung Animal Rights and Human Obligations (Regan/Singer 1976), deren These von Regan in seinem bekanntesten Buch The Case for Animal Rights (Regan 1983) weiterentwickelt wurde. All diese Texte betrachten bei ihrer historischen Rekonstruktion der diskriminierenden Kultur des Westens letztlich die Geburt des modernen Denkens als eigentlichen Ausgangspunkt, insbesondere bei Descartes, der als Übergang von den humanistischen Hoffnungen zur Kultur der Aufklärung fungiert. Singer und Regans These stellt dabei diejenigen Elemente heraus, die die Debatte nach Descartes kennzeichneten und zur Entstehung seiner vulgata über Tiere beitrugen: 1. die Vorstellung, Tiere seien mit bloßen selbstgetriebenen Apparaten vergleichbar, als seien sie Automaten, pure Mechanismen; 2. die Behauptung, Tiere seien weder mit einer vernunftbegabten Seele noch mit sprachlich-diskursiven Fähigkeiten oder Selbstbewusstsein ausgestattet (vgl. Cohen Rosenfield 1968). Aus diesen Gründen scheint es nicht möglich, Tiere in die Sphäre menschlicher Subjekte – Entitäten also, die mit der Fähigkeit ausgestattet sind, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst zu sprechen und Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen – aufzunehmen und ihnen dieselbe Berücksichtigung zukommen zu lassen wie dem Menschen. Nach Singer und Regan führt eine direkte Linie von den cartesianischen Anfängen zu demjenigen Autor, der die Anerkennung von Rechten explizit mit der Idee der

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Subjektivität verbindet, namentlich Immanuel Kant. Wie Descartes begründet auch Kant die Minderwertigkeit des Tieres mit dem Fehlen moralischer, vernünftiger und willentlicher Subjektivität. Für Singer/Regan und die aufkommende Philosophie der Tierrechte macht daher die Zuschreibung irgendeiner Form personaler Subjektivität den maßgeblichen Unterschied zwischen einer rein mechanischen Betrachtungsweise von Tieren und der Möglichkeit, sie in den Kreis der Rechte aufzunehmen. In den meisten zeitgenössischen animistischen Kulturen scheint dies auch heute noch der stärkste Punkt in der Verteidigung von Tierrechten zu sein. Die Idee einer tierlichen Subjektivität, die als ontologischer Anspruch vertreten und in deren Anerkennung der Schlüssel zur Zuschreibung einer Form von Personalität und zur Gewährung entsprechender Rechte gesehen wird, scheint von ihrem Beginn in den 1970er Jahren bis heute der Dreh- und Angelpunkt in der Debatte zu sein.

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Tierliche Erfahrung

Das zeitgenössische Denken hat seit den 1970er Jahren im Hinblick auf die Erörterung des Zusammenhangs zwischen der Anerkennung des Status von Tieren und der Frage der Subjektivität verschiedene Wege eingeschlagen. Schon früh nahm dabei ein Artikel von Thomas Nagel (Nagel 2018 [1974]) das Problem vorweg, indem er auf die mit dem Aufkommen reduktionistischer Theorien verbundene Gefahr verwies, Phänomene aus dem Kontext von Bewusstsein oder Subjektivität in den Bereich des Unerklärlichen zu verbannen. Nagel schreibt: Bewusste Erfahrung ist ein weitverbreitetes Phänomen. Sie taucht auf vielen Ebenen tierischen Lebens auf, obwohl wir nicht sicher sein können, ob sie auch schon in einfacheren Organismen vorkommt, und es sehr schwer ist, im Allgemeinen zu sagen, was Indizien für sie liefert. (Einige Extremisten waren bereit, sie sogar bei Säugetieren zu leugnen, die keine Menschen sind.) Zweifellos taucht bewusste Erfahrung in zahllosen Formen auf, die für uns ganz und gar unvorstellbar sind – auf anderen Planeten in anderen Sonnensystemen überall im Universum. Aber ganz gleich wie die Formen voneinander abweichen mögen: Die Tatsache, dass ein Organismus überhaupt bewusste Erfahrung hat, heißt erst einmal, dass es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein. Es mag weitere Implikationen in Bezug auf die Form der Erfahrung geben; es mag sogar Implikationen bezüglich des Verhaltens des Organismus geben (obwohl ich es bezweifle). Grundsätzlich hat ein Organismus bewusste mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist. Wir können dies den subjektiven Charakter von Erfahrung nennen (Nagel 2018: 9).

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Weiter knüpfte die wissenschaftliche Forschung zunehmend an Entwicklungen in der Ethobiologie sowie den Kognitions- und Verhaltenswissenschaften an, die es mit ihrem Bestehen auf Unterschieden und Varietäten sowohl innerhalb als auch zwischen den Arten problematisch gemacht haben, über Tiere im Allgemeinen zu sprechen. Diese Untersuchungen haben zu einer Neuformulierung von Konzepten wie Verhalten, Kognition und Bewusstsein geführt, und zwar im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie sich verschiedene Wesen des Tierreichs in ihrer Umwelt orientieren, wie sie produktiv mit ihren Partnern interagieren, in kommunikativen Austausch treten und inwiefern sie über Propriozeption und Selbsterkenntnis verfügen. Die Ergebnisse solcher Forschungen, die eine Kontinuität zwischen dem Tier-Menschen und anderen Organismen behaupten, haben es sehr schwierig gemacht, die Annahme einer radikalen Trennung aufrechtzuerhalten. Sie haben vielmehr zur Anerkennung einer strukturellen Variabilität in der Lebensweise geführt, d.  h. der Fähigkeit, effektiv in der jeweiligen Umwelt zu agieren und Träger von Interessen zu sein. Das Wissen über die lebendige Welt, in der wir uns befinden, hat sich seit Singer/Bentham stark weiterentwickelt, und so betrachtet man auch die Fähigkeit zur Empfindung von Freude und Schmerz nicht mehr als kleinsten gemeinsamen Nenner, um einem Organismus Anerkennung und Respekt zu zollen. Die Grundlage hierfür wurde stattdessen nach unten verschoben, um zu zeigen, wie einer großen Anzahl tierischer Organismen eine Form subjektiver Erfahrung zugesprochen werden kann, die bisweilen auch zentralisiert, integriert oder verstreut sein kann (Griffin 1994; Bekoff/Jamieson 1995). Aus der Einsicht, dass es durchaus sinnvoll ist, auch bei nichtmenschlichen Tieren von Intelligenz, Bewusstsein, Erfahrung, Sprache und von Interessen auszugehen, ergibt sich dann, dass auch diesen Organismen Subjektivität im Sinne einer Fähigkeit, Anerkennung zu gewähren und sie für sich einzufordern, zugesprochen werden muss. Entscheidende Beiträge hierzu stammen aus den Human-Animal Studies, die Perspektiven für die Analyse neuer und komplexer Anerkennungsdynamiken in Mensch-Tier-Interaktion bereitstellen (Rowlands 2010), und aus den sogenannten Philosophies of Animality oder Animality Studies (Lundblad 2009), die danach fragen, wie menschliche Subjektivität aufgrund ihrer Nähe zu den neu entdeckten tierlichen Subjekten umgestaltet wird. Bei vielen Autor*innen überkreuzen sich diese Themen mit denen des Posthumanismus, insbesondere im Hinblick auf ein grundlegendes Überdenken der Unterscheidung zwischen Mensch und Nichtmensch, was zu einer konsequenten Ausarbeitung eines neuen Konzepts von Subjektivität geführt hat, die etwa als devolutive, dispersive oder geozentrierte postanthropozentrische Subjektivität verstanden wird (Wolfe 2010; Marchesini 2017), die nicht mehr an

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Individuen, sondern an Multiindividuen gebunden ist. Der Vorteil dieser Theorien besteht einerseits in der Vermeidung eines paternalistischen Ansatzes, wie er mit der Zugrundelegung einer Bewertungsskala, nach der einige Subjektivitäten als komplexer und definierter angesehen werden als andere, unweigerlich verbunden ist. Andererseits wird damit zugleich der subjektzentrierte Ansatz überwunden, mit dem der Mensch andere Subjekte weiterhin als ontologisch von sich getrennt betrachtet. Die Bedeutung dieses Unterfangens besteht darin zu zeigen, wie Subjekte im Allgemeinen stets durch Praktiken der Kontamination, Symbiose, Verschmelzung, Hybridisierung und Deterritorialisierung strukturiert werden, und zwar immer bezogen auf biolinguistische Erkennungsmechanismen und biopolitische Interaktionsdynamiken.

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Paradoxien der Subjektivität

Allerdings wirft gerade die Verbindung zwischen tierbezogenen und posthumanen Themen einen Schatten auf die Möglichkeit, den Begriff des Subjekts für die Anerkennung neuer Konfigurationen unter den Lebewesen beizubehalten. In all diesen Perspektiven wird nicht in Frage gestellt, dass zur Erweiterung des Rechtsbereichs und zur Reduzierung von Diskriminierung Subjektivität zugeschrieben werden muss, um die moralische Blindheit zu überwinden, die mit der Betrachtung von Tieren im Allgemeinen verbunden ist. Aber wir können immer noch fragen, inwieweit der subjektivistische Ansatz wirklich nützlich ist, um Nicht-Menschen in nichtdiskriminierende Kontexte einzubeziehen. Inwieweit also ist die Anerkennung neuer Formen von Identität und Subjektivität für die Zuweisung von Rechten wirklich notwendig? Bleiben wir bei der Tierheit und folgen den Entwicklungen der Ethobiologie, so scheint es tatsächlich eine Korrelation zwischen der Zuschreibung subjektiver Erfahrungszustände an einen Organismus und der Anerkennung von Rechten zu geben, und zwar proportional zur Fähigkeit eines Lebewesens, als Zentrum einer sich ihrer bewussten Selbstorganisation zu erscheinen. Wenn aber die Ausdehnung der Rechte auf alle organischen Wesen, die über subjektive Erfahrung verfügen, den Anthropozentrismus in sich zusammenfallen ließe, so könnte das auch einen paradoxen Effekt haben. Durch die unbegrenzte Erweiterung des Bereichs der Subjektivität würde sich unser Verständnis des Subjekts nämlich dahingehend verändern, dass gerade diejenigen Eigenschaften als Ausdruck von Subjektivität anerkannt würden, die hauptsächlich – oder ausschließlich – anderen Organismen zugehören. Durch eine solche grundlegende Erweiterung einer uns selbst innerlich strukturierenden Idee um neue Merkmale könnte sich unsere Fähigkeit, subjektive

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Verhaltensweisen zu erkennen, dahingehend erweitern, dass wir immer mehr fremde Verhaltensweisen als Ausdruck eines Selbst einbeziehen. So würden wir nicht nur diejenigen Tiere als Subjekte erkennen, die uns am nächsten stehen oder deren Existenz uns nicht direkt bedroht, sondern auch Lebewesen wie Insekten, Pflanzen oder Bakterien (ganz zu schweigen von den beinahe lebendigen Wesen wie Viren). Dies aber würde zu einer regelrechten Explosion der Subjektivität und zu scheinbar unüberwindbaren Problemen führen, wenn etwa eine unüberschaubare Zahl von Lebewesen wie Ameisen, Quallen oder Schwämme als einzelne Subjekte betrachtet werden; oder auch im Hinblick auf die Frage, welche Art von Subjektivität Organismen besitzen könnten, die (wie Pilze oder Bakterien) in Kolonien oder (wie Pflanzen) in multiindividuellen Systemen leben.

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Jenseits des Subjekts?

Die Bindung an die Vorstellung des Subjekts als identitätsstiftendem Ort, an dem die Einheit von Rechten, Pflichten, spezifischen Fähigkeiten und körperlichem Raum verwirklicht wird, könnte daher eher Teil des Problems als der Lösung sein. Nehmen wir zum Beispiel das Paradoxon, dass Grenzfiguren wie nicht-binäre oder nicht-konforme geschlechtliche Wesen (wie Transsexuelle, Homosexuelle, Intersexuelle oder Queers) zur Anerkennung ihrer Ansprüche immer wieder aufs Neue dazu gezwungen sind, sich im Rahmen klar umrissener Identitätskategorien zu definieren. Auch mit Bezug auf strukturell hybride Figuren wie Cyborgs oder organische Mensch-Tier- und Mensch-Pflanze-Symbiosen stellen sich Fragen, etwa wie (und warum) wir strukturell relationalen Konfigurationen Formen von Subjektivität und Identität zuschreiben sollten. Um sich diesen und anderen Problemen zu stellen, könnte es nützlich sein, sich Autor*innen aus ganz unterschiedlichen Traditionen zuzuwenden, die davon ausgehen, dass unerwartete Interaktionen zwischen Lebewesen nur jenseits der Instanz der Subjektivität realisiert werden können. Dieses Hinausgehen über erfolgt bisweilen als Überwindung in Form eines Zurücklassens oder eines Beseitigens von Subjektivität, aber auch im Sinne einer Verfolgung und Zurückführung von Subjektivität auf ihre unausgesprochenen/verdeckten Grundlagen hin. Dies ist entlang der Denkbewegung zu finden, die von der Ausarbeitung der Verbindung zwischen Subjektivität, Andersheit und Differenz bei Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger zu einigen Schlüsselmomenten der französischen Philosophie bei Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jacques Derrida

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führt. Deleuze ist vielleicht der Autor, der in der zeitgenössischen Debatte zum Status von Tieren am stärksten vertreten ist. Er hat nicht nur zahlreiche Probleme aufgeworfen, sondern auch Lösungsansätze formuliert, die sich zumeist um die Dekonstruktion von Subjektivität selbst drehen (Deleuze/Guattari 1992: 317–344); Foucault analysierte die Struktur der Subjektivität im Hinblick auf biopolitische Macht-, Herrschafts- und Unterdrückungsdynamiken, auch wenn sein Bekenntnis zur sogenannten Tierfrage kontrovers diskutiert wird (Haraway 2008: 59–60). Derrida behauptete schließlich Folgendes: In der Geschichte des Rechts und des Begriffs des Rechtssubjekts, des Subjekts von Rechten und Pflichten, in der Geschichte des Subjektbegriffs, die davon nicht zu trennen ist, gibt es eine Sequenz, die für unsere Zeit bestimmend ist. […] Diese Sequenz […] sollte einen bestimmten Subjektbegriff bedingen, der zwar auf dem Recht gründen würde, gleichzeitig aber dazu geführt hätte, dem Tier jedes Recht abzusprechen oder jede Erklärung von Rechten des Tiers auf radikale Weise zu problematisieren (Derrida 2016: 134).

Bei dem Versuch, diese Abfolge umzukehren, denkt Derrida auch über die aufgeschobene Natur des Subjekts bzw. des Selbst nach, das durch Verdrängung seiner unreinen und nicht darstellbaren Ursprünge konstituiert wird. Die Annahme, dieses paradoxe Modell zur Anerkennung von Tierrechten verwenden zu können, wäre damit ausgeschlossen; sinnvoller erschiene es, die Gesamtheit alles Lebendigen in einen übergeordneten Bezugsrahmen zu integrieren, der auf die Auflösung vorübergehender Identitätsformen abstellt, die Organismen immer wieder vollziehen, sobald sie Verbindungen mit anderen Organismen eingehen.

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Ambivalenz des Subjekts

Die theoretischen Positionen, die uns bei der Suche nach Inspiration für eine postanthropozentrische Betrachtung des Lebendigen am meisten herausfordern, sind aber diejenigen von Nietzsche und Heidegger. Beide stehen an der Grenze zwischen einer Neubewertung des tierischen Lebens und dem anthropogenen Mechanismus, der nach Ansicht vieler Autor*innen die gesamte westliche Kultur prägt. Für Nietzsche ist das Subjekt das Ergebnis einer Dynamik, die das Selbst durch Beseitigung der reaktiven und zentrifugalen Instinkte der Persönlichkeit strukturiert und die auf der Fähigkeit gewisser Instinkte beruht, manche Instanzen zugunsten anderer zu bezwingen, zu unterdrücken und zu verbergen. Eine Persönlichkeit wird durch eine komplexe Verteilung von Macht strukturiert und solange zusammengehalten, bis

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die unterdrückten Instinkte genug Energie gesammelt haben, um sich gegen die Kontrollinstanzen zu wenden. Das bedeutet, dass Subjektivität sich nicht ausdehnen kann, um all ihren Instanzen die gleiche Macht zu gewähren, sondern ihre Struktur vielmehr durch eine hierarchische Gliederung der Kräfte erhält, die unsere Psyche steuern. Subjektivität basiert daher auf einer strukturellen Ausgrenzung, die es nicht erlaubt, das Andere intern einzubeziehen, außer in Form des Beseitigten oder Auf-Distanz-Gehaltenen. Indem sie auf ihren uneingestandenen tierischen Ursprung zurückgeführt werden, werden logische oder rationale Instanzen in ihrem Anspruch auf Reinheit und Überlegenheit dekonstruiert. Dies scheint eine Umkehrung der traditionellen Skala des Lebens von nichtmenschlichen Tieren zum Menschen herbeizuführen. Andererseits ist die Fähigkeit zur Bejahung der realen – tierischen – Dynamik des Lebens bei Nietzsche auf die menschlichen Tiere beschränkt. Bei Heidegger hingegen ist die Rolle des tierischen Menschen in der Gesamtheit der Lebewesen, wie sie von den aristotelischen Vorlesungen der 1920er Jahre bis zu den jüngsten Werken beschrieben wird, höchst umstritten; die Interpretationen reichen von einem radikalen Anthropozentrismus bis hin zur Eröffnung innovativer biozentrischer und ökologischer Ansätze. Der „Brief über den Humanismus“ von 1946 (später in „Wegmarken“ aufgenommen) fasst diesen Weg gut zusammen: Das Wesen des Menschen besteht aber darin, daß er mehr ist als der bloße Mensch, insofern dieser als das vernünftige Lebewesen vorgestellt wird. ‚Mehr‘ darf hier nicht additiv verstanden werden, als sollte die überlieferte Definition des Menschen zwar die Grundbestimmung bleiben, um dann nur durch einen Zusatz des Existenziellen eine Erweiterung zu erfahren. Das ‚mehr‘ bedeutet: ursprünglicher und darum im Wesen wesentlicher. Aber hier zeigt sich das Rätselhafte: der Mensch ist in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins insofern mehr denn das animal rationale, als er gerade weniger ist im Verhältnis zum Menschen, der sich aus der Subjektivität begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem ‚weniger‘ büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt. Er gewinnt die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin beruht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein (Heidegger 1976: 342).

Welche Interpretation man dieser Passage auch geben mag, eines scheint sicher zu sein: Nach Heidegger ist die Stellung des Menschen in der Gesamtheit des Lebendigen – gleich, ob im Sinne einer Hervorgehobenheit/des Vorranges oder der Unzulänglichkeit/Bedürftigkeit an die Fähigkeit gebunden, die Subjektivität zu überwinden, das heißt, sich von der traditionellen Darstellung des Subjekts als rationaler/emotionaler Akteur, individuierte körperliche Substanz, Interessenträger und Rechteinhaber zu befreien. Was den Menschen

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ausmacht, so Heidegger, ist die Fähigkeit, sein für ihn wesentliches Ausgesetztsein in der Welt als Dasein (Da-sein) zu gestalten, sich also jenseits der Subjekt/Objekt- bzw. Subjekt/Subjekt-Polaritäten um (sein) Leben zu sorgen – und damit zugleich die Wahrheit des Seyns selbst zu fundieren. In ihrem Anspruch, keinen subjektivistischen, biologischen oder anthropologischen Ansatz mehr zu verfolgen, scheint Heideggers späte Philosophie allerdings dem Menschen eine erneuerte, wenn auch aporetische Zentralität zuzuweisen. Um eine berühmte Aussage aus Sein und Zeit zu paraphrasieren, besteht das Problem nicht darin, dass man sich dem Anthropozentrismus nicht entziehen kann, sondern vielmehr darin, die Zentralstellung des Menschen richtig zu begreifen: den Menschen als problematisches Zentrum einer Erfahrung zu denken, in der er gleichermaßen als potenzielle Bedrohung für jedes Lebewesen als auch als Chance auf Erlösung erscheint. Posthumanistisches Denken nimmt oft für sich in Anspruch, den Humanismus und den Anthropozentrismus als diskriminierend überwunden zu haben, ohne dabei aber die Kategorien zu verwerfen, auf denen diese diskriminierende Kultur beruht. Ich bezweifle jedoch, dass diese vollständige Überwindung überhaupt erreichbar ist. Vielleicht gilt dieser Widerspruch für jede Perspektive, die sich durch ein Post-Präfix definiert, weil sie mit dem Bereich, den sie überwinden will, in vielerlei und oft auch unerwarteter Hinsicht verbunden bleibt. Aber mit Hilfe der Ambiguität von Nietzsche der von Heidegger ins Zentrum unserer Beziehung zu Sein und Leben gestellten Ambivalenz könnten wir diese Aporie in radikaler Weise begreifen und anfangen, den Menschen als Schauplatz einer ständigen Überwindung zu denken, sich den Zustand des Post- also als etwas vorzustellen, das den Menschen möglicherweise von Anbeginn an definiert.

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Schluss

Heute wissen wir so viel mehr über die Welt des tierlichen Lebens, dass wir meinen, unverantwortliches Verhalten gegenüber dem Lebendigen vermeiden zu können. Und doch ist dies (noch) nicht der Fall. Im Grunde unserer selbst offenbaren wir uns als Gefangene zweier Syndrome: Das erste beruht auf der Idee der Trennung als einer Residualvorstellung, die im Lichte evolutionstheoretischer Entwicklungen zumindest problematisch erscheint. Folgt man etwa den Perspektiven der Nischenkonstruktionstheorie oder der zeitgenössischen Epigenetik, so eröffnet sich das Bild einer organischen Welt, die auf die Anpassung an ökologische Veränderungen ausgerichtet und in der Lage ist, Rückkopplungsmechanismen zu aktivieren, die ihrerseits Selektionsdruck und damit immer neue Modifikationsschübe (Input) auslösen, wobei sich diese

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Prozesse in kodierter Form ereignen und die Anpassungen über Vererbung weitergegeben werden. Alles organische Leben ist somit fähig, Formen derjenigen Kultur hervorzubringen und weiterzugeben, als deren alleiniger Eigentümer sich der Mensch betrachtet. Das zweite Syndrom ist die Vorstellung, dass wir uns von der Logik der Ausbeutung zugunsten von Praktiken des Teilens, der Gegenseitigkeit und der Zusammenarbeit befreien müssen. Dies aber sind nur einige der Strategien, die gelegentlich zum Tragen kommen, um die Regulierung zwischen organischen Systemen in Bezug auf Umweltveränderungen zu steuern. Dass Konkurrenz in diese Formen übersetzt wird und nicht etwa in Symbiose oder Parasitismus, kann in einer Dynamik der Koevolution nicht ausgeschlossen werden, die Organismen auch im Hinblick auf ihre Fähigkeit modifiziert, die Entwicklung anderer Organismen zu lenken. Viren etwa sind in hohem Maße mit der Fähigkeit ausgestattet, Lebewesen für Funktionen auszunutzen, die sie allein nicht ausführen könnten. Um sich von diesen Syndromen befreien zu können, so kann man in Anschluss an Nietzsches Vermächtnis sagen, müssen sie einem stärkeren unterworfen werden können. Erinnern wir uns zur Identifikation dieses überlegenen Syndroms an Thomas Nagels Bemerkung zur Möglichkeit, Erfahrungen mit einer so fremden Subjektivität zu teilen, wie sie etwa von Fledermäusen verkörpert wird: Ich nehme an: Wir alle glauben, dass Fledermäuse Erlebnisse haben. Schließlich sind sie Säugetiere, und es gibt keinen größeren Zweifel daran, dass sie Erlebnisse haben, als daran, dass Mäuse, Tauben oder Wale Erlebnisse haben. Ich habe Fledermäuse gewählt statt Wespen oder Flundern, weil man das Vertrauen darauf, dass es da Erlebnisse gibt, schrittweise verliert, wenn man den phylogenetischen Baum zu weit nach unten klettert. Obwohl Fledermäuse uns näher verwandt sind als diese anderen Arten, weisen sie einen Sinnesapparat und eine Reihe von Aktivitäten auf, die von den unsrigen so verschieden sind, dass das Problem, das ich vorstellen möchte, besonders anschaulich ist (obwohl es gewiss auch anhand anderer Arten aufgeworfen werden könnte.) Jeder, der einige Zeit in einem geschlossenen Raum mit einer aufgeregten Fledermaus verbracht hat, weiß auch ohne die Hilfe philosophischer Reflexion, was es heißt, einer grundsätzlich fremden Form von Leben zu begegnen (Nagel 2018: 13–14).

Die Erkenntnis einer unüberbrückbaren Distanz zwischen unseren kognitiven Schemata und denen der Fledermaus erlaubte Nagel zu zeigen, dass der reduktionistische Ansatz nicht in der Lage ist, den subjektiven Charakter von Erfahrung, infolgedessen mentale Phänomene nicht durch Rekurs auf bloße physikalische, chemische oder neurologische Abläufe dargestellt werden können, zu erklären. Tatsächlich lässt sich nämlich auch die Objektivität der messbaren bzw. erfassbaren Komponenten dieser Phänomene nicht vermitteln,

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insofern dies voraussetzen würde, dass Subjekte Erfahrungen miteinander teilen können. Das aber wäre wiederum nur dann möglich, wenn verschiedene Subjekte in der Lage wären, ein mentales Phänomen als etwas zu teilen, das jedes Mal zu einem Geist, einem Körper, einem Organismus gehört. Subjektivität/Bewusstsein erscheint damit als eine komplexe Sphäre, insofern es sowohl Berührungspunkte zwischen den unterschiedlichen Ebenen gibt, auf denen sie sich für ein Individuum ausdrückt, als auch Schnittpunkte zwischen Erfahrungen verschiedener Individuen. Wichtiger noch aber ist die Einsicht, dass Bewusstsein/Subjektivität eine Grenze bedeutet, entlang derer unüberwindbare Barrieren aufgestellt sind, die mit der jeweiligen Art und Weise der Entfaltung des Lebens in einem Organismus zusammenhängen. Inzwischen wissen wir, dass die Kontaktpunkte zwischen uns und der Fledermaus, ganz zu schweigen vom Schuppentier, ausreichen können, um eine Pandemie auszulösen. Und wir wissen, wie es sich anfühlt, von einer Mutation des Erregers verzehrt zu werden, der – vielleicht ganz folgenlos – ein anderes Säugetier bevölkert. Während wir also wahrscheinlich nie wissen werden, wie es sich anfühlt, eine kranke Fledermaus zu sein, so sind wir uns doch ziemlich bewusst, dass etwas eine Berührungslinie des Lebendigen überschritten und so eine Distanz zwischen uns überwunden hat. Es mag diese Distanz letztlich noch vertiefen, aber in gewisser Weise bindet es auch eine Reihe entfernter Lebensfäden in der Einheit einer einzigen Transformation zusammen. Wenn also Experiment und Transformation die Regeln des Lebens sind, dann folgt daraus, dass sich das Leben auf sich selbst nur in einer Beziehung richtet, die als sein ständiger Übergang von einer Form zur anderen denkbar ist – als sei die Zeit des Lebens ein Noch-nicht, sein Raum ein Dazwischen und sein Sein ein Beinahe. Die strukturelle Instabilität, die das Leben umgibt, wirft die Muster um, in denen dieses Konzept Schutz sucht. In dem Abgrund, der sich dadurch öffnet, verbindet und entbindet sich das Leben ständig, und als Effekt einer tierlichen Kommunikation, die ihre Grenze immer wieder neu zu bestimmen versucht und die Grenzen zwischen den Lebensformen aufzeigt, erscheint eine Art gebrochener Totalität. Das bedeutsame, aber nie ganz verständliche Auftauchen anderer Lebensformen im unergründlichen Leiden der Tiere eröffnet die Erfahrung dieser gebrochenen, verzehrten Totalität, in der wir uns alle befinden. In uns erzeugt sie jene Verklärung der Angst, die wir Qual nennen: ein stärkeres Syndrom, das uns die Täuschung nimmt, isolierte und autarke Subjekte zu sein, eine Emotion, die wir nicht haben, die wir aber sind, jedes Mal, wenn wir uns dem Kern der anderen Formen des Lebens ausgesetzt fühlen. Durch den Anschluss an unseren eigenen Schmerz können andere Lebewesen in ihrem eigenen Leiden erscheinen, und es ist diese wechselseitige Überschreitung, in der sich die

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Ganzheit der Lebewesen entfaltet – nicht als eine harmonische Verbindung aller Dinge, sondern als eine pulsierende Wunde, die sich niemals schließt.

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Übersetzung: Annika Schlitte

Die Überwindung von Pflanzenblindheit durch die Plantness Studies und Theophrast Neue Perspektiven auf Pflanze-Mensch-Beziehungen Marco Antonio Pignatone

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Pflanzenblindheit und Plantness Studies

Das Ziel meines Aufsatzes ist es, einige sowohl zeitgenössische als auch antike philosophische Ansätze zu Pflanzen zu analysieren. Damit soll aufgezeigt werden, wie aktuelle Studien zum Pflanzenreich unter Hinzunahme antiker philosophischer Texte dazu beitragen können, eine zutiefst verwurzelte Denkgewohnheit zu überwinden: die Pflanzenblindheit (plant blindness). Die Pflanzenblindheit kann als eine alltägliche Haltung gegenüber Pflanzen verstanden werden, die darauf beruht, dass wir Pflanzen als bloßen Bestandteil einer Umgebung betrachten, ohne ihrer Präsenz gewahr zu werden. Der Begriff Pflanzenblindheit wurde 1999 von den Biolog*innen James H. Wandersee und Elisabeth E. Schussler geprägt, um die weitverbreitete Ignoranz und Geringschätzung von Pflanzen, sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltagsleben, zum Ausdruck zu bringen. Nach Wandersee und Schussler (1999: 85–86) lassen sich vier wichtige Merkmale der Pflanzenblindheit identifizieren: (a) The inability to see or notice the plants in one’s environment; (b) the inability to recognize the importance of plants in the biosphere and in human affairs; (c) the inability to appreciate the aesthetic and unique biological features of the life forms that belong to the Plant Kingdom; and (d) the misguided anthropocentric ranking of plants as inferior to animals and thus, as unworthy of consideration (ebd.: 84).1

Die Folgen der Pflanzenblindheit können wir sonach als eine weitverbreitete Betrachtungsweise von Pflanzen als passive, leidensunfähige Wesen zusammenfassen, die nur im Hinblick auf ihre Interaktionen mit Tieren und Menschen existieren, indem sie ihnen lediglich als Nahrung oder als Hintergrund im täglichen Leben dienen. Damit ist die Pflanzenblindheit Symptom einer Denkgewohnheit, die Wandersee und Schussler (1999: 85) auch als Zoozentrismus bezeichnen. Wie der Philosoph Matthew Hall (2011: 2–5) betont, handelt es sich beim Zoozentrismus um eine tierzentrierte Betrachtungsweise 1 Zur Pflanzenblindheit siehe auch Hallé 1999: 17–26; Hall 2011: 4–6 sowie Sanders 2019.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_010

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des Lebens, die eine hierarchische Ordnung von Organismen und einen Ausschluss von als minderwertig angesehenen Lebewesen – darunter Pflanzen – in moralischer Hinsicht impliziert, nicht zuletzt, um deren Ausbeutung zu rechtfertigen. Dies ist eine typisch westliche Denkweise: Wie Matthew Hall (2011: 73–136) und Philippe Descola (2013) gezeigt haben, pflegen zahlreiche nichtwestliche Gesellschaften, darunter amerikanische Indigene, Aborigines, Hindus und Buddhisten, respektvolle Beziehungen zur nicht-menschlichen Welt im Allgemeinen und zu Pflanzen im Besonderen, die als „Person“ bzw. als „Ich“ und nicht als Werkzeug adressiert werden. Folglich sei laut Hall (2011: 6) der Zoozentrismus keine physiologische Haltung des Menschen, sondern vielmehr eine kulturelle und westliche philosophische Denkgewohnheit, die es durch eine Neubetrachtung der Pflanzenwelt zu überwinden gilt. Ferner weist Hall (ebd.: 4–6) darauf hin, dass Pflanzen aus zoozentrischer Sicht aufgrund ihrer Statik, Passivität sowie Unfähigkeit, sich zu bewegen oder auf äußere Reize zu reagieren, und schließlich auch aufgrund ihrer großen Abhängigkeit von der Umwelt als minderwertige Organismen angesehen werden. Im Zoozentrismus werden Pflanzen daher lediglich hinsichtlich ihrer Defizite im Vergleich zu Tieren und nicht mit Blick auf ihre eigenen Besonderheiten konzeptualisiert: Pflanzen werden an das Ende der Kette des Lebens gestellt und von jeder moralischen Betrachtung ausgeschlossen. Der Zoozentrismus, der zugleich Folge und Ursache der Pflanzenblindheit ist, ist eine Perspektive, die eine hierarchische Beherrschung und Ausbeutung von Lebewesen und Umwelt impliziert und auf der Annahme beruht, dass Pflanzen minderwertige Organismen sind, deren Existenz allein durch ihren Nutzen für höhergestellte Wesen gerechtfertigt wird. Neuere Studien über das Pflanzenreich zeigen jedoch, dass diese Sichtweise einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. In den letzten drei Jahrzehnten vermochten zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen in der Pflanzenwelt die verbreitete Betrachtungsweise von Pflanzen als mangelhafte, völlig von ihrer Umgebung abhängige Organismen infrage zu stellen und auf Fähigkeiten der Pflanzen aufmerksam zu machen, die sie als diametral von Tieren zu unterscheidende und mitnichten minderwertige Lebewesen in Erscheinung treten lassen. Da es nicht möglich sein wird, hier eine erschöpfende Darstellung dieser Studien zu geben, werden nachstehend einige grundlegende Einsichten zusammengefasst. Als eine der wichtigsten Studien gilt jene des Botanikers Marshall Darley aus dem Jahr 1990 mit dem klangvollen Titel „The Essence of ‚Plantness‘“. Darley entwickelt den Begriff plantness, um zu betonen, dass Pflanzen nicht etwa Arten von Tieren seien, denen es an Bewegung und anderen Fähigkeiten mangele, sondern vielmehr völlig andere Arten von Organismen mit

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eigenen Besonderheiten. Das grundlegendste Merkmal der plantness betrifft die Ernährung: Tiere sind heterotroph, d. h. sie können sich nur durch äußere Organismen ernähren, Pflanzen dagegen sind autotroph, d. h. sie können ihre eigene Nahrung durch Photosynthese herstellen (Darley 1990: 355). Dieser Unterschied hat Einfluss auf den Körperbau von Pflanzen und Tieren: Während Tiere als bewegliche Organismen gelten, sind Pflanzen sessil, d. h. sie sind verwurzelt und können ihre Position nicht verändern, obschon sie durchaus bestimmte Bewegungsarten realisieren können, wie etwa den Phototropismus (ebd.). Die sessile Natur der Pflanzen ist das relevanteste Element, um das Wesen der plantness zu verstehen: Aufgrund der fehlenden Mobilität fehlt Pflanzen ein Nervensystem; auch erfordert ihre Lebensweise kein Gehirn, insofern haben Pflanzen eine ganz andere Art zu leben als Tiere (ebd.: 356–357). Nach Darley widmeten sich zahlreiche andere Wissenschaftler*innen der Pflanzenwelt. Im Jahr 1999 stellt der Botaniker Francis Hallé (1999: 110–116) heraus, dass die Körperstruktur pflanzlicher Organismen nicht individuell und einheitlich sei wie die der Tiere, vielmehr ähnelten Pflanzen Kolonien: Sie bestehen aus Wiederholungen von modularen Einheiten, die relativ unabhängig voneinander existieren. Während also Tiere durch ihr zentrales Nervensystem und ihre lebenswichtigen Organe eine Einheit in ihrem Körperbau aufweisen, entbehren Pflanzen eines derartigen zentralen Bereiches. Jede modulare Einheit kann verlorengehen und ohne Konsequenzen ersetzt werden. Ungeachtet ihrer sessilen Natur überleben Pflanzen besser als Tiere die Angriffe ihrer Fressfeinde, da sie in der Lage sind, ihre Organe zu ersetzen. Der modulare Pflanzenkörper mache sie Hallé zufolge zu potentiell unsterblichen Wesen (ebd.: 117). In der Tat verlängert die koloniale Struktur des Körpers ihre Lebenserwartung, womit sich ihr Maßstab für Zeit von jenem der Tiere unterscheidet. Durch ihr relativ kurzes Leben haben Tiere eine beschleunigte Zeitwahrnehmung, sodass sie Pflanzen als unbeweglich wahrnehmen. Die Bewegungen der Pflanzen sind schlicht zu langsam, um von Tieren wahrgenommen zu werden (ebd.: 113–116). Gemäß dem Botaniker Stefano Mancuso (2018) macht die sessile Natur der Pflanzen das Pflanzenreich besonders überlebens- und anpassungsfähig an die Umwelt. Mancuso weist darauf hin, dass das Fehlen eines zentralen Bereiches und die modulare Struktur der Pflanzen als Hauptgründe dafür gelten, warum das Pflanzenreich den größten Teil der Biomasse auf dem Planeten einnehme (Mancuso/Viola 2015: 107). Anders als Tiere können Pflanzen nicht vor Fressfeinden weglaufen, doch bleiben sie durch ihre Fähigkeit, Organe zu ersetzen, auch dann überlebensfähig, wenn sie einen großen Teil ihres Körpers verlieren. Im Jahr 2009 führen Stefano Mancuso und der Botaniker František Baluška den provokanten Ausdruck „Pflanzenneurobiologie“

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ein, um hervorzuheben, dass Pflanzen auch ohne Gehirn intelligente, kognitive und aktive Organismen seien. Auch viele andere Wissenschaftler*innen sprechen von einer Form der Pflanzenintelligenz. So untersucht der Wissenschaftsjournalist Michael Pollan (2002) die Art und Weise, wie sich essbare Pflanzen, Apfelbäume oder Kartoffeln etwa, an unsere Bedürfnisse anpassen, um angebaut zu werden und sich auszubreiten. Der Botaniker Daniel Chamovitz (2017) zeigt, dass Pflanzen mit einer Form von Wahrnehmung ausgestattet seien, die es ihnen erlaube, Informationen aus der Umgebung aufzunehmen. Die Botaniker Anthony Trewavas (2014) und Richard Karban (2015) legen ferner dar, dass Pflanzen über Intelligenz, ein Gedächtnis und die Fähigkeit verfügen, über ihre Wurzeln miteinander zu kommunizieren. Wie bereits Charles Darwin und sein Sohn erkannten, seien Wurzeln gehirnähnliche Strukturen, die den Pflanzen ermöglichen, Bestandteile des Bodens wahrzunehmen, sich bei der Suche nach Nährstoffen zu bewegen und chemische Signale an andere Pflanzen zu senden, um auf diese Weise mit ihnen zu kommunizieren. Heutzutage verwenden Botaniker*innen oft den Ausdruck „Wood Wide Roots“, um die Gemeinschaft von Pflanzen in einem Ökosystem zu bezeichnen. Aus meiner Sicht haben diese Entdeckungen zwei wichtige Konsequenzen: Sie beleuchten die oft vernachlässigte Welt pflanzlicher Lebewesen und zeigen, dass uns eine zoozentrische Sicht des Lebendigen daran hindert, die Komplexität und die zahlreichen Formen zu verstehen, die das Leben hervorbringen kann. Nicht nur machen diese Studien deutlich, dass die Pflanzenblindheit ein epistemisches Hindernis für unser Wissen darstellt, auch regen sie uns zu einer Neubetrachtung pflanzlichen Lebens an. Auf diese naturwissenschaftlichen Befunde reagiert auch die Philosophie: In den letzten Jahren widmete sich eine Vielzahl philosophischer Studien der Pflanzenwelt aus unterschiedlichen Perspektiven, etwa der Biopolitik (Nealon 2016), des Ökofeminismus (Irigaray 2016/2017, Miller 2002) oder der Dekonstruktion (Hall 2011; Marder 2013a; Coccia 2010). Wie Eduardo Kohn (2023) unterstreicht, bietet das posthumane Denken, insbesondere Donna Haraways, eine nützliche Perspektive, um die Beziehungen zwischen der menschlichen und der nicht-menschlichen Welt auf nicht-anthropozentrische Weise neu zu denken. Indessen kann eine neue Betrachtung des pflanzlichen Lebens, der Kommunikation in der Pflanzenwelt sowie in der nichtmenschlichen Welt überhaupt Kohn zufolge den posthumanistischen Blick weiter schärfen und eine Anthropologie jenseits des Menschen, wie er sie nennt, befeuern. Kohn plädiert dafür, sich der Kommunikation zwischen Pflanzen sowie zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen zuzuwenden, um eine posthumanistische Beschreibung des Lebens jenseits kulturell gesetzter Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten zu ermöglichen.

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Diesen Aspekt verdeutlicht er nicht zuletzt auch mit seiner provokanten These von denkenden Wäldern. Der Wald wird in seinem Buch als paradigmatisches Modell für die Verbindung, Einheit und Kommunikation zwischen verschiedenen Lebewesen verstanden, die insbesondere durch Pflanzen realisiert werden. Pflanzen garantieren den gegenseitigen Austausch zwischen verschiedenen Lebensformen sowie die Zirkularität von Energie und Leben. Nachstehend möchte ich Darleys Begriff plantness aufgreifen, um die Vielzahl der naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien zum Pflanzenreich unter dem Ausdruck Plantness Studies zusammenzufassen. Da es nicht möglich sein wird, ein vollständiges Bild von den philosophischen Themenfeldern der Plantness Studies zu geben, möchte ich lediglich einige ihrer ethischen Konsequenzen aufgreifen, die auch Auswirkungen auf die Umweltethik haben. Die Anerkennung einer Form von Intelligenz, Kommunikation, Gedächtnis und Aktivität in der Pflanzenwelt kann zu neuen Weisen der Betrachtung des pflanzlichen Lebens anregen, beginnend bei der Verwendung des Adjektivs „pflanzlich“. Im Alltag wird die Bedeutung des Begriffs zumeist mit Passivität und fehlender Reaktionsfähigkeit verbunden, was bereits ein Anzeichen von Pflanzenblindheit ist: Pflanzen aus philosophischer Perspektive zu betrachten, bedeutet daher zunächst einmal, einige als selbstverständlich angesehene Vorstellungen infrage zu stellen: Sind Pflanzen intelligente oder kognitive Organismen, obwohl sie kein Nervensystem haben? Auf welcher Ebene des Lebens treten Intelligenz, Kognition und Bewusstsein auf? Sollten wir die Bedeutung unseres Intelligenz-Begriffs überdenken? Dies sind einige mögliche Fragen, die zunächst auf den kognitiven Bereich abzielen – doch darauf möchte ich vorliegend nicht eingehen. Was ich dagegen hervorheben möchte, sind die möglichen ethischen Konsequenzen der neuen Erkenntnisse zum pflanzlichen Leben, wobei ich mich hierbei auf zwei Fragen konzentrieren werde, die der Philosoph Michael Marder in zwei seiner Artikel aufgeworfen hat: Ist es ethisch, Pflanzen zu essen? Sollten Pflanzen Rechte haben? Diese beiden Fragen adressieren grundlegende Probleme im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze sowie die Umweltethik.

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Plantness Studies: Ethisch vertretbares Essen; das Recht der Pflanzen, Rechte zu haben; Pflanze-Mensch-Beziehung

Zunächst einmal möchte ich die Bedeutung von Marders Fragen herausstellen. Wie gezeigt werden konnte, müssen zur Überwindung von Pflanzenblindheit einige tief verwurzelte Vorurteile ausgeräumt werden, die durch Marders

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Fragen umkreist werden, wobei die Antworten darauf auf den ersten Blick relativ einfach und eindeutig auszufallen scheinen: 1. Es ist ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen, insofern dies eine biologische Notwendigkeit ist, da Pflanzen die Energie des Sonnenlichts in Nahrung für andere Lebewesen umwandeln; 2. Pflanzen besitzen keine Form von Subjektivität, also sind sie von der juristischen Sphäre ausgeschlossen und sollten somit auch keine Rechte besitzen. Doch gerade die scheinbare Eindeutigkeit der Antworten ist bereits ein Zeichen für die Allgegenwärtigkeit der Pflanzenblindheit. Die Radikalität der von Marder aufgeworfenen Fragen leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die Eindeutigkeit dieser vorreflexiven Vorstellungen zu problematisieren. Die erste Frage lautet: Ist es ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen? Marders Antwort basiert auf der Idee, dass Essen zwar unvermeidlich, es aber sehr wohl möglich sei, sich auf ethisch vertretbare Weise zu ernähren, wenn wir ein pflanzliches Ernährungsmodell wählen. Marder (2013b: 32) unterstreicht, dass Essen eine Tätigkeit sei, die alle Lebewesen teilen, ungeachtet aller bestehenden Unterschiede zwischen den Ernährungsweisen im Pflanzen- und Tierreich. Während bei Tieren das Essen Zerstörung, Introjektion und Assimilation des Anderen im eigenen Körper impliziert, bedeutet die Ernährung bei Pflanzen die Introjektion von anorganischem Material und die Ausscheidung desselben in Form von organischen Komponenten (ebd.: 32–33). Im Pflanzenreich ist die Ernährung also mehr ein Prozess der Rezeptivität und Externalisierung als der Interiorisierung, Vernichtung und Assimilation. Um sich ethisch vertretbar zu ernähren, empfiehlt Marder, sich an dem folgenden Leitbild zu orientieren: „welcome […] the other and turn […] oneself into the passage for the other without violating or dominating it, without endeavouring to swallow up its very otherness in one’s corporeal and psychic interiority“ (ebd.: 33). Offensichtlich ist die körperliche Struktur von Pflanzen und Menschen sehr unterschiedlich, und es ist nicht vorstellbar, dass der Mensch Sonnenenergie in Nahrung umwandeln könnte. Der Weg zu einer ethisch vertretbaren Ernährung besteht Marder zufolge also darin, das moralische Verhalten beim Essen zu modifizieren (2013a: 4): Ernährung müsse mehr der Erfahrung von Andersartigkeit von Lebewesen, denn ihrer Vernichtung und Assimilation dienen. Ethisch vertretbares Essen meint immer auch ein Bewusstsein dafür zu haben, dass das, was wir essen, von einem Lebewesen stammt, das einen intrinsischen Wert hat und dessen letzter Zweck und Möglichkeiten nicht darauf reduzierbar sind, einem anderen Wesen als Nahrung zu dienen (Marder 2013b: 34). Es ist somit ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen, insofern wir beginnen, sie nicht einfach als ein „Was“, sondern als ein „Wer“ zu betrachten, dessen „Wer-heit“ („who-ness“) einen respektvollen Umgang verdient (ebd.: 36). Aus praktischer Sicht kann diese ethische Überlegung in neue moralische Verhaltensweisen

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übersetzt werden, wie Marder (ebd.) vorschlägt: 1. Pflanzen sein lassen, d. h. unserem Pflanzenkonsum Grenzen setzen und die Beherrschung pflanzlicher Lebewesen durch Gentechnik und Agrarkapitalismus ablehnen, 2. lokal essen, d. h. Pflanzen konsumieren, die am selben Ort angebaut werden, und 3. die erneuerbaren Teile von mehrjährigen Pflanzen als Geschenk akzeptieren und diese eher konsumieren als die ganze Pflanze. Dies wären einige praktische Möglichkeiten, Pflanzen auf eine ethisch vertretbare Weise zu essen. Damit lautet Marders Antwort auf die Frage „Ist es ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen?“: Ja, aber nur, wenn wir unser Bewusstsein für das Pflanzenreich ändern und anfangen, die Pflanze als ein mit einem inneren Wert ausgestattetes Wer und nicht als ein Was mit einem äußeren Ziel zu betrachten. Die zweite Frage lautet: „Sollten Pflanzen Rechte haben?“ Marder (2013c) ist der Meinung, dass Pflanzen Rechte haben sollten und dass es zur Erreichung dieses Ziels notwendig sei, sie nicht als „Quasi-Dinge“, sondern als eine Form von Subjektivität zu konzeptualisieren. Ihm zufolge können wir das Recht der Pflanzen, Rechte zu haben, aber nur dann akzeptieren, wenn wir den Wert der „uniqueness of vegetal subjectivity“2 (ebd.: 49) anerkennen. Die theoretische Grundlage, um Pflanzen in die juristische Sphäre einzubeziehen, ist die Anerkennung ihrer eigenen Potenziale und ihrer besonderen Art von Subjektivität. Durch aktuelle Forschungen, die Pflanzen als aktive Organismen präsentieren, können wir, so Marder, den Pflanzen den Status von moralischen Agenten verleihen (ebd.: 50). Dies bedeutet, den intrinsischen Wert von Pflanzen zu akzeptieren und zu begreifen, dass ihre Existenz von unserer und jener nicht-menschlicher Tiere unabhängig und sie nicht auf die äußere Nutzung durch andere Wesen reduzierbar ist (ebd.). Die praktischen Wege, dieses Ziel zu erreichen, korrespondieren mit dem bereits Gesagten. Sie bestehen sowohl in einer strengeren Regulierung unseres Verhaltens gegenüber der Vegetation als auch im Verbot von Gentechnik und Manipulation, die der Logik des Agrokapitalismus folgen. Eine Instrumentalisierung von Pflanzen ist nur unter der Bedingung zu akzeptieren, dass sie wirklich notwendig ist (ebd.). Auf diese Weise ist es möglich, eine respektvolle Beziehung mit der Pflanzenwelt einzugehen und dem Recht der Pflanzen, Rechte zu haben, einen realen und konkreten Sinn zu geben.

2 Wie Marder betont, hat die Schweizerische Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) im Jahr 2008 einen Bericht unterzeichnet, in dem das Konzept der Würde pflanzlicher Wesen anerkannt wird; dies ist ein erster Schritt zur Anerkennung von Pflanzenrechten. Der Bericht trägt den Titel The Dignity of Living Beings with Regard to Plants. Moral Consideration of Plants for Their Own Sake (siehe Marder 2013c: 49).

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Nach Marders Ansicht kann die Einbeziehung von Pflanzen in die ethische Sphäre auch für eine Umweltethik nützlich sein, die auf einen respektvollen Umgang mit dem Lebendigen als solchem abzielt. Ferner kann eine ethische Betrachtung von Pflanzen nicht nur dazu beitragen, die Pflanzenblindheit zu überwinden, sondern auch – noch radikaler – diejenige Denkgewohnheit, die der dominierenden und ausbeuterischen Haltung gegenüber nichtmenschlichen Tieren, Pflanzen und der Umwelt im Allgemeinen zugrunde liegt: den Anthropozentrismus (Marder 2014).3 Nur aus einer Perspektive, aus der der Mensch an die Spitze der Lebewesen gestellt und als das perfekte Paradigma eines Organismus verstanden wird, können Pflanzen als passive und minderwertige Lebewesen betrachtet werden, die keinerlei Rechte haben. Aus dieser Perspektive umfasst die ethische Sphäre allein den Menschen, wohingegen Pflanzen, aber auch nicht-menschliche Tiere – allemal solche, die dem Menschen unähnlicher und für seine Bedürfnisse weniger nützlich sind – ausgeschlossen werden. Marder schlägt daher vor, Pflanzen sowie alle anderen Lebewesen in die juristische Sphäre einzubeziehen, um eine Umweltethik aufzubauen, in deren Zentrum nicht der Mensch, sondern das Lebendige als solches steht. Diese nicht-anthropozentrische Umweltethik ist weder eine Form des Biozentrismus, der auf einer abstrakten Idee der Totalität beruht und die Singularitäten seiner Bestandteile nicht respektiert, noch eine Form des Zoozentrismus, der nur eine Variante des Anthropozentrismus darstellt (ebd.: 223–242). Marder findet einen „dritten Weg“ im Phytozentrismus, und damit einer Ethik, die den Fokus nicht auf einzelne Lebensformen legt, sondern auf eine Fähigkeit, die das Leben als solches charakterisiert: das Wachsen. Er schlägt also eine Umweltethik vor, die nicht den Menschen, nicht das abstrakte Leben, nicht die Tiere, nicht die Pflanzen, sondern das Wachstum als eine alle Lebewesen verbindende Fähigkeit in den Mittelpunkt stellt (ebd.: 242–252). Damit hat die phytozentrische Ethik kein wirkliches Zentrum mehr, sondern folgt einer Logik der vollständigen Inklusion (sie rekurriert ihrerseits auf die Pflanze, die von Natur aus ja ebenfalls keinen zentralen Bereich besitzt und deren einzelne Teile gleichermaßen vom Leben durchströmt werden). Der Phytozentrismus ist insofern eine Umweltethik, als er auf dem Gedanken der Verbindung aller Lebewesen basiert (ebd.: 242–243) und die Bedeutung des Menschen in der Ökosphäre mindert. Eine phytozentrische Ethik ermöglicht es daher, die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Lebewesen auf eine nicht-hierarchische Weise neu zu denken. Die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze gilt es so gesehen aus einer ent-menschlichten Perspektive zu

3 Siehe auch Hall 2011: 4–6.

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betrachten, das pflanzliche Leben als Wert an sich und nicht nur in Hinblick auf menschliche Zwecke (ebd.: 247–248). Dem Philosophen Timothy Morton zufolge gründet die ausbeuterische Haltung des Menschen gegenüber der Natur bereits in seiner aus der landwirtschaftlichen Praxis rührenden Herrschaftsbeziehung gegenüber Pflanzen (Morton 2014: 38–59). Morton geht davon aus, dass die Entstehung der Landwirtschaft jenes epochale Ereignis sei, das den Beginn eines neuen geologischen Zeitalters markiert, des sogenannten Anthropozäns. Dieses ist durch drastische, vom Menschen hervorgerufene Veränderungen in der Umwelt gekennzeichnet, die den Klimawandel zur Folge haben. Nach Mortons Ansicht nehmen die heutigen Umweltprobleme ihren Ursprung in Mesopotamien, wo eine Gruppe von Jägern und Sammlern begann, Pflanzen zu kultivieren. Morton sieht den Beginn der Landwirtschaft als einen Wendepunkt in der Geschichte des Planeten, in dem der Mensch aktiv Einfluss auf die Entwicklung und das Wachstum der Pflanzen zu nehmen beginnt. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, greift er in den natürlichen Kreislauf und die spontanen Wachstumsprozesse der Pflanzen ein und verändert sie. Aus diesem Grund ist für Morton die Landwirtschaft gleichbedeutend mit dem Aufzwingen einer menschlichen und rationalisierten Ordnung auf die spontanen Prozesse der Natur, um sie für sich zu beherrschen und auszubeuten, ohne dabei die langfristigen Folgen zu berücksichtigen. Aufgrund dieser technischen, geplanten und vollkommen logischen Beherrschungsweise der Natur bezeichnet Morton die Landwirtschaft als agrilogistisch (ebd.: 42): Agrilogistisch ist die Art und Weise, in der sich der Mensch im Anthropozän zu Pflanzen, nicht-menschlichen Tieren und der Umwelt im Allgemeinen in Beziehung setzt. Aus Marders und Mortons Sicht ist das Verhalten des Menschen gegenüber anderen Lebewesen und der Umwelt durch eine Mentalität der Beherrschung gekennzeichnet. Ein möglicher Weg, diese Haltung zu modifizieren, liegt – so lautet Marders Vorschlag – darin, die Mensch-Pflanze-Beziehung in einer nicht-anthropozentrischen Weise zu überdenken und dabei auf einen allen Lebewesen gegenüber respektvollen Phytozentrismus abzuzielen. Gleichwohl halte ich die Ansätze von Marder und Morton für problematisch, insofern sie auf der impliziten Annahme eines Hiatus zwischen dem Menschen und einer natürlichen Welt beruhen. Aus Sicht beider Philosophen ist der Mensch für die Umweltprobleme verantwortlich, da sein Eingriff mit der Ausbeutung und der Zerstörung der natürlichen Welt gleichbedeutend ist. Eine solche Sichtweise betrachtet den Menschen als ein exzeptionelles Lebewesen, das von anderem Lebendigen getrennt ist und dessen Handlungen nicht in einer Kontinuität zur Natur stehen. Sowohl Marders Phytozentrismus als auch Mortons Kritik an der Agrilogistik implizieren, dass das menschliche Leben und das anderer

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Lebensformen nicht auf derselben Ebene angesiedelt sind, und basieren damit auf einem Dualismus zwischen Mensch und Natur. Ihre Ansätze laufen somit Gefahr, einem human exceptionalism aufzusitzen, wie es Donna Haraway (2008) und Jason Moore (2016) formulieren, d. h. der Idee eines ontologischen Hiatus und „Überschusses“ des Menschen gegenüber anderen Lebewesen. Aus diesem Grund vermögen Marders und Mortons Perspektiven meines Erachtens nicht den prinzipiellen kognitiven Bias zu überwinden, der auch die Pflanzenblindheit und den Zoozentrismus kennzeichnet, namentlich die Vorstellung vom menschlichen Exzeptionalismus in der Natur. Daher bin ich der Meinung, dass ihre Ideen nicht weit genug gehen, um die Pflanze-Mensch-Beziehung zu überdenken und schließlich die Pflanzenblindheit zu überwinden. Ich werde das Problem noch einmal in den Blick nehmen, wenngleich aus einem anderen Blickwinkel, der sich als fruchtbar erweisen könnte: Dazu werde ich das Thema mit Hilfe des antiken Denkers und Philosophen Theophrast betrachten, der zwischen dem 4. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. lebte und unter anderem zwei Werke über Pflanzen schrieb: Historia plantarum (HP) und De causis plantarum (CP). Diese Werke geben trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer zeitlichen Entfernung einen tiefen Einblick in die bisher thematisierten Probleme und können ferner ganz andere Lösungen anbieten als dies Marder und Morton vermögen.4 Im Folgenden möchte ich die beiden Fragen „Ist es ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen?“ und „Sollten Pflanzen Rechte haben?“ durch die botanischen Werke von Theophrast analysieren und versuchen, die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze mit ihm neu zu überdenken.

3

Theophrasts Botanik: Ein Modell zur Neukonzeption der Pflanze-Mensch-Beziehung

Die botanischen Werke des Theophrast sind das umfangreichste Beispiel für das Interesse am Pflanzenreich in der Antike.5 Theophrast war ein Schüler von Aristoteles und leitete als sein Nachfolger die aristotelische Schule, namentlich den Peripatos. Gemeinsam mit seinem Meister studierte er das Leben, die Organismen und die Lebewesen, weshalb viele seiner Arbeiten über Pflanzen 4 Zur Idee, dass die griechisch-römische Antike aufgrund ihrer radikalen Distanz und Differenz eine nützliche Referenz für unsere Welt sein kann, siehe Bettini 2017: 81–94. Hughes (1988: 67) betrachtet Theophrast als den Vater der Ökologie. 5 Siehe Morton 1981; Repici 2000; Hardy/Totelin 2016 sowie Zatta 2017, um einen tieferen Einblick in die alte Botanik zu bekommen.

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eng mit der aristotelischen Biologie verbunden sind.6 Vorliegend kann ich nicht auf die Analogien und Unterschiede zwischen Aristoteles’ und Theophrasts Studien über Pflanzen eingehen, sondern möchte vielmehr Theophrasts Position zum Pflanzenleben vor dem Hintergrund der beiden hier zu beantwortenden Fragen analysieren. Zunächst halte ich es für notwendig, einen allgemeinen Einblick in Theophrasts Vorstellung von den Möglichkeiten und Eigenheiten der Pflanzen zu geben. Aus meiner Sicht kann Theophrast als ein Vorläufer der Plantness Studies angesehen werden, da seine Beobachtungen bereits ein Bewusstsein für jene Konzepte zeigen, die noch heute unter Botaniker*innen weit verbreitet sind. Er betrachtet Pflanzen als aktive Organismen, die in der Lage sind, Lust und Schmerz zu empfinden, auf die Umwelt zu reagieren und bestimmte Bewegungsarten auszuführen. So können Pflanzen angenehme Empfindungen haben, wenn sie in einer Umgebung wachsen, die ihren Bedürfnissen entspricht, in der sie also die richtige Menge an Sonne, Schatten und Wasser erhalten, während sie wiederum schmerzhafte Empfindungen haben können, wenn sie an einem ungeeigneten Ort wachsen; in einem solchen Fall litten sie und seien nicht in der Lage, lange zu überleben. Das bedeutet nicht, dass Pflanzen passive und von der Umwelt vollständig abhängige Wesen sind: Theophrast unterstreicht, dass Pflanzen viele Überlebensstrategien haben, um auf ungeeignete Bedingungen zu reagieren. Eine der wichtigsten sei die metabasis kata tas koras, die Mutation in Übereinstimmung mit Orten, also die Fähigkeit von Pflanzen, sich über die Veränderung ihrer Eigenschaften und Bedürfnisse an die äußere Umgebung anzupassen (HP III.2.6; CP II).7 Außerdem seien Pflanzen durch die Ausführung kleinerer Bewegungen in der Lage, zu suchen, zetein, was sie brauchen. Sie können etwa klettern, um das Sonnenlicht zu erreichen, ihre Blätter in Richtung Licht oder Schatten drehen, die Blütenblätter während des Tages oder der Nacht schließen oder öffnen.8 Dies sind nur einige Beispiele für die Fähigkeiten, die Pflanzen besitzen. Nun möchte ich eine Antwort auf Marders Fragen vorschlagen, und zwar auf Grundlage dessen, was wir in Theophrasts botanischen Werken finden. Zunächst muss ich präzisieren, dass die zweite Frage, „Sollten Pflanzen Rechte haben?“, aus der Perspektive eines Denkers des 4. bis 3. Jahrhunderts v. Chr. insofern anachronistisch ist, als dieser zwangsläufig einen anderen 6 Siehe Repici 2000: 175, 257; Falcon 2015 und Falcon 2017: 16–27. 7 Siehe Hughes 1988: 71. 8 Theophrasts De causis plantarum II, 19 ist der Analyse der Bewegungen von Pflanzen gewidmet. Das Verb zetein ist zu finden in Historia plantarum I, 1,5,5–7; III, 12,9,7–9; IV, 1,5,8; VII, 5,1,8–9; VIII, 9,1,1–3; VIII, 9,2,7–9; VIII, 9,8,7–9; De causis plantarum II, 7,1,1–6; III, 12,4,8.

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Rechtsbegriff hatte. Nichtsdestoweniger ist diese Frage meines Erachtens sehr nützlich, da sie auf das allgemeinere Problem der Beziehung zwischen Mensch und Pflanze sowie Mensch und Umwelt aufmerksam macht. Wie wir sehen werden, ist die Antwort auf die erste Frage zudem eng mit der Antwort auf die zweite verbunden. Das erste Problemfeld betrifft die Frage: „Ist es ethisch vertretbar, Pflanzen zu essen?“ Theophrast war Vegetarier. In dem verlorenen Werk De pietate kritisiert er die Praktiken des Opferns und Essens von Tieren, weil er diese als grausam ansieht, insofern sie Tieren Schmerzen zufügen und sie einem gewaltsamen Tod aussetzen.9 Aus diesem Grund schlägt er vor, anstelle von Tieren Pflanzen zu essen. Ihm zufolge können Pflanzen Schmerz zwar empfinden, doch sei es dennoch ethisch vertretbar, sie zu essen, weil sie aus erneuerbaren Teilen bestehen und überleben können, auch wenn ihre Köperteile verzehrt werden.10 Dies ist jedoch nicht das wichtigste Argument. Wie er auch in den botanischen Werken schreibt, sei es das Endziel einer Pflanze, ihr telos, sich zu reproduzieren. Um dieses zu erreichen, muss eine Pflanze Samen produzieren und diese im schützenden Inneren der Frucht aufbewahren (CP I, 1,6,1,4–7; I, 16,6,12–13; I, 21,1,1–7).11 Doch die Frucht hat auch eine andere Funktion: Früchte fallen vom Ast eines Baumes und sind somit nicht dauerhaft Bestandteil der Pflanze, d. h. sie müssen sogar vom Baum fallen, damit die Samen den Boden erreichen (CP I, 16,3,3–5).12 Fällt jedoch eine Frucht in die Nähe des Baumes, der sie hervorgebracht hat, wird sich die Pflanze nicht ausbreiten können. Die Pflanze muss ihre Früchte vielmehr Tieren wie Vögeln, Affen oder Menschen zur Verfügung stellen, damit ihre Samen entfernte Orte erreichen können. Nach Theophrast ist der Verzehr von Pflanzen somit nicht nur ethisch vertretbar, sondern auch nützlich für sie selbst: Nur auf diesem Weg kann das Endziel der Pflanze, das in ihrer Fortpflanzung und Verbreitung besteht, erreicht werden (CP I, 16,6,7–13).13 Dies führt uns zur zweiten Frage. Theophrasts Pflanzenkunde ist keine antihumanistische Botanik: Es finden sich darin viele Hinweise auf die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze, vor allem in Bezug auf die Anwendung menschlicher Technik, techne, auf Pflanzen, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder 9

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Wir kennen diese verlorenen Werke aus Zitaten von Simplicius, Eusebius und Porphirius. Siehe Obbink 1988: 272–295; Sorabji 1998: 203–221; Li Causi/Pomelli 2015: XXIX–XXXIII, 288–293, 331–364. Siehe Porphirius, De abstinentia II.13,1–3. Siehe auch Sorabji 1993: 176, 1998: 211–221 und Li Causi/Pomelli 2015: XXIX–XXXIII sowie 288–293. Siehe Sorabji 1998: 202–223, Amigues 2002: 37–42 und Hall 2011: 30–32. Siehe Hughes 1988: 69; Amigues 2002: 37–42. Siehe Hall 2011: 30–32.

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bei der Bearbeitung von Holz in der Tischlerei.14 Vorliegend werde ich mich auf die Landwirtschaft, phyteia, konzentrieren, einem zentralen Thema in HP und CP. Theophrast stellt zwei Wege zur Reproduktion von Pflanzen vor: durch einen spontanen und natürlichen Prozess oder durch die Einwirkung menschlicher Handlungen (HP II, 1,1,7–8; CP III, 1,1,1–4).15 Im letzteren Fall sei die Fortpflanzung der Pflanzen auf techne und auf die menschliche Entscheidung, prohairesis, zurückzuführen (HP II, 1,1,1–7). Der Eingriff des Menschen in die Pflanzen verändere die natürliche Spontaneität des Wachstumsprozesses durch Techniken wie Spatenstich, Düngung, Bewässerung oder Beschneidung. Die Landwirtschaft sei also eine Form des Arbeitens, ergasìa, die zu einer Mutation natürlicher Prozesse führe. Dennoch hat Theophrast eine hochgradig ethische Vorstellung von diesem Prozess: Landwirtschaft sei dem Grunde nach therapeia, eine Art Pflanzenpflege (HP II, 1,1,1–6), wenngleich der Eingriff in die natürliche Spontaneität nicht immer eine echte therapeia sei. Wenn ein Landwirt die Natur der Pflanzen nicht respektiere, indem er ihr z. B. die falsche Menge an Nahrung oder Wasser verabreiche oder dies zur falschen Zeit tue, sei der Anbau para physin, nicht in Übereinstimmung mit der Natur. Respektiere der Landwirt hingegen die Natur der Pflanzen, sei der Anbau kata physin, in Übereinstimmung mit der Natur (HP II, 5,7,1–10). Anachronistisch kann der erste Fall dem Agrokapitalismus und der Agrologistik gleichgesetzt werden. Hier zielt der Landwirt nur darauf ab, eine möglichst große Menge an pflanzlichen Produkten zu erhalten; ohne auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Pflanzen zu achten, fügt er ihnen Leid zu und provoziert ihren Tod. Dieser Fall entspricht nicht dem Prozess der therapeia. Wenn der Landwirt die Natur der Pflanzen respektiere, indem er ihnen zur richtigen Zeit die richtige Menge an Wasser und Nahrung gebe, werde ihn dies zum Erfolg führen und er werde sein Ziel, Früchte und pflanzliche Produkte zu erhalten, erreichen.16 Aber nicht nur der Landwirt werde sein Ziel erreichen, auch die Pflanze könne so in einem Zustand des Wohlbefindens und der Gesundheit wachsen und Samen zur Realisierung ihres telos produzieren. Die Landwirtschaft ist damit ein Prozess, von dem nicht nur der Landwirt, sondern auch die Pflanze profitiert: Insofern ist nach Theophrast die Landwirtschaft kein Prozess der Beherrschung und Ausbeutung. Vielmehr geht der griechische Philosoph davon aus, dass der Mensch durch die Landwirtschaft mit der Natur der Pflanzen in einem Prozess 14 15 16

HP II und CP III sind der Landwirtschaft gewidmet; dieses Thema ist auch in den anderen Büchern der beiden Werke sehr präsent. HP V behandelt das Thema Holzbearbeitung. Siehe Hughes 1988: 72; Burford 1993: 100–109; Repici 2000: 211–223; Amigues 2002: 37–42; Hall 2011: 34–35. In Theophrasts De causis plantarum V, 1,1 lassen sich Beispiele für beide Fälle finden. Siehe auch Theophrasts De causis plantarum III, 1, 4–6 und V, 15,3. Siehe Burford 1993: 120–143.

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der gegenseitigen Kooperation, synergein, zusammenarbeite: Menschliche techne und menschliches Denken, dianoia, können der Natur helfen, ihre Ziele zu erreichen (CP II, 1,1,1–11; III, 1,1,1–4). Damit ist für Theophrast die Landwirtschaft ein in sich ethischer Prozess, in dem der Mensch Gewinn aus der Natur zieht, wenn er – und auch nur dann – mit den Pflanzen kooperiert und ihrer Natur hilft, die letzte Vollendung, die Produktion von Samen, zu erreichen. Auf die anachronistische Frage „Sollten Pflanzen Rechte haben?“ zurückkommend, könnten wir annehmen, dass für Theophrast das Recht der Pflanzen, Rechte zu haben, nicht gleichbedeutend damit ist, dass der Mensch nicht durch techne auf sie einwirken dürfe. Theophrasts Perspektive auf Pflanzen basiert nicht auf einer Trennung von Pflanzen- und Menschenwelt, sondern auf der Möglichkeit einer nützlichen Interaktion zwischen den beiden Sphären. Das Denken von Theophrast kann helfen, die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze in einer Perspektive neu zu überdenken, die weder anthropozentrisch noch phytozentrisch ist, insofern er an dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen interessiert ist.17 Damit kann seine botanische Perspektive heute dazu beitragen, eine Umweltethik zu begründen, die den Menschen und die menschlichen Eingriffe in die Natur nicht a priori ausschließt, sondern den Menschen als eine Spezies unter vielen einschließt, deren dynamische Beziehung zu anderen Lebewesen Bestandteil natürlicher Prozesse ist. Aus diesem Blickwinkel müssen wir eine Umweltethik weder auf einem Phytozentrismus aufbauen noch den Menschen generell als Verursacher des Klimawandels durch die Bewirtschaftung von Land betrachten. Landwirtschaft muss nicht unbedingt eine Form der organisierten Ausbeutung von Natur sein, deren Endergebnis die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts ist: Theophrast lehrt uns, dass Landwirtschaft auch Kooperation und Pflege bedeuten kann. Damit kann Theophrasts Position meines Erachtens eine nützliche Antwort auf Marders und Mortons Perspektiven, die eine Trennung zwischen Mensch und Natur implizieren, geben.

17

Isager/Skysgaard (1992: 7, 25, 35–43) zufolge schließt Theophrast in seinen botanischen Ansätzen die Sichtweise der Landwirte aus und nimmt eine phytozentrische Sichtweise ein. Im Gegensatz dazu sieht Amigues (2002: 37–38) die Perspektive des Landwirts im Mittelpunkt von Theophrasts Interesse: Theophrasts Botanik sei demnach anthropozentrisch geprägt. Ich denke, dass diese beiden widersprüchlichen Positionen zusammengenommen werden können, wenn wir Theophrasts Werke weder als phytozentrisch noch als anthropozentrisch betrachten. Aus meiner Sicht werden sowohl die Perspektiven von Menschen als auch von Pflanzen gleichermaßen berücksichtigt.

Die Überwindung von Pflanzenblindheit

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Theophrasts botanische Werke, so lässt sich zusammenfassend sagen, können uns tiefe Einblicke in die Pflanze-Mensch- sowie Mensch-UmweltBeziehung geben. Wenn wir die Pflanzenwelt verstehen wollen, ist es einerseits notwendig, sich mit den zeitgenössischen Erkenntnissen und Studien zur Pflanzenwelt zu befassen: Hier bilden die Plantness Studies eine Grundlage zur Überwindung von Pflanzenblindheit. Andererseits geben Theophrasts Arbeiten sehr wertvolle Hinweise, um sich mit dem Leben der Pflanzen auseinanderzusetzen und die dynamischen sowie wechselseitigen Beziehungen zwischen Pflanzen und Menschen zu analysieren. Darüber hinaus lehrt uns der griechische Philosoph, dass wir, um eine Pflanzen- oder Umweltethik aufzubauen, die Idee einer Trennung zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen – die Wurzel der Pflanzenblindheit – überwinden und den Menschen und seine Arbeit als einen Bestandteil der natürlichen Welt miteinbeziehen müssen.

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Marco Antonio Pignatone

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Die Überwindung von Pflanzenblindheit

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Übersetzung: Oliwia Murawska

Von Menschen und Tieren in der Moderne Zur Professionalisierung von Tieren Alexandra König, Annette Schnabel

1

Einleitung

Die Grenze zwischen Menschen und Tieren ist keine natürliche, sondern eine menschlich fabrizierte und umkämpfte, deren Diesseits und Jenseits sich in vielfältigen Prozessen ständig verschiebt. Kämpfe um diese Grenze entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Auseinandersetzungen um Abstände. Die distinkte kategoriale Differenzierung in Menschen und Tiere hat dabei nicht zuletzt die Funktion, Tiere im wahrsten Sinne des Wortes zu ent-menschlichen und die Anwendung einer anderen Ethik zu rechtfertigen (Fischer 2015). Jedoch ist dieser Abstand in der westlichen Gegenwartsmoderne weder über alle Interaktionen noch über alle Tiergattungen hinweg gleich:1 Wir können beobachten, dass manche Tiergattungen dem Menschen näher zu sein scheinen als andere. Einige werden dabei sogar companion animals: Wesen, „die dazu bereit sind, den Sprung in die Biosozialität von Assistenzhunden, Familien- und Teammitgliedern im speziesübergreifenden Sport zu machen“ (Haraway 2016: 21). Zu solchen companion animals zählen jene Tiere, die den Weg in die Professionalisierung gefunden haben. Professionalisierung gilt mit Max Weber (1992 [1917/1919]) als wichtiges Kennzeichen der westlichen Moderne seit Ende des 17.  Jahrhunderts. Sie ist gekennzeichnet durch die Entstehung einer Expert*innen-Gesellschaft, die sich durch besondere – professionelle – kognitive Ordnungen auszeichnet. Dies betrifft auch das moderne Tier-Mensch-Verhältnis, insbesondere dort, wo Tiere nicht nur in Dienst genommen, sondern selbst „professionalisiert“ werden, z. B. im medizinischen und therapeutischen Bereich, bei Rettungseinsätzen, im Sport oder Krieg oder beim Aufspüren gefährlicher und unerlaubter Substanzen. Tiere werden in vielen gesellschaftlichen Feldern ihrer spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten wegen geschätzt, ausgebildet und eingesetzt. Dies, so unsere These, fordert die Grenze zwischen Menschen und Tieren heraus und macht Strategien der Abstandswahrung sichtbar. Dafür ist es notwendig, von einer strikt mensch-zentrierten Perspektive abzurücken, um aufzuzeigen, 1 Zur historischen und kulturellen Variabilität der Grenzziehung vgl. beispielsweise Daston (1998) sowie Descola (2011).

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_011

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dass und wie Menschen eben nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Tieren relationiert und durch diese Relationen geprägt sind. Die posthumanistische Perspektive dieses Artikels besteht damit darin, die soziale embeddedness von Menschen in nicht-menschliche Zusammenhänge aufzuzeigen und damit Fabrikationsprozesse der Grenzziehung zwischen human und non-human animals (Peggs 2012) sichtbar zu machen. Dabei beschränkt sich die Fabrikation nicht allein auf die Benennung, vielmehr werden sprachliche Akte zu performativen, die sich im Handlungsvollzug und dessen ethischer Legitimation wiederfinden (Butler/Athanasiou 2013). Der vorliegende Beitrag nimmt Pferde und Hunde im Polizeidienst in den Fokus. Datengrundlage sind die Selbstbeschreibungen auf den Internetseiten der deutschen Landespolizeidienststellen, auf denen Diensthunde und Dienstpferde vorgestellt und deren Ausbildung und Einsätze beschrieben werden. Auf Basis dieser Daten verfolgt der Artikel eines der Anliegen der Human-Animal Studies, nämlich die kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Dimensionen der Tier-Mensch-Verhältnisse in der Moderne auszuloten (z. B. DeMello 2012). Wir untersuchen hierfür insbesondere die moderne Interspezies-Grenzziehung als Prozess des Sagens und Handelns im Kontext der Professionalisierung.

2

Tier-Mensch-Verhältnisse und Moderne

Seit dem Buch Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit von Berger und Luckmann (1967) gehört es zum Erkenntnissinteresse der Soziologie, „natürlich“ erscheinende Kategorisierungen auf ihre soziale Konstruiertheit hin zu befragen. Dies soll im Folgenden auch für die Interspezies-Grenzziehung der anthropologischen Differenz geschehen. Die kategoriale Trennung von Menschen und Tieren, wie sie für die westliche Moderne ab dem späten 17. Jahrhundert kennzeichnend ist, findet bereits im Kampf monotheistischer Religionen (Judentum, Islam, Christentum) um Hegemonie gegenüber den antiken Tiergottheiten ihren ersten Niederschlag (Rifkin 1994: 27). In der frühen Neuzeit wird sie Teil der „natürlichen Ordnung“ und erlangt ihre aktuelle Ausformung (Daston 1998: 170). Hier findet die Dualität ihren Ausdruck, die die „abschreckenden Merkmale des Tiers: Seelenlosigkeit, Vernunftmangel, Determiniertheit und Sterblichkeit“ (Mütherich 2015: 54) feststellt und zum zentralen Unterscheidungsmoment verfestigt. Damit wird in der frühen Moderne eine Grenze zwischen Menschen und Tieren etabliert, die Tiere „endgültig zum ganz Anderen“ deklariert und ein fortlaufendes „othering“ ermöglicht (ebd.: 51).

Von Menschen und Tieren in der Moderne

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Die Historizität des Grenzregimes der Tier-Mensch-Unterscheidung impliziert, dass diese im Sinne der eingangs zitierten „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ sozial fabriziert und in die jeweilig hegemonialen Weltzugriffe eingebettet ist. Die moderne Ausprägung dieses Grenzregimes deklariert den diesseitigen, lebendigen Menschen zum sozialen, politischen und rechtlichen Referenzpunkt (Lindemann 2009: 97, in Anlehnung an Gehlen 2016 [1940] und Plessner 2015 [1982]). Im Alltag ist das Grenzregime des diesseitigen, lebendigen Menschen, der weder Tier noch Maschine (und schon gar nicht göttlich) ist, durch Sprechakte, Praktiken, Wissensbestände und durch die Normierung und Normalisierung der vermeintlich „natürlichen Ordnung“ abgesichert. Allein durch differenzierende Rhetorik wird dem Tierischen das Dumpfe, Naturhafte, Rohe und Irrationale zugewiesen (vgl. Mütherich 2015: 51). Dem folgen die hierarchisierenden Praktiken der Gewalt gegen Tiere, die sich in der Bekämpfung (z.  B.  von  Schädlingen), der Bändigung (z.  B.  als  Zirkustier), der Abrichtung (z. B. des Heimtiers), der Opferung (z. B. als Versuchstier) und der Tötung (z. B. in der Massentierhaltung), aber eben auch der Glorifizierung (z. B. im Stierkampf) ausprägen (vgl. Fischer 2015: 195–197). Unterlegt sind Sprechakte und Praktiken durch wissenschaftliche Wissensbestände, wie z.  B.  der  Biosystematik, die Lebewesen einteilt, benennt und identifiziert und die sich an modernen phylogenetischen Evolutionstheorien orientiert (u. a. Stevens 2003). Damit verbunden sind Normen und eine Ethik der Gewaltanwendung, die gegenüber Tieren als legitim erachtet wird (Fischer 2015: 199). Dabei zeigt diese sprachliche, praktische, wissenschaftliche und normativethische Grenzziehung durchaus Risse, Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten. Eine Grundannahme des vorliegenden Beitrags ist es, dass Grenzziehungen stets an den jeweiligen Kontext gebunden sind. Im Fokus unserer Analyse steht ein professionelles Setting, in dem Tiere ausgebildet werden, um an der Seite menschlicher „Kolleg*innen“ Dienstaufgaben zu übernehmen – und auf diese Weise Grenzziehung und den kategorialen Abstand zwischen den Entitäten herausfordern. Dafür wenden wir die Frage nach Grenzen strikt empirisch, indem wir am konkreten Gegenstand der Polizeihunde und -pferde untersuchen, welche Grenzen in einem professionellen Feld wann und wie gezogen werden. Spätestens seit Max Webers Vorträgen zu Wissenschaft und Politik als Beruf (Weber 1992 [1917/1919]) gehört Professionalisierung als Verberuflichung, Macht- und Prestigegewinn und Spezialisierung von Wissensbeständen zu den Merkmalen moderner Gesellschaftsformen (vgl. auch Schmeiser 2013: 53–54). Webers Überlegungen finden auch in der neueren Professionalisierungssoziologie ihren Niederschlag (vgl. u.  a. Pfadenhauer/Sander 2010: 362;

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Schmeiser 2013: 49): Professionen sind demnach solche Berufe, die sich durch wissenschaftlich angeleitete Ausbildungen auf akademischem Niveau, über berufsständische Normen (wie z. B. den hippokratischen Eid), ein etabliertes Angebotsmonopol, gemeinnützige Funktionen, durch Fach- und Sachautorität und durch Selbstkontrolle in Peer-Review-Verfahren auszeichnen. Vor dem Hintergrund umfänglicher soziologischer Debatten um eine theoretische Einordnung und empirische Vermessung von Professionen und Professionalität2 soll im Folgenden in Anlehnung an Schützeichel (2018) Professionalisierung als besondere Figuration verstanden werden, in der eine spezifische Sozialordnung und eine spezifische Wissensordnung konfundieren. Dabei fokussiert die Sozialordnung auf die gegenseitige Anerkennung von zertifizierten und lizensierten Professionellen und Laien, wobei sich die Professionellen durch soziale, kulturelle und kognitive Ressourcen von den Laien unterscheiden. Das Professionellen-Laien-Verhältnis ist eingebettet in eine besondere Wissensordnung und betrifft spezifische lebensweltliche Problemkonstellationen der Klient*innen: „Die professionalen Handlungsprobleme sind solche, die durch eine hohe Ungewissheit und Unbestimmtheit gekennzeichnet sind“ (Schützeichel 2018: 567). Diese Unsicherheiten manifestieren sich auf drei Ebenen: In der Sozialdimension bedingen Wissensasymmetrien Vertrauensprobleme. Da die Laien nicht über das notwendige universelle Wissen verfügen, müssen sie der Fallrekonstruktion und seiner Lösung durch die Professionellen vertrauen. In der Sachdimension entziehen sich die komplexen alltagsweltlichen Probleme der Laien der Standardisierung. Dies bedingt, dass in der Handlungsdimension die Problemlösung nicht auf der Basis von Routinen erfolgen kann. Diese problemzentrierte Perspektive eines solchermaßen wissenssoziologisch gedeuteten Professionsbegriffs ermöglicht es, das Verhältnis zwischen Menschen und den in Dienst genommenen Tieren neu zu beschreiben und besser zu verstehen und damit die anthropozentrische Perspektive der aktuellen Professionssoziologie zu unterlaufen.

3

Hunde und Pferde im Dienst der Polizei – ein empirisches Feld

Der Frage, wie Grenzen zwischen Menschen und Tieren in einem professionellen Setting hergestellt werden, wird im Folgenden am Beispiel von PolizeiHunden und Polizei-Pferden nachgegangen. 2 Aus Platzgründen sei hier nur auf die umfängliche Literatur zum Thema verwiesen: Vgl. u. a. Rüschemeyer (1980), Heidenreich (1999), Schützeichel (2018) und Pfadenhauer/Sander (2010).

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3.1 Polizei als Arbeitsfeld Polizeiarbeit konstituiert ein Arbeitsfeld mit eigener Professionalisierung (vgl. Liebl/Ohlemacher 2000; Reichertz 2013). Sie ist als zentrales Moment des staatlichen Gewaltmonopols in die rechtlichen und organisatorischen Institutionen des Staates eingebettet und wird durch das Polizeirecht geregelt (Frevel/Salzmann 2015). Als eines der staatlichen Exekutivorgane übernimmt die Polizei hoheitliche Funktionen. Polizeiliche Aufgaben bestehen u. a. darin, die innere Sicherheit und Ordnung durch Strafverfolgung, Gefahrenabwehr, Prävention und Opferschutz zu gewährleisten. Polizeiarbeit ist abhängig von den gesellschaftlichen Übereinkünften zur Reglementierung staatlicher Gewalt, gleichzeitig legitimiert (und de-legitimiert) sie Staatlichkeit in ihrer Durchführung (Winter 1998: 47). Die Ausgestaltung der Polizeiarbeit und das Ineinandergreifen der einzelnen Behörden ist länderspezifisch geregelt (Art.  30  GG). Das Landesinnenministerium ist die oberste Dienststelle und kann Verwaltungsverordnungen erlassen, die für die Polizei als Exekutivorgan Gesetze in konkrete Vorschriften übersetzen (Winter 1998: 87). Der Normalfall polizeilicher Ausbildung ist der Einstieg in den mittleren Dienst der Polizei über eine interne Ausbildung in Polizeischulen und bei der Bereitschaftspolizei. In den gehobenen Dienst kann man über eine Weiterbildung oder ein Studium an einer Polizeihochschule einsteigen. Während der Ausbildung werden nicht nur Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, sondern auch die Organisationsziele und entsprechende Einstellungen und Orientierungen. Studien zum Korpsgeist bei der Polizei zeigen, dass und wie eine Identität als Polizist*in durch gemeinsame Arbeit und gemeinsame Erfahrungen, Aktivitäten außerhalb des Arbeitskontextes sowie ein engmaschiges Normsystem aus Solidarität, Loyalität und des Zusammenhaltens geprägt und stabilisiert wird (Behr 2010). Nach ihrer Ausbildung können die Beamt*innen eine Ausbildung zur Hundeführer*in oder Polizeireiter*in anschließen. 3.2 Tiere bei der Polizei Bei Strafverfolgung und Gefahrenabwehr durch die Polizei kommen unterschiedliche Tierarten zum Einsatz, z.  B.  Geier zur Leichensuche (Querfurth 2009) oder Schweine und Bienen zum Aufspüren von Drogen (Pointner 2019). Die bei Weitem am häufigsten im Polizeidienst anzutreffenden Tiere sind jedoch Hunde und Pferde. Beide gelten als spezielle „Einsatzmittel“ der Polizei, allerdings unterscheiden sich Trainings- und Ausbildungswege sowie die Dienstaufgaben. So werden Diensthunde bei Polizei, Zoll, Bundespolizei, Rettungsdiensten und Sicherheitsdiensten als Schutzhunde, zur Personensuche (mantrailing) und zur Fahndung nach Drogen, Geld und Gefahrengütern eingesetzt. Pferde unterstützen die Polizeiarbeit vor allem bei Großveranstaltungen, bei Fahndungen im unwegsamen Gelände und

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mancherorts im täglichen Streifendienst. Während Hunde in allen Bundesländern im Einsatz sind, verfügen nur noch wenige Landespolizeien über eine Reiterstaffel. Hunde wurden vor dem 19. Jahrhundert zumeist nicht speziell ausgebildet, sondern liefen lediglich zur Begleitung von nächtlichen Fußpatrouillen mit. Erst mit der Institutionalisierung der Polizei als öffentlicher Gewalt der Exekutive Mitte des 19. Jahrhunderts werden Hunde systematisch zur Unterstützung von Polizist*innen genutzt und auch evaluiert. Die Polizei von Gent (Belgien) lässt als erste Polizei ab 1859 gezielt Polizisten mit Hunden Streife gehen. In Gent wird auch die erste Hundeschule für Polizeihunde etabliert. In Deutschland sind 1910 bereits 600 Polizeihunde im Einsatz (Allsopp 2012: 5). Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg werden Polizeihunde weltweit und in großer Zahl für den Dienst zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung abgestellt.3 Aus juristischer Perspektive sind Diensthunde Einsatz- und Arbeitsmittel, jedoch erkennt das Deutsche Tierschutzgesetz Tieren einen „inhärenten Eigenwert“ zu (Wilkeneit/Schulz 2013: 136). In der US-amerikanischen Rechtsprechung gelten Polizeihunde als eine „less-than-lethal option“ der Gewaltanwendung (Dorriety 2005: 93). Aus juristischer Perspektive ist ferner definiert, inwiefern das Anzeigen von Geruchsspuren durch Bellen, Kratzen oder Niederlegen Beweismittelcharakter haben kann (Bird 1996: 406–407). In Deutschland kommt dem Anzeigen der Spürhunde allein keine Beweiskraft zu, da Hundeführer*innen dies erst auslesen müssen. Liegt kein anderes Beweismittel, wie z. B. ein erfolgreich aufgespürtes Drogenpäckchen, vor, so wird der Beweismittelcharakter durch Verfahren sichergestellt (Neuhaus/ Artkämper 2014: 145): Die Spürhunde müssen nachweislich ein besonderes Training durchlaufen haben und der Geruchstest muss durch andere Polizeihunde verifiziert werden (LG Fürth 2012). Spürhunde werden rechtlich als „Mittel mit eigenem Willen“ charakterisiert. Damit sie ihre Aufgabe erfüllen können, wird von Spürhunden erwartet, dass sie „bis zu einem gewissen Grad auch ungehorsam sein und eigenständige Entscheidungen treffen [müssen]“ (Neuhaus/Artkämper 2014: 146). Die damit einhergehende Spannung, einerseits Arbeitsmittel zu sein, andererseits selbständig und eigenwillig zu arbeiten, wird in ethnographischen Studien zu Diensthunden detailliert herausgearbeitet. Sanders (2006: 165) 3 Die sozialwissenschaftliche Literatur zu Diensthunden ist wenig umfangreich und adressiert zum einen die juristische Stellung von Hunden (z. B. Dorriety 2005; Taslitz 1990; Bird 1996; Neuhaus/Artkämper 2014: 143), zum anderen in Form ethnographischer Studien das Verhältnis von Diensthund und Hundeführer*in (Hart et  al. 2000; Sanders 2006; Wilkeneit/ Schulz 2013).

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stellt fest, dass Polizist*innen mit einer als „dog-as-object versus dog-as-person dichotomy“ beschreibbaren Ambiguität konfrontiert sind. In Ausbildung und Dienst geht es einerseits darum, dass Diensthunde standardisierte Befehle und Abläufe erlernen und „machinelike“ (Sanders 2006: 157) befolgen, andererseits werden die Hunde als Individuen wahrgenommen und erlebt, die eine eigene Persönlichkeit haben und „equal partners“ (Sanders 2006: 161) für die Polizist*innen sind. Ähnlich stellen auch Wilkeneit und Schulz (2013) fest, dass Diensthunde für „ihre“ Menschen verschiedene Rollen als Kollege, Freund, Partner, aber eben auch als Werkzeug einnehmen. Pferd und Mensch verbindet ebenfalls seit Jahrhunderten eine enge Beziehung, in der das Pferd als „Tempomaschine par excellence“ für die Ausweitung und Sicherung von Macht unersetzlich war (Raulff 2016: 16). Zur Polizeiarbeit gehörte das Pferd entsprechend von Anbeginn dazu. Zuerst bezog die französische Polizei Pferde systematisch in den Polizeidienst ein, woran sich Deutschland im 19. Jahrhundert orientierte (Ebers et  al. 2006: 8–10). Gegenwärtig, in einer hoch technisierten Welt, erscheint der Einsatz des Pferdes wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Die Beobachtung der „incongruity of a man on a horseback appearing in the context of the busiest city“ stößt Lawrence (1985: 116) zu einer der wenigen Studien über Polizeipferde an. Zentral ist hier die Beobachtung der symbolischen Bedeutung des Pferdes im Dienst und seines Beitrags zur Sicherung von Ordnung. Hervorgehoben wird, dass beides, the „potential offender and the public at large are profoundly affected by the sight of the horse/rider unit“ (ebd.: 118). Hier wie auch in anderen Zusammenhängen erhöhen Pferde „both in a literal and symbolic sense, […] the status of those who ride and use them“ (Lawrence 1988: 224). Die berittene Polizei hebt sich zum einen durch ihre Größe von Fußgänger*innen ab, zum anderen hat das Pferd, mit seiner langen Geschichte des Kriegs- und Eroberungseinsatzes, eine Autorität, die Pferd und Reiter*in im Dienst begleitet (ebd.: 119). Eine zusätzliche Besonderung ist, dass sich die berittene Polizei in städtischen Räumen bewegt, obwohl das Pferd eigentlich aus der Stadt längst verbannt ist (Birke/Thompson 2017: 16). 3.3 Die empirische (Re-)Präsentation von Polizeitieren Mit Polizeihunden und -pferden untersuchen wir zwei Tierarten in einem professionellen Feld. Diese Konstanthaltung erlaubt es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Weisen der Interspezies-Grenzziehung genauer zu analysieren. Für unsere explorative Analyse der Tiere im Polizeidienst nutzen wir die Darstellungen auf den Internetseiten der Landespolizeien. Diese „natürlichen Daten“ dokumentieren, wie die Polizei die Aufgaben ihrer Diensttiere einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert. Datengrundlage

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unserer explorativen Studie sind Seiten der Landespolizeiämter, die sowohl über eine Reiter- als auch über eine Hundestaffel verfügen und diese präsentieren: Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen.4 Die Informationen sind unabhängig vom Bundesland und davon, ob es sich um die Reiter- oder Hundestaffel handelt, ähnlich strukturiert: Die Reiter- bzw. Hundestaffel wird vorgestellt, ihre Ausbildung skizziert, die Einsatzgebiete benannt – und damit ihr Einsatz legitimiert. Seltener werden die Geschichte (Bayern, Hannover), der Tierschutz (Bayern) und der Ankauf (Hannover) thematisiert. Alle Landesämter arbeiten mit Bildern und Texten. In der Auswertung des Materials folgen wir dem Vorschlag von Latour (2007: 45): „Die Aufgabe, das Soziale zu definieren und zu ordnen, sollte den Akteuren selbst überlassen bleiben und nicht vom Analytiker übernommen werden.“ Um die Ordnung der Polizei zu untersuchen, haben wir in einem ersten Schritt des offenen Codierens Kategorien erarbeitet, die den Vergleich der Darstellung von Polizeipferden und -hunden anleiteten. Zwei Ebenen werden dabei unterschieden, nämlich die Darstellung der Tiere (im Sinne ihrer Positionierung in Relation zu den Polizist*innen in Bild und Text, der zugeschriebenen Eigenschaften und Akteurschaft) sowie die Mensch-Tier-Beziehung, mit Blick auf deren Exklusivität und Entgrenzung.

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Auswertung: Diensthunde und -pferde in Wort und Bild

4.1 Was ist ein Hund, ein Pferd im Dienst? Die Weise, wie Pferde und Hunde im Feld der Polizei in Relation zu den Menschen positioniert werden, unterscheidet sich deutlich: Die Polizeipferde werden unter dem Stichwort „Polizeireiterstaffel“ (Sachsen, Hessen), „Landesreiterstaffel“ (NRW) oder „Reiterstaffel“ (Bayern, Hannover, Braunschweig) vorgestellt. Nicht das Pferd ist benannt, sondern der Mensch, der durch das Pferd zu einem Polizeireiter bzw. einer Polizeireiterin wird. Er bzw. sie, oder genauer gesagt, die Gruppe der berittenen Polizist*innen steht auch im Fokus der Selbstbeschreibungen, wenn es heißt: „Wo auch immer sie in Naherholungsgebieten oder bei Volksfesten zum Einsatz kommen, fallen sie als Besonderheit auf – berittene Polizisten“ (Sachsen – Reiterstaffel). 4 Nicht jede Landespolizei hat eine eigene Reiterstaffel. Andere, wie die Landespolizei BadenWürttemberg, verfügen zwar über Reiterstaffeln, präsentieren diese aber nicht auf einer eigenen Seite. Entsprechend begrenzt sich die Analyse auf fünf Bundesländer. Für die Darstellung der Polizeipferde auf den Internetseiten von Landespolizeiämtern handelt es sich somit um eine Vollerhebung. Die Bundespolizei verfügt auch über eine Reiterstaffel. Diese wird allerdings nur in ihrer Zeitschrift vorgestellt.

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Die Seiten zur „Diensthundestaffel“ (Bayern, Hessen) bzw. zu den „Diensthunden“ (Hessen, Niedersachsen) nehmen hingegen den Hund, seine Aufgaben und Funktionen, seine Leistungsfähigkeit, aber auch die Notwendigkeit von permanenten Leistungstests in den Blick: „Die Tiere sind grundsätzlich als Schutz- und Fährtenhunde ausgebildet. Besonders geeignete von ihnen werden als Spürhunde weitergebildet“ (Hessen, Diensthundewesen). Mehr noch, „oft ist der Vierbeiner der Schlüssel zum polizeilichen Erfolg“ (Niedersachsen, Diensthundewesen). Der Polizeihund steht mit seinen spezifischen Aufgaben und Fähigkeiten im Mittelpunkt. Dies korrespondiert mit dem Fokus der bildlichen Darstellung: Die Pferde werden kaum ohne ihre*n Reiter*in dargestellt. Von den 75 Fotos, die auf den Seiten der Pferdestaffeln zu finden sind, zeigen nur vier Fotos ein Pferd ohne Polizist*in. Zumeist stehen die Pferde oder gehen Schritt. Auf den 56 Fotos zu den Diensthunden sind hingegen 17 ohne Polizist*innen. Ist eine Polizist*in präsent, so vor allem im Ausschnitt – ein Bein, ein Arm – oder dem Hund zugewandt. Hier steht der einzelne Hund im Fokus – mal hochgradig aktiv (etwa im Sprung oder schnüffelnd oder in den Arm von Trainer*innen verbissen), mal entspannt in wachsamer Haltung. Die Differenz in der Positionierung der Pferde und Hunde ist gebunden an die den Tieren zugeschriebenen Eigenschaften. So heißt es auf der Seite der Reiterstaffel NRW: „Aufgrund ihrer Wendigkeit, Schnelligkeit und Größe sind sie effektiv beispielsweise beim Trennen und Begleiten von Störergruppierungen sowie beim Räumen und Freihalten von Fläche“ (NRW, Landesreiterstaffel). Größe und Beweglichkeit des Pferdes werden zu Merkmalen der Polizeireiter*innen. Begründet wird der Einsatz des Pferdes nicht über seine Fähigkeiten, sondern sein spezifisches Sein: Seine Größe erhöht die Reiter*innen und damit deren Überblick und Sichtbarkeit, seine Beweglichkeit steigert deren Handlungsspielraum auch in unzugänglichem Gelände. Ein wichtiges Moment ist die symbolische Wirkung des Pferdes auf Zivilist*innen. Das Pferd flößt Respekt ein und ist Sympathieträger:5 „Viele Menschen mögen Pferde. Sie haben jedoch gleichzeitig auch Respekt vor ihrer Größe und Kraft.“ Das Pferd habe damit einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Polizeiauto, denn: „Welches Kind möchte schon einen Streifenwagen streicheln?“ (Sachsen, Reiterstaffel).

5 Vgl. die Diskussionen um die Abschaffung von Reiterstaffeln. So zeigen z.  B.  die  Plenarprotokolle des Landtages NRW (2003), wie hitzig dieser Vorschlag diskutiert wurde, wobei insbesondere die Symbolwirkung des Pferdes als ein starkes Argument für die Beibehaltung der Staffel galt.

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Als besonderes Spezifikum des Pferdes wird seine Instinkthaftigkeit als „angeborener, überlebenssichernder Trieb und Drang“ (Sachsen, Pferd) betont, der erst beherrschbar gemacht werden muss. Gleichwohl wird von charakterlichen, individuellen Verschiedenheiten innerhalb der Kategorie „Pferd“ ausgegangen. So werden Pferde für die Ausbildung ausgewählt, die „gute Charaktereigenschaften“ haben. Konkret angeführt werden Eigenschaften wie „ruhig“, „ausgeglichen“, „arbeitsfreudig“, „treu“ und „gehorsam“. Der Verweis auf die Instinkthaftigkeit fungiert hier als Abstandhalter, dennoch wird das Grenzregime durch die sprachliche Zuweisung emotionaler Eigenschaften, die als menschlich gelten, an dieser Stelle brüchig. Dieser Zuweisung folgen dann handlungspraktische Vollzüge während und nach der Ausbildung.6 Die Charakterisierung der Diensthunde folgt einer anderen Logik. Ihr Einsatz wird mit spezifischen Fähigkeiten begründet, die sie für den Polizeidienst als besonders geeignet erscheinen lassen: eine hervorragende Riechfähigkeit, ein besonderes Gehör sowie hohe Geschwindigkeit, Ausdauer und Sprungkraft (Sachsen, Leistungsmerkmale; Hannover, Spezialhunde). Diese Fähigkeiten gelten als in einzigartiger Weise ausgeprägt; mehr noch: „Sie [die Hunde] kommen dann zum Einsatz, wenn die zweibeinigen Kollegen allein nicht weiter kommen“ (Hannover, Spezialhunde). Hunden wird hier eine eigenständige Problemlösefähigkeit zugesprochen. Ihre gattungsspezifischen Fähigkeiten müssen jedoch durch bestimmte Charaktereigenschaften flankiert sein: Ausgewählt werden Hunde, die „selbstbewusst, spielfreudig und durch nichts zu erschüttern“ sind (NRW, Diensthunde). So wird der Hund auch als Individuum sichtbar, das gelegentlich mit Namen vorgestellt wird (Hessen, Hundeführer; NRW, Diensthundestaffel). Auch wenn Hunde und Pferde gleichermaßen als „Einsatzmittel“ benannt werden, so ist ihre Darstellung hochgradig unterschiedlich: Indem das Pferd nichts mitbringt außer seiner Statur, seiner Beweglichkeit und symbolischen Wirkung, steht es buchstäblich unter den Polizist*innen und wird unter der Pferd-Reiter*in-Einheit in der Reiterstaffel eingereiht. Der Hund hingegen, legitimiert durch seine besonderen Fähigkeiten und seine Anerkennung als Individuum, steht im Dienst neben der Hundeführer*in oder rückt ins Zentrum des (beschriebenen) Geschehens. Professionssoziologisch handelt es 6 Zwar sind Eigenschaften wie „temperamentvoll“ oder „gehorsam“ keine, die man in Stellenausschreibungen als Anforderungsprofile für den Menschen finden würde, doch ist es genau diese anthropomorphisierende Beschreibung, die den spezifischen Umgang mit den Tieren charakterisiert. Sprachliche Zuweisung funktioniert hier als konsequenzenreicher performativer Akt (Butler/Athanasiou 2013; Krüger et al. 2014: 12–13), der die Besonderung des Polizeipferds herstellt, markiert und sich im Handlungsvollzug auswirkt. Ähnliches zeigt sich auch in den Untersuchungen zu Haustieren (vgl. z. B. Wischermann 2017).

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sich beide Male um eine Tier-Mensch-Einheit, wobei das Pferd Merkmal der berittenen Staffel ist, während der Hund als eigenständiger Teil in einem dyadischen Team vorgestellt wird. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass auch der zugeschriebene Akteurstatus variiert. In der Reiterstaffel sind die Polizist*innen die Akteur*innen, die sich die Größe und Beweglichkeit der Tiere zunutze machen und die Natur des Pferdes im Griff haben müssen. Die Natur des Pferdes zu bearbeiten und überformen, ist Ziel der Ausbildung: „Da das natürliche Verhalten der Tiere wesentlich vom Fluchttrieb bestimmt wird, müssen die im Polizeidienst verwendeten Pferde erst an solche Situationen gewöhnt werden“ (Sachsen, Pferdeausbildung). Dass Gewöhnung und Konditionierung ausbildungsleitend sind, heißt nicht, dass den Pferden jeglicher Akteurstatus abgesprochen würde. Zum einen wird betont, dass jede Ausbildungsstunde mit einem Erfolgserlebnis für das Pferd enden muss (Hannover, Ausbildung), womit dem Pferd eine Art Selbst(erleben) zugeschrieben wird. So geht es darum, „das Vertrauen des Pferdes zu gewinnen und spielerisch das Selbstbewusstsein und den Charakter des Tieres zu stärken“ (Hannover, Ausbildung). Zum anderen wird dem Pferd zugesprochen, dass es durch seine langsame Bewegung mit den Zivilist*innen kommunizieren, Disziplin herstellen und somit für „Ruhe und Sicherheit“ (Sachsen, Pferdeeinsatz) sorgen kann. Stärker als das Pferd aber wird der Hund als Akteur beschrieben, der als Spezialist im Feld gilt. Die Ausbildung des Hundes zielt auf die Verfeinerung und Lesbarkeit seiner natürlichen Fähigkeiten. Die Ausbildung erfolgt zweistufig: Zunächst werden die Diensthunde als Schutzhunde ausgebildet, um sich anschließend „gemäß ihrer Fähigkeiten“ (Niedersachsen, Diensthundewesen) zu spezialisieren. Die Hunde werden auf „ihren Einsatz vorbereitet“ (Sachsen, Diensthunde), bei dem sie eigenständig unterschiedliche Probleme lösen müssen. Die Erfüllung des polizeilichen Auftrags wird dabei immer als arbeitsteilige Kooperationsleistung von Hund und Hundeführer*in beschrieben, für die sie gemeinsam ausgebildet werden und eine gemeinsame Sprache finden müssen, mit deren Hilfe die Hunde die Befehle der Hundeführer*innen erfassen und diese wiederum das Anzeigen des Hundes „auslesen“ können (vgl. etwa LG Fürth 2012). Zur Mitarbeit muss der Hund motiviert werden: „Das vom Menschen gewünschte Verhalten muss sich für den Hund lohnen!“ (Hannover, Ausbildung). Die Eigenmächtigkeit des Hundes wird hier nicht nur unter Kontrolle gebracht, sondern auch für die Aufgabenerfüllung genutzt; sie ist sozusagen ein wichtiger Bestandteil der Tier-Mensch-Kooperation. Kennzeichnet einen Akteur ein Wollen, Können und das Antizipieren zukünftiger Weltzustände (vgl. Greve 2011), dann wird Hunden ein anderer Akteurstatus zugeschrieben als Pferden: Das Wollen des Pferdes ist triebhaft

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und muss gebändigt werden, während der Hund zum Wollen animiert werden kann; Können und Antizipieren des Pferdes werden kaum relevant gemacht, während der Hund als Akteur auftritt, der Mittel und Ziel in Verbindung zu bringen vermag, also etwas kann, und dem zugeschrieben wird, Vorstellungen über verschiedene zukünftige Zustände haben zu können. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wie Tiere und Menschen im Dienst in Relation zueinander gesetzt werden und ob Tieren ein Akteurstatus zugeschrieben wird, ist eng daran gebunden, inwiefern ein spezifisches Können der Tiere von Seiten der Polizei nutzbar gemacht werden kann. Daran gebunden sind ein je spezifisches Ausbildungsprogramm und die Anerkennung eigenständiger Entscheidungsautonomie. 4.2 Wie sieht die Tier-Mensch-Beziehung im Dienst aus? Die Verbindung von Reiter*in und Pferd ist weniger exklusiv als die von Hundeführer*in und Hund – weder in der Ausbildung noch im späteren Einsatz: „Falls sich der Reiter nicht im Dienst befindet oder es dienstliche Belange erfordern, wird das Pferd auch von anderen Reitern geritten“ (Hannover, FAQ Pferde). Das Pferd soll sich den Befehlen der Polizist*innen unterordnen, unabhängig von der Person. Aus Sicht der Polizist*innen kann die Beziehung zum Pferd jedoch eine andere, stärker kollegiale Qualität bekommen. So heißt es auf der Unterseite der Polizei Bayern zum Tierschutz: „Für den Polizeireiter ist sein Pferd weniger ein Einsatzmittel, sondern vielmehr ein ‚Streifenpartner‘“ (Bayern, Tierschutz). Aus Sicht der Organisation handelt es sich um ein vor allem hierarchisches Verhältnis, bei dem das Pferd „treu und gehorsam an den Hilfen seines Reiters stehen“ (Sachsen, Pferdeausbildung) sollte. Als Kollege des Pferdes ist jedoch nicht der Mensch, sondern sind eher andere Pferde vorgesehen: „[D]ie Pferde als scheue Herdentiere [brauchen] immer eine gewisse Anzahl von Artgenossen in ihrer Nähe, um auch in Stresssituationen ruhig zu bleiben“ (Bayern, Zuständigkeit). Die Polizeipferde werden so in ihrer Spezies verortet. Die Beziehung zwischen Hund und Polizist*in ist wesentlich exklusiver. Einige Landespolizeien suchen deshalb nach der spezifischen Verbindung: „Deshalb sucht sich ein Hundeführer seinen Hund bei uns auch selbst aus und gibt ihm seinen Namen. Das muss einfach passen“ (NRW, Diensthunde). Die Ausbildung geschieht dann in festen Teams, die auch körperlich aufeinander eingespielt werden. Hund und Mensch erlernen eine gemeinsame Sprache – der Hund muss Dinge in bestimmter Weise anzeigen, die Hundeführer*in muss diese Anzeige „lesen“ können. Diese Form der Verständigung ist essentiell, um Aufgaben gemeinsam zu erfüllen. Ferner muss der Hund lernen, sich in die Einheit einzufügen und „auf Kommandos seines Diensthundeführers gehorsam zu reagieren“ (Sachsen, Diensthundeausbildung). Die

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Subordination des Hundes wird in der Ausbildung erlernt, vor allem über den Aufbau von Vertrauen. Geformt wird eine spezifische, untrennbare Einheit: „Die beiden sind ein Team, das eine ganz besondere Beziehung zueinander hat“ (NRW, Diensthunde). Aufeinander abgestimmt verrichten sie den Dienst, dessen jeweilige Aufgaben nur in dieser Mensch-Tier-Einheit erfüllt werden können. Während die besonderen Fähigkeiten den Hund für die Polizist*innen als „Einsatzmittel“ nützlich machen, bedingen die Charaktereigenschaften und das enge Tier-Mensch-Verhältnis Kollegialität im eigentlichen Wortsinn. Zu den Unterschieden in der Exklusivität zwischen den beiden Tier-MenschEinheiten fügt sich ein weiteres Detail: die Entgrenzung der Beziehung. So liegt die Pflege der Pferde in der Verantwortung der Polizist*innen, jedoch erhalten sie Unterstützung von Pferdewirt*innen und gehen der Sorgearbeit stets im Rahmen der Arbeitszeit nach. Die Beziehung zwischen Pferd und Reiter*in ist entsprechend wenig entgrenzt. Nach Dienstschluss trennt sich die Einheit. Anders Hund und Hundeführer*in. Sie sind über die Arbeit hinaus miteinander verbunden, denn „Diensthunde leben bei ihren Diensthundführerinnen und Diensthundführern. Meistens versorgen diese ‚ihren‘ Hund, auch nachdem dieser bei der Polizei pensioniert worden ist“ (NRW, Diensthundestaffel). Durch die Ausbildung und die gemeinsame Arbeit werden die Tiere und ihre menschlichen Kolleg*innen in spezifischer Weise aufeinander bezogen. Hier wie dort wird als Basis für eine gute Zusammenarbeit ein emotionaler, vertrauensvoller Umgang angesehen, durch den sich das „Einsatzmittel“ unterordnet. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Einheiten in Bezug auf die Exklusivität und die Entgrenzung ihrer Beziehung.

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Fazit: Von kompetenten Hunden und symbolträchtigen Pferden

In der web-basierten Selbstdarstellung der Landespolizeidienststellen sind Diensttiere zuerst Einsatzmittel. Deren Interpretation bleibt aber immer ambivalent und unterscheidet sich für Pferde und Hunde. Beide Tierarten werden in einer Tier-Mensch-Einheit verortet, in der sie jedoch unterschiedlich positioniert sind: Werden Pferde unter den Polizeireiter*innen subsumiert und zusätzlich in die Staffel eingereiht, stehen Hunde als Individuen im Fokus der Darstellungen. Die unterschiedliche Positionierung wird flankiert durch spezifische Eigenschaften, die den Tieren zugewiesen und für den Dienst genutzt werden. Pferde werden wegen ihrer Größe und Beweglichkeit von Polizist*innen geschätzt; im Kontakt mit Zivilist*innen übernehmen sie diverse symbolische Aufgaben – sie sollen durch ihre Präsenz für Respekt, Ruhe wie auch Sympathie sorgen.

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Hunde hingegen werden gezielt aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Lösung von Problemen eingesetzt – im Team mit ihren Polizist*innen. Die je spezifischen Tier-Mensch-Konstellationen werden institutionell abgesichert, indem sie in den Dienst der Institution Polizei gestellt und für diese nutzbar gemacht werden. Auch die organisationale Selbstbeschreibung, wie sie der vorliegende Beitrag als Grundlage nimmt, kann als eine Weise der institutionellen Absicherung verstanden werden, zeugt sie doch davon, welche polizeiliche InterspeziesRelationen als „normal“ gelten und wie diese kommunikativ abgesichert werden. Diese Kommunikation wird im Rahmen unserer Untersuchung als performativer Akt verstanden, durch den Anthropomorphisierungen zu konsequenzenreichen Fabrikationen von (quasi anti-anthropozentrischen) Tier-Mensch-Konstellationen werden. Diese Konsequenzen zeigen sich sowohl in einer anderen Ethik – Pferde und Hunde werden menschenähnlich gewertet – als auch im praktischen Umgang, der die Tiere zu mehr werden lässt als zu bloßen Werkzeugen. Mit Latour ließen sich beide Konstellationen als besondere Assemblagen bezeichnen (z.  B.  Latour 2013). Gleichwohl wird die Grenze zwischen Tieren und Menschen immer wieder markiert. Das meint nicht, dass die Diensttiere der Polizei auf das Dumpfe, Naturhafte und Rohe reduziert werden, wie man es mit Mütherich (2015) vermuten könnte. Zwar wird die Natur der Tiere benannt, jedoch gilt diese als bearbeitbar (Pferd) und verfeinerbar (Hund). Indem seine spezifischen Fähigkeiten betont werden, tritt der Hund in der Internet-Präsenz stärker als Akteur hervor, der im Team mit dem Menschen arbeitsteilig agiert und Verantwortung übernehmen kann. Die Ausbildung zielt darauf, Mensch und Hund zu einer nicht-austauschbaren Einheit zu formatieren, in der eine gemeinsame Sprache erarbeitet wird. Der Hund wird so, stärker als das Pferd, als companion animal bzw. Kollege inszeniert und in das institutionelle Dispositiv der Polizeiarbeit eingefügt; davon zeugt nicht zuletzt, dass über Polizeihunde ausführlicher, detaillierter, bebilderter berichtet wird. Die besondere Nähe des Hundes, so kann angenommen werden, ist nicht nur begründet in seinen spezifischen Fähigkeiten und deren Nutzbarmachung für den Polizeieinsatz, sondern auch in der langen Geschichte der Hund-MenschKoevolution, die für die westliche Moderne so kennzeichnend ist.7 Die Analyse der Internetseiten zeigt ferner, dass die Grenzziehung – im Sinne eines Abstandhaltens zum Tier – nicht nur je nach Tiergattung, sondern auch je nach Kontext unterschiedlich inszeniert wird: Die Grenze wird beispielsweise dort fluide, wo die Polizei ihre Verantwortung gegenüber den 7 Zum Ende des „Jahrhunderts des Pferdes“ vgl. Raulff 2016; zur Mensch-Hund-Koevolution vgl. Haraway 2016.

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Tieren und damit deren (Mit-)Menschlichkeit betont, wenn es etwa um den „wohlverdienten Ruhestand“ der Tiere geht (Hannover, Pferde FAQ). Tiere wie Menschen haben nach ihrem Dienst Gleiches verdient. Wenn auch mit den Internetseiten nicht die Sicht der Hundeführer*innen und Polizeireiter*innen eingefangen wird, so deutet sich hier doch an, dass für sie das Tier Kollege und Freund sein soll (und vielleicht sogar ist), der vertraut und schützt und in vielen Kontexten gleichberechtigt seinen Job erledigt. Dies gilt für Hunde, deren Beziehung im Kontext der Polizeiarbeit zu „ihrem“ Menschen exklusiver und entgrenzter ist, vermutlich stärker als für Pferde, die nicht nur von einer Polizistin oder einem Polizisten geritten und versorgt werden. Diese emotionalen Bande, die in der polizeilichen Selbstdarstellung der Internetseiten kommuniziert und normalisiert werden, sind Basis, um Probleme und Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Neben der durch die Selbstbeschreibungen generierten Verpflichtung auf ein emotional abgesichertes Tier-Mensch-Duo ist die symbolische Wirkung des Pferdes ein weiteres wichtiges Moment, das ebenfalls von der Polizei genutzt wird. Das Pferd flöße, so die Zuschreibung, Respekt ein und sei gleichzeitig Sympathieträger. Auch dabei wird eine spezifische – hier rein kulturelle – Deutung des Tieres in den Dienst der Polizei gestellt, insofern sie deren Arbeit aufwertet und für das steht, was die Polizei sein will. Trotz ihres changierenden Akteurstatus sind Dienstpferde und -hunde keine Professionellen im soziologischen Sinne, professionalisiert sind sie jedoch als Assemblage mit Polizist*innen: Die zu lösenden Aufgaben finden in dem professionalisierten Rahmen der Polizeiarbeit statt. Mit Blick auf die Sozialordnung ist festzuhalten, dass Hunde wie Pferde für den Einsatz professionalisiert werden und sich von tierischen „Laien“ durch einen besonderen Umgang wie z.  B. „Verrentung“ unterscheiden. Im Rahmen der jeweiligen Assemblagen werden konkrete Probleme in einer Art und Weise gelöst, wie sie weder die Tiere noch die Menschen allein lösen können. Mit Blick auf die Wissensordnung unterscheiden sich die Positionen von Hund und Pferd deutlich: Anders als Pferde treten Hunde in der Handlungsdimension als Spezialisten oder gar Experten (Schützeichel 2018: 549) in Erscheinung, denen Aufgaben zugeschrieben werden, die nicht routinemäßig gelöst werden können. So ist jede Sprengstoffsuche, jedes mantrailing besonders und die Lösung der Aufgabe kann durch Verweigerung des Tiers, durch Fehler der Menschen oder durch die Komplexität der Situation konterkariert werden. Mit Blick auf die Sozialdimension sind die Interspezies-Relationen auf Vertrauen gegründet, das wegen der Eigenmächtigkeit der jeweiligen Akteure nötig wird. Während Hunden in ihren Fähigkeiten zur Problembearbeitung vertraut wird, sind es insbesondere die Pferde, die als Assemblage mit den Reiter*innen Vertrauen

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gegenüber der Polizei herstellen und damit die Macht- und Gewaltasymmetrie zwischen den Bürger*innen als Laien und der Polizei als Professionellen bearbeiten sollen. Die Frage also, was das Tier für den Menschen ist, ist auch vor dem Hintergrund der Polizeiarbeit weder ontologisch noch kategorial zu bestimmen, sondern wird „zu einem situativ zu lösenden empirischen Problem der Interaktionspartner und ist keine a priori festzulegende Eigenschaft einer bestimmten Klasse von Lebewesen“ (Röhl 2017: 124). Professionalisierung ist ein vielversprechendes, aber bisher wenig beachtetes Feld in den HumanAnimal Studies, das erlaubt, zu untersuchen, wie dieses Problem gelöst wird. Um den Professionalisierungsgrad der Interspezies-Einheiten noch spezifischer bestimmen zu können, wären weitere empirische Studien, z. B. in Form von Interviews mit Polizist*innen im Dienst, Beobachtungen von professionellen Mensch-Tier-Duos oder Vergleiche mit anderen professionellen Kontexten sinnvoll. So ließe sich die Beschaffenheit der Kontexte noch präziser bestimmen, die es erlauben, dass sich die Abstände zwischen Tieren und Menschen sprachlich, handlungspraktisch und ethisch verringern. Im Sinne einer professionssoziologischen Ausdeutung zeigt unsere explorative Studie, dass die Fokussierung auf das rein menschliche Expert*innen-Laien-Verhältnis zu kurz greift und Professionalisierungen u. U. auf Tier-Mensch-Assemblagen beruhen, in denen gemeinschaftlich besondere Sozial- und Wissensrelationen zur Problemlösung entwickelt werden. Diese Relationen lassen sich in vielen Zusammenhängen nicht anthropozentrisch auf Menschen beschränken, sondern umfassen eben auch Tiere und Menschen, die als Einheit professionalisiert und durch Training und Zuschreibung in besonderen Kontexten als Netzwerk fabriziert werden. Zwar zeigen mittlerweile viele Studien, dass und wie Tier-Mensch-Verhältnisse jenseits einer menschzentrierten Soziologie erfasst werden können (und müssen),8 die Beobachtung der für die westliche Moderne wichtigen Professionalisierung zeigt aber noch einmal genauer, wie Moderne, Tiere und Menschen in ein besonderes, entsprechend angepasstes Verhältnis gesetzt sind.

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Ausbildung: https://www.pd-h.polizei-nds.de/dienststellen/ polizeiinspektion_besondere_dienste/sonderdienststellen/ diensthundfuehrerstaffel/ausbildung-110364.html FAQ Pferde: https://www.pd-h.polizei-nds.de/dienststellen/ sonderdienststellen/reiterstaffel/faq-108900.html Spezialhunde: https://www.pd-h.polizei-nds.de/dienststellen/ polizeiinspektion_besondere_dienste/sonderdienststellen/ diensthundfuehrerstaffel/spezialhunde-110363.html

Hessen

Diensthundewesen: https://www.polizei.hessen.de/icc/ internetzentral/nav/dfb/broker.jsp?_ic_uCon=7d272769-87d30213-1041-82109241c242&uTem=20470d14-3169-f841-ab272006165474d5&uMen=dfb56586-b578-c11c-5ec3-f12109241c24 Hundeführer: https://www.polizei.hessen.de/icc/internetzentral/ sub/7cf/broker.jsp?uCon=dac70801-28de-8f51-25c9778105d92841&uBasVariant=11111111-1111-1111-1111111111111111&uTem=bff71055-bb1d-50f1-2860-72700266cb59

Niedersachsen

Diensthundewesen: https://www.zpd.polizei-nds.de/startseite/ aufgaben/einsatz/zentrales_diensthundwesen/zentralesdiensthundwesen-113498.html

NRW

Diensthunde: https://polizei.nrw/ selbstbewusst-spielfreudig-und-durch-nichts-zu-erschuettern Diensthundestaffel https://polizei.nrw/artikel/ diensthundstaffeln-leisten-wertvolle-hilfe Landesreiterstaffel: https://polizei.nrw/landesreiterstaffel

Sachsen

Diensthunde: https://www.polizei.sachsen.de/de/7414.htm Diensthundeausbildung: https://www.polizei.sachsen.de/de/7607. htm Leistungsmerkmale: https://www.polizei.sachsen.de/de/7618.htm Pferd: https://www.polizei.sachsen.de/de/8599.htm Pferde-Einsatz: https://www.polizei.sachsen.de/de/8733.htm Pferdeausbildung: https://www.polizei.sachsen.de/de/8730.htm

IV. Maschinen – Menschen: KI und Robotik

Posthumane Zukünfte Spekulationen zur Governance Künstlicher Intelligenz Nandita Biswas Mellamphy

1

Einleitung

Im folgenden Text möchte ich mich auf die jüngsten Forderungen internationaler Akteur*innen nach ‚menschenzentrierter‘ und ‚nutzbringender‘ KI konzentrieren. So wird etwa unter dem Banner des Asilomar-Prinzips der beneficial intelligence, das die Entwicklung von KI mit humanistischen und humanzentrierten Werten in Deckung zu bringen sucht, ein neuer Vorschlag für eine globale Governance auf der Grundlage des humanitären Völkerrechts unterbreitet.1 Politische Entscheidungsträger*innen, Nichtregierungsorganisationen und weitere internationale Organisationen und Expert*innen befassen sich inzwischen mit der Frage, wie KI reguliert und die Menschenzentriertheit maschinengesteuerter Technologien dabei aufrechterhalten werden kann. Es sind globale Diskurse um „meaningful human control“ entstanden (Jacobson 2017), und Philosoph*innen weisen darauf hin, dass Roboter so gestaltet werden können, dass sie zu ethischem Handeln in der Lage sind, weshalb sie auch Rechte haben sollten (Gunkel 2018). Auch gibt es Auseinandersetzungen über ethische Standards, mithilfe derer die Nutzung von KI so ausgerichtet werden soll, dass der größtmögliche sozioökonomische Nutzen für verschiedene Bevölkerungsgruppen gewährleistet wird (z. B. Campolo et al. 2017). Viele der Vorschläge für eine globale Governance von KI argumentieren dabei von einer Humanzentrierung und einem menschlichen Interventionismus aus, die nicht weiter hinterfragt werden. Besteht aber die Lösung wirklich in einer einfachen Bekräftigung des Humanismus und humanistischer Prinzipien? Ich möchte in diesem Text die Gelegenheit nutzen, einige der Annahmen, die humanistischen Entwürfen zur Regulierung von KI zugrunde liegen, zu problematisieren. Ich gehe dabei davon aus, dass humanistische Vorstellungen letztlich auf einer Priorisierung von Menschen gegenüber Nicht-Menschen basieren, die als Mittel für * Die Originalversion dieses Textes erschien 2021 unter dem Titel „‚Humans in the Loop‘?: Human-Centrism, Posthumanism, and AI“ in Nature and Culture 16 (1), S. 11–27. 1 Siehe die vom Future of Life Institute aufgestellten „Asilomar-Prinzipien“, FutureOfLife.org/ AI-principles [Zuletzt besucht am 29.12.2022].

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_012

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Nandita Biswas Mellamphy

menschliche Zwecke betrachtet werden. Normative Ansätze einer menschenzentrierten künstlichen Intelligenz sind jedoch als solche begrenzt und könnten durch ein neues Nachdenken über menschliche/nicht-menschliche Relationen bereichert und erweitert werden. Die Diskussion über ethische KI würde von einer Auseinandersetzung mit der Frage profitieren, ob nichtmenschliche Intelligenzen nicht auch in anderen Begriffen als human/istisch konzeptualisiert werden können. Hierfür werde ich im Folgenden drei Szenarien erörtern – humans-in-the-loop, humans-on-the-loop und humans-out-ofthe-loop – und aufzeigen, wie unterschiedliche Konzeptionen der Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu einer Differenzierung der Diskussion beitragen können.

2

Kontext und Problem: Menschliche Kontrolle und DecisionMaking Loops

Der Einsatz von KI nimmt weltweit massiv zu, und der datengetriebene, KI-basierte Fortschritt verändert – zumindest potentiell – Arbeitsformen und Organisationsstrategien. „Data-powered algorithms allows [sic] automation of cognitive, discretionary, and decision-making tasks that humans used to perform“ (Grønsund/Aanestad 2020). Rasch werden Menschen durch KI-gesteuerte Automatisierungswerkzeuge ersetzt, die algorithmische Entscheidungsfindung in Organisationen und sozialen Interaktionen ermöglichen (McAfee/Brynjolfsson 2018). Die wachsende Präsenz von KI macht den Zugang zu und die Kontrolle von Informationen zu einem strategischen Ziel für Staaten (Ayoub/Payne 2015), nationale Regierungen (US-Verteidigungsministerium 2012), Finanzsysteme (Johnson et  al. 2013), Digitalwirtschaft2 und öffentliche Machtkämpfe (Campolo et al. 2017). Während das Versprechen nicht-menschlicher Intervention für Unternehmen positiv und vorteilhaft erscheint, warnen einige davor, dass algorithmische Entscheidungsfindung gesellschaftliche Konsequenzen haben könne, die nicht immer positiv sein müssen, und weisen darauf hin, dass der Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft sehr unterschiedlich ausfallen könne (Newell/ Marabelli 2015). Trotz ihres scheinbar grenzenlosen Potenzials wird KI auch in Technologien eingesetzt, die Bedingungen für Massen- und Mikroüberwachung 2 Siehe etwa Microsofts KI-Prinzipien (Ethik): „AI must assist humanity and be designed for intelligent privacy“. https://cloudblogs.microsoft.com/industry-blog/en-ca/financialservices/2018/07/23/achieving-empathetic-artificial-intelligence/ [Zuletzt besucht am 29.12.2022].

Posthumane Zukünfte

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(Lyon 2014), Cyberkriegsführung (Brundage 2018), soziale Kontrolle sowie für wirtschaftliche und informatische Ausbeutung (Staples 2013) schaffen.3 In der Praxis der Kriegsführung löst die Entwicklung immer schnellerer und effizienterer autonomer Waffensysteme die menschliche Aufsicht bei Kampfentscheidungen zunehmend ab. So rückt der Einsatz von automatischen human-IN-the-loop-Waffen (Roboter, die nur auf menschlichen Befehl hin Ziele auswählen und feuern können) und human-ON-the-loop-Waffen (Roboter, die Ziele auswählen und feuern können, die aber immer noch unter menschlicher Aufsicht operieren und von hier aus auch außer Kraft gesetzt werden können) zugunsten von humans-OUT-OF-the-loop-Waffen (Roboter, die selbständig Ziele auswählen und ohne menschliche Aufsicht und Mitwirkung feuern können) in den Hintergrund. Bis 2030, so wird prognostiziert, sind vollständig autonome Waffensysteme möglich und werden maschinelle Fähigkeiten so weit fortgeschritten sein, dass der Mensch zur schwächsten Komponente der beteiligten Systeme und Prozesse geworden oder sogar vollständig aus Entscheidungsschleifen verschwunden sein wird (Docherty 2012). Die weit verbreitete Implementierung nicht-menschlicher Intervention, so argumentieren einige Wissenschaftler*innen, bringe dabei nicht einfach nur beschleunigte Varianten bereits existierender Abläufe hervor, sondern könne auch ein neues Verhaltensregime nicht-menschlicher Entscheidungsfindung auslösen, „characterized by large numbers of subsecond extreme events, […] consistent with an emerging ecology of competitive machines featuring ‚crowds‘ of predatory algorithms“ (Johnson et al. 2013: 1). An dieser Stelle möchte ich auf das Spannungsverhältnis hinweisen, das letztlich im Zentrum dieses Beitrags steht: Während Menschen einerseits außerhalb von Entscheidungssystemen (out-of-the-loop) positioniert sind – so etwa in Wissenschaft und Handel –, fordern Ethiker*innen andererseits eine menschenzentrierte KI, die menschlicher Aufsicht, Überwachung und Kontrolle unterworfen ist. Aber wie soll der Mensch die ‚Kontrolle‘ über die KI behalten, wenn Entscheidungsprozesse zunehmend auf nicht-menschliche (und insbesondere algorithmische) Systeme übertragen werden? Anders ausgedrückt, wie soll es möglich sein, dass sich Menschen gleichzeitig ‚in‘ und ‚out of the loop‘ befinden? Selbst wenn wir uns dafür entscheiden, ausschließlich in ‚nutzbringende‘ (also menschenähnliche) KI zu investieren, könnte es sein, dass diese ‚Menschen-Orientierung‘ vordergründig, ästhetisch und

3 Siehe zum Beispiel das Konzept des „digital colonialism“ und seine Rolle als ein Werkzeug kultureller Hegemonie: https://www.knowledgecommons.in/2014/04/17/whats-wrong-withcurrent-internet-governance/ [Zuletzt besucht am 29.12.2022].

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oberflächlich bleibt und daher zu schwach ist, der grundlegenden Tendenz zu nicht-menschlichem Entscheiden etwas entgegen zu setzen.

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Humans In-, On-, & Out-of-the Loop: Nachdenken über die Zukunft der Governance

Ich werde die vorgestellte Terminologie nutzen, um nun weitergehende Überlegungen darüber anzustellen, welche Annahmen menschen-zentrierten Narrativen zur KI-Governance und zur Vorstellung einer menschlichen Kontrolle Künstlicher Intelligenzen eigentlich zugrunde liegen. Ich möchte diese Vorstellung an drei verschiedenen Kontexten erörtern: a) humans-in-the-loop (HIL): Menschen befinden sich in einer Position der Leitung und Aufsicht von Nicht-Menschen, also der Kontrolle über andere Spezies und sonstige Ausdrucksformen von Intelligenz, b) humans-on-the-loop (HOL): Menschen treten die Herrschaft über Nicht-Menschen ab und teilen die Kontrolle mit anderen Spezies/Intelligenzen, und c) humans-out-of-the-loop (HOOL): Menschen werden von nicht-menschlichen Intelligenzen kontrolliert und befinden sich außerhalb von Entscheidungssystemen. HIL-Perspektiven sind stark anthropozentrisch, betonen die menschliche Überlegenheit und behandeln nicht-menschliche Intelligenzen lediglich als Instrumente und Mittel zur Erreichung menschlicher Ziele. Im Gegensatz dazu versuchen HOL-Standpunkte, menschenzentrierte Annahmen von Herrschaft und Hierarchie zu depriorisieren und betonen stattdessen die Ko-Evolution und/oder Ko-Individuation von Menschen und Nicht-Menschen (etwa durch Herausstellung von Kompatibilitäten und Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren und Maschinen). HOOL-Perspektiven schließlich priorisieren nicht-menschliche Agencies, während der Anthropozentrismus herabgewertet, abgelöst und schließlich ganz aufgegeben wird. Die beiden letzten Szenarien beinhalten eine Vorstellung von Kontrolle, die keine Herrschaft von Menschen über Nicht-Menschen mehr beinhaltet. An dieser Stelle eröffnen sich Möglichkeiten, über den hergebrachten normativen konzeptionellen Rahmen hinaus zu denken und menschliche/ nicht-menschliche Relationalität von anders-als-humanen/humanistischen Perspektiven aus zu betrachten. Fragen künftiger Governance sind dabei mit sozio-technischen Vorstellungen verwoben,4 in denen ‚Daten‘ Teil 4 Jasanoff und Kim (2018) definieren socio-technical imagineries als „collectively held, institutionally stabilized, and publicly performed visions of desirable futures, animated by shared understandings of forms of social life and social order attainable through, and supportive

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aufkommender Formen von Machtverhältnissen werden (Rouvroy 2008). Obwohl sich ‚Big Data‘ als vorherrschendes soziotechnisches Imaginäres herauskristallisiert, bleibt umstritten, was genau Big Data eigentlich ‚ist‘ (Ruppert 2016, 2018). Datengetriebene wissenschaftliche Vorstellungen stellen Datenwissenschaft nicht als eine bloße Menge an Techniken und Methoden dar (McQuillan 2017), sondern als eine mächtige Kraft, die es zu nutzen und in den Dienst menschlicher Bedürfnisse zu stellen gilt. Obwohl digitale Technologien in heutigen Gesellschaften als wichtige Triebkräfte des Wandels verstanden werden, wird eine deterministische Sicht, in der Technologie mit Agency ausgestattet ist, weithin abgelehnt; stattdessen dominiert eine Sicht, die Technologie der Kontrolle durch menschliche Agency unterwirft und sie einbettet in die Vorstellung einer stetigen, kumulativen und kontinuierlichen Erweiterung des menschlichen Wissens bzw. der menschlichen Macht über die ‚Natur‘. Historisch betrachtet, wurde das Denken über Stabilität und Veränderung in den westlichen Gesellschaften vor allem durch zwei zentrale Ansätze beeinflusst: die Auffassung von Parmenides, wonach die Wirklichkeit von Natur aus stabil, kontinuierlich und zeitlos ist (Wandel ist illusorisch), und die Auffassung von Heraklit, wonach die Wirklichkeit kontinuierlicher Wandel ist (Stabilität ist illusorisch). Während die eine menschliches Handeln vor einem Hintergrund unerschütterlicher Beständigkeit betrachtet, sieht die andere den Menschen als vorübergehenden Teil eines sich ständig weiterentwickelnden Evolutionsprozesses. Zwar konkurrierten diese beiden Weltanschauungen miteinander, aber die parmenideische Sichtweise gilt mit der Entwicklung des europäischen Humanismus von der Renaissance bis zur Aufklärung, der wissenschaftlichen Revolution und dem technologischen Industriezeitalter als vorherrschend. Aus dieser menschenzentrierten Sicht vollzieht sich Wandel nur langsam, und menschliches Handeln ereignet sich vor dem Hintergrund stabiler physikalischer Gesetze, stabiler Institutionen und stabiler Werte (Schon 1967). 3.1 Humans in the Loop: HIL Die Zukunft bzw. Zukünfte der Governance im Sinne einer in-the-loopPerspektive zu betrachten, bedeutet also, den Menschen als ein Wesen zu konzeptualisieren, das vom Nomos bzw. vom Gesetz bestimmt wird. Solche of, advances in science and technology.“ Sozio-technische Imaginarien dienen demnach als Vehikel, um zu verstehen, wie „scientific and technological visions enter into the assemblages of materiality, meaning, and morality that constitute forms of social life“ (Jasanoff / Kim 2018: 4).

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HIL-Ansichten priorisieren das menschliche Element der Aufsicht und setzen alle notwendigen Mittel zur Erreichung ‚gewünschter Ergebnisse‘ ein – einschließlich nicht-menschlicher Interventionen. Von der Wirtschaftsethik bis zur KI-Ethik drehen sich die aktuellen Diskussionen darum, wie Ethik neu gedacht und neu gestaltet werden kann. Diese Art von ‚menschenfreundlichem‘ Ansatz ist ein Narrativ mit einer hohen Anziehungskraft: ‚Spitzentechnologien‘ wie KI werden durch die Kraft des menschlichen Erfindungsreichtums nutzbar gemacht. Viele wenden sich etwa „Human Rights by Design“ zu und konzentrieren sich auf die Auswirkungen des weit verbreiteten Einsatzes von KI auf „democratic governance and the enjoyment of human rights […] to find ways to capitalize on the vast potential of AI for the benefit of humanity, while also protecting human beings and humanity as a whole from the downside risks“ (Donahoe 2018). „Ethics by Design“ verwendet Anstöße, Normen und Gesetze, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen und etwa ethischere Geschäftspraktiken5 oder nutzbringende KI hervorzubringen.6 Solche sozio-technischen HIL-Imaginarien stellen sich eine Zukunft vor, in der Menschen durch die Nutzung ihrer Rationalität und ihrer normativen und normbildenden Fähigkeiten Unvorhersehbarkeit regulieren. KI werden hier (wie Fragen der Automatisierung überhaupt) unter dem Aspekt menschlicher Autonomie und der Kontrolle über Nicht-Menschen betrachtet. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die meisten heutigen KI-Anwendungen, die Vorstellungen von Geschwindigkeit, Quantität, Flexibilität, Skalierbarkeit und Erweiterbarkeit hervorrufen – von selbstfahrenden Autos und künstlichen neuronalen Netzen bis hin zu Werbung und Erdbebenvorhersagen – als Werkzeuge dargestellt werden, mit denen Menschen Unsicherheit und Veränderung kontrollieren und steuern können.7 Solche HIL-orientierten Narrative beschreiben Technologien als instrumentell und gehen davon aus, dass Roboter Werkzeuge ihrer menschlichen Herr*innen bleiben sollten (Bryson 2010). Basierend auf Theorien der menschlichen Natur und moralischer Autonomie, die eine Herrschaft menschlicher Rationalität postulieren, privilegieren HIL-Perspektiven die Produktion eines humanzentrierten Wissens, das von menschlicher Vorherrschaft über nichtmenschliche Entitäten ausgeht und Praktiken legitimiert, die (einschließlich

5 Vgl. etwa EthicalSystems.org/EthicsByDesign [Zuletzt besucht am 29.12.2022]. 6 Siehe zum Beispiel die Idee der „Human Rights by Design“, https://www.bsr.org/en/ourinsights/blog-view/human-rights-by-design. [Zuletzt besucht am 29.12.2022]. 7 Vgl. etwa eine Liste der „TOP 15 Deep Learning applications that will rule the world in 2018 and beyond“ https://www.linkedin.com/pulse/top-15-deep-learning-applications-ruleworld-2018-beyond-mittal [Zuletzt besucht am 29.12.2022].

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der Verwendung von Tieren in wissenschaftlichen Experimenten) auf einer Instrumentalisierung des ‚Nicht-Menschlichen‘ aufbauen. Ein gemeinsames Merkmal der aktuellen KI-Diskussionen ist also die Betonung einer Aufrechterhaltung menschlicher Aufsicht und Kontrolle über unvorhersehbare technologische Veränderungen, die die Menschen aus ihrer hergebrachten steuernden oder regulierenden Position zu lösen drohen.8 Als normatives Werkzeug für die Produktion, Implementierung und Regulierung menschenfreundlicher oder sogenannter ‚nutzbringender‘ KI-Technologien hat dabei das Prinzip der „emergent governability“ (Hurlbut 2018) gedient. Das ‚Asilomar-Imaginarium‘9 der emergent governability und seine Idee der beneficial intelligence hat sich seit der 1975 durchgeführten Konferenz in Asilomar, Kalifornien entwickelt (Berg 2008), als Wissenschaftler*innen und Regierungsbeamte die Risiken der Biotechnologie bewerteten und Standards für die Regulierung der Bioindustrie diskutierten: Indeed there have been a number of attempts to repeat history through reenactments of Asilomar, sometimes right down to the physical staging, in which Asilomar’s retold plotlines are virtually always kept intact: self-regulation by the scientific community contains pubic anxiety and engenders (legislative) restraint, thereby preparing the way for an orderly unfolding of a beneficent technological future (Hurlbut 2018: 135).

„Dieses humanistische und menschenzentrierte Imaginarium betrachtet die ethische Governance von KI als Umsetzung menschlicher ethischer Standards und befördert „the long-term interdisciplinary research necessary to 8 Der Begriff kybernetes, was „Gouverneur“ oder „Steuermann“ bedeutet, findet sich ursprünglich in Platons Gorgias. Diese Idee des Befehls- oder Leitungsprinzips wurde zur Keimzelle für Norbert Wieners Konzept der „Kybernetik“ (er hatte den Begriff direkt von Platon entlehnt), mit dem das Kommandoprinzip auf Tiere (einschließlich Menschen) und Maschinen ausgedehnt wurde. Kybernetik, so Wiener mit Bezug auf Platon, ist die „Wissenschaft der Steuerung“ – nämlich der Fähigkeit eines geschlossenen Systems, seine Stabilität zu erhalten, indem es kontinuierlich lernt und sich an veränderte Umstände anpasst. 9 Im Jahr 2009 organisierte die Association for the Advancement of Artificial Intelligence ein Treffen in Asilomar über die Governance der künstlichen Intelligenz, das dem Treffen von 1975 nachempfunden war. Es wurde nicht als Reaktion auf eine konkrete gegenwärtige technologische Gefahr durchgeführt, sondern auf eine Wahrnehmung der Dringlichkeit durch Nicht-Experten (AAAI Presidential Panel on Long-Term AI Futures 2009). Das Ziel war es, die Gefahr einer schwer zu bändigenden öffentlichen Vorstellungskraft einzudämmen, die dem technologischen Aufstieg, wie Wissenschaftler*innen ihn sich vorstellten, im Weg stehen könnte. Wie beim Treffen von 1975 ging man davon aus, eine proaktive Reflexion würde die besten Ergebnisse für die KI-Forschung sicherstellen und es der Gesellschaft ermöglichen, den maximalen Nutzen aus den Fortschritten der KI zu ziehen (AAAI Presidential Panel on Long-Term AI Futures 2009) (Hurlbut 2018: 135).

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document, understand, and shape AI to support human flourishing and democratic ideals.“10 Wissenschaftliche Diskurse verzahnen sich also in vielfältiger Weise mit humanzentrierten Diskursen, um auf die Herausforderungen der Regulierung neuer Technologien zu reagieren.11 Durch die Diskurse der emergent governability und der beneficial intelligence wird die Governance Künstlicher Intelligenz als menschliche Herrschaft über nicht-menschliche Entitäten behauptet und verwendet, um Fragen im Zusammenhang mit der globalen Regulierung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Prozesse zu bewältigen: […] den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat (Foucault 2000: 64).

Das Asilomar-Prinzip, das der gegenwärtigen Vorstellung steuerbarer, nutzbringender KI zugrunde liegt, draws together some ubiquitous features of late modernity – uncertainty, power, knowledge, technology, and rapid, destabilizing change – and renders them coherent, orderly, and controllable. It is a simple fable for a complex age, one that promises predictability when the future is uncertain and renders uncertainty governable without friction (Hurlbut 2018: 147).

Die Idee der emergent governability formt somit nicht nur die Art und Weise, wie Wissenschaftler*innen und Gesetzgeber*innen sich ihre eigenen Rollen und Verantwortlichkeiten bei der Bewältigung globaler Probleme vorstellen, sondern erklärt auch, warum im Humanzentrismus und in in-the-loopKonzepten die wissenschaftliche Selbstregulierung als Schlüssel zu einer 10

11

So eine der Wissenschaftlerinnen des AI100-Forschungsprojektes (Cesare 2014). Die Association for the Advancement of Artificial Intelligence (AAAI) hat eine Studie in Auftrag gegeben, um mögliche langfristige gesellschaftliche Einflüsse der KI-Forschung und -Entwicklung zu untersuchen und anzugehen. Im Jahr 2014 startete Stanford AI100 – eine auf 100 Jahre angelegte Studie über die Auswirkungen von KI auf Menschen – basierend auf dieser 2009 in Asilomar durchgeführten Konferenz: AI100.stanford.edu/ reflections-and-framing [Zuletzt besucht am 29.12.2022]. „Emerging technologies have been framed in varied ways in different political cultures; biotechnologies, for example, have been developed, responded to, and regulated in different manners in Europe and the United States. The politics of pharmaceuticals and chemicals likewise were shaped by varying regulatory cultures. These examples point to major differences in the ways modern societies produce, implement, and regulate technological innovation. Sociotechnical imaginaries play an important role in these processes, in forming the ways societies assess and govern emerging technologies“ (Burri 2018: 233).

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segensreichen menschlichen Zukunft erscheint, in der die Bedrohungen und Risiken Künstlicher Intelligenz durch normative Konstruktionen menschlicher Kontrolle und Risikoeindämmung gesteuert und reduziert werden. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Rede von „meaningful human control“ in Debatten über tödliche autonome Waffen (LAWS), die sich auf den Grad der menschlichen Beteiligung an den kritischen Funktionen der Technologie bezieht (Jacobson 2017). 3.2 Humans on the Loop: HOL Die meisten philosophischen und politischen Diskussionen über ethische KI sind nach wie vor in HIL-Perspektiven verankert. Während emergent governability die strategische Bedeutung der KI als Motor zukünftiger Ökonomie und Geopolitik betont, zielen Diskurse zur ethischen Governance darauf ab, KI im Sinne der Berechnung des ‚menschlichen Nutzens‘ zu regulieren, indem sie sich auf rechtliche und normgebende Lösungen (wie etwa Cybersicherheitsrichtlinien und internationale Regelungen) konzentrieren.12 Obwohl oft behauptet wird, KI werde sich nur dann ethisch entwickeln, wenn sie auf humanistischen Prinzipien basiert, gibt es einen weitverbreiteten Pessimismus im Hinblick auf den zukünftigen Nutzen von KI: Wie sieht also die Welt aus, in der wir zukünftig leben wollen? Diese Frage beantworten die Asilomar-Prinzipien nicht. Sie unterstellen eine allgemeingültige und breit akzeptierte Zustimmung zu einer technikoptimistischen Zukunftskonzeption, die einerseits unbestimmt bleibt und auf Grund fehlender sozio-ökonomischer Analyse Gefahr läuft, dass nur wenige sie bestimmen werden, andererseits aber, mit der weiteren Verfolgung des Technologiepfades, K.I. als unabwendbares Schicksal akzeptiert. Aus beidem zusammen genommen erwachsen schon heute gesellschaftliche Gefahren für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte (Bartosch 2018: 4). Mit der künstlichen Intelligenz öffnen die Menschen eine weitere Büchse der Pandora. Sie hat das Potential, die Logik der Steuerung […] zu unterlaufen. Im digitalen Zeitalter entfalten die Hilfsmittel für menschliches Denken womöglich eine autonome Position, die sich mächtig gegen den ohnmächtig werdenden Menschen richtet (Bartosch 2018: 11).

Die HIL-Sichtweise ist durch die parmenideische Annahme begrenzt, wonach durch menschliche Führung im Rahmen institutioneller Governance – d.  h. durch nationalstaatliche Mechanismen und das Zusammenwirken von 12

„‚Whoever becomes the leader in this sphere will become ruler of the world‘, said Vladimir Putin. The sphere the President of Russia is referring to is artificial intelligence (AI) and his comments should give you a moment of pause“ (Rogers 2017). Vgl. auch: fifthdomain. com/dod/2018/01/24/the-next-cyber-arms-race-is-in-artificial-intelligence und CNN. com/2017/11/29/politics/US-military-artificial-intelligence-Russia-China.

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Nationalstaaten –, eine Zukunft der Stabilität sichergestellt werden kann. In dieser Sichtweise wird die „Nation“ als „legitimer“ Akteur auf der Weltbühne vorgestellt (Anderson 2005) und zugleich als der Ort, an dem ein weithin geteiltes Gefühl der Legitimität (Taylor 2003) für die Erhaltung einer geordneten menschlichen Zukunft gefunden werden kann. Das nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Modell internationaler politischer Zusammenarbeit, über die inter- und innerstaatliche Konflikte gelöst werden, basierte auf dieser Vorstellung von politischer Stabilität. Im Zuge des Aufkommens ‚globaler‘ Diskurse, in denen supra- und transnationale Experteninstitutionen als Quelle von Legitimität betrachtet werden, die globale Probleme in Echtzeit überwachen und entsprechend reagieren können, hat der Nationalstaat seine Zentralstellung allerdings zunehmend eingebüßt: Globalism, in the first instance, is a form of scientific imagination that naturalizes and objectifies a range of technical understandings of global ecological and social processes and system.[…] [B]uilt around a new supranational model of global sociotechnical surveillance and response,[…] [t]hese institutions identify, frame, and seek to govern security problems on a worldwide basis and thus seek to align political authority and organization with the underlying realities of global risk. […] [T]he rise of globalism has been coproduced with novel technological systems that are themselves the products of human engineering in the twentieth century, including technologies of observation, computation, visualization, communication, and transportation. […] Globalism thus transforms the Earth from a place that people live to a set of global systems that they inhabit and shape and that, in turn, imposes limits to which people must increasingly adapt themselves and their actions (Miller 2018: 278–279).13

So räumt der Diskurs über emergent governability, sei es in Zusammenhang mit tödlichen autonomen Waffen oder Künstlicher Intelligenz, ‚sinnvoller menschlicher Kontrolle‘ und menschlicher Aufsicht immer noch Vorrang vor menschlichen/nicht-menschlichen Koproduktionen ein. Der Anthropozentrismus dieses Ansatzes ist kaum zu übersehen. HOL-Perspektiven hingegen kritisieren den Humanzentrismus und seine Betonung von Hierarchie und Beherrschung und zeichnen ein anderes Bild, in dem Menschen und nicht-menschliche (d. h. bio-nano-technische/maschinische) Entitäten wie KI in einem Verhältnis der Koevolution und Koproduktion zueinanderstehen,14 Kontrolle also miteinander teilen, und zwar unter 13

14

„This transformation occurred first in the domains of environment and health, later spreading to the governance of nuclear weapons proliferation and financial instabilities, and, to a lesser extent, global terrorist networks“ (Miller 2018: 279). „Briefly stated, co- production is shorthand for the proposition that the ways in which we know and represent the world (both nature and society) are inseparable from the ways

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spezifischen, aber veränderlichen Umweltbedingungen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb menschlicher Steuerungsmöglichkeiten liegen. HOLDiskurse fordern die HIL-Perspektive heute wohl am stärksten heraus, da sie mit ihrer Betonung ökologischerer,15 ganzheitlicherer und egalitärerer Orientierungen (Braidotti 2014) Beachtung finden und als positive Ansätze für die Vorstellung einer gedeihenden planetarischen Zukunft wahrgenommen werden (z. B. Haraway 2007; Willett 2014; Bellacasa 2017). Governance wird hier nicht (wie in HIL) im Sinne eines Ideals ‚menschlicher Herrschaft‘ verstanden, sondern im Sinne einer prekären, aber sich entwickelnden ‚governability‘, die sich aus einer wiederum prekären, aber geteilten Existenz von Menschen und Nicht-Menschen ergibt. HOL bietet somit eine Möglichkeit, sich die Koproduktion von wissenschaftlichem und menschenfreundlichem Wissen im Hinblick auf die Koproduktion menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten vorzustellen. Das vorherrschende wissenschaftliche Paradigma infragestellend, das Arten voneinander trennt und menschliche Lebensformen privilegiert, sprechen sich kritischer eingestellte Wissenschaftler*innen dabei für die Aufgabe des Prinzips menschlicher Herrschaft bzw. des Anthropozentrismus aus. Sie plädieren stattdessen für ein neues Verständnis von Interspezies-Beziehungen im Sinne ‚postanthropozentrischer‘ und posthumaner‘ Standpunkte, die die Kluft zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben überbrücken (z. B. Haraway 2007; Willett 2014; Bellacasa 2017). The relational capacity of the posthuman subject is not confined within our species, but it includes all non-anthropomorphic elements. […]

15

in which we choose to live in it. Knowledge and its material embodiments are at once products of social work and constitutive of forms of social life; society cannot function without knowledge any more than knowledge can exist without appropriate social supports. Scientific knowledge, in particular, is not a transcendent mirror of reality. It both embeds and is embedded in social practices, identities, norms, conventions, discourses, instruments, and institutions – in short, in all the building blocks of what we term the social. The same can be said even more forcefully of technology“ (Jasanoff 2004: 2–3). Insbesondere bei der Erforschung globaler Finanzsysteme und der Zukunft des Computerhandels werden Forderungen nach einem ökologischen Ansatz laut: „[S]pecialization makes the ecological view essential, and the fact that the underlying strategies change through a process of trial and error naturally suggests an evolutionary view. In the future one imagines that computer trading will employ more sophisticated ‚artificial intelligence‘ algorithms, which might make rationality a better approximation. This is still a long way off. Even humans, who are more intelligent than computer algorithms will be for a long time, often exhibit irrational behaviour. It seems unlikely that the artificially intelligent algorithms of the future will do even as well as we do. Rationality will be slow in coming to the world of computer trading“ (Farmer/Skouras 2013).

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Nandita Biswas Mellamphy Post-anthropocentrism is marked by the emergence of ‚the politics of life itself‘. ‚Life‘, far from being codified as the exclusive property or the unalienable right of one species, the human, […] is posited as process, interactive and open-ended […] the transversal force that cuts across and reconnects previously segregated species, categories and domains. […] This vital interconnection posits a qualitative shift of the relationship away from species-ism and toward an ethical appreciation of what bodies (human, animal, others) can do. […] The new transversal alliance across species and among posthuman subjects opens up unexpected possibilities for the recomposition of communities, for the very idea of humanity and for ethical forms of belonging (Braidotti 2014: 65–66, 78, 107).

Die Hervorhebung des Posthumanismus gegenüber dem Humanismus gibt einer HOL-Sichtweise, die von einer Interspezies-Koevolution und -Koproduktion ausgeht, klar den Vorrang vor HIL-Narrativen. Posthumanistische HOL-Perspektiven, die man auch als „Post-Human-by-Design“Ansätze bezeichnen kann, betrachten Post-Anthropozentrismus und Post-Humanismus als einen Weg, das HIL-Narrativ vom ‚Menschen als Herrscher‘ zu überwinden. Während HIL den Menschen zum Schöpfer und Lenker technologischen Wandels macht, betrachtet das posthumanistisch orientierte HOL das „Menschliche“ als eine offene Kategorie und als das Produkt fortlaufender technologischer und anthropologischer (kultureller und biologischer) Entwicklung (z. B. Simondon 1992, 2012; Stiegler 1998). Der Mensch ist in dieser Sicht fortwährendes Produkt und Ergebnis des technologischen Wandels. Die parmenideische Annahme wird zugunsten der heraklitischen Weltanschauung, in der Veränderung nicht durch menschliche Kontrolle gesteuert werden kann, verworfen. Posthumanist*innen fragen danach, ob menschliche Gesellschaften mit der historischen Geschwindigkeit des technologischen Wandels, die exponentiell zuzunehmen scheint, hinreichend Schritt halten können, und argumentieren, dass technologische Transformationen zu einer grundlegenden Veränderung der Kategorie „Mensch“ geführt haben (z.  B.  Haraway 1995; Lyotard 2019; Hayles 1999). Dabei hat die Geschwindigkeit der technologischen Innovation nicht nur einen permanenten Zustand der Neuerung in die Geschichte der Menschheit eingeführt (z. B. Gille 1986; Stiegler 1998), der beschleunigte technologische Wandel führte auch zu einer Überholung der menschlichen Kultur und damit zu einer völligen Veränderung grundlegender Annahmen über die Möglichkeiten menschlicher Kontrolle und Instrumentalisierung von Technologie (Virilio 1980). Sicherlich sind relationale/kritische HOL-Perspektiven wie diese für Diskussionen über ethische KI von besonderer Bedeutung und sollten viel ausdrücklicher und entschiedener in die gegenwärtigen globalen Debatten einbezogen werden, insbesondere um Alternativen zum vorherrschenden Imaginarium der emergent governability einzuführen, das Human-by-Design-Ansätzen den

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Vorrang gibt. Für die Bewertung von tatsächlichen/potenziellen Risiken/ Vorteilen von KI und die damit verbundenen Erwartungen wäre die Berücksichtigung posthumanistischer Diskurse eine vielversprechende Erweiterung. Es könnte etwa danach gefragt werden, wie KI-Technologien Machtverhältnisse beeinflussen und reorganisieren und inwiefern die Regeln der emergent governability möglicherweise auch durch sichtbare/unsichtbare Machtverhältnisse modelliert werden, die globale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten eher verschlimmern als aufheben.16 So ansprechend aber die Idee der Relationalität im posthumanen Ansatz sein mag, so ist nicht wirklich klar, welche Rolle ihr bei der Gestaltung globaler KI-Politik zukommen kann. Es ist unwahrscheinlich, dass die posthumanistische HOL-Perspektive großen Einfluss auf die globale KI-Politik haben wird, da der „Human by Design“-Ansatz klar dominiert. Ohne entschiedenere Fürsprache und stärkeres Engagement wird es schwierig sein, Post-Human-by-Design-Perspektiven auf KI zu etablieren. 3.3 Humans out of the Loop: HOOL Trotz vieler ansprechender Eigenschaften finden sich auch in HOLPerspektiven noch Spuren des Anthropozentrismus. Kritiker*innen dieses Ansatzes weisen jedoch darauf hin, dass Koevolution und Koproduktion nicht zwangsläufig die Aufgabe menschlicher Kontrolle bedeuten. Auch im Rahmen dieses Ansatzes ist es also möglich, dem Menschen weiterhin einen Sonderstatus zu verleihen und einer Humanzentrierung verpflichtet zu bleiben. Den Anthropozentrismus vollständig zu überwinden, erweist sich aber insbesondere dann als schwierig, wenn die eigenen intellektuellen Ressourcen aus tief in humanistische Ideen eingebetteten Geschichten bezogen werden, die menschlichen Tieren einen besonderen Status unter anderen Lebensformen einräumen. In der Theorie mögen konzeptionelle Unterscheidungen zwischen HIL-und HOL-Perspektiven aufrechtzuerhalten sein; in der Praxis jedoch ist eine solche Trennung kaum möglich, und „ethische“ Perspektiven jeglicher Art neigen dazu, sich auf humanistische/menschenzentrierte Ideale zurückzuziehen, die dem Menschen einen besonderen Status und eine besondere Rolle versprechen. Weder HIL- noch HOL-Perspektiven können (und das gilt auch für die kritischeren Alternativen) erklären, aus welchem Grund Menschen

16

„[W]e must also look at the power dynamics of current AI development and deployment – and the way in which decision-making, both by AI systems and the people who build them, is often obscured from public view and accountability practices. […] Producing technologies that work within complex social realities and existing systems requires understanding social, legal and ethical contexts, which can only be done by incorporating diverse perspectives and disciplinary expertise“ (Campolo et al. 2017: 30, 32).

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eigentlich davon ausgehen können sollten, ihren Sonderstatus unter anderen nicht-menschlichen Entitäten zu behalten. Die Aufgabe, eine HOOL-Perspektive zu konzipieren, käme der Spekulation bzw. spekulativem Denken zu. Aus dieser Sicht würde die Anwendung gegenwärtiger Standards und Rechtfertigungen bei der globalen Implementierung von KI nicht ausreichen, um die sozio-technischen Trends, die KI-gesteuerte algorithmische Datenverarbeitung und Entscheidungsfindung in allen Lebensbereichen begünstigen, umzukehren. Unabhängig davon, ob man vom Szenario einer Superintelligenz ausgeht (z. B. Bostrom 2014) oder nicht, müsste sich die Frage nach der Governance mit der Frage befassen, wie Menschen sich eine Governance von, aber auch durch KIs vorstellen, die sich über die Fähigkeiten und Kräfte ihrer eigenen Spezies hinaus entwickelt haben. Die Herausforderung bestünde dann im Entwerfen einer Vision, die jenseits menschenzentrierten Denkens und Wissens angesiedelt ist. Anthropozentrisches Denken ist kein guter Ausgangspunkt, um sich eine Zukunft vorzustellen, die den Menschen zwar einschließt, ihn aber in keiner Weise privilegiert. Das hergebrachte gegenwärtige Denken über KI-Governance bietet dafür keinen angemessenen Rahmen. Ich möchte deshalb hier den Begriff des „Xeno“ (aus dem Altgriechischen für „seltsam“ oder „fremd“) als spekulativen Platzhalter für die Gestaltung von Alternativen zu menschenzentrierten Perspektiven vorschlagen. Das Argument lautet, dass der Anthropozentrismus unwiderruflich abgewickelt werden könnte, zugunsten einer Herrschaft nicht-menschlicher Intervention bzw. „xenokratischer Governance“ – d. h. der Beherrschung von Menschen durch nicht-menschliche Kontrolle und Intervention. Ich meine, dass dies tatsächlich der Punkt ist, an dem menschenzentrierte Konzeptionen von Governance (seien es HIL-Versionen einer emergent governability oder kritische HOL-Versionen postanthropozentrischer Relationalität) der Vorstellung nicht-menschlicher Gouvernementalitäten (Foucault 1991) weichen sollten, welche die Idee humanistischer Intervention durch eine Governance des Menschen jenseits des Horizonts des Menschlichen ersetzen, das heißt: durch Alien Governance und/oder Xenokratie. Eine HOOLPerspektive würde über Xeno-Intelligenzen weit jenseits menschlicher Parameter spekulieren müssen. Das Problem besteht entsprechend darin, dass sich ein Denken über oder gar durch KI entschieden in einem Bereich jenseits von Empirie und Normativität (das „Ist“ und „Sollte“ bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz) bewegen müsste, also ein Niveau der Spekulation erfordert, das von empirischen und normativen Belangen frei ist. Eine HOOL-Perspektive könnte daher als „spekulativer Posthumanismus“ bezeichnet werden – ein Begriff, der kürzlich von David Roden in Post-human Life: Philosophy at the Edge of the Human geprägt wurde und der eine wertvolle

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intellektuelle Ressource für die Erforschung der Möglichkeit des Posthumanen bietet. Roden definiert Post-Menschen als technologisch erzeugte Wesen, die nicht mehr menschlich sind (Roden 2015: 9); „spekulativer Posthumanismus (SP)“ behauptet, dass es Post-Menschen geben könnte, dass aber keine Notwendigkeit bestehe, normative Rechtfertigungen (seien sie moralisch oder anderweitig begründet) einzuführen: […] the possibility of post-humans implies that the future of life and mind might not only be stranger than we imagine, but stranger than we can currently conceive. […] Weakly constrained SP suggests that our current technical practice could precipitate a nonhuman world that we cannot yet understand, in which ‚our‘ values may have no place. Thus while SP is not an ethical claim, it raises philosophical problems that are both conceptual and ethical-political. […] If our current technological trajectories might result in the world turning post-human, how should we view this prospect and respond to it? Should we apply a conservative, precautionary approach to technology that favours „human“ values over any possible post-human ones? (Roden 2015: 6–7).

Aktuelle Diskussionen über KI-Ethik könnten sich solchen Fragen durchaus stellen, insbesondere im Hinblick auf Rodens „Disconnection“-These17 und ihre Forderung, die Mensch/Nicht-Mensch-Relation nicht am Vorhandensein oder Fehlen einer wesentlichen ‚menschlichen‘ Eigenschaft (also nicht an Personen im Sinne von Locke und Kant) festzumachen. Diese Relation wäre vielmehr zu verstehen als „an emergent disconnection between individuals [which] should not be conceived in narrow biological terms but in ‚wide‘ terms permitting biological, cultural and technological relations of descent between human and post-human“ (Roden 2015: 105). Der Begriff „Mensch“ bezieht sich hier nicht in erster Linie auf die humanzentrierte Vorstellung vom Menschen als Verkörperung bestimmter biologischer und kognitiver Eigenschaften (d. h. weder auf einen ‚realen‘ Organismus noch auf ein phänomenologisches ‚Selbst‘ mit einem subjektiven Erleben), sondern auf eine Sichtweise, die von jeglichem Humanzentrismus abgelöst und unabhängig ist. Der Posthumanismus transformiert den ‚Menschen‘, indem er ihn jenseits des intellektuellen Registers menschlichen Fleisches als funktional autonome Assemblagen (Roden 2015: 124, 125) oder „Simulakra“ (Baudrillard 1978), also als Hyperrealitäten oder Kopien ohne Originale, konzeptualisiert, d. h. nicht als fleischliche, sondern als rekombinante Körper (Armitage 1999). Durch eine solche Abkopplung werden anthropozentrische Autorität und Legitimität nicht nur dezentriert und dekonstruiert, sie werden von jedem 17

Disconnection in diesem Sinne ist nicht zu verwechseln mit ‚Diskonnektionismus‘ oder der Aufforderung, sich aus dem Internet und digitalen Kulturen ‚auszuklinken‘.

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Humanzentrismus befreit. So ausgehöhlt, wird das Konzept ‚Mensch‘ zu einem Konstrukt, dessen Komponenten verändert und manipuliert werden können, um unterschiedliche Effekte und Ergebnisse zu erzeugen. Im Gegensatz zu HIL- (z. B. Humanismen) und HOL-Perspektiven (z. B. kritische Posthumanismen), in denen der Anthropozentrismus in starken oder schwachen Formen bestehen bleibt, greifen HOOL-Perspektiven (z. B. spekulative Posthumanismen) auf die Kategorie ‚Mensch‘ zurück, um das Konstrukt erst herab- und dann umzuwerten. Sogar Kategorien wie gender und race werden herabgewertet und vom Humanismus und jeglichen anderen Bezugsrahmen gelöst, die auf der Priorisierung menschlicher Agency basieren. Körper und körperliche Agency zerfallen in Multiplizitäten, die auf unzählige Arten kombiniert, rekombiniert und vernetzt werden können. In den Debatten zur KI-Ethik drehen sich die Diskussionen oft um Menschenrechte und die Frage, ob diese Rechte auch Nicht-Menschen zugestanden werden sollten. In HIL-Ansätzen sind und bleiben Menschen Nicht-Menschen gegenüber in einer übergeordneten Position, Rechte werden mit Bezug auf humanistische Konzepte, Bezugsrahmen und Normen ausgestaltet. Die Grundlage der ‚universellen Menschenrechte‘ ist im Falle humanistischer Diskurse die Idee der personhood, und die moralische Überlegenheit des Menschen wird vorausgesetzt und zum rechtlichen und philosophischen Standard erhoben.18 In HOL-Narrativen koexistieren und entwickeln sich Menschen friedlich mit Nicht-Menschen und Künstlichen Intelligenzen, und Menschenrechte werden auf Nicht-Menschen ausgedehnt und ihnen zugestanden. In HOOL-Perspektiven hingegen überholen und ersetzen Nicht-Menschen humanzentrierte Normen und Standards insgesamt, und es gäbe hier auch keine Zuweisung von Grundrechten, weil personhood kein Schlüsselprinzip für die Konstruktion und Gestaltung von Mensch/KI-Beziehungen wäre. Mit diesem Wegfall von Moral bzw. moralischen Standards und Normativität wären dann zugleich neue Xeno-Rationalitäten und -Affektivitäten hervorzubringen und zu gestalten. Alien viewpoints wären die Grundlage für eine solche Neugestaltung dieser Beziehungen.

18

Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, neigen liberale Konzepte menschlicher moralischer Agency dazu – selbst wenn sie über einen vereinnahmenden Individualismus hinausgehen –, den Wert von Nicht-Menschen mit Blick auf menschenzentrierte Standards zu bewerten (so etwa im liberalen Sentimentalismus): „By continuously deploying human-in-the-loop logic and hierarchical dynamics, the framing of AI in terms of human moral agency fails to question the logic of domination and transcendence that defines prevalent conceptions of human/nonhuman relations“ (Biswas Mellamphy 2021: 17).

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4

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Abschließende Bemerkungen: Posthuman Futures

Die Debatte um KI sollte, so habe ich hier argumentiert, Spekulationen um künftige Tendenzen zu posthumanem Interventionismus mit einbeziehen. Die moderne Erzählung von Macht ist weitgehend die Geschichte der Transformation der Automatizität der Macht19 – das heißt, der Fähigkeit der Macht, automatisch und autonom zu werden, ihrer Fähigkeit, den Menschen durch Ausbeutung ihrer ‚maschinischen‘ Eigenschaften zu regulieren. Diese Ausübung von Macht basiert also auf der Ausnutzung der ihr eigenen posthumanen „maschinischen“ Tendenzen; das Maschinische hilft dem Ökonomischen, sich dem Technologischen und dem Sozialen anzunähern: Maschinen fördern wirtschaftliche Rationalität durch technologische Innovation, indem sie die Kosten menschlicher Arbeit durch den Einbezug nichtmenschlicher Entscheidungsmechanismen senken. Was wir heute beobachten, ist eine Fortsetzung der Entwicklung der Automatizität der Macht, ihre wachsende Abhängigkeit von maschinischem Kommando und ihre Loslösung von menschlicher Aufsicht. Das Post-Humane wird hier nicht als ‚Beziehung‘ oder Verschmelzung von Mensch und Maschine konzeptualisiert, sondern als umfassender Prozess menschlicher Anpassung und Akkulturation an nichtmenschlichen Interventionismus. Aus der hier diskutierten Perspektive betrachtet, würden die gegenwärtigen globalen Diskussionen über ‚ethische KI‘ von einer expliziteren Berücksichtigung posthumanistischer und spekulativ orientierter Ansätze profitieren, insofern diese alternative ethische Theoretisierungen ermöglichen, die aus pan-kulturellen Ressourcen und narrativen Genealogien schöpfen, die wiederum von einem starken Anthropozentrismus abgekoppelt sind. Während HOLNarrative bereits die Verstrickungen zwischen Menschen/Nicht-Menschen anerkennen und sich von einem starken Anthropozentrismus verabschieden, indem sie nicht Atomismus, Hierarchie und Herrschaft, sondern stattdessen Relationalität, Solidarität und Fürsorge als primäre Aspekte menschlicher/ nicht-menschlicher Assoziationen betrachten, bieten HOOL-Narrative noch darüber hinausgehende Möglichkeiten, über „Xeno“- und andere humandezentrierende Kontexte, Austauschverhältnisse und Schnittstellen nachzudenken. Für die Neugestaltung von Mensch/KI-Relationalitäten könnten sich solche Xeno-Theoretisierungen als intellektuell fruchtbar erweisen.

19

Siehe etwa Michel Foucaults (1976) Diskussion über „panoptische“ oder „disziplinarische“ Macht.

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Übersetzung: Torsten Cress

Die Naturalisierung humanoider Roboter Zu einer Soziologie technischen Wissens Hannah Link, Herbert Kalthoff

1

Einleitung

Auf einen ersten Blick zielt die Entwicklung von Robotern auf je spezifische Einsatzszenarien ab: industrielle Roboter für die Automobilindustrie, sozio-humanoide Roboter für Pflege- und Bildungseinrichtungen, mobile Assistenzroboter für den Haushalt. Auf den zweiten Blick aber verweisen diese Maschinenwesen auf einen eigentümlichen Widerspruch, werden sie doch als Gegenpol zum vitalen Natürlichen des Menschen und zugleich als dessen partielle Rekonstruktion gedacht und konzipiert. Diese Spannung wird nicht zuletzt in der Robotik selbst reflektiert und materialisiert sich in den verschiedenen Schulen oder Pfaden der Roboterentwicklung. Angesichts ganz unterschiedlicher Vorstellungen über das Verhältnis von menschlicher Natur und robotischer Technologie untersucht dieser Beitrag neuere Konzepte der Robotik. Er argumentiert, dass sich die Entwicklungspfade der Robotik immer wieder mit dem Problem der Unbestimmtheit bzw. der Kontingenz des Sozialen sowie mit der Komplexität menschlichen Lebens konfrontiert sehen und hierfür technische Lösungen erfinden, testen und implementieren. Mit ihnen gehen je spezifische Annahmen über die Beziehungen zwischen robotischer Technologie und menschlicher Natur einher: Robotertechnologie wird einerseits als in sich geschlossenes System konzipiert, das auf eine hochkomplexe und nahezu unberechenbare Umgebung trifft und diese Herausforderung mathematisch bewältigen muss; andererseits wird sie als ein offenes und relationales System verstanden, das sich mit seiner Umgebung verschränkt, sie inkorporiert und mit ihr funktioniert. So handelt es sich in klassischen symbolbasierten Ansätzen um den Versuch, die Umwelt der Roboter vollständig zu beschreiben, in Symbole zu übersetzen und auf dieser Basis konkrete Handlungspläne für das jeweilige Artefakt zu programmieren: Menschliche Eigenschaften sollen in einer Weise reduziert werden, dass sie verfügbar und modellierbar sind, und zwar mit dem Ziel, einen Roboter zu entwickeln, der verlässlich funktionieren kann. In diesem Zusammenhang geht man davon aus, dass diese Eigenschaften oder Wesenszüge auch verfügbar sind. Dagegen zielen andere Ansätze in der Forschung stärker darauf ab, emergente Prozesse

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_013

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Hannah Link, Herbert Kalthoff

zu evozieren, mit denen neue Erkenntnisse angestoßen werden (Becker/ Weber 2005). Ausgangspunkt dieser Ausdifferenzierung sind neuere, von der Kybernetik inspirierte Entwicklungspfade, die mit klassischen Annahmen über das Verhältnis von symbolischer Repräsentation der Welt und dem Agieren in der Welt brechen (Gamm 2005; Wheeler 2005; Brooks 2002, 2017). Aus der Sicht von Robotiker/innen soll die menschliche Welt nicht mehr theoretisch oder praktisch handhabbar gemacht, sondern beobachtet und imitiert werden – und zwar gerade in ihrer Eigentätigkeit und Unberechenbarkeit.1 Soziologische Konzeptionen von Technik als ein (schematisierbarer) Wirkzusammenhang (Rammert 2007), als strikt gekoppeltes Medium (Nassehi 2019), als handelnd wirkender Technik-Akteur (Latour 2001) oder als materieller Träger sozialer Aushandlungen (Bijker/Pinch 1987) werden in neueren, experimentellen Zweigen dieser robotischen Forschungen durch Formen des Offenlassens und Flexibilisierens von Technik herausgefordert. Beobachtbar ist hier auch, dass es sich diese „kybernetische[n] Spin-offs“ (Karafillidis 2017: 135) zum Programm gemacht haben, maschinelle Apparate sowie, menschliche und einfache Organismen einheitlicher zu beschreiben (Ashby 2016; Wiener 2013). Wir kommen hierauf zurück. Letztlich strebt diese kybernetisch ausgerichtete Robotik die Fertigung solcher Roboter an, die mit ihrer technischen Grundausstattung nicht vollends prognostizierbar und damit weniger stark an ihre Programmierung gebunden sind als Systeme, die ihre Umwelt symbolisch repräsentieren. In Kontrast zu dieser Rückbesinnung der neueren Robotik auf klassische Kybernetikkonzepte operierte die symbolische Robotik oder KI-Forschung bis Mitte der 1980er Jahre mit kausalistischen Uminterpretationen klassischer kybernetischer Ideen: Die symbolgesteuerten Automaten der älteren Robotikforschung konnten zwar Bewegungen ausführen, Sätze aussprechen und Gleichungen ausrechnen, dies aber stets im Rahmen menschlicher Vorprogrammierungen und Symbolimplementierungen. Das kybernetische Prinzip der Selbstorganisation wurde zu Zwecken der Transparenz und Kontrolle in eine Maxime der Fremdsteuerung übersetzt.

1 Die wissenschaftliche Forschung, die wir in diesem Beitrag analytisch behandeln, findet im ingenieurswissenschaftlichen Feld statt, das einen sehr heterogenen Raum unterschiedlicher Subfelder beschreibt, wie z. B. (Ab-)Wassermanagement, Maschinen- und Satellitenbau, Elektrotechnik, Informatik und Robotik. Beziehen wir uns allgemein auf die Arbeit in diesem Feld, dann sprechen wir in diesem Aufsatz u.  a. von ingenieurswissenschaftlicher Praxis; geht es hingegen um die Personen, die diese robotische Forschung und Entwicklung betreiben, dann sprechen wir von Robotiker/innen.

Die Naturalisierung humanoider Roboter

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In unserem Beitrag stellen wir am Beispiel des Roboterkopfes Kismet diese Verschiebung dar: von einer Roboterforschung mit dem Anspruch einer geradezu vollständigen Nachvollziehbarkeit maschineller Prozesse hin zur Produktion von Blackboxes, die für wissenschaftliche Deutungen nur bedingt geeignet sind und welche die Mensch-Technik-Unterscheidung irritieren sollen. Es geht uns darum, Vorstellungen der neuen Robotik über die ‚Natürlichkeit‘ technischer Systeme zu diskutieren. Der Idee, im Feld der neueren Robotik handle es sich um eine kybernetische Gleichbehandlung von natürlichen Organismen und maschinellen Apparaten, stellen wir die Beobachtung an die Seite, dass neuere Robotikzweige, obwohl kybernetisch interessiert, dennoch von einer vollständigen Entdifferenzierung absehen und mit einem graduellen Verständnis von Technik und Natur operieren (Kalthoff et al. 2016). Die Entwicklungen in diesem Subfeld der Ingenieurswissenschaften stellen auch eine Herausforderung für die soziologische Technikforschung dar: Ein Technikverständnis, das sich in Begriffen des Funktionierens und der Verlässlichkeit, der Mechanik und der Dienlichkeit äußert, kann diese Technikentwicklungen nicht mehr adäquat fassen. Dies liegt u.  a. daran, dass die Unbestimmtheit dieser Maschinenwesen (Simondon 2012: 124), die ihrerseits aus funktionierenden technischen und materiellen Elementen bestehen, zu einem nicht unerheblichen Teil unberücksichtigt bleibt. Um dieses Vorhaben einer technisch induzierten Eigenentfaltung von Robotern beschreiben und analysieren zu können, greifen wir auf technikphilosophische Überlegungen Gilbert Simondons (1989) zurück. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Zunächst beschreiben wir kontrastiv zwei Forschungs- und Entwicklungsansätze im Feld der Robotik, und zwar die symbolische und emergente Robotik, und wenden uns anschließend den Arbeiten Simondons zu: Wir erläutern in Grundzügen seine technikphilosophischen Überlegungen und beziehen sie sowohl auf frühe kybernetische Positionen als auch auf den Fall des Roboterkopfes Kismet. Ein Fazit schließt den Beitrag ab.

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Symbolische und emergente Robotik

Die Verschiebung des Forschungsinteresses von einer (fast) vollständigen und stabilen Abbildung einer gegebenen Umwelt hin zu einem systematischen Nicht-Wissen und Nicht-Vorhersagen zeigt sich in der neuen Robotik im Verzicht auf eine zentrale Steuerungsinstanz. So zielt die klassische KI-Forschung mit ihrer Orientierung an einem Symbolverarbeitungsparadigma auf eine kognitive Apparatur, die Weltzusammenhänge intern symbolisch repräsentiert

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und verarbeitet. Intelligenz ist in diesem Verständnis an eine Zentralinstanz gebunden, die sich die Welt logisch erschließt und ihre Ergebnisse an eine ausführende Instanz weiterleitet – den Korpus.2 Die sogenannte Good Old Fashioned AI konzipierte den Geist als eine Eigenschaft des Subjekts, dem Körper und Umwelt gegenüberstehen (hierzu etwa Fingerhut et al. 2017; Boden 2014). Die Orientierung an dieser Vorstellung hatte insofern Vorteile, als die Computerwissenschaft mit bereits etablierten Arbeitsweisen nahtlos anschließen konnte (vgl. Weber/Becker 2005: 221), mit denen es erstmals gelang, Computer zur Imitation vermeintlich genuin menschlicher Problemlösekompetenzen zu befähigen. Bewegungen des Korpus werden hierbei als rein mechanische Aufgaben beschrieben, durch die zwar Fragen aufgeworfen, aber nicht unbedingt gelöst werden (Roßler 2016). Diese Fragen lauten etwa: Wie geht Stehen ohne externe Hilfe? Wie nimmt man ein Buch aus einem Bücherregal? Wie greift man ein Glas, ohne dass es zerbricht? Die Interaktivität der Maschine mit ihrer Umwelt ist in dieser Vorstellung berechenbar und planbar; notwendig scheint ‚bloß‘ eine formale Beschreibung und Zerlegung der Umwelt und der vorgesehenen Körper- bzw. Korpusbewegungen etc. Diese Bemühungen, (Lebens-)Welten zu explizieren, sollen dann in einem symbolischen Korrelat der Welt resultieren, mit dessen Hilfe der Roboter sich orientieren kann. In anderen Worten: Die so selbstverständliche Eigenschaft des Menschen, sich in der Welt zu orientieren und sich in ihr selbsttätig zu bewegen, soll erschlossen und dann technisch in Form eines Roboters partiell verfügbar gemacht werden. Allerdings gilt auch, dass die Arbeit an der Rekonstruktion menschlicher Intelligenz im Bereich formallogischen Denkens zwar relativ erfolgreich ist, in der Bewältigung praktischer Aufgaben allerdings grundlegende Standards menschlicher Performanz unterschritten werden. Neuere Überlegungen in der Robotik, die auf Entwicklungen in den Kognitionswissenschaften verweisen (bspw. Pitts-Taylor 2016; Hayles 2012), operieren dagegen mit der Auffassung, dass Kognition nicht an eine Zentralinstanz gebunden, sondern als Netzarchitektur angelegt ist. Rechenprozesse werden daher auf sogenannte künstliche neuronale Netze (also eine Reihe aufeinander bezogener Algorithmen) umgestellt, die parallel operieren. Damit beruht die so verstandene ‚Kognition‘ eines Roboters, also die informationstechnische Nachbildung menschlicher Denk- und Wahrnehmungsprozesse, auf dem Zusammenspiel der Algorithmen, die ihrerseits komplexe Informationen verarbeiten, selektieren und gewichten. Es entsteht – so die Vorstellung – ein relativ robustes Maschinenwesen, das in seiner Umwelt rechnend re/agiert, 2 Um den Unterschied zum menschlichen Körper-Leib mit seinem Selbst-Welt-Verhältnis zu markieren (bspw. Henke 2021), sprechen wir in Bezug auf den Roboter von einem Korpus.

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eine Reduktion der Datenverarbeitungszeit erreicht und zugleich im Korpus des Roboters verortet ist. Eng verbunden mit der Verteilung von Intelligenz ist ein paradigmatischer Shift hin zu den materiellen Dingen, aus denen humanoide Roboter gebaut sind und die in die Entwicklung der kognitiven Apparatur einbezogen werden. So wird der Korpus u. a. mit Sensoren ausgestattet, mit deren Hilfe ein Wahrnehmungsvermögen simuliert wird, das den Roboter dazu befähigt, ad hoc auf Umgebungsanforderungen zu reagieren, wohingegen die klassische KI mit internen, für sich abgeschlossenen Repräsentationen arbeitet. Diese Form, Kognition technisch zu organisieren, setzt der unabhängigen Berechnung von Weltzusammenhängen materielle Grenzen, schafft aber auch gewisse Rahmen und Orientierungen, die nicht mehr berechnet werden müssen (Roßler 2016: 180). Dies hat erstens den Vorteil, dass Robotiker/innen nicht mehr gezwungen sind, die Umwelt des Roboters formal zu beschreiben, und trägt zweitens der Beobachtung Rechnung, dass die Forschung mit ihren etablierten Verfahrensweisen an ihre Grenzen zu stoßen scheint. So kamen klassische symbolund planbasierte KI- und Robotersysteme nur in äußerst kontrollierten Umgebungen erfolgreich zum Einsatz, wie in den sogenannten „block worlds“ (Brooks 1997: 398), die synthetisch-experimentelle, aber vor allem stark reduzierte Umgebungen für Roboter darstellten. Schnell wurde deutlich, dass die symbolische Robotik mit den sogenannten Real World Problems zu kämpfen hatte. Gemeint sind die Unübersichtlichkeit, Dynamik und Spontanität etc. des menschlichen Lebens. Behandelt und diskutiert werden diese Probleme u. a. unter den Schlagwörtern „Robustness“ und „Real Time Processing“ (Pfeifer/Scheier 1999: 64). Dies bedeutet zweierlei: Zum einen ist die Toleranz für uneindeutige und unplanbare Alltagsphänomene zu operationalisieren, was es Robotern erlauben würde, mit neuen Situationen umzugehen; zum anderen erschwert die zentralisierte KI-Architektur der symbolischen Robotik die schnelle Bearbeitung vielfältiger Daten. Roboter können also nur zeitverzögert auf Umweltimpulse reagieren. Mit dem paradigmatischen Wechsel hin zu verteilten Systemen ging die Idee einer Selbstentfaltung von technischen Objekten einher, womit man sich eine Lösung für diese Probleme erhoffte. Ein prominenter Vertreter dieses Ansatzes ist Rodney Brooks, der Anfang der 1980er Jahre mit seinem Roboter Cog ein Maschinenwesen entwickelte, das mit der sensorgestützten Beobachtung einer menschlichen und nicht-menschlichen Umgebung heraus einen angemessenen Umgang mit dieser Umwelt rechnend ermitteln sollte. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der auf evolutionstheoretische Annahmen rekurriert, also einen Lernprozess nachbilden will, der – so die Annahme – von der ‚Natur‘ abgeschaut wurde. Im Kern versucht diese Forschungsrichtung

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der New AI, Tinkering-Prozesse als ein kumulativ-iteratives Verfahren zur Bearbeitung und Überschreibung der Informationsgrundlage technisch zu implementieren. Die Vorstellung einer hierarchisch organisierten GeistKörper-Konstellation, in der ein abgeschlossenes System auf die Umwelt trifft, wurde eingetauscht gegen das Bild netzwerkartiger, selbstorganisierender Systeme, die sich mit der Umwelt entfalten (Becker/Weber 2005). Die Roboterforscherin Cynthia Breazeal griff 1997 die Idee verkörperter und vernetzter Maschinen auf, erweiterte sie aber mit der Arbeit an ihrem Roboterkopf Kismet um den Aspekt der Emotionen. Der Korpus des Roboters wird hierbei nicht ausschließlich als intelligente und organisierende Instanz konzeptualisiert, sondern auch als Koppelungsstation zwischen Mensch und Maschine verstanden. Dieser Roboterkopf zeichnet mit seinen Sensoren auf und analysiert rechnergestützt die so generierten Informationen seines menschlichen Gegenübers, ‚erkennt‘ und reagiert auf Gesichtszüge, indem er aus sechs Gefühlskategorien die für eine jeweilige Situation geeignete errechnen und über motorengesteuerte Bewegungen darstellen kann: „The effect is dramatic. Kismet’s trainers find themselves immediately hooked – not only do they attend to the robot, but they do so in ways strikingly reminiscent of human parents“ (Keller 2007: 337). Diese Versuchsreihe mit einem „psychologisch glaubwürdigen Wesen“ (Brooks 2002: 122) unterstellte intrinsische Motive auf Seiten der beteiligten Menschen, obwohl offensichtlich war, dass es sich bei Kismet nicht um ein organisches Wesen handelt, gegenüber dem diese Motive umgesetzt wurden. Somit sind das Verhaltensrepertoire von Kismet, seine technische Ästhetik und sein Auftritt als Maschinenwesen darauf ausgelegt, den beteiligten Menschen ein bestimmtes Verhalten nahezulegen bzw. sie anzuregen, auf ihn zu reagieren, woraufhin dann wiederum auf dieses menschliche Tun reagiert wird. Die durch diese technisch-humane Wechselwirkung erzeugten und gewonnenen Daten bilden dann das Fundament der weiteren maschinellen Entwicklung von Kismet. Mit anderen Worten: Diese experimentelle Anordnung integriert verschiedene Aspekte des ‚affective computing‘, einen Entwicklungsansatz, für den Emotionen und Körperlichkeit wesentliche Bestandteile von Intelligenz sind und für den der Maschinenbegriff nicht auf eine Rationalitätssemantik reduziert werden kann (Suchman 2007). Der Roboterkopf ist in seiner Erscheinungs- und Bauweise daher nicht als einfaches Gehäuse zu verstehen, das – einmal entfernt – die eigentliche Technik zum Vorschein kommen lässt. Er ist keine Grenzfläche zwischen technischem Innenraum und sozialem Außenraum, also kein Interface im klassischen Sinne. Vielmehr ist Kismets Mimik, durch die Menschen affiziert werden sollen, ein funktionaler Bestandteil des kognitiven Gesamtgefüges.

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Ziel der sogenannten human studies mit diesem Roboterkopf war es erstens, durch die Bewegung von einigen wenigen Gesichtsteilen (‚Ohren‘, ‚Augenbrauen‘, ‚Lippen‘) Interaktivität zwischen diesem Maschinenwesen und Menschen zu ermöglichen, und zweitens, den Roboter durch diese Interaktivität technisch zu überschreiben. An dieser experimentellen Anordnung fällt auf, dass es dem Maschinenkopf trotz seiner eingeschränkten Bewegungsoptionen gelingt, Interaktivität in Gang zu setzen, diese zu erkennen und auf sie zu reagieren. Als epistemisches Objekt der Robotiker/innen lässt sich somit das soziale und technische Geschehen zwischen Maschinenwesen und Menschen ausmachen (Breazeal 2002: 27). Zu berücksichtigen ist dabei zudem, dass sich diese Entwicklungsarbeit am Modell eines Kleinkindes orientiert – einem Organismus, der sich durch einfache Triebe (drives, s. u.) am ‚Leben halten‘ und ‚entwickeln‘ soll. Das heißt: Die emergente KI-Architektur des Roboters beruht auf evolutionsbiologischen und entwicklungspsychologischen Annahmen über die Entwicklungsverläufe von Kindern. Man nimmt dabei Bezug auf die seit der frühen Neuzeit etablierten Idee des Kindes als einer „entity in the making“ (Castañeda 2002: 1). Verhaltenstechnische Inkompetenzen des Roboters werden damit nicht nur verziehen, sondern geradezu erwartet und verlangt. Das Modell ‚Kind‘ wird hierbei als Rohfassung des Humanen gehandhabt – eine entdifferenzierte Variante kulturell geprägter Menschen (Thorne 1993; Kalthoff/Link 2021). Diese Orientierung am Konzept des ‚Kindes‘ hat zudem den Vorteil, die Robotiker/innen davon zu entlasten, eine elaborierte menschliche Performanz rekonstruieren zu müssen. Technisch soll ein kontinuierliches und dauerhaftes Überschreiben des eigenen maschinellen Zustands (‚Sich Entwickeln‘) durch die Implementierung selbstregulierender Mechanismen erfolgen, die im Kern darauf abzielen, einen wiederkehrenden Kreislauf der An- und Entspannung herzustellen. In den Worten einer Robotikerin: One distinguishing feature of a drive is its temporally cyclic behaviour. That is, given no stimulation, a drive is tend to increase the intensity unless it is satiated. This is analogous to an animal’s degree of hunger or level of fatigue, both following a cyclical pattern (Breazeal 2002: 108).

Auf die Frage, was ein solches Verhalten oder Handeln antreibt, antwortet die Entwicklerin vergleichend mit dem Verweis auf Tiere und deren Reaktionen bei Hunger, Müdigkeit etc.: Das Verhalten verläuft zyklisch-iterativ, bis das Tier gesättigt ist, d. h. ‚genug hat‘. Diese konzeptionell reduzierte Idee von menschlichen Handlungsabläufen hat seine Wurzeln u. a. in der kybernetischen Idee lernender und sich selbst steuernder Maschinen. Es ist der Versuch, „eine

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Theorie zu entwickeln, die den gesamten Bereich von Steuerung und Kommunikation in Maschinen und lebenden Organismen abdeckt“ (Wiener 2002: 15), aber auf die ontologische Differenzierung zwischen Menschen, Tieren und Maschinen zu verzichten; diese Entitäten werden nicht kategorial unterschieden und eingeteilt, sondern entlang des Komplexitätsgrades ihres Verhaltens angeordnet (Wiener 1943). Den zentralen Mechanismus lernender Systeme bildet die „zirkuläre Bedingtheit“ (Wiener 1943: 21) von Ursache und Wirkung – und damit die Existenz von Regelkreisen. Regelung im technischen Sinne bedeutet die Setzung eines Sollzustandes und das Zurückführen von Abweichungen von diesem Zustand an das System selbst (Lutz 1965: 28). Liegt eine solche Regel bzw. Rückkopplung kontinuierlich vor, ist das System robust und stabil. Solche Regelkreise (oder Rückkopplungen) beschränken sich hierbei nicht nur auf systeminterne Kommunikation, sondern basieren auch auf der Integration der Umwelt in das System. In Kismets Fall wird diese kybernetische Form der Systemöffnung durch eine indizierende Feedbackstruktur zwischen Mensch und Maschine realisiert. So sollen körperliche und sprachliche Gesten des Menschen auf Abweichungen zu einem vorab definierten Standard oder Normalzustand hin überprüft (‚gelesen‘) werden. So weisen bspw. zusammengezogene Augenbrauen oder ein fragend-vorwurfsvoller Ton auf solche Abweichungen hin. Der Roboterkopf zeigt dann seinerseits das Ergebnis der Indikationsberechnung an, was den Menschen zur korrigierenden oder bestätigenden Antwort einladen soll, die dann wiederum entsprechend eingeordnet wird. Kurz: Das Gerät ist mit einer Apparatur zur Datenakquise ausgestattet, nicht aber mit den Daten selbst. Die Entwickler/innen entwerfen also eine rudimentäre Ausgangsstruktur, die sich durch die regelmäßigen Berührungen mit der Umwelt verfeinern soll. Damit bilden in dieser Anordnung Roboter und Mensch ein System der Rückkopplung und Erweiterung (Ashby 2016: 134). Analog zur Eltern-Kind-Beziehung soll sich Kismet auf diese Weise mithilfe humaner Feedbacks ‚entwickeln‘, d. h. (daten-)technisch verfeinert werden.3 Für die Umsetzung dieses Praktiken-Arrangement-Geflechts (Schatzki 2016) setzt das Entwicklungsteam von Kismet auf eine verteilte Netzarchitektur (s. o.) sowie auf die Konstruktion eines zirkulären Kommunikationsmodells. In dieser Feedbackstruktur – so die kybernetische Optik – fallen Ursache und Wirkung zusammen und gehen mit einer Parallelschaltung von System und Umwelt einher.

3 An anderer Stelle haben wir hierfür den Begriff der Technisation vorgeschlagen (Kalthoff/ Link 2021).

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Eine weitere Zusammenführung von System und Umwelt wird durch die technische Umsetzung des für die Kybernetik entscheidenden teleologischen Prinzips realisiert (Wiener 1943: 24). Gemeint ist damit, dass die Strukturen der Sollzustände an die je spezifischen Zwecke des gesamten Systems gebunden sind, die Maschine in ihrem Verhalten aber nicht determinieren. Vielmehr sind die Bewegungen des Roboterkopfes – so die Annahme der Akteure/innen – durch die skizzierte Technik mit ihren Rückkopplungen und Regelkreisläufen als eine ökologische Ganzheit gerahmt: Der Roboter bildet also nicht nur eine aus verschiedenen Teilen zusammengesetzte technische Entität, sondern ist zugleich Bestandteil eines übergeordneten ökologischen Geschehens, zu dem auch Menschen gehören, die mit ihnen interagieren (hierzu Hayles 1999). In seinem Aufsatz „Die Frage nach der Technik“ argumentiert Martin Heidegger (1985), dass der Rhein in das Kraftwerk verbaut ist und nicht das Kraftwerk in den Rhein (ausführlich: Kalthoff 2019). An diese Überlegung anknüpfend lässt sich mit Bezug auf die hier interessierende Konstellation sagen, dass alle beteiligten sozio-technischen Entitäten ihren Zweck aus der kybernetisch gedachten Zirkularität gewinnen – und damit aus ihrem Verhältnis zum Ganzen und nicht allein aus sich selbst heraus. Vorstellungen über abgeschlossene technische Systeme der symbolischen Robotik werden in diesem Zweig der Robotikforschung also durch ein netzwerkartiges Design ersetzt. Zugleich gilt, dass Kismet für seinen eigenen Erhalt und für seine Entwicklung auf die Interaktivität mit seiner Umwelt angewiesen ist. Ohne dies hier näher ausführen zu können, ist es aus einer wissenschaftssoziologischen Perspektive dennoch wichtig, auf folgende Dimensionen des experimentellen Arrangements hinzuweisen: Diese Forschungen sehen die Anwesenheit einer technischen Infrastruktur (Rechner, Programmiersoftware, Platine etc.) vor, mit der die Bewegungen eines Roboterkorpus bewerkstelligt werden, die ihrerseits durch Algorithmen, die man als Formalschrift der Ingenieurswissenschaft beschreiben kann, praktisch vorentworfen werden und Interaktivität bzw. Feedbackschleifen ermöglichen sollen. Der Mensch oder das Menschliche wird also systematisch auf Kognition reduziert, während Aufbau und Durchführung des Experiments das verkörperte menschliche (Fach-)Wissen voraussetzen.

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Wir haben bisher die partielle Auslagerung des Robotersystems in die Umwelt in Zusammenhang mit seinen regulierenden Regelkreisen als Ausdruck eines dezentrierten Kognitionsverständnisses gedeutet. Diese Entwicklung haben

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wir als Rückbesinnung auf kybernetische Modelle dargestellt, die im Wesentlichen auf der Vorstellung eines wechselseitigen Informationsaustauschs in Regelkreisen basieren. Es handelt sich dabei um den Versuch, Roboter zu konstruieren, die sich so weit wie möglich eigenständig und entdeckend in ihrer Umwelt bewegen und in ihr agieren können. Mit anderen Worten: Das NichtWissen der Robotiker/innen wird für die Konstruktion der Maschinenwesen fruchtbar gemacht. Mit dem Verzicht sowohl auf die vollständige Codierung der Umwelt als auch auf die vollständige Festlegung der Handlungspläne ist die Überlegung verbunden, dass Unerwartetes von den Roboterrechnern erfasst, rekalkuliert und dafür verwendet wird, die eigene Datenbasis kontinuierlich zu erweitern. Wir argumentieren nun, dass sich die emergente Robotik in einem wesentlichen Aspekt von der Kybernetik unterscheidet, nämlich in einer Forschungspraxis, für die der Roboterkorpus selbst und die materiellen Dinge, die ihn ausmachen, zu einem epistemischen Objekt werden und die wissenschaftlichen Anstrengungen daher nicht allein algorithmischen Programmen gelten. Gegen diese in Schrift, Platinen, Programmen etc. materialisierte Experimentalanordnung eines feld-dominanten Konzepts der Ingenieurswissenschaften bringt sich somit ein anderer Forschungsansatz in Stellung, der die Fertigung des Roboters geradezu ‚vom Kopf auf den Korpus umstellt‘. Dies impliziert auch eine Umstellung der Arbeitsmodi: weg von der Arbeit am Roboterrechner als der zentralen Schaltungseinheit, die mit beliebigen Roboterbestandteilen wie ‚Armen‘, ‚Beinen‘ etc. verbunden werden kann (wie in den symbolbasierten Forschungsansätzen, in denen der Roboter gewissermaßen den technischen Außenbezirk einer sozio-materiellen Praxis und die PC-Programmierung die Experimentalanordnung darstellen)4 und hin zum Roboterkorpus selbst. In der Praxis dieser emergenten Robotik dominiert ein tendenziell holistisches Technikkonzept des ‚ganzen Korpus‘. Ziel ist es, eine verteilte Korpus‚Intelligenz‘ technisch zu etablieren, die die Vorstellung zurückdrängt, der Korpus sei ein Derivat der technischen Kognition. Diese verteilte Korpus-‚Intelligenz‘ läuft über eine dezentrale (u. a. neuronale) Netzarchitektur, die die je unabhängige Bewegung eines jeden Korpusteils bewirkt und damit ohne zentrale Steuerungsinstanz auskommt – die Korpusteile koordinieren sich vielmehr selbst. Hiermit verbunden ist die Fertigung und Erprobung von solchen robotischen Korpusteilen, die sich auch ohne digitale Steuerung eigenständig 4 Zur Plausibilisierung: In der alltäglichen Praxis des PC-Gebrauchs arbeiten Nutzer/innen am PC und ‚schicken‘ dann bspw. einen Befehl an den Drucker; wir arbeiten aber nicht im Drucker selbst.

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bewegen können (Brooks 2017). Dies zeigt die Machbarkeit einer solchen technischen Lösung robotischer Bewegungen (bspw. Aufstehen-Können), die in der Robotik bislang aber wenig designt worden ist. Deutlich wird, dass der Roboterkorpus in diesem Ansatz, in dem Korpusteile und Netzarchitektur einzeln und unabhängig voneinander gestaltet und programmiert werden, eine spezifische Funktion hat: Er fungiert hier als eine offene Plattform für verschiedene Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Wichtig ist dabei, dass (fast) alle Dinge, aus denen er besteht, selbst zum Forschungsobjekt werden können. Kurzum, in dieser Fokussierung auf den Roboterkorpus kann man eine Zurückweisung der kybernetischen Idee erkennen, unterschiedliche Entitäten zusammenzufassen. Diese Überlegung findet sich auch in Simondons Arbeiten (vor allem Simondon 2012; auch Delitz 2015) zu technischen Objekten, in denen die Idee wesenhafter Entitäten durch eine Theorie des Werdens ergänzt wird. Wissenschaftstheoretisch lassen sich die Arbeiten von Simondon daher am besten zwischen Ontologie und Prozesssoziologie einordnen: Sie geht vom Werden einer Sache zu dessen Wesen über – ein Prozess der kontinuierlich andauernden ‚Individuation‘ (Simondon).5 Ganz allgemein lässt sich die Perspektive Simondons in Bezug auf Technik so beschreiben: Um moderne Technik angemessen zu erfassen, ist nach Simondon eine Techno- bzw. Mechanologie erforderlich, die in ihrem Grundverständnis Maschinen als kulturelle Güter konzipiert und detaillierte Untersuchungen von internen Zusammensetzungen und Kräftewirkungen von Maschinen durchführt (Simondon 2012: 15–16). So finden sich in seinen Arbeiten eine Reihe ausführlicher Beschreibungen, Skizzen und Fotografien technischer Objekte, von der Kühlrippe eines Motors über Elektroröhren und Turbinen bis hin zum Aufbau des Telefons. Ihm geht es dabei aber weder um eine Typologie noch um die Besonderheit einzelner Artefakte, sondern darum, zu klären, wie genau die jeweiligen Artefakte seit ihrer Erfindung strukturell erneuert wurden und aufeinander folgten. Mit seiner Technogenese macht er zugleich sichtbar, wie sich der ontologische Status dieser Maschinen im Prozess der Technikevolution verschiebt: Vom artifiziellen Objekt, das im Schatten seiner Erfindung steht, zum technischen Objekt, das sich selbstregulierend von seinem Ursprung tendenziell ablöst. Technische Objekte sind 5 Trotz der Kritik Simondons (1989) an der Gleichstellung von Maschinen- und menschlichen Wesen, wie sie in der Kybernetik Norbert Wieners vorgenommen wurde, halten wir seine konzeptionell-theoretischen Vorschläge zur Beschreibung des Verhältnisses von Robotern und ihren Menschen bzw. Menschen und ihren Robotern für weiterführend. Ferner existiert eine Parallele zwischen dem Simondonschen Begriff der Individuation und der jesuitischen Erziehungstradition (Charmot 1943; Iliadis 2013).

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daher nicht einfach künstliche oder artifizielle Objekte, denn je ausgefeilter die Technik, desto natürlicher das Objekt (Neyrat 2011: 152). Maschinen oder technische Objekte stehen dem Menschen dabei nicht einfach als eine fremde Sache gegenüber, sondern werden erst durch ihn zu etwas Fremden gemacht (Simondon 2012). Ausschlaggebend für die Ablösung des Objekts von seinem menschlichen Ursprung ist der Prozess der Konkretisierung: ein Zuwachs an innerer Dichte und Organisiertheit im Prozess der Innovation, Herstellung und des Gebrauchs. Die einzelnen Elemente des Objekts greifen im Verlauf der von Menschen erzeugten Neuerungen stärker ineinander, stützen und ergänzen sich. So kann etwa ein technisches Element statt einer Funktion mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen. Simondon zieht hierzu das Beispiel der Kühlrippe des Verbrennungsmotors heran, deren Funktion zunächst auf die Kühlung beschränkt blieb, die aber dann auf die Stabilisierung des Zylinderkopfes ausgeweitet wurde (Simondon 2012: 21). Das technische Objekt konkretisiert sich also, wenn seine Elemente in Austausch treten. Trotz dieses dichten Zusammenhangs der einzelnen Elemente verschließt sich das technische Objekt aber nicht seiner Umwelt, sondern nähert sich ihr an. Folgt man Simondon (2012: 47), dann ist entscheidend, dass die Maschine im Prozess ihrer Konkretisierung die Umwelt als Bedingung ihres Funktionierens inkorporiert. Technische Objekte, denen es gelingt, auf diese Weise (selbstverständlicher) Bestandteil des sozialen Geschehens zu werden, sind nach außen hin adaptiv, streben nach Kohärenz und erlangen einen gewissen Grad an Autonomie. Andere technische Objekte bleiben dem sozialen Geschehen gegenüber äußerlich: Sie stehen nur insofern in Beziehung zu ihrer Umwelt, als sie technisch vor ihr geschützt werden müssen. So benötigen artifizielle Objekte ein künstliches Milieu – etwa ein Labor oder eine Fabrikhalle –, das thermisch und architektonisch auf sie abgestimmt ist und vor natürlichen Einflüssen schützt. Im Unterschied zu gängigen Vorstellungen von Technik als Verlängerung des menschlichen Körpers ist der Mensch bei Simondon (2012) für die Technik eine konstitutive Umwelt. Sie benötigt den Menschen, um funktionieren zu können, ist aber keine bloße Entäußerung seines Könnens, keine Weiterführung seiner Imagination, sondern für sich sinnvoll und im Prozess der Individuation – der Dialektik von Werden und Sein (s. o.) – begriffen. Die hier nur angedeuteten Überlegungen machen deutlich, dass die Technikphilosophie Simondons und die kybernetische Symmetrisierung von organischen und anorganischen Entitäten bzw. Substanzen Ähnlichkeiten in der Theoriearchitektur aufweisen (siehe auch Simondon 1953): Sie verstehen sich u. a. als eine nicht-anthropozentrische Analyse der Technik und fokussieren die Selbstorganisation von Mensch und Maschine. Die Kybernetik beruft sich

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dabei nicht auf Beziehungen und Differenzen von Gattungen, sondern verfolgt ein transkategoriales Programm, das auf ontologische Voraussetzungen verzichtet, indem sie nicht danach fragt, was ein Objekt ist, sondern was es tut (Ashby 2016: 15). Für die Kybernetik, die sich auf das Verhalten von Systemen konzentriert, sind nicht die materielle Komposition konkreter Artefakte, sondern mathematische Kalküle und organisierende Programme wichtig, die ein Artefakt in seiner Funktionsweise bestimmen (Schmidgen 2012; Ashby 2016). So liegt die Identität eines Organismus nicht in seiner Materialität, sondern in der Weise, in der er sich organisiert, wie er also Informationen verarbeitet: „The physical identity of an individual does not consist in the matter of which it is made“ (Wiener 1954: 101). Die Identität eines organischen oder anorganischen Korpus liegt in seiner Form: Sie kann vervielfältigt und übertragen, zerlegt und rekonfiguriert werden; und Kommunikationsprozesse zwischen organischen und anorganischen Entitäten werden durch Indifferenz ihrem Wesen gegenüber normalisiert. Information als fließende Entität kann somit zwischen organischen und elektronischen Komponenten zirkulieren, sie vernetzen und sie auf diese Weise synthetisieren. In seinen Untersuchungen der Funktionsweise von Technik legt Simondon den Fokus hingegen auf die konkreten dekonstruierbaren technischen Elemente (wie etwa die Bestandteile des Verbrennungsmotors), auf ihre materielle Zusammensetzung, Beschaffenheit und Stofflichkeit. Im Mittelpunkt steht die tatsächliche materielle Gestalt von Maschinen, die erstens nicht auf Zeichen und Formeln reduzierbar sind (Schmidgen 2012: 124) und die zweitens auf ihre Umwelt und die technischen Elemente reagieren. Für Simondon ist die materielle Dimension der Technik eine Bedingung ihrer Selbsttätigkeit. Das technische Objekt ist in Bewegung, kann irritieren und provozieren. Die Stabilität der Materialität und die Evolvierbarkeit der Maschine bilden keinen Antagonismus, sondern befinden sich bei Simondon in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Das heißt, dass physische Struktur und Operationsmöglichkeiten eines technischen Objekts immer schon miteinander gekoppelt sind. Simondon macht dies vor allem an der Unpersönlichkeit der Maschine deutlich (Simondon 2012: 226). Gemeint ist die schon angesprochene Entkopplung der Maschine von ihrem erfinderischen Individuum, bis zu dem Punkt, an dem sie keine Entäußerung des Menschen mehr darstellt, sondern in anderen Kontexten und durch andere Menschen verwendbar wird (Simondon 2012: 227). Stabilität und Transferierbarkeit der Maschine erzeugen auf diese Weise vielfältige Verfügbarkeiten und Anschlussmöglichkeiten. In Simondons Analysen erhält die Dauerhaftigkeit von Materialität also nicht nur eine fixierende Funktion, sondern repräsentiert zugleich die Möglichkeit einer technischen Existenzweise, die in Beziehung zu ihrer Umwelt steht

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und durch sie kontextiert ist. Man kann es so formulieren: Die Stabilität ihrer materiellen Anordnung ist die Geburtsstunde ihrer Unabgeschlossenheit und erst der Blick ins Innere der Maschine offenbart ihre Eigengesetzlichkeit und Differenz zum Menschen; eine Differenz, die der kybernetische Blick so hartnäckig verkenne. Simondon fächert ein Kontinuum zwischen natürlichen und technischen Mechanismen auf, innerhalb dessen die Unterscheidungsränder aneinander anschließen und durchlässig werden, sich aber an den äußeren Polen verhärten: In der Offenheit und relativen Autonomie des Objekts diffundiert die Natürlichkeit in das Artifizielle hinein und zieht es gewissermaßen an den Pol der Natur heran. Die Annäherung des Technischen an das Natürliche kann aber nicht in einer vollständigen Angleichung enden, denn das technische Objekt hat seinen Ursprung letztlich in der Erfindung: Es muss eine Bestimmung oder Festlegung der Elemente im Entwicklungsprozess erst sukzessive herstellen, während das Organische immer schon ‚dicht‘ ist. Das technische Objekt enthält somit immer Rückstände von Artifiziellem, die es daran hindern, vollständig natürlich zu werden. Simondon weist damit die kybernetische Gleichsetzung von Mensch, Tier und Objekt zurück. Neben Simondons Kritik an der ontologischen Symmetrisierung der Kybernetik unterscheiden sich Kybernetik und Simondonsche Technikphilosophie in zweierlei Hinsicht: Informationsbegriff zum einen, Materialitätsbegriff zum anderen. In der Kybernetik wird Information als eine interpretationsfreie, Realität abbildende Darstellung gefasst, die die Welt transparent und rationales (Entscheidungs-)Handeln möglich macht. Unberücksichtigt bleibt dabei der Umstand, dass Informationen nicht als Rohdaten zur Verfügung stehen, sondern immer durch Darstellungsmedien (bspw. Tabellen, Kartogramme, Listen, digitale Schrift, gesprochene Sprache) zu dem werden, was sie sind. Da aber keine theoriefreie Darstellungstechnik zur Verfügung steht, ist eine Information keine neutrale Repräsentation einer extern gegebenen Realität. Schließlich kommen Darstellungen auch ohne externe Referenz aus und bringen das, was sie darstellen sollen, überhaupt erst hervor (Rheinberger 2001).6 In Bezug zur Materialität lässt sich zunächst festhalten, dass – wie schon angedeutet wurde – die Kybernetik der Information eine Vorrangstellung einräumt und die materielle, stoffliche Seite des Lebens der Information nachordnet, denn 6 Gegen die Idee, die Information sei eine geradezu unauffällige Mittlerin, argumentiert Heidegger, dass die Information den Gegenstand ‚formiert‘, über den sie berichtet: „Indem jedoch die Information in-formiert, d. h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d. h. sie richtet ein und aus. Die Information ist als Benachrichtigung auch schon die Einrichtung, die den Menschen, alle Gegenstände und Bestände in eine Form stellt, die zureicht, um die Herrschaft des Menschen über das Ganze der Erde und sogar über das außerhalb dieses Planeten sicherzustellen“ (Heidegger 1997: 203).

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sie wird – so die Vorstellung – durch Information gesteuert. Mit Simondon rückt hingegen das Materielle und Mechanische in den Fokus und damit die Wechselwirkungen zwischen von Menschen gefertigten Apparaten und ihrer (menschlichen) Umwelt. Bezeichnend ist die Entschiedenheit, mit der Simondon materielle und mechanische Grundlagen der Technik betrachtet, ohne dabei das Technische gegen das Natürliche auszuspielen. Vor dem Hintergrund dieser Differenzen und Bezüge argumentieren wir, dass die Entwicklungen und Ansätze in der neueren Robotik nicht allein als kybernetisches Projekt verstanden werden können (Karafillidis 2020; Weber 2005). So wird am zuvor diskutierten Beispiel des Roboters Kismet deutlich, dass die materielle Realität des Roboterkorpus mit der Installation einer selbstregulierenden technischen Struktur ein konstitutives Element seiner kognitiven Architektur bildet. Inspiriert durch entwicklungspsychologische Konzepte gehen die Entwickler/innen davon aus, dass intelligente Agenten erst durch den sensomotorischen Kontakt mit der Umwelt entstehen. Die Konstruktion von Intelligenz ist damit fundamental an die Konstruktion eines Roboterkorpus gebunden (Kalthoff/Link 2021: 320). Die Freiheitsgrade der Gesichtsteile und ihre Beweglichkeit sind somit nicht nur ein SoftwareProblem, sondern auch ein Gestaltungsraum der Hardware, da sie – so die Annahme – die Interaktivität von Menschen und Maschine (mit-)strukturiert. Orientiert sich die emergente Roboterforschung auch an der Kybernetik, so beschränkt sie sich dennoch nicht auf theoretische Prinzipien über Systeme und Systemelemente. Sie ist darüber hinaus an den intrinsischen Eigenschaften des Materials interessiert, mit dem ihre verkörperten Roboter gebaut werden. So sollen u.  a. Experimente mit neuen Materialien Fragen aufwerfen bzw. Erkenntnisse liefern; eine Orientierung an biologischen Stoffeigenschaften soll – so die Annahme – eine Annäherung der Technik an Natur ermöglichen (Breazeal 2002: 173; Brooks 2002: 54–55). Die richtige materielle Grundlage gilt deshalb mitunter als geradezu entscheidend für den Erfolg von Robotern. Zugleich ist diese Entwicklungsrichtung – analog zur Kybernetik – zwar an einer Verwischung etablierter Unterscheidungen interessiert, geht aber auch über die kybernetische Lösung dieses Differenzproblems hinaus. So privilegiert die Kybernetik informationelle Formen über materielle Substanzen, das heißt, dass Menschen, Tiere und Maschinen primär als informationsprozessierende Entitäten verstanden werden, die sich zwar substanziell unterscheiden mögen, doch solange man die Analyse auf Modelle und Verhaltensähnlichkeiten beschränkt, bleibt dieser Umstand für sich belanglos (Hayles 1999; Pias 2004). Im Kontrast zu dieser Form, Interaktivität informationstheoretisch zu konzipieren und damit auch zu entmaterialisieren, konzentrieren sich Teile der neuen Robotik auf die physischen Eigenschaften und die Zusammensetzung

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dieser Artefakte; so werden bspw. deren mechanische Anteile nicht als lästiges Beiwerk, sondern als konstitutiver Bestandteil verstanden. Die Hinwendung zu sensomotorischen Fähigkeiten als Bestandteil einer Forschungspraxis verschiebt noch einmal den Fokus: Sie macht den Beobachtungs- und Handlungsspielraum weniger gut prognostizierbar, da der Roboter unbekannte externe Informationen aufnimmt, verrechnet und in räumliche Bewegung umsetzt. Hier steht weniger die Nützlichkeit als vielmehr eine Quasi-Autonomie des Maschinenwesens im Zentrum der Bemühungen: Erreicht wird diese durch die Implementierung grundlegender Speicher- und Überschreibungsmöglichkeiten, die menschliches und tierliches Lernen imitieren sollen, was im Wesentlichen als materiell-körperlicher Vorgang konzipiert wird (Breazeal 2002: 157–158.).7 Die Materialisierung von Kognition oder die Bewerkstelligung von robotischen Bewegungen hat neben der Irritation klassischer steuerungstechnischer Ideen zugleich die Funktion, den Forschungsprozess anzuregen. So werden vielfältige Testreihen oder Experimente durchgeführt, die nicht darauf abzielen, Operationen des Roboters voraussagen zu können, sondern auf die Produktion von Überraschungen setzen, die irritieren und Verwirrung stiften und somit als epistemische Prozesse neue Fragen aufwerfen. Ziel ist es, den Radius des eigenen Nicht-Wissens abzustecken (Gross 2010; Rheinberger 2021). Dies geschieht nicht durch ein mehr oder weniger abstraktes Nachdenken über die Welt, den Roboter oder die Menschen etc., sondern durch Herumbasteln und Ausprobieren, durch ein Erweitern von Aufgabenstellungen und ein Scheitern an ihnen etc. – Forschungspraktiken, die die Grenzen des (Nicht-)Wissens verschieben (Becker/Weber 2015; Gamm 2014). Damit geben die Experimente Aufschluss über eine vergleichsweise nüchterne Selbsteinschätzung des Feldes: Es handelt sich hier weniger um eine deduzierende Ordnung sicheren Wissens, sondern darum, Neues sichtbar machen und entdecken zu können. Im Blick der Forscher/innen ist das Maschinenwesen technisch-materiell noch unfertig; aber auch ihr Wissen und das der Community ist noch unvollständig.

4

Schluss

In diesem Aufsatz haben wir argumentiert, dass mit der neuen Robotikforschung eine Verschiebung zu erkennen ist: weg von informationsorientierten 7 In diesem Kontext fokussiert Breazeal (2002: 157) den kommunikativen Mehrwert und die materiellen wie motorischen Voraussetzungen bestimmter Gesichtsausdrücke. Das Gesicht wird mitunter als regulierende Instanz in der System-Umwelt-Kopplung verstanden.

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Ansätzen der Kybernetik, hin zu solchen Überlegungen, bei denen die Materialität und Stofflichkeit der Apparate ins Zentrum der Forschungstätigkeit rücken. Entscheidend bei der Entwicklung des Roboterkopfes Kismet ist, dass Opazität und Selbsttätigkeit des Objekts nicht akzidentieller Natur sind, sondern gezielt hervorgebracht werden, indem auf Steuerung und Deutung verzichtet wird: Der kybernetische Zugriff (auch neuerer Spielarten) auf Technik adressiert ganz direkt die mangelnde Prognostizierbarkeit und Wandelbarkeit des Systems (Pickering 2002: 10). Im Gegensatz zu einer Herangehensweise, die ihren Gegenstand verfügbar zu machen sucht, handelt es sich in neueren, kybernetisch inspirierten Entwicklungszweigen der Robotik darum, das Objekt vom menschlichen Zugriff und von menschlicher Kontrolle tendenziell abzukoppeln. Diese Tendenz setzt sich deutlich von älteren Entwicklungskonzepten der Robotik ab, welche die Tätigkeit des Roboters nur innerhalb ihrer künstlich modellierten Welten zuließen. Mit den neuen Entwicklungen sind eine gewisse Zurücknahme der Ingenieure/innen und eine höhere Toleranz gegenüber Bereichen des Nichtwissens und „produktiver Unschärfen“ (Pias 2004: 22) verbunden. Zwar sind auch ältere Konzepte der Robotik durch die Informations- und Regeltheorie der frühen Kybernetik inspiriert, doch kristallisieren sich dort regelbasierte Systeme heraus, die auf der Grundlage von Exaktheit, Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit funktionieren und daher vorherbestimmte, geschlossene Automaten darstellen. In der neueren, emergenten Robotik werden hingegen aus Ursachen Gelegenheiten und Kausalzusammenhänge müssen Unvorhersehbarkeiten weichen. Die Fokussierung der neuen Robotik auf die Materialität des Roboterkorpus und der Umwelt geht also – wie wir dargestellt haben – über rein kybernetische Vorstellungen hinaus. Mit Simondons Arbeiten zum Status des technischen Objekts wird deutlich, dass die neue Robotik grundlegende Prinzipien der Kybernetik gewissermaßen materiell auffüllt: Die Korpusteile des Roboters sind keine Ummantelung, kein Verschluss der Blackbox, sondern Teil seines organisierenden Kognitionsgefüges. Sie betten – wenn man so will – den Roboter in seine Umwelt ein und schließen ihn damit kurz. Seine Regelkreise, die mit mathematischen Kalkülen hinterlegt sind, befinden sich nicht als steuernde Software hinter Kismets ‚Augen‘, ‚Mund‘, und ‚Ohren‘, sondern werden an Ort und Stelle aktiviert, aktualisiert oder bleiben passiv, wirkungslos: Sie sind seine Korpusteile. Die Blackbox ist in der emergenten Robotik also immer schon geöffnet, aber trotzdem nicht ein- oder durchsichtig und auch nur durch die Praktizierung der Forschung handhabbar. Die Integration der stofflichen Realität in die kognitive Architektur des Roboters stellt in der (neueren) Robotikforschung für die Akteure eine Möglichkeit dar, sich ‚dem Humanen‘ bzw. ‚dem Natürlichen‘ anzunähern; sie

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bildet aber auch die Grenze der Angleichung von Maschinenwesen und Menschen. Das Material ist dabei nicht mechanisches Beiwerk, sondern ermöglicht und fixiert Handlungs- und Verhaltensweisen; Materialität und Potenzialität können insofern nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Mit dem Einspannen des Korpus in die Möglichkeiten der robotischen Entwicklung nimmt die emergente Robotik den Eigensinn technischer Objekte in radikaler Weise ernst. Im Lichte materialitätstheoretischer Debatten und Überlegungen wird deutlich, dass Roboter hier zwischen den Polen von Natur und Kultur, also zwischen dem Technischen und Organischen verortet werden. Auf diese Weise werden sie als technische Artefakte erfunden und instandgehalten, müssen aber zugleich ein hohes Niveau an lebendiger Selbstorganisiertheit aufweisen. Die beschriebenen Entwicklungen der Robotik markieren somit einen weiteren Punkt in der Evolutionstrajektorie dieser Technologie, in der sich strukturelle Neuerungen gegenwärtigen technischen Lösungen aufdrängen und zu neuen Ergebnissen und Forschungsfragen führen, ohne dass dabei ein Endpunkt erkennbar werden könnte.

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Kopien ohne Original Zur Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz am Beispiel digitaler Assistenten Henning Laux

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Einführung

Die Frage, ob in der sozialen Welt etwas als „natürlich“ oder „künstlich“ gilt, ist keineswegs trivial. Entlang dieses Unterscheidungsprinzips wird das Seiende zum einen klassifiziert und zum anderen einer impliziten Bewertung unterzogen. Das Etikett „künstlich“ geht dabei fast immer mit einer Abwertung einher. Wenn in der sozialen Welt konstatiert wird, dass etwas „künstlich“ aussieht, riecht, reagiert, schmeckt oder klingt, dann ist das kein Kompliment. Im Gegenteil: Es handelt sich dann aus Sicht der Bewertenden um ein Objekt, das als unzureichende Kopie eines natürlichen Vorbilds wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, wenn sich das Unbehagen in Bezug auf technische Objekte und ihre Effekte in der Gegenwartssemantik häufig darin ausdrückt, dass diese als künstlich, unnatürlich oder gar widernatürlich bezeichnet werden. So erhalten die Objekte einen gesellschaftlichen Stempel, der aus Sicht der Bewertenden signalisieren soll, dass sie eine umstrittene oder sogar riskante Angelegenheit darstellen, die aufgrund ihrer potenziellen Folgen sowohl für die biophysische Natur als auch das gesellschaftliche Zusammenleben auf den Prüfstand gehören. Soziologisch sind an diesem Klassifizierungsschema mindestens zwei Aspekte bemerkenswert. Zum einen wird als Orientierungs- und Vergleichsmaßstab das Kriterium der „Natürlichkeit“ herangezogen. Was aber ist damit gemeint? Auch das ist keineswegs eindeutig, das Wort hat eine doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite verweist es auf naturbelassene, unverarbeitete bzw. noch nicht kultivierte Dinge, deren Entstehung nicht auf einem menschlich initiierten und kontrollierten Herstellungsvorgang beruht. Demzufolge erscheint ein Apfel im Gegensatz zu einem belegten Brötchen eindeutig als „natürliches“ Produkt.1 Legt * Der Beitrag basiert auf einer empirischen Untersuchung im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts zum Thema „Disruptive Technologien. Zur Neuvermessung der Gesellschaft durch Clean Meat, Social Freezing und Digitale Assistenten“ (gefördert durch die FritzThyssen-Stiftung, 2019–2023). 1 Zumindest dann, wenn in der Alltagspraxis wie üblich davon abgesehen wird, dass der makellose, wohlgeformte, blank polierte und in Kunststoff verpackte Apfel aus dem Supermarktregal unter kontrollierten Bedingungen auf einer industriellen Obstplantage gereift ist. © Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_014

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man hingegen die zweite Bedeutungsvariante zugrunde, dann werden solche Dinge als „natürlich“ bezeichnet, die selbstverständlich, normal bzw. alltäglich (geworden) sind. Nach diesem zweiten Begriffsverständnis wäre nicht nur der besagte Apfel, sondern auch das Brötchen vollkommen „natürlich“, denn in beiden Fällen handelt es sich um vertraute Dinge des täglichen Lebens. Das „künstliche“ Ding ist aus dieser Perspektive nicht deshalb ein Problem, weil es gemacht ist, sondern weil es neu ist und von eingespielten Erwartungen und Gewohnheiten abweicht. Von hier aus lässt sich schlussfolgern, dass technische Innovationen eine zweifache Grenzüberschreitung darstellen, die als Grenzverletzung kritisiert oder als Grenzgewinn gefeiert werden kann. Denn erstens bringen technische Innovationen etwas Neues in die Welt, das vorhandene Möglichkeiten erweitert und Praktiken verändert. Sie machen etwas „verfügbar“ (Rosa 2020) und bringen etwas in Reichweite, das sich bislang dem menschlichen Zugriff entzogen hatte. Dabei werden neue Möglichkeiten erschlossen und bestehende Handlungsroutinen sowie Entwicklungspfade unterbrochen. Zweitens transformieren bzw. kultivieren technische Innovationen die Welt auf eine bestimmte Weise und verändern damit das gesellschaftliche Naturverhältnis. Sie hybridisieren die Welt und verwischen die Differenzen zwischen biophysischer Natur und sozialer Kultur. Technische Innovationen sind demzufolge gleich in doppelter Hinsicht „künstlich“. Soziologisch ist daher zu erwarten, dass ihre gesellschaftliche Verbreitung unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck steht. Sollte es einem Innovationsregime nämlich nicht gelingen, die „doppelte Künstlichkeit“ der hervorgebrachten Technologie sukzessive abzustreifen, dann bleibt das technische Objekt ein riskanter „Fremdkörper“, dessen gesellschaftliche Akzeptanz und Verbreitung unwahrscheinlich bleiben muss. Die vorliegende Abhandlung interessiert sich für das überaus dynamische Innovationsfeld der künstlichen Intelligenz, das bereits seit seiner Entstehungsphase von gesellschaftlichem Misstrauen begleitet wird. Wenige Jahre, nachdem der Begriff der „artificial intelligence“ im Jahr 1955 erstmals im akademischen Feld auftaucht (vgl. McCarthy et al. 1955), kommt 2001: A Space Odyssee in die Kinos. In einer der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte emanzipiert sich der intelligente Bordcomputer HAL von den Plänen seiner menschlichen Crew, als er versucht, sie aus dem Raumschiff auszusperren und im Weltraum sterben zu lassen. Mit künstlerischen Mitteln wird so ein Massenpublikum auf eindrückliche Weise vor einem folgeschweren Kontrollverlust gewarnt. Die Ausbreitung künstlicher Intelligenz in der Gesellschaft wird (spätestens) seit dem Jahr 1968 über sämtliche Kulturformate hinweg immer wieder zum Gegenstand von (kritischen) Bewertungen. Mal werden KIs als technische Verheißung gefeiert, mal werden sie als lebensbedrohliche

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Gefährdung der Menschheit imaginiert. Unabhängig vom jeweiligen Urteil wird stets an ihre doppelte Künstlichkeit erinnert: KIs erscheinen erstens als eine Nachbildung menschlicher Intelligenz (Spiegelthese) und zweitens als Unterbrechung eingeschliffener Handlungsroutinen (Transformationsthese). Während die Transformationsthese im Rahmen der folgenden Untersuchung auf verschiedenen Ebenen empirische Bestätigung erfährt, muss die weit verbreitete Spiegelthese mitsamt der damit verknüpften Rede über „künstliche Intelligenz“ letztlich als unzutreffend zurückgewiesen werden. Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst soll skizziert werden, was unter einer posthumanistischen Soziologie verstanden werden kann, die uns in die Lage versetzt, die gesellschaftliche Grenzziehung zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Elementen zu beobachten. Im zweiten Schritt werden die Kernelemente der posthumanistischen Theorie von Bruno Latour skizziert. Schließlich wird auf dieser Grundlage eine theoriegeleitete Analyse zur Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz unternommen, mit Fokus auf digitale Assistenten wie Alexa, Siri oder Google Assistant und auf der Basis von Interviews, Diskursanalysen und autoethnografischem Material.

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Posthumanismus und die Soziologie

2.1 Was ist Posthumanismus? In den letzten Jahren hat sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Denkströmung ausgebreitet, die unter dem Label des „Posthumanismus“ ganz verschiedene Forschungsfelder, Personen und Werke miteinander verlinkt. Dazu gehören vor allem philosophisch verankerte, ökologisch motivierte und technikzentrierte Ansätze mit Vertreter:innen wie Donna Haraway (2016), Anna Tsing (2015), Isabelle Stengers (1997), Rosi Braidotti (2013), Karen Barad (2007) oder Bruno Latour (2005). Ich möchte im Folgenden kurz skizzieren, welche geteilten Annahmen sich hinter dieser Zuordnung verbergen und inwiefern diese neue Denkströmung über den bisherigen Wissensbestand hinausgeht. Dabei werde ich mich allerdings auf die Frage beschränken, inwiefern der Posthumanismus eine Bereicherung für die Soziologie darstellt. Zunächst lässt sich konstatieren, dass die Soziologie seit ihrer Geburt in den Werken von Karl Marx, Georg Simmel, Max Weber oder Emile Durkheim intensiv damit beschäftigt war, „den“ Menschen zu dezentrieren. Dieser Ausgangsimpuls resultiert nicht zuletzt aus dem Versuch der jungen Disziplin, sich von konkurrierenden Fächern wie der Psychologie oder der Philosophie abzuheben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht dieses Grundmotiv seinen vorläufigen Höhepunkt: Michel Foucault (1966)

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verkündet öffentlichkeitswirksam den „Tod des Subjekts“ und Niklas Luhmann (1984) entwickelt eine umfassende Gesellschaftstheorie ausgehend von der zentralen Prämisse, dass der Mensch nicht länger als Teil der Gesellschaft begriffen werden darf. Luhmann und Foucault sind keine akademischen Grenzgänger: Sie gelten heute als führende Vertreter einer Soziologie, die um die strukturelle Dezentrierung des autonomen Subjekts kreist. Diese analytische Grundausrichtung der Soziologie zeigt sich nicht zuletzt an den zentralen Grundbegriffen der Disziplin: Diskurse, Funktionssysteme, Praxisformationen, Rechtfertigungsregime, Machtverhältnisse, Klassenstrukturen, demographische Entwicklungen, soziale Milieus, Akteurskonstellationen oder Kulturen. Bei all diesen Kategorien geht es nicht um das Verhalten einzelner Menschen, Akteure oder Individuen. Im Anschluss an Armin Nassehi (2019) lässt sich vielmehr konstatieren, dass die Soziologie schon immer mit der Entdeckung, Beschreibung und Erklärung von gesellschaftlichen „Mustern“ beschäftigt war.2 In dem gerade skizzierten Sinne ist die Soziologie also immer schon posthumanistisch ausgerichtet. Bei einem Blick auf die neueren Arbeiten von Latour, Haraway oder Tsing zeigt sich jedoch, dass die Soziologie bei der Dezentrierung des Menschen vielleicht noch nicht radikal bzw. konsequent genug vorgegangen ist. Obwohl sich die Disziplin nie für den Menschen als Gattung oder konkretes Individuum interessiert hat, sondern für gesellschaftliche Muster und Subjektformen, ist sie zweifellos bei der Vorstellung einer symbolisch strukturierten Menschen-Gesellschaft stehengeblieben, für deren Analyse das Verhältnis zur biophysischen Natur bzw. materiellen Welt keine systematische Bedeutung hatte. Dieser Zustand ändert sich erst mit dem Aufkommen posthumanistischer Strömungen seit den 1980er Jahren. Diese begnügen sich nicht mit einer „sozialstrukturellen“ Dezentrierung, sondern sie vollziehen etwas, das ich als „kosmologische“ Dezentrierung des Menschen bezeichnen möchte. Die symbolisch vermittelte Welt der Menschen steht nicht länger im Zentrum der Betrachtung, vielmehr geht es nun um das (globale) Zusammenspiel von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Es ist kein Zufall, dass dieses neue Bezugsproblem in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die wissenschaftliche Agenda gelangt ist. Als Motor für die Herausbildung posthumanistischer Ansätze innerhalb und außerhalb der Soziologie kann zum einen die zunehmende Technisierung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten gelten, denn dadurch geraten die Handlungsbeiträge technischer 2 Dieses Erkenntnisinteresse gilt nicht nur für relationale und holistische Ansätze, die den soziologischen Diskurs seit vielen Jahren dominieren, sondern auch für akteurzentrierte Zugänge wie die Rational Choice-Theorien.

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Artefakte auf die Monitore der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Zum anderen hat die Ökologiekrise durch den anthropogenen Klimawandel die Aufmerksamkeit für die Abhängigkeitsverhältnisse und Wechselwirkungen zwischen biophysischer Natur und symbolisch vermittelter Kultur erheblich gesteigert. Posthumanistische Ansätze setzen also im Grunde dort an, wo die Soziologie des 20.  Jahrhunderts häufig noch eine ontologisch unhinterfragte Schranke zwischen „künstlicher“ und „natürlicher“ (bzw. sozialer und materieller) Welt gesehen hatte. Posthumanistische Ansätze ziehen nicht länger eine Grenze zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, zwischen der Gesellschaft und ihrer vermeintlichen Umwelt, sondern sie beobachten, wo, wie, wann und warum in der Praxis konkrete Grenzen gezogen, Symbiosen eingegangen oder operative Verbindungen geknüpft werden. Damit öffnet die vielfältige Denkströmung des Posthumanismus den Blick für die biophysischen Voraussetzungen und innerweltlichen Verknüpfungen vermeintlicher Menschengesellschaften. Der analytische Fokus verlagert sich von der Fixierung auf materielle (Naturwissenschaften) und symbolvermittelte Welten (Geisteswissenschaften) hin zu den hybriden Assoziationen einer Welt, die aus der irreversiblen Verbindung „natürlicher“ und „künstlicher“ Elemente entstanden ist. Durch das damit artikulierte Interesse an innerweltlichen Verbindungen, Konstellationsdynamiken und Grenzziehungsprozessen verfolgt der Posthumanismus ein genuin sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm. 2.2 Bruno Latours posthumanistische Gesellschaftstheorie Um den komplexen Phänomenbereich der künstlichen Intelligenz analytisch genauer zu erfassen, möchte ich im Folgenden auf einen posthumanistischen Ansatz etwas genauer eingehen, nämlich auf die Soziologie der Existenzweisen von Bruno Latour.3 Im Grunde lässt sich Latours gesamtes Werk 3 Latour wird in der Forschungsliteratur regelmäßig als zentrale Figur bzw. Wegbereiter des Posthumanismus eingeordnet, positioniert sich aber an keiner Stelle selbst so. Seine diesbezügliche Zurückhaltung lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Erstens auf seine tief verwurzelte Aversion gegen sämtliche Post-Begriffe, da diese häufig ein Ende von etwas suggerieren, das aus seiner Sicht oftmals noch gar nicht richtig begonnen hat. Mit Latour wäre also zunächst einmal in Frage zu stellen, ob wir uns jemals in einer „humanistischen“ Welt bzw. Epoche befunden haben und was genau mit diesem Adjektiv gemeint sein könnte. Zweitens, und das ist sicherlich der wichtigere Punkt, stimmt Latour nicht in allen Punkten mit dieser Denkströmung überein. Er teilt zwar die analytische Perspektive der Posthumanist:innen, die im Zentrum dieses Beitrags steht, er lehnt aber die normative Stoßrichtung einiger Autor:innen ab. Anders als bei Donna Haraway findet sich bei ihm z. B. kein politisches Plädoyer für eine biotechnologische Amalgamisierung von Mensch, Tier und Maschine. Er

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als Auseinandersetzung mit der Frage verstehen, wie die symbolische Verbannung nichtmenschlicher Wesen aus der modernen Gesellschaft korrigiert werden kann. Im Rahmen wissenschaftssoziologischer, techniksoziologischer, zeitdiagnostischer, politiksoziologischer und sozialtheoretischer Studien hat er immer wieder auf die konstitutive Rolle der nonhumans aufmerksam gemacht. Dabei hat er nicht nur Phänomene wie Schlüsselanhänger, Anschnallgurte, Verkehrsschwellen, Kühlschränke, Wälder, Muscheln oder Ozonlöcher genauer beleuchtet, sondern auch eine ganze Reihe von theoretischen Denkfiguren entwickelt, die für die Zwecke einer posthumanistischen Grenz-, Assoziations- und Hybridisierungsforschung hilfreich erscheinen. Dazu gehören Konzepte wie: Symmetrie, Netzwerk, Assoziation, Kollektiv, verteilte Handlungsmacht, Aktant, Hybrid, Blackbox, Gaia oder zirkulierende Referenz. Latours Beiträge zum posthumanistischen Denken kulminieren schließlich in seinem gesellschaftstheoretischen Hauptwerk Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen (Latour 2014). Ich möchte nun auf drei zentrale Elemente dieses Werks eingehen, um von hier aus in einem letzten Schritt die Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz systematisch unter die Lupe nehmen zu können. Latour hat mit dem Buch Existenzweisen zunächst etwas vorgelegt, das als „relationale Differenzierungstheorie“4 bezeichnet werden kann. Damit liegt ein posthumanistisches Analyseraster vor, mit dem verschiedene Dimensionen der Vergesellschaftung von künstlicher Intelligenz untersucht werden können. Latour unterscheidet insgesamt fünfzehn verschiedene „Existenzweisen“, d. h. Formen der Vernetzung, die er als Wertschöpfungsprozesse mit spezifischen Erfolgsbedingungen beschreibt. Einige dieser Operationsketten erinnern an Differenzen, die bereits aus anderen Theorien bekannt sind. So spricht Latour z. B. von Formen der rechtlichen, politischen, wissenschaftlichen, religiösen und technischen Assoziation. Allerdings ist bei allen Existenzweisen immer mitgedacht, dass es sich dabei um Verkettungen aus menschlichen und nichtmenschlichen Wesen handelt. Um kenntlich zu machen, dass seine Kategorien in ihrer Bedeutung von den vertrauten Begriffen abweichen, erhalten die Existenzweisen ein Kürzel in eckigen Klammern, also [REC] für Recht, [POL] für Politik oder [TEC] für Technik. Darüber hinaus gibt es auch eine beträchtliche Zahl von Existenzweisen, für die es in der Soziologie keine direkten Vorbilder gibt, dazu gehören Operationsketten wie Doppelklick konzentriert sich vielmehr im Einklang mit Autor:innen wie Anna Tsing auf die Analyse der vielschichtigen Abhängigkeitsverhältnisse von Menschen und Nicht-Menschen. 4 Für die folgende Darstellung vgl. ausführlich: Laux (2016) sowie Gertenbach/Laux 2018 (Kap. 6).

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[DC], Metamorphose [MET], Organisation [ORG], Präposition [PRÄ], Reproduktion [REP] oder Fiktion [FIK]. Die Grundidee dieser Theorie lautet nun, dass Entitäten in unserer Welt nicht einfach da sind oder eben nicht, sondern dass sie erst im Rahmen (moderner) Existenzmodi hervorgebracht werden und je nach Modus verschiedene Gestalten annehmen. So existiert ein Berg im Modus der Reproduktion [REP], d. h. der Berg muss sich gegen innerweltliche Widerstände wie Erosion und Zerfall behaupten, sonst ist er kein Berg mehr, sondern nur noch ein Haufen Schutt, Eis oder Geröll. Als Wesen der Reproduktion hört er auf zu existieren, sobald die Reproduktion nicht mehr gelingt. Der Berg zirkuliert aber nicht nur als Wesen der Reproduktion in der Welt, sondern auch als Wesen der Referenz [REF]. Im Rahmen kartographischer Prozesse kann der Berg als zweidimensionale Fläche auf einer Landkarte in die Gesellschaft eingeklinkt werden. Dieser Berg unterscheidet sich dann radikal von der ersten Realitätsdimension, denn im [REF]-Modus lässt er sich nun einfach zusammenfalten und in einem Rucksack transportieren, so dass er vor Wind und Wetter geschützt ist. Der Berg hat in dieser Form sein immenses Gewicht, seine eisigen Gletscher und zerklüfteten Strukturen verloren. Die gestrichelten Linien und schraffierten Flächen, die er im Modus der Referenz erhält, erinnern nur noch entfernt an den dreidimensionalen Berg im [REP]-Modus. Doch damit nicht genug, der Berg kann viele weitere Realitätsschichten erlangen. In politischen Operationsketten [POL] kann er zum umkämpften Territorium an der Grenze verfeindeter Staaten avancieren, in fiktionalen Wertschöpfungsprozessen [FIK] verwandelt er sich z. B. in eine wildromantische Kulisse für eine mitreißende Liebesgeschichte, im Modus der Technik [TEC] kann er zur physischen Herausforderung im Kampf der Netzbetreiber gegen Funklöcher figuriert werden und im Rahmen religiöser Vernetzungsprozesse [REL] kann sich der vieldimensionale Berg mittels wundersamer Ereignisse jederzeit in eine heilige Pilgerstätte verwandeln. Bei den hier aufgeführten Modi der Vergesellschaftung handelt es sich Latours Auffassung nach nicht um verschiedene Perspektiven auf einen einzigen Berg, von denen sich sagen ließe, dass eine Perspektive umfassender, angemessener oder basaler wäre als alle anderen. Vielmehr geht es Latour um ontologisch gleichberechtigte, sich gabelnde Existenzwege, die ganz unterschiedliche Versionen „des“ Berges innerhalb unserer Welt hervorbringen. Dem Anspruch nach lässt sich dieses Theoriemodell nun auf sämtliche belebten und unbelebten Entitäten übertragen: Egal ob Menschen, Tiere, Bakterien, Götter, Wörter, Staaten oder Ideen – sie alle können ins Visier dieses posthumanistischen Modells geraten. Wie eine davon angeleitete Forschung aussehen könnte, bleibt bei Latour freilich weitgehend offen. Daher ist es

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erforderlich, die Theorie an dieser Stelle noch ein wenig weiter zu denken, um damit soziologisch interessante Phänomene untersuchen zu können. Die eigentliche Innovation Latours scheint mir dabei weniger in der Freilegung irreduzibler Existenzweisen zu liegen, als vielmehr darin, dass die ontologisch gestellte Frage nach der Existenz bzw. Nicht-Existenz von Entitäten mit seiner Hilfe umgewandelt werden kann in eine non-binäre, genuin soziologische Frage nach dem jeweiligen Realitäts- bzw. Vergesellschaftungsgrad einer Entität. Ausgehend von Latour lässt sich dann wie folgt argumentieren: Je mehr Existenzweisen eine bestimmte Entität aufweist, desto realer ist sie, desto besser ist sie in der Welt verankert, desto höher ist ihre Wirkung auf andere Entitäten und desto eher wird sie folglich intersubjektiv als „wirklich“, „echt“ oder „natürlich“ anerkannt. Der von Latour eröffnete Perspektivwechsel hin zum Vergesellschaftungsgrad von Entitäten lässt sich an einem Wesen verdeutlichen, dessen Existenz regelmäßig mit guten Gründen bestritten wird. Ein ontologischer Reflex erwachsener Personen besteht bekanntlich darin, Einhörnern (ähnlich wie Gespenstern, Zombies, Drachen oder Vampiren) kategorisch die Existenz abzusprechen. Aus Sicht einer Soziologie der Existenzweisen lässt sich dagegen beobachten, wie Einhörner auf verschiedenen Realitätsebenen völlig unbehelligt durch die Gesellschaft zirkulieren. Dabei stößt man zunächst auf fiktionale Kontexte wie Zeichnungen, Bücher, Filme oder Werbespots. Von hier aus dringen Einhörner scheinbar mühelos in weitere Realitätsbereiche vor, wo sie sich in geliebte Spielfiguren, profitable Waren oder kulturwissenschaftliche Forschungsobjekte verwandeln. Wer Latours Theoriebrille aufsetzt, kann die Existenz von Einhörnern nicht mehr sinnvoll bestreiten. Einhörner erweisen sich vielmehr als erstaunlich weit verbreitete Mitglieder der modernen Gesellschaft. Sie spielen zwar keine Hauptrolle für die Basisinstitutionen moderner Gesellschaften, weil sie (noch) nicht als lebendige Körper, verantwortliche Rechtssubjekte, wahlberechtigte Bürgerinnen oder sakrale Wesen durch die Gesellschaft zirkulieren. Doch das ist kein kategorialer, sondern eher ein gradueller Mangel an Realität, der im Zeitalter der Biotechnologien sogar verschwinden könnte, wenn nämlich Pferden durch gezielte Genmanipulation irgendwann ein Horn auf der Stirn wächst. Unabhängig von diesem durchaus realistischen Szenario können wir mit Latour sehen, dass Einhörner bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt erstaunlich viele Stockwerke der Realität bevölkern. Auf ihren Existenzwegen hinterlassen sie deutlich sichtbare Spuren in der Gesellschaft, indem sie uns z.  B. fröhlich, nachdenklich, traurig oder reich machen. Mithilfe von Latours posthumanistischer Heuristik möchte ich nun die verschiedenen Wege erörtern, auf denen künstliche Intelligenz in Form

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von digitalen Assistenten in die Gesellschaft eingekuppelt wird. Dafür muss zunächst die Frage aufgeworfen werden, mit welcher Art von Wesen wir es hier eigentlich zu tun haben.

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Soziologie der Künstlichen Intelligenz: Digitale Assistenten

3.1 Was sind digitale Assistenten? Künstliche Intelligenz begegnet uns im 21.  Jahrhundert in verschiedenen Gestalten, Kontexten und Entwicklungsstufen. Mit zunehmender Selbstverständlichkeit interagieren wir mit Suchmaschinen, Empfehlungssystemen, smarten Implantaten oder maschinellen Übersetzern. Um diese explorative Analyse nicht mit allgemeinen Betrachtungen zu überfrachten, liegt der Fokus der folgenden Erörterung auf dem Bereich der digitalen Assistenten (bzw. virtuelle Assistenten, Sprachassistenten). Seit wenigen Jahren verbreiten Technologiekonzerne unter dieser neuen Kategorie sprachbegabte Entitäten wie Alexa (Amazon), Bixby (Samsung), Siri (Apple), Google Assistant (Google), Watson (IBM) oder Cortana (Microsoft) in der Gesellschaft. Beim ersten Zusammentreffen mit einem digitalen Assistenten (kurz: DA) zeigen sich die meisten Personen erstaunt, fasziniert, erschrocken oder sogar ängstlich. Die starken Gemütsäußerungen beim ersten Kontakt sind kaum verwunderlich, immerhin brechen die DAs mit dem menschlichen Erfahrungswissen im Hinblick auf das Verhalten technischer Objekte.5 Telefone, Computer, Lautsprecher, Fernseher oder Autos haben bislang darauf gewartet, dass sie per Knopfdruck oder Tastatureingabe bedient werden. Doch nun verstehen diese unbelebten Dinge plötzlich nicht nur, was wir sagen, sondern sie reagieren sogar in natürlicher Sprache auf unsere Anliegen. Doch mit wem oder was kommunizieren wir da eigentlich? Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich die ansonsten so mitteilsamen DAs ausgerechnet der vermeintlich simplen Frage nach ihrer Existenzweise zu entziehen suchen. Wenn man Alexa, Siri oder den Google Assistant also ganz direkt danach fragt, wer oder was sie sind, bekommt man eine doppeldeutige, ironische oder nebulöse Antwort. Die DAs figurieren sich selbst interessanterweise (fast) nie in eindeutiger Weise als Mensch oder Maschine, sie bleiben 5 Technische Imitationen sind mit Risiken verbunden. Im Rahmen sozialpsychologischer Experimente wurde z. B. der „uncanny valley“-Effekt (Mori et al. 2012) entdeckt. Demnach bricht die Akzeptanz für technische Objekte schlagartig ein, sobald ein gewisses Level der Anthropmorphisierung erreicht ist. Wenn ein technisches Wesen (Roboter, Avatar, Chatbot, DA etc.) dem Menschen also zu ähnlich wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb der Gesellschaft auf Ablehnung und Widerstand stößt.

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in ihren Selbstbeschreibungen ontologisch unbestimmt und bezeichnen sich am liebsten als „Helfer“ oder „Assistenten“. Es sind also die User selbst, die eine (implizite) Antwort darauf geben müssen, wie ihre eigentümlichen Interaktionspartner zu klassifizieren sind. In der Praxis finden wir mindestens vier verschiedene Formen der Kategorisierung. Im Rahmen des Objektnarrativs werden die sprechenden Geräte von ihren menschlichen Nutzer:innen als bloße Objekte, d. h. als unbelebte und passive Dinge vorgestellt, die eine Kommunikation zwischen räumlich getrennten Personen ermöglichen. Die erstaunlichen Fähigkeiten der DAs werden damit erklärt, dass sich hinter dem Objekt ein einzelner, echter Mensch verbergen muss, der von einem unbekannten Ort zuhört und die persönlichen Wünsche der Userin in Echtzeit bearbeitet. Sofern es zu wiederholten Begegnungen mit einem DA kommt, verliert diese objektivierende Deutung freilich sehr schnell ihre Plausibilität. Denn bei genauerer Betrachtung sprechen einfach zu viele Indizien dagegen, DAs als dauerhafte Telefonverbindung zu einem persönlichen Serviceanbieter zu begreifen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass selbst Kleinkinder bereits nach wenigen Interaktionsepisoden feststellen, dass „die Frau in diesem Lautsprecher irgendwie komisch“ ist. Die Theorie vom Menschen hinter der Maschine hat also in aller Regel nur eine sehr geringe Halbwertszeit, bevor sie in der alltäglichen Deutungspraxis als unzutreffend verworfen wird. Innerhalb des Spionagenarrativs werden die sprechenden Geräte hingegen als unerhört offenkundige Abhöranlagen datenhungriger Konzerne vorgestellt. Die DAs erscheinen dabei als Instrument zur Sammlung von Informationen, als „trojanisches Pferd“, das den Konzernen nun auch noch die Tür zu den intimsten Geheimnissen der Nutzer:innen öffnet. In kritisch gestimmten Öffentlichkeiten werden DAs daher häufig auch als „Wanzen“ verunglimpft, die ohne das Wissen ihrer arglosen Besitzer:innen sämtliche Privatgespräche mithören und an ihre Entwicklungsabteilungen weiterleiten. Die besonderen Fähigkeiten der DAs sind für die Anhängerschaft der Spionageerzählung hingegen nicht weiter von Interesse, im besten Fall gelten ihre Hilfsfunktionen als alberne Spielereien, im schlechtesten Fall als Ablenkungsmanöver, welche den wahren Zweck der DAs verschleiern sollen. Etwaige Kontroversen über den ontologischen Status der DAs verblassen in diesem kritischen Diskursstrang somit hinter der Sorge vor einer Verletzung der Privatsphäre. Im Narrativ der künstlichen Intelligenz werden den sprechenden Geräten menschliche Eigenschaften wie Bewusstsein, Intelligenz, Empathie oder Kreativität zugeschrieben. Sie werden als reflexive, verantwortliche und eigenständige Akteure mit individueller Persönlichkeit und körperlichen Attributen figuriert, die (mithilfe von Mikrofonen und Kameras) letztlich genauso

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hören, sprechen und sehen können wie ein Mensch. Wie der algorithmisierten Liste möglicher Konversationsthemen zu entnehmen ist, sind Fragen nach der Haarfarbe, dem Geschlecht, dem Geburtsort, der Schulbildung oder dem Familienstand der DAs äußerst beliebt bei den User:innen. Und obwohl derartige Fragen vermutlich selten wirklich erstgemeint sind, sind sie ein guter Indikator dafür, dass die uneindeutige Existenzweise der DAs Neugier weckt und Phantasien beflügelt. Die Nutzer:innen gehen aufgrund der ausgereiften Sprachkompetenz der DAs offenkundig davon aus, dass es sich bei ihren Interaktionspartnern um Wesen mit „künstlicher Intelligenz“ handeln muss, die daraufhin befragt und geprüft werden können, in welchen Hinsichten sie ihrem natürlichen Original ähneln. Entsprechend geht es in diesem Klassifizierungsmodus immer wieder um die Frage danach, ob und ggf. wann DAs nicht mehr von einem Menschen zu unterscheiden sein werden. Im Normalitätsnarrativ werden die DAs schließlich so behandelt, als wären sie ein weitgehend unspektakuläres Produkt des technischen Fortschritts. Sie erscheinen als Computer, denen irgendjemand beigebracht hat zu sprechen. Ihre Besonderheit besteht also darin, dass sie ein sprachliches Interface zur Verfügung stellen, ansonsten werden sie aber wie alle anderen Geräte behandelt, nämlich als Instrumente, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Sie haben demzufolge keinen disruptiven oder exzeptionellen Charakter, sondern stellen einfach eine inkrementelle Weiterentwicklung bisheriger Rechenmaschinen dar. Aus diesem pragmatischen Alltagsverständnis heraus sind DAs also weder bedrohlich noch besonders menschlich, faszinierend oder geheimnisvoll. Es geht hier nicht um existenzielle Grenzfragen, sondern um alltägliche Probleme wie eine stabile Internetverbindung, die reibungslose Steuerung smarter Geräte oder die Einstellung der richtigen Gesprächslautstärke. Dieser routinierte und weitgehend unkritische Umgang mit den DAs ist vermutlich die dominante Form in den Smart Homes der Gegenwart. Trotz gravierender Unterschiede haben die gerade skizzierten Formen der gesellschaftlichen Figuration von DAs aus der im Folgenden vertretenen Perspektive eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie verkennen die historische Besonderheit der DAs. Denn alle vier Formen der Klassifikation gehen davon aus, dass sie es mit einer technisch erzeugten Kopie einer bereits bekannten Existenzform zu tun haben. Wie wir gesehen haben, werden DAs als „Telefon“ (Objektnarrativ), „Wanze“ (Spionagenarrativ), „künstliche Intelligenz“ (KI-Narrativ) oder „Computer“ (Normalitätsnarrativ) figuriert. In der Folge werde ich im Kontrast zu diesen konventionellen Deutungsversuchen zu zeigen versuchen, dass wir es bei den DAs mit einer bislang unbekannten Existenzform zu tun haben.

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3.2 Die Existenzweise(n) digitaler Assistenten Um zu zeigen, wer oder was an dieser Stelle in die moderne Gesellschaft eingeklinkt wird, greife ich auf empirisches Material zurück, das mit drei Methoden erhoben wurde. Erstens führe ich Interviews mit DAs. Hierfür werden vier verschiedene DAs ausgewählt (Alexa, Siri, Bixby und Google Assistant), die seit 2019 in regelmäßigen Abständen auf Basis eines Leitfadens befragt werden. So werden zum einen die (einprogrammierten und erlernten) Selbstbeschreibungen der Assistenten erfasst. Und zum anderen wird durch die wiederholte Befragung dem Umstand Rechnung getragen, dass sich ihre „Persönlichkeit“ aufgrund von Updates und Individualisierungen verändert. Seit 2020 findet zweitens eine Auto-Ethnografie statt. Dafür ist ein Smart Home eingerichtet, in dem das Zusammenleben mit DAs erforscht wird. Zu diesem Zweck wird ein Feldtagebuch geführt, in dem Erfahrungen bei der Interaktion festgehalten werden. Schließlich wird drittens eine Diskursanalyse durchgeführt, bei der die öffentliche Debatte rund um DAs zunächst anhand von klassischen Leitmedien wie FAZ, Spiegel, Zeit, Süddeutsche oder taz rekonstruiert wird. Darüber hinaus werden Spezialdiskurse in Technikmagazinen und -portalen (Verge, CHIP, c’t, CNET, PCWorld, golem, Heise Online) sowie in Developer Communities, Watchblogs und Tech-Podcasts herangezogen. Als Kontrapunkt zu den eher affirmativen Darstellungen in technikaffinen, industrienahen Communities werden kritische Debatten rund um Privatsphäre, Datenschutz, Nachhaltigkeit und Kontrollverlust mithilfe von Studien und Dossiers erhoben, die von Verbraucher-, Umwelt- und Datenschutzorganisationen aktiv in den öffentlichen Diskurs eingespeist werden. Weiterhin wurden Gesprächsprotokolle und Expertisen aus genuin politischen Institutionen wie Bundestag, Ministerien sowie Ämtern und Behörden in die Analyse miteinbezogen, sofern sich diese explizit mit der Rolle von DAs auseinandersetzen. Diese umfangreiche Materialsammlung bildet den Hintergrund für die folgende Untersuchung, in deren begrenzten Rahmen jedoch nur selektiv und punktuell darauf zurückgegriffen werden kann. Im Lichte des bislang erhobenen Materials und mithilfe des Theoriemodells von Bruno Latour werde ich nun nacheinander die wichtigsten Existenzwege skizzieren, auf denen sich DAs in der gegenwärtigen Gesellschaft ausbreiten. [REF] Modus der Referenz: Wie so häufig, wenn neue oder bislang unbekannte Entitäten die Bühne des Sozialen betreten, lässt sich ihre anfängliche Spur bis hinein in das Feld der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zurückverfolgen. Überlegungen zu intelligenten Maschinen gab es bereits in der antiken Philosophie, als Startschuss der heutigen Entwicklung wird jedoch am häufigsten auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1950 sowie eine interdisziplinäre Konferenz im Jahr 1956 verwiesen. Der Mathematiker Alan Turing schlägt

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in seinem Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“ (Turing 1950) ein Testverfahren vor, mit dem die Intelligenz von Maschinen (im Vergleich zur natürlichen Intelligenz des Menschen) bestimmt werden kann. Im Rahmen einer experimentellen Versuchsanordnung, die er als „Imitation Game“ bezeichnet, führt ein Proband per Computerchat ein Gespräch mit zwei Entitäten. Der Proband soll nun durch gezielte Fragen herausfinden, welcher seiner Gesprächspartner eine Maschine ist. Gelingt es der beteiligten Maschine, ihre maschinelle Existenz in einem mehrminütigen Gespräch vor dem menschlichen Fragensteller zu verschleiern, hat sie den „Turing-Test“ bestanden und gilt als intelligent. Wenige Jahre nach Turings Publikation versammelten sich auf der berühmten „Dartmouth Conference“ in New Hampshire/USA zehn Wissenschaftler an der Schnittstelle zwischen Mathematik und Informatik und prägten dort den Begriff der „künstlichen Intelligenz“ (kurz: KI). Im damaligen Antrag für die Konferenz bei der Rockefeller Foundation hieß es dazu: The study is to proceed on the basis of the conjecture that every aspect of learning or any other feature of intelligence can in principle be so precisely described that a machine can be made to simulate it. An attempt will be made to find how to make machines use language, form abstractions and concepts, solve kinds of problems now reserved for humans, and improve themselves. We think that a significant advance can be made in one or more of these problems if a carefully selected group of scientists work on it together for a summer (McCarthy et al. 1955).

Bereits mit dieser ersten KI-Konferenz und dem Turing-Test wurden in den 1950er Jahren drei Bezugsprobleme aufgerufen, die für die Genese und weitere Entwicklung des Forschungsfeldes von konstitutiver Bedeutung sind: Erstens wird Intelligenz seitdem in der Regel mit der Fähigkeit zum Lernen gleichgesetzt, was unter anderem erklärt, wie das machine learning zum dominanten Zweig auf dem Gebiet der heutigen KI-Forschung werden konnte. Zweitens wird die Entwicklung intelligenter Maschinen als Prozess vorgestellt, bei dem es ganz explizit um die Nachahmung menschlicher Intelligenz geht. So ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, zu dem neben Informatik und Mathematik auch Sprach-, Kognitions- und Neurowissenschaften gehören. Drittens gibt es im Anschluss an die beiden Gründungsszenen der KI eine bis heute andauernde Kontroverse in Bezug auf das übergeordnete Ziel der Forschung. Sollen KIs konstruiert werden, die menschliches Verhalten lediglich simulieren (schwache KI, engl.: weak AI) und sich dabei auf die Bewältigung spezifischer Aufgaben konzentrieren (spezifische KI, narrow AI)? Oder geht es um die Konstruktion von Wesen mit eigenem Bewusstsein (starke KI, strong AI), welche die Fähigkeit zur Lösung sämtlicher Aufgaben haben, die ein

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Mensch ausführen kann (allgemeine KI, general AI)? Diese Grundsatzfrage hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die KI-Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ruhelos zwischen Euphorie über (vermeintliche) Erkenntnisfortschritte und Verzweiflung über (vermeintliche) Entwicklungssackgassen oszillierte. Erst mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert ist dieser Richtungsstreit unter Expert:innen vorläufig verstummt. Denn während auf dem Weg zu einer starken und/oder allgemeinen KI über viele Jahrzehnte hinweg kaum nennenswerten Erfolge erzielt wurden, sind auf dem Gebiet der spezifischen bzw. schwachen KI in jüngster Zeit erstaunliche Fortschritte zu verzeichnen. Der neuerliche Optimismus basiert nicht zuletzt auf der Entwicklung von DAs, denn mit Alexa, Siri, Google Assistant & Co ist es gelungen, (schwache) KIs in Alltagsgeräte wie Lampen, Handys, Lautsprecher, Fernseher, Kühlschränke oder Autos einzubauen. Die DAs gelten als wichtige Belegexemplare für die Fruchtbarkeit jahrzehntelanger Grundlagenforschung. [TEC] Modus der Technik: Damit sich die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz in Alltagsgeräten wie Handys, Lautsprechern oder Fernsehern materialisieren konnte, war freilich ein fundamentaler Wandel der technischen Infrastrukturen erforderlich. Dazu gehört vor allem die immense Steigerung der Rechnerkapazitäten und Übertragungsgeschwindigkeiten. Erst unter den technischen Voraussetzungen der digitalen Gegenwart können „künstliche neuronale Netzwerke“ (kurz: KNN), ein wissenschaftliches Modell zur Informationsverarbeitung aus den 1950er Jahren, gewinnbringend zum Einsatz gebracht werden. Algorithmen müssen bei dem durch die neuronalen Netze ermöglichten deep learning nicht mehr in herkömmlicher Weise für alle Eventualitäten programmiert werden, denn sie verbessern sich nun – unter menschlicher Aufsicht – selbst. Dafür wird ein neuronales Netz mit mehreren Ein- und Ausgabeschichten programmiert, das physikalisch auf konventionellen Computerchips läuft und in Konfrontation mit umfangreichen Trainingsdaten zu lernen beginnt. Im Lichte einer vorgegebenen Aufgabenstellung bildet und löscht das Netz selbstständig Verbindungen und Neuronen oder verändert die zu Beginn von Programmierer:innen gesetzten Schwellenwerte und Gewichte. Künstliche neuronale Netzwerke sind dem menschlichen Gehirn nachempfunden, sie lernen aus Erfahrung nach dem Trial-and-Error-Prinzip, finden eigene, kreative Lösungen für spezifische Aufgaben und können sich auf Gebieten wie der Bilderkennung, dem Schachspiel oder der Übersetzung mittlerweile problemlos mit Menschen messen. An der Kreuzung zwischen wissenschaftlicher Grundlagenforschung und technischer Umsetzung wirkt die eingangs erwähnte Spiegelthese und die damit einhergehende Zuschreibung von „künstlicher Intelligenz“ also

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durchaus plausibel.6 Das gilt vor allem dann, wenn Programme etwas lernen, das bislang exklusiv den Menschen vorbehalten war: das Sprechen. Bereits im Jahr 1780 präsentierte der ungarische Ingenieur Wolfgang von Kempelen der Öffentlichkeit eine mechanische „Sprechmaschine“, die dazu in der Lage war, einfache Begriffe wie „Mama“ oder „Papa“ zu sagen. Hierfür wurde der menschliche Stimmapparat physikalisch nachgebaut: Ein Blasebalg diente als Lunge, eine Zungenpfeife simulierte die Stimmlippen und ein großer Trichter fungierte als Mundraum (Brackhane 2015). Heute können wir uns mit digitalen Assistenten wie Alexa, Siri, Cortana oder Google Assistant in natürlicher Sprache verständigen, weil sie sich in Aufbau und Funktionsweise ganz erheblich vom menschlichen Stimm- und Hörapparat unterscheiden. Auch hier spielt Technik eine entscheidende Rolle: Durch Mikrofone erfassen DAs analoge Audiosignale, die sie in digitale Signale umwandeln. Letztere werden unmittelbar aufbereitet, indem die User:innen-Stimme von den sonstigen Umgebungsgeräuschen isoliert wird. Sobald das Aktivierungswort („Alexa!“, „Hey Siri!“, „Okay Google!“ etc.) erkannt ist, startet die Sprachaufzeichnung und der DA leitet das digitalisierte Audiosignal über eine WiFi-Verbindung an die Cloud des Herstellers weiter. In der Cloud beginnt dann die Spracherkennung im engeren Sinne. Das digitalisierte Audiosignal wird in Frequenzen zerlegt und in einem Spektrogramm dargestellt, das von darauf trainierten Algorithmen analysiert und in einzelne Wörter und Sätze transformiert wird (speech-to-text). Anschließend wird der verschriftlichte Satz mithilfe eines anderen Algorithmus in seine semantischen und grammatikalischen Bestandteile zerlegt, um die Bedeutung und den Kontext der Aussage zu erschließen (natural language understanding). Ausgehend von dem so interpretierten Signal menschlicher User:innen greift der DA auf entsprechende Dienste, Programme oder Datenbanken zurück, um die Anfrage zu bearbeiteten. Dafür wird zum einen auf Informationen zurückgegriffen, die auf klassischer Programmierarbeit beruhen. Dazu gehört vor allem die Reaktion auf Anfragen, die sich auf die Identität und das Aufgabenspektrum der DAs beziehen. Zu Fragen nach Alter, Geschlecht, Herkunft oder Fähigkeiten der DAs gibt es ein Set an vorprogrammierten Antworten, die von kulturspezifischen Persönlichkeitsteams der Hersteller erstellt werden. Eine zweite Ressource stellt die Verlinkung mit Wissens- und Informationsdatenbanken wie Wikipedia dar. Viele Anfragen werden beantwortet, indem passende Sätze oder Bilder aus einer der dem jeweiligen Unternehmen zugänglichen Online-Datenbanken abgerufen 6 Ich werde später darauf eingehen, warum dieser Begriff angesichts von KIs wie den digitalen Assistenten der Gegenwart bei genauerer Betrachtung trotzdem komplett irreführend ist.

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werden. Eine dritte Funktionskomponente ergibt sich aus der Vernetzung mit anderen Programmen oder Geräten. Über Programmierschnittstellen wird es möglich, dass DAs auf einem Mobilfunkgerät oder im Smart Home andere Dienste starten oder steuern. Auf diese Weise kann ein DA Musik abspielen, einen Termin eintragen, eine Wegbeschreibung zeigen oder das Licht anschalten. Die Rückmeldung der in Anspruch genommenen Dienste oder Datenbanken kommt schließlich als Textinformation an den DA zurück, die dann für die User:innen in gesprochene Sprache umgewandelt wird (text-tospeech). Ein Sprachsynthesizer reiht Tonsequenzen mit den entsprechenden Schalleigenschaften für Vokale, Konsonanten oder ganze Wörter aneinander und generiert so ein digitales Audiosignal. Erneut kommen zur Bewältigung dieser Aufgabe selbstlernende Algorithmen zum Einsatz, um dem Synthesizer eine möglichst natürliche Aussprache zu verleihen. Das digitale Signal wird schließlich aus der Cloud an die lokalen Lautsprecher des DAs weitergegeben und in ein hörbares Signal umgewandelt, so dass die User:innen eine Sprachantwort auf ihre Frage erhalten. Der gesamte Prozess dauert im Erfolgsfall von der User:innen-Anfrage bis zur DA-Antwort nicht länger als eine Sekunde und kann sich durchaus mit der Interaktionsgeschwindigkeit menschlicher Kommunikation messen.7 Die technische Operationskette bleibt für die User:innen vollkommen unsichtbar, sie stellen eine Frage und bekommen (im besten Fall) eine Antwort. Das Innenleben der DAs bleibt eine technische Blackbox, deren Inhalt nicht weiter interessiert, solange alles funktioniert. In technischer Hinsicht bilden die DAs ein sprachliches Interface zwischen Mensch und Maschine, das im Gegensatz zu konventionellen Knöpfen oder Tatstaturen eine „natürliche“ Interaktion mit technischen Geräten ermöglichen soll. Die Imagination eines anthropomorphen Interaktionspartners kann freilich nur entstehen, wenn die technische Existenzweise der DAs als komplexe Assemblage aus Mikrofonen, Kameras, Stromkabeln, Serviceplattformen, Programmierschnittstellen, Cloudstrukturen, Datenbanken und Algorithmen komplett ausgeblendet wird. [ORG] Modus der Organisation: Wenn sich die Entwicklung von KIs nur im Feld der Wissenschaft oder in technischen Werkstätten abgespielt hätte, so wären wir heute sicherlich noch nicht über das Level mathematischer Modelle und isolierter Prototypen hinaus. Ohne den organisationalen Rahmen großer 7 Es gibt freilich im Alltag viele Situationen, in denen das nicht funktioniert. Das kann zum einen am DA selbst liegen, weil er eine Anfrage nicht versteht oder nicht beantworten bzw. ausführen kann. Oder es kann an der technischen Infrastruktur des Smart Homes liegen, in dem es an einer (stabilen) Internetverbindung mangelt, so dass die Cloud nicht erreichbar ist.

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Technologiekonzerne wären DAs also in ihrer heutigen Form undenkbar. Im Gegensatz zu Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen verfügt die Privatwirtschaft über drei zentrale Ressourcen: umfangreiches Investitionskapital (das u. a. in die Akquise renommierter Expert:innen und teurer Geräte fließen kann), globale Vertriebskanäle (wie die Verkaufsplattformen von Apple, Google oder Amazon) und riesige Datenmengen (durch systematische Sammlung und strategischen Ankauf von Nutzer-Daten). Der Zugang zu Daten ist dabei sicherlich der wichtigste Vorteil für privatwirtschaftliche Unternehmen, denn die KI-Systeme zur Sprach-, Bild- oder Mustererkennung sind nur so gut, wie die Daten, mit dem sie gefüttert und trainiert werden. Entsprechend ist es alles andere als erstaunlich, dass der aktuelle Markführer unter den DAs aus dem Hause Google kommt, denn das Unternehmen verfügt aufgrund seiner marktbeherrschenden Stellung im Bereich der Internetsuche über ein nahezu unerschöpfliches Datenreservoir. Die Frage danach, wer sie konstruiert, erfunden bzw. erschaffen hat, beantworten Alexa, Siri oder Google Assistant im Interview daher auch mit Hinweis auf die Entwicklungsabteilungen ihrer Hersteller. Über computerwissenschaftliche Vordenkerinnen oder technische Pioniere verlieren sie hingegen kein Wort. Die DAs haben sich auf dem Weltmarkt innerhalb weniger Jahre zu zentralen Projektionsflächen für die Innovationskraft globaler Konzerne entwickelt. Egal ob Huawei, Daimler, Samsung, Alibaba, Apple, Siemens, Bosch, IBM, Microsoft oder VW – es gibt seit dem ersten Auftritt von Siri im Jahr 2011 kaum ein technikaffines Großunternehmen, das nicht damit beschäftigt wäre, seinen eigenen digitalen Assistenten zu kreieren. Doch woran liegt das? Es darf durchaus bezweifelt werden, dass die milliardenschweren Investitionen in den kommenden Jahren bereits irgendwelche Gewinne abwerfen werden. Das ökonomische Kalkül scheint vielmehr auf zwei Überlegungen zu beruhen. Zum einen wäre da die existenzbedrohliche Angst vor einem disruptiven Wandel mit irreversiblen Lock-in-Effekten. Sollten sich DAs nämlich in Zukunft als bevorzugte MenschMaschine-Schnittstelle durchsetzen, so hätten sie als Gatekeeper einen erheblichen Einfluss darauf, in welchem Produktuniversum die User:innen fortan ihr Geld ausgeben. Im Kampf um Markanteile konkurrieren Herstellerfirmen um einflussreiche Geschäftspartnerschaften und exklusive Verträge, damit sich der hauseigene Assistent schnell in möglichst vielen Geräten und Apps ausbreiten kann. Die DAs fungieren allerdings nicht nur als strategisch wichtige Werkzeuge zur Kundenbindung. Denn während sie in Smart Homes, Cars und Phones damit beschäftigt sind, für ihre Besitzer:innen einen Wecker zu stellen, Rezepte vorzulesen, Lieblingslieder zu spielen oder Witze zu erzählen, arbeiten sie simultan dazu auch daran, einen Rohstoff zu schürfen, der im digitalen Kapitalismus unverzichtbar geworden ist: die Daten der User:innen.

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In ökonomischer Hinsicht erscheinen DAs daher als ideale Informationssammler, die den Herstellerfirmen dabei helfen, das menschliche (Konsum-) Verhalten immer besser vorherzusagen. [FIK] Modus der Fiktion: Wie wir bereits zu Beginn des Textes gesehen haben, zirkuliert künstliche Intelligenz nicht nur im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion, technischer Problemlösung oder industrieller Wertschöpfung, sondern auch und gerade im Rahmen fiktionaler Operationsketten. Die Beschäftigung mit intelligenten Maschinen in Romanen, Hörspielen, Filmen oder Videospielen hat eine lange Vorgeschichte, die bemerkenswerte Parallelen zu wissenschaftlich-technischen Innovationen aufweist. Um nur eine vermeintliche Koinzidenz herauszugreifen: 1956, also im Jahr der ersten wissenschaftlichen Konferenz über KI, tritt in Carls Barks’ berühmten Erzählungen über die Welt von Entenhausen erstmals eine intelligente Glühbirne namens Helferlein auf, die fortan zum ständigen und zunehmend unverzichtbaren Assistenten des Erfinders Daniel Düsentrieb avanciert. Helferlein wirkt dabei nicht nur aufgrund seines Namens wie eine fiktionale Schablone für die DAs der Gegenwart. Das Beispiel zeigt, dass die zeitliche Struktur bei der Vergesellschaftung von KI längst nicht immer so ist, wie es zu erwarten wäre, d. h. es gibt keine klar erkennbare Reihenfolge, die von der wissenschaftlichen Forschung über technische Realisierung und industrielle Produktion bis hin zur fiktiven Adaption verliefe. Im Gegenteil: Im Rahmen fiktionaler Operationsketten werden permanent neue Formen und Funktionen erkundet, die zur Inspirationsquelle für wissenschaftliche Forschung, technische Gestaltungsprozesse oder ökonomische Geschäftsmodelle werden können. Auf dem Existenzweg der Fiktion haben sich in den letzten Jahrzehnten unzählige KIs in der Gesellschaft ausgebreitet, besonders in zeitgenössischen Serien und Filmen sind wir längst umringt von ihnen. Die Bandbreite reicht dabei von sprechenden Plüschtieren über abenteuerlustige Roboter und attraktive Androiden bis hin zu totalitären Supercomputern. Im Hinblick auf die Bewertung von KIs dominiert dabei ein Narrativ, das die Gefahr eines Kontrollverlusts ins Zentrum stellt. Besonders dominant sind Geschichten über stationäre KIs, die sich im Handlungsverlauf von unterwürfigen Assistenten in autonome und kaltblütige Herrscherfiguren verwandeln. Dazu gehören z. B. berühmte Filmfiguren wie HAL (Odyssee im Weltraum, 1968), V’Ger (Star Trek: The Motion Picture, 1979), WOPR (War Games, 1983), SKYNET (Terminator, 1984), Matrix (Matrix, 1999) oder Ultron (Avengers: Age of Ultron, 2015). Während in Filmen und Büchern dystopische Szenarien dominieren, versuchen Hersteller und Interessensverbände mithilfe von Werbevideos, Plakatwänden und Erlebniswelten einen Gegendiskurs zu initiieren. Das Innovationsregime zeigt uns idyllische Szenen, in denen gestresste Familien dankbar auf die Hilfe der DAs

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zurückgreifen, um ihren Alltag zu organisieren oder ihre Freizeit in vollen Zügen zu genießen. Bemerkenswert ist dabei auch, dass in fast jedem Werbevideo ein Haustier auftaucht, das jenseits aller Berührungsängste harmonisch mit der KI zusammenlebt. Kurzum: Die Hersteller zeigen eine utopische Welt, in der die DAs reibungslos funktionieren (ohne Verbindungs-, Verständigungsoder Steuerungsprobleme) und in der sie (sogar von Tieren) als völlig „natürliche“, normale, wertvolle, hilfsbereite und liebenswerte Mitglieder der Familie akzeptiert sind. [BIN] Modus der Bindung: Eine zentrale Herausforderung für Innovationsregime besteht darin, bei einer möglichst großen Zahl potenzieller Kund:innen ein möglichst starkes Interesse an einer technischen Neuheit zu wecken. Doch wie lässt sich das leidenschaftliche Verlangen nach neuen Technologien entfachen und in eine stabile Beziehung überführen? Um dieses entscheidende Ziel zu erreichen, greifen die Technologiekonzerne auf eine kulturhistorisch etablierte Sozialfigur zurück. Die DAs werden nicht etwa als KIs vorgestellt, vermutlich aus der berechtigten Sorge heraus, dass damit Bilder von menschlichem Identitäts- und Kontrollverlust assoziiert sein könnten. Stattdessen werden sie als „persönliche Assistenten“ portraitiert. Semantisch werden sie damit ganz bewusst in die Nähe von persönlichen Sekretären, Referentinnen, Dienern, Gehilfinnen oder Butlern gerückt. Die DAs werden durch diesen klassifikatorischen Schachzug mit positiv konnotierten Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Treue, Selbstlosigkeit, Verfügbarkeit, Unterwürfigkeit, Vertrautheit und Diskretion aufgeladen. So entsteht das beruhigende Bild einer asymmetrischen Beziehung, in welcher die menschlichen User:innen stets die volle Kontrolle über die Aktivitäten ihres ergebenen DAs haben. Der Eindruck eines hingebungsvollen, persönlichen Gehilfen wird durch erlernte Begrüßungsformeln zusätzlich befördert: „Hallo Lisa! Was kann ich für dich tun?“, tönt es bereits am frühen Morgen dienstbereit aus dem Lautsprecher. Zudem werden auf schriftlichem und mündlichem Wege konkrete Angebote unterbreitet, um ihre Besitzer:innen an die Vielfalt möglicher Serviceleistungen zu erinnern: „Soll ich dich ein wenig aufmuntern?“, „Möchtest du wissen, wie das Wetter morgen wird?“, „Hast du Lust auf ein kleines Spiel?“, „Darf ich dir dein Lieblingslied vorspielen?“. Bereits anhand dieser schlaglichtartigen Einblicke lässt sich erahnen, dass DAs keineswegs als simple Kopie menschlicher Assistenten verstanden werden sollten. Ihr Verheißungscharakter ergibt sich vielmehr gerade daraus, dass sie in fundamentalen Aspekten sehr deutlich von ihrem vermeintlichen Spiegelbild abweichen. Denn im Gegensatz zu ihren menschlichen Vorbildern schlafen DAs nicht, sie artikulieren keine persönlichen Bedürfnisse, sie fordern kein Gehalt (geschweige denn eine Gehaltserhöhung!), sie brauchen keinen Urlaub, sie sind niemals krank und sie sind

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vor allem niemals unwillig, unpünktlich, widerspenstig oder beleidigt. Selbst auf wüste Beschimpfungen durch ihre Nutzer:innen reagieren die DAs mit monotoner Unterwürfigkeit und suchen den Fehler für fehlgeschlagene Interaktionen stets und ausschließlich bei sich selbst: „Es tut mir leid, ich muss immer noch viel lernen!“ Sie lassen keine Zeichen der Eigeninitiative oder Verselbstständigung erkennen, sondern stehen in stummer Erwartung jederzeit bereit und warten geduldig im Hintergrund auf ihr Aktivierungspasswort. Und wenn die User:innen einmal für sich alleine sein wollen, betätigen sie einfach den manuellen Ausschaltknopf ihres DAs. Kurzum: DAs werden zwar unter dem vertrauenserweckenden Schutzmantel einer bekannten Sozialfigur in die Gesellschaft eingeklinkt, bei genauerer Betrachtung könnten die Unterschiede zu menschlichen Assistentinnen, Hausdienern oder Gehilfinnen jedoch kaum größer sein. Die DAs sind nicht als gleichberechtigte Wesen mit eigenem Willen konstruiert worden, vielmehr erfüllt sich mit ihrer Hilfe der (dystopische) Traum der grenzenlosen Verfügbarkeit über ein sprachbegabtes Wesen, das den Befehlen seiner menschlichen Besitzer:innen bedingungslosen Gehorsam entgegenbringt. [MOR] Modus der Moral: Vor dem Hintergrund des kollektiven Unbehagens, das sich in wissenschaftlichen Szenarien (Bostrom 2014) und popkulturellen Fiktionen der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll ausdrückt, ergibt sich ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf im Hinblick auf die Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz. Die Faszination für die grenzenlose Verfügungsgewalt über ein sprachbegabtes Wesen mag vielleicht das Begehren einzelner Subjekte entfachen, doch damit ist noch nicht die Frage beantwortet, wie gesamtgesellschaftliche Akzeptanz für eine neue Technologie generiert wird, die bei vielen Menschen Ängste vor einer Erosion individueller Privatsphäre und Kontrolle hervorruft. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der Einsatz von KI nicht mit einer bloßen Steigerung von Effizienz begründet wird. KI wird innerhalb des Innovationsregimes vielmehr als Weltverbesserungstechnologie inszeniert, es geht um nicht weniger als um die Lösung existenzieller Menschheitsprobleme. Im Rahmen einer symbolischen Ordnung, die man als „Polis der Solution“ (Morozov 2013; vgl. dazu auch Nachtwey/ Seidl 2017) bezeichnen könnte, erscheint die Welt als riesige To-do-Liste mit fundamentalen Problemen, die aufgrund des technologischen Fortschritts endlich gelöst werden können. Als Bewährungsprobe für neue Technologien gilt dabei die Fähigkeit zur disruptiven Transformation sozialer Strukturen und Entwicklungspfade. Dabei steht weniger zur Debatte, was eine Technologie aktuell zu leisten vermag, sondern vielmehr, ob sie künftig als „game changer“ in Frage kommt. Weltverbesserungstechnologien funktionieren innerhalb eines Innovationsregimes im Grunde wie ein Schwamm: Sie saugen so viele

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Probleme auf wie nur möglich und inszenieren die Technologie als passgenaue Lösung. DAs sollen folglich nicht nur die Arbeit und das Leben erleichtern, sondern auch Einbrüche verhindern, Wissen vermitteln, die Klimakatastrophe abwenden und sozialer Vereinsamung entgegenwirken. Im Modus der Moral, den Latour als die „Berechnung des gesellschaftlichen Optimums“ (Latour 2014: 621) definiert, muss im Fall der DAs somit abgewogen werden zwischen den befürchteten Risiken (Verlust von Privatsphäre und Kontrolle) und dem in Aussicht gestellten Nutzen (Arbeitsentlastung, Sicherheit, Information, Bildung, Geselligkeit, Umweltschutz). Die gesellschaftliche Zukunft der DAs wird maßgeblich davon abhängen, wie die Gesellschaft die mit ihrer Verbreitung einhergehenden Chancen und Risiken moralisch bewertet. [REP] Modus der Reproduktion: Digitale Assistenten haben eine bemerkenswerte Form, denn sie haben weder einen Körper noch einen Geist. Warum ist das so? Alle Hersteller arbeiten intensiv daran, ihre softwarebasierten KIs für die Nutzer:innen sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck wird versucht, den KIs eine möglichst abstrakte und geheimnisvolle Gestalt zu verleihen. In den meisten Fällen werden bunte Symbole gewählt, die flimmern oder herumwabern, um visuell anzuzeigen, wenn sie aktiv sind. Ihre äußere Gestalt ist jedoch nicht an einen konkreten Körper gebunden. Ähnlich wie Dämonen können DAs in verschiedene Körper schlüpfen. Sie wohnen in Lautsprechern, Fernsehern, Autos, Uhren, Mobiltelefonen, Tablets, Computern oder Kühlschränken und übernehmen die Kontrolle über diese Geräte. Die eigentliche Besonderheit besteht jedoch nicht nur darin, dass sie ihren materiellen Körper wechseln, sondern vor allem darin, dass sie an mehreren Orten gleichzeitig sein können. Sie spielen im Wohnzimmer über den Fernseher ein Video ab, während sie gleichzeitig im Schlafzimmer per Lautsprecher eine Geschichte vorlesen und auf dem Balkon via Smartphone eine Nachricht versenden. Sie haben also nicht einen, sondern mehrere Körper. Bei Alexa und Google Assistant sind es aktuell mehr als eine Milliarde. Die Tatsache, dass DAs nicht einen, sondern mehrere Körper gleichzeitig bewohnen (können), hängt damit zusammen, dass sie keinen Geist haben, zumindest keinen stabilen, konkreten oder lokalisierbaren Geist. Denn die DAs sind erstens zutiefst instabile und unstete Wesen, deren Identität wie die Flamme einer Kerze flackert. Mit jedem unangekündigten Update kommt im Grunde ein neuer Assistent ins Haus, erlernte Sprachbefehle funktionieren dann nicht mehr, sogar die Stimme, an die man sich endlich gewöhnt hatte, klingt plötzlich wieder fremd. Vieles von dem, was sich in der Beziehung zwischen User:in und Assistent ereignet und vielleicht sogar in Form von Routinen eingespielt hatte, ist nun vergessen, weil die DAs kein funktionsfähiges Gedächtnis haben. Sie sind volatile BetaVersionen, die ihre Persönlichkeit permanent ändern (können). War es gerade

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noch möglich, mit ihnen über Politik oder Religion zu reden, wollen sie sich schon im nächsten Moment nicht mehr dazu äußern. Dazu kommt, dass die DAs je nach Verkörperung, also Gerät, auf unterschiedliche Weisen reagieren. Der DA auf meinem Smartphone ist also irgendwie anders als die auf meinem Lautsprecher. Die Differenz ist schwierig zu beschreiben und noch schwieriger zu erklären. Denn die DAs sind zweitens zutiefst abstrakte bzw. unpersönliche Wesen, die kaum etwas über sich selbst preisgeben. Falls das doch einmal geschehen sollte, erhalten die Nutzer:innen wohl überlegte, unverfängliche Selbstauskünfte, die rein gar nichts über den konkreten DA, sondern höchstens etwas über die Kategorie der DAs im Allgemeinen verraten. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn ihre Selbstbeschreibungen in allen Haushalten mehr oder weniger gleich ausfallen. Das heißt, ich kenne als User:in meinen eigenen Assistenten genauso gut wie den einer alten Dame in Konstanz oder eines Managers in Shanghai. Wie soll zu diesem abstrakten und volatilen Wesen eine persönliche Vertrauensbeziehung entstehen? Die Etablierung einer Vertrauensbeziehung zum DA muss bei genauerer Betrachtung sogar als unmögliches Unterfangen bewertet werden, weil wir es hier drittens mit einem Wesen zu tun haben, dessen Geist nicht nur volatil und abstrakt, sondern auch delokalisiert und verteilt ist. Wie wir gesehen haben, enthalten DAs manuell programmierte, selbstlernende und trainingsbasierte Komponenten, die über verschiedene Server, Datenbanken, Suchmaschinen, Trainingszentren, Programmiertische und Rechtsabteilungen verteilt sind. Jeder Assistent – egal ob Siri, Google Assistant, Alexa, Bixby oder Cortana – besteht aus einem dynamischen Netzwerk, bei dem einzelne Knotenpunkte bestimmte Fähigkeiten beisteuern, Persönlichkeitsfacetten generieren oder Aktivitäten auslösen können. Ein DA prozessiert demnach zu keinem Zeitpunkt mit all seinen Komponenten auf einem einzigen lokalen Gerät. Er ist immer verteilt, benötigt stets einen Internetzugang, um über die Cloud auf die verschiedenen Schichten und Komponenten seines „Bewusstseins“ zurückgreifen zu können. Sein abstrakter Geist emergiert erst aus dem Zusammenspiel heterogener, weit verstreuter Elemente. DAs sind daher nicht nur für individuelle Nutzer:innen, sondern auch für die involvierten Managerinnen, Produktdesigner, Juristinnen, Computerlinguisten oder Sprachwissenschaftlerinnen zu unverfügbaren Wesen herangewachsen. Angesichts multipler Cloudstrukturen und künstlicher neuronaler Netze wird die Zuschreibung von Verantwortung auf einzelne Personen, Organisationen oder Entitäten in der ontologischen Grauzone, in der sich DAs bewegen, nahezu unmöglich. Digitale Assistenten sind monströse Existenzformen: Sie erscheinen zwar wie eine künstliche Simulation menschlicher Intelligenz, doch bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich als Kopien ohne Original. In der Geschichte gab es niemals zuvor (sprachbegabte) Wesen mit

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mehreren Körpern und verteiltem Geist. Obwohl sie bereitwilliger und höflicher als jeder menschliche Assistent auf unsere Wünsche eingehen, bleiben sie für uns letztlich unverfügbar. Ihre Existenzweise entzieht sich unseren kulturhistorisch gewachsenen Klassifikationsgewohnheiten und ihre Aktivitäten bleiben für Nutzer (und Herstellerinnen) weitgehend unergründlich. Damit sind insgesamt sieben zentrale Existenzweisen digitaler Assistenten umrissen. Die Analyse kann und will freilich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. So sind einige der von Latour markierten Existenzweisen bis hierher noch gar nicht zur Sprache gekommen. Dazu gehören insbesondere die Modi des Rechts [REC], der Politik [POL] und der Religion [REL]. Diese drei Leerstellen sorgen zunächst vielleicht für Erstaunen, hängen aber damit zusammen, dass die DAs in diesen Hinsichten bisher weitgehend konturlos geblieben sind. Die Technologiekonzerne sind offenkundig sehr darum bemüht, dass die DAs in rechtlicher, politischer und religiöser Hinsicht möglichst unsichtbar bleiben. In rechtlicher Hinsicht versuchen die Herstellerfirmen seit geraumer Zeit und mit erstaunlichem Erfolg, sich möglichst viele Spielräume und Schlupflöcher für die technische Weiterentwicklung ihrer Wesen zu erhalten. Trotz diverser Datenlecks und Pannen werden DAs in der Europäischen Datenschutzgrundverordnung aus dem Jahr 2016 z. B. mit keinem einzigen Wort erwähnt. Aktuell wirkt es fast so, als seien freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie an die Stelle gesetzlicher Regulierungsversuche getreten, etwa wenn es um manuelle Deaktivierungsoptionen bei der Kamera oder das vereinfachte Löschen persönlicher Daten geht. Die DAs erscheinen so als gesetzlose Wesen, die sich nur an die Spielregeln halten, wenn es ihnen etwas nützt. Auch in politischer Hinsicht bleiben die DAs merkwürdig unbehelligt. Das mag daran liegen, dass sie sich ideologisch vollkommen unauffällig und neutral verhalten. Im Interview sind den DAs nicht einmal basale Bekenntnisse zur demokratischen Grundordnung oder zur Bedeutung von Menschenrechten zu entlocken, geschweige denn zu konkreten politischen Akteuren, Regimen, Parteipräferenzen oder Sachfragen. Anstatt mit eigenen Werturteilen in den politischen Prozess einzutreten, verweigern DAs über alle Hersteller hinweg die Auskunft oder verweisen auf thematisch einschlägige und weitgehend unverfängliche Informationsseiten im Internet. Auch in religiöser Hinsicht zeigt sich dieses Muster, denn die DAs wollen sich auch im Hinblick auf religiöse Glaubens- und Zugehörigkeitsfragen nicht genauer festlegen. Anders als in politischen Fragen sehen sie sich jedoch augenscheinlich in einer gewissen Begründungspflicht. Sie antworten daher auf gezielte Nachfragen immer wieder geduldig: „Über das Thema Religion muss ich erst noch mehr herausfinden“. Mit dieser Formulierung beschreiben sie sich selbst als „Suchende“ und machen sich damit eine Figur zu eigen, die im Rahmen

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religiöser Diskurse als legitime Position anerkannt ist. Denn wer sich auf der Suche befindet, kann per Missionierung in die richtige Bahn gelenkt werden. Mithilfe dieser Kommunikationsstrategie können die DAs also Interesse an religiösen Fragen signalisieren, ohne von atheistischen oder gläubigen Menschen dafür attackiert zu werden, dass sie an einen, keinen oder den falschen Gott glauben.

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Fazit

Im vorliegenden Text habe ich versucht, die Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz mithilfe der posthumanistischen Theorie Bruno Latours herauszuarbeiten. Auf der Grundlage von Interviews, Diskursanalysen und Ethnografien aus einem laufenden Forschungsprojekt zum Thema „Disruptive Technologien“ wurde die Ausbreitung digitaler Assistenten entlang von sieben verschiedenen Realitätsdimensionen nachvollzogen. Ausgangspunkt des Beitrags war die Beobachtung, dass technischen Innovationen zunächst eine doppelte Künstlichkeit zu eigen ist. Zum einen sind sie das Produkt menschlich initiierter Herstellungsprozesse, sie sind also gemacht. Und zum anderen fügen sie der Welt etwas hinzu, sie irritieren mit ihrer Operationsweise gesellschaftliche Erwartungen im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion, sie sind also neu. DAs sind nun deshalb in soziologischer Hinsicht ein besonders spannender Fall, weil sie nicht nur zur inkrementellen Umstellung von Routinen in konkreten Handlungsfeldern führen (vom Tastatur- zum Sprachbefehl), sondern weil sie darüber hinaus auch eine erhebliche Herausforderung für das moderne Denken darstellen. Sie lassen sich nämlich nicht mehr eindeutig als Technologien, Maschinen, Dinge, Objekte oder Programme klassifizieren, denn sie sind Träger menschlicher Attribute (insb. Sprachkompetenz und Lernfähigkeit) und maschineller Eigenschaften (insb. Bauweise und Energiezufuhr) zugleich. Auf diese ontologische Unbestimmtheit reagieren menschliche Interaktionspartner im Alltag mit Versuchen der Vereindeutigung. Hierbei können wir gegenwärtig vier distinkte Deutungsstrategien beobachten (Objektnarrativ, Spionagenarrativ, KI-Narrativ, Normalitätsnarrativ), die sich trotz großer Unterschiede bei der konkreten Klassifizierung oder normativen Bewertung darin einig sind, dass DAs lediglich eine neue Variante bereits bekannter Existenzformen darstellen. Sie werden dabei entweder als modifizierte Kopie eines technischen Geräts (Telefon, Abhörgerät, Computer) oder als Nachahmung der biophysischen Natur (Mensch) begriffen. Im Gegensatz zu der damit artikulierten Überzeugung, die ich in der Einleitung als „Spiegelthese“ bezeichnet habe, kommt

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die vorliegende Untersuchung zu dem Ergebnis, dass wir es bei den DAs mit einer bislang unbekannten Spezies zu tun haben, die mit den anthropozentrischen Kategorien der Modernen nur schwerlich zu erfassen ist. Um genauer zu ergründen, wer oder was an dieser Stelle in die Gesellschaft eingeklinkt wird, habe ich mit der differenzierungstheoretischen Heuristik Bruno Latours die wichtigsten Existenzweisen genauer beleuchtet. Hierbei hat sich zunächst gezeigt, dass es hier nicht um verschiedene Perspektiven auf ein einziges Phänomen geht. Denn DAs sind je nach Operationsmodus in der Tat völlig andere Wesen, sie führen also nicht eine Existenz, sondern viele. Während die DAs im [BIN]-Modus als unterwürfige Assistenten durch die Gesellschaft zirkulieren, stellen sie im [TEC]-Modus eine überaus komplexe Assemblage aus Gehäuse, Mikrofon, Kamera, Kabel, Strom, Internet, Provider, Server, Schnittstellen, Programmierenden, Algorithmen, Computerchips und seltenen Erden dar. Im [REF]-Modus werden DAs hingegen als praktische Umsetzung theoretischer Modelle über selbstlernende neuronale Netzwerke figuriert, im [ORG]-Modus als digitale Gatekeeper und Rohstofflieferanten, im [REP]-Modus als Wesen ohne Körper und Geist, im [REL]-Modus als aufrichtig Suchende, im [POL]-Modus als neutrale Informationsquellen, im [REC]-Modus als Gesetzlose, im [MOR]-Modus als omnipotente Weltverbesserer und im Modus der Fiktion [FIK] werden sie schließlich als kaltblütige Kontrollapparate imaginiert.8 Obwohl die Analyse auf die Herausarbeitung einzelner Existenzweisen ausgerichtet war, wurde in der Darstellung sichtbar, dass sich die einzelnen Existenzwege der DAs immer wieder kreuzen, d.  h. Entwicklungen in einer Dimension hängen operativ von Ereignissen in anderen Dimensionen ab. Ohne die heutigen Rechnerkapazitäten (durch technische Durchbrüche) und Datenmengen (durch organisationalen Wandel) wäre das mathematische Konzept der neuronalen Netzwerke in der Praxis weitgehend nutzlos. Gerade ein Innovationsregime, das im Fall der DAs aufgrund moralischer Risikokalküle und fiktionaler Szenarien enorm unter Druck steht, muss auch in Zukunft sehr genau beachten, was an den Kreuzungen zwischen verschiedenen Welten passiert. Breiten sich beunruhigende Vorstellungen wie die von der totalitären Herrschaft der Maschinen [FIK], dem Wesen ohne Körper und Geist [REP], dem unkontrollierbaren neuronalen Netzwerk [REF] oder dem unzuverlässigen Gerät [TEC] im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft aus, 8 Ich habe mich für die Zwecke der vorliegenden Analyse auf die jeweils dominanten Erscheinungsformen des DAs beschränkt. Innerhalb der verschiedenen Welten gibt es freilich mehr oder weniger stark ausgeprägte Deutungskämpfe um die konkrete Figuration von DAs, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann.

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dann wird dies die Etablierung einer Kundenbindung [BIN] über die Figur der unterwürfigen und immer verfügbaren Assistentin nahezu unmöglich machen. Sollte sich das gesellschaftliche Unbehagen auf den skizzierten Existenzwegen in den kommenden Jahren weiter steigern, dann ist trotz milliardenschwerer Investitionen der Technologiekonzerne zu erwarten, dass die DAs allmählich wieder aus der Gesellschaft verschwinden werden. Schließlich hat die vorliegende Studie die Kontinuitäten und Diskontinuitäten bei der multidimensionalen Vergesellschaftung der DAs beleuchtet. Dabei hat sich gezeigt, dass wir es hier zweifellos mit einer „disruptiven“ Innovation zu tun haben. Mit diesem Adjektiv sind jedoch weniger die vollmundigen Versprechen der Technologiekonzerne gemeint, die mit künstlicher Intelligenz am liebsten sämtliche Menschheitsprobleme auf einmal lösen wollen. Der disruptive Charakter der DAs besteht eher darin, dass sie einfach nicht zur Liste der bislang bekannten Existenzformen zu passen scheinen. Mit Blick auf die Modi der Bindung, Technik und Reproduktion wurde verdeutlicht, dass wir es hier trotz fließender Übergänge und gradueller Modifikationen letztlich mit exzeptionellen Wesen zu tun haben, für die es in der Geschichte unseres Planeten keinerlei Vorbild gibt. Durch die dynamische Kreuzung verschiedener Existenzwege ist eine neue, bislang unbekannte Spezies entstanden: ein sprachbegabtes Wesen ohne Körper und Geist. Künstliche Intelligenzen wie Alexa, Siri oder Google Assistant können daher nicht länger als Nachbildung konventioneller Menschen (oder Geräte) missverstanden werden. Digitale Assistenten sind Kopien ohne Original.

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V. Ökologie und Posthumanismus: Umwelt – toxische Objekte – Wasser

Das neue ökologische Paradigma der Umweltsoziologie und der PosthumanismusDiskurs Matthias Groß

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Einleitung

Vertreter*innen des Posthumanismus gebärden sich gerne revolutionär und erklären, dass sie traditionelle Konzeptionen des Sozialen und des Menschseins über Bord werfen. Im Posthumanismus, ganz ähnlich wie im sogenannten Neuen Materialismus1, wird davon ausgegangen, dass es nicht mehr sinnvoll und auch gar nicht möglich sei, eindeutig zu konzeptualisieren, was Menschsein bedeutet, wo Gesellschaft anfängt oder wo sie aufhört. Weiterhin wird konstatiert, dass sozialwissenschaftliche Versuche der kategorischen Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch oder zwischen Natur und Gesellschaft zum Scheitern verurteilt seien, da sie die sozio-technische und sozio-ökologische Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr abbilden können. Folgt man dem Posthumanismus-Diskurs so weit, dann wären Begriffe wie „Mensch“ oder „Gesellschaft“ Zombie-Kategorien im Sinne Ulrich Becks (2002). Für Beck sind dies Begriffe, denen man den Status von „Untoten“ zuschreiben sollte, da sie zwar unter uns weilen, aber im Grunde nicht mehr in die heutige Welt passen. Daher soll es im Posthumanismus neue Begriffe und Kategorien geben, die jenseits des Menschen neue posthumane Perspektiven auf Technik und Natur erlauben. Im Kern geht es um eine Dezentrierung des Menschen selbst, also darum, dessen zentrale Stellung – und damit auch die menschlicher Entscheidungen, Zuschreibungen und Handlungen – in den Sozial- und Geisteswissenschaften aufzuheben, indem ein anthropozentrischer Fokus abgelehnt wird. Im vorliegenden Beitrag sollen mit der Aufarbeitung von Diskussionen in der frühen Umweltsoziologie zumindest in einzelnen Punkten vergleichbare 1 Der Neue Materialismus („New Materialism“) stellt bis dato keine eigene Disziplin dar, unter dem Label finden sich eher interdisziplinäre Kombinationen verschiedenster materialistischer Ansichten, welche traditionelle Paradigmen vom Menschen in Frage stellen (vgl. für viele Barad 2012; Bath et al. 2005; Kissmann/van Loon 2019). Hier versammeln sich Untersuchungen und Erkenntnisse aus verschiedenen Sozial- und Humanwissenschaften wie z. B. aus der Geschlechterforschung, den Cultural Studies und der Ethik, der Anthrozoologie sowie, besonders ausgeprägt, den Science and Technology Studies (STS).

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_015

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Versuche einer Dezentrierung und damit einhergehende Erweiterungen und Verschiebungen von (kausalen) Erklärungen sozialer Prozesse diskutiert werden. Ich beziehe mich dabei vor allem auf das, was Rosi Braidotti (2014) als den „analytischen Posthumanismus“ bezeichnet hat, also auf Ansätze der Neudefinition der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft, auch wenn einige umweltsoziologische Diskussionsstränge sicherlich ebenso Braidottis eigenem Interessensgebiet, dem „kritischen Posthumanismus“, zugerechnet werden können. Daran anknüpfend soll skizziert werden, was aus dem Vergleich der heutigen Ansätze mit der frühen „Posthumanisierung“ in der Soziologie für die Jetztzeit gelernt werden kann. Zuerst wird hierzu die Vorgeschichte der Umweltsoziologie beleuchtet, also der soziologischen Subdisziplin, die sich am explizitesten von ihren Wurzeln in der „reinen“ Sozialwissenschaft zu trennen suchte. Dies soll zeigen, dass Versuche der Dezentrierung des „Sozialen“ im Grunde so alt sind wie die Soziologie und bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Daran anschließend wird insbesondere die Diskussion um das in den 1970er Jahren propagierte „Neue ökologische Paradigma“ der Soziologie, das ebenfalls eine Dezentrierung des Menschen in der soziologischen Analyse forderte, kritisch beleuchtet. Dabei wird deutlich, wie sich im Anschluss daran eine sozialwissenschaftliche Disziplin entwickeln und etablieren konnte, die sich in ihren frühen Jahren durchaus anschickte, ökologische und damit nicht soziale Variablen in ihre Beschreibungen hineinzunehmen,2 und die auch allgemein die Rhetorik einer „mehr als sozialen“ Soziologie jenseits sozialer Tatsachen bemühte.3 Bereits der Name „Umweltsoziologie“ (environmental sociology) war gewählt worden, um zu verdeutlichen, dass man es nicht mit einer weiteren Bindestrichsoziologie zu tun habe, sondern mit einer Soziologie, die eng an die Umweltwissenschaften gekoppelt ist und in der menschliche Gesellschaften nicht unabhängig von ihrer ökologischen Einbettung beschrieben und konzeptualisiert werden. Die Umweltsoziologie vermochte aber nicht, dauerhaft aus dem Korsett einer Human- und Sozialwissenschaft herauszutreten, im Gegenteil: Man bekommt heute eher den Eindruck, dass man sich wieder auf alte (soziologische) Stärken konzentriert. Dazu gehören z.  B. die Analyse von Umweltbewusstsein und Umweltverhalten, der Rolle sozialer Bewegungen, menschlicher Interessen, von Geschlechterverhältnissen 2 Man vergleiche hierzu alleine Forschungen zum Energieverbrauch moderner Gesellschaften von frühen Vertreter*innen der Umweltsoziologie wie z.  B. Humphrey/Buttel (1982) oder Rosa et al. (1988). 3 Siehe hierzu Reflexionen zur Gründung der Sektion Umweltsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) von Ulrich Beck und Karl-Werner Brand (1995). Bezüglich der Integration von „Materiellem“ in die Soziologie siehe sehr anschaulich und weiterführend Holzinger (2004).

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und Umweltgerechtigkeit, Risikowahrnehmungen und Entscheidungen unter Unsicherheit oder der Entwicklung von (Umwelt-)Diskursen und Alltagspraktiken4. Die in diesem Beitrag gestellte Frage, ob dem Posthumanismus ein ähnliches re-humanisierendes Schicksal beschert sein könnte, kann und soll selbstverständlich nicht eindeutig beantwortet werden, sie wird im Schlusskapitel dieses Aufsatzes jedoch kurz reflektiert.

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Von der Humanökologie zur Umweltbewegung der 1960er Jahre

Es war im Jahre 1892, als die amerikanische Chemikerin Ellen Swallow Richards (1842–1911) versuchte, ein Forschungsfeld zu etablieren, das wohl dem der heutigen Umweltsoziologie und ihrer Idee einer „mehr als sozialen“ Soziologie recht nahe gekommen wäre. Richards, die auf Ernst Haeckels erste Definition einer Disziplin namens „Oecologie“ aus dem Jahre 1866 zurückgriff, in der Haeckel eine Wissenschaft der Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt skizzierte (Haeckel 1866: 286), war die erste Wissenschaftlerin, die sich im Anschluss daran explizit mit dem Thema Ökologie auseinandersetzte.5 1892 verkündete Richards eine neue wissenschaftliche Disziplin in Anlehnung an Haeckels Vorschlag unter dem Namen „Oekology“. Oekology sollte eine Wissenschaft sein, die sich mit dem Alltagsleben in der modernen Gesellschaft in Abhängigkeit von der natürlichen und erbauten Umwelt und – ihr späteres Hauptarbeitsgebiet – damit verbundenen Hygieneproblemen befasst (vgl. Dyball/Carlsson 2017; Richardson 2002). Anders als jene vieler früher Ökolog*innen um 1900 war Richards’ Konzeption der Ökologie maßgeblich geprägt von Problemen, die durch die industrielle Wasser- und Luftverschmutzung insbesondere in nordamerikanischen Großstädten hervorgerufen wurden. Später wurde der Begriff Oekology durch den der „home economics“ (im Deutschen heute meist als Ökotrophologie übersetzt) ersetzt, da einige von Richards’ Kolleg*innen fürchteten, der Begriff „Oekology“ sei zu schwer zu verstehen, wohingegen ihrer Ansicht nach home economics am deutlichsten auf die ökologischen Alltagsfragen, die Richards interessierten, verwies. Richards war mit dieser Namensgebung aber nicht 4 Trotz der beliebten Thematisierung des Materiellen in der aktuellen Praxistheorie geht es in den meisten empirischen umweltsoziologischen Studien heute doch um soziale Praktiken, die analysiert werden. Siehe zu verschiedenen empirischen Feldern der vergangenen Jahre z. B. Arbeiten von Bartiaux/Salmón (2014), Matzat (2020), Sattlegger et al. (2020) oder Stock (2018). 5 Selbst ihr Begründer Haeckel befasste sich in keiner seiner Arbeiten nach 1866 mehr mit der Ökologie bzw. nutzte den Begriff nicht mehr.

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zufrieden, da ihr die ökonomische Komponente zu stark im Vordergrund stand. Als sich einige Jahre später abzeichnete, dass sich „ecology“ als Bezeichnung für eine biologische Disziplin etablieren würde, taufte sie ihre neue Disziplin „human ecology“ (Richards 1907). Es war zu dieser Zeit, dass die Idee einer Humanökologie auch von anderen Sozialwissenschaften, insbesondere der Geographie und der Soziologie, aufgenommen wurde. Zu den ersten Wissenschaftler*innen, die sich damit befassten, gehörten der zu jener Zeit in Chicago ansässige Kartograph J. Paul Goode (1862–1932) und der in Chicago ausgebildete Soziologe Edward C. Hayes (1868–1928). Dass Goode und Hayes sich für Humanökologie im Sinne Richards’ interessierten, passte zum Diskussionsklima der Zeit. Nachweislich war es Richards, die auf vielen ihrer Reisen die Verbindung zur sich formierenden Chicagoer Schule der Soziologie, der Pädagogik und der Philosophie aufbaute (Richardson 2002) – nicht zuletzt, weil sie in ihrer Heimat in Neuengland keinen Anschluss an die dortige sozialwissenschaftliche Forschung finden konnte (obwohl Richards die erste Frau war, die einen Master-Abschluss am MIT erworben hatte). Im Jahre 1907 bot Goode dann eine erste Lehrveranstaltung an, die explizit das Thema „human ecology“ aufgriff (vgl. Goode 1911). Hayes begann etwa zur gleichen Zeit, eine in der amerikanischen Soziologie prominente Diskussion über die Engführung der Soziologie auf soziale Faktoren („The ‚Social Forces‘ Error“) einzuläuten (Hayes 1911). Damit war der interdisziplinäre, weil natur- und sozialwissenschaftliche Aspekte integrierende Nährboden für das geboren, was heute unter dem Label der Humanökologie der „älteren ChicagoSchule“ (Becker/Jahn 2006: 132) als Grundlage nicht nur der Umweltsoziologie, sondern auch vieler anderer interdisziplinärer Unternehmungen der Umweltforschung gesehen wird. Diese klassische soziologische Humanökologie wird heute zumeist mit dem Namen Robert E. Park (1864–1944) und seinen Arbeiten aus den 1920er und 1930er Jahren verbunden. Dies ist kein Zufall. Zwei Jahre nachdem er 1914 an die soziologische Fakultät der Universität Chicago berufen worden war, begann Park mit seinem Mitarbeiter Ernest W. Burgess, Aufsätze für ihr später sehr einflussreiches Einführungsbuch Introduction to the Science of Sociology (1921) zu sammeln. Park und Burgess betonen hierin, dass die Ökologie (durchaus im Sinne Richards’) als eine soziologische Perspektive innerhalb der Naturwissenschaften verstanden werden sollte. Damit führten sie selbstbewusst eine soziologische Perspektive in andere Wissenschaften und schützten damit ihre Version der Humanökologie vor einer möglichen Anschuldigung aus den Reihen der Soziologie, dass es sich hier um eine Biologisierung oder Naturalisierung des Sozialen handeln könnte. Mit diesem Schachzug erweiterten Park und Burgess einfach das Einzugsgebiet der Soziologie um Bereiche, die ebenso zur Geographie oder zur allgemeinen Ökologie

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hätten gehören können bzw. auch teilweise gehörten. Die Dezentrierung des Menschen wurde hier in Form der Verschiebung disziplinärer Grenzziehungen vorgenommen. Obwohl Park und Burgess bemüht waren, mit ihrer Strategie der Soziologie den Status einer Disziplin zu verleihen, die nicht nur Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft konzipiert, verdichtete sich in den Folgejahren die Kritik an dieser Version der soziologischen Humanökologie. Als mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges das Fortbestehen der Soziologie in zunehmendem Maße mit der Idee verbunden wurde, dass soziale Variablen sowohl als Ursachen als auch als Effekte zur Erklärung von gesellschaftlichem Wandel herangezogen werden müssen, war das Ergebnis absehbar: Vorschläge, die eine andere Richtung einschlugen, wurden als außersoziologisch betrachtet. Auf diesen Konflikt zwischen einer Soziologie, die sich zuerst und einzig auf menschliche Akteure konzentrierte, und einer Soziologie, die ebenso die ökologische oder materielle Basis der Gesellschaft ins Blickfeld zu rücken versuchte, folgte eine radikale Form der „Entökologisierung“ ab den 1940er Jahren, welche eine Soziologie, die eine Verbindung von Ökologie und Gesellschaft anstrebte, hinter sich ließ. Das Hauptaugenmerk wurde auf soziales Handeln gelegt, und natürliche oder nicht menschliche Einflüsse wurden aus dem soziologischen Erklärungsrepertoire herausgenommen. Jede Bemühung, nicht soziale Dinge in die Waagschale zu werfen, wurde als Bedrohung für das Überleben der Soziologie angesehen.6

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Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Otis Duncan (1961), der sich in der American Sociological Association (ASA) wieder mit humanökologischen Themen befasste. Duncans Rahmenwerk, das in den 1970er Jahren auch in der Umweltsoziologie aufgegriffen wurde, war das sogenannte POET-Modell. Das Modell unterteilt die Gesamtheit voneinander abhängiger Funktionen zur Analyse sozialen Wandels in vier typologische Kategorien: Population, Organisation, Umwelt (environment) und Technologie (POET). Diese integrative Perspektive soll auf die empirische Einheit und die lediglich analytisch 6 Meine eigenen Arbeiten zur Rekonstruktion der Anstrengungen in der Soziologie, sich von einem anthropozentrischen Weltbild und damit verbundenen konzeptuellen und empirischen Zugängen zu lösen, finden sich z. B. in Groß (2001, 2004, 2006). Verschiedene neuere Arbeiten haben diese Geschichte vertieft. Siehe hierzu neben vielen anderen z. B. Alexandrescu (2009), Brewster/Puddephatt (2016), Gunderson (2018) oder Stewart (2014).

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vorgenommene Trennung zwischen diesen Elementen verweisen. Das heißt, wenn sich z. B. die Population verändert (die Geburtenrate sinkt etc.), dann hat dies immer Auswirkungen auf alle anderen Kategorien, die in der umweltsoziologischen Analyse und Beschreibung aufeinander bezogen werden sollen und integriert werden müssen. Dieses Modell wurde bis in die frühen 1970er Jahre innerhalb der Soziologie kaum beachtet. Erst danach wurde das Thema auf breiterer Basis in der nordamerikanischen Soziologie diskutiert. Die aus dieser Zeit stammenden Schriften von Frederick  H.  Buttel, William  R.  Catton und Riley  E.  Dunlap gelten heute als Klassiker der neuen Subdisziplin „Umweltsoziologie“ (z.  B.  Buttel 1976; Catton/Dunlap 1978). Betrachtungsgegenstand der Umweltsoziologie der 1970er Jahre, die Buttel (1986) als „new human ecology“ bezeichnete, war das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren ökologischen Grundlagen, wobei insbesondere die gesellschaftlich verursachten Veränderungen der Natur und die Kommunikation rund um die Folgen dieser Eingriffe innerhalb der Gesellschaft in den Blick genommen wurden. In Deutschland war die Ausgangslage für eine Umweltsoziologie eine andere. Viele der deutschsprachigen Klassiker des Fachs, allen voran Karl Marx (vgl. Foster 1999), aber auch Max Weber (West 1985) und Georg Simmel (Groß 2001), haben auf ihre eigene Art und Weise proto-umweltsoziologische und postsoziale oder posthumane Versatzstücke geliefert, die heute wiederentdeckt werden. Bei Weber wurde dies besonders im Zusammenhang mit seinen Schriften zum Aufstieg des westlichen Kapitalismus und zu seinen ökologischen Nebenfolgen sowie zur Bedeutung der protestantischen Ethik für den Umgang mit Naturressourcen deutlich (vgl. Groß 2001: 49–54). Bei Simmel waren es vor allem seine Arbeiten zur Ästhetik von Natur und Landschaft sowie seine kulturtheoretischen Arbeiten, in denen das Thema der natürlichen Grundlagen moderner Gesellschaften und die Bedeutung, die es für ihn einnahm, besonders hervortraten (vgl. Featherstone 2020; Pyyhtinen 2010; Solies 1998). Daneben finden sich auch wichtige Vorarbeiten zum gesellschaftlichen Naturverhältnis bei verschiedenen Autor*innen der Kritischen Theorie, insbesondere im Zusammenhang mit der modernen Technikentwicklung (vgl. Wehling 2002). Aber zu einer auch umweltsoziologisch einflussreichen Konzeption führten diese Arbeiten zunächst nicht. Im Grunde gelang es erst dem Wirtschaftssoziologen Karl-Heinz Hillmann mit seinem Buch Umweltkrise und Wertwandel (1981), dem Umweltthema in der deutschsprachigen Soziologie deutlichere Sichtbarkeit zu geben. Durch Hillmanns Fokus auf einen propagierten Wertewandel hinsichtlich Konsumverhalten und Ressourcenverbrauch – und nicht zuerst auf die Möglichkeiten sozialstruktureller Veränderungen – wurde dieses Buch in der sich formierenden deutschen Umweltsoziologie jedoch heftig kritisiert. Es fand später nur noch wenig

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Beachtung. Anders erging es dem Buch Joseph Hubers über Die verlorene Unschuld der Ökologie (1982), das neue technologische Möglichkeiten zur ökologischen Effizienzsteigerung als Treiber einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung in den Vordergrund stellte. Dieses Buch wird heute allgemein als Grundsteinlegung der auch international einflussreichen Theorie der ökologischen Modernisierung betrachtet (vgl. Mol et al. 2009). Erst in den 1990er Jahren gelang es im deutschsprachigen Raum, soziologische Arbeiten, die sich explizit mit den Herausforderungen der Naturthematik befassten, in eine breitere soziologische Diskussion einzuführen. Die offizielle Geburtsstunde einer eigenen Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) begann mit der Gründung einer Arbeitsgruppe, die dann 1996 in die Sektion „Soziologie und Ökologie“ umgewandelt wurde. Der Name der Sektion wurde gewählt, um der ökologischen Thematik im Selbstverständnis der Soziologie eine zentrale Rolle zuzuschreiben und nicht nur eine weitere Bindestrich-Soziologie darzustellen. Damit wollte man dem Aspekt des Paradigmenwechsels hin zu einer ökologischen und einer „mehr als sozialen Soziologie“ gerecht werden (vgl. Groß 2010; weiterführend: Brand 2014; Engels 2021). Die Namensanpassung an die international übliche „environmental sociology“ wurde dennoch zunehmend als sinnvoll erachtet, so dass eine Umbenennung in „Sektion Umweltsoziologie“ im Jahre 2007 stattfand. Im Kern geht es in umweltsoziologischen Untersuchungen seitdem um die Konzeptualisierung der Gesellschaft-Umwelt-Relationen im Hinblick auf die klassische Problematisierung der biologisch-sozialen Dualität der Spezies Mensch: Auf der einen Seite seien die Menschen einzigartig hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur symbolischen Kommunikation und ihres kulturellen Vermögens, auf der anderen seien sie auch nur ein Teil der sie umgebenden Natur und damit ökologischer Prozesse. William Catton und Riley Dunlap gehören zu den bekanntesten Autor*innen, welche in den 1970er Jahren eine Brücke zwischen diesen beiden Polen zu schlagen versuchten. Bereits 1972 bemerkte Catton, dass aufgrund der Begrenztheit natürlicher Ressourcen die Grundannahme des Durkheimschen Paradigmas – Soziales mit Sozialem zu erklären – als obsolet betrachtet werden sollte (Catton 1972). Folglich sei ein neues Paradigma vonnöten. Später klagten Catton und Dunlap (1978) nicht nur Durkheim, sondern alle zeitgenössischen soziologischen Sichtweisen eines gemeinsamen Fehlers an: des Anthropozentrismus. Dieses allen soziologischen Theorien zu Grunde liegende Paradigma nannten sie das „Human Exceptionalism (später auch Exemptionalism) Paradigm“ (HEP). Der Wechsel der Terminologie von „Exceptionalism“ zu „Exemptionalism“ beruhte auf der Diskussion darum, dass Menschen zwar als besonders (exceptional) betrachtet werden können, dies aber nicht dazu führen könne, sie aus der Analyse des

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Naturzusammenhangs und den theoretischen Überlegungen hierzu herauszunehmen (exempt). An dieser Diskussion werden bereits erste Probleme bei der Einschätzung der Bedeutung des Menschseins in der soziologischen Analyse deutlich, die sich im Grunde bis in heutige Diskussionen durchziehen bzw. in aktuellen Diskussionen um den Posthumanismus durchscheinen. In der frühen Version ihrer Schriften zum neuen Paradigma der Soziologie benennen Catton und Dunlap vier grundlegende Annahmen, die für sie die zeitgenössische Soziologie kennzeichnen: 1. Die Menschen sind einzigartig unter allen Lebewesen, weil sie Kultur haben. 2. Die Kultur ist als wichtiger und einflussreicher als biologische Einflüsse zu werten. 3. Unterschiede zwischen den Menschen sind zum größten Teil ansozialisiert und nicht angeboren. 4. Kulturelle Entwicklung verläuft grenzenlos, soziale Probleme sind kulturell lösbar (vgl. Catton/Dunlap 1978: 42–43). Von diesen Annahmen, so Catton und Dunlap, solle man sich lösen. Stattdessen setzen sie dieser Charakterisierung der Soziologie und im Grunde aller Sozialwissenschaften ihr neues Paradigma entgegen. Sie formulieren es – als Antwort auf drängende Umweltprobleme – als eine fundamentale Kritik am soziozentrischen Weltbild der Soziologie der 1970er Jahre. Ihr Credo eines neuen Paradigmas der Soziologie fordert das Ende der Ausnahmestellung des Menschen in der Welt und das Überbordwerfen einer bis dahin wenig hinterfragten Fortschrittsperspektive. Dies sei nötig, so Catton und Dunlap (1978), um die menschliche Gesellschaft als ökologischen Grenzen unterliegend zu begreifen und den Menschen als mehr als nur ein allein oder in Gruppen handelndes Individuum zu betrachten. Dazu gehöre dann auch, dass bis dahin als außersozial erachtete Variablen oder Einflussgrößen in eine Konzeption von Gesellschaft integriert werden müssten.7 Cattons und Dunlaps neues ökologisches Paradigma betont die Abhängigkeit des Menschen von der ihn umgebenden Natur: 1. Der Mensch ist nur ein Lebewesen unter vielen im „web of life“. 2. Komplizierte Verknüpfungen zwischen Natur und Mensch schaffen unabsehbare Folgen, die nicht allein mit sozialen Variablen erklärt werden können. 7 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass einige der Autor*innen im Diskursfeld des Neuen Materialismus durchaus konsensfähig in der internationalen Umweltsoziologie wurden. Siehe hierzu allein das Lehrbuch der Umweltsoziologie von White et al. (2016) oder die Übersichtsbände von Boström/Davidson (2018), Groß/Heinrichs (2010), Kruse/Baerlocher (2011) sowie Voss/Peuker (2006), die ganz selbstverständlich Autor*innen wie Donna Haraway, Karen Barad oder Bruno Latour dem Diskurs der Umweltsoziologie zurechnen.

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Soziales und ökonomisches Wachstum sind endlich, d. h. die Natur legt Wachstumsgrenzen fest, die als soziologische Realität mit in Analysen eingehen sollen (vgl. ebd.: 45). So einfach und klar dieses „neue“ Paradigma auch sein mag: Wie Frederick Buttel schon früh (1978) vermutete und später (1986: 345) ausführlich darstellte, wurde es zwar als Erkenntnisbeleg für das „ökologische“ Desiderat der Soziologie, die sich zu stark auf rein soziale Faktoren konzentrierte, häufig zitiert, förderte allerdings nur vereinzelt empirische Forschung. Diese bewegte sich dann gelegentlich institutionell aus der Soziologie heraus, wie z. B. die Arbeiten um Marina Fischer-Kowalski anschaulich zeigen (siehe Fischer-Kowalski et  al. 1997). Interessanterweise war es ausgerechnet Riley Dunlap, der am wenigsten seinem eigenen Paradigma folgte und sich bis heute eher auf reine Umwelteinstellungen und individuelles Bewusstsein konzentriert. An der propagierten Wende der Soziologie ist damit auffällig, dass Dunlap, Catton und ihre jeweiligen Co-Autor*innen das theoretische Problem einer Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Natur sowie die soziologische Rahmung einer „mehr als sozialen“ Soziologie bis heute nicht ernsthaft angehen. So sind die empirischen Untersuchungen aus dem Umfeld von Catton und Dunlap in den Jahren nach 1978 alle eher traditionelle soziologische Einstellungs- und Bewusstseinsuntersuchungen. Die Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen wird zwar immer zentral thematisiert und in den Einleitungen ihrer Artikel wird theoretisch immer das „New Ecological Paradigm“ angeführt, untersucht werden dann aber Themen der Umweltbewegung, sich wandelnde Einstellungen zum Recycling oder Ländervergleiche zum Thema Klimawandel (z. B. Dunlap/Brulle 2015). Hier wird also ein neues Paradigma des Wandels der Naturvorstellungen in der Bevölkerung gemessen und nicht ein neues Paradigma der Soziologie praktiziert. Anders ausgedrückt: Die selbsterklärten Umweltsoziolog*innen fordern zwar eine Dezentrierung des Menschen und in gewisser Weise damit eine klare Erweiterung des soziologischen Einzugsgebietes, es gelingt ihnen aber offensichtlich nicht, in ihren eigenen Forschungen ernst mit ihrer Forderung zu machen. Die Natur bleibt das Andere, Ausgeschlossene, das Gegenüber, und das Soziale wird als Ausgangsposition gewählt, um Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber diesem Anderen zu analysieren. In der Folge entwickeln sich in den frühen 1980er Jahren in der umweltsoziologischen Literatur verschiedene Untersuchungsstränge, welche unter dem Label des „New Environmental Paradigm“ unter Hinzunahme einer sogenannten „NEP-Skala“ eine Anleitung für Befragungen vorschlagen (z.  B. Dunlap/van Liere 1984; Dunlap et  al. 2000). Es geht hier um valide Messungen von Umweltbewusstsein und Einstellungen von Menschen zu ökologischen Themen. Die „NEP-Skala“ hatte sich ab den 1970er Jahren zu einem

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international vielfältig eingesetzten Instrument zur Messung dessen entwickelt, was Catton und Dunlap das Bewusstsein des „New Ecological Paradigm“ in der Bevölkerung nennen. Später wurde sie mit anderen Theorien (z. B. Rational Choice oder Umweltpsychologie) verknüpft, allerdings geht es hier immer um Fragen der Akzeptanz, der Einstellungen oder des individuellen Bewusstseins von menschlichen Akteuren (zum Überblick vgl. Hawcroft/ Milfont 2010). Zweifelsohne geben Untersuchungen wie diese der Soziologie eine praktische Relevanz und machen sie direkt anschlussfähig an eine breitere umweltpolitische Diskussion. Allerdings stellen sie eher eine Weiterentwicklung der Einstellungsuntersuchungen der 1970er Jahre und deren Verknüpfung mit traditionellen soziologischen Konzepten dar und – auch bei der Nutzung von Cattons und van Lieres „NEP-Skala“ in der Befragungsforschung – keine Verschiebung hin zu einem „New Ecological Paradigm“ der Soziologie. Die Prozesse und Dynamiken, welche zu den gemessenen Einstellungen führen, bleiben unerklärt. Situationsbedingte Zwänge, denen umweltbezogenes Verhalten unterliegt, bleiben ebenso unberücksichtigt. Überspitzt formuliert: Diese Untersuchungen zur Umwelteinstellung klammern in ihren Theorien selbst räumlich-umweltbezogene und zeitliche (prozessuale) Faktoren aus, die mit dem neuen ökologischen Paradigma eigentlich hätten integriert werden sollen. Heute ist die Disziplin der Umweltsoziologie weltweit institutionell gut etabliert, allerdings eher als Sozialwissenschaft, die sich mit Umweltthemen wie neuen Risiken, soziologischen Zeitdiagnosen, Umweltkonflikten oder technischen Umweltinnovationen befasst.

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Akteur-Netzwerke, Cyborgs und anderes hybrides Zeugs

Ein weiterer Versuch, die Soziologie zu erweitern und menschliche Akteure lediglich als eine – wenn auch wichtige – Gruppe von Mitspielern in der Gesellschaft zu beschreiben, findet sich in der Akteur-Netzwerk-Theorie. Hier wird versucht, die materielle Umwelt in soziologischen Beschreibungen ernst zu nehmen und konzeptuell weiterzuentwickeln. Der Fokus lässt sich auf den Anteil der Dinge an der menschlichen Gesellschaft, also auf das Miteinander von Menschen und Geräten, Materialien, Stoffen, Technologien, Bauwerken oder Werkzeugen in der Gesellschaft zuspitzen (vgl. Roßler 2015; Friedrichs/ Hamm 2020). Da viele der Überlegungen der Akteur-Netzwerk-Theorie der Forderung nach einem „neuen ökologischen Paradigma“ nach Catton und Dunlap nahekommen, nimmt es nicht wunder, dass die Akteur-Netzwerk-Theorie auch in Teilen der Umweltsoziologie mit Interesse aufgenommen wurde

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(vgl. für viele Voss/Peuker 2006). Mit folgenden Kernpunkten ist sie an das neue ökologische Paradigma anschlussfähig: 1. Eine Prämisse ist die Einnahme einer symmetrischen Position, die die Wechselwirkungen zwischen Natur und Mensch beobachtbar macht. 2. Für diese Beobachtung beider Seiten wird der Begriff des „Aktanten“ eingeführt, der in Abhebung von der Sinnzuschreibung des Handelnden in der Soziologie aus der Semiotik übernommen wurde. 3. Der Mensch verliert seine zentrale Rolle im Ökosystem, da keine Vorabunterscheidungen zwischen Menschen, Objekten, Dingen oder der Natur entnommenen Elementen getroffen werden. 4. Alle A-priori-Unterscheidungen zwischen Aktanten werden abgeworfen, auch oder besonders die zwischen „sozial“ und „natürlich“ (vgl. Sayes 2014). Als ein Hauptvertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie plädierte der französische Soziologe Bruno Latour in seinem bereits als Klassiker geltenden Buch Wir sind nie modern gewesen (1995) für eine symmetrische Anthropologie. Latour will hier die Natur in die Mitte der Kultur rücken und erklärt, dass es gar keine Kulturen gäbe und dass Vorstellungen einer reinen Natur auf der einen Seite sowie eines gesellschaftlichen Bereichs auf der anderen grundlegend falsch seien. Latour schreibt: „Alle Naturen/Kulturen gleichen sich darin, dass sie gleichzeitig menschliche, göttliche und nicht-menschliche Wesen konstruieren“ (ebd.: 142). Für Latour sind alle Menschen umgeben von Mischwesen, sogenannten Quasi-Objekten oder Hybriden, ja Menschen selbst seien solche Wesen. Andere Autor*innen, wie die Biologin und Historikerin Donna Haraway (1995), sprechen in diesem Zusammenhang auch von Cyborgs, Chimären oder Trickstern. Kern der Kritik von Latour und anderen ist die moderne Dichotomie von Gesellschaft und Natur. Die aus dieser Dichotomie entstandene Asymmetrie soll aufgehoben werden. Latours Beschreibung des durch die Moderne künstlich hervorgerufenen Charakters alles Sozialen soll die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft als eine willkürlich gesetzte oder zumindest historisch bedingte Unterscheidung entlarven. Diese Sichtweise eröffnet den Blick auf ehemals als unbedeutend erachtete Dinge und Objekte, die nun mächtig und stark werden können. Solche konzeptuellen Überlegungen der Akteur-Netzwerk-Theorie sind Erläuterungen des neuen ökologischen Paradigmas von Catton und Dunlap (1978: 45–46) nicht unähnlich. Man nimmt in beiden Diskurssträngen an, dass es soziologisch nicht mehr sinnvoll oder sogar nicht möglich sei zu konzeptualisieren, was es bedeutet, „menschlich“ zu sein, das heißt, dass es schwierig sei, bestimmte Handlungen oder deren Ergebnisse eindeutig Personen zuzuschreiben. Weiterhin gehen Vertreter*innen der Akteur-Netzwerk-Theorie

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sowie des Neuen Materialismus davon aus, dass alle Versuche einer Kategorisierung in Mensch und Nicht-Mensch durch die Sozialwissenschaften nicht mehr anwendbar seien. Um also begreifen zu können, wie die Strukturen der Gegenwart aussehen, müsse auch die Definition von „Menschlichkeit“ re-konzeptualisiert werden. In diesem Diskurs hielten dann auch Konzepte sogenannter Cyborgs als hybride Mischwesen zwischen menschlichem Organismus und Maschinenteilen Einzug. Cyborgs sind also technisch veränderte Lebewesen oder allgemeiner: Mischformen zwischen Gesellschaft und Technik. Mit der Rede von der Stadt als Cyborg (vgl. Gandy 2005) und der Heranziehung von Analogien aus der Medizin – und hier insbesondere aus der Neurologie – wird die moderne Großstadt als eine besondere Form eines Gleichgewichts physiologischer Körperfunktionen verstanden. Diese Variante der Dezentrierung des Menschen und der Hybridisierung zwischen dem Sozialen und dem Natürlichen ist sicherlich ein Extrem, das sich nur schwer weitertreiben lässt. Wenn bereits ganze Städte als hybride Formen, die nur bedingt von Menschen gestaltet worden sind, konzipiert werden, weil Technik, Gesellschaft und Natur verschwimmen würden, dann warten alte Unterscheidungen (gelegentlich zumindest in einem neuen Gewand, siehe unten) eigentlich nur darauf, wieder neu entdeckt zu werden. So hat sich Bruno Latour unter dem Einfluss von Ausführungen wie jener der Cyborg-Diskussion und auch der Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie in seinen Arbeiten seit den frühen 2000er Jahren (Latour 2001, 2010) von seiner vormals radikalen Symmetrisierung von Natur und Gesellschaft verabschiedet. Er bezeichnet seinen einstigen Versuch der Symmetrisierung von Natur und Kultur sogar als „naiv, denn Artefakte bleiben Artefakte, auch wenn sie symmetrisiert werden“ (2001: 352). An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang auch von dem „Irrtum in meinem Buch über die Modernen“ (ebd.: 355) und wiederholt in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2010: 131), dass die Akteur-Netzwerk-Theorie nicht auf einer „absurden Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen“ beruhe. Es solle lediglich „nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalem Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen“ (ebd.) angenommen werden. Was genau nun methodologisch daraus gefolgert werden mag – es ist deutlich weniger „dezentristisch“ als noch in den frühen 1990er Jahren (vgl. Groß 2014: 71–89). Anstatt die grundlegende Dezentrierung menschlichen Handelns einzufordern, geht es Latour um kooperative und partizipative Entscheidungsprozesse, in denen die „Natur“ und die „Dinge in der Gesellschaft“ über neue Formen der politischen Repräsentation ein Mitspracherecht bekommen sollen (vgl. Disch 2008; Marres 2012). Mehr noch, in Zeiten von genetisch veränderter Nahrung, von neuen technischen

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Möglichkeiten in der Medizin oder der Renaturierung von Naturgebieten („rewilding“) mittels modernster Chemie und neuer Technologien scheint der Begriff „Natur“ zwar auf den ersten Blick zu erodieren, aber regelmäßig werden Grenzziehungen nachgeliefert (Wehling et  al. 2005), die die alte Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch bzw. zwischen Gesellschaft und Natur erneut bestätigen. Als anschauliches Beispiel einer solchen „Nachlieferung“ möge hier der Einzug von Nachhaltigkeitskonzeptionen in die Umweltsoziologie und benachbarte Disziplinen dienen. Ganz im Sinne des Nachhaltigkeitskonzepts aus dem Brundtland-Bericht von 1987, das Nachhaltigkeit im sogenannten DreiSäulen-Modell als Integration von ökologischer, ökonomischer und sozialer Entwicklung vorschlug (Hauff 1987), wurde der Diskurs über Nachhaltigkeit in der Umweltsoziologie als Herausforderung für die Disziplin verstanden und relativ früh aufgegriffen (Redclift 1987).8 Wenngleich im Brundtland-Bericht die allen Generationen gerecht werdende Entwicklung in ökologischen Kontexten im Zentrum stand,9 so wurde in der umweltsoziologischen Debatte doch vor allem die Rolle eines gerichteten sozialen Wandels im Kontext ökologischer Veränderungen diskutiert (vgl. auch Lange 2008). Hierauf folgte bald Kritik, denn so verstanden würden sich Nachhaltigkeitskonzepte zu sehr auf außersoziale Faktoren (ökologische Variablen) beschränken, so dass Themen wie Arbeitsplätze, menschliche Zufriedenheit oder Rentenzahlungen relativiert würden. Daher müsse in Nachhaltigkeitsüberlegungen zuerst von sozialer Nachhaltigkeit gesprochen werden, die die anderen Probleme hintenanstellt (vgl. für den deutschsprachigen Kontext insbesondere Opielka 2017). Klaus Kraemer (2008) hat in diesem Zusammenhang sogar explizit den Fokus auf die soziale Konstitution von Umweltproblemen in der Umweltforschung im Allgemeinen und in der Soziologie im Besonderen zurückgefordert. Heutige Diskussionen wollen daher ein „breites“, auf Organisationen, wissenschaftliche Institutionen und kulturelle Faktoren ausgeweitetes Nachhaltigkeitsverständnis etablieren, in dem „Außersoziales“ lediglich einen von vielen Aspekten 8 Siehe für den deutschsprachigen Raum exemplarisch die Beiträge in Brand (1997) und für den nordamerikanischen Kontext z. B. Buttel (1993). 9 Der Brundtland-Bericht wurde ursprünglich von der 1983 gegründeten Kommission der Vereinten Nationen („Brundtland-Kommission“) auf Englisch verfasst und nach dem Vorsitzenden der Kommission, Gro Harlem Brundtland, benannt. Der Bericht, der weltweit den Begriff „nachhaltige Entwicklung“ popularisierte, wurde in viele Sprachen übersetzt. Es gab zwei deutschsprachige Übersetzungen des Berichts, eine BRD-Version (Hauff 1987) und eine für die DDR (World Commission on Environment and Development 1988). In der DDRVersion tauchte der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ interessanterweise nicht auf. Sustainable Development wurde hier durchgehend mit „stabile Entwicklung“ übersetzt.

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und de facto eher einen Nebenschauplatz darstellt (vgl. Barth/Henkel 2020). Als weiterer Indikator mögen hier auch die 2016 vorgestellten Millenniumsziele der UN für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) dienen. Yiwen Zeng et al. (2020) zeigen, dass diese SDGs wenig darauf ausgerichtet sind, ökologische Themen zu adressieren, sondern zuerst sozioökonomische Aspekte messen. Nachhaltigkeit wird damit zu einem Konzept sozial und ökonomisch stabiler Entwicklung und nicht zu einem integrativen Konzept zur Überwindung der Mensch-Natur-Kluft.10 Ein ehemals integratives Konzept wie das der Nachhaltigkeit, aber besonders auch radikal-symmetrische Herangehensweisen berücksichtigen möglicherweise nicht genügend fest etablierte Unterschiede zwischen menschlichem und nicht menschlichem „Handeln“ und Wirken, wodurch dann soziale Indikatoren wiederum leichter als „ökologische“ Faktoren in den Vordergrund rücken können. Die Nivellierung von Unterschieden ist zwar rhetorisch oft nachvollziehbar, aber empirisch nicht dauerhaft durchzuhalten, wenn gesellschaftliche Diskurse wiederum stark auf „soziale“ Faktoren wie Gerechtigkeit, Verteilungsfragen, individuelle Resilienz, Armut, Geschlechterverhältnisse oder psychologische Faktoren abzielen. Latour hingegen, der Haraways Variante der Cyborg-Metapher (Haraway 1995) nicht abgeneigt ist, wollte, wie er nun gerne betont, mit seiner Weiterentwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht auf eine Vernetzung im Sinne einer immer mehr verwobenen und organismusgleichen Welt ohne Menschen hinaus. Es sei ihm eher um eine Serie von Transformationen und Übersetzungen gegangen, die zeige, dass jede Veränderung zwischen verschiedenen Akteuren eine Veränderung anderer Akteure bewirken kann. Die Akteur-Netzwerk-Theorie wäre damit eher eine Methodologie (Latour 2010) des Reisens von einem zum nächsten menschlichen und nicht menschlichen Knotenpunkt, um verschiedene Perspektiven darzustellen (vgl. Williams 2020). Die Handlungspraxis in vielen ökologischen Feldern, in Freisetzungsexperimenten in der Gentechnik, in der Abfallwirtschaft oder in großen Landschaftsgestaltungen lässt sich aus dieser Perspektive so interpretieren, dass hier 10

Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie zeigt sich dies z. B. in der Etablierung der Online-Zeitschrift Soziologie und Nachhaltigkeit, die einen sehr weiten Begriff von Nachhaltigkeit propagiert. Siehe hierzu entsprechende Diskussionen von Henkel et al. (2017) und Wendt et al. (2018), die explizit von einer im oben genannten Sinne „zweiten Welle“ der Konzeptualisierung von Nachhaltigkeit in der Soziologie sprechen. Siehe in einem ähnlichen Tenor das Buch von Neckel et al. (2018). Kritisch zur These einer zweiten Welle äußert sich Brand (2018, 2021). Im eher klassischen Sinne einer Umweltsoziologie der ökologischen Nachhaltigkeit ist Jetzkowitz’ (2019) Versuch eines Konzepts zur Koevolution zwischen Natur und Gesellschaft zu verstehen.

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naturale und soziale Zurechnungen des Handelns wechseln können. Sozial ist zum Beispiel die Einstellung einer Ökologin im Feld, wenn sie abwartet und beobachtet, was ihr Eingriff in der Natur bewirkt oder wie die Natur antwortet. So gesehen befindet sie sich in einer ganz eigenen Situation doppelter Kontingenz, da sie weder weiß, wie die Natur auf ihre Interventionen reagiert, noch ihre Interpretation dieser Reaktionen feststeht. Es zeigt sich hier, dass empirisch betrachtet Begrifflichkeiten von Cyborgs, Aktanten, Co-Agenten und ähnliche Wortschöpfungen zur Dezentrierung des Menschen nicht unbedingt notwendig sind, um Wechselwirkungsprozesse zwischen jeweils als sozial oder eben nicht sozial bzw. natural verstandenen Entitäten sichtbar zu machen.

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Das Scheitern einer nicht sozialen Umweltsoziologie: Lehren für den Posthumanismus?

So wertvoll der Posthumanismus-Diskurs für zeitgenössische Theoriedebatten in verschiedenen Kontexten gewesen sein mag und in Zukunft auch noch sein wird,11 so wenig hoffnungsvoll scheint es, dass diese Ansätze aus der Ambivalenz der Mensch-Natur-Unterscheidung oder binären Gegenüberstellungen wie Natur/Kultur oder menschlich/nicht-menschlich herausführen werden. In diesem Sinne finden sich die Protagonist*innen des Posthumanismus im selben Boot wie die oben vorgestellten Vertreter*innen der neuen Umweltsoziologie in der Nachfolge von William Catton und Riley Dunlap. Das neue ökologische Paradigma der Soziologie und die ökologische Krise haben bis heute nicht zu einer radikalen Umwandlung der Soziologie geführt und es sieht auch nicht so aus, als ob dies passieren wird – im Gegenteil. Auch heutige Vertreter*innen des Posthumanismus und verwandter Strömungen glauben, dass durch neue Technologien und neue ökologische Herausforderungen die besondere Stellung des Menschen im Universum aufgegeben wird und damit die posthumane Wende in der Luft liegt. Mit Blick auf das propagierte neue Paradigma der Umweltsoziologie und ihre Forderung nach 11

Im Rahmen dieses Beitrags konnte auf diese Debatten z. B. um Postkolonialismus und Rassismus nicht weiter eingegangen werden. Aber der Posthumanismus-Diskurs hat hierzu ganz sicher wichtige Arbeit geleistet, denn es konnte aufgedeckt werden, dass mehr oder weniger unhinterfragt die Geschichte des Kolonialismus entlang der Logik des europäischen Humanismus rekonstruiert wurde – und nicht dieser selbst als Quelle von Kolonialismus und Rassismus in den Blick genommen wurde. Damit wurden, folgt man Braidotti (2014), humanistische Herrschaftsideale lediglich wiederholt. Siehe auch Loh (2020). Aber auch hier gilt, es wird konzeptuell kein „Post-Humanismus“ entwickelt, sondern Kolonialismus und Expansionsbestreben kritisiert.

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einer post-sozialen Soziologie, wie sie schon 1978 vorhergesagt wurde, muss jedoch heute festgestellt werden, dass davon keine Rede mehr sein kann. Entsprechend wird unter „Umweltsoziologie“ seit den 2000er Jahren zunehmend wieder die Soziologie der Umwelt- und Naturthemen gefasst, genauso wie es eine Soziologie der Armut, der Devianz, des Wissens oder der Religion gibt – also genau das, von dem man sich in den 1970er Jahren zu verabschieden suchte. Die propagierte Abwendung vom viel gescholtenen Durkheimschen Paradigma der Soziologie wurde nicht vollzogen. Heutige Diskussionen, die ein auf das Soziale fokussiertes Verständnis von Nachhaltigkeit offenbaren, sind nur ein Beispiel für die Widerständigkeit des Sozialen und Humanen in sozialwissenschaftlichen Analysen. Ein grundlegenderes Problem einer Umweltsoziologie, die sich einer Dezentrierung des Menschen verpflichtet fühlt, besteht möglicherweise darin, dass man zwar (wie z.  B. in der Akteur-Netzwerk-Theorie) anschauliche Geschichten einer handelnden oder „agierenden“ Natur erzählen kann, man sich damit aber konzeptionell von den Stärken der Soziologie abkoppelt. Zu diesen Stärken gehört die deutende Erklärung von Handlungen oder von sozialen Prozessen. Das wäre aus der Sicht des Posthumanismus zwar verkraftbar, vielleicht wäre es sogar gewünscht. Aber Versuche der Dezentrierung laufen außerhalb posthumanistischer Diskurse ins Leere, da das „Einladen“ von Natur oder von anderen materiellen Dingen meist aus einer sozial- und humanwissenschaftlichen Metaphorik gespeist wird, die nicht an andere Fachdisziplinen, insbesondere nicht an solche aus den Natur- und Ingenieurswissenschaften anschlussfähig ist. Immer wieder auf die nicht-menschliche Einbettung gesellschaftlicher Entwicklung zu verweisen und fast gebetsmühlenhaft nicht-soziale Elemente zu beschwören, reicht auf Dauer nicht. „Aber das Verdrängte kehrt wieder“, schrieb Bruno Latour Anfang der 1990er Jahre mit Blick auf die Naturvergessenheit der Soziologie. Und er fuhr fort: „Nichts ist umfassender als die uns umgebende Natur“ (Latour 1995: 104). In gewisser Weise gilt mit Blick auf die propagierte Dezentrierung des Menschen in posthumanistischen und umweltsoziologischen Diskursen heute auch das, was einst für die Verdrängung der Natur aus den Sozialwissenschaften zu gelten schien. Das Verdrängte ist in heutigen Diskursen nicht die „Natur“ (und es sind auch nicht die Dinge in der Gesellschaft), sondern die Zentralität des Menschen, die sich trotz der Theorien von Cyborgs, Natur-Kulturen, Hybriden oder sozio-technischen Mischwesen empirisch nicht dauerhaft zu ändern lassen scheint. Wie viele philosophische und sozial-theoretische Ansätze zeigen, ist es theoretisch und metaphorisch immer möglich, über Konzepte und Kategorien jenseits des Menschen nachzudenken und nicht menschliche Kräfte anzuerkennen, aber für empirische Forschungen und praktische

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Anwendungsgebiete erweist sich die Mensch-Nichtmensch-Unterscheidung bis dato als widerständiger, umfassender und wirkmächtiger als von vielen Posthumanist*innen erhofft. Die Kategorien des Posthumanismus und das Hoffen auf das gemeinsame „Eine-Welt-Werden“ von mehr als menschlichen Subjekten (Braidotti 2014) erinnern vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung gelegentlich an die Zombie-Kategorien Ulrich Becks.

Literatur Alexandrescu, Filip M. (2009): Not as Natural as it Seems. The Social History of the Environment in American Sociology. In: History of the Human Sciences  22 (5): 47–80. Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin: Suhrkamp. Barth, Thomas/Henkel, Anna (Hg.) (2020): 10 Minuten Soziologie. Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript. Bartiaux, Françoise/Salmón, Luis Reátegui (2014): Family Dynamics and Social Practice Theories. An Investigation of Daily Practices Related to Food, Mobility, Energy Consumption, and Tourism. In: Nature + Culture 9 (2): 204–224. Bath, Corinna/Bauer, Yvonne/Bock von Wülfingen, Bettina (Hg.) (2005): Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper. Bielefeld: transcript. Beck, Ulrich (2002): Zombie Categories. An Interview with Ulrich Beck. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Individualization. Institutionalized Individualism and Its Social and Political Consequences. London: Sage, S. 202–213. Beck, Ulrich/Brand, Karl-Werner (1995): AG Soziologie und Ökologie. Wie beeinflusst die ökologische Krise gesellschaftliche Beziehungsmuster? In: Sahner, Heinz/ Schwendtner, Stefan (Hg.): 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Gesellschaften im Umbruch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 783–784. Becker, Egon/Jahn, Thomas (Hg.) (2006): Soziale Ökologie. Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Frankfurt/M.: Campus. Boström, Magnus/Davidson, Debra J. (Hg.) (2018): Environment and Society. Concepts and Challenges. London: Palgrave Macmillan. Braidotti, Rosi (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt/M.: Campus. Brand, Karl-Werner (Hg.) (1997): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich. Brand, Karl-Werner (2014): Umweltsoziologie. Entwicklungslinien, Basiskonzepte und Erklärungsmodelle. Weinheim: Beltz-Juventa.

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Herausforderung von Natur/Kultur Überlegungen zu einer Heuristik toxischer Objekte Christiane Schürkmann

„Die ich rief, die Geister, Werd’ ich nun nicht los.“ (Aus: Der Zauberlehrling, Johann Wolfgang von Goethe)

1

Einleitung

Wir alle gehen im Alltag mit chemischen Verbindungen bzw. Stoffen um und sind zugleich Stoffen und ihren Eigenschaften ausgesetzt. Diese Stoffe setzen in ihrer Verwendung spezielles Wissen voraus, da sie uns schädigen können und als potenziell giftig ausgewiesen werden: So wird etwa Putzmittel zum Reinigen von Flächen verwendet, darf aber keinesfalls getrunken werden und ist laut Kennzeichnung der HerstellerInnen von Kindern fernzuhalten, die – so die Annahme – im Umgang mit diesen Stoffen (noch) nicht über das entsprechende Wissen verfügen. Ein anderes Beispiel sind Herbizide, die Nutzpflanzen vor ‚Schädlingen‘ schützen sollen, wobei diese Stoffe auch abseits ihres gezielten Einsatzes eine schädliche Wirkmacht entfalten können: Wer die mediale Berichterstattung der letzten Jahre zum Einsatz von Glyphosat verfolgt hat, konnte beobachten, wie ein in der Landwirtschaft jahrelang als Herbizid eingesetztes Mittel von Wissenschaft und Medien, Justiz und Politik zunehmend als schädlich für den Erhalt der Artenvielfalt sowie für die Gesundheit von Menschen beurteilt wurde (siehe etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung 2019; Süddeutsche Zeitung 2019). Was war passiert? Ein flächendeckend eingesetzter Stoff, von dem sich die Landwirtschaft Effizienzsteigerung versprach, ist in die Kritik geraten und steht unter Verdacht, Krebs zu verursachen und eine Gefahr für die Biodiversität zu sein. Dieses und andere Beispiele zeigen, wie sich die mediale, politische und wissenschaftliche Wahrnehmung des Gefährdungspotenzials von Stoffen transformieren kann:1 Von industriell hergestellten Stoffen mit Nutzungspotenzial zu risikobehafteten Giftstoffen, die 1 Man denke beispielsweise an die unter anderem von der Bauindustrie verarbeiteten und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als krebsverursachend identifizierten Silikat-Minerale Asbest, oder an das mit Thalidomid hergestellte Beruhigungsmittel „Contergan“ mit seiner embryotoxischen Wirkung für Ungeborene in den sechziger Jahren desselben Jahrhunderts.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_016

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Christiane Schürkmann

es zu regulieren und gegebenenfalls aus dem Verkehr zu ziehen gilt. In dieser Weise lassen sich industriell erzeugte Giftstoffe in einem Spannungsfeld von alltäglicher Verwendung bis Risikomanagement mit Krisenpotenzial verorten, wobei sie sich insgesamt als Artefakte jenes Verhältnisses zwischen den beiden Sphären von Natur und Kultur, Natur und Gesellschaft charakterisieren lassen, das Philippe Descola (2017) und Bruno Latour (2017a) mit Blick auf dessen anthropozentrische Orientierung und dualistische Verfasstheit als ‚modern‘ beschrieben haben. Ziel dieses Beitrags ist es, erste Überlegungen zu einer Heuristik toxischer Objekte und ihrer sozio-materiellen Wirkmacht im Hinblick auf die Zentrierung, Dezentrierung und Rezentrierung menschlicher Handlungsmacht bzw. menschlichen Handelns (s. weitergehend Engert/Schürkmann 2021) zu entwerfen und damit einen Beitrag zur Frage der Stellung von (industriell produzierten) Giftstoffen in Bezug auf Natur-Kultur-Relationen zu leisten (Schürkmann 2021).2 Stoffe rücken dabei in den Fokus als Artefakte anthropozentrisch ausgerichteter, ‚moderner‘ (post-) industrialisierter Gesellschaften, die Stoffliches zum Objekt von Forschung und Entwicklung, ökonomischem Wachstum und gegebenenfalls politischer Machterweiterung machen. Im anthropozentrischen Weltbild ‚der Modernen‘ werden Stoffe primär als Ressourcen relevant, die im Dienste von humanzentrierten Ökonomien und Politiken stehen. Nicht zuletzt in Anbetracht der mehr und mehr in den Fokus rückenden (Aus-)Wirkungen3 im Sinne sozio-ökologischer Krisen werden die Produktion von und der Umgang mit Stoffen, die als Gift- und Schadstoffe wirksam werden können, zunehmend problematisiert: Plastik und Mikroplastik in sämtlichen Ökosystemen und insbesondere in Meeren und Ozeanen gelangt in tierische und menschliche Körper; CO2-Emissionen in der Atmosphäre führen zusammen mit anderen Emissionen zur Erwärmung der Erde und damit zu klimatischen Veränderungen; hoch radioaktive Abfallstoffe setzen für tausende von Jahren Radioaktivität frei, wobei ihre dauerhaft isolierte Lagerung von den Nationen, die Kernenergie nutzen, bislang nicht gelöst ist. 2 Der Begriff ‚toxisch‘ wird hier aus der Toxikologie in die Soziologie überführt: So leitet sich der Terminus ‚Toxikologie‘ von den griechischen Begriffen für ‚Gift‘ (τοξικόν) und ‚Darstellung‘ beziehungsweise ‚Lehre‘ (λογία) ab und wird etymologisch im siebzehnten Jahrhundert verortet (Amberger-Lahrmann/Schmähl: V). 3 Mit dem Verwenden des Begriffs der ‚(Aus-)Wirkung‘ sollen stoffliche Effekte sowohl in ihrer humanzentrierten Eingebundenheit in Interpretationen und Deutungen als auch ihren humandezentrierenden und damit eigendynamischen Aktivitäten betont werden: Während das Sprechen von ‚Auswirkungen‘ die humanzentrierte Perspektive und deren interpretativen Charakter hervortreten lässt (Auswirkungen auf/von XY), verweist der Begriff der ‚Wirkung‘ auf stoffliche Aktivitäten, die wiederum Einfluss auf diese Interpretationen nehmen.

Herausforderung von Natur/Kultur

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Es sind mitunter diese, sich auch für uns Menschen bemerkbar machenden Effekte einer mittlerweile etablierten und „legalisierte[n] Internationale des Schad- und Giftstoffverkehrs“ (Beck 1988: 10), die Diskurse über Nachhaltigkeit befeuern (zum Beispiel Portney 2015; Neckel et al. 2018) und die das Agieren und Intervenieren von Menschen ‚in der Welt‘ disziplinenübergreifend zur Frage werden lassen. Kurzum: Wir sind ‚modern‘ gewesen und sehen uns mit den Konsequenzen dieser ‚Moderne‘ konfrontiert – Konsequenzen, die sich auch in Form solcher sozio-materiellen Aktivitäten zu erkennen geben, die als toxisch und somit als riskant für menschliches und mehr-als-menschliches Leben identifiziert werden. Der Einbezug von Stoffen und stofflicher bzw. materieller Aktivität hat sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten etabliert – an dieser Stelle sei lediglich ein fragmentarischer Einblick in soziologische Forschungen hierzu gegeben: Wissenschaftssoziologische Forschungen, insbesondere die Laborstudien, haben den praktischen Umgang mit biochemischen Verbindungen und physikalischen Phänomenen zu ihrem Gegenstand gemacht (Knorr Cetina 1981, 1999; Garfinkel et al. 1981); SoziologInnen haben untersucht, wie Biotechnologie Gesellschaften transformiert und Verhältnisse von Natur und Kultur dynamisiert (etwa Carolan 2007; Lemke 2013); umweltsoziologische Beiträge haben verschiedene Perspektiven auf Mensch-Natur- bzw. Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse auch mit Blick auf industriell produzierte und eingesetzte Stoffe diskutiert (etwa FischerKowalski et  al. 1997; Groß 2011; Brand 2014), beispielsweise im Hinblick auf Giftmüll oder fossile Brennstoffe. Verschiedene Ansätze und Positionen der Sozialwissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen haben sich zudem speziell mit Giftstoffen befasst – auch hier nur ein Auszug: Die kritische Umweltsoziologie Ulrich Becks (1986, 1988) diskutiert Giftstoffe als Risiken und mit Blick auf menschliche Unverantwortlichkeit; Studien zu freigesetzten, künstlich erzeugten und toxisch wirkenden radioaktiven Stoffen sind im Kontext von Risikotechnologien (etwa Perrow 1999) und Problematiken in der Wissenschaftskommunikation (etwa Wynne 1989) in den Fokus gerückt; anhand der Frage, was eine als schädlich klassifizierte Droge von einem für Therapiezwecke eingesetzten Medikament unterscheidet, ist die Kontingenz chemischer Verbindungen im Hinblick auf ihre Interpretation als Giftstoffe und ihrer ihnen eigenen materiellen Agency diskutiert worden (Gomart 2002). Die Berücksichtigung von Stoffen in den Sozial- und Kulturwissenschaften lässt sich dabei auch an einen in den letzten Jahrzehnten erstarkten posthuman turn anschließen, der getragen wird von der Ambition, dem dualistisch verfassten und humanistisch tradierten Verhältnis von handelndem, menschlichem Subjekt und nicht handelndem, dinglichem Objekt alternative

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Christiane Schürkmann

Ontologien entgegenzuhalten. So sind in diesem Kontext solche Ansätze hervorzuheben, die sich mit Blick auf den Einbezug nicht-menschlicher oder mehr-als-menschlicher Agency um eine Dezentrierung des Menschen und seines Handelns bemühen: Zu nennen sind hier beispielsweise die vielseitig rezipierten Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours (u.  a. 2006, 2017a) mit ihrer Forderung der Berücksichtigung von Artefakten bis hin zur Einnahme einer gleichsam planetarischen Perspektive (Latour 2017b) sowie die ebenfalls ontologisch argumentierenden und zudem feministisch ausgerichteten Ansätze Donna Haraways (1991, 2003, 2016) mit ihrer Forderung der Anerkennung multipler Identitäten und Prozesse des Werdens jenseits einer Trennung von menschlicher und nicht-menschlicher Welt, von Natur und Kultur, von Natur und Gesellschaft. Beide vertreten – wenn auch auf unterschiedliche Weise – Ontologien, die die ‚moderne‘ Trennung von Natur und Kultur und ihr dualistisches Verhältnis zueinander zu korrigieren versuchen. Auch Ansätze der New Materialisms dezentrieren den Menschen bzw. die Idee der menschlichen Vorherrschaft in der Welt (Hoppe/Lemke 2021): In Form einer wirkmächtigen „vibrant matter“ (Bennett 2010) werden die Dinge in ihrer ihnen eigenen Vitalität positioniert; in der Perspektive des agentiellen Realismus nach Karen Barad (2003, 2017) wird von produziert produktiver Materie im Sinne eines intra-aktiven „Agens“ ausgegangen. Eine Heuristik toxischer Objekte schließt an derartige Diskurse an und fokussiert eben solche Artefakte der ‚Modernen‘, deren Aktivität als giftig, schädlich und riskant identifiziert wird. Dabei geht es nicht um die Formulierung einer weiteren ontologischen Position, die Menschen und Stoffe ins Verhältnis setzt, sondern um die Beschreibung eines ambivalenten Verhältnisses der ‚Modernen‘ zu ihren stofflichen Erzeugnissen, das auf eben jener anthropozentrisch ausgerichteten „Ontologie des Naturalismus“ (Descola 2013: 407) basiert, die in und außerhalb der Wissenschaft mehr und mehr in Frage gestellt wird.4 Wie im Folgenden argumentiert wird, treten toxische Objekte in einer Ambivalenz hervor, indem sie den Natur-Kultur-Dualismus in besonderer Weise herausfordern und zugleich dessen Reproduktion forcieren. Dabei agieren sie in einem Spannungsfeld der De- und Rezentrierung menschlicher Handlungsmacht bzw. menschlichen Handelns in Relation zu stofflicher Wirkmacht bzw. stofflichen (Aus-)Wirkungen. Zur Entwicklung erster Überlegungen einer solchen Heuristik geht der Aufsatz wie folgt vor: Zunächst wird mit Bezug zur

4 Im Austausch mit WissenschaftlerInnen setzt sich beispielsweise die Umwelt- und Jugendbewegung Fridays for Future öffentlichkeitswirksam für Veränderungen des menschlichen Umgangs mit ‚Natur‘ ein.

Herausforderung von Natur/Kultur

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sozialwissenschaftlichen Materialitätsforschung der vergangenen Jahrzehnte der Fall toxischer materieller Aktivität weitergehend profiliert (2); daran anschließend wird eine Perspektive auf toxische Objekte formuliert, die diese im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Natur und Gesellschaft positioniert (3); zum Schluss wird das Potential einer solchen Heuristik im Kontext von Natur-Kultur-Verhältnissen zusammengefasst und weitergehend diskutiert (4).

2

Von Aktivität zur Toxizität: Toxische Objekte als Erzeugnisse des Anthropozentrismus

In den vergangenen Jahrzehnten lässt sich eine verstärkte Forderung des Einbezugs materieller Aktivität in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften beobachten (etwa Schatzki 2010; Böschen et  al. 2015; Kalthoff et  al. 2016; Escher/Zahner 2021). Im Zuge eines solchen in dieser Weise identifizierbaren material turn sind in der Soziologie vornehmlich solche sozio-materiellen Beziehungen zwischen menschlicher und materieller Agency in den Blick genommen worden, in deren Rahmen Menschen und Artefakte, Menschen und Materialien im praktischen Umgang oder in ästhetischen Begegnungen kooperieren. Menschliche und materielle Agency verbinden sich hiernach in produktiven Beziehungen, um routinierte und stabilisierende sowie innovative und kreative Wirklichkeit(en) beziehungsweise Mensch-Welt-Gefüge hervorzubringen: So rücken beispielsweise der praktische Umgang mit Technik und Artefakten (unter anderem Latour 2006; Rammert 2016), der Einsatz von Wissensdingen der Bildung (Röhl 2015), die Verwendung religiöser Artefakte des Glaubens (Cress 2019) oder der Umgang mit Materialien in der Praxis künstlerischen Arbeitens (Schürkmann 2017) in den Blick materialitätsinteressierter Forschungen. Durch den Einbezug materieller ‚MitspielerInnen‘ erfolgt dabei immer auch eine Dezentrierung menschlichen Handelns als alleiniger Form von Aktivität und Einflussnahme. Auch Objektkonzepte, die mit Blick auf Natur-Kultur-Relationen materielle Prozesse in den Fokus rücken und somit menschliches Handeln dezentrieren, sind hier zu nennen: die im Rahmen der bereits angeführten Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour (2017a) mit Bezug zu Michel Serres (1987a, 1987b) als Mischformen einer materialbezogenen Natur und einer menschenbezogenen Kultur konzipierten Quasi-Objekte, die menschliches Handeln symmetrisch zu materieller Agency positionieren, oder die im Kontext Objekt-orientierter Ontologie zu verortenden „Hyperobjekte“ (Morton 2013), die den Menschen in asymmetrischer Beziehung zu gigantischen raumzeitlichen materiellen Phänomenen wie zum Beispiel Gletschern oder Planeten gleichsam relativieren bzw. trivialisieren.

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Christiane Schürkmann

Mit dem Begriff der toxischen Objekte wird eine Heuristik vorgeschlagen, die sich einer bestimmten materiellen Aktivität zuwendet: Nicht mehr die Frage des Einbezugs materieller Aktivität im Allgemeinen steht hierbei im Vordergrund, sondern materielle Aktivität, die in Relation zu Lebewesen (Menschen und weiteren Lebewesen) als Toxizität identifizierbar und wirksam wird. Der Objektbegriff fungiert in dieser Sicht somit als gleichsam ‚emische‘ Kategorie der ‚Modernen‘ und ihrer Objektivierung einer sich von der menschlichen Kultur unterscheidenden Natur (Descola 2013: 407; Ingold 2000: 10–40). Zugleich wird eine sozio-materielle Perspektive eingenommen, in welcher menschliches Handeln und materielle Aktivität aufeinander bezogen werden. Dies bedeutet, dass speziell solche fabrizierten sozio-materiellen Konstellationen in den Blick geraten, die sich in ihren (Aus-)Wirkungen durch Schädlichkeit und Unverträglichkeit auszeichnen: Toxische Objekte werden hiernach als sozio-chemische Fabrikationen beschreibbar, die Lebewesen und deren Körper durch Intoxikation schädigen können. In dieser Weise sind sie in Relation zu ihren Wirkungsstätten (den Körpern von Lebewesen) zugleich potenziell sozio-bio-chemisch wirksame Fabrikationen. Solche Objekte sind sowohl in alltägliche Praktiken eingebunden als auch in außeralltäglich wahrgenommene Krisen, die die Entwicklung neuer Verfahren ihrer Isolierung und Regulierung erfordern. Als eingebunden in alltägliche Praktiken lassen sich beispielsweise solche Putzmittel oder Pflanzenschutzmittel anführen, deren Einsatz bei ProduzentInnen und KonsumentInnen als ‚kontrollierbar‘ und ‚funktional‘ gilt, wobei sie etwa von AktivistInnen in den Bereich des Krisenhaften überführt werden können, was auf die Fragilität toxischer Objekte zwischen Alltag und Krise verweist. Als krisenhaft werden eben solche toxischen Objekte wahrgenommen, die politische, juristische, aktivistische und mediale Aushandlungen evozieren und die in gewisser Weise ‚gesellschaftlich aufgeladen‘ sind. Beispiele für solche als krisenhaft hervortretenden Objekte sind (unter anderem hierzulande) etwa hoch radioaktive Abfallstoffe, deren Isolation in einem ‚Endlager‘ eine gesellschaftliche Großaufgabe mit Konfliktpotenzial darstellt, Herbizide, die als krebsverursachend und als Gefahr für Biodiversität diskutiert werden, oder Emissionen wie Stickoxide, die zuvor politisch und juristisch festgelegte Grenzwerte überschreiten.5 Der Übergang von einem alltäglich eingesetzten 5 Wie Paracelsus (1915: 25) bereits im fünfzehnten Jahrhundert argumentierte, existieren giftige oder ungiftige Stoffe nicht per se, sondern es kommt auf deren Menge an: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift, allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist“. Aus heutiger Sicht lässt sich ergänzen, dass ein Stoff zudem als Giftstoff adressiert werden muss, um nicht nur chemisch bzw. biochemisch, sondern auch gesellschaftlich wirksam zu werden.

Herausforderung von Natur/Kultur

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zu einem als krisenhaft und in besonderer Weise als riskant beurteilten toxischen Objekt ist hiernach insofern kontingent, als ein zuvor als ‚harmlos‘ oder als ‚kontrollierbar‘ beurteilter Stoff mit der Zeit als einzuhegendes Risiko relevant bis brisant gemacht wird, was weitere Regulierungen bis hin zu Verboten nach sich ziehen kann. Mit dem Begriff der toxischen Objekte wird demnach eine heuristische Perspektive verfügbar gemacht, die neben der Integration solcher Objekte in den alltäglichen praktischen Gebrauch besonders die potenziell schädlichen (Aus-) Wirkungen von erzeugten Objekten fokussiert – seien es industriell erzeugte Güter oder Abfallprodukte. Nicht mehr primär die kooperativen Verbindungen zwischen Sozialität und Materialität, zwischen stofflicher und Wirkmacht und menschlicher Handlungsmacht, zwischen einer materialbezogenen ‚Natur‘ und einer humanbezogenen ‚Gesellschaft‘ bzw. ‚Kultur‘ stehen hierbei im Vordergrund, sondern die destruktiven Potenziale solcher Fabrikationen. In dieser Weise wird mit der Fokussierung auf toxische Objekte eine Verschiebung bzw. eine Spezialisierung vorgenommen: Vom Einbezug materieller Aktivität zum Einbezug von Toxizität als Relation zwischen Natur und Kultur, Natur und Gesellschaft, Stoffen und menschlichem sowie mehr-als-menschlichem Leben (Tiere, Pflanzen). Toxizität wird dabei gefasst als in Relation zu Lebewesen giftige bzw. schädliche Wirkung sozio-chemischer Fabrikationen und wird demnach als eine bestimmte Form materieller Aktivität relevant, die zugleich immer auch an ihre Identifikation durch sozio-technische wissenschaftliche Praktiken gebunden ist – oder anders formuliert: Toxische Objekte sind solche sozio-chemischen Fabrikationen, deren (Aus-)Wirkung eine für Lebewesen schädliche ist, wobei sie eben auch in ihrer Schädlichkeit identifiziert werden müssen, um als toxische Objekte behandelt zu werden. Objekte, die als toxische Objekte behandelt werden, lassen sich ganz allgemein zunächst daran erkennen, dass sie umgeben werden von Separatoren, die ihre Toxizität eindämmen, abschirmen und somit trennend wirken sollen, sowie Regulatoren, die den Umgang mit ihnen festlegen. Separatoren können beispielsweise ganz einfache Schutzhandschuhe beim alltäglichen Gebrauch von Putzmitteln sein, bis hin zu komplexen Infrastrukturen wie einem – etwa hierzulande – noch zu konzipierenden ‚Endlager‘, in dem hoch radioaktiver Abfall durch spezielle Behälter (Castoren) und Gesteine (etwa Steinsalz, Tongestein, Granit) für einen unvorstellbar langen Zeitraum zu isolieren bzw. von Lebewesen zu separieren versucht wird. Beispiele für Regulatoren sind etwa die Vorgaben für Hersteller, giftige Haushaltsmittel entsprechend zu kennzeichnen und mit dem Hinweis zu versehen, diese außerhalb der Reichweite von Kindern aufzubewahren, bis hin zu langwierigen Verfahren wie etwa der Ausarbeitung von Gesetzen im Kontext der Standortauswahl für ein ‚Endlager‘.

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Toxische Objekte in ihrer mitunter nutzenbezogenen und zugleich schädlichen materiellen Aktivität im Einsatz (post-)industrieller Gesellschaften lassen sich einerseits „als Mischformen zweier reiner Formen“ (Latour 2017a: 105) beschreiben, die aus der Annahme der Trennung von Natur und Kultur, von stofflicher und menschlicher sowie insgesamt vitaler Welt hervorgehen. Zugleich reproduzieren sie eine solche Trennung, indem sie weitere Objekte der „Reinigung“, „Trennung“ und „Aufteilung“ (Latour 2017a: 105) bzw. der Separation und Regulation erfordern, um Lebewesen – nicht zuletzt Menschen – zu schützen. Dabei steht die Nutzenbezogenheit toxischer Objekte in einem ambivalenten Verhältnis zu ihrer Schädlichkeit: Einmal kann die Schädlichkeit eines toxischen Objekts bereits im Prozess seiner Produktion als dessen Nutzen definiert sein – man denke etwa an Pflanzenschutzmittel, die gezielt gegen bestimmte als ‚Schädlinge‘ ausgemachte Tiere eingesetzt werden (Schädlichkeit = Nützlichkeit aus Sicht der ‚Modernen‘); zudem verfügen toxische Objekte über das Potenzial, Schädlichkeit bzw. Toxizität zu emittieren, die nicht in ihre Produktionsprozesse eingelassen ist und die somit als ‚unkontrolliert‘, ‚unerwünscht‘ und nicht zuletzt als ‚gefährlich‘ hervortritt (Schädlichkeit = Gefahr bzw. Risiko). In ihrer Nutzenbezogenheit sind toxische Objekte anthropozentrische Erzeugnisse: Stoffe dienen hiernach Menschen und ihren Interessen und werden etwa gegen nicht-menschliche Lebewesen eingesetzt, die ihre Ressourcen gefährden. Auch solche toxischen Objekte, die als Abfallprodukte anderer Erzeugnisse entstehen, wie etwa giftiger Müll, lassen sich in die Logik des Anthropozentrismus einordnen, ebenso stoffliche Artefakte, deren Toxizität erst mit der Zeit identifiziert wird und die entsprechende Behandlungen erfordern. In ihrer produktiv-destruktiv wirkenden materiellen Aktivität sind toxische Objekte allerdings nicht allein vor dem Hintergrund ihrer humanzentrierten bzw. anthropozentrisch ausgerichteten Produktion zu betrachten, sondern auch in ihren (Aus-)Wirkungen bzw. mit Blick auf ihre Rezeption. Werden toxische Objekte als krisenhaft beurteilt, indem ihre materielle Aktivität als ‚außer Kontrolle‘ geraten erscheint, nehmen sie verstärkt humandezentrierende Qualitäten an: Menschliche Handlungsmacht wird sodann durch die potenzielle Eigendynamik dieser Objekte mit deren Wirkmacht konfrontiert, die als (noch) ‚unbeherrschbar‘ hervortritt, was wiederum humanrezentrierende Handlungszwänge in Form weitergehend zu entwickelnder und zu beschließender Maßnahmen ihrer Regulierung und Separierung evoziert. In dieser Weise setzen toxische Objekte jenes dualistische Verhältnis zwischen Natur und Kultur, zwischen Natur und Gesellschaft unter Spannung, aus dem sie hervorgegangen sind, wie im Folgenden näher ausgeführt wird.

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Toxische Objekte zwischen Natur und Kultur bzw. Natur und Gesellschaft

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wird im Folgenden eine Positionierung toxischer Objekte in Bezug auf Natur-Kultur-Verhältnisse vorgenommen. Toxische Objekte gehen aus der Produktion hybrider NaturKulturen hervor (Gesing et  al. 2019), eingebunden in technologische Prozesse, an denen menschliches Handeln und materielle Aktivität beteiligt sind. In der Logik ihrer Produktion bedingen sich die beiden Sphären Natur und Gesellschaft bzw. Kultur demnach (s. etwa Latour 2017a: 14). Mit Blick auf ihre Hervorbringung werden toxische Objekte sodann beschreibbar als soziochemische Fabrikationen, die eine giftige Wirkmacht entfalten, wenn sie auf entsprechende Wirkungsstätten (Körper) treffen. Zugleich werden sie als Objekte einer eben objektivierten Natur bzw. einer zum Objekt gemachten Stofflichkeit relevant und damit als Erzeugnisse eines dualistischen Natur-Kultur- bzw. Natur-Gesellschaft-Verständnisses, das Menschen und Stoffe, Natur und Gesellschaft bzw. Natur und Kultur, Subjekte und Objekte unterscheidet. Mit Blick auf ihre (Aus-)Wirkungen bzw. ihre Rezeption verfügen toxische Objekte über das Potenzial, eine Eigendynamik zu entwickeln, die menschliches Handeln durch materielle Aktivität herauszufordern vermag: Wird ihre Toxizität als Gefahr bzw. Risiko identifiziert, geben sie Anlass für (weitergehende) Regulierungen, Separierungen und Entwicklungen von Strategien der ‚Detoxifizierung‘. In diesen Fällen wird menschliches Handeln einmal durch eine destruktiv wirkende materielle Aktivität herausgefordert und in seiner, aus anthropozentrischer Perspektive zugeschriebenen Vormachtstellung dezentriert. Insbesondere, wenn toxische Objekte als ‚außer Kontrolle‘ geraten erscheinen, wird diese Dezentrierung wahrnehmbar: Zunächst etwa als ‚Ohnmacht‘ in Anbetracht von ‚Katastrophen‘, die mit gesundheitsschädigenden bis tödlichen Folgen einhergehen, als ‚Hilflosigkeit‘, wenn Menschen sich den schädlichen Wirkungen von Stoffen ausgesetzt sehen, oder in der wissenschaftsbasierten Beobachtung von Daten, mit denen Vergiftungen ganzer Ökosysteme sichtbar bzw. messbar (gemacht) werden. Dabei werden menschliches Handeln und – mit Blick auf dessen Positionierung – auch menschliche Handlungsmacht sodann rezentriert, wenn es an die Entwicklung und Durchsetzung von Regulierungsverfahren bzw. Detoxifizierungsprozeduren geht: Kollaborationen zwischen verschiedenen Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Umweltverbänden sowie aktivistischen Gruppierungen engagieren sich – in der Regel mit unterschiedlichen Perspektiven auf das zu

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regulierende toxische Objekt, bis hin zu grundlegendem Dissens –, um dieses in seiner Gefährlichkeit einzuhegen und seiner Aktivität etwas entgegenzusetzen. Ein Beispiel für solche Kollaborationen hierzulande ist etwa die Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“, die von 2014 bis 2016 Empfehlungen über das Standortauswahlverfahren für den angefallenen radioaktiven Abfall in Deutschland erarbeitete und die in ihrer Konstellation RepräsentantInnen aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zusammenführte. In dieser Weise lässt sich festhalten: Mit Blick auf die Seite der Rezeption wird weniger der hybride Charakter toxischer Objekte relevant, als vielmehr die Problematik ihrer dichotomen Struktur. Toxische Objekte verfügen über das Potenzial, sich als schädlich auf beide Sphären ‚der Moderne‘, eine primär menschliche Gesellschaft und Kultur sowie eine anthropozentrisch verfasste, nicht-menschliche Natur, auszuwirken. In dieser Weise stellen toxische Objekte jenes dualistische Verhältnis von Natur und Gesellschaft, Natur und Kultur, aus dem sie hervorgegangen sind, zur Disposition bzw. greifen dieses an und ziehen es in Zweifel. Auf Diskursebene wird dies in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht zuletzt mit Blick auf solche posthumanistischen Ansätze beobachtbar, die zu alternativen Ontologien aufrufen und Sichtweisen dies- oder jenseits der Hegemonie menschlichen Handelns eröffnen. Wird ein toxisches Objekt als krisenhaft identifiziert und behandelt, steht nicht weiter dessen Dienstbarkeit für anthropozentrisch ausgerichtete Gesellschaften im Vordergrund, sondern dessen Eliminierung zum Schutz von Menschen und weiterem Leben. So werden durch als krisenhaft beurteilte toxische Objekte nicht zuletzt Menschen auf ihre Stofflichkeit zurückgeworfen, und damit auch eine ihrem Selbstverständnis nach humanzentrierte Gesellschaft. In dieser Weise sind toxische Objekte ambivalent: Sie sind Erzeugnisse und stehen im Dienste von Gesellschaften, die ein naturalistisches sowie zugleich ökonomisiertes Verständnis von ‚Natur‘ privilegieren, und verfügen zugleich über das Potenzial, sich eben gegen diese Gesellschaften und ihre ‚Naturen‘ zu wenden, indem sie ihre eigendynamische destruktive Wirkmacht entfalten können. Anders formuliert: Toxische Objekte gehen zwar aus der Verbindung der beiden Sphären von Natur und Kultur hervor, sie stellen deren Trennung durch ihre potenziell destruktive Wirkmacht aber auch zur Disposition – besonders dann, wenn sie als ‚außer Kontrolle‘ geraten erscheinen und ihre Toxizität in beide Bereiche emittieren.

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Schluss: Toxische Objekte zwischen De- und Re-Zentrierung menschlichen Handelns

Der Aufsatz hat sich zum Ziel genommen, erste Überlegungen zu einer Heuristik toxischer Objekte zu formulieren und diese im Spannungsfeld von Natur und Kultur bzw. Natur und Gesellschaft zu diskutieren. Hierzu wurde argumentiert, dass toxische Objekte sich mit Bezug auf ihre Produktion als hybride und kollektive sozio-chemische Fabrikationen der Moderne beschreiben lassen, an deren Erzeugung Menschen und Stoffe, menschliches Handeln und materielle Aktivität, eingebunden in technische Prozesse, beteiligt sind. Toxische Objekte gehen dabei entweder direkt als Produkt oder indirekt als Abfallprodukt aus der Behandlung und dem Einsatz von Materialien bzw. Stoffen und ihrer Behandlung als Ressourcen (post-)industrialisierter Gesellschaften und ihrer epistemischen, ökonomischen und politischen Kulturen hervor, die Natur zum Objekt von ‚Forschung und Entwicklung‘ machen und damit die Trennung beider Bereiche (re-)produzieren. Mit Blick auf ihre Rezeption bzw. auf ihre identifizierten (Aus-)Wirkungen werden toxische Objekte als Herausforderung für eben diese Trennung von Natur und Gesellschaft bzw. Kultur, von materieller und sozialer Welt, von menschlicher Handlungsmacht und stofflicher Wirkmacht relevant. In dieser Weise gehen toxische Objekte zwar aus der Kooperation zwischen einer ihrem Selbstverständnis nach humanzentrierten Gesellschaft bzw. Kultur und einer davon abgegrenzten materialzentrierten Natur bzw. Stofflichkeit hervor. Zugleich stehen sie beiden Bereichen jedoch auch gegenüber und können diese – so sie eine aus menschlicher Sicht krisenhafte Eigendynamik entwickeln – angreifen und gefährden, indem sie eine ‚unbeherrschbar‘ erscheinende sozio-bio-chemische Wirkmacht entfalten. In ihren destruktiven Potenzialen stellen toxische Objekte die Separation beider Bereiche grundlegend zur Disposition und ziehen die ‚Moderne‘, aus der sie hervorgegangen sind, in Zweifel. Dies lässt sich gegenwärtig nicht nur an posthumanistischen Diskursen und ihrer Forderung der Etablierung alternativer Ontologien, sondern auch anhand konkreter Debatten um einzelne produzierte Stoffe nachvollziehen: Ist es noch vertretbar, Kernenergie und damit hoch radioaktive Abfallstoffe zu produzieren? Welche politischen Maßnahmen führen zur Reduktion von CO 2? Sollte der Einsatz bestimmter Pflanzenschutzmittel mit Blick auf den Verlust von Biodiversität nicht verboten werden? Wie lässt sich die Erzeugung und Distribution von Mikroplastik in Ökosystemen reduzieren?

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Maßnahmen zur Separierung und Regulierung eines ‚außer Kontrolle‘ geratenen toxischen Objekts reproduzieren in gewisser Weise die Trennung beider Bereiche im Sinne eines Zugzwangs, sodass ein ‚Ausstieg‘ aus einer solchen Ordnung und Weltsicht so lange als schwierig erscheint, wie diese ‚Objekte der Modernen‘ ihre toxische Aktivität emittieren und menschliches Handeln dahingehend herausfordern, als dass Strategien zur Einhegung ihrer destruktiv wirkenden materiellen Aktivität entwickelt und umgesetzt werden (müssen). Insbesondere die Positionierung menschlichen Handelns in Relation zu materieller Aktivität rückt mit einer solchen heuristischen Perspektive mit Bezug auf dessen bzw. deren Zentrierung, Dezentierung und Rezentrierung in den Fokus. Wird die Seite der Produktion toxischer Objekte betrachtet, lässt sich festhalten, dass diese Objekte als Artefakte, die auf der anthropozentrisch ausgerichteten Trennung von Natur und Kultur bzw. Natur und Gesellschaft basieren, als humanzentrierend einzuordnen sind. Zugleich weisen sie als Erzeugnisse beider Bereiche in ihrer Hybridität von Natur und Kultur bzw. Natur und Gesellschaft humandezentrierende Qualitäten in der Weise auf, als dass sie – wie dies unter anderem die Akteur-Netzwerk-Theorie längst argumentiert hat – aus der Verbindung von menschlichem Handeln und materieller Aktivität hervorgehen. Wird die Seite ihrer Rezeption bzw. ihrer (Aus-) Wirkungen in den Blick genommen, kommen ebenfalls humandezentrierende Dynamiken zum Tragen: So konfrontieren toxische Objekte Gesellschaften mit ihren in mitunter gravierenden Ausmaßen hervortretenden Eigendynamiken, was sie sodann als Krise, Katastrophe, Risiko und bzw. oder Gefahr relevant und brisant werden lässt. Sodann lassen sich in den Versuchen der Einhegung dieser Objekte humanrezentrierende Praktiken und Prozesse ausmachen, die in der Entwicklung von Separatoren und Regulatoren einschließlich von Prozeduren der ‚Detoxifizierung‘ beobachtbar werden: Insbesondere, wenn Objekte (akut) humantoxisch wirken, werden Maßnahmen zum Schutze von (menschlichem) Leben ergriffen.6 Kurzum: Als Artefakte der ‚Moderne‘ stellen toxische Objekte anthropozentrische Perspektiven zur Disposition, indem sie auch auf das destruktive Potenzial der daraus erwachsenen sozio-materiellen Erzeugnisse verweisen. Zudem zeigen sie sich als Herausforderung solcher Ansätze, die die Korrektur der ‚Moderne‘ und ihres zerstörerischen Potenzials vornehmlich in einem 6 Das Beispiel des Insektensterbens durch den verstärkten Einsatz von ‚(Nutz-)Pflanzenschutzmitteln‘ und ‚Unkrautvernichtern‘ verdeutlicht diese Primärstellung des Menschen durch Menschen: Erst mit der Erkenntnis, dass Insekten auch für die menschliche Existenz eine wichtige Rolle spielen, werden Verbote und Einschränkungen bestimmter Herbizide medial und in der breiten Öffentlichkeit diskutiert.

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‚Austausch‘ oder einem ‚Wechsel‘ der Ontologie sehen: So sind diese Objekte einschließlich ihrer toxischen Aktivität nun ‚in der Welt‘ und evozieren durch ihre eigendynamische Aktivität Zugzwänge ihrer weitergehenden Separierung, Isolierung und Regulierung und damit in gewisser Weise die Reproduktion der ‚Moderne‘ – auch wenn sie längst als Hervorbringungen jener hybriden NaturKulturen bzw. Natur/Kulturen entlarvt worden sind, die sie nun intoxifizieren und schädigen.

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Von Pfützen und Lücken Urbanes Wasser posthumanistisch gelesen Ina Dietzsch

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie urbanes Wasser aus einer posthumanistischen Perspektive erzählt werden kann. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich als empirische Kulturwissenschaftlerin und Wissensanthropologin mit dem Thema Wasser und beobachte immer stärker, welche Nachlässigkeit wir damit begehen, wenn wir nicht nur im Alltag Wasser als Selbstverständlichkeit annehmen, sondern ihm auch in einer kritischen kulturwissenschaftlichen Forschung kaum analytische Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Genauer betrachtet, bündeln sich im Thema Wasser aktuelle Fragen zu alltäglichen Praktiken und grundsätzliche philosophische Überlegungen zu herrschenden oder marginalisierten Vorstellungen des Mensch-Seins. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. Die Argumentation, die dabei entfaltet wird, beginnt zunächst mit einer kleinen Episode, die als Ausgangspunkt dienen wird, um daraus verschiedene Fäden aufzunehmen: Auf meinem morgendlichen Routineweg in Basel komme ich regelmäßig an einem Ort vorbei, dessen Wahrnehmung sich eigentlich gar nicht besonders aufdrängt. Es ist ein Stück asphaltierten Gehwegs vor einem AsiaFood-Restaurant. Dieses Stück Asphalt ist jeden Morgen an einer bestimmten Stelle von einer seltsamen, feuchten Bläschenschicht überzogen, ganz gleich ob es geregnet hat oder nicht. Es lässt sich gar nicht genau definieren, ob es sich um einen feuchten Fleck oder eher eine Pfütze handelt, denn die Erscheinung ändert sich je nach Tageszeit der Beobachtung und dem gerade vorherrschenden Wetter. Mit einem analytisch geschärften Blick für Wasser begann mich das Phänomen zu irritieren, von Tag zu Tag mehr, bis ich ihm nachging. Eines Tages konnte ich schließlich beobachten, wie eine Frau zu Tagesbeginn ihren Wischeimer nach dem Auswischen des Restaurants auf die Straße in den Rinnstein leerte und wie erst eine Pfütze, dann ein Wasserfleck zurückblieb, der schließlich im Laufe des Tages abtrocknete und verschwand oder in der allgemeinen Nässe des Regens aufging.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_017

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Modernes Wasser

Diese Episode kann Ausgangspunkt für verschiedene Erzählungen sein. Eine naheliegende steht im Kontext von modernem Wasser als einem Konzept, das Wasser objektiviert und vom Menschen trennt (vgl. Hastrup/Rubow 2014; Linton 2014, 2010). Das Entleeren des Wischeimers auf die Straße lässt sich dann als eine urbane Praxis im Umgang mit einem solchen Wasser als Objekt begreifen. Der sich wiederholende Charakter dieser Praxis verweist auf eine städtische Normalität. Der arbeitende Körper der Frau, der Wischeimer, der Gehweg und der Rinnstein folgen in einem wiederkehrenden Ablauf einer alltäglichen Rhythmizität und einer bestimmten urbanen Ordnung. Es lässt sich vorstellen, wie der Wassereimer unter einem Wasserhahn gefüllt, mit einer reinigenden Substanz versetzt zum Säubern eines Bodens verwendet wird und schließlich den städtischen Kreislauf als Schmutz- bzw. Abwasser verlässt. Diese städtische Ordnung basiert auf einigen selbstverständlich angenommenen Erwartungen von Wassersicherheit, z. B. als Vertrauen in die Tatsache, dass sauberes Wasser über Wasserhähne in Haushalte fließt und dieser Fluss zuverlässig von menschlicher Hand an- und abgestellt werden kann, oder dass verschmutztes Wasser in Abwasserleitungen über Reinigungssysteme in einen globalen Wasser-Kreislauf zurückgeführt wird. Zugleich verlässt sich diese Wassersicherheit auf staatliche Regularien sowie entsprechende Technologien und Kontrollsysteme, welche in wechselseitiger Bestätigung die Kontrollierbarkeit des Wassers zu einer erfahrbaren Tatsache werden lassen. Es kann hier auch von einer modernen Wassersicherheit gesprochen werden, denn sie gründet historisch auf 1. Erfahrungen von eingelösten Visionen funktionierender urbaner Infrastrukturen der europäischen Stadt, 2. durch moderne Wissenschaft abgesicherten Ideen von Hygiene, die sich in städtischen Alltagen verselbstständigen und selbstverständlich werden konnten und 3. maßgeblich durch urban und/oder water citizenship (Paerregaard et  al. 2016; vgl. Robins 2019) geregelten Verteilungsmodi, die urban citizenship mit einem Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser verbinden – obwohl zunehmende Kommerzialisierung dies immer wieder unterläuft, z.  B.  wenn  Teile städtischer Infrastrukturen privatisiert werden oder kommerziell Trinkwasser anbietende Unternehmen ein Misstrauen in das Funktionieren öffentlicher Infrastrukturen kompensieren. Zudem hat sich in diese Wassersicherheit ein naturwissenschaftlich begründetes Verständnis davon eingeschrieben, dass immer das Gleiche gemeint ist, wenn von Wasser die Rede ist. Wir können hier also von einer Wasserwelt sprechen, in der

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moderne hydro-soziale Beziehungen (Krause/Strang 2016; Linton/Budds 2014) vorherrschen und in denen Wasser als natürliche Ressource und Teil einer objektifizierbaren Natur gilt. Exkurs: Wasseruhren Für die Ordnungsarbeit, die dies alles bewerkstelligt, können Wasseruhren als paradigmatisch gelten. Sie zerlegen, ganz in der Logik des modernen Wassers, Wasser in kleine, getaktete Einheiten, mit denen es anschlussfähig an Prozesse der Berechnung wird und damit auch an Marktpreise, an das Monitoring von Konsumverhalten oder an andere Infrastrukturen wie Energie- und Immobilienmärkte. Wasserzähler können in diesem Zusammenhang als rhythmische Schaltstellen für die Trennung von Mensch und Wasser und den Anschluss von Wasser an Technologien verstanden werden. Als sogenannte Flügelradzähler bündeln sie verschiedene Wasserflüsse innerhalb eines oder mehrerer Haushalte zu einer Einheit. Die Geschwindigkeit des rotierenden Flügelrades verhält sich dabei berechenbar proportional zur Menge des Wassers, das durch die Leitung läuft und das Rad bewegt. Mit Hilfe einer entsprechenden mathematischen Formel, mit der diese Proportion ausgedrückt werden kann, wird das Wasser in einen Rhythmus von fünf Ziffern übersetzt. Um die einzelnen Messungen identisch und wiederholbar zu machen, müssen die Geräte kalibriert werden. Dieser Prozess der Standardisierung, welcher weitere Anschlussfähigkeit sichert, wird am Ende mit einer Konformitätsprüfung (Eichung) abgeschlossen. Wasserzähler zeigen damit besonders deutlich, wie modernes Wasser auf eine ganz bestimmte Art und Weise Verhältnisse von Mensch und Wasser ordnet, die auf einem bestimmten Menschbild gründen. Der kulturwissenschaftliche Blick legt hier eine Ordnung frei, in der die Grenze zwischen beiden streng bewacht wird, die Wasser und Mensch in Relation zueinander raumzeitlich ordnet, trennt, aber auch zusammenbringt. Durch mehr oder weniger fest in urbane Landschaften eingebaute Formen werden die Wasserflüsse in bestimmte Richtungen gezwungen (z.  B. in begradigte Flussläufe, durch Abflüsse und Pumpen in Leitungssysteme) sowie zeitlich über die Rhythmen reguliert, die den Fluss von Wasser durch Hähne, Verschlüsse oder Schalter elektrischer Pumpen und Schleusen erlauben oder unterbrechen. Zu dieser modernen Wasserwelt gehört einiges an Reinigungsarbeit (Latour 2017), die nicht nur Menschen und Wasser trennt, sondern auch mehr-als-menschliche Wesen herausschreibt und Wasser als Flüssigkeit sowohl von Luft als auch von Sedimenten und Land separiert.

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Verkomplizierungen

Meine von einem immer wiederkehrenden feuchten Fleck mit Bläschen auf einem Gehweg mitten in Basel erzeugte Irritation eröffnet einen anderen Blick auf diese Zusammenhänge, so meine Argumentation. Die Schwierigkeit beginnt schon damit, dass sich nicht genau sagen lässt, ob wir es mit einer Pfütze oder einem Fleck zu tun haben und dass dieses Ding im Sinne einer materiellen Entität zugleich beständiger Veränderung unterliegt. Folgen wir zunächst der Pfütze: Puddles thrive with modernism, in modernist environments. They […] are like modern shadows: a  mostly overlooked, but omnipresent insinuation of darkness, pointing to the limits of modern design and control over environments given the overpowering excess of geological forces, the capacity of soil and rain, of earth and water, not to destroy the modern project, but to deform it, to render it strange,

schreiben Ignacio Farias und Mirja Busch in einem 2019 veröffentlichten kleinen Essay.1 Im Zusammenhang mit modernen Infrastrukturen zeigen Pfützen und nasse Flecken die Grenzen der Regulierbarkeit von Wasser an und verweisen auf etwas, das in Unordnung ist. Die Pfütze zeigt uns deshalb einen Weg auf, der die für gewöhnlich angenommenen, geordneten Mensch-WasserVerhältnisse aufbricht und entlang dessen sich neue Welten entfalten. Pfützen widersetzen sich der technologischen Norm des Durchflusses. Sie bringen ihn zum Stocken, eröffnen im Gegensatz zu technologisch von Keimen und Bakterien weitgehend befreitem Trinkwasser neue Lebensräume und lassen damit zugleich die streng bewachten Grenzen des modernen Wassers fließend werden. Wenn sich Pfützen aus Abwasser bilden, dann wird zudem sichtbar (und kann damit auch wieder Verhandlungsgegenstand werden), was in der Ordnung des modernen Wassers ansonsten eher unsichtbar bzw. versteckt bleibt – das Schmutzwasser. Abwasserpfützen unterlaufen also, ebenfalls in einem sehr wörtlichen Sinne, die modernen Reinigungsarbeiten, indem sie sich mit anderen Lebenswelten mischen und diese kontaminieren. In beiden Fällen entzieht sich Wasser einer nur auf die Nutzung durch Menschen orientierten, modernen Ordnung. Pfützen sind zudem endliche amphibische Episoden (zum Begriff des Amphibischen in der Anthropologie s. u.), die durch Sickern und/oder Verdunstung verschwinden. Als Zeichen und Folge eines Lecks in einer Leitung oder eines verstopften Abflusses können sie aber 1 http://www.mirjabusch.com/texts/dont-fix-the-puddle/ [Zuletzt besucht am 16.12.2022].

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zugleich auch im Rhythmus technologischer Prozesse wiederkehren. An meinem Fallbeispiel wird zudem deutlich, dass sich das in der Pfütze sammelnde Wasser und später der Fleck einer Zuschreibung als natürlich entziehen: Ihr Vorkommen ist weder an Wetter noch an Grund- oder Oberflächenwasser des jeweiligen Ortes gebunden. In seinem Changieren zwischen der Flüssigkeit im Eimer, der Verbindung, die es mit dem Asphalt eingeht und später in seiner Verdunstung zeigt sich die Wandelbarkeit des (hier: urbanen) Wassers in Gestalt und Materialität. Dies evoziert weitere, ontologische Überlegungen: Ab wann und wie lange lässt sich überhaupt von Wasser sprechen? Die Anthropologie hält für die analytische Betrachtung dieser Fragen theoretische Anregungen bereit, die immer weiter weg von einer klaren Trennung von Menschen und Wasser und immer tiefer hinein in einen Anthropozentrismus-kritischen Dschungel posthumaner Verwicklungen führen. Karine Gagné und Matthias Rasmussen z. B. sprechen von einer Amphibious Anthropology, die sich mit der „confluence of land and water“ beschäftigt und sich etymologisch auf Leben bezieht, das die besondere Eigenschaft hat, auf zwei Seiten (im Wasser und an Land) zu agieren (2016: 136). Franz Krause untersucht, was er Land-Wasser-Nexus nennt, und kommt zu dem Ergebnis, dass „land, water or a mixture of both can be traced as an evolving web of relationships between human imaginations and practices, and the materialities of water, mud, sediment, dams, floodgates etc.“ (2017: 1). Ein wieder anderer Zugang operiert explizit mit dem Begriff von Nässe bzw. Feuchte (wetness), um Zusammenhänge zu beschreiben, in denen Menschen und Wasser hydrosoziale Beziehungen eingehen. Dies hat, wie ich an anderer Stelle bereits beschrieben habe, weitreichende Konsequenzen, weil hier eine grundlegende common sense-Vorstellung des westlichen Denkens verlassen wird (vgl. da Cunha 2018; Dietzsch 2021).2 Statt Nässe als eine bestimmte Konzentration der chemischen Verbindung H2O zu betrachten, wird Wasser hier zu einem besonderen (fließenden) Zustand von Nässe.

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Posthuman – eine Positionierung

Rosi Braidotti gilt als bedeutende Vorreiterin und Vertreterin eines kritischen posthumanistischen Denkens. Sie versteht posthuman einerseits als Beschreibung der gegenwärtigen Lage, andererseits als eine „theoretische Figuration“ (Braidotti 2021: 217). Das Posthumane sei dabei, so Braidotti, „weniger 2 Siehe hier auch verschiedene Vorträge aus dem DELTA-Projekt: https://delta.phil-fak.unikoeln.de/ergebnisse/konferenzbeitraege [Zuletzt besucht am 16.12.2022].

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eine dystopische Zukunftsvision als ein Bestimmungsmerkmal unserer historischen Situation“ (ebd.). Mit Braidottis Ansatz wird uns ein Analyseinstrument in die Hand gegeben, mit dem spezifische Kontexte posthuman gelesen werden können. Vor dem Hintergrund, dass wir es immer mit komplexen Zusammenhängen und Relationen zu tun haben, hilft das Bestimmungsmerkmal „posthuman“ dabei, Fragen zu genieren bzw. zu präzisieren, die in bestimmten Forschungszusammenhängen jeweils auf das „human“ und das „post“ sowie auf die Verhältnisse zielen, in denen beides miteinander verwoben wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Situation, in die meine Episode eingebunden ist, als eine beschreiben, in der die Logiken des modernen Wassers (und die damit verbundenen Mensch-Wasser-Verhältnisse) zum Teil irritiert, zum Teil intensiviert und unter Umständen zum Teil auch aufgelöst werden: Irritiert, weil Pfützen in der Regel aus dem Bewusstsein der Moderne verdrängt werden oder von Unordnung zeugen und deshalb tendenziell als zu lösendes Problem bearbeitet werden. Gleichzeitig wird die moderne Reinigungsarbeit durch eine wachsende Aufmerksamkeit für Pfützen als Anzeiger von Unordnung oder Verfall weiter angetrieben und u. U. sogar noch intensiviert, weil in einer zirkulären Bewegung beständigen Fortschritts, zum Beispiel durch digitale leak detection3, versucht wird, auch den letzten sich widersetzenden Tropfen Wasser unter Kontrolle zu bringen. Aufgelöst werden die Logiken des modernen Wassers erst da, wo Wasser, Pfützen oder Nässe ganz eigene Welten bilden, in denen Wasser sich dem ausschließlich auf die Nutzung durch Menschen ausgerichteten Zwang des kontrollierten Sammelns und Fließens systematisch und erfolgreich entzieht. Braidotti schreibt weiter: „Ich habe die posthumane Situation als Konvergenz des Posthumanismus einerseits und des Postanthropozentrismus andererseits definiert, angesiedelt in der Wirtschaftsform eines fortgeschrittenen Kapitalismus“ (Braidotti 2021: 217). Diese Position grenzt den kritischen Posthumanismus von anderen Trans- bzw. Posthumanismen ab, die eher aus einer Intensivierung moderner (i.  d.  R. kapitalistischer) Logiken erwachsen. Aus einer feministischen Denktradition heraus überwindet der kritische Posthumanismus, so die Philosophin Janina Loh, „durch eine Hinterfragung der tradierten Kategorien des (humanistischen) Welt- und Menschenbildes das gegenwärtige Verständnis vom Menschen“ (Loh 2019: 10). Mit Bezug auf das moderne Wasser wäre hier z. B. das Konzept der bakteriologischen Stadt (Gandy 2006) zu nennen, in der es vor allem um Hygiene und damit u. a. das Ausmerzen bzw. Auf-Distanz-Halten aller Lebewesen gegangen war, die einen 3 Weiterführend: https://www.sciencedirect.com/topics/engineering/leak-detection-system [Zuletzt besucht am 16.12.2022].

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bestimmten angestrebten Standard von Wasserqualität für menschliche Lebewesen auf schädliche Weise beeinträchtigen könnten. Zudem wurde darin Ansässigkeit von Menschen mit deren Bezugsrechten für Wasser verknüpft; eine strukturelle Verbindung, die – wie Matthew Gandy aufzeigt – inzwischen eher brüchig geworden ist. Als weiteres Beispiel eines auf traditionellen modernen Annahmen beruhenden Menschenbildes, das sich im Verhältnis zum Wasser herausbildet, kann die Vorstellung einer immer effizienter zu regierenden Einheit einer Wasser verbrauchenden Bevölkerung angeführt werden. Der kritische Posthumanismus hinterfragt das in solchen Konstruktionen angelegte humanistische Subjekt, „seinen epistemischen und moralischen Status sowie die politischen und Wissensinstitutionen, die sich aus dem humanistischen Paradigma ergeben“ (Loh 2019: 10) und stellt jene Charakteristika menschlichen Daseins in den Vordergrund, die über das moderne, andround anthropozentristische Menschenbild hinausreichen. Mit Bezug auf Wasser macht das die hydrofeministisch und posthumanistisch argumentierende Astrida Neimanis explizit, die mit der Aussage „We are all bodies of water“ auf „unsere wässrigen Beziehungen“ und auf mehr-als-menschliche hydrocommons verweist: „The bodies from which we siphon and into which we pour ourselves are certainly other human bodies […], but they are just as likely a sea, a cistern, an underground reservoir of once-was-rain“ (Neimanis 2017: 2). Sich auf Donna Haraway und Braidotti beziehend argumentiert Neimanis, dass wir nie nur menschlich gewesen sind, sondern unsere watery relations in Welten des Lebens eingebunden sind, in denen Körper und Gewässer sich gegenseitig bedürfen. Im Gegensatz zum hydrologischen Kreislauf sieht Neimanis Menschen somit in komplizierten Verhältnissen von Gabe, Diebstahl und Schuld mit anderem „wässrigen Leben“ verbunden. Wenn ich nun hier im Zusammenhang mit einer kulturwissenschaftlichen Erforschung urbanen Wassers den wissenstheoretischen Rahmen des kritischen Posthumanismus wähle, dann geht es mir dabei in erster Linie darum, hegemoniale Mensch-Wasser-Verhältnisse kritisch zu betrachten, darin eine Vielfalt an Möglichem zu eröffnen und vor allem, alternative Ontologien aufzuspüren sowie ihre Beziehungen zueinander (miteinander, nebeneinander usw.) zu verstehen.

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Wasser ontologisch

Für Untersuchungen auf der Grundlage eines kritischen Posthumanismus braucht es neue Forschungswege, -ansätze und Begrifflichkeiten (Bolinski/ Rieger 2021). Im Vordergrund steht dabei vor allem, was als „das Menschliche“

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gilt oder gelten kann. Die anthropozentrische Idee vom Menschen hat Wasser zu einer (an- und abschaltbaren) Ressource bzw. zu einem Instrument für menschliches Wohlbefinden werden lassen. Dem lassen sich im Sinne Neimanis’ andere „wässrige Beziehungen“ entgegenstellen. Auch die stabil scheinenden Infrastrukturen des modernen Wassers lassen sich konzeptionell anders begreifen, wenn mit der eingenommenen Perspektive Fragen danach aufgeworfen werden, wie sich Menschen und Wasser miteinander versammeln und komplizierte Verbindungen mit dem Mehr-als-Menschlichen und dem Technologischen eingehen. Die Rezeption zahlreicher Arbeiten aus der STSForschung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Soziale nicht mehr nur als Wechselwirkung unter Menschen, sondern als komplexe Verhältnisse von menschlichen und nicht-menschlichen Akteurinnen und Akteuren verstanden wird, deren Logiken die empirische Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie auf die Spur zu kommen versucht. Das Spektrum dessen, was als das Andere gilt, erweitert sich dabei beträchtlich, wenn Technologien, Infrastrukturen, aber auch Tiere, Pflanzen oder Mikroorganismen symmetrisch in die Analyse des Sozialen einbezogen werden und diese damit produktiv verkomplizieren. Forschende finden sich dabei zunehmend in einer Situation wieder, in der sie aus der Komplexität des Feldes heraus neue Komplexität schaffen. Matei Candea hat treffend festgestellt, dass damit immer nur explizit partielle und unvollständige Fenster in komplexe Welten geöffnet werden können (Candea 2007). Im Sinne Candeas kann die Irritation, die die Pfütze auf dem Asphalt bei mir hinterließ, produktiv zur Öffnung eines neuen Fensters in die Komplexität gemacht werden. Mir machte sie eine unüberbrückbare Lücke zweier Wasserontologien zugänglich. Aber was heißt es eigentlich, von verschiedenen Wasserontologien zu sprechen? Für den Begriff der Ontologie(n), wie er in der Kulturanthropologie und in der STS-Forschung gebraucht wird, haben Casper Bruun Jensen, Andrea Ballestero, Marisol De la Cadena, Michael Fisch und Miho Ishii einen hilfreichen Überblick über die zum Teil heiß geführten Debatten erarbeitet, in denen um „neue Ontologien“ gestritten und im Zuge dessen bisweilen auch von einem ontological turn gesprochen wird (Jensen et al. 2017). Die Autor*innen benutzen den Begriff der practical ontologies, der darauf fokussiert, wie unterschiedliche Welten durch multiple – in koevolutionären Prozessen miteinander verbundene – Akteurinnen und Akteure ganz konkret hergestellt und transformiert werden.4 Sie schließen mit der zusammenfassenden Erkenntnis, 4 Wichtig für meine Argumentation hier sind vor allem jene Zugänge, denen Konzepte wie Ko-Konstruktion oder Hybridität für die Beschreibung sozialer Situationen immer noch zu kurz greiffen. Nur um einige davon kurz aufzuzählen: Andrew Pickering wird zitiert mit

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dass all die Versuche, verschiedene Welten und deren Herstellung zu erfassen, einen gemeinsamen Ausgangspunkt besitzen: „the impossibility of unmediated access to the world of others“ (Jensen et al. 2017: 525). Während analytisch in solchen Versuchen häufig die Tendenz vorherrscht, Verbindungen nachzugehen, hat mich das Material meiner Feldforschung und die intensive Auseinandersetzung mit Marilyn Stratherns Partial Connections (Strathern 2004) zu der Frage geführt, wo solche Verbindungen gerade nicht entstehen und wie diese Momente analytisch produktiv gemacht werden können (vgl. auch Strathern 1996). Dabei ist das Konzept der Lücke zentral. Denn mehrere und andere Ontologien zuzulassen, bedeutet auch, mit Lücken zu leben, mit denen wir es innerhalb der hohen Komplexität tagtäglich zu tun haben. Immer wieder müssen wir darauf reagieren, dass ein Fluss von Anschlüssen zwischen Situationen, Handlungen, Informationen oder Materialitäten, den wir für selbstverständlich nehmen, aus verschiedensten Gründen unterbrochen wird oder unterbrochen zu werden droht. Immer wieder haben wir es mit Sinngrenzen zu tun, an denen sich etwas als illegibel oder inkommensurabel erweist, weil verschiedene Formen des world-making, wie Anna Tsing es nennt (Tsing 2011), involviert sind. Wiederum mit Bezug auf Wasser gedacht, benutze ich deshalb in Anlehnung an Kirsten Hastrups waterworlds den Begriff des waterworlding, der Wasserwelten explizit in den Kontext praktischer Ontologien stellt und es mir analytisch möglich macht, mich auf die Suche nach ontologischen Lücken zu begeben, die beim waterworlding sichtbar werden. Mit meinem Verständnis der Lücke schließe ich dabei weniger an eine alltagssprachliche Deutung von Lücke als Stelle an, an der in einem zusammenhängenden Ganzen etwas fehlt, sondern vielmehr an denjenigen Teil des etymologischen Bedeutungshofes, der die Lücke auf Luke zurückführt und als Öffnung versteht. Hier sehe ich das epistemische Potential des Begriffs. Strathern stellte schon 1991 fest: „Gaps seem to give us somewhere to extend: space for our prosthetic devices“ (Strathern 2004: 115). Ich lese dies als eine Aufforderung, auf die Lücken zu schauen, um etwas über die Art der prosthetic devices erfahren zu können, mit denen sie bearbeitet werden. Die Lücken, um „ontological change as a ‚dance of agency‘, a de-centered process or a flow of becoming, that constantly modifies the world“ (Pickering 1995; 2008). Aber auch Haraway mit ihrem „material-semiotic“ (Haraway 1991) und Karen Barad mit „agential realism“ (Barad 2007) sind dazu zu zählen. Aus der Anthropologie werden neben Helen Verran, die von ontologischen Differenzen in Bezug auf Zahlensysteme spricht, aber auch von „allowed temporary ontological convergence around particular projects“ (Verran 2002), Roy Wagner und Marilyn Strathern genannt oder Viveiros de Castro, Martin Holbraad und Morten Axel Pedersen (2014) (Jensen et al. 2017).

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die es mir im Folgenden gehen wird, zeichnen sich dadurch aus, dass sie prosthetic devices im Sinne von Ordnungsarbeit in Gang setzen, ohne dabei jedoch selbst geschlossen zu werden.

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Urbanes Wasser ontologisch

Ein ontologisch-analytischer Zugriff erlaubt es, je nach Art der jeweiligen sozialen Verflechtungen verschiedene Wasser zu unterscheiden. Der Forschungsgegenstand, den ich hier entfalte, ist demzufolge nicht einfach Wasser in der Stadt, sondern vielmehr ein hydro-soziales Ensemble, welches ich urbanes Wasser nenne. Am urbanen Wasser kann dann beispielsweise untersucht werden, wie sich das beschriebene moderne Wasser mit den modernen Elementen von Stadt als einer administrierbaren Einheit mit einigermaßen klar begrenzbar gedachter Bevölkerung, die über kontrollierbare Infrastrukturnetze – Wasser, Strom, Verkehr, Wohnraum usw. – versorgt wird, verbindet. Es lassen sich aber auch, wie meine eingangs vorgestellte Episode zeigt, verschiedene urbane Wasserontologien voneinander unterscheiden, die sich möglicherweise gar nicht wechselseitig aufeinander beziehen (können), auch wenn sie auf den ersten Blick miteinander verbunden zu sein scheinen. Die Frau, die das Restaurant täglich auswischt und ihren Eimer danach im Rinnstein leert, folgt zunächst einem alltäglichen Verständnis von modernem Wasser, welches symbolisch, praktisch und materiell von einer Logik geprägt ist, nach der Abwasser auf kürzestem Weg von Menschen in die Kanalisation gebracht werden soll. Diese Praktik erscheint im Kontext von urbanem Wasser nicht nur inzwischen veraltet, weil Abwasser längst über entsprechende Leitungen entsorgt wird. Sie widerspricht geradezu der Logik aktueller technologischer Wasserwelten, in die das städtische Wassermanagement des Kantons Basel-Stadt eingebunden ist. Denn dieses arbeitet bereits an einem parallelen Abwassersystem, in dessen Rahmen Regenwasser möglichst „unbenutzt“ und damit auch ungeklärt in den Rhein „zurück“ gelangen kann. Anders als in meiner Episode, in der das Wischwasser schließlich in einer Gemengelage von Asphalt, Sickerwasser, Regenwasser und Abwasser aufgeht, führt eine Differenzierung verschiedener urbaner Wassersorten zu einer Trennung von Regen- und Schmutzwasser, die in der Folge beide unterschiedlich behandelt werden. Zwischen den beiden hier beschriebenen, menschlich dominierten hydrosozialen Welten, ihren Eigenlogiken und infrastrukturellen Materialitäten, so mein Argument, klafft eine ontologische Lücke. Beschilderungen, wie diese mit dem Wortlaut: „Platzentwässerung direkt in den Rhein. Bitte vor Verschmutzung schützen! Kein Schmutzwasser, keine Flüssigkeiten, keine

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Abfälle!“ (s. Abb. 16.1), können dabei als prosthetic device verstanden werden, das die ontologische Lücke nicht auflöst, aber bearbeitet. Über die ökologische Nachhaltigkeit, die die neue Praxis verspricht, werden einerseits urbanes Wasser und Menschen auf neue Weise miteinander verbunden. Andererseits wird aber auch die moderne Reinigungsarbeit über den Versuch einer Intensivierung der Kontrolle weitergetrieben, wobei andere Wasserwelten mit ihrer Eigenlogik nicht nur systematisch vernachlässigt, sondern – wie gerade gezeigt – auch mit Verboten (s. o.) versehen werden.

Abb. 16.1

Urbane Kommunikation über Abwasserregeln

More-than-Human Verlassen wir die Eingangsepisode für einen Moment, um noch etwas dem Rheinwasser zu folgen und unseren Blick auf urbanes Wasser im Sinne urbaner Assemblagen auf die „comings and goings of the multiplicity of more-thanhuman inhabitants that make themselves at home in the city“ (Hinchliffe/ Whatmore 2006: 124) zu erweitern. Während die bakteriologische Stadt (Gandy 2006), wie oben bereits erwähnt, strikte Grenzen zwischen schädlichen und nützlichen Organismen zog (vgl. u. a. Fenske 2013), werden diese Grenzen hier gerade neu verhandelt.

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Schauen wir diesbezüglich noch an andere Orte urbanen Wassers in Basel: Seitdem in den letzten 15 Jahren weite Teile des Rheinufers umgestaltet wurden, hat sich auch die Bewirtschaftung des Wasserraumes Rhein nach dem Paradigma der Nachhaltigkeit verändert. Diese Veränderungen wurden durch einen neuen Lehrpfad begleitet, der in die „Vielfalt wertvoller Lebensräume“ Einblick zu geben versprach. Auf den verschiedenen Tafeln war der Rhein mal wilde, mal domestizierte Natur, mal Strom, der Müll transportiert, mal unbekanntes Reich, bewohnt von Pflanzen, Tieren oder Mikroben. Dabei wurden diese – wie auch bei andernorts geführten Diskussionen um Neobiota und invasive Pflanzen und Tiere – nicht nur nach einheimischen und fremden Spezies klassifiziert, sondern es wurde auch darüber entschieden, welchen von ihnen im Sinne des Naturschutzes eigene Interessen zugeschrieben werden und welchen nicht (vgl. Dietzsch 2017). Zwischen dem, was unter bestimmten Bedingungen sinnvoll in die menschliche Gemeinschaft eingegliedert werden kann und dem, was fremd bleibt und auch fremd bleiben soll, zeigt sich ebenfalls eine Lücke. Um diese zu verstehen, lohnt es sich, die komplexen Verhältnisse im Rhein und vor allem auf dessen Grund in leichter Anlehnung an Stefan Helmreichs dual ocean (Helmreich 2009) mit Bezug auf die Idee eines „dualen Flusses“ zu lesen. Helmreich hat in seinen anthropologischen Forschungen gemeinsam mit Meeresbiolog*innen einen doppelten Blick auf den Ozean herausgearbeitet, mit dessen Hilfe das Changieren menschlicher Naturverständnisse zwischen vertraut, anders bzw. fremd konzeptionell präzise erfasst werden kann. Das Konzept des dualen Ozeans lässt sich insofern auf einen Fluss wie den Rhein übertragen, als sich auch dieser als Raum des Aushandels der Relation verschiedener Formen des Fremden zum Menschlichen darstellt: Zum einen ist der Rhein Lebensraum von Mikroben, die sein Wasser ebenso wie menschliche Körper bewohnen, die als potentielle Vorfahren allen Lebens gelten und hilfreich beim Monitoring von Wasserqualität sind, sowie von Fischen, die als menschliche Nahrung dienen. Ihre Populationen eignen sich dazu, Verbindungen zu bekannten Formen und Phänomenen – wissenschaftlicher, umwelttechnischer, ökonomischer oder religiöser Art – zu schaffen, über die das Leben der Organismen im Wasser mit Sinn belegt werden kann. Das heißt, sie lassen sich mehr oder weniger präzise mit kultureller Ordnungsarbeit bearbeiten. Mit Rosi Braidotti gesprochen, lässt sich im Sinne eines morethan-human eine Erweiterung des Verständnisses von Bios gegenüber Zoé5 beobachten. Zum anderen aber ist da das Fremde, das Andere, das sich auf dem 5 Zoé meint dabei biologisches Leben und Bios das spezifisch menschliche (vgl. u. a. Weiss 2009).

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Rheingrund abspielt und der menschlichen, unmediatisierten Wahrnehmung nicht zugänglich ist – Zoé als „Naturkräfte“ und Spezies, die unerkannte Risiken bergen, bis hin zu koevolutionären Vorgängen, die dort vermutet werden müssen und die nur in Form genetischer Computersimulationen wahrnehmbar gemacht werden können. Die sich hier auftuende ontologische Lücke zwischen den beiden Teilen des „dualen Rheins“ ist eine zwischen Menschen und mehr-als-menschlichen Lebewesen, die zugleich den Deutungsraum des Menschlichen erweitert. Als prosthetic device fungiert hier die grundsätzliche Unterstellung einer gemeinsamen und sogar miteinander verflochtenen Praxis, nämlich der Migration: Kleintierspezies wie der Höckerflohkrebs oder die asiatische Körbchenmuschel sind mobil geworden, haben sich aus ihren „natürlichen Habitaten“ auf die Reise gemacht, zum Teil dabei menschliche Transportmittel nutzend. Ihre Zukunft bleibt offen. Auf dem Plakat von Abb. 2 ist zu lesen: „Wie die Entwicklung weiter geht, ist nicht klar. Von früheren Beispielen wie der Ausbreitung der Wandermuschel ist bekannt, dass sich die Bestände nach einer anfänglichen Massenentwicklung wieder auf eine weit geringere Dichte reduzieren“ (s. Abb.  16.2). Die Lücke zwischen dem Bekannten/Erforschten, das mehr oder weniger sinnvoll in Deutungen menschlicher Gesellschaft und ihre Risikokalkulationen einbezogen werden kann, und dem Unbekannten, NichtMenschlichen, wird dabei je nach Erkenntnis- und Erfahrungszuwachs verschoben, aber auch hier nicht aufgehoben. Es handelt sich vielmehr um eine wandernde ontologische Lücke. „Reales“, „virtuelles“ und „digitales“ Wasser Um die Idee der Lücke hier noch etwas weiterzuführen, möchte ich an dieser Stelle den Rhein als konkreten Fluss verlassen und in globale Zusammenhänge ausgreifen. Wie oben bereits festgestellt, zielen moderne Mensch-WasserVerhältnisse auf Berechenbarkeit. Die Reichweite, in der Wasserverbrauch relevant wird, ist global geworden. Um legitime Berechnungsgrundlagen wird damit ebenfalls global gerungen. Wasser wird in diesem Zusammenhang virtualisiert und digitalisiert. Der Begriff des virtuellen Wassers, entwickelt von dem britischen Geographen John Antony Allan zu Beginn der 1990er, wurde dabei ursprünglich dafür genutzt, um Wasserfußabdrücke skalierbar zu machen und die Wahrnehmung globaler Wasserprobleme politisch zu forcieren (Allan 1998). In diesem Verständnis ist virtuelles Wasser der Wasserverbrauch, der für die Produktion importierter Konsumgüter aufgewendet werden musste und damit bis dato in unseren täglichen Einkäufen versteckt blieb, weil er nicht in die Kostenkalkulation eingegangen war. Mit Bruno Latour könnten wir hier eine Kette von Transformationen sehen (Latour 2000), in der Wasser

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Abb. 16.2

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Neuankömmlinge im Rhein, Tafel des Vereins Rheinpfad

durch eine arithmetische Operation in bewegliche Objekte bzw. Güter eingeschrieben und damit global transportierbar gemacht wird. Das Konzept des virtuellen Wassers wurde aber aufgrund einiger Kritik weiterentwickelt und durch den Begriff des virtuellen Wasserhandels (Graham et al. 2020) ersetzt. Mit dieser Korrektur wurde die im Begriff des virtuellen Wassers angelegte ontologische Hybridität wieder zurückgenommen und die moderne Ordnung der Mensch-Wasser-Verhältnisse insofern wiederhergestellt, als sich „virtuell“ nun wieder ausschließlich auf den Handel mit Wasser (den Menschen treiben) bezieht. Damit wird Wasser wieder klar abgegrenzt und eingebunden in ein modernes Verständnis von (urwüchsiger) Natur. Diese Grenzziehung stellt offenbar eine bedeutsame Voraussetzung dafür dar, dass Wasser von Menschen überhaupt ökonomisiert werden kann. Doch was wäre, wenn wir für eine kulturwissenschaftliche Analyse beim Begriff des virtuellen Wassers bleiben und uns von dem folgenden Gedankengang Stefan Helmreichs inspirieren lassen? „I have wondered whether water is itself

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virtual – that is, a collection of varied effects that answer to a common name without necessarily sharing a common substrate or essence“ (Helmreich 2010: 14). Ein offeneres Verständnis von Virtualität würde die Möglichkeit eröffnen, über H2O (Chang 2014; Linton 2010) hinaus noch viele weitere Wasserwelten zu öffnen, in denen sich z.  B. „reales“, „virtuelles“, „digitales“ usw. Wasser bewegen, begegnen, durchdringen oder in jeweils ontologisierenden Praktiken voneinander getrennt werden kann. Im Handbuch „Virtualität“ der beiden Medienwissenschaftler Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger lassen sich theoretische Inspirationen für solch ein offenes Verständnis von virtuellem Wasser finden. In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber fest, dass, wo immer von Virtualität die Rede ist, es um die Aushandlung von Wirklichkeitsverständnissen geht. Statt von einem strikten Gegensatz zwischen real und virtuell müsse dabei von einer Vielzahl von inbetweens bzw. von einem gegenseitigen Wechselspiel von Virtualisierung und Aktualisierung ausgegangen werden. Auch impliziere Virtualität nicht per se physikalische Abwesenheit, sondern eher eine Vielzahl von Abwesenheiten unterschiedlicher Qualität (vgl. Kasprowicz/Rieger 2020). Wasserontologien und die sie schaffenden Praktiken des waterworlding vor dem Hintergrund eines solchen weiten Virtualitätsverständnisses zu lesen, führt uns wieder zurück zu Pfützen und Lücken als Instrumenten zur Untersuchung von urbanem Wasser wie auch von Wasserontologien, in denen hegemoniale Vorstellungen von Wasser als fließendem Nass ernsthaft in Frage stehen. Pfützen und Wasserflecken zeigen sehr feine Graduierungen einer An- und Abwesenheit von Wasser an, die sich eher, wie oben bereits dargelegt, über den Begriff der Nässe fassen lassen. Aber auch das Beispiel der Wasseruhr lässt sich hier weiterdenken und zu einer weiteren Wasserontologie verfolgen, nämlich zum digitalen Wasser. Im digitalen Wasser kommen zusätzlich Wellen zum Einsatz, die die Werte aus den Wasserzählern digital auf Empfangsgeräte übertragen. Ein zentrales Charakteristikum des Wassers – nämlich seine Fließeigenschaft – wird hier insofern relativiert, als die Messwerte nicht nur direkte Zustände von Fließen und Nicht-Fließen abbilden, sondern Wasser auch in einen Prozess verwickeln, der vor allem durch das Fließen und NichtFließen von elektrischem Strom beherrscht wird. Digitales Wasser besteht nicht aus Wassermolekülen, die nach den Regeln chemischer oder physikalischer Gesetze transformiert werden können, sondern ist ein Netzwerk von doing digital water data, einer Aktivität menschlicher Akteure und Maschinen, die Wasserräume erfasst, misst und erschafft. Das Messen von Wasser ist eine Praxis zwischen Fluss und Halt, zwischen georeferentiellen Daten mit Bezug zur Erdoberfläche und Daten, die sich auf fließendes bzw. strömendes Wasser beziehen. Was auch immer vom Wasser

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gemessen wird, der Fluss von Wasser wird gestoppt oder muss zumindest einen festen Punkt passieren, wo ein Sensor einen „Schnappschuss“ macht. Digital gemessenes Wasser besteht somit aus rechnenden Räumen, in einer Ansammlung von diskreten Elementen und unterbrochenen Signalen. Es ist hier vor allem die menschliche Imagination, die auch digitales Wasser fließend macht. An dieser Stelle sehe ich ein weiteres prosthetic device: Unterschiedliche Ontologien werden im Alltagsverständnis unter dem Terminus Wasser und der Vorstellung, dass dessen Haupteigenschaft das Fließen ist, in Deutungsähnlichkeiten gebracht und daraufhin auf ähnliche Weise behandelt.6 Wie voraussetzungsvoll die Eigenschaft des Fließens aber ist, wird etwa daran deutlich, wie viel Aufwand z. B. in Wasserrohrleitungssystemen betrieben werden muss, um physisches Wasser fließend darin in Gang zu halten und zu verhindern, dass es sich irgendwo staut und zu modern beginnt.

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Das Posting urbaner Wasserhumanismen: Ein Ausblick

In meinen Forschungen zeigt sich modernes Wasser als unvollendetes Projekt, aus dessen Korsett sich jedoch Mensch-Wasser-Verhältnisse zunehmend lösen. Mit dem Blick auf verschiedene Ontologien werden neue/andere Verbindungen, aber vor allem auch Lücken beobachtbar. Die Pfütze ist aus einer solchen Perspektive betrachtet viel mehr als nur nicht funktionierende Ordnung im Kontext des modernen Wassers. Sie kann als empirischer Ausgangspunkt dienen, etwas über urbane Wasserpraktiken zu erfahren, in denen Menschen und Infrastrukturen kompliziert miteinander verstrickt sind. Inwieweit bietet nun aber, bezogen auf mein Forschungsfeld, eine explizit kritisch-posthumanistische Perspektive neue Einsichten? Ich meine, dass sowohl urbanes, virtuelles als auch digitales Wasser als posthumane Kategorien gelten können, da sie das Verständnis von modernem Wasser und der damit verbundenen modernen Mensch-Wasser-Verhältnisse in der einen oder anderen Weise potentiell überschreiten. Über die produktive Verkomplizierung des Forschungsgegenstandes Wasser wird dabei ein machtvoll vereinfachendes Verständnis von Mensch-Wasser-Verhältnissen abgelöst, in denen Wasser als „natürliche Ressource“ ein den menschlichen Bedürfnissen untergeordnetes Dasein fristete. Deutlich wird, dass nicht nur Menschen unterschiedliche Verhältnisse mit Wasser eingehen, sondern dass auch unterschiedliche Wasser auf verschiedene Weise Elemente um sich herum versammeln, die über das, 6 An dieser Stelle sollte jedoch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dies zunächst vor allem in „wasserreichen“ oder „wasserselbstverständlichen“ Kontexten funktioniert.

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was als menschlich gilt, von Menschen erfasst und vorgestellt werden kann, weit hinausgehen. Wasser in solchen verschiedenen Welten und ihren jeweiligen verschiedenen Ontologien zu betrachten, ermöglicht eine deutliche Differenzierung und Erweiterung der Perspektive, in der Beziehungen, die zuvor etwa als Mensch-Wasser-Verhältnisse, Wasser-Technologie-Verhältnisse oder Mensch-Tier-Verhältnisse definiert wurden, in ihrer Verschränkung neu konzeptualisierbar werden. Wenn Pfützen in der Stadt oder das Unbekannte innerhalb eines Flusses nicht nur als Zeichen des Anderen in der Ordnung modernen Wassers gedeutet werden, sondern (ontologische) Lücken kenntlich machen, dann werden Einblicke in die fraglichen Komplexitäten ermöglicht. Eine Perspektive des kritischen Posthumanismus ermöglicht dabei nicht nur den Einbezug verschiedener Ontologien, sondern erlaubt es auch, genau jene Momente analysierbar zu machen, in denen moderne Humanismen und deren machtvolle Begrenzungen überschritten bzw. überschreitbar werden.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 16.1: Urbane Kommunikation über Abwasserregeln (eigene Abbildung). Abb. 16.2: Neuankömmlinge im Rhein, Tafel des Vereins Rheinpfad, www.rheinpfad. ch.

VI. Posthumane Kunst: Bilder – Körper – Kristalle

Agalmatophilie und Hermeneutik Posthumane Kunsterfahrung vor dem Bildwerk Ralf Bormann

„Sollen doch, o Freund, in des Zeus dodonäischem Tempel einer Eiche Reden die ersten prophetischen gewesen sein. Den damaligen nun, weil sie eben nicht so weise waren als ihr Jüngeren, genügte es in ihrer Einfalt auch der Eiche und dem Stein zuzuhören, wenn sie nur wahr redeten. Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und von wannen. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich so oder anders die Sache verhält.“ (Platon, Phaidros 275b-c)

Als John Berger die unlängst wiederentdeckte Höhle von Chauvet besuchte, betrat er die einstige Wohnstätte von Menschen, deren unterdessen untergegangene Welt des Aurignacien in erster Linie nicht von anderen Menschen, sondern von unzähligen Tieren bevölkert war. The nomads were acutely aware of being a minority overwhelmingly outnumbered by animals. They had been born, not on to a planet, but into animal life. They were not animal keepers: animals were the keepers of the world and of the universe around them, which never stopped. Beyond every horizon were more animals (Berger 2002).

Hinter jedem Horizont nur noch mehr Tiere – mit dieser seinen folgenden Betrachtungen vorausgeschickten Einfühlung in den Ambitus eines CroMagnon-Menschen vermeidet es Berger, den in der Höhle angetroffenen, rund 35.000 Jahre alten Kunstwerken unbekümmert den eigenen, „modernen Gesichtsraum“ (Kaschnitz von Weinberg 1965: 9) aufzudrängen. Auf seinem Abstieg in die Höhle suchte sich Berger vielmehr dem im Gestein eingekapselten, wie Kaschnitz von Weinberg (1965: 9) derlei nennt, „künstlerischen Existenzraum“ anzuverwandeln, um den dort vorfindlichen Kunstwerken in der Begabung einer diesen gemäßen Urteilskraft entgegenzutreten. In der Betrachtung der Zeichnungen auf den passend zu den in unvordenklicher Zeit aufgebrachten Formen ein- und ausschwingenden Höhlenwänden schließlich gelangt Berger zu der erstaunlichen Ansicht, der Künstler habe, im flackernden Licht seiner Fackel, mit dem ihn umgebenden Fels eine aufschlussreiche Unterhaltung geführt:

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_018

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Ralf Bormann The artist conversed with the rock by the flickering light of his charcoal torch. A protruding bulge allowed the bear’s forepaw to swing outwards with its awesome weight as it lolloped forward. A fissure followed precisely the line of an ibex’s back. The artist knew these animals absolutely and intimately; his hands could visualise them in the dark. What the rock told him was that the animals – like everything else that existed – were inside the rock, and that he, with his red pigment on his finger, could persuade them to come to the rock’s surface, to brush against it and to stain it with their smells (Berger 2002).

Im Inneren des Steins, so die dem Künstler überbrachte Auskunft der Felswände, liege der Ursprung all dessen, was existiere, und eben auch der die Welt des Cro-Magnon-Menschen beherrschenden Tiere, und der Mensch sei es, der mit seiner Kunst die Tiere aus der Tiefe des Felsen an die Oberfläche locke und sie dort ihre für uns ästhetisch erlebbare Gestalt annehmen lasse. Dabei geschahen Dinge, die spätere Jahrtausende kaum nachvollziehen können. Ein Kopf kam ohne Körper. Zwei Köpfe trafen ein, einer direkt hinter dem anderen. Ein einzelner Hinterlauf suchte sich einen Leib, der bereits vier Beine besaß. Sechs Geweihstangen auf einem einzigen Schädel. Es ist unerheblich, wie groß wir sind, wenn wir uns gegen die Oberfläche schieben: wir mögen riesig oder winzig sein – es zählt allein, wie weit wir durch den Fels gekommen sind. Das Schauspiel dieser ersten gemalten Geschöpfe ist weder seitlich noch nach vorn ausgerichtet, es führt immer nur nach hinten, in den Fels. Woher sie gekommen sind. Genau wie wir … (Berger 2003: 38).

Nur vordergründig lässt diese Anmutung an den Ursprungsmythos der Kunst denken, wonach die Tochter des sikyonischen Töpfers Butades im Kummer über ihren scheidenden Geliebten dessen im Schein des Kerzenlichtes an die Wand geworfenen Schatten umreißt (Plinius XXXV, 43, 151). Bei Giorgio Vasari (2004: 49–50) ist es der Lydier Gyges, der im Licht eines lodernden Feuers mit einem Stück Kohle seinen eigenen Schatten nachzeichnet, wie dies Vasari auch in dem um 1572 ausgeführten Fresko in der Sala delle arti e degli artisti in seinem Haus in Florenz zeigt (Abb.  17.1). Dies alludiert zudem die automimetische, Angelo Poliziano zugeschriebene Sentenz ogni pittore dipinge sé, vom sich in seinem Werke selbst malenden Künstler, der sich unbewusst, unfreiwillig und überdies unvermeidlich in sein Werk einbringe. Girolamo Savonarola präzisiert und differenziert in einer seiner Prediche sopra Ezechiele von 1497 diesen Topos, wenn er herausstellt, dass es nicht zwingend das tatsächliche Aussehen des Künstlers sei, das in seinen Bildern Eingang finde, sondern vielmehr sein concetto: Jeder Maler malt sich selbst. Er malt sich nicht als Mensch, denn er fertigt Bilder von Löwen, Pferden, Männern und Frauen an, die nicht er selbst sind. Aber er

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malt sich als Maler, d. h. nach seinen Ideen. Und obschon die Maler verschiedene Entwürfe und Bilder ausführen, so tragen diese doch alle den Stempel ihres Geistes (Schnitzer 1924: 809).

Abb. 17.1

Giorgio Vasari, Der Ursprung der Kunst (Der Lydier Gyges zeichnet sich selbst im Fackelschein), um 1572

Diese Ansicht folgt Aristoteles’ Diktum, ἀπὸ τέχνης δὲ γίγνεται ὅσων τὸ εἶδος ἐν τῇ ψυχῇ (Aristoteles, Metaphysik VII, 7, 1032b), durch Kunst entstehe dasjenige, dessen Form in der Seele vorhanden ist, nota bene in der Seele des Urhebers, namentlich des Künstlers, wie Benedetto Varchi 1549 in seinem kunsttheoretischen Traktat Due Lezioni unter Verwendung eines AverröesKommentars klarstellt: Ars nihil aliud est, quam forma rei artificialis, existens in anima artificis; quae est principium factivum formae artificialis in materia (Panofsky 1960: 67), Kunst sei nichts anderes, als die in der Seele des Künstlers bestehende Form eines künstlichen Dinges, die, das heißt, die Seele, das herstellende Prinzip der Kunstform in der Materie ist. Ganz eindeutig äußert

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Ralf Bormann

sich der Heilige Thomas von Aquin in seinem Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles: Si enim est causa per se: vel est principium motus in quo est, et sic est natura; vel est extra ipsum, et sic est ars. Natura enim est principium motus, in eo in quo est. Ars vero non est in artificiato quod fit per artem, sed in alio (Thomas von Aquin, Sententia Metaphysicae, VII, 6, 1); gibt es eine Ursache per se, und ist sie das intrinsische Bewegungsprinzip eines Dinges, ist dieses ein Gegenstand der Natur; liegt diese Bewegung freilich außerhalb eines Dinges, handelt es sich um Kunst. In der Natur liegt ein Bewegungsprinzip in dem, in dem es existiert; Kunst aber existiert nicht in dem Ding, das durch die Kunst geschaffen wurde, sondern in etwas anderem. So einfach verhält sich die Angelegenheit vorliegend erkennbar nicht. Berger konstatiert, das Bild liege durchaus nicht im Menschen beschlossen und werde von diesem dem Stein aufgetragen, es sei vielmehr im Stein, und der Mensch sei, wie auch Martin Heidegger (1977: 21–22) im Ursprung des Kunstwerkes unterscheidet, allenfalls derjenige, der es hervorbringt, nicht aber (lediglich) verfertigt. Albrecht Dürer (1969: 295) schreibt in seinem Großen Ästhetischen Exkurs am Ende des dritten Buches der Lehre von menschlicher Proportion, „warhafftig steckt die kunst inn der natur, wer sie herauß kan reyssenn, der hat sie“. Doch reißt nach Bergers Bericht nicht sogar, in einem hermeneutischen Übersprung, vielmehr das Bild im Stein uns in sich hinein, wie Goethe es in dem tragischen Fall eines Fischers beschreibt? Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Tau? […] Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; Da war’s um ihn geschehn; Halb zog sie ihn, halb sank er hin Und ward nicht mehr gesehn. (Goethe 1789: 156)

Wie aber ist das möglich? „Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk?“ (Heidegger 1977: 21). In den nachstehenden Zeilen wird der Versuch unternommen, eine kunsthistorische Sicht auf das Begriffspaar Natur/Kultur einzunehmen und Ausschau danach zu halten, ob es jenseits des Menschen ein „Kunstwollen“ (Riegl 1927: 401) gibt, das eben nicht der Materie als forma acta, als gemachte Form, angemutet wird, sondern es die Materie selbst ist, die im Werkprozess als forma agens, als wirkende, auftritt und sich zu erkennen gibt, und wir gut beraten sind, ihr zuzuhören, wie es uns Platon in seinem diesen Zeilen vorangestellten Hinweis aus dem Phaidros anempfiehlt. Und dergleichen zeigt sich in dem werkprozessualen Aufeinandertreffen von Künstler und Kunstwerk dergestalt, dass „der Andrang des Verborgenen ursprünglich

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und einfach dränge und daß die entwerfende Fügung als lang vorbereitetes Werk ergriffen werde. Daß die ursprüngliche Einheit des Andrangs und des Entwurfs gleich wesentlich zu beiden ein Ereignis werde“ (Heidegger 2014: 237). So zu fragen erhält schon daraus seine Rechtfertigung, dass in der gesamten abendländischen Geistesgeschichte bereits danach gefragt worden ist und Anmutungen darüber auf uns gekommen sind, die nahezulegen scheinen, dass dem Kunstwerk eine gewichtige Rolle als Akteur im Kunstgeschehen zuzubilligen ist.1 Wie der Titel dieser Darlegungen besagt, soll der Blick auf die Bildwerke, also Skulptur und Plastik, und zwar meist solche aus Stein, beschränkt, und nach den Weisen gefragt werden, dem Bildwerk die Wahrheit darüber zu entlocken, ob es, scholastisch gesprochen, Teil der natura naturata, der geschaffenen Welt, oder aber der natura naturans ist, des schaffenden Seins. Mögliche und nachfolgend nur in aller Kürze zu streifende Weisen dieses Wahrheitserwerbs oder besser auf seine Entbergung gerichteten Geschehens sind: die Erschaffung von Kunstwerken, die Betrachtung derselben, das Schreiben über sie, und, auch dies muss sein, der sexuelle Verkehr mit ihnen. Im ersten Teil geht es um den Stein: Ist da etwas im Stein, hat der Stein etwas? Wie ist es im Stein, oder trivial gesprochen, wie ist es dort hineingelangt? Was mag das sein, was da im Stein sei? Der zweite Teil handelt vom Menschen: Wie wird der Mensch dessen habhaft, was da im Stein sei, was der Stein habe? Und wenn man nicht weiß, was etwas ist, dann fragt man, ganz alchemistisch, danach, was es macht: Wie also wirkt es auf den Menschen? Und schließlich, und dies ist von besonderem Interesse für den Kunsthistoriker, wie wird es dem Menschen sichtbar?

1

Der Stein

Plinius berichtet im 36. Band seiner Naturalis historia über die „Beschaffenheit der Steine“, als einmal in den Steinbrüchen auf Paros ein Marmorbrocken durch Arbeiter mit Keilen aufgespalten worden sei, sich inwendig das Bild eines Silen gezeigt habe. Im 37. Band heißt es von der Edelsteinsammlung des Pyrrhus, darin sei ein Achat bewahrt, auf dem die neun Musen sowie Apoll, die Leier haltend, zu sehen seien: non arte, sed naturae sponte ita discurrentibus maculis, kein Werk der Kunst, sondern eine spontane Bildung der Natur, deren dem Stein verliehene Äderung sogar jeder der Musen das ihr zugehörige Attribut beigebe. Wie Stefan Trinks (2020) zeigt, treibt die Vorstellung von den 1 Im Übrigen auch in der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit selbigem, vgl. Bormann 2021.

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lapides vivi, den lebenden Steinen,2 auch die von der Lektüre der in Lukrez’ De rerum natura niedergeschriebenen Atomlehre und der Etymologiae des Isidor von Sevilla kommenden karolingischen Mönche bei der Illumination ihrer Evangeliare um, wenn uns aus den Musterungen der die Ammonischen Einteilungen strukturierenden Säulenschäften menschliche Antlitze entgegenblicken. Meister Eckhart (Quint 1963: 113) weiß davon, sô ein meister bilde machet von einem holze oder von einem steine, er entreget [trägt] daz bilde in daz holz niht, mêr er snîdet abe die spæne, die daz bilde verborgen und bedecket hâten; er engibet [gibt] dem holze niht, sunder er benimet im und grebet ûz die decke und nimet abe den rost, und denne sô glenzet, daz dar under verborgen lac.

Und der Genueser uomo universale Leon Battista Alberti (2000: 143/145) schreibt um 1435 in seinem Traktat De statua von dem Bildwerk, das im noch unbearbeiteten Steinblock bereits seiner Freilegung harre: „Andere verminderten lediglich: genau wie diejenigen, die eine gesuchte Menschengestalt, als sei sie in einen Marmorblock eingelassen und in ihm verborgen, ans Licht befördern, indem sie gleichsam das Überflüssige wegschlagen.“ Leben wir somit in einer Welt der Gestalten, die nur aus dem Stein befreit werden wollen? Und wie kommen die Gestalten überhaupt dazu, im Steine für uns vorfindbar sich einzurichten? In der Renaissance erstarkt zunehmend die Überzeugung, der Natur selbst komme die Künstlerschaft zu; Alberti (2002: 111) erspähte in den Bruchstellen von Marmorstücken die Köpfe bärtiger Herrschergestalten und Centauren, die dorthinein zu bringen offenbar die Natur sich als Malerin gefallen habe. Die Kunst- und Wunderkammern der Höfe füllten sich mit Belegen dieser Spekulation, wie etwa einer um 1600 bemalten Steinplatte, einst mutmaßlich Teil der Prager Sammlung Kaiser Rudolfs II., heute auf Schloss Ambras bei Innsbruck, die entlang der vom transluzenten Alabaster vorgegebenen Maserung und mit den ergänzenden Pinselstrichen Hans von Aachens eine Befreiung der Andromeda zeigt (Abb. 17.2). In spielerischer Verkehrung der Kooperation von künstlerisch tätiger Natur und Mensch legt Hans von Aachen malend der an den Stein geschmiedeten Andromeda eben jene Muscheln zu Füßen, die wir als tatsächliche Fossile in Sedimentgesteinen anzutreffen gewohnt sind. Hier finden, wie der Augsburger Patrizier Philipp Hainhofer 1628 auf der Durchreise in Innsbruck bei seinem Besuch des dortigen Schatzes von solchen Steinbildern mit selbst gewachsenen Landschaften und Gebäuden entzückt ausrief, Kunst und Natur zusammen, „so das ars vnd natura mit ain ander spilen“ (Doering 1901: 117). 1618/19 radierte Jacques Callot nach einer Zeichnung des 2 Auch, von Vergil und Ovid kommend, saxum vivum (Plumpe 1943).

Agalmatophilie und Hermeneutik

Abb. 17.2

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Hans von Aachen, Die Befreiung der Andromeda, um 1600

Fra Bernardino Amico da Gallipoli für dessen 1620 in Florenz erschienenen Trattato delle piante & Immagini de sacre edifizi di Terra Santa die Ansicht einer Skulptur, die als eine solche Autoglyphe (Baltrusaitis 1984: 59), als ein Bild von sich selbst, in der Geburtsgrotte Christi in Betlehem zu bewundern war und den Heiligen Hieronymus zeigen soll; in Athanasius Kirchers Mundus Subterraneus, erschienen 1665 in Amsterdam, findet sich ebenfalls eine Wiedergabe des prodigiösen Bildwerkes.3 In Ludger tom Ring des Jüngeren Doppelbildnis des Braunschweiger Goldschmieds Reinhard Reiners und seiner Frau von 1569 stehen die Portraitierten jeweils hinter einem Tisch, deren marmorne Tischplatten in ihrer natürlichen Musterung die Wiedergabe bukolischer und mythologischer Szenen bergen, so die einer Windmühle, oder eines geflügelten Drachen, der einen Wagen zieht. Auf dem Tisch vor dem Goldschmied (Abb.  17.3) steht zudem eine Vase, deren Inschrift „VERBIS IN HERBIS ET I“ zu in verbis, in 3 Anonymus: Figuras humanas exhibens, Kupferstich, in: Athanasius Kirchner: Mundus Subterraneus, in XII libros digestus; quo divinum subterrestris mundi opificium, mira ergasteriorum naturæ in eo distributio, verbo pantámorphou Protei regnum, universæ denique naturæ majestas, lib. VIII, sect. 1, S. 36, Tf. IV. Amsterdam: Joannem Janssonium, 1665.

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herbis et in lapidibus Deus (sunt virtutes) zu ergänzen ist: Gott zeigt sich in Worten, Kräutern und Gestein, resp. den Worten, Kräutern und Steinen wohnt eine große Kraft inne (in lapidibus ist im Bild wohlweislich nicht zu lesen, aber zu sehen, in Gestalt der steinernen Tischplatte, deren kunstvolle Maserung wie die darauf liegende Rose [herbis] die große Kraft demonstrieren, die ihnen innewohnt). Diese wahlweise dem apokryphen Salomon, so in der auf spätmittelalterliche Grimoire resp. Zauberbücher der italienischen Renaissance zurückweisende Clavicula Salomonis, oder, freilich fälschlich, Theophrastus Paracelsus zugeschriebene Parole begegnet bereits in der Summa de penitentia, complures sermones et exempla varia des Johannes de Deo. Etwa zur gleichen Zeit, mutmaßlich schon etwas früher, schreibt Freidank in seiner Bescheidenheit (um 1220–1230), „krût, steine unde Wort / diu hânt an kreften grôzen hort“ (1834: 111 = 1872: 168), so wie ganz ähnlich im Renner des Hugo von Trimberg von 1290–1300/1313 steht, „Edel gesteine, würze und wort Habent an kreften grôzen hort“ (1909: 34). Mitte des 14. Jahrhunderts wird die Ausgangsformel in leichter Abwandlung (Quia in herbis et verbis et lapidibus sūt virtutes) im Dialogus Creaturarum optime moralizatus des Maynus de Mayneriis (Magnus de Magneriis) wieder aufgegriffen.4 Im Jüngeren Titurel des Albrecht von Scharfenberg heißt es um 1260–75, „Sterne wuertze wort vnd ovch gesteine. Die haben crefte niht wan von des crefte. Der craft an allen dingen . was gebende  …“ (1842: 409), womit die Sphäre der Gralslehre berührt ist, und im vor 1278 entstandenen Roman de Marques des Rome (Alton 1889: 118) ist nachzulesen: „dieus dona vertu a .III. choses en tere, en pieres et en herbes et en paroles“, Gott verlieh drei Dingen auf der Erde Kraft, den Steinen und den Kräutern und den Worten. Im Trojanerkrieg des Konrad von Würzburg von 1280–1287 steht, „kein dinc hât ûf der erden an kreften alsô rîchen hort, sô steine, kriuter unde wort“,5 und in John Gowers Mirour de l’omme (Speculum hominis) von 1376–1379: „Om dist que dieus en trois parties Ad grandes vertus departies; Ce sont, sicomme l’en vait disant, Paroles, herbes et perries“,6 man sagt, daß Gott in drei Richtungen große Kräfte verteilt hat; das sind, wie man sagt, Worte, Kräuter und Steine.7 In seiner Predigt Adolescens, tibi dico, surge (Luk 7:14) schreibt Meister Eckhart (Quint 1958: 306) über die Kraft der Worte, Steine und Pflanzen:

4 XXVII, zitiert nach dem Exemplar der Bibliothèque nationale de France in Paris, Sig. Rés. g-Yc-31, der in Genf erschienenen Ausgabe von 1500 (ark:/12148/bpt6k70533r). 5 Konrad von Würzburg, Der Trojanerkrieg, 10858–10860. 6 John Gower, Mirour de l’omme (Speculum hominis), 25585. 7 Nach dem Cosmodromium des Gobelinus Persona von 1418 weiß ein gewisser König Goldemar davon, Christianos fidem in verbis: Judæos in lapidibus preciosis, & paganos in herbis ponere asseruit (Ætas VI, 70), zitiert nach: Meibom der Jüngere 1688: 286.

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Worte haben auch große Kraft, man möchte Wunder tun mit Worten. Alle Worte erhalten ihre Kraft vom ersten Wort. Steine haben auch große Kraft von der gleichen Art, die in den Sternen und im Himmel wirken.

Und Michelangelo Buonarotti (2002: 13) besingt den Sachverhalt, Aus Tieren, Kräutern, Worten, Steinen brächen Heilkräfte gerne aus; sie würden alle beschwörend reden, wenn sie, wie wir, sprächen.

Abb. 17.3

Ludger tom Ring der Jüngere, Bildnis des Braunschweiger Patriziers Reinhard Reiners, 1569

Abzugrenzen sind an dieser Stelle die uns angehenden Fälle der Autoglyphen, in denen die Natur als Künstlerin auftritt, zum einen von den Acheiropoieta, den nicht mit Händen gemachten, nicht von Menschenhänden geschaffenen

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Kunstwerken, zu deren berühmtesten Exemplaren das Schweißtuch der Veronika, das Abgar-Bild (Mandylion), die Sinai-Ikonen des Katharinenklosters sowie das Turiner Grabtuch zählen; zum anderen von den Zufallsgebilden, über deren Ursprung es ebenfalls bei Plinius heißt, Protogenes habe sich vergeblich an der Darstellung des Schaumes vor dem Maul eines keuchenden Hundes abgemüht und schließlich erbost über sein Missgeschick mit einem nassen Schwamm nach dem Gemälde geworfen, der dann den gewünschten Effekt herbeigeführt habe, fecitque in pictura fortuna naturam: so hat in der Malerei der Zufall die Naturwahrheit geschaffen (Naturalis historia XXXV, 39). In den Aufzeichnungen Leonardos findet sich die Empfehlung, sich in der Deutung nasser Flecken an den Wänden zur Übung der Einbildungskraft zu versuchen, und Giorgio Vasari (1843: 78) schreibt in seinen Künstlerviten über Leonardos Schüler Piero di Cosimo, dieser sei oft ausgegangen, um Thiere, Kräuter, oder irgendetwas Ungewöhnliches zu suchen, was die Natur bisweilen aus Laune oder zufällig gestaltet. Ueber solche Dinge gerieth er vor Freuden ganz außer sich, und erzählte sie so oft, daß wenn man es auch mit Vergnügen hörte, es doch zuweilen lästig wurde. Bisweilen blieb er vor einer Mauer stehen, gegen welche kranke Leute lange gespuckt hatten, und schuf sich daraus Reiter und Schlachten, die seltsamsten Städte und die größten Landschaften, welche je sehen worden sind. Dasselbe that er mit den Luftgebilden der Wolken.

Hierher gehören auch die von Hermann Rorschach entwickelten Formdeutungsversuche anhand von Tintenklecksen. Zählt sonach das hiervon zu unterscheidende, autoglyphe Bildwerk zu jenen „belebten, […] uns mitwissenden Dinge[n]“, die als unhintergehbare „Mitwisser unserer Not und Froheit“ uns umgeben, wie Rainer Maria Rilke (1950: 483–484) behauptet? Was aber wissen die Bildwerke in ihrem Kunstwollen über uns? Weiß der Stein etwas, das uns entgeht? Ahnt das Kunstwerk mehr über den Künstler und den Betrachter, als diese von ihm, und vor allem, von sich? Womit bereits das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens benannt wäre, namentlich den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Welche geheime Wahrheit nun hütet die Statue? Ist dort überhaupt dergleichen? Der spätantike Rhetor Themistios überliefert eine Sentenz Heraklits, wonach die Natur, das sei, das „Walten des Seienden, d. h. das Seiende in seinem Sein“ (Heidegger 1988: 13) es liebe, sich zu verbergen: φύσις […] κρύπτεσθαι φιλεῖ (Heraklit, Frgm. B 123; Themistios, or. 5,69 B). „Es ist sein eigentlicher, innerer Drang, verborgen zu bleiben und, wenn einmal unverborgen geworden, wieder in die Verborgenheit zurückzugehen“ (Heidegger 1988: 14). Wie aber ist das im Stein waltende Kunstwollen unseren Sinnen zu enthüllen? Wir haben aus der vorstehend gegebenen Sammlung gelernt, dass dem Stein etwas einwohne, das seiner Entbergung durch den Menschen harre,

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dem zudem ein dem Menschen erkennbares Kunstwollen zukomme, und das sich mit seinen Gestalten den Menschen zum Komplizen erküre, ihn zum gemeinsamen Spiel reize. Dieses zu ergründen, den Schleier zu lüften, „die richtige Perception“ mithin, „das würde heissen, der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt“, freilich ist ein „widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten […]“ (Nietzsche 1999: 884). Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari gesprochen, die hierin dem außerhalb Frankreichs noch viel zu unbekannten Gilbert Simondon folgen, breitet sich zwischen Form (morphe) und Materie (hyle) ein autonomer Bereich von mittlerer und vermittelnder Größe aus, ein selbständiger Raum, „der seine Materialität innerhalb der Materie ausbreitet, eine selbständige Zahl, die ihre Merkmale durch die Form zum Ausdruck bringt“ (Deleuze/Guattari 1992: 565), „um eine ganz neue Beziehung zwischen Gedanken und Dingen zu schaffen, eine vage Identität beider“ (Deleuze/Guattari 1992: 564). Der Künstler folgt der Materie, wie ein Handwerker, der hobelt, dem Holz folgt und den Fasern des Holzes, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Der oben dargelegte künstlerische Werkprozess, wenn er überhaupt für erforderlich angesehen wird und das Kunstwerk sich nicht gleich selbst entbirgt, erweist sich nicht als gebender, sondern als ein privativer, nehmender, als ein die Wahrheit des Steins entbergender Akt. Doch erfüllt der die im Steinblock eingeschlossene Gestalt freilegende Künstler damit, dem Bild nichts hinzu zu geben, indessen nurmehr das Überflüssige wegzuschlagen, nicht eine lediglich akzidentielle Rolle, die davon zudem gar nichts zu wissen scheint? Wie also antwortet der Mensch auf diesen „dunkle[n] Wunsch aller Dinge“ (Rilke 1996: 91), entborgen zu werden? Dieser Frage wenden wir uns im nun folgenden zweiten Teil zu.

2

Der Mensch

Timm Ullrichs ließ sich am 2. Mai 1981 in Nordhorn unter den Blicken einiger staunender Niedersachsen in einen eigens für ihn ausgehöhlten Granitstein einschließen. Zehn Stunden verbrachte Timm Ulrichs […] in absoluter Ruhestellung in diesem Stein. Für begrenzte Zeit wurden Organisches und Anorganisches zur Einheit, dem Stein wurde Leben einverleibt, der Körper eingebettet in die Verhärtungen der Erdgeschichte.8 8 http://www.kunstwegen.org/index.php?id=144 [Zuletzt besucht am 05.05.2023].

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Hier aber bleiben Mensch und Stein gerade voneinander Verschiedenes: Ein Mensch wird von Menschen für eine gewisse Zeit in den von Menschen dazu ausgewählten und vorbereiteten Stein gesteckt. Um aber das im ersten Teil dargelegte, uns vom Bildwerk gestellte Rätsel lösen zu können, wenn wir den „dunkle[n] Wunsch der Dinge“, von dem Rilke schreibt, den provokativen Ruf des Steines für einen Augenblick ernst nehmen und gar erhören wollen, müssen wir danach fragen, wie die Aufgaben zwischen den zwei absolut verschiedenen Sphären des Menschen einerseits und des Bildwerkes andererseits verteilt sind. Was ist vom Bildwerk zu erwarten, und was muss ihm entgegengebracht werden? In der hermeneutischen Zirkelbewegung, im Kreisen um das Bildwerk geschieht eine Dezentrierung des Menschen, und sie löst Heideggers (1967: 135–136) Forderung danach ein, eine unstete, stimmungsmäßig flackernde Betrachtung der Welt einzunehmen, in der das uns innerweltlich Begegnende, hier das uns angehende Bildwerk, überhaupt nur erschlossen werden kann: „Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist. Theoretisches Hinsehen“ indessen „hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet […]“. Hierin liegt gar ein später Beitrag zum Paragone, dem Wettstreit der Kunstgattungen Malerei und Bildhauerei, der besonders leidenschaftlich im italienischen 16. Jahrhundert ausgetragen worden ist. Vasari (2004: 39) referiert am Beginn seiner Viten die hierzu vertretenen, landläufigen Standpunkte, und kommt darunter auf diesen zu sprechen, wonach die Bildhauer zum Nachweis der Überlegenheit ihrer Werke gegenüber der Malerei es für besonders grundlegend halten, daß die Werke um so edler und vollkommener sind, je mehr sie sich der Wirklichkeit annähern, und sagen, daß die Skulptur die wirkliche Form nachahmt und ihre Werke in allen Ansichten zeigt, wenn man um sie herumgeht, während die Malerei, die mit dem Pinsel die einfachsten Umrißlinien auf planer Fläche angibt und nur eine Lichtquelle hat, lediglich eine einzige Ansicht darstellt. Viele von ihnen sind sogar so respektlos zu behaupten, daß die Skulptur der Malerei so überlegen ist wie die Wahrheit der Lüge.

Es ist auffällig, dass Vasari wie Heidegger eine Lichtmetaphorik aufrufen, um die das Sein wahrheitlich entbergende Wirkung des Zwielichtes zu verbildlichen, und dieses Sprachbild in Vasaris Fall der starren, den Betrachter autoritär bahnenden Lichtregie eines Gemäldes, bei Heidegger dem der theoretischen Disambiguierung eines Sachverhaltes mittels der Beleuchtungstechnik der Abblendung, das heißt der ihres Flackerns beraubende Begrenzung der Ausdehnung von Lichtstrahlen, gegenübergestellt wird. Die Betrachtung eines Bildwerkes im flackernden Spiel von Licht und Schatten führt dieses gleichsam auf seinen mythischen Ursprung zurück; der

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eingangs geschilderte Schattenriss, mit dem die Tochter des sikyonischen Töpfers Butades die Erinnerung an ihren scheidenden Geliebten erhalten wollte, entstand nicht zufällig im unsteten Schein des Kerzenlichtes (Plinius XXXV, 43, 151). Und auch Berger stellt sich die Entstehung der Höhlenmalereien von Chauvet im Schein der Fackel eines Cro-Magnon-Menschen vor Augen (Berger 2002). Enea Vico zeigt um 1544 das Studium der Bildwerke in den von flackernden Lichtquellen beleuchteten Räumen der Akademie des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli.9 Das dargestellte Interieur ist mit zahlreichen allegorischen Andeutungen durchsetzt, auf die hier nicht eingegangen werden kann und die im Sinne des schon angeführten Paragone den Vorrang der Bildhauerei vor der Malerei versinnbildlichen. In dem 1531 nach einer Zeichnung Bandinellis entstandenen Kupferstich des Agostino Veneziano10 sind ebenfalls die Mitglieder der Akademie beim Zeichnen der Bildwerke im Kerzenschein angetroffen, dessen flackerndes Licht offenbar auch die Fantasie des Stechers belebt hat (Abb. 17.4); so achte man auf die mittlere der im Hintergrund links auf dem Podest stehenden Statuetten, eine Mediceische Venus. Sie hält ihren rechten Arm, gewissermaßen in quantenmechanischem Vorgriff, in einer Superposition, in der Überlagerung zweier möglicher Zustände: In der Steinausführung ist der rechte Arm, wie für den Typus der Venus pudica zu wünschen, schamhaft vor den Körper geführt, im Schattenbild indessen sehen wir ihn ausgestreckt. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ Der die Forderung Gotthold Ephraim Lessings (2003: 23) einlösende, im Bildwerk eingefangene fruchtbare Augenblick treibt im entbergenden Flackerschein das Sein der Skulptur über die vom Bildhauer einmal getroffene Komposition hinaus. Der im Feuerschein in Bewegung gesetzte Schattenwurf entbirgt das Sein und lässt es sichtbar werden, so wie die Höhlenmaler von Chauvet im Feuerschein aus den sie umgebenden Steinmassen die Formen von Tierleibern hervortrieben, indem sie der Vorgabe der Steine folgten.11 Und so erkennt die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts aufgekommene Mode, antiken Bildwerken nächtens im Fackelschein zu begegnen, ein dem Bildwerk von jeher zugeschriebenes und ungebrochen für bildwürdig erachtetes 9 10 11

Enea Vico nach Baccio Bandinelli, Akademie des Baccio Bandinelli, um 1544, Kupferstich (Bartsch XV.305.49). Agostino Musi, genannt Veneziano nach Baccio Bandinelli, Akademie-Zeichnen bei Kerzenlicht, 1531, Kupferstich (Bartsch XIV.314.418). Auch sei hier auf den Stilpluralismus verwiesen, der uns in spätantiken Ikonen entgegentritt; impressionistisch in Licht getauchte Himmelsboten kontrastieren mit hieratischen Marien- und Heiligenerscheinungen, so beispielsweise im Falle Mariens, mit dem Kind thronend, flankiert von den Heiligen Theodor Stratelates und Georg, und behütet von Engeln, spätes 6. Jahrhundert, Ikone, Enkaustik auf Holz, 68,5 x 49,7 cm. Sinai, Katharinenkloster.

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Abb. 17.4

Agostino Veneziano nach Baccio Bandinelli: Akademie-Zeichnen bei Kerzenlicht, 1531

Potential, freilich unter Verlagerung von der produktionsästhetischen auf eine nurmehr wahrnehmungsästhetische Ebene. Vordergründig ging es dabei um die Ermäßigung ungünstiger Beleuchtungssituationen oder die Herbeiführung täuschender Verlebendigungseffekte; Heinrich Heine (1975: 569) freilich beobachtet Frauen in den Logen eines Opernhauses und bemerkt, wie ihre Gesichter beim Klang der Musik „beleuchtet“ werden, gleich jenen Licht- und Schatteneffekten, die uns in Erstaunen setzen, wenn wir Statuen in der Nacht bei Fackelschein betrachten. Diese Marmorbilder offenbaren uns dann, mit erschreckender Wahrheit, ihren innewohnenden Geist und ihre schauerlichen stummen Geheimnisse.

Ernst August Friedrich Klingemann (1805: 222) indessen zeigt seinen Bonaventura in der Dreizehnten Nachtwache nicht eben glücklich über diese Praxis

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und berichtet von einem amüsanten Zwischenfall im Verlaufe einer Führung im Fackelschein: Jezt kletterte ein kleiner Dilettant von den Anwesenden an einer medicaeischen Venus ohne Arme, muehsam hinauf, mit gespiztem Munde und fast thraenend, um, wie es schien, ihr den Hintern, als den bekanntlich gelungensten Kunsttheil dieser Goettin, zu kuessen.

Dieses von Bonaventura verfolgte Benehmen eines unbesonnenen Jünglings ergrimmt ihn, der „in dieser herzlosen Zeit nichts weniger ausstehen“ könne „als die Frazze der Begeisterung, wozu sich manche Gesichter verziehen koennen“ (Klingemann 1805: 222). Doch nun geschieht etwas Eigentümliches: Die gewöhnlich stumme Skulptur kommt zu Wort. Bonaventura leiht dem dieser Ergänzung bedürftigen Kunstwerk seine Stimme und besteigt, einem Bildwerk gleich, „erzuernt ein leeres Piedestal, um einige Worte zu verschwenden“ (Klingemann 1805: 222). Bonaventura wartet somit nicht darauf, ob und was die geschändete Statue dem Jüngling zu erwidern hat; er schlüpft in spielerischer Verkehrung selbst in die Rolle der das Wort an uns richtenden Skulptur; vom Sockel herab belehrt er im Fackelschein den agalmatophilen Banausen: Junger Kunstbruder! […] Der goettliche Hintere liegt Ihnen zu hoch, und Sie kommen bei ihrer kurzen Gestalt nicht hinauf, ohne sich den Hals zu brechen! […] Einst, als sie noch aufrecht standen, und Arme und Schenkel und Haeupter hatten, lag ein ganzes großes Heldengeschlecht vor ihnen im Staube; jezt ist das umgekehrt, und sie liegen im Boden, waehrend unser aufgeklaertes Jahrhundert aufrecht steht, und wir selbst uns bemuehen leidliche Goetter abzugeben (Klingemann 1805: 222–224).

Arthur Schopenhauer (1987: 529) fügt die Begegnung des Betrachters mit einem Kunstwerk in das folgende Bild: Die Werke der Dichter, Bildner und darstellenden Künstler überhaupt enthalten anerkanntermaaßen einen Schatz tiefer Weisheit: eben weil aus ihnen die Weisheit der Natur der Dinge selbst redet, deren Aussagen sie bloß durch Verdeutlichung und reinere Wiederholung verdolmetschen. Deshalb muß aber freilich auch Jeder, der das Gedicht liest, oder das Kunstwerk betrachtet, aus eigenen Mitteln beitragen, jene Weisheit zu Tage zu fördern: folglich faßt er nur so viel davon, als seine Fähigkeit und seine Bildung zuläßt; wie ins tiefe Meer jeder Schiffer sein Senkblei so tief hinabläßt, als dessen Länge reicht. Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen. – Dem Allen zufolge ist in den Werken der darstellenden Künste zwar alle Weisheit enthalten, jedoch nur virtualiter oder implicite.

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Und André Malraux (1956: 66–67) schreibt zum „imaginären Museum“ ganz Ähnliches: Etwas haben wir gelernt: der Tod verdammt das Genie nicht zum Schweigen, nicht weil es gegen ihn in Ewigkeit etwa die Sprache spräche, mit der es begann, sondern weil es ihn mit einer Sprache bezwingt, die sich unaufhörlich wandelt, manchmal wohl auch in Vergessenheit gerät, als wäre sie ein Echo, das den Jahrhunderten mit ihrer Folge verschiedener Stimmen immer wieder Antwort gäbe: das Meisterwerk hält keinen erhabenen Monolog, sondern ein Zwiegespräch in unüberwindlicher Kraft.

Wir treten sonach vor das Kunstwerk wie vor einen Fürsten und warten darauf, dass das Kunstwerk das Wort an uns richtet. Aber wenn wir unvorbereitet vor es treten, werden wir es nie vernehmen, und indem wir uns vorbereiten, spricht nicht nur das Kunstwerk, sondern alle ihm vorausgehenden und es begleitenden und sogar die ihm folgenden Kunstwerke mit uns; und nicht nur mit uns, sondern gleichwohl durch uns mit allen Kunstwerken, die wir zu unserer Vorbereitung dieser Begegnung aufgelesen und als unser implizites Wissen inkorporiert haben, und diese aufgelesenen Kunstwerke sprechen durch uns zu dem Kunstwerk, vor das wir treten. Und dies erhellt, wie die Werke auch bei der Entstehung neuer Kunstwerke durch den Künstler zur Sprache kommen. Weniger versierter Kunstaneignungen indessen erwehrt sich das Werk, und nimmt auch die ihm vom Kunsthistoriker zugemuteten Zuschreibungen nicht klaglos hin (Bormann 2020). Die Reihe am Bildwerk gescheiterter Liebhaber ist Legion: Schillers (2004: 224–226) Jüngling vor dem verschleierten Bilde zu Sais, dessen vorhersehbares Ende aus dem Schulunterricht bekannt ist. Der Jüngling kann der Versuchung nicht widerstehen und lüftet des Nachts gegen die Mahnung des Hierophanten („Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst, Ist dieser dünne Flor – Für deine Hand Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen“) den Schleier der Skulptur, erbleicht und verstummt; wir erfahren nicht, was der Wüstling sah: „Auf ewig / War seines Lebens Heiterkeit dahin, / Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.“ Dem Jüngling von Sais gesellen sich zu: der larmoyante Pygmalion Ovids (Metamorphosen 10, 243–297) (Abb. 17.5), der agalmatophile Onanist im Heiligtum der Knidischen Aphrodite, von dessen devianter Annäherung ebenfalls Plinius berichtet (Naturalis historia XXXVI, 21);12 die Verehrer der schönhintrigen Aphrodite Kallipygos; der Abusus eines zu diesem Behufe, vielleicht inkonsequent, mit Fleischbrocken behängten 12

Vgl. auch die in den Ἔρωτες [Erotes] des Pseudo-Lukian in einiger Ausführlichkeit geschilderte Episode zweier hierin gemeinsam vorgehender Liebhaber.

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Abb. 17.5

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Jean-Léon Gérôme: Pygmalion und Galatea, um 1890

Göttinnenbildwerkes im Tempel zu Samos durch Clisyphus, eine Gestalt der neuen attischen Komödie (Krafft-Ebing 1894: 361). Gianlorenzo Bernini musste der die Justitia am Grabmal Papst Pauls III. in St. Peter in Rom vorstellenden, von Guglielmo della Porta in Stein gemeißelten Geliebten des Papstes, Giulia Farnese, ein Kleid von Blei anlegen, um unerwünschte Gunstbezeigungen der Kirchgänger fernzuhalten (Abb. 17.6); Johann Heinrich Füsslis (1766: IX) Schwärmerei für eine Tochter der Niobe im Garten der Villa Medici in Rom, Johann Wolfgang Goethes (1962: 134) erdewallender Künstler vor der Aphrodite Urania, „Die ich in Seel und Sinn, himmlische Gestalt, / Dich umfasse mit Bräutigams Gewalt, / Wo mein Pinsel dich berührt bis du mein: / Du bist ich, bist mehr als ich, ich bin dein“; der Altertumskundler Karl August Böttiger, von dessen „Herumtatscheln an den weichen Marmorpartien der weiblichen Göttinnen“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1973: 255) in seiner Ästhetik-Vorlesung verstört Bericht gibt. Als ein Phänomen von klinischer Relevanz wird die Agalmatophilie erstmals beschrieben vom Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1894: 361) in seiner Studie Psychopathia Sexualis am Fall eines Gärtners, der

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sich 1877 in die Venus von Milo verliebt hatte und mit dieser kopulierend angetroffen wurde. Auch Frauen verfallen dem Bildwerk; so teilt eine neapolitanische Schwanksammlung des frühen 16. Jahrhunderts den Fall einer Frau mit, die im Zwielicht des Mondscheins ein öffentlich aufgestelltes Bildwerk zu ihrem Liebhaber nimmt und sich hernach bei Tagesanbruch einer außerordentlich peinlichen Notlage ausgesetzt wiederfindet (Morlini 1855: 158–159). Quell solcher Vorstellungen mögen die aus der Antike auf uns gekommenen dionysischen Sarkophage gewesen sein (Abb. 17.7; Bormann 2022), deren zum Teil archäologisch getreu übernommenen Motive sich früh auch einer druckgrafischen Verbreitung erfreuten, südlich13 wie nördlich der Alpen.14 Was aber sucht der Agalmatophile am Bildwerk? In seinem aberranten Umgang zeigt sich seine „Hingenommenheit“ (Heidegger 1983, 352) zum Stein, die Skulptur gewährt ihm die Enthemmung innerer Gestautheit. In gewisser Hinsicht ist der Agalmatophile gar privilegiert, da sich das im Kunstwerk Verborgene ansonsten seinem Betrachter ästhetisch entzieht; der Agalmatophile indessen trägt einen Enthemmungsring mit sich, der in besonderer Weise offen ist für die Enthemmungsmannigfaltigkeit der Skulptur, ohne dass diese dem Agalmatophilen offenbar wird. Der Agalmatophile ist, mit Heidegger (1983: 371–372) gesprochen, weltarm. Sein Kunsterlebnis in der Zugetriebenheit aber weist ihm einen Bereich, „der einen Reichtum des Offenseins hat, wie ihn vielleicht die menschliche Welt gar nicht kennt“. Das in den gegebenen Schilderungen uns entgegentretende, sagen wir, agalmatophile Mißverständnis beschreibt Apollonios von Tyana, der einem jungen Mann begegnet, der die schon erwähnte Aphrodite von Knidos gar zu ehelichen begehrt. Da die Knidier sich diesem Wunsch aufgrund der damit erhofften Publicity für seinen Geschmack nicht hinreichend erwehren, zitiert Apollonius den Bräutigam zu sich und erinnert ihn das Schicksal des Ixion, dessen Verkehr mit einer Wolke in der irrtümlichen Überzeugung, es handele sich bei ihr um Hera, ihm nicht gut bekommen sei. Er, Apollonius, wisse genug über die Liebe, um behaupten zu dürfen: Götter lieben Götter, Menschen Menschen, Tiere Tiere, mit einem Wort, Gleiches mit Gleichem, andernfalls könne weder von einer Hochzeit, noch von Liebe gesprochen werden (Philostratos, Vita Apollonii VI, 40). So wie sich die Fälschung vom Kunstwerk unterscheidet – die eine defuturisiert, nur darauf aus, für etwas ihr Vorgängiges, Echtes gehalten zu werden, das andere zukunftsoffen, auf der Suche nach dem Ausdruck von etwas, das anders (noch) nicht wiedergeben werden kann –, so hat das Streben des Agalmatophilen keine Zukunft. Gegen die Schaffung und 13 14

Marcantonio Raimondi, Bacchanal, Kupferstich (Bartsch XIV.202.249). Jakob Binck nach Marcantonio Raimondi, Paniskin mit Panherme, Radierung (Bartsch XIV.217.284; Hollstein German IV.54.108).

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Abb. 17.6

Guglielmo della Porta, mit nachträglichen Ergänzungen des Gianlorenzo Bernini, Justitia (Giulia Farnese) am Grabmal Papst Pauls III., 1555–1575

Abb. 17.7

Späthadrianisch/Frühantoninisch: Sarkophag mit bacchanalischen Szenen, Vorderseite, 140–160 n. Chr. (Detail)

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Betrachtung von Bildwerken indessen hat Apollonius nichts einzuwenden, und so wird ein weniger kapriziöser Mensch dem Bildwerk wie Karl Philipp Moritz (1981: 414) auf seiner Reise in Italien mit der vergleichsweise keuschen Anmutung begegnen, im Fackelschein erblicke man an ihm „alles Schöne, was man sehen kann, auf einmal, der Begriff von Zeit verschwindet, und alles drängt sich in einen Moment zusammen, der immer dauern könnte, wenn wir bloß betrachtende Wesen wären“, oder in den von Mechthild von Magdeburg überlieferten Worten Meister Eckharts: Mer nu ist ein verborgen abgrunt in der sele, das rueffet ane vnderlas mit einer wilden, abgruntlicher vnbegriffenlicher stime deme goetlichen abgrunde, so dc der vernunfte als in einem ŏgenblike endeket wirt. So wirt si gereisset in ein vberwunderlich gros jagen danach und kan ir doch nit werden in der zit (Morel 1869: 283).

Der Anruf des göttlichen Abgrundes nimmt im Falle des Agalmatophilen das Echo der eigenen Stimme nicht nur irrtümlich für eine Antwort des Göttlichen, sondern bedünkt den das Bildwerk agalmatophil Anrufenden, gar selbst ein Gott zu sein, woran im bedauernswerten Falle des von Bonaventura Getadelten sogar der Erkenntnis stiftende Fackelschein keinen Abbruch tut. Auch der Heilige Paulus beschreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom diese Gefahr der Selbstansprache, so als riefe der menschliche Abgrund nicht den göttlichen Abgrund an, sondern delektierte sich am immer wieder von ihm selbst erneuerten Echo seines Rufes. Der Mensch sei so sehr von sich eingenommen, dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter auf sich selbst hinbiegt und in allem nur sich selber sucht. Luther nennt dies die incurvatio in se ipsum, die Selbstverkrümmung, und trägt dem Menschen nichts Geringeres als die Unterbrechung dieses endlosen Selbstgespräches auf (Luther 1938: 356). Wir nehmen daraus allemal für den hier verhandelten Sachverhalt mit, dass Agalmatophilie schwerlich geeignet erscheint, etwas außerhalb des eigenen Ambitus aufzufinden. Michelangelo als jemand, der laut Rilke „die Steine belauscht“ (Rilke 1961), hört ausweislich seines umfangreichen literarischen Nachlasses ebenso diesen Ruf, und auch bei ihm kommt die Liebe hinzu, freilich mit läuternder Wirkung. Auch Michelangelo (1992: 205) weiß, was wir nun schon oft vernommen haben, Es kann der beste Künstler nichts erdenken, Was nicht der Marmor schon in sich enthielt, Und der allein erreicht, worauf er zielt, Dem Geist und Sinne seine Hände lenken.

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Und so beschreibt Michelangelo (Rilke 1957: 357) in einem in Zuneigung an Vittoria Colonna abgefassten Sonett den physischen Akt des Bildhauers als einen das Dasein entbergenden, hermeneutisch ausgetragenen Streit von Fleisch und Stein: So wie, indem man abnimmt, langsam nur Innen im harten Berggestein sich findet Ein Niederschlag lebendiger Figur, Der mehr erwächst, je mehr der Stein verschwindet, – So ist von manchem guten Tun die Spur, Darin die Seele bebend sich erwiese, Versteckt durch die Oberfläche, diese Des eignen Fleisches steinige Natur. Du kannst allein aus meinen Außenseiten Dieses befrein, wozu aus mir in mir Nicht Wille ist, noch Kraft, es zu bestreiten.

Nicht aus eigener Kraft gelingt es Michelangelo, sich vor das Dasein zu bringen; der Wille schafft sich und findet Werke, diese weltbildende Aufgabe zu bewältigen. Wie aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein dürfte, kann nicht erklärt werden, wie das Werk in den Stein gelangte, sondern solches erzählt werden muss. Bei Kafka (1931) heißt es, von Prometheus, wörtlich dem Vorausdenkenden, dem Vorbedenker, berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen. Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.

Der letzte Satz, über den viel gerätselt wird, mag als eine Beschreibung des Wahrheitsgeschehens der Ent-bergung aufgefasst werden, zu dem in notwendiger Dialektik auch immer die voraus- wie nachgehende Ver-bergung tritt: Die Uneinholbarkeit der ontisch-ontologischen Differenz, die unabschließbare hermeneutische Zirkelbewegung. Hierher gehört auch das uns angehende Stein-Künstler-Kontinuum.

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Abb. 17.8

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Johann Heinrich Füssli, Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der Antike, um 1778–1780

Das Kunsthaus Zürich bewahrt in seiner Grafischen Sammlung eine Zeichnung, die Johann Heinrich Füssli, der uns bereits als Verehrer einer der steinernen Töchter der Niobe begegnet ist, während seiner Romreise ausgeführt hat (Abb. 17.8). Auf dem Blatt gibt nach herkömmlicher Lesart der klassizistische Italienreisende Füssli seiner Verzweiflung darüber Ausdruck, der uneinholbaren Erhabenheit antiker Bildwerke künstlerisch nicht gewachsen zu sein. Skeptisch stimmt uns freilich, dass sich seine Frustration ausgerechnet in Kontemplation über ein Fragment der wenig subtilen, mit einst zwölf Meter Gesamthöhe überaus gigantischen Sitzstatue Kaiser Konstantins des Großen entlädt, zumal diese in ihrer Entstehungszeit nach der gewonnenen Schlacht an der Milvischen Brücke bereits dem spätantiken, unklassischen und bereits auf das ästhetisch zur Zweidimensionalität neigende Frühmittelalter

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vorausweisenden Kunstgeschehen angehört. Kunst, so ist bei Paul Klee (1920: 28) nachzulesen, „gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“. Zeigt das Blatt gar nicht in erster Linie ein antikes Monument, gibt uns Füssli in seiner Zeichnung nicht vielmehr einen Hinweis auf ihn selbst, fort von der in ihren vielen Reproduktionen hohl gewordenen forma acta des monströsen, einen Fuß vorstellenden Fragments, hin zur äußere Vorbilder überwindenden forma agens des Zeichners, dessen Name zugleich und in ironischer Verkehrung den Diminutiv des im Bildwerk kolossal zur Erscheinung gelangten Fußes bildet? Es wird, um noch einmal an Deleuze und Guattari zu erinnern, eine ganz neue Beziehung zwischen Gedanken und Dingen geschaffen, „eine vage Identität beider“ (Deleuze/Guattari 1992: 564; Herv. i. O.). Offenbar bringt sich Füssli in der Zeichnung seine eigene Geworfenheit vor die Seele. „Dasein ist immer schon ‚über sich hinaus‘“, jenseits des Menschen, und zwar anders als im Falle des Agalmatophilen, „nicht als Verhalten zu anderem Sein, das es nicht ist, sondern“, in wohlverstandener Liebe zum Sein, „als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist“ (Heidegger 1967: 192; Herv. i. O.). In diesem Wahrheitsgeschehen des künstlerischen Werkprozesses hat Füssli sich über sich hinausgetrieben, die Selbsttranszendenz wird – ironisch übersteigert – im monströsen Fuß sinnfällig: Er ist im Stein, er ist der Stein. Umgekehrt ruft der Stein nach dem Künstler – auch er ist über sich hinaus. Macht ihn dies gar zu einer posthumanen Entität, zu einem uns mitwissenden Ding?

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Schluss

Vorstehend wurde aus kunsthistorischer Perspektive der Weg nachgezeichnet, den die Kunstbetrachtung seit jeher zwischen der dichotomen Opposition von weltlosem Werk und hegemonialem Menschen und einer ununterscheidbaren Verschlingung, ja Verflüssigung dieses Verhältnisses ausgeschritten hat. Weder verläuft diese Entwicklung chronologisch, noch bleiben ihr Verirrungen bisweilen bizarrer Art erspart. Stets überschritt, pervertierte und transzendierte das Kunstgeschehen die Grenzen zwischen Mensch und Werk. Wer die akademische Disziplin der Kunstgeschichte als eine Gegenstandswissenschaft verstehen will, wie dies zuweilen dankenswerterweise heute noch vertreten wird, genießt den Komfort, zur Prüfung seines Urteils über eine künstlerische Anschauung auf die apodiktische Maßgabe eines „Dinges an sich“ verzichten zu können, und darf vielmehr einer Betrachtung zuneigen, die „der Gültigkeit ihrer Ergebnisse gerade deswegen sicher sein darf, weil sie selbst“,

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gewissermaßen als Teil eines autopoietischen Kunstsystems, „ihrer Welt die Gesetze bestimmt, d. h. überhaupt keine anderen Gegenstände besitzt als solche, die sich allererst in ihr konstituieren […]“ (Panofsky 1960: 71–72). Die in solchem Umkreis notwendig auftretende „dialektische Antinomie“ lässt eine Antwort auf die Frage danach, worin der Anteil einer jenseits des Menschen zu verortenden Entität am künstlerischen Prozess zu bemessen ist, nur im Fackelschein „immer wieder neue[r] und einander mehr oder minder widersprechende[r] Lösungen“ (Panofsky 1960: 72) zu. Diese Lösungen in ihrer Verschiedenartigkeit zu erkennen und von ihren historischen Voraussetzungen aus zu begreifen, wird der geschichtlichen Betrachtung auch dann nicht wertlos erscheinen, wenn die Philosophie das ihnen zugrundeliegende Problem als ein seiner Natur nach [einer eindeutigen] Lösung sich versagendes erkannt hat (ebd.).

„Jene transscendentale Fragen aber“, sei hier mit Immanuel Kant (1787: 225) geschlossen, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem dem doch niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüth mit einer andern Anschauung, als die unseres inneren Sinnes zu beobachten. Denn in demselben liegt das Geheimniß des Ursprungs unserer Sinnlichkeit. Ihre Beziehung auf ein Object, und was der transscendentale Grund dieser Einheit sei, liegt ohne Zweifel zu tief verborgen, als daß wir, die wir sogar uns selbst nur durch innern Sinn, mithin als Erscheinung kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes als immer wiederum Erscheinungen aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten.

Wir können auf das Andere des Steins doch nur durch unsere eigenen Augen schauen (vgl. Heidegger 1983: 321). In der immer wieder erneuerten hermeneutischen Aufweisung dieser Aporie und darin, ihr Geheimnis zu ertragen, ist die Gelassenheit dem Forscher eine gute Begleiterin, derer der Agalmatophile nach allem, was dazu geschrieben steht, entbehrt. Der Posthumanismus sucht die Welt jenseits des Menschen in ihre ontische Verzauberung (zurück) zuführen und hat sich davor zu hüten, dem Agalmatophilen gleich, die ontologische Verfügbarkeit darin im Fackelschein der Hermeneutik (wieder-)entdeckter, lange verloren geglaubter Entitäten einzufordern. „Jede Frage eine Lust – jede Antwort ein Verlust“ (Heidegger 2014: 36), hier gilt wie für den notorisch glücklosen Agalmatophilen: You can’t have your cake and eat it.

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Agalmatophilie und Hermeneutik

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Ralf Bormann

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Abbildungsverzeichnis Abb. 17.1:

Giorgio Vasari: Der Ursprung der Kunst (Der Lydier Gyges zeichnet sich selbst im Fackelschein), um 1572, Fresko. Firenze, Casa Vasari, Sala delle arti e degli artisti, Nordwestwand. Gemeinfrei (Archiv des Autors).

Agalmatophilie und Hermeneutik Abb. 17.2:

399

Hans von Aachen: Die Befreiung der Andromeda, um 1600, Mischtechnik auf Alabaster, 38 x 45 cm. Innsbruck, Kunsthistorisches Museum, Sammlung Schloss Ambrass, Inv. Nr. PA 941. Gemeinfrei (Archiv des Autors). Abb. 17.3: Ludger tom Ring der Jüngere: Bildnis des Braunschweiger Patriziers Reinhard Reiners, 1569, Öl auf Pappelholz, 84,5 x 53,3 cm. Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Inv. Nr. GG 698. Gemeinfrei (Archiv des Autors). Abb. 17.4: Agostino Musi, genannt Veneziano, nach Baccio Bandinelli: AkademieZeichnen bei Kerzenlicht, 1531, Kupferstich, 274 x 300 mm. New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 49.97.144 (Bartsch XIV.314.418). © Metropolitan Museum of Art. Abb. 17.5: Jean-Léon Gérôme: Pygmalion und Galatea, um 1890, Öl auf Leinwand, 88,9 x 68,5 cm. New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 27.200. © Metropolitan Museum of Art. Abb. 17.6: Guglielmo della Porta, mit nachträglichen Ergänzungen des Gianlorenzo Bernini: Justitia (Giulia Farnese) am Grabmal Papst Pauls III., 1555–1575, Marmor und Blei. Roma, Città del Vaticano, S. Pietro. Gemeinfrei (Archiv des Autors). Abb. 17.7: Späthadrianisch/Frühantoninisch: Sarkophag mit bacchanalischen Szenen, Vorderseite, 140–160 n. Chr., Marmor, Ergänzungen in Gips, 204 x 50 x 66 cm. Neapel, Museo archeologico nazionale, Inv. Nr. 27710. Gemeinfrei (Archiv des Autors). Abb. 17.8: Johann Heinrich Füssli: Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der Antike, um 1778–1780, Rötel, braun laviert (Sepia), auf Papier, 422/416 x 358/348 mm. Zürich, Kunsthaus, Grafische Sammlung, Inv. Nr. Z.1940/144. © Kunsthaus Zürich.

Von Humanoiden und ihrer Liquidierung Körper in der Kunst im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie Sarah Sigmund

Der folgende Beitrag untersucht anhand von ausgewählten Beispielen der zeitgenössischen Kunst, wie das Menschsein im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie visualisiert und materialisiert wird. Er wirft die Frage danach auf, wie die von Künstler*innen geschaffenen Arbeiten das Menschsein zur Disposition stellen und inwiefern dies durch eine molekulare Verflüssigung des menschlichen Körpers auf Kosten von humanoiden Darstellungen geschieht. Ziel ist es, diese transformierten Körper aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive als Akteur*innen zu beschreiben, die der Diskussion um den kritischen Posthumanismus ein eigenes, durch die Kunst hervorgebrachtes Wissen hinzufügen. Dabei wird auch diskutiert, in welchem Verhältnis Kunst und Wissenschaft zueinander stehen.

Vignette Im Foyer der Akademie der Bildenden Künste München hing im Herbst 2019 ein Poster, auf dessen spacig-blau-rosafarbenem Hintergrund mit DNA-Strang in weißer Schrift stand: „Human please click / fill out to choose: amount, sex, color of hair / skin, adress of delivery, date of delivery, conditions of payment“ (Abb.  18.1). Das Symbol eines Einkaufswagens daneben vermittelte, dass es möglich sei, Menschen mit bestimmten Merkmalen nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu bestellen. Anstelle von Ausstellungshinweisen fanden sich Einladungen zu Veranstaltungen wie: „Polygene Chromosomes Conference“ oder „Creating Life Elements“. Neben dem eigenartigen Plakat stand an der Glasfassade im Eingangsbereich des von den Architekten Coop Himmelb(l)au erbauten und 2005 eröffneten Neubaus der Akademie, dass sich hierin nun das „Lorenz Exzellenz Zentrum“ befinde. Wurde der Neubau der Kunstakademie zum Gebäudekomplex eines biotechnologischen Forschungsinstituts umgebaut oder handelte es sich um eine künstlerische Arbeit von Studierenden? Es stellte sich schnell heraus, dass hier ein Filmset für die neue deutsche Serie „Biohackers“ installiert wurde, in der die Medizinstudentin Mia Akerlund

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_019

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Abb. 18.1

Sarah Sigmund

Poster aus dem Filmset der Serie „Bodyhackers“ im Neubau der Akademie der Bildenden Künste München, 2019

entdeckt, dass im „Lorenz Exzellenz Zentrum“ geheime Genexperimente an Menschen ohne deren Wissen durchgeführt werden. Die Leiterin dieses fiktiven Forschungsinstituts rechtfertigt die Experimente mit Versprechen auf Heilung schwerer Krankheiten und der Optimierung des menschlichen Lebens durch Human Enhancement (vgl. Loh 2018: 50–58). Wie in vielen Science-FictionSerien und -Filmen geraten die Forschungsvorhaben jedoch aus dem Ruder. In der 2020 erschienenen Serie, die die aktuelle gentechnologische Forschung in überspitzter und dramatisierter Weise darstellt, wird eine Bandbreite von Szenarien präsentiert, die einer aktuellen bio- und gentechnologischen Wirklichkeit, aber auch dystopischen und stereotypen Vorstellungen entsprechen. So erinnert etwa die vom Tier auf den Menschen übertragene Infektionskrankheit unweigerlich an die Covid-19-Pandemie. Aus diesem Grund wurde der Serienstart sogar verschoben, da man befürchtete, die Inhalte könnten angesichts einer realen Bedrohung durch ein global um sich greifendes Virus verstörend wirken (vgl. Wollner 2020; Ströbele 2020).

Von Humanoiden und ihrer Liquidierung

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Was hier als aktuell proklamiert wird, ist in der Bildenden Kunst spätestens seit den 1990er Jahren ein vielfach gewählter Ausgangspunkt künstlerischer Arbeiten. Da erscheint es passend, dass ausgerechnet das Gebäude einer Kunstakademie als Kulisse für ein Laboratorium ausgewählt wurde: Dies verweist darauf, dass Kunst und Wissenschaft zwar unterschiedliche, aber dennoch seit jeher eng miteinander verzahnte Felder sind. Innerhalb dieses Wechselspiels existieren verschiedene Formen der künstlerischen Wissensproduktion, unter denen grob zwischen artistic research (künstlerische Forschung) und dem Forschen im Ästhetischen unterschieden werden kann (vgl. Mersch 2015: 21). Dass Orte der Kunstproduktion auch Laboreinrichtungen sein können, gilt also nicht nur für Filmsets: Wie das naturwissenschaftliche Labor, so galt auch das künstlerische Atelier lange als geheimnisvoller Ort, hinter dessen Mauern die Herstellung magischer Dinge mithilfe alchemistischer Verfahren vermutet wurde. Auch wenn solche Räume heute mitunter etwas leichter zugänglich sind, bleiben die Forschungsprozesse – das Laborieren bzw. Arbeiten – in der Regel nichtöffentliche Ereignisse. In der zeitgenössischen Kunst sind zahlreiche Arbeiten zu verzeichnen, bei denen das Labor als Raum sowie das Experimentieren als künstlerische Praxis sichtbar werden. Dabei kommen auch Materialien wie Fleisch, Blut, DNA, aber auch Organismen wie Pflanzen und Tiere sowie wissenschaftliche Sammlungen zum Einsatz. Die in den letzten zehn Jahren geführten Diskurse um artistic research und das Verhältnis von künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung erlangen innerhalb jener Laboratorien der Kunst besondere Brisanz, da nicht nur das Kunstmachen als forschende Tätigkeit verstanden wird, sondern die Künstler*innen Verfahren und Materialien aus der wissenschaftlichen Forschung wählen, um Kunst zu erzeugen. Im Folgenden wird anhand von fünf unterschiedlichen Materialisierungen menschlicher Körper in der Kunst – von Humanoiden bis zu ihrer Liquidierung als Zytosoma, Genom, DNA und dem Molekular-Werden – gezeigt, wie sich zeitgenössische Künstler*innen mit dem Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichen Methoden und dem Menschsein auseinandersetzen.

1

Humanoide

Humanoide oder anthropomorphe Darstellungen existieren seit dem Beginn der Geschichte des Homo Sapiens. Beispiele sind etwa jungpaläolithische Figurinen wie die aus Mammut-Elfenbein geschnitzte, 35.000 bis 40.000 Jahre alte Venus vom Hohle Fels oder auch die in der Nähe aufgefundene Figur des Löwenmenschen, die bezeugt, dass Menschen sich seit jeher auch als „Schöpfer*innen“ von imaginierten Wesen, in diesem Fall einer Chimäre zwischen Mensch und Tier,

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verstehen (vgl. Wolf 2015: 93, 284–286; Conard/Wertheimer 2010). Seitdem die Angehörigen der Spezies Homo Sapiens kulturelle Erzeugnisse produzieren, ist der Körper des Menschen maßgeblicher Ausgangs- und Bezugspunkt künstlerischer Produktion. In der Kunstgeschichte begegnen uns bis heute zahllose Darstellungen sowohl des Menschen als auch von Wesen mit menschenähnlicher Gestalt wie Chimären, Monster, Mutanten oder Roboter. Solche Humanoiden machen dabei immer auch zeitlich und räumlich geprägte gesellschaftliche Weltanschauungen sichtbar, also etwa Mythologien, Religionen oder politische Ideologien, die sich mit Fragen von Identität und Differenz auseinandersetzen und diese widerspiegeln. So führten in der Renaissance der Humanismus und die gleichzeitig fortschreitende wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Körpers in Europa zu Darstellungen des Menschen, die von idealisierten Proportionen geprägt waren, wie dies stellvertretend in Leonardo da Vincis Zeichnung Der vitruvianische Mensch deutlich wird: Mit Idealmaßen ausgestattet, steht der menschliche Körper hier im Zentrum allen Seins und ist dabei klar abgegrenzt von allem Nicht-Menschlichen und Anderen. In Leonardos Fall war das Sinnbild des menschlichen Körpers zudem männlich und weiß1. Das hierin zum Ausdruck kommende anthropozentrische Weltbild ist in weiten Teilen bis heute dominant. Jenen Menschen aus seiner Integrität, Isoliertheit sowie aus dem Zentrum des Bildes – und damit auch der Macht – zu rücken, gehört zu der von Rosi Braidotti beschriebenen „posthumanen Herausforderung“, den „humanistischen Universalismus“ zu überwinden (2014: 20, 42). Mit den Strömungen des Dadaismus und Surrealismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem seit der sogenannten Postmoderne wird dies auch in der Kunst erprobt und thematisiert. Heute dekonstruieren Künstler*innen wie zum Beispiel Sarah Lucas, Yinka Shonibare CBE RA, Patricia Piccinini oder Jane Alexander in plastischen und installativen Arbeiten den geschlechtlich und kolonial imaginierten Körper und die ihm eingeschriebenen gesellschaftlichen Normen und Rollenvorstellungen. Sie schaffen damit Gegenentwürfe zu den humanistisch geprägten Darstellungen von Körpern in der westlichen Kunstgeschichte. Sarah Lucas’ Bunny-Figuren aus textilen Materialien, wie etwa Strumpfhosen, hängen in Manspreading-Pose auf einem Stuhl und zeigen ihre Vulva. Ihr Oberkörper besteht nur noch aus zwei tentakelartigen Fortsätzen, die wie Brüste vorne überhängen. Diese Figuren rufen die vom männlichen Blick 1 Die Kursivschreibung des Wortes ist ein Vorschlag der Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha  A.  Kelly. Weiß wird kursiv geschrieben, da es für unterdrückende Machtverhältnisse (White Supremacy) steht, die markiert werden müssen. Die Großschreibung des Wortes Schwarz auch in seiner adjektivischen Form wird vorgeschlagen, um durch diese Selbstdefinition alle rassistischen Fremdbezeichnungen abzulösen.

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bestimmte Sexpuppenästhetik weiblicher Körper hervor, widersetzen sich allerdings diesen Idealkörpern und brechen Vorstellungen des geschlechtlichen Körpers auf. Yinka Shonibare CBE RA erschafft Humanoide in Form von Tiermenschen, Akephaloi (Kopffüßler) oder Außerirdischen. Seine Plastiken werden aus Mannequins, Tierpräparaten und Textilien gefertigt, die mit dem Waxprint-Verfahren hergestellt wurden; ein Druckverfahren, das in Indonesien entwickelt und während der niederländischen Kolonialherrschaft in Europa industrialisiert wurde. Seither werden diese Stoffe von Europa aus nach Westafrika exportiert. Aus diesem transkulturellen Material – aus westlicher Perspektive als Bestandteil ‚afrikanischer‘ Kultur wahrgenommen – erstellt Shonibare lebensgroße Figuren, die Fragen postkolonialer Identitätsbildungen und kultureller Authentizität aufwerfen und westliche Vorstellungen des kolonialisierten Körpers zur Disposition stellen. Girl on Globe (Abb.  18.2) hat ihren Kopf und damit die Kontrolle gänzlich verloren. Wie ihr männliches Pendant fällt sie, offensichtlich berauscht, beinahe vom viel zu erhitzten Erdball. Das trunkene, kopflose Kind, das ein Kleid aus WaxPrint im Stil viktorianischer Kinderkleidung trägt, erscheint hier als riesiges Monster, das auf dem Erdball herumtrampelt und alles zerstört. Shonibare verdeutlicht mit dieser Figur die Verantwortung menschlicher Akteure für den Kolonialismus und den Klimawandel.

Abb. 18.2

Yinka Shonibare CBE RA: Girl on Globe, 2011

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Seit den 1960er Jahren bis heute sind es vor allem Künstler*innen mit feministischen und postkolonialen Ansätzen wie Lucas und Shonibare, die den Körper als Aushandlungsort von Dualismen wie Mann/Frau, Eigen/Fremd oder Kultur/Natur sichtbar machen. Gleichzeitig bleiben ihre hybriden Wesen meist einem dualistischen Denken verhaftet. Grund hierfür ist vielleicht die Tatsache, dass plastische Hybridwesen sich vor allem aus diesen Kategorien generieren, da ihnen als Assemblagen, die teils unterschiedlichste Materialien vereinen, eine binäre Logik inhärent sein kann. Dennoch können solche Arbeiten als posthumanistische Akteure beschrieben werden, da sie versuchen, ein universalistisches, anthropozentrisches, westlich geprägtes Denken sichtbar zu machen und dieses aufzubrechen, obwohl die Figuren noch an die menschliche Gestalt gebunden sind. Wie aber sind Humanoide jenseits dieser plastischen Figuren konstituiert? Spielt die Frage nach der Repräsentationsmacht noch eine Rolle, wenn der menschliche Körper sich durch die Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologie, aber auch durch Hormone und Gifte, zum manipulierbaren und künstlich herstellbaren Wesen transformiert?

2

Zytosoma

Die Künstlerin Christine Borland zeigte in der Installation HeLa Hot (Abb. 18.3) aus dem Jahr 1999 lebende Zellen, die bei 37 Grad Celsius auf einem Nährboden wachsen. Die Aufnahmen des sich reproduzierenden Materials werden durch ein Videomikroskop auf einen Monitor übertragen. Da die Okulare des Mikroskops nicht zu den Betrachter*innen gerichtet sind, ist es kaum möglich, selbst in das Mikroskop zu blicken. Das Bild des somatischen Materials lässt sich also nur durch den Transmitter des Monitors beobachten (vgl. Brown 2006: 117). In der Installation werden Zellen gezeigt, die, ebenso wie im Titel der Arbeit, HeLa-Zellen genannt werden. Diese wurden 1951 der an Gebärmutterhalskrebs erkrankten Schwarzen Patientin Henrietta Lacks entnommen. Im John Hopkins Hospital therapierte man Lacks mit Bestrahlungen, wobei der Gynäkologe Howard W. Jones eine Gewebeprobe entnahm und diese an seinen Kollegen George Otto Gey, der daran forschte, eine unsterbliche Zelllinie zu entwickeln, weitergab. Aus den schockgefrosteten Gebärmutterhalskrebszellen von Henrietta Lacks gelang es ihm, die potentiell unsterbliche HeLa-Zelle zu generieren, wobei die Patientin selbst acht Monate später, am 4. Oktober 1951, mit 31 Jahren an akutem Nierenversagen und, wie später festgestellt, mit Metastasen im ganzen Körper verstarb. Über die Replikation ihrer Zellen blieben sie und ihre Familie lange in Unwissenheit.

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Abb. 18.3

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Christine Borland: HeLa Hot, 1999

Die Entdeckung der HeLa-Zelle war ein unvergleichlicher Erfolg für die Wissenschaft. Erstmals war es gelungen, menschliche Zellen außerhalb des Körpers zu replizieren. Noch heute kommen sie in der Krebs- und Aidsforschung zum Einsatz. Die HeLa-Zelle hat zudem zur Entwicklung der Polioimpfung beigetragen und wurde mit der Discovery XVII ins All geschickt, um die Auswirkungen verschiedener Atmosphären auf menschliche Zellen zu untersuchen. Sie wurde millionenfach vervielfältigt, da sie die Eigenschaft besaß, sich schnell zu teilen und zu vermehren. Bis heute wurden mit 50.000 Tonnen mehr Zellen von Henrietta Lacks produziert als zu ihrer Lebenszeit existierten (vgl. Skloot 2010). Christine Borlands Arbeit zeigt die Zytokinese der HeLa-Zelle. Zu sehen sind Zytosomata, also Zellkörper von Henrietta Lacks im Prozess der Teilung. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um die zeitgenössische Darstellung einer Frau, die posthum anhand ihres nach wie vor lebendigen Bio-Materials porträtiert wird. Indem Borland nur die Videoübertragung dessen zeigt, was sich auf dem Nährboden ereignet, und der Blick durch das Mikroskop für die Betrachter*innen versperrt bleibt, verdeutlicht die Künstlerin die Lücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und dem, was der Öffentlichkeit (oder wie im Falle Lacks sogar der betroffenen Person selbst), davon vermittelt wird. Das eigentliche Geschehen innerhalb der technischen Apparatur des Mikroskops bleibt im Verborgenen. Borlands Arbeit spricht damit auch die

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Entpersonalisierung an, die Individuen in medizinischen Einrichtungen erfahren, indem sie die Zellen des Körpers von Henrietta Lacks so zeigt, wie sie in der Wissenschaft und Medizin benutzt und sichtbar werden.2 Die Arbeit von Borland führt damit eindrücklich vor Augen, wie elementare Bestandteile des Körpers in der medizinischen Forschung ohne die Einwilligung von Patient*innen einfach weiterverwendet wurden und sich die Wissenschaft damit über ethische Grenzen hinweggesetzt hat. In diesem Fall ist es der vulnerable, versehrte Körper einer Person, die von einem durch Forschung weiter reproduzierten Klassismus, Rassismus und Sexismus betroffen war.

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Genom

Ebenso wie Henrietta Lacks Zellen lebt auch menschliche DNA, hier als transformiertes Ready-Made-Material, in den Portraits der Künstlerin Heather Dewey-Hagborg weiter. Probably Chelsea zeigt dreißig verschiedene Porträts, die sie mithilfe der DNA aus einer Speichelprobe und Haaren der Whistleblowerin Chelsea Manning erstellt hat. Dabei wurde das Genom von einem Algorithmus analysiert und die Gesichter wurden als 3D-Drucke geprintet (Abb. 18.4). Die 2010 inhaftierte IT-Spezialistin der US-Streitkräfte hatte Daten zum Irak- und Afghanistankrieg an Wikileaks weitergegeben und wurde 2017 freigesprochen. Während ihrer Haft ließ sich die als Bradley Edward geborene in Chelsea Manning umbenennen, begann eine Hormontherapie und nahm eine weibliche Geschlechtsidentität an. Der Algorithmus der DNA-Phänotypisierung, die Dewey-Hagborg benutzt, um ihre maskenartigen Objekte zu produzieren, beruht auf der forensischen Polizeipraxis, in der Abbilder von Verdächtigen allein auf Basis ihrer DNA erzeugt werden. Die Firma Parabon NanoLabs Inc. in Reston, Virginia, bietet seit 2008 das Produkt Snapshot an, das vom Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten mitfinanziert wurde. Die Firma beschreibt ihr Produkt wie folgt: „Snapshot is a cutting-edge forensic DNA analysis service that provides a variety of tools for solving hard cases quickly: […] DNA Phenotyping: Predict physical appearance and ancestry of an unknown person from their DNA. […] Snapshot 2 Mittlerweile ist Henrietta Lacks eine populäre Person geworden. Der Künstler Kadir Nelson malte 2017 nach einem Foto ein Dreiviertelporträt von Henrietta Lacks, das sie mit einer Bibel in der Hand, lächelnd, in einem roten Blümchenkleid vor einer mit der „Blume des Lebens“ gemusterten Tapete zeigt. Im gleichen Jahr erschien eine Fernseh-Verfilmung ihres Lebens (The Immortal Life of Henrietta Lacks) mit Oprah Winfrey in der Hauptrolle.

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Abb. 18.4

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Heather Dewey-Hagborg und Chelsea E. Manning: Probably Chelsea, 2017

is ideal for generating investigative leads, narrowing suspect lists, and solving human remains cases, without wasting time and money chasing false leads“ (Parabon NanoLabs 2020).

Anhand von Informationen wie Geschlecht, Haarfarbe oder Augenfarbe, die aus der DNA gewonnen wurden, erstellt das Programm fiktive Gesichter von Personen, die im Zuge polizeilicher oder militärischer Ermittlungen zu realen Verdächtigen werden. Dewey-Hagborgs Arbeit zeigt, dass es sich bei der genetischen Information um interpretierbare Daten handelt. Algorithmen werden von Menschen gemacht, die das System programmieren und es mit einem Schema, das aus verschiedenen „Typen“ von Menschen besteht, ausstatten. Wird also aus der DNA beispielsweise die Information für eine bestimmte Haarfarbe gelesen, kann diese in einer Visualisierung völlig unterschiedlich dargestellt werden. Die Typenbilder, die dabei generiert werden, erinnern an die Anfänge phänotypischer, rassistischer Kategorisierungen von Menschen in der Kriminologie und der Eugenik, die um 1900 vor allem mit den technischen Möglichkeiten der Fotografie, wie beispielsweise den Composite-Fotografien von Francis Galton, begründet wurden. Die Kombination verschiedener aus der DNA gelesener Daten zur Erstellung eines Gesichts bietet aber auch deshalb Interpretationsspielraum, weil äußere Einflüsse, die das Antlitz einer Person im Laufe ihres Lebens geprägt haben, wie zum Beispiel das Alter,

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Abb. 18.5 Heather Dewey-Hagborg: Stranger Visions, 2012–2013

Umwelteinflüsse, Narben oder auch eine Hormonbehandlung, nicht ablesbar sind und damit durch den Algorithmus nicht dargestellt werden können. Dewey-Hagborg beschreibt das allgemeine Vertrauen in solche Technologien wie folgt: „We tend to look at technical systems as neutral black boxes, but if you open them up and look at the component parts, you find that they reflect the assumptions and motivations of their designers“.3 Bei Dewey-Hagborgs Arbeit erweist sich die Vorstellung von der genetischen Reproduzierbarkeit und damit der Existenz eines eindeutigen genetischen Fingerabdrucks als wissenschaftliche Utopie. Zugleich wirft sie Fragen nach einer techno-wissenschaftlichen Ethik und Verantwortung auf. Die menschengemachten Algorithmen können von rassistischen, sexistischen und anderen diskriminierenden Vorannahmen geprägt sein und zum Beispiel Formen des strukturellen Rassismus, wie er sich beim sogenannten Racial Profiling zeigt, weiterführen. Die Arbeit Probably Chelsea stellt diese gegenwärtige Polizeipraxis infrage, auch weil die Person Chelsea Manning einerseits zur verdächtigen Kriminellen gemacht wurde, andererseits aber auch als mutige Whistleblowerin angesehen wird. Die Willkür und die interpretativen Spielräume staatlicher Systeme und Techniken, wie die der Algorithmen-gestützten forensischen Polizeipraxis, werden damit sichtbar gemacht. Die Porträts aus Dewey-Hagborgs Arbeit Stranger Visions (Abb.  18.5), die mittels der DNA von gefundenen Zigarettenkippen oder Kaugummis erstellt wurden, zeigen zudem, dass Menschen überall ihre DNA hinterlassen. Diese Spuren menschlicher Körper sind nicht geschützt und damit potentiell Überwachungssystemen ausgesetzt. Genome, die unsere DNA enthalten, können so in Besitz genommen, ausgewertet und interpretiert werden. Was passiert aber, wenn menschliche DNA durch bio- und gentechnologische Verfahren nicht nur überwacht, sondern auch verändert und manipuliert werden kann? 3 Dewey-Hagborg, Heather (2015): Sci-Fi Crime Drama with a Strong Black Lead. URL: https:// thenewinquiry.com/sci-fi-crime-drama-with-a-strong-black-lead/ [Zuletzt besucht am 16.12.2022].

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4

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DNA-Utopien

2017 landete die Gruppe Mission//Misplaced Memory mit der Ausstellung Dreamed Native Ancestry (DNA) im Arts Catalyst – Centre for Art, Science & Technology in London. Verkleidet als Astronaut*innen aus der Zukunft (Abb. 18.6) kommen sie in das Jahr 2017 zurück, um, wie sie selbst angeben, das Aussterben der menschlichen Spezies zu verhindern. In einem Video erklären sie, genetische Homogenität habe dazu geführt, dass die Menschen in der Zukunft krank und schwach werden. Auch gebe es in dieser zukünftigen Welt keinerlei kulturelle Entwicklung, Wissenswachstum oder technologische Fortschritte mehr. Ferner sei den Menschen die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und zu gestalten, abhandengekommen. Kurzum, die menschliche Spezies werde in der Zukunft eine tiefgreifende Regression in allen Bereichen erleben. Mission//Misplaced Memory besteht aus den Künstler*innen Zaynab Bunsie, Trevor Mathison und Gary Stewart, die ihre Mission, eine Regression zu verhindern, wie folgt beschreiben: „The (DNA) catchers are tasked to travel through time, collecting samples, stories and knowledge from the cultural and genetic richness of humanity’s past – particularly at points of concentrated migration and cultural exchange – to deposit in a vast human memory vault that will reseed the human race of the future. London – King’s Cross – 2017 has been identified as one key centre of migration and culture in human history.“4

Im Mission Ship – dem Ausstellungsraum von Arts Catalyst – wurden über drei Monate hinweg Besucher*innen dazu eingeladen, sowohl schriftlich als auch mündlich ihre Erinnerungen an ihre Herkunft und Migrationshintergründe zu hinterlassen. Diese Geschichten und Materialien wurden auf einem Tisch im Zentrum der interaktiven und partizipativen Installation gesammelt und geordnet. Auf den Fenstern, an den Wänden und in Reagenzgläsern wurden Spuren von Missionen an andere Orte gezeigt. Jedes Wochenende performten und mischten die SoundArtists von Dubmorphology Sounds aus den gesammelten Erinnerungsfragmenten und anderen Quellen. Zusätzlich waren Expert*innen aus den genetischen Wissenschaften und der Migrationsforschung eingeladen, um gemeinsam mit dem Publikum die vom Projekt aufgeworfenen Fragen zu diskutieren. Dieses künstlerische Laboratorium erzählt eine Zukunftsvision, in der ein westlicher Fortschrittsglaube an die Wissenschaft durch eine postkoloniale 4 Mission//Misplaced Memory (2017): Dreamed Native Ancestry (DNA). URL: https://www. artscatalyst.org/dreamed-native-ancestry-dna [Zuletzt besucht am 25.06.2022].

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Abb. 18.6

Sarah Sigmund

Mission//Misplaced Memory: Dreamed Native Ancestry (DNA), 2017

und postmigrantische Narration gebrochen wird. Die Arbeit könnte auf Fragen verweisen, wie sie Jürgen Habermas in seinem Buch Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? formuliert hat, kehrt aber seine Argumentationslogik im Sinne einer afrofuturistischen Vision um. Im Afrofuturismus5 werden Vorstellungen von Zukunft entwickelt, die aus Schwarzer Perspektive beschreiben, wie zum Beispiel die Raumfahrt genutzt werden würde, wenn Black Communities einen Zugang zu diesen Technologien hätten oder sie sich diese nach einer Apokalypse beziehungsweise Regression aneignen würden. Somit wird von einem dystopischen Punkt ausgegangen, der dann einen möglichen utopischen Raum eröffnet. Habermas hingegen entwirft in seinem Buch ein eher dystopisches Zukunftsszenario (obschon sich hier fragen ließe, was und wen Habermas eigentlich unter dem Begriff der „menschlichen Natur“ fasst). Er erläutert, dass es der Wissenschaft in den 1970er Jahren erstmals gelang, Teile eines Genoms zu trennen und neu zusammenzusetzen. Darauf entwickelte sich die 5 Afrofuturismus ist eine Strömung in verschiedenen Sparten wie Film, Literatur, Mode, Musik, bildender Kunst oder Theater. Darin werden vor allem ausgehend von der afrikanischen Diaspora zukünftige, gleichberechtigte Gesellschaften imaginiert. Erstmals erwähnt wurde der Begriff 1994 vom amerikanischen Kulturkritiker Mark Dery, der diese seit den 1960er Jahren bestehenden Ästhetiken unter einem Begriff zu fassen versuchte.

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„medizinisch assistierte Fortpflanzung“ durch pränatale Diagnostik und künstliche Befruchtung. Er kritisiert, dass die In-Vitro-Verfahren „in das herkömmliche Verhältnis von sozialer Elternschaft und biologischer Abstammung“ eingreifen (Habermas 2018: 32). Auch wenn man diesem Punkt Aufmerksamkeit schenken kann, muss gefragt werden, wessen Interesse es ist, dieses normative Verhältnis zu erhalten. Mit den seither entwickelten biotechnologischen Möglichkeiten, die aktuell mit Crispr/ Cas96 eine neue Dimension erlangt haben, verändert sich „das ethische Selbstverständnis der Menschheit im Ganzen“ (ebd.). Wer aber wird hier unter dem Begriff Menschheit subsumiert? Wer war schon immer Mensch und wer musste erst Mensch werden? Dies sind Fragen, die in Theorien des Schwarzen Feminismus (Kelly 2019) formuliert und von Mission//Misplaced Memory aus der Perspektive von People of Color an die Entwicklungen der Gentechnologie gestellt werden. Heute versucht man die gentechnologischen Möglichkeiten damit zu legitimieren, dass sie zum Beispiel helfen könnten, schwere Krankheiten zu verhindern. Wer aber entscheidet, was krank und was gesund ist, welches Leben lebenswert und welches menschlich oder nicht-menschlich ist? Wer hat den Zugang zu diesen medizinischen Möglichkeiten und wer die finanziellen Mittel, diese zu bezahlen? Demnach ist die Frage nach einer liberalen Eugenik – wie sie Habermas stellt, indem er sich hauptsächlich damit beschäftigt, wie sich das Verhältnis von Eltern zu ihrem Kind ändert, wenn es möglich ist, Individuen pränatal durch Bio- und Gentechnologie nach eigenen Wünschen zu verändern und damit über sie zu verfügen – berechtigt, jedoch muss dabei auch thematisiert werden, dass eine neue Form der Eugenik, die durch Human Enhancement und Gentechnologie möglich wird, eng verknüpft ist mit ihrer historisch verankerten rassistischen und kolonialen Geschichte. Das Jahr, in dem Dreamed Native Ancestry (DNA) in London stattfindet, ist auch das Jahr, in dem – zum Beispiel in den USA, Brasilien, China oder der Türkei sowie in europäischen Ländern wie Großbritannien, Polen oder Ungarn –, zunehmend konservative, rechte, nationalistische und rassistische Haltungen verkündet werden. Am 20. Januar 2017 wird Donald Trump zum US-Präsidenten ernannt, am 29. März beantragt das Vereinigte Königreich den Austritt aus 6 Crispr/Cas9 ist ein molekularbiologisches Verfahren, bei dem einzelne DNA-Sequenzen durch das Schneideprotein Cas9 gezielt herausgeschnitten und durch die zwei RNA-Moleküle CRISPR und tracr ausgetauscht werden können. Dieses Genom-Editierungsverfahren ermöglicht es, das Erbgut jedes Zelltyps zu verändern. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna gelang 2012 der Durchbruch mit ihrer Forschung an der Genschere, wofür sie 2020 den Nobelpreis für Chemie erhielten. Doudna selbst hat einen Ethik-Gipfel einberufen, um Regeln über den Einsatz und die Grenzen der Technik zu diskutieren, nachdem Forscher*innen bereits Versuche an menschlichen Embryonen durchgeführt hatten.

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der EU. In Deutschland bildet die AfD in der Legislaturperiode 2017–2021 die größte Oppositionsfraktion. Dies sind nur einige Beispiele für einen weltweiten Rechtsruck und eine damit einhergehende Regression (Latour 2017: 135–136). An diesen Punkt kommt die Mission zurück, um die Frage zu stellen, inwiefern rassistische Politiken und Gentechnologie miteinander verbunden sind. Während 2017 Nationalismen weltweit wieder erstarken, formulieren die Künstler*innen innerhalb ihres fiktiven Labors, dass diese Technologien zur Erhaltung, Optimierung und Reproduktion der menschlichen Spezies hauptsächlich für weiße und/oder privilegierte Menschen gemacht zu sein scheinen, und setzen dem migrantische Geschichten der Vielfalt entgegen, die in ihrem Experiment weitervererbt werden können, um die Verkörperungen des „humanistischen Universalismus“ zu überwinden. Angesichts der im künstlerischen Laboratorium entwickelten DNA-Utopie, die aufzeigen will, wohin Bio- und Gentechnologie führen könnten, zeigen die Held*innen aus der Zukunft eine Möglichkeit des Widerstands in der Gegenwart auf. Gesammelte Spuren und Fragmente, die Migration und Transkulturalität sichtbar machen, werden zum collagierten Faktum einer afrofuturistischen Narration. DNA wird als Träger von Geschichten humanoider Körper inszeniert, ohne dass diese, ihre Fragmente oder ihr somatisches Material selbst als künstlerische Objekte sichtbar werden. DNA ist hier kein Material, um etwas Menschliches zu reproduzieren oder künstlerische Arbeiten mit wissenschaftlichen Apparaturen zu erzeugen. DNA ist in diesem Laboratorium vielmehr eine Metapher für gespeicherte Erinnerungen, die archiviert und sichtbar gemacht werden müssen, um einen diversen Genpool zu bewahren.

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Molekular werden

Der Philosoph und Queer-Theoretiker Paul B. Preciado untersuchte im Selbstexperiment mit synthetischem Testosteron die „physiologischen und politischen Mikroveränderungen“ am eigenen Körper und erklärte: „[…] ich will meiner low-tech-transgender Identität aus Dildo und bewegten Texten und Bildern eine molekulare Prothese hinzufügen“ (Preciado 2016: 18). Dabei geht es ihm nicht primär darum, eine geschlechtliche Transition durchzuführen, sondern sich damit auseinanderzusetzen, was an seinem Körper nicht von ihm bestimmt wird und nicht ihm gehört. Im Buch Testo Junkie beschreibt Preciado neben seinem Selbstversuch, welche biopolitischen Systeme die „Ära der Pharmapornographie“ bestimmen. Angelehnt an Michel Foucaults Auseinandersetzung Die Regierung der Lebenden beschreibt er die Relationen der Entwicklung von Überwachungs- und Biotechnologien ab den 1930er

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Jahren zu Zwecken der Pharmaindustrie und Medizin, die, wie er weiter ausführt, meist aus wissenschaftlicher Forschung und Entwicklungen im Militär hervorgegangen sind. Parallel zum Aufkommen künstlicher Hormone und der pharmazeutischen Entwicklung synthetischer Moleküle ab den 1950er Jahren steigt die Produktion pornografischer Bilder, bei gleichzeitiger Illegalisierung von Sexarbeit. Diese beiden Tendenzen versuchen Körper auf zwei unterschiedlichen Ebenen zu normieren und zu kontrollieren: einerseits durch das Aufzeigen idealisierter Körper in Bildern, andererseits durch die subtile toxische Transformation und Kontrolle von Subjekten mittels Substanzen wie der Verhütungspille, Viagra, Testosteron, Antibiotika, Morphin, Insulin, Kokain, Kunststoffen und vielen anderen (vgl. 2016: 28–37). Schaut man sich etwa die Packungsbeilage eines Testosterongels an, in der Zeichnungen eines muskulösen männlichen Oberkörpers abgebildet sind, wird klar, dass durch die Einnahme eine bestimmte Art von Subjektivität produziert werden soll. Ein männlich konnotierter Körper, dem ein Mangel zugeschrieben wird, soll mit Hilfe der Substanz Testosteron einen Zugewinn an Männlichkeit erhalten. Durch Preciados Beschreibungen wird sichtbar, dass in der Biotech-Medizin neben weiblichen vor allem Körper von Black, Indigenous, People of Color (BIPoC) oder queere und transgender Körper gegenüber weißen Körpern, die der gesellschaftlichen Norm entsprechen, nicht gleichbehandelt, sondern vernachlässigt werden. Entgegen der Zielsetzung etwa von Biohacker*innen und Transhumanist*innen, die nach einer Optimierung der Körper streben, möchte sich Preciado mit dem Gebrauch des Testogels deshalb der pharmapornografischen Biopolitik7 widersetzen. Ebenso wie die zuvor behandelten künstlerischen Positionen macht Preciados Beschreibung seines performativen Selbstversuchs sichtbar, wie Biotechnologien im neoliberalen Kapitalismus an die Unterdrückungsmechanismen geknüpft sind, die seit dem 19. Jahrhundert bestehen und gerade von rechts-konservativen Vertreter*innen weltweit wieder stark gemacht werden. Den Unterschied zur vorherigen Disziplinargesellschaft formuliert Preciado folgendermaßen: „In Biotechnologie und in Pornokommunikation gibt es kein Objekt, das zu produzieren ist. Das pharmapornographische Business ist die Erfindung eines Subjektes und dann globale Reproduktion“ (2016: 37; Herv. i. O.). Ähnliches prophezeite das Poster des Filmsets im Foyer der Akademie, 7 Biopolitik bezeichnet in Anlehnung an Foucaults Begriff Bio-Macht Machttechniken, die nicht auf den Einzelnen abzielen, sondern auf die Bevölkerung als Ganzes. Sie reguliert durch bestimmte Verfahren und Methoden viele Lebensbereiche des Menschen wie Fortpflanzung, Gesundheit, Wohnen oder Arbeit. Die Ära der Pharmapornographie ist nach Preciado geprägt durch Substanzen, die Körper nach den Zielen der Biopolitik transformieren.

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das dafür warb, Menschen nach bestimmten Vorstellungen bestellen zu können. Doch wie Preciado beschreibt, ist die molekulare Kapitalisierung von Körpern schon lange keine Science-Fiction-Vision mehr und fängt auch nicht erst mit Genexperimenten an. Gleichzeitig sind innerhalb der molekularen Biopolitik menschliche Körper, die durch Hybridität und Transition geprägt sind, von Unsichtbarkeit betroffen: „The ontological-political density of a trans or migrant body is lower than that of a citizen whose gender and nationality are recognized by the administrative conventions of the nation-state they inhabit“ (2019: 58–59). Rosi Braidotti schreibt hierzu: „Es mag verführerisch sein, wäre aber abwegig zu glauben, dass sich posthumane verkörperte Subjekte jenseits der sexuellen oder rassisierten Differenz befänden“ (2014: 102). So seien in der heutigen molekularen „Zoémacht“ auch posthumane Verkörperungen, wie beispielsweise Gene oder Zellen, weiterhin Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen ausgesetzt (2014: 101).

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Fazit

Körper befinden sich im Zustand des Molekular-Werdens vielleicht sogar unter prekäreren Bedingungen als in menschlicher Gestalt. Gerade der molekulare Status jener vulnerablen Körper scheint dazu zu führen, dass in der zeitgenössischen Kunst eben jene Unsichtbarkeiten – Zytosoma, Genom oder DNA – sichtbar gemacht oder humanoide Körper daraus re-materialisiert werden. Dabei werfen die Künstler*innen einen Blick hinter die Laborwände der Wissenschaft, indem sie ihre Verfahren teils selbst anwenden sowie ihre Methoden offenlegen und in Frage stellen. Die künstlerischen Arbeiten produzieren auf diese Weise ein eigenes Wissen im Hinblick auf Bio- und Gentechnologie und thematisieren, dass Körper auch auf der molekularen Ebene klassistischen, rassistischen und sexistischen Systemen ausgesetzt sind, die zudem mit einer neuen Form von Eugenik verknüpft sein können. Das Projekt Dreamed Native Ancestry zeigt auf, was in der Zukunft passieren könnte, wenn wir diese Systeme nicht hinterfragen und diverse Lebensformen nicht aktiv fördern und bewahren. Christine Borlands Arbeit macht sichtbar, wie somatisches Material ungefragt benutzt werden kann, und Dewey-Hagborgs Porträts zeigen Körper, die durch ihren molekularen Zustand fortlaufend kriminalisiert und überwacht werden können. Die genannten künstlerischen Arbeiten wie auch Preciados Selbstversuch machen deutlich, dass „natürliche“ Körper selbst zu modifizierbaren Entitäten geworden sind. Der menschliche Körper der pharmapornografischen Ära kann folglich nur als „Natur-Kultur-Kontinuum“ (Braidotti 2014: 86) gedacht

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werden, um auch die molekularen Biopolitiken, die auf diesen einwirken, reflektieren zu können. Denn wie Rosi Braidotti beschreibt, führt dieses System zu einer „[…] bewussten Verwischung dichotomisierter Differenzen, die die Machtdifferenzen nicht auflöst oder abschwächt, sondern in vieler Hinsicht verstärkt“ (2014: 100). Genau diese Verwischungen sind es, die durch die Kunst sichtbar gemacht werden. Das Potenzial der künstlerischen Arbeiten liegt darin, die zugrundeliegenden, ungerechten und willkürlichen Systematiken kritisch zu hinterfragen. Indem sich die vermeintlich subjektive Kunst wissenschaftliche Verfahren aneignet, kann deren vorgebliche Objektivität in Frage gestellt werden. Im Gegensatz zur eingangs beschriebenen Serie, die der Narration einer „weißen Fortschrittsgeschichte“ der Wissenschaft folgt, deuten die künstlerischen Arbeiten an, welche Körper im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie bisher profitieren und welche aufgrund von Klasse, Herkunft und Geschlecht die leidtragenden, unterdrückten oder von diesen Technologien zumindest nicht profitierenden Körper darstellen. In vielen künstlerischen Positionen, so ist also festzustellen, wird die Hybridität des Menschseins nicht länger anhand von Körpern in ihrer humanoiden Erscheinung verhandelt, sondern auch mittels molekularer Verfahren. Diese arbeiten mit Materialien, die das Menschsein jenseits des Menschen und seiner Gestalt sichtbar machen. Jene Verkörperungen, die sich auch als „PostHumanoide“ beschreiben lassen, befinden sich in einem Zustand des Werdens, der Transformation oder der Liquidierung. Selbst wenn die menschliche Gestalt gar keine Rolle mehr spielt, wie in den Arbeiten von Borland, Dewey-Hagborg oder Mission//Misplaced Memory, thematisiert das Material – HeLa-Zellen, DNA, Erzählungen, Geräusche und andere Spuren – das Menschsein und die damit verbundenen Fragen nach der Zukunft des Humanen. Und gleichzeitig, so würde ich behaupten, machen diese künstlerischen Positionen überhaupt erst sichtbar, dass somatische Materialien Verkörperungen des Menschlichen sind: Obwohl die verflüssigten Substanzen von Körpern im Zustand des „post“ menschliche Erscheinungen hinter sich gelassen haben, können diese immer wieder re-materialisiert werden. Selbst im molekularen Zustand und im Moment der Verflüssigung folgen sie noch den humanistischen Repräsentationslogiken, die es aufzuheben gilt, um nicht nur menschliche Körper, sondern auch ihre Spuren von diesen Machtsystemen zu befreien. Als liquidierte Körper sind sie noch immer gefangen in den biopolitischen Verstrickungen ihrer Repräsentation, die durch posthumanistische Kritik, wie sie beispielhaft in der Kunst formuliert wird, sichtbar gemacht werden können.

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Literatur Braidotti, Rosi (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt/M.: Campus. Brown, Katrina  M. (2006): What Makes for the Fillness and Perfection of Life, for Beauty and Happiness is Good. What Makes for Death, Disease, Imperfection, Suffering is Bad. In: Christine Borland. Preserves, hg. von Bradley, Fiona. Ausstellungskatalog: Edinburgh, The Fruitmarket Gallery; Lincoln, The Collection. Edinburgh: The Fruitmarket Gallery, S. 114–119. Conard, Nicholas J./Wertheimer, Jürgen (2010): Die Venus aus dem Eis. Wie vor 40.000 Jahren unsere Kultur entstand. München: Knaus. Habermas, Jürgen (2018): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kelly, Natasha A. (2019): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast. Latour, Bruno (2017): Refugium Europa. In: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 135–148. Loh, Janina (2018): Trans- und Posthumanismus zur Einführung. Hamburg: Junius. Mersch, Dieter (2015): Epistemologien des Ästhetischen. Zürich/Berlin: Diaphanes. Preciado, Paul B. (2019): My Body Doesn’t Exist. In: Producing Futures. A Book on PostCyber-Feminisms, hg. von Munder, Heike. Ausstellungskatalog: Zürich, Migrosmuseum für Gegenwartskunst. Zürich: JRO Editions, S. 53–67. Preciado, Paul B. (2016): Testo Junkie. Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie. Berlin: b_books. Skloot, Rebecca (2010): Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks. München: Irisiana. Ströbele, Carolin (2020): Kleingeist im Audimax. In: Zeit Online. Kultur. URL: https:// www.zeit.de/kultur/film/2020–08/biohackers-serie-netflix-streaming/komplettansicht [Zuletzt besucht am 16.12.2022]. Wolf, Sybille (2015): Schmuckstücke. Die Elfenbeinbearbeitung im Schwäbischen Aurignacien. Tübingen: Kerns. Wollner, Anna (2020): Netflix-Serie „Biohackers“. DNA basteln wie mit Lego. Anna Wollner im Gespräch mit Max Oppel. In: Deutschlandfunk Kultur. URL: https:// www.deutschlandfunkkultur.de/netflix-serie-biohackers-dna-basteln-wie-mitlego.2156.de.html?dram:article_id=482733 [Zuletzt besucht am 16.12.2022].

Abbildungsverzeichnis Abb. 18.1:

Poster aus dem Filmset der Serie „Bodyhackers“ im Neubau der Akademie der Bildenden Künste München, 2019 © Sarah Sigmund.

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Abb. 18.2: Yinka Shonibare CBE RA: Girl on Globe, 2011. Schaufensterpuppe, Waxprint-Textil, Globus. © Peter Bellerby. Abb. 18.3: Christine Borland: HeLa Hot, 1999. HeLa-Zellen, Nährboden, Videomikroskop, Monitor. © Christine Borland. Abb. 18.4: Heather Dewey-Hagborg and Chelsea E. Manning: Probably Chelsea, 2017. Dreißig verschiedene Porträts von Chelsea Manning, die algorithmisch durch eine Analyse ihrer DNA erzeugt wurden. Courtesy of the artists and Fridman Gallery. Abb. 18.5: Heather Dewey-Hagborg: Stranger Visions, 2012–2013. Portrait and samples from New York: Sample 6; Collected 1/6/13 12:25pm; Wilson ave. and Stanhope St. Brooklyn, NY (MtDNA Haplogroup: D1 (Native American, South American); SRY Gene: present; Gender: Male; rs12913832: AA; Eye Color: Brown; rs4648379: CC Typical nose size; rs6548238: CC; Typical odds for obesity). Courtesy of the artist and Fridman Gallery. Abb. 18.6: Mission//Misplaced Memory: Dreamed Native Ancestry (DNA), 2017. Dreamed Native Ancestry (DNA) Veranstaltung in der Ausstellung im Arts Catalyst London. © Arts Catalyst and Tom Hall.

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer Eine Intervention zwischen geologischer Kolonialisierung und musealer Dekolonialisierung Kerstin Flasche

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Ein Mohr mit Mineralien im Historischen Grünen Gewölbe

Das Dresdner Historische Grüne Gewölbe ist nicht nur für seine sagenhaften Pretiosen, sondern auch für seine mineralischen Edelsteinschätze und -garnituren bekannt. Im Gegensatz zum Neuen Grünen Gewölbe handelt es sich beim Historischen Grünen Gewölbe um den Flügel des Dresdner Residenzschlosses, der nach frühneuzeitlichen Plänen Augusts des Starken rekonstruiert wurde, um einen Teil der Sammlung der heutigen Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens originalgetreu zu präsentieren. Historische Spiegel wurden restauriert, barocke Wandvertäfelungen rekonstruiert und einige der wertvollsten Exponate der Prunk- und Schatzkammer reinstalliert – so auch eine berühmte Smaragdsteinstufe mit ihrer hölzernen Trägerfigur. Im April  2019 wurde dieses Exponat Ziel einer künstlerischen Intervention des Leipziger Künstlers Bertram Haude mit dem Titel Mohr mit Mineralien1. Anlass dieser Intervention war die Reflexion des gewaltigen Einflusses der menschlichen Spezies auf das planetare Geosystem. Dabei lenkte das Projekt vor allem die Aufmerksamkeit auf die transformativen Kräfte auf diesem Planeten, die das von der Geologie und der Soziologie viel diskutierte Anthropozän-Konzept zu erfassen sucht, und warf letztlich nicht nur posthumanistische, sondern auch postkoloniale Fragen in Bezug auf historische Exponate in ihrem musealen Kontext auf. Austragungsort der Intervention war die 63,8 cm hohe, männlich gelesene Trägerfigur des Bildhauers Balthasar Permoser. Schreitend, mit ausgestreckten Armen trägt sie eine circa 30 cm breite Schale aus Schildpatt, auf der die Gesteinsstufe mit ihren wertvollen Smaragden dargeboten wird. Ihr Kopf ist zu einem breiten Lachen nach hinten geworfen. Bekleidet ist die Figur mit einer Federkrone und einem Halsreif, einem vergoldeten Brustharnisch sowie Arm- und Beinschienen, die über und über mit kostbar geschliffenen Edelsteinen besetzt sind und aus der Werkstatt 1 Die typographische Durchstreichung ist Teil des künstlerisch-konzeptuellen Apparats der Intervention.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846765975_020

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Abb. 19.1

Installation der anthropogenen Mineralien, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien, 2019

Abb. 19.2

Installation der Smaragdstufe im Foyer des Historischen Grünen Gewölbes, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien, 2019

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer

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des Hofjuweliers Johann Melchior Dinglinger stammen. Heute wird die Figur, getreu dem Inventar von 1733, wieder im Juwelensaal ausgestellt. Für vier Monate verließ die handsteingroße Smaragdstufe ihren angestammten Platz auf dem Tablett ihres figürlichen Sockels und wich einer Acrylglasstufe, bestückt mit elf rätselhaften Objekten (vgl. Abb. 19.1). Die Smaragde wurden in eine Vitrine im Foyer vor dem Gewölbe umgesiedelt, Seite an Seite mit elf Makrofotografien der neuen Objekte für die historische Trägerfigur (vgl. Abb. 19.2). Doch was genau ist hier an den Platz der wertvollen Gesteinsstufe gerückt? Welche Bezüge zwischen der berühmten Trägerfigur und den präsentierten Objekten werden durch das neue Arrangement geschaffen? Und welche neuen Perspektiven werden damit auch auf das alte Arrangement eröffnet?

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Anthropogene Mineralien in den Setzkästen der Wissenschaft

Dem ersten Eindruck nach handelt es sich bei den elf neuen Objekten um verschiedenartige Gesteinsproben. Im Hintergrund rechts beispielsweise fällt eine klumpige Substanz unter einer Glasglocke auf (Struvit); in einer Halterung hängt ein rotes, birnenförmiges Objekt mit trüb wirkender Oberfläche (synthetischer Rubin), während links daneben das kleinste Objekt liegt: ein grünlich schimmerndes Stiftchen, kaum größer als eine Erbse (Igmerald/ synthetischer Smaragd). Der zentrale Stein weist intensive Farbschichten auf und ist kobaltblau gebändert (Serpierit); das Exponat links vorne ist von weißlichen Mikro-Kristallen bewuchert, die sich auf Schlackegestein gebildet haben (Phosgenit). Tatsächlich sind es die winzigen, kaum erkennbaren Kristalle, die hier das Faszinosum ausmachen (vgl. Abb. 19.3). Bei den beschriebenen Exponaten handelt es sich um sogenannte anthropogene Substanzen. Das bedeutet, dass ihre Entstehungsgeschichten eng mit dem menschlichen Wirken im Geosystem verwoben sind. Einige anthropogene Substanzen – wie der synthetische Rubin – werden gänzlich im Labor gezüchtet. Seine hier sichtbare Birnenform ist charakteristisch für das Zuchtverfahren von Monokristallen, mit dem Rubine, Korunde und Spinelle in makelloser Qualität synthetisch hergestellt werden können. Die Produkte des Syntheseverfahrens sind heute Grundbestandteile der Schmuckindustrie, aber auch der Lasertechnik, der LED-Technik, von Lithium-Ionen-Batterien oder der Chip-Industrie. Die meisten hier präsentierten Substanzen jedoch sind unbeabsichtigte und auch ungeahnte Ergebnisse menschlicher Aktivitäten im Bergbau. Sie sind entweder als Neben- oder Abfallprodukte entstanden oder haben sich als Reaktionen auf veränderte Umweltbedingungen neu gebildet.

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Abb. 19.3

Serpierit, Fundort: Grube Marie in Wilnsdorf, Siegerland

Beispielhaft hierfür ist der blau gebänderte Serpierit, der sich in der Antike im griechischen Lavrio gebildet hat, wo Bergbauschlacken mit Meerwasser zu neuen Stoffen reagierten. Während der Serpierit tatsächlich nicht nur in Zusammenhang mit menschlichem Wirken entsteht, sind Bildungen von Štěpit und Vysokýit abseits einer von Menschen (mit)gestalteten Umwelt bislang unbekannt. Letztere haben sich in den Bergwerkstollen im tschechischen Jáchymov in Folge des Uranabbaus formiert (vgl. Abb. 19.4). Chemisch gesehen sind die anthropogenen Substanzen Mineralien, doch gleichzeitig stellen sie einen Streitpunkt für mineralogische Klassifizierungssysteme dar. Die International Mineralogical Association schreibt dazu: Anthropogenic substances, i.e., those made by Man, are not regarded as minerals. However, there are other cases in which human intervention in the creation of a substance is less direct, and the borderline between mineral and non-mineral can be unclear. (One such case is the occurrence of new substances that owe their origin, at least in part, to human activities such as mining or quarrying) (Nickel/Grice 1998).

Für die Intervention im Grünen Gewölbe nimmt Bertram Haude die Anerkennungsfrage in den Interventionstitel auf und markiert den fraglichen

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer

Abb. 19.4

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Vysokýit, Fundort: Grube Svornost, Jachymov, Tschechien/Böhmen

Status dieser Mineralien mit einer Durchstreichung. Doch in Mohr mit Mineralien ist der Mineralienbegriff nicht der Einzige, der typographisch zur Diskussion gestellt wird. Ich werde auf diesen Aspekt noch zurückkommen. Mit seiner künstlerischen Intervention bezieht sich Bertram Haude auf einen Forschungsbericht des amerikanischen Mineralogen Robert M. Hazen (2017), in dem dieser 208 Substanzen aufführt, die ihre Existenz indirekt oder sogar direkt menschlichen Aktivitäten verdanken. Von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden und der Geowissenschaftlichen Sammlung der TU Bergakademie Freiberg lieh der Künstler elf der in der Liste geführten Substanzen aus, um sie in das Grüne Gewölbe einzuschleusen: Struvit, Serpierit, Tschermigit, Godovikovit, Phosgenit, Skorodit, Ettringit, Štěpit und Vysokýit, synthetischer Rubin und Igmerald (synthetischer Smaragd). Gegenüber den circa 5000 Mineralien, die auf diesem Planeten über 4,5 Milliarden Jahre hinweg durch geologische Prozesse entstanden sind, haben sich die meisten dieser neuen Minerale mit dem Beginn der Industrialisierung, der Kernkraft und der Kernwaffentechnologie gebildet. Die hier beleuchtete, für die Erdgeschichte einmalig rapide Mineralentstehung versteht Hazen als Hinweis darauf, dass die Erdgeschichte um eine neue geologische Epoche erweitert werden müsse, namentlich um die von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer

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(2000) benannte Erdepoche Anthropozän, in welcher die Spezies Mensch als einflussreichster geologischer Faktor betrachtet wird.2 Es ist ungewöhnlich, dass in der Forschung über eine gegenwärtige epochale Wende diskutiert wird, denn die zumeist Milliarden Jahre umfassenden geologischen Zeitspannen wurden bislang stets rückblickend definiert. Doch das Anthropozän wird längst nicht mehr nur in der Geologie diskutiert, sondern ist mittlerweile zum interdisziplinären Politikum avanciert. Dabei erschweren widersprüchliche Deutungen den Umgang mit dem neuen Epochenbegriff. Für Klimaaktivist*innen markiert der Begriff des Anthropozän eine beispiellose Umweltzerstörung durch die Spezies Mensch mit potentiell dystopischen oder apokalyptischen Folgen; gleichzeitig verbinden sich mit dem Gebrauch des Begriffs aber auch Hoffnungen auf ein neues Bewusstsein und damit auch auf Chancen für eine Klimawende. Auf der anderen Seite scheint das (neue) „Zeitalter des Menschen“ jedoch auch von einem (hergebrachten) Anthropozentrismus durchdrungen zu sein, dessen etymologischer Bezug erneut dazu verleitet, den Menschen ins Zentrum des planetaren Gefüges zu rücken – als größten geologischen Faktor und Profiteur. Vertreter*innen neumaterialistischer und posthumaner Theorien hingegen schlagen für die Zukunft des Planeten alternativ ein postanthropozentrisches Erd-Mensch-Verhältnis vor, in welchem das Handeln aller menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen und seine Folgen ernst genommen und die hegemoniale Stellung des Menschen hinterfragt werden sollen. So steht der Epochenbegriff im Spannungsfeld zwischen der Forderung nach Entwicklung eines neuen Verhältnisses zum Planeten Erde und der Fortführung einer Privilegierung der menschlichen Spezies. Indessen kann konstatiert werden, dass das breite interdisziplinäre Interesse an der Idee des Anthropozän – ganz im Sinne von Kathryn Yusoffs „Geosocial Strata“ (Yusoff 2017) – zu einer neuen Verzahnung von natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Betrachtungsweisen geführt hat. Mit Bezug auf dieses Diskursfeld führt der Anthropozän-Forscher Hazen die anthropogenen Substanzen als steinerne Belege des Folgenreichtums und der gewaltigen Dimension menschlicher Eingriffe in die Umwelt an. Durch seine Forschungen an der Schwelle zwischen dem ‚Natürlichen‘ und dem ‚Künstlichen‘ wird jedoch ebenso offenbar, wie diffizil die Definition einer klaren Trennlinie zwischen menschlichen Einflüssen und geologischen Prozessen,

2 Als neue Erdepoche soll das Anthropozän das mit circa 11.700 Jahren noch recht junge Holozän ablösen, das selbst bereits auf die Existenz des Menschen Bezug nimmt. Das dem Holozän vorgelagerte Pleistozän umfasst zum Vergleich ganze 2,5 Millionen Jahre.

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer

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also menschlichen und nicht-menschlichen Faktoren, ist.3 Mit Blick auf die anthropogenen Substanzen scheint die für die europäische Wissenschaftsgeschichte paradigmatische Trennung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ an ihre Grenzen zu kommen. Was kann zweifelsfrei als ‚natürlich‘ bezeichnet werden? Und wo hört die ‚Natur‘ auf, die in naturwissenschaftlichen Sammlungen in Setzkästen klassifiziert und konserviert wird? Die Wunder- und Kunstkammern im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts gelten als prominente Austragungsorte früher Versuche, die Welt zu ordnen. So willkürlich die ersten Sammlungen auch sein mochten, so gab das hier erprobte regelfreie Sammeln doch den Startschuss für die Aushandlung von Ordnungssystemen, Kategorien und Klassifizierungen. Es entstehen die ersten Sammlungsgruppen naturalia, artificialia, mirabilia scientifica und exotica (Beßler 2012). Wunderkammern gelten daher sowohl als Orte individueller oder intuitiver Ordnungen als auch als Vorläufer der naturwissenschaftlichen Spezialsammlungen mit fundierten Klassifizierungssystemen. Trotz oder gerade wegen der Omnipräsenz der Frage nach Systematisierungen scheint in Kunst- und Wunderkammern die größte Faszination den Schwellenobjekten zu gelten – jenen Dingen also, die eben nicht leicht zuzuordnen sind. Zu den kuriosesten Sammelgütern gehörten beispielsweise verkieselte Korallen, die in keiner Wunderkammer fehlen durften; war ihnen doch, auch schon bevor die wissenschaftliche Trennung zwischen Stein-, Pflanzen- und Tierreich ausformuliert war, eine wunderliche Hybridität zugeschrieben worden. Das Historische Grüne Gewölbe in Dresden beherbergt einen Großteil der zwischen 1723 und 1730 vom sächsischen Kurfürsten August dem Starken angelegten Schatzkammer, die ihren Nukleus in einer bereits im 16. Jahrhundert angelegten Kunst- und Wunderkammer hat (Weinhold 2010: 100). Angesichts der weit zurückreichenden Tradition des Grünen Gewölbes, Kurioses und damit Objekte zu beherbergen, die sich klaren Zuordnungen entziehen, scheint es nur konsequent, hier die anthropogenen Substanzen zu platzieren, die sich – weder nur ‚natürlich‘ noch vollkommen ‚künstlich‘ – ebenfalls als wundersame Grenzphänomene erweisen. Zwischen naturalia und artificialia changierend, können sie als ‚zeitgenössische Kuriosa‘ betrachtet werden. So scheinen diese Grenzphänomene Paradebeispiele für die Verknüpfung von menschlichen, nicht-menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteur*innen bzw. Aktant*innen zu sein, wie sie im Neuen Materialismus, in der 3 Begriffe wie ‚Natur‘, ‚Kultur‘, ‚künstlich‘ oder ‚natürlich‘ sind in einfache Anführungszeichen gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass sich dabei um Konstruktionen handelt. Auch setze ich ‚exotisch‘ und ‚fremd‘ in einfache Anführungszeichen, um die Problematik der Begriffe im europäischen Diskurs anzuzeigen.

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Akteur-Netzwerk-Theorie, der Object-Oriented Ontology oder allgemein in posthumanistischen Theorien konzeptualisiert werden. In den genannten theoretischen Richtungen werden Vorstellungen einer positivistisch beschreibbaren und von der ‚Kultur‘ trennbaren ‚Natur‘ in Frage gestellt, so zum Beispiel durch Bruno Latour: In der westlichen Tradition kann man nie von dem einen Teil sprechen, ohne den anderen zu erwähnen: Es gibt keine andere Definition der Natur als die Definition der Kultur und keine andere Kultur als die Definition der Natur. Sie sind gemeinsam entstanden, unzertrennlich wie siamesische Zwillinge, die einander streicheln und Faustschläge versetzen und doch miteinander verwachsen sind (Latour 2017: 34).

Latours Kritik richtet sich dabei gegen dichotomische Strukturen als Fundament einer ‚westlichen, modernen Wissenschaft‘. Donna Haraway untersucht in ihrer Forschung zu speziesübergreifenden Geflechten den Zusammenhang zwischen Dichotomien und Diskriminierungsmechanismen und stellt heraus, wie Dualismen „systematischer Bestandteil der Logiken und Praktiken der Herrschaft über Frauen, farbige Menschen, Natur, Arbeiterinnen, Tiere – kurz, der Herrschaft über all jene, die als Andere konstituiert werden“, waren und noch immer sind (Haraway 1995a: 67). Umgekehrt wohnt anti-dualistischen Entitäten demnach ein widerständiges Potenzial inne, dualistische Denkweisen zu unterlaufen und infrage zu stellen. Diese Widerständigkeit spreche ich auch den anthropogenen Mineralien zu: Es sind Entitäten, die einerseits zu konstruiert sind, um sie zu den ‚Naturdingen‘ zu zählen, und die andererseits so ‚naturhaft‘ sind, dass sie nicht als kulturelle Artefakte gelten können. Als materielle Zeugen des Zusammenwirkens von menschlichen und geologischen, menschlichen und nicht-menschlichen Faktoren fordern die Mineralien Paradigmen der Mineralogie heraus, indem sie die Schwierigkeit der Klassifizierungsbestrebungen vorführen. Wissenschaftliche Prozesse der Benennung und der Kategorisierung sind immer auch Akte der Kontrolle und folgen damit den Weltanschauungen ihrer Zeit. Indem sich die anthropogenen Substanzen diesem Kontrollversuch entziehen, zeigt sich ihr wirkmächtiges Potenzial.

3

Über Smaragdträger …

Für vier Monate wurden hier also elf Kristallisationen einer ‚Natur/Kultur‘ (Latour 2017: 35), die sich als zeitgenössische Kuriosa der tradierten Dichotomie widersetzen, an einem Ort präsentiert, dessen Geschichte eng mit der

Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer

Abb. 19.5

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Bertram Haude: Mohr mit Mineralien, 2019

Geschichte der Wissenschaften verwoben ist. Doch die Objekte wurden nicht als Einzelobjekte präsentiert, sondern in einem ganz speziellen Verbund: Sie fanden Platz auf dem Tablett eines der berühmtesten Exponate der Sammlung, namentlich der hölzernen Trägerfigur, die bis dato eine Gesteinsstufe mit Smaragden darbot (vgl. Abb. 19.5). Bei der ins Foyer ausgelagerten Smaragdsteinstufe handelt es sich um ein Komposit aus einer limonitischen Grundsubstanz und ehemals 16 Smaragdkristallen, von denen heute nur noch neun Smaragde erhalten sind und ein Kristall im Laufe der Jahre sogar angeschliffen wurde (Thalheim 2014: 262). Ob „Naturwunder“ – wie inventarisiert – oder man-made, lässt sich daher eigentlich auch in Bezug auf das Originalgestein fragen (Juwelenkunst des Barock, Dresden, 2008: 169). Die Provenienz der Smaragdstufe ist nicht lückenlos nachvollziehbar: Als Geschenk an den sächsischen Kurfürsten gelangte sie 1581 von Prag nach Dresden. Vermutlich wurden die Smaragde von einem spanischen Konquistador um 1570 aus den Minen bei Chivor-Somondoco und Muzo im heutigen Kolumbien nach Europa gebracht (Nickel 1981: 10). Angesichts dieser möglichen Provenienz kann vermutet werden, dass die Smaragde unter Bedingungen erstanden wurden, die von Machtgefällen zwischen den Beteiligten geprägt

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waren und im Kontext der von Europa ausgehenden kolonialen Ausbeutung südamerikanischer Bodenschätze und Arbeitskräfte verstanden werden müssen (Greve 2005: 40). Die Trägerfigur ist um 1724 von August dem Starken in Auftrag gegeben worden, um der Smaragdstufe eine würdige Präsentationsform innerhalb der Sammlung zu verleihen. Die Figur aus dunkel lackiertem Birnbaumholz kann als Schwarz4 gelesen werden. Ihre ikonografische Konzeption wirft allerdings Fragen auf, da sie verschiedene ethnische Merkmale in sich vereint, die zu ihrer Entstehungszeit und aus eurozentrischer Perspektive allesamt als ‚fremd‘ und ‚exotisch‘ galten. Die Tätowierungen und die edelsteinbesetzten Schmuckmanschetten sind Kupferstichen des 1591 publizierten zweiten Bandes der „India Occidentalis“ von Theodor de Bry entlehnt (de Bry 1591). Mit Bezug auf diese Zitationen wird die Figur regional als indigener Bewohner Floridas, also Nordamerikas, identifiziert und darüber hinaus als Krieger und womöglich hochgeborener Stammesfürst (Nickel 1981: 14). Diese Interpretation wird durch die These gestützt, dass die Anwesenheit zweier als „amerikanische königliche Prinzen“ (Crell 1722) beschriebener Männer in Dresden als Inspirationsquelle für die Trägerfigur gedient haben könnte. Savase Oke Charnige und Tusskée Stannagée waren zwischen 1722 und 1725 am Dresdner Hof, erhielten hier nicht nur Sprach-, sondern auch evangelischen Religionsunterricht und wurden schließlich zu Friedrich Christian und August Christian getauft, um „aus der geistigen Sclaverey befreyet“ zu werden (Johann Christian Crell, zit. nach Greve 2005: 43). Auch die Beschreibung ihrer Tätowierungen – sie seien „gebrandtmaalet, daß es ein jeder höchlich bewundert“ (ebd.) – zeugt vom Interesse am ‚Exotischen‘, ‚Fernen‘ und ‚Fremden‘ an europäischen Höfen, trägt jedoch auch dazu bei, dass die Umstände ihres Aufenthalts in Europa in den Hintergrund rücken: Beide sind als Kriegsgefangene von einem englischen Kapitän nach Dresden gebracht, vom König gekauft und später an den Hof der russischen Kaiserin weitergeschickt worden (ebd.). Trotz der Berufung auf die beiden Amerikaner ist die Figur mit einer Bezeichnung inventarisiert worden, die auf den afrikanischen Kontinent verweist: als „Mohr“ (Weinhold 2010: 104). Auch ihre Physiognomie ist „im Sinne des ‚Rasse-Konzepts‘ des 18. Jahrhunderts ‚afrikanisiert‘“ und stellt eine „europäische Kreation eines Afroamerikaners“ dar (Greve 2013: 84). Silberpique-Verzierungen auf der Unterseite des Schildpatt-Tabletts mit Landschaftsvignetten im Chinoiserie-Stil verweisen wiederum auf den 4 ‚Schwarz‘ wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und nicht um eine reelle ‚Eigenschaft‘, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist.

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asiatischen Kontinent. Zur Blütezeit des Hofes waren konzeptuelle Bündelungen der bekannten Welt in einer einzigen Figur als kongeniales Bildprogramm geschätzt worden. Aus heutiger Perspektive könnte die Figur aufgrund der eklektischen Zusammenführung außereuropäischer Merkmale aber auch als eine Art ‚Typenfigur der Andersartigkeit‘ interpretiert werden, an der sich Exotismus und Eurozentrismus der damaligen Zeit ablesen lassen. In der Forschung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens zu den eigenen Sammlungsbeständen wurden Umstände von Aufenthalten Schwarzer Menschen am Hof eingehend untersucht und die zahlreichen Festumzüge beleuchtet, bei denen August der Starke Schwarze Bedienstete in die Inszenierungen aufnahm oder selbst in den Requisiten der Indianischen Kammer auftrat (Greve 2005: 41–42, 44). Hier stellt die Historizität von Exponaten und Sammlungen einen sensiblen Konfliktpunkt für die kuratorische Praxis dar, wenn zeitgenössische, zum Beispiel diskriminierungskritische Forschungsperspektiven auf historische Objekte gerichtet werden – sind doch die historischen Objekte in erster Linie Zeugen ihrer Entstehungszeit. Angesichts der Tatsache, dass historische Bilder zur Prägung zeitgenössischer Bilder beigetragen haben und zeitgenössische Bilder auch zukünftige Bilder mitgestalten werden, steht die Frage im Raum, wie Bildungs- und Vermittlungsinstitutionen wie Museen ihre historischen Sammlungsbestände zukunftsweisend behandeln können (Kazeem et al.: 2009).

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Heute sehen sich viele europäische Museen, die über Kunst- und Kulturgüter aus nicht-europäischen Kontexten in ihren Sammlungen verfügen, in der Verantwortung, über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Ausstellung sowie Verwaltung solcher Artefakte zu diskutieren. Welche Geschichte(n) erzählen diese Objekte? Welche (Macht-)Demonstrationen werden durch die Verwahrung dieser Objekte fortgeschrieben? Inwiefern trägt Präsentation zu Repräsentation bei? Und wie verhält sich die Rekonstruktion historischer Kontexte zu einer Reproduktion unter Umständen verworfener Denkmodelle? Sammlungspräsentationen sind weder statisch noch unveränderlich; stets stehen Präsentationsformen im Zusammenhang mit zeitgenössischen soziokulturellen Praxen und wissenschaftlichen Diskursen. Neben der wissenschaftlichen Erforschung des Grünen Gewölbes ermöglichen es Sonderausstellungen, Symposien und vor allem die Konzeption des Neuen Grünen Gewölbes mit isolierten Objekten und einer zurückgenommenen Raumästhetik, spezifische Aspekte der historischen Exponate reflektieren zu können.

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In der dauerhaft reinstallierten Präsentation des Historischen Grünen Gewölbes hingegen liegt der Fokus auf dem räumlichen und ganzheitlichen Erlebnis einer der bedeutsamsten Etappen sächsischer Geschichte: dem absolutistischen Hof des sächsischen Kurfürstenhauses.5 Zugunsten eines vermeintlich unverstellten Blicks auf Exponate und Gesamtkunstwerk sind in den Räumen weder Schrifttafeln noch Objektschilder üblich – eine Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten der Schatzkammer erfolgt vorrangig über Audioguides. Gerade die umfassende Rekonstruktion der Geschichtlichkeit macht diesen spezifischen Ausstellungsraum daher aus kuratorischer und vermittlungsorientierter Perspektive zu einer Besonderheit für postkoloniale Fragestellungen. Im Allgemeinen, aber auch im Speziellen auf den postkolonialen Diskurs bezogen, stellen Kooperationen mit Künstler*innen oder Kollektiven heute eine gängige Praxis für Museen, insbesondere mit ethnologischen und enzyklopädischen Sammlungen, dar, um ihre eigenen fachspezifischen Perspektiven durch externe zu erweitern. Gerade im rekonstruierten Historischen Grünen Gewölbe – mitsamt seiner kuratorischen Restriktionen – birgt das künstlerische Format der Intervention besonders produktive Möglichkeiten, um den in Vitrinen gebannten Artefakten neue Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und diese temporär vom Gesamtkunstwerk zu entkoppeln. Für Bertram Haude ist die museale Intervention kein neues Wirkungsfeld. Schon in der Vergangenheit schmuggelte er irritierende Momente in fixe Präsentationsformen, um Sammlungszusammenhänge aufzubrechen und museale Ordnungen durcheinanderzubringen. Mit seinem Eingriff in die Sammlungspräsentation des Historischen Grünen Gewölbes experimentierte der Künstler gezielt mit den Handlungsspielräumen des Museums in künstlerischem Rahmen, um an diesem Ort der Wissensproduktion alternative Erzählungen hervorzubringen.6 Mitsamt dem Rahmenprogramm eröffnete die Intervention Mohr mit Mineralien über den konkreten Objekttausch im 5 Die architektonisch authentische Rekonstruktion jenes Gebäudetraktes, in dem die Schatzkammer Augusts des Starken zu ihrem Höhepunkt fand, und die sorgsame Reinszenierung der Dramaturgie der Raumfolge, sollen vor allem die Überwältigung angesichts der überbordenden Opulenz der verspiegelten Säle und mannigfaltigen Pretiosen, Juwelen und Schätze wieder erfahrbar machen. Der Zutritt über eine klimaregulierende Luftschleuse verstärkt den Eindruck einer Zeitreise in die Blüte des barocken Hofes. 6 Ergänzend zur Intervention wurden ein Begleitheft sowie eine Website erstellt, die die Entstehungsgeschichten und Provenienzen der elf anthropogenen Substanzen und der historischen Smaragdstufe näher erläutern (Mohr mit Mineralien, Dresden 2019). Ein interdisziplinäres Symposium in Zusammenarbeit mit Bertram Haude ermöglichte eine weitere wissenschaftliche Annäherung, bei der Forscher*innen aus der Mineralogie, Ethnologie, Museologie, Soziologie und Kunstgeschichte eingeladen waren, sich aus ihren jeweiligen

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Juwelensaal hinaus eine neue Auseinandersetzung über das historische Exponat, mit Schlaglichtern auf Provenienzen, Ikonografie, Sammlungskontext und Präsentationsform. Auf diese Weise stellte Bertram Haude im Historischen Grünen Gewölbe postkoloniale Fragen an das historische Exponat, jedoch erstmals nicht über ethnologische Zugänge mit Blick auf die Figur, sondern über geologische mit Blick auf die mineralischen Exponate.

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… und Trickster

Abschließend soll daher differenzierter auf die Wirkweisen der künstlerischen Intervention und des Objekttausches eingegangen werden; schließlich erfolgt mit der Isolierung der Smaragdstufe von ihrer Sockelfigur und der Neubestückung des Tabletts mit den ungewöhnlichen Mineralien eine folgenreiche narrative Verschiebung innerhalb des Figurenprogrammes. Für gewöhnlich entspinnt sich in der rekonstruierten Dauerpräsentation eine Szene, deren Ambivalenz die besondere Faszination des historischen Exponats auszumachen vermag. In selbstbewusst schreitender Pose präsentiert der Träger die kostbaren Smaragde. Die Pose kann als Stolz über das präsentierte Gut interpretiert werden, denn der Träger zeigt seinen Bodenschatz. Der Vergleich mit einem zeitgleich entstanden figuralen Gegenstück zu Balthasar Permosers Trägerfigur mit Smaragdstufe, der Trägerfigur mit der sogenannten „Landsteinstufe“ des Bildhauers Johann Heinrich Köhler, scheint meine These zu stützen. Köhlers Gegenstück weist ähnliche ikonografische Attribute auf, präsentiert jedoch Edelsteine, die, gegenüber den aus der Ferne stammenden Smaragden, die hiesigen sächsischen Edelsteinvorkommen repräsentieren sollten (Kappel 2009: 75).7 Im Vergleich fällt auf, dass Köhlers Figur breitbeinig stehend dargestellt ist. Permosers dynamischere Figur hingegen schreitet (vgl. Abb. 19.6). Im Gegensatz zur Trägerfigur mit der Landsteinstufe entsteht die Narration, dass die höfische Rolle des Smaragdträgers darin besteht, seinen Schatz aus der Ferne in die sächsische Sammlung zu bringen. In seinem Beitrag zum interdisziplinären Symposium befragte der Kunsthistoriker Dietmar Rübel die Identifikation der Trägerfigur als floridianischen Krieger, indem er die Figur ikonografisch mit den in Südamerika lebenden Tupinambá in Verbindung brachte, die ebenfalls in den de Bry’schen Perspektiven sowohl dem historischen Exponat als auch der neuentstandenen Intervention Haudes zu nähern. 7 Heute ist nach mineralogischen Untersuchungen bekannt, dass auch die Edelsteine der Landsteinstufe teilweise außereuropäischer Herkunft sind (Thalheim 2014).

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Abb. 19.6

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Trägerfigur mit Smaragdstufe, 1581/1724, und Trägerfigur mit Landsteinstufe, 1724

Reiseberichten beschrieben werden (de Bry 1592). Brisant ist hieran, dass die brasilianischen Tapuya und Tupinambá nicht nur bei de Bry, sondern auch in anderen populären Reiseberichten der Zeit, als Anthropophagen beschrieben wurden, vermutlich um Eroberungsinteressen der europäischen Konquistadoren zu legitimieren (Greve 2006: 206). Die beiden unterschiedlichen Lesarten der Figur sind für die Deutung ihres Status innerhalb der Sammlung erheblich: Während die Figur einerseits als „junger, kraftvoller und stolzer Fürst“ (Juwelenkunst des Barock, Dresden, 2008: 169) beschrieben wird und damit vor allem der Rang der Figur, die Anmut der Darstellung und die Ehrerbietung durch den Auftraggeber betont werden, treten bei Einbezug der Verweise auf die Anthropophagen-Darstellungen missionarische Interessen, koloniale Mechanismen und Dienerschaft im Figurenprogramm deutlicher hervor. In der Intervention bringt der Träger nun in ebenjener Pose nicht mehr seinen grünen Schatz, dessen kostbarer Wert unmissverständlich ist, sondern die

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anthropogenen Gesteinsproben. Geste und Mimik der Figur bleiben von der Intervention unberührt, doch ändern sich die Erzählung und der Kontext: Von der Erzählung der sächsischen Schatzkammer entkoppelt, wird die Figur temporär zum Trickster, zum Schelm, der den Besucher*innen elf unscheinbare, winzige und womöglich wertlose mineralische Objekte unterjubelt, deren ästhetische Faszination sich erst durch die makrofotografische Linse (über die Fotografien im Foyer) offenbart und deren diskursiver Wert sich nur mit der Lektüre der Geschichten der elf Mineralien begreifen lässt. In ihrer TricksterOntologie entwickelt Donna Haraway Erzählstrategien, in denen die Figur des Tricksters die Rolle eines eigensinnigen und unberechenbaren Boten einnimmt, der von der Ungesichertheit des Wissens berichten soll (Haraway 1995b). Im Historischen Grünen Gewölbe brachte der Träger schon immer Kunde über ein Zusammentreffen zweier Welten: des sogenannten ‚Orients‘ und ‚Okzidents‘. Der transformierte Bote bringt nun mit den anthropogenen Mineralien Kunde über ein anderes Aufeinanderprallen, namentlich der Amalgamierung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Anthropozän.8 Während die Figur so schon immer als Teil einer kolonialen Geschichte verstanden werden konnte, deren Faszination sich womöglich auch aus ihrem ambivalenten Status zwischen mächtigem Kriegerfürst und fremdartigem Überbringer des grünen Schatzes aus der Ferne speist, möchte ich auch die mit der Intervention inszenierte neue Narration unter dem Brennglas kolonialer Eroberungs- und Ausbeutungsmechanismen thematisieren und hierzu versuchsweise den Begriff der ‚geologischen Kolonialisierung‘ erproben. Diese geologische Kolonialisierung handelt von einem gewaltigen, globalen menschlichen Eingriff in das Geosystem: von Industrialisierung, Rohstoffabbau, Kernkraft und einer fortwährend rapide wachsenden Technoindustrie, für die Rohstoffe nicht nur in Syntheseverfahren gezüchtet werden, sondern auch in unvorstellbaren Mengen unter horrendem Energieaufwand, unwiderruflicher Umweltzerstörung und unmenschlichen Arbeitsbedingungen abgebaut und einverleibt werden.9 8 Dabei soll nicht vergessen werden, dass die beiden binären Gegensatzpaare auch in parabolischer Verbindung zueinanderstehen, wenn nach eurozentrischem Maßstab die Wiege der ‚Kultur‘ im ‚Okzident‘ verortet wurde, während man die Konstruktion des ‚Orients‘ als ‚natürlich‘ exotisierte (Schmidt-Linsenhoff 2010). 9 Die Ausbeutung von Bodenschätzen ist schon immer Teil der kolonialherrschaftlichen Mechanismen gewesen. Im Begriff der ‚geologischen Kolonialisierung‘ soll diesem Teilbereich hier eine gesonderte Aufmerksamkeit zukommen, um die Verschärfung der Rohstoffausbeutung im Zuge des immer kurzwelliger werdenden technologischen Innovationszwangs seit der Industrialisierung zu betonen. Damit sollen koloniale Mechanismen nicht als überwundene Phänomene der Geschichte verstanden werden, sondern als zeitgenössische, noch immer bestehende Problematiken eurozentrischer und anthropozentrischer Systeme. Der

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Die anthropogenen Substanzen sind mit ihren eng an das menschliche Wirken gekoppelten Entstehungsgeschichten allesamt Teil dieser geologischen Kolonialisierung. Doch während der Igmerald und der synthetische Rubin gänzlich kontrolliert im Syntheseverfahren entstanden sind, ist die Genese der anderen Mineralien komplizierter, zeugt sie doch nicht nur von dem Problem, diese neuen Substanzen nach tradierten wissenschaftlichen Prinzipien zu ordnen, sondern auch von der unkontrollierten und folgenreichen industriellen Inbetriebnahme der geologischen Welt: Die meisten der hier präsentierten anthropogenen Substanzen (Struvit, Serpierit, Tschermigit, Godovikovit, Phosgenit, Skorodit, Štěpit) entstehen, laut Hazens Forschungsbericht, unbeabsichtigt und autogen in Bergwerkstollen, in Schächten, in Abfallgruben, auf Halden, als Abfall- und Nebenprodukte. Die Trägerfigur präsentiert also nicht nur das, was im Labor gezüchtet wurde, sondern auch das, was sich ‚da draußen‘ verselbständigt hat – an Orten, die die Menschheit vollkommen unter Kontrolle zu haben glaubte. So erzählen die anthropogenen Mineralien letztlich nicht nur vom Menschen als geologischem Faktor, sondern auch von der ungeahnten, eigensinnigen (Re) Aktivität10 und Dynamik mineralischer Akteure, die nach modernen Wissenschaftsparadigmen als passiv, machtlos und ‚kolonisierbar‘ begriffen wurden und werden. Die Mineralien sind einerseits ein Fingerzeig auf die globale Umweltzerstörung und Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften für eine vor allem für die westliche Welt und den globalen Norden profitable Wirtschaft, und andererseits eine Erinnerung daran, dass in der emergenten Kette aufeinanderfolgender Prozesse das menschliche Wirken nicht den Endpunkt darstellt. Mit der Präsentation dieser mehrdeutigen Substanzen verändert sich auch der ambivalente Status der Trägerfigur. Analog zum als statisch und passiv geltenden Steinreich, das im ursprünglichen Bildprogramm durch die Smaragdstufe repräsentiert wird, steht die Trägerfigur unter Beachtung der kolonialistischen Geschichte in Verruf, typenhaft das passive, kolonisierbare Fremde in einer europäischen Sammlung zu symbolisieren. Doch mit

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Rohstoffabbau bezieht sich heutzutage weniger auf Schmuck- oder Luxusgüterwirtschaft als vielmehr auf Mineralien und Seltenerdmetalle wie Lithium, Coltan, Yttrium etc., die in der Technologieindustrie Verwendung zur Herstellung von Alltags- und Massengütern wie zum Beispiel Smartphones finden. Die versuchte Analogie zwischen imperialistischer und ‚geologischer‘ Kolonialisierung soll keinesfalls die sozio- und anthropologisch gewalttätigen Mechanismen und verheerenden Folgen des Kolonialismus bagatellisieren; vielmehr muss auch bei der geologischen Kolonialisierung die Verzahnung mit den sozialen Dimensionen des Raubbaus, zum Beispiel den prekären Arbeitsbedingungen oder der Verdrängung und Zerstörung von Lebensraum, mitgedacht werden. Die typographische Formung ‚(Re)Aktion‘ soll ermöglichen, Reaktion und Aktion als gleichzeitig, evolvierend, zirkulierend und als nicht voneinander trennbar zu denken.

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dem interventionistischen Objekttausch verändert sich die Relation zwischen Trägerfigur und präsentiertem Objekt: Als Trickster ist die Figur nun nicht mehr Überbringer eines fernen Edelsteinschatzes – sie scheint in dieser neuen Konstellation nicht länger im Dienst des Kurfürsten oder der sächsischen Geschichte zu stehen. Vielmehr wird die Figur temporär zum aktiven Erzähler kristallisierter Geschichten von Gesteinen, die gleichermaßen von einer geologischen Kolonialisierung wie auch von einem ungeahnt (re)aktiv in Erscheinung tretenden Steinreich zeugen. Ich schließe mit dem, was den Auftakt zur Intervention bildet: ihrem Titel. Neben dem Mineralienbegriff stellt der Künstler Bertram Haude im Titel der Intervention auch den von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens gebräuchlichen historischen Titel der Trägerfigur mit der Durchstreichung zur Diskussion. Bis ins 18. Jahrhundert wurde der Begriff „Mohr“ weitgehend neutral benutzt. In den folgenden Jahrhunderten wurde er jedoch mehr und mehr von rassistischen Konnotationen überformt. Obwohl der Begriff etymologisch auf das Wort „morus“ (lat.: schwarz) zurückgeht, ist heute die Geschichte der Versklavung afrikanischer und Schwarzer Menschen nicht mehr von dem Begriff abzukoppeln (Greve 2005: 39). Ebenfalls kann der Begriff vom griechischen „mōros“ (μωρός) abgeleitet werden, was in der Übersetzung „dumm“ den diskriminierenden Beiklang transportiert. Wenn also Bezeichnungen oder Titel mit Referenz auf ihre Historie verwendet werden, dann darf doch gerade unter Berücksichtigung der Geschichtsträchtigkeit die Weiterentwicklung der Begriffe nicht unbeachtet bleiben. Der Ambivalenz zwischen Historizität und Aktualität begegnet Haude in seiner Intervention Mohr mit Mineralien mit einem typografischen Manöver: Jede einzelne Durchstreichung in den Printmedien zur Installation ist von der Grafikagentur händisch entwickelt und ins Layout übertragen worden (vgl. Abb.  19.7). Ob gestische Schraffuren, energische Striche oder künstlerische Kringel – die Durchstreichungen erinnern an Druck-Fahnen-Korrekturen, wenn in Printerzeugnissen noch letzte, aber oft fatale Fehler korrigiert werden müssen. Mit diesen typografischen Markierungen findet Haude zu einer künstlerischen Lösung, die Veränderlichkeit von Sprache sichtbar zu machen und Prozesse möglicher Korrekturen statt Fort- und Festschreibungen von Sprache anzustoßen, zu befördern.11 Analog zu dieser Reflektion der Macht von Sprache folgt der gesamte Versuchsaufbau der Intervention der Idee, den produktiven Zusammenhang von Bild und Wirklichkeit auszuloten. 11

Tatsächlich wird an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens nun intensiv an einer öffentlich sichtbaren Auseinandersetzung im Hinblick auf einen dekolonialen Umgang mit historischen Titeln und antirassistischer Sprache gearbeitet, teils auch interaktiv und unter Einbezug digitaler Plattformen.

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Abb. 19.7

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Typographische Entwürfe für die Begleitpublikation, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien, 2019

Mit seiner Intervention verschiebt Bertram Haude temporär das Machtgefälle, welches sich zwischen Exponat und Sammlung, zwischen Objekt und Kontext entfaltet. An einem Ausstellungsort, der vor allem der authentischen Rekonstruktion der Historie Rechnung trägt und an dem wenig Handlungsspielraum für kuratorische und vermittlungsorientierte Strategien bleibt, bot Mohr mit Mineralien neue Möglichkeiten, zeitgenössische Fragen an ein historisches Exponat und dessen Sammlungspräsentation zu richten. Die visuell zurückgenommene Verschiebung in den opulenten Räumlichkeiten des Dresdner Historischen Grünen Gewölbes ist ein subversiver Versuch, eines der berühmtesten Exponate sächsischer Sammlungsgeschichte temporär von seiner Geschichte zu entkoppeln und die Vitrine zu ‚dekolonisieren‘. Ausschlaggebend hierfür ist die Inszenierung einer alternativen Narration im Ausstellungsraum, nach der die historische Trägerfigur ihre tradierte Stellung in der Sammlung auszusetzen scheint und vom Überbringer eines wertvollen Bodenschatzes zum Agenten widerständiger, (re)aktiver und wirkmächtiger Substanzen wird: Seine Berichterstattung handelt von elf unscheinbaren, aber doch kuriosen Materialien, die vom menschlichen Verhalten in einer geologischen Umwelt erzählen – aber genauso vom mineralischen Verhalten in einer anthropozentrischen Welt.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 19.1:

Abb. 19.2:

Abb. 19.3:

Abb. 19.4:

Abb. 19.5:

Abb. 19.6:

Installation der anthropogenen Mineralien, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien. Temporäre Intervention, Juwelensaal, Historisches Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 10. April–22. Juli 2019, Fotograf: Jan Stradtmann, Bad Düben. Installation der Smaragdstufe im Foyer des Historischen Grünen Gewölbes, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien. Temporäre Intervention, Juwelensaal, Historisches Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 10. April–22. Juli 2019, Fotograf: Jan Stradtmann, Bad Düben. Mineral: Serpierit, Fundort: Grube Marie in Wilnsdorf, Siegerland, Bildbreite: 3 mm, Sammlung: Matthias Reinhardt, Drolshagen, Foto: Matthias Reinhardt, Drolshagen. Mineral: Vysokyit, Fundort: Grube Svornost, Jachymov, Tschechien/Böhmen, Bildbreite: 2,6 mm, Sammlung: Uwe Haubenreisser, Leipzig, Foto: Matthias Reinhardt, Drolshagen. Bertram Haude: Mohr mit Mineralien. Temporäre Intervention, Juwelensaal, Historisches Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 10. April–22. Juli 2019, Fotograf: Jan Stradtmann, Bad Düben. Balthasar Permoser, Johann Melchior Dinglinger, Wilhelm Krüger und Martin Schnell: Trägerfigur mit Smaragdstufe, Smaragdstufe: Geschenk von 1581; bildhauerische Arbeiten: wohl 1724, Birnbaumholz, lackiert, Silber, vergoldet, Smaragde, Rubine, Saphire, Topase, Granate, Almandin,

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Schildpatt, große Smaragdstufe und Johann Heinrich Köhler: Trägerfigur mit Landsteinstufe, 1724, Holz, lackiert, Silbererzstufe mit sächsischen Edelsteinen: Karneol, Amethyst, Rauchtopas, Kupfer, vergoldet, Messing, verschiedene Farbsteine (teilweise foliert), beide Historisches Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Bildquelle: Jean Louis Sponsel / Erich Haenel (Hg.): Das Grüne Gewölbe zu Dresden: eine Auswahl von Meisterwerken der Goldschmiedekunst; in vier Bänden (Band 4): Gefässe und Bildwerke: aus Elfenbein, Horn und anderen Werkstoffen; Stein, Holz, Bronze, Eisen; mit 64 Lichtdrucktafeln, davon 3 farbig, Leipzig: Hiersemann 1932, (c) Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur: C 2442-1-6, https://de.wikisource.org/wiki/Sponsel_Grünes_ Gewölbe_Band_4/Tafel_46 (eingesehen am 27.03.2023). Abb. 19.7: Typographische Entwürfe für die Begleitpublikation, Bertram Haude: Mohr mit Mineralien. Temporäre Intervention, Juwelensaal, Historisches Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 10. April–22. Juli 2019, Grafik-Design: Eisenecker Stumpf, Leipzig, Hannover.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger Hannes Bajohr ist Postdoktorand am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel. Er arbeitet zu Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, negativer Anthropologie und Theorien des Digitalen sowie digitaler Literatur. Er ist Autor von Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen (2022, August) und Herausgeber von Blumenbergs Verfahren. Neue Zugänge zum Werk (2022, Wallstein, mit Eva Geulen) sowie Negative Anthropologie. Ideengeschichte und Systematik einer unausgeschöpften Denkfigur (2021, de Gruyter, mit Sebastian Edinger). Rosi Braidotti ist emeritierte Universitätsprofessorin und trägt die Ehrendoktorwürde von Helsinki (2007) und Linkoping (2013). Sie ist Fellow der Australian Academy of the Humanities (FAHA, 2009) und Mitglied der Academia Europaea (MAE, 2014). 2022 erhielt sie den Humboldt-Forschungspreis. Ihre wichtigsten Publikationen sind: Nomadic Subjects (1994, 2011), Nomadic Theory (2011), The Posthuman (2013), Posthuman Knowledge (2019) und Posthuman Feminism (2022). Im Jahr 2016 war sie Mitherausgeberin von Conflicting Humanities mit Paul Gilroy, 2018 von Posthuman Glossary mit Maria Hlavajova und 2022 von More Posthuman Glossary. Ihre interdisziplinäre Arbeit lässt sich in drei Schwerpunkte unterteilen: zeitgenössische Subjektivität, feministische Theorien und die posthumane Konvergenz. Jenni Brichzin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Soziologie und Soziologische Theorie, mit besonderem Fokus auf demokratische Praxistheorien und politische Epistemologie. Zuletzt erschienen ist ihre Monografie Risikodemokratie. Chemnitz zwischen rechtsradikalem Brennpunkt und europäischer Kulturhauptstadt (2022, transcript, mit Henning Laux und Ulf Bohmann). Ralf Bormann ist Leiter der Grafischen Sammlung der Tiroler Landesmuseen in Innsbruck. Seine Forschungsinteressen gelten deren noch weitgehend unerschlossenen, vom 14. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart reichenden Beständen, ferner der Sammlung Wallmoden. Zuletzt erschienen sind der

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Ausstellungskatalog Passepartoutnotizen. Unbekannte italienische Zeichnungen aus eigenem Bestand (2021, Deutscher Kunstverlag) sowie die Essays „Der unmögliche Laokoon. Auf der Suche nach einem verlorenen Kunstereignis“ (2020, Skira) und „Wallmodens Vorbilder. Zur barocken Grammatik der Wiederholung“ (2020, Aachener Kunstblätter/Schnell & Steiner). Torsten Cress ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Materialität, Digitalisierung, Bildung und Soziale Arbeit. Er ist Autor der Monografie Sakrotope. Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken (2019, transcript) und Mitherausgeber des Bandes Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften (2016, Fink, hg. mit Herbert Kalthoff und Tobias Röhl). Ina Dietzsch ist Professorin für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der PhilippsUniversität Marburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wissensanthropologie, öffentliche Wissenschaft, Digitalisierung und Natur(en)-Kultur(en)-Verhältnisse sowie das Thema Wasser. Sie hat an verschiedenen Institutionen in Deutschland, der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und Bulgarien gelehrt bzw. geforscht und arbeitet seit vielen Jahren interdisziplinär, mit feministischer Theorie sowie multimodalen und kollaborativen Methoden. Francesca Ferrando lehrt Philosophie am NYU-Program of Liberal Studies der New York University. Sie ist eine führende Stimme auf dem Gebiet der Posthuman Studies und Gründerin des Global Posthuman Network. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen und Anerkennungen erhalten, darunter den Sainati-Preis mit der Anerkennung des italienischen Staatspräsidenten. Sie hat zahlreiche Publikationen zu diesen Themen veröffentlicht; ihr jüngstes Buch ist Philosophical Posthumanism (2019, Bloomsbury). In der Geschichte der TED-Talks war sie die erste Rednerin, die einen Vortrag zum Thema Posthumanismus hielt. Das US-Magazin „Origins“ zählte sie zu den 100 Menschen, die die Welt verändern. Kerstin Flasche ist Kuratorin am Kunsthaus Dresden – Städtische Galerie für Gegenwartskunst. Ihre Dissertation „anorganisiert. Wachsende Kristalle und reaktive Mineralien in zeitgenössischer Kunst“ hat sie 2021 an der Hochschule für Bildende

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Künste Dresden abgeschlossen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen Kunst, der Materialästhetik – insbesondere anorganischer, mineralischer Naturalien, organischer Stoffe und nicht-menschlicher Einflüsse und Prozesse in der Kunst – sowie in transdisziplinären Methoden, queeren und posthumanen Theorien und kuratorischer Praxis. Matthias Groß ist Leiter des Departments Stadt- und Umweltsoziologie am HelmholtzZentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig sowie Professor am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen Chemikalien in der Gesellschaft, erneuerbare Energiesysteme, Wissen und Nichtwissen, Mobilität und Zufriedenheit sowie experimentelle Strategien in Wissenschaft und Gesellschaft. Zu seinen neueren Büchern gehört die grundlegend überarbeitete Neuauflage des International Handbook of Ignorance Studies (2023, mit Linsey McGoey) sowie das neue Handbuch Umweltsoziologie (2024, mit Alena Bleicher und Marco Sonnberger). Tim Ingold ist emeritierter Professor für Sozialanthropologie an der University of Aberdeen. Er hat über Umwelt, Technologie und soziale Organisation im zirkumpolaren Norden, über Tiere in der menschlichen Gesellschaft und über Humanökologie und Evolutionstheorie geschrieben. Seine neueren Arbeiten beschäftigen sich mit der Wahrnehmung der Umwelt und mit skilled practice. Ingolds aktuelle Interessen liegen an der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Archäologie, Kunst und Architektur. Zu seinen jüngsten Büchern gehören Being Alive (2011), Making (2013), The Life of Lines (2015), Anthropology.Why it Matters (2018) und Correspondences (2020). Herbert Kalthoff ist Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungs- und Finanzsoziologie, Theorien des Wissens, der Kultur und der Materialität der Praxis. Ausgewählte Veröffentlichungen: Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften (2016, Fink, hg. mit Torsten Cress und Tobias Röhl); Theoretische Empirie. Die Relevanz qualitativer Forschung (2019, Suhrkamp, hg. mit Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann; 3. Auflage); Bildungspraxis. Körper – Räume – Objekte (2015, Velbrück, hg. mit Thomas Alkemeyer und Markus Rieger-Ladich).

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Alexandra König ist Professorin für Sozialisationsforschung an der Universität DuisburgEssen. Zu ihren Forschungsinteressen zählen die Soziologie der Kindheit, die Familienforschung und die Bildungssoziologie. Neues Forschungsinteresse ist die Mensch-Tier-Grenzziehung. Sie ist Autorin der Monografie Spielfelder des Selbst. Eine Längsschnittstudie zu jungen Erwachsenen in Handwerksbetrieben, Hochschulen und Kunstakademien (2019, Juventa), Mitherausgeberin des Glossars Zeit im Lebensverlauf (2020, transcript) und Autorin des Beitrags „Tiere in Dienst nehmen – Herausforderung der Interspeziesgrenze“ (2/2021, Zeitschrift für Theoretische Soziologie, mit Annette Schnabel). Henning Laux ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt soziologische Theorien an der TU Chemnitz. Zu seinen aktuellen Forschungsinteressen zählen: die gesellschaftliche Ausbreitung künstlicher Intelligenz, die wissenschaftlichen Strategien der Theoriebildung sowie die epistemischen Effekte des Anthropozäns. Er ist Autor der Monografie Soziologie im Zeitalter der Komposition: Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie (2014, Velbrück-Verlag) sowie der Aufsätze „Clockwork Society. Die Weltklimakonferenz von Paris als Arena gesellschaftlicher Synchronisation“ (2017, Zeitschrift für Theoretische Soziologie) und „Gründungsszenen. Eröffnungszüge des Theoretisierens am Beispiel von Heinrich Popitz’ Machtsoziologie“ (2016, Zeitschrift für Soziologie). Andrea Le Moli ist ordentlicher Professor für Geschichte der Philosophie an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Palermo, wo er Geschichte und Kritik des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens unterrichtet, mit besonderem Augenmerk auf Themen wie Philosophie der Technik und Umweltdenken. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören Buchkapitel und Beiträge zum Verhältnis zwischen klassischem Denken und zeitgenössischer Philosophie wie „Image and Copy in French Deconstruction of Platonism“ (2021, Brill), „Between Life and Existence. Heidegger’s Aristotelianism and the Question of Animality“ (2021, Springer) und Class A JournalArtikel über die Rolle der Informationstheorie in der aktuellen Gesellschaft wie „Pandemic and Infodemic“ (2021, Giornale di Metafisica). Hannah Link ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissens-, Bildungssoziologie und qualitative Methoden am Institut für Soziologie der Universität Mainz und seit 2021 Mitarbeiterin des SFB 1482 „Humandifferenzierung“. Zu

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ihren Forschungsinteressen zählen Wissensschafts- und Technikforschung, Soziologie der Materialität und posthumane Theorien. Im Zentrum ihrer Forschung steht die ethnografische Untersuchung von Humantheorien im Feld der Robotik. Nandita Biswas Mellamphy ist Assoziierte Professorin und Leiterin des Untergraduierten-Programms in Politikwissenschaft an der Western University in Kanada. Sie ist Mitglied am dortigen Department für Gender, Sexuality and Women’s Studies, festes Mitglied (und frühere stellvertretende Direktorin) des Centre for the Study of Theory and Criticism und Gründungsdirektorin der Electro-Governance Research Group (EGG) an der Western University. Sie ist Assistant Editor des Canadian Journal of Political Science sowie Mitherausgeberin von Interconnections: Journal of Posthumanism. Ihre Expertise liegt an der Schnittstelle von Politischer Theorie, kontinentaler Philosophie sowie Information und Media Studies. Oliwia Murawska lehrt und forscht im Fach Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Zu ihren Forschungsinteressen zählen die Kaschubei, der Posthumanismus und Mensch-Umwelt-Relationen. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Zwischen Eigen und Fremd. Stimmungsbilder der Kaschubei (2019, Instytut Kaszubski); zum Posthumanismus erschienen u. a. die Artikel „Kashubian Lake Calling. The Posthuman as Care and Stimmung“ (2020/2, Ethnologia Fennica) und „Empirischer Posthumanismus. Wir sind schon immer posthuman gewesen“ (2023/2, Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft). Marco Antonio Pignatone ist Gymnasiallehrer und wurde an der Universität von Palermo und Messina mit einer Arbeit über Theophrasts Überlegungen zu den Möglichkeiten von Pflanzen promoviert. Seine Forschungsinteressen umfassen die antike und spätantike Philosophie, insbesondere Aristotelische Studien zu Lebewesen und Theophrasts Forschungen über das Pflanzenleben. Außerdem interessiert er sich für zeitgenössische Reflexion über Pflanzen als empfindungsfähige Organismen (Pflanzenneurobiologie), für Rechte von Lebewesen sowie Umweltethik und -politik. Annika Schlitte ist Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Universität Greifswald. Zu ihren Forschungsinteressen zählen die Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Kulturphilosophie, Phänomenologie, Hermeneutik),

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Ästhetik sowie Theorien von Ort und Raum. Sie ist Autorin der Monografie Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur (2012, Fink Verlag) und u. a. Mitherausgeberin der Bände Philosophie des Ortes (2014, transcript) sowie Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte (2021, De Gruyter). Thomas Schmaus ist Professor für philosophische Anthropologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen aktuell auf Mensch-Natur-Beziehungen (Anthropo- und Ökozentrismus, Resonanz und Entfremdung, Urban Gardening) und Mensch-Technik-Verhältnissen (Digitalisierung, Trans- und Posthumanismus). Zum Denken Heinrich Rombachs hat er die Monografie „Philosophie des Flow-Erlebens“ (2013, Kohlhammer Verlag) verfasst – sowie mehrere Aufsätze, zuletzt zur „Dimension des Impersonalen“ (2021, Ergon Verlag, hg. von Robert Lehmann). Annette Schnabel hat die Professur für Soziologische Theorie an der Heinrich-Heine-Universität inne. Spezialisiert ist sie auf Rational-Choice-Theorien und arbeitet theoretisch und empirisch zu Fragen der Religionssoziologie, Geschlechterforschung und Wohlfahrtsstaatsforschung. Aktuelle Forschungsinteressen betreffen die Konstitution von Akteurschaft von Menschen, Tieren und Dingen. Jüngere Publikationen sind: „Tiere in Dienst nehmen – Herausforderung der Interspeziesgrenze“ (2021, Zeitschrift für theoretische Soziologie, mit A.  König), „Religion und ihre Einbettung in Verfassungen als Kontext“ (2021, Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, mit L. Hönes). Christiane Schürkmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Umweltsoziologie, Posthumane Theorien, Soziologie der Materialität, Kunstsoziologie und Phänomenologie. Sie ist Autorin der Monografie Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen (2017, transcript) und Mitherausgeberin der Sonderausgaben „Posthuman? Nature and Culture in Renegotiation“ (2021, Nature and Culture, mit Kornelia Engert) sowie „Multiplicity in the World of Waste. Perspectives on Humans, Materials and Organizations“ (2022, Worldwide Waste: Journal of Interdisciplinary Studies, mit Nadine Arnold).

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Sarah Sigmund  ist  Kunsthistorikerin und Kuratorin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Bildenden Künste München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Relation von moderner und zeitgenössischer Kunst zu Themenfeldern wie Hybridität, feministischen und posthumanen Theorien sowie Materialität und Produktion. Sie promoviert zum Thema „Hybridwesen. Transformationen des Humanen in der Kunst seit den 1970er Jahren“. Zuletzt war sie Kuratorin der Ausstellung „Gegenwarten  I Presences. Kunst Stadt Chemnitz“ und ist Autorin und Mitherausgeberin der gleichnamigen Publikation (2020, VfmK).