100+: Neue Perspektiven auf die Bauhaus-Rezeption Mit einem Vorwort von Ines Weizman 9783868599701, 9783868596939

100+ presents new approaches to the history and significance of the Bauhaus. The year 1919 serves as a starting point fo

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100+: Neue Perspektiven auf die Bauhaus-Rezeption Mit einem Vorwort von Ines Weizman
 9783868599701, 9783868596939

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I 1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit
Einführung
Giorgio de Chiricos metaphysische Stadt: Mystische Fragen zu Raum und Zeit
1919: Der Wendepunkt, an dem die Geschichte keine Wendung mehr nahm
Epochale Spur: László Moholy- Nagy, Zeichnung und die Aufgabe des Künstlers
Queeres Bauhaus
Dokumentarische Architektur: Die Spanische Grippe und die Bauhaus-Moderne beiderseits der Sykes-Picot-Linie
II Bauhaus: Reform der Lebenswelt und gesamtgesellschaftliche Rationalisierung
Einführung
Rationalisierungspläne und Weltanschauungskämpfe: Das Bauhaus-Projekt im Kontext der kultur- und sozialpolitischen Trends und Konflikte der Zwischenkriegszeit in Deutschland
Von der Hand zum Typus: Gropius und das Weimarer Bauhaus 1919–1924
Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung
Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau
III Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?
Einführung
Euphorie und Panik. Die Moderne und ihre Zeitdiagnosen um 1900
Epochenstil oder zeitloses Universelles: Die Moderne in der Architekturhistoriografie
Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970erund 1980er-Jahren
Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?
IV Entwürfe aus der Welt von morgen
Einführung
Dystopische Weltentwürfe. Zu einem kulturellen Wahrnehmungsmuster und seiner Verwendung im Speculative Design und Unternehmenskontext
Welt ohne Arbeit. Eine Utopie zwischen Stadtplanung und Science-Fiction
Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets
A Smarthome is Not a Smart Home. Über das zukünftige Zuhause
Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas
Schlussbetrachtung
Autorinnen und Autoren / Kurzbiografien
Abbildungen
Impressum

Citation preview

100+ Neue Perspektiven auf die Bauhaus-Rezeption Herausgegeben vom Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung Mit einem Vorwort von Ines Weizman

Herausgegeben vom BauhausInstitut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung

Mit einem Vorwort von Ines Weizman

Neue Perspektiven auf die BauhausRezeption

1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit

022 Ines Weizman Einführung 026

Tracey Eve Winton Giorgio de Chiricos metaphysische Stadt: Mystische Fragen zu Raum und Zeit

036

Zeynep Çelik Alexander 1919: Der Wendepunkt, an dem die Geschichte keine Wendung mehr nahm

049

Joyce Tsai Epochale Spur: László Moholy-Nagy, Zeichnung und die Aufgabe des Künstlers

059

Elizabeth Otto Queeres Bauhaus

073

Ines Weizman Dokumentarische Architektur: Die Spanische Grippe und die Bauhaus-Moderne beiderseits der Sykes-Picot-Linie

II

Bauhaus: Reform der Lebenswelt und gesamtgesellschaftliche Rationalisierung

094

Max Welch Guerra Einführung

097

Lutz Raphael Rationalisierungspläne und Weltanschauungskämpfe: Das Bauhaus-Projekt im Kontext der kultur- und sozialpolitischen Trends und Konflikte der Zwischenkriegszeit in Deutschland

105

Karin Wilhelm Von der Hand zum Typus: Gropius und das Weimarer Bauhaus 1919–1924

114

Christa Kamleithner Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung

128

Harald Bodenschatz Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

Inhalt

I

6

009 Vorwort Ines Weizman

144

Eva von Engelberg-Do kal Einführung

148

Christof Dipper Euphorie und Panik. Die Moderne und ihre Zeitdiagnosen um 1900

160

Eric Garberson Epochenstil oder zeitloses Universelles: Die Moderne in der Architekturhistoriografie

173

Donatella Cacciola Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

184

Annika Eheim & Jannik Noeske Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

IV

Entwürfe aus der Welt von morgen

204

Johannes Warda Einführung

207

Sebastian Löwe Dystopische Weltentwürfe. Zu einem kulturellen Wahrnehmungsmuster und seiner Verwendung im Speculative Design und Unternehmenskontext

214

Daniel Grenz Welt ohne Arbeit. Eine Utopie zwischen Stadtplanung und Science-Fiction

225

Agnes Cameron, Gary Zhexi Zhang, Kalli Retzepi, Sam Ghantous Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets

236

Florian Bengert A Smarthome is Not a Smart Home. Über das zukünftige Zuhause

244

Marie Rosenkranz Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

252 Schlussbetrachtung Max Welch Guerra

260 Autorinnen und Autoren / Kurzbiografien 268 Bildrechte 272 Impressum

Inhalt

Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?

7

III

8

9

Vorwort

Die hier vorliegende Publikation geht zurück auf die wichtigste Aktivität der BauhausUniversität Weimar zum Bauhaus-Jubiläum 2019, das XIV. Internationale Bauhaus-Kolloquium, das vom 10. bis 12. April 2019 an der Bauhaus-Universität Weimar stattfand. Verantwortlich war das Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung. Zu den zahlreichen Forschungsprojekten, Ausstellungen, Tagungen und Publikationen, die das Institut über Jahre zur Bauhaus-Geschichte, ihrer Rezeption und den mit ihr verbundenen Forschungen zum Erbe der Moderne unternahm und präsentierte, gehörte vor allem die Fortführung der renommierten, 1976 begonnenen Konferenzreihe der internationalen Bauhaus-Kolloquien. Das XIV. Internationale BauhausKolloquium wurde von einem Kollektiv von vier Forscher*innen des Instituts, Eva von Engelberg-Do kal, Johannes Warda, Max Welch Guerra und mir als Konferenzdirektorin, geleitet. Das Kolloquium lud eine interdisziplinäre und internationale Gemeinschaft aus Referent*innen, Forschenden, Studierenden und Gästen dazu ein, 100 Jahre nach Gründung des Bauhauses eine kritische Rückschau auf die Anfänge der Institution zu halten und ihre gesellschaftspolitische Einbettung in die Globalgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts zu beleuchten. Spätestens mit den weltweiten Feierlichkeiten zum Jubiläum, die nicht zuletzt auf den 2015 im Deutschen Bundestag gefassten Beschluss, »das Bauhausjubiläum zu einem nationalen Ereignis mit internationaler Ausstrahlung« werden zu lassen und dafür rund 70 Millionen Euro Förderetat zur Verfügung zu stellen,1 wurde klar, dass die Bauhaus-Geschichte und die Geschichte seiner Rezeption sich weder als eine allein fachspezifische noch als eine nationale Angelegenheit behandeln ließen. Während die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, kaum neun Monate nach dem Jubiläum bereits ein »europäisches Bauhaus« forderte, hatte der internationale Aufruf, an den jeweiligen Standorten historische Verbindungen zum Bauhaus und zu seiner Ideengeschichte zu recherchieren, doch gerade erst begonnen, Früchte zu tragen. Die vielen Ausstellungen und Projekte zum Jubiläum zeigten, dass es international, nicht nur in Europa, noch neue Quellen und Beziehungsnetzwerke zwischen den Ideen, Werken und Wegen, aber auch den Konflikten, Nachgeschichten und Schattenseiten der Bauhaus-Protagonist*innen zu entdecken gilt. Während Politiker*innen das Bauhaus als »erfolgreichsten kulturellen Exportartikel Deutschlands« priesen und die Feierlichkeiten wohl zum Teil auch für eigene Interessen nutzten, wurde nicht nur der einst umstrittenen und als gewagt, politisch radikal und sogar gefährlich angesehenen Institution der politische Stachel genommen, auch die physischen Produkte der Schule haben einen allmählichen Prozess der Kommerzialisierung durchlaufen. Betrachtet man heute die Preise für Möbel, Textilien, Leuchten und sogar Türklinken, deren Design aus der Schule stammt, wird deutlich, dass das Bau-

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haus zu einer Luxusmarke geworden ist. Trotzdem mögen die Wirren und Umwälzungen der Zeit, in der die Schule gegründet wurde, an unsere eigene Zeit erinnern. In einer ironischen Wendung der Geschichte ist Sachsen-Anhalt, das Bundesland, in dem einer der wichtigsten Bauten der Schule – das Bauhaus-Gebäude in Dessau – steht, heute eine der Hochburgen der Rechtsradikalen.2 Und auch in Thüringen stellt sich der Anstieg rechtsextremer und antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung als besorgniserregend dar.3 Das Bauhaus als »kulturellen Exportartikel« anzupreisen, ging mit dem Versuch der Sponsor*innen der Feierlichkeiten einher, die Objekte der Moderne von der fortschrittlichen, teils offen linken politischen Kultur zu trennen, die sie hervorgebracht hat. Und tatsächlich, auch wenn Walter Gropius, sein Gründungsdirektor, immer wieder darauf bestand, sich nicht politisch zu positionieren, wurde das Bauhaus ja von Anbeginn seiner Gründung in Weimar als staatliche Institution auch zum Zentrum der heftig ausgetauschten Streitigkeiten der politischen Parteien in der jungen Weimarer Republik.4 Liest man die vielen seitenlangen Erklärungsschriften des Staatlichen Bauhauses, die an das Kultusministerium oder die Abgeordneten des Landtages des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach gesendet wurden, wird ersichtlich, auf welch aggressivem, aber auch unsachlichem Niveau die Anschuldigungen teils waren. Das Bauhaus konnte nicht, wie vielleicht andere Kunstinstitutionen, eine gewisse Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen genießen, sondern stand als noch auf »schwankendem Boden« erfolgendes Experiment immer im Rampenlicht der Politik.5 Diese Politisierung hat mit der Auflösung des Bauhauses 1933 kein Ende genommen, vielmehr bestimmte sie seine Historiografie. Obwohl die meisten Mitglieder des Bauhauses keine Anhänger*innen des Nationalsozialismus waren – einige waren es doch. Während Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, der dritte Direktor, schließlich in die Vereinigten Staaten emigrierten, fand sich Hannes Meyer, Gropius’ Nachfolger, als Direktor des Bauhauses von 1928 bis 1930 am entgegengesetzten Ende der politischen Skala wieder, was ebenso kompliziert zu leben wie es später zu erklären war, als sich die politischen Grenzen des Kalten Krieges verschoben. Nachdem Meyer gezwungen worden war, seine Stelle in Dessau aufzugeben, zog er in die Sowjetunion, wo er sich der Kommunistischen Partei der Schweiz anschloss; 1936 ging er kurzzeitig zurück in die Schweiz, dann nach Mexiko, um schließlich nach Europa zurückzukehren, wo er sich in der Schwebe zwischen den politischen Frontlinien der Ost-West-Spaltung wiederfand. Wie Thomas Flierl aus einer Briefkorrespondenz von 1952 zitiert, drückte Meyer selbst diese Situation mit den Worten »zu kommunistisch für die einen, zu bürgerlich für die anderen«6 aus. Auch andere Lehrer*innen und Schüler*innen gerieten in den politischen Sturm der Zeitgeschichte. Es ist diese Komplexität der BauhausGeschichte – die ideologischen Interpretationen, unter denen sie verortet, vertrieben, zum Schweigen gebracht, zerstreut, wiederentdeckt und schließlich gefeiert wurde –, die den vorliegenden Band geprägt und motiviert hat. Das vieldeutige politische Erbe der Schule machte es schwierig, Bauhaus-Geschichte zu diskutieren, bevor der Kalte Krieg beendet und die Trennlinie zwischen Ost- und Westdeutschland aufgehoben war. Aber auch heute sind nicht alle Grenzen aufgehoben, und neue sind sogar in jüngster Zeit entstanden. Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Geschichte des Bauhauses historisch weniger einheitlich konnotiert dar, als sie 2019 gefeiert wurde. Ist sie doch nicht nur die Geschichte einer Institution, die sich selbst in der demokratischen und reformorientierten Weimarer Republik gegen den Druck von konservativen und politisch rechten Tendenzen durchschlagen musste, sondern auch eine Geschichte von innerer Migration,

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Exil und Flucht, die 1933 mit dem Machtantritt Hitlers und der Schließung des Bauhauses begann. Akteur*innen waren gezwungen unterzutauchen, Kunstwerke, Produkte und Dokumente, die dem Bauhaus zuzuschreiben sind, wurden in alle Welt verstreut und führten so zu schwierigen Besitzverhältnissen. Architekturen wurden verlassen, enteignet, entstellt, wurden zerstört oder gerieten in Vergessenheit. Die Geschichte der Migration ist somit auch die Geschichte von Objekten, die durch neue Nutzungen, Verwahrungsstrukturen, Restitutions- und Lizenzvereinbarungen, juristische Auseinandersetzungen, Reeditionen von Produkten und im Spiegel neuer Forschungsfunde immer wieder neu positioniert und gedeutet wurden. So bot uns gerade das international gefeierte Bauhaus-Jahr – 30 Jahre nach dem Ende der DDR – eine Chance, zu dem fein verwobenen Netzwerk von Objekten, Ideen und Geschichten neue Fäden hinzuzufügen und darin Beziehungsgeflechte zu erkunden. 1919 versammelte Gropius eine Gruppe von internationalen Avantgardekünstler*innen und Architekt*innen, um ein ambitioniertes Experiment für eine dem künstlerischen und handwerklichen Gesamtkunstwerk verpflichtete Bildungseinrichtung zu unternehmen, das laut der Programmschrift den Bau als »Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten« definierte. Zu einem Abschluss einer im Lehrplan vorgesehenen Architekturausbildung, die auch die Siedlungs- und Stadtplanung beinhalten sollte, konnte es in Weimar aber nicht mehr kommen, denn bereits 1925 musste das Bauhaus die Stadt Weimar verlassen. Die neu gewählte konservativ-nationalistische Landesregierung misstraute, ja sie bekämpfte die universalistischen und sozialutopischen Ideen, für die das Bauhaus stand. Auch in Dessau wurde das Bauhaus 1932 unter dem immer stärkeren politischen Einfluss der NSDAP gezwungen, die Schule zu schließen. In dieser Zeit der existenziellen Unsicherheit musste sich die Schule stetig an neue Bedingungen anpassen und war immer wieder dazu aufgefordert, ihre eigenen konzeptionellen Grundlagen und politischen Positionen zu reflektieren. Es half auch nicht, dass Mies van der Rohe den furchtbaren Schritt ging, keine jüdischen Studierenden mehr aufzunehmen. Mit der Machtübernahme durch das Hitler-Regime fühlten sich viele der Mitglieder und Anhänger*innen des Bauhauses, deren Arbeit als »entartete Kunst« bezeichnet wurde, gezwungen, Deutschland zu verlassen. Viele überlebten es nicht. Eine der ideologischen Instanzen dieser nationalsozialistischen Propaganda fand sich ausgerechnet in Weimar in der Staatlichen Hochschule für Baukunst, bildende Künste und Handwerk unter seinem Direktor Paul Schultze-Naumburg. 1930 hatte sie die Nachfolgeinstitution des Staatlichen Bauhauses abgelöst – die Staatliche Hochschule für Handwerk und Baukunst, die sich unter der Leitung von Otto Bartning sozialdemokratisch orientiert und der neuen Sachlichkeit verschrieben hatte. Die Nachkriegszeit nahm nur langsam die verlorenen Fäden wieder auf, dabei wurde das Bauhaus in Ost und West unterschiedlich interpretiert und ideologisch verklärt. In Westdeutschland erfuhr die Bauhaus-Historiografie erst in den 1950er- und 1960er-Jahren entscheidende Impulse durch die Gründung der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm 1953 seitens Max Bill, Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, zu deren Eröffnung Walter Gropius noch eine Festrede hielt. Aber auch die Erschließung von Ressourcen durch den Kunsthistoriker und Kurator Hans Maria Wingler, dessen systematische Sammlung, die er über Jahre aus Spenden und Nachlässen zusammengestellt hatte, in dem umfassenden Buch Das Bauhaus 1919–1933. Weimar Dessau Berlin mündete,7 half, die Verbindung zu Werken und Kunstschaffenden des Bauhauses wieder herzustellen. Hier war vor allem die Zusammenarbeit mit Walter, aber auch Ise Gropius grundlegend. Letztere war sowohl während ihrer Zeit mit ihrem Mann in Weimar als auch noch nach seinem Tod 1969 damit beschäftigt, Briefe und Anfragen zu beantworten sowie das

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Archiv seiner Korrespondenzen und Schriften vorzubereiten.8 Mit der Gründung des Bauhaus-Archivs im Jahr 1960 in Darmstadt unter der Leitung Winglers nahm diese Arbeit auch institutionelle Formen an. Das Gebäude, das Gropius, basierend auf Winglers Raumplanung, 1964 zu diesem Zweck eigentlich für Darmstadt geplant hatte, wurde schließlich nach Gropius’ Tod im Juli 1969 von seinem Büro TAC (The Architecs’ Collaborative) unter Federführung seines Mitarbeiters Alex Cvijanovic in Zusammenarbeit mit dem Berliner Architekturbüro Bandel zwischen 1976 und 1979 für den neuen WestBerliner Standort am Landwehrkanal adaptiert und realisiert. Den Architekturhistorikerinnen Ita Heinze-Greenberg und Ines Sonder verdanke ich den Hinweis auf einen von Wingler 1963 verfassten Förderantrag für ein Forschungsprojekt mit dem Titel »Die jüdische Komponente des Bauhauses«.9 Darin schlug er vor, die Schicksale und Exilwege der jüdischen Mitglieder des Bauhauses zu untersuchen und die Bedeutung des jüdischen Beitrags zum Bauhaus zu erfassen. Die Studie war sicher widersinnig für einen Bauhaus-Forscher, der zweifelsohne sonst an die universellen und kosmopolitischen Werte der Moderne und auch des Bauhauses glaubte. Und nun plante er die Archive der Moderne zu durchforsten, um selektiv und ironischerweise wohl mit den Kriterien des Nationalsozialismus Namen der Juden und Jüdinnen darin zu finden, sie zurückzubringen und sie wieder in die deutsche Kultur einzuweben.10 Dass eine solche Studie nicht zustande kam, verweist auch auf die damalige politische Kultur in Nachkriegsdeutschland. Als Fritz Bauer 1963 Anklage gegen Angehörige der SS-Wachmannschaften im KZ Auschwitz in den Frankfurter AuschwitzProzessen erhob, fühlte er sich nicht nur selbst von Juristen umgeben, die bereits unter der NS-Diktatur tätig gewesen waren, es war auch die Zeit eines massiven Aufschwungs des Antisemitismus. Erst in den 1980er-Jahren widmeten sich Architekt*innen und Historiker*innen wie Myra Warhaftig, Ita Heinze-Greenberg und später Ines Sonder Forschungen zu jüdischen Bauhäusler*innen, die mit der Öffnung der Landesgrenzen und der Archive nach der Wiedervereinigung ganz neue Quellen und Möglichkeiten der Befragung von Zeitzeug*innen vorfanden. Unverständlich mag heute erscheinen, dass das staatssozialistische Regime im Osten das Bauhaus nicht bereitwillig annahm. Tatsache ist, dass die 1946 in Weimar neu gegründete Hochschule für Baukunst und Bildende Künste unter der stalinistischen Politik der sowjetischen Besatzungszone und später in der jungen DDR die Geschichte des Bauhauses nicht aufgearbeitet hat. Im Gegenteil, es wurde zunächst abgelehnt, dann vernachlässigt. Die materiellen Überreste des Bauhaus-Gebäudes in Dessau wurden dem Verfall überlassen. Das Bauhaus galt als zu avantgardistisch, zu experimentell, zu »kosmopolitisch«, um vom dogmatischen Staatssozialismus vereinnahmt zu werden. Wie auch in Westdeutschland wurde die Geschichte des Holocausts verschwiegen und verdrängt. Zum anderen war es den Staatsideolog*innen unmöglich, die Tatsache, dass viele Protagonist*innen des Bauhauses, darunter seine zwei Direktoren Gropius und Mies van der Rohe, im kapitalistischen Ausland und auch noch sehr erfolgreich wirkten, in den ideologischen Erklärungsrahmen einzupassen. Es sollte einige Jahre dauern, bis sich an der 1954 gegründeten Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (HAB), unter anderem auch durch Lehr- und Forschungsprojekte von Dozent*innen wie Konrad Püschel, die ehemals am Bauhaus studiert hatten, ein öffentlicheres Interesse an der Bauhaus-Geschichte entwickelte. In den späten 1950er-Jahren beschäftigte sich Karl-Heinz Hüter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Architekturgeschichte und Theorie, mit der Konzeption für eine »Gesamtdarstellung« der Hochschulgeschichte zur Vorbereitung der 100-Jahr-Feier der Hochschule im Jahre 1960. Wie Norbert Korrek in seinen langjährigen Forschungen zur

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Hochschulgeschichte und der nur langsam in Gang kommenden Bauhaus-Rezeption darlegt, wurde Hüters Konzeption der Forschung und die dabei angedachte Zusammenarbeit mit Wingler von der Hochschulleitung abgelehnt – und die Feierlichkeiten wurden ob des schwierigen historischen Terrains schlichtweg abgesagt.11 Hüter beschäftigte sich trotzdem weiter mit den schon vergilbten Schriften und den rudimentär aufbewahrten Dokumenten des Staatlichen Bauhauses im Staatsarchiv Weimar. Er verfasste 1966 ein Manuskript für das erste umfassende Buch zum Thema (Das Bauhaus in Weimar), welches im Henschel Verlag zwar zunächst gedruckt, jedoch verboten wurde, weil er die Fahnenkorrektur 1968 angeblich ohne Abstimmung mit den Zensoren Gropius in den USA zum Kommentar hatte zukommen lassen. Dabei war diese durch das Büro des Präsidenten der Bauakademie Werner Heynisch gesendet worden.12 Bis zu seiner offiziellen Veröffentlichung im Berliner Akademie Verlag 1976 wurde das Buch unter der Hand in Freundeskreisen weitergegeben. Hüter wurde eine akademische Laufbahn verwehrt. Marco de Michelis bemerkte dazu in einem Interview 2016: »In diesem Buch war nichts politisch unkorrekt, aber es war zu früh unter den politischen Umständen.«13 Das 50-jährige Jubiläum der Eröffnung des Bauhaus-Gebäudes in Dessau 1926 konnte die DDR nicht mehr ignorieren. Wie Korrek darlegt, ging die Rekonstruktion des Gebäudes in Dessau 1976 auf eine Initiative zurück, die ganz wesentlich von Architekt*innen und Professor*innen an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar vorbereitet wurde.14 Am Abend des 27. Oktober 1976 konstituierte sich der Ständige Arbeitskreis Bauhausforschung für Gäste mit besonderer Einladung im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums. Daraus entsprang ein Strang der wissenschaftlichen Bauhaus-Forschung, der 1976 über weitere Konferenzen zur Etablierung der Internationalen Bauhaus-Kolloquien in Weimar führte. Die Wiedereröffnung des Bauhaus-Gebäudes in Dessau, zu der Gäste aus Ost und West nach Dessau und Weimar eingeladen wurden, markiert einen wichtigen Moment in der mittlerweile vermehrt öffentlich diskutierten Bauhaus-Rezeption in der DDR. Jedes dieser Treffen in Weimar, die etwa alle drei bis vier Jahre mit Forscher*innen, Architekt*innen und früheren Mitgliedern des Bauhauses stattfanden, testete in Vorträgen und Äußerungen, was unter den damaligen politischen Verhältnissen gesagt werden durfte und was man über den Verbleib der Objekte und Personen des Bauhauses sowie über Sammlungs- und Denkmalschutzinitiativen wusste. Wer sich an die Melt-down-Jahre des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren in der DDR erinnert, in denen sich selbst in Vorträgen von klassischen Werken der Literatur, des Theaters oder der Musik Regimekritik und dissidente Gedanken erspüren ließen, kann nachvollziehen, wie politisch brisant und inspirierend die Stimmung in diesen Kolloquien mit Referent*innen aus Ost und West gewesen sein muss. Während DDR-Kulturbürokrat*innen sich noch immer für das Thema Bauhaus erwärmen mussten, indem sie weniger auf die Lebensschicksale der Protagonist*innen eingingen, sondern die Gedanken der Vorfertigung im Massenwohnungsbau am Bauhaus mit dem Wohnungsbauprogramm der DDR in diesem Rahmen diskutieren wollten, war es für andere über die Beschäftigung mit der eigenen Vorgeschichte hinaus auch eine Art Schutzschild, um sich hinter historischwissenschaftlicher Arbeit versteckt über den politischen Unmut auszutauschen. Bis zur politischen Wende 1989 hat das Kolloquium in diesem doppelten Sinne erheblich zur Rezeption des Bauhauses sowohl in der DDR und den damals sozialistischen Ländern als auch in den westlichen Staaten beigetragen, es bot ein einzigartiges Forum für internationale Architekturforscher*innen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Erst der Zusammenbruch der DDR eröffnete ganz neue Möglichkeiten, BauhausGeschichte zu erforschen. Staats- und Privatarchive erlaubten den weitgehend ungehin-

14 Vorwort

derten Zugang zu den verschlossenen historischen Black Boxes, ein neues Licht konnte auf die Zeit und die ideologische Färbung der divergierenden Geschichten geworfen werden. Dies ist ein weiteres Kapitel, die Teilung zu überwinden, ein weiterer Baustein der deutschen Einheit. Das historische Bauhaus wurde ein wichtiges kulturelles Verbindungsstück, an dem sich das wiedervereinte Deutschland profilieren und präsentierten konnte – und bis heute kann. Als ich am Abend des 27. Oktober 2016 das XIII. Internationale Bauhaus-Kolloquium eröffnete, fiel das Datum nicht zufällig auf jenes des wissenschaftlichen Kolloquiums von 1976. Das Kolloquium, das ich unter den Titel »Dust and Data« stellte, lud dazu ein, kurz vor dem 100-jährigen Jubiläum sowohl die Geschichte des Bauhauses an den ursprünglichen Wirkungsstätten Weimar, Dessau und Berlin als auch die Geschichte seiner internationalen Rezeption und Migration, aber auch das 40-jährige Jubiläum der Konferenz zu reflektieren. Das Bauhaus-Kolloquium selbst sollte als eine historiografische Institution, ein Barometer in einer sich verändernden politischen und kulturellen Landschaft vorgestellt werden, um über neue Methoden der Geschichtsschreibung und der Produktion und Analyse von Architektur nachzudenken. Aus diesem Anlass kuratierte ich gemeinsam mit Norbert Korrek und Christiane Wolf und Studierenden, zu denen auch eine Autorin in diesem Buch, Annika Eheim, gehörte, eine Ausstellung zur Geschichte der Bauhaus-Kolloquien an der HAB Weimar, die 2016 im Hauptgebäude der Universität vorgestellt wurde, und die ich 2019 gemeinsam mit dem Grafiker und Webdesigner Moritz Ebeling als Online-Archiv angelegt habe.15 Wie der kurze Abriss zur Bauhausgeschichte zeigen soll, bleiben noch viele Fakten und Einsichten in die historische Schule und ihre jeweiligen Nachfolgeinstitutionen Derivate der Forschung. Es wird auch im 21. Jahrhundert international eine Herausforderung sein, das Bauhaus und seine internationale Wirkungsgeschichte darzustellen. Das digitale Zeitalter ermöglicht es, Kunst-, Design-, Architektur- und Planungsgeschichte ganz neu zu erfassen und zu bewahren. Neue Technologien der Detektion erlauben neue Zugänge zu materiellen Objekten und zur Architektur. Es stellen sich Fragen in Bezug auf Authentizität, Autorschaft und Copyright, aber auch zur Aktualisierung und Aneignung von Geschichte durch neue Nutzungen und Ideen. Diese Publikation übernahm die Strukturierung des Kolloquiums von 2019 in vier Sektionen. Zur ersten Sektion – »1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit« – lud ich vier Kunst- und Architekturhistorikerinnen ein, gemeinsam in einer Art Mikrogeschichte einen historischen Querschnitt durch das Panorama des Jahres 1919 zu konstruieren. Der politische und kulturelle Boden war in diesen Jahren für die noch jungen Mitglieder des Bauhauses so gelatinös und zähflüssig geworden wie der Schlamm der Schützengräben, dem einige von ihnen gerade erst entkommen waren. Langsam trocknete der Schlamm, verwandelte sich in Staub, und der Staub wehte weiter und blieb in Ornamenten, Nischen und Gesimsen hängen. Das Trauma des Krieges manifestierte sich auch durch die Architektur und Ästhetik einer Moderne, die Adolf Loos, Le Corbusier oder Gropius von diesem Staub fernhalten wollten, eben durch das Ornamentlose und die Ablehnung von Zier und unnötigen Extras. Paradoxerweise schien das Trauma des Ersten Weltkrieges die modernistische Ästhetik zu inspirieren: den Purismus, die Abstraktion, das Weiße und die Neutralität – eine kriegsähnliche Architektur, die sich mit dem Krieg auseinandersetzt, die die Vergangenheit abstreift, reformpädagogische Ansätze radikalisiert und utopische Gesellschaftsvisionen entwickelt. Aber das Panorama das Jahres verweist auch auf kryptischer zu deutende Werke von Künstler*innen aus dem Umfeld des Bauhauses, etwa des italienischen Malers Giorgio de Chirico, der komplizierte, metaphysische und aus Träumen konstruierte Raumvisionen schuf. Die

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Frage, wie neu das Bauhaus tatsächlich war, lässt sich auch in Bezug auf Lehrmethoden hinterfragen, die teils auch schon an anderen Schulen vor dem Bauhaus entwickelt und praktiziert wurden, die aber vor allem am Bauhaus gezielt das Künstlerische wissenschaftlich zu vermitteln versuchten. So, wie das Bauhaus sowohl Raum für ein neues Freiheitsgefühl bot, aber auch einen Rückzugsort war, an dem eine neue gerechte und aufgeklärte Gesellschaft gedacht werden konnte, so gründete sich 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, das Forschungen zum Sexualleben unternahm und zugleich einen Zufluchtsort für Menschen in sexueller Not darstellte. Der historische Querschnitt 1919 hat hier zu bisher kaum erforschten Fragen zur Sexualität und Identität der Bauhäusler*innen geführt, die sich erst bei genauerer Betrachtung ihrer Werke und durch eine vernetzende Suche nach Spuren der Protagonist*innen und ihrer Schicksale erschließen. Das Bauhaus im Jahr 1919 lässt sich zudem nicht nur als einen Ankunftsort lesen, sondern auch als Referenzpunkt für die international sogenannte Bauhaus-Moderne, die zur Stärkung der strategischen Linien der Kolonialreiche, von dessen Grenzregionen die Soldaten gerade erst zurückgekehrt waren, beitrug, was wiederum zu neuen Konflikten und Traumata führte. So lässt sich beispielsweise im Nahen Osten heute von Kairo über Amman bis Tel Aviv, Haifa, Beirut und Damaskus eine Architektur der »weißen« Moderne mit formal erstaunlichen Ähnlichkeiten finden. Das zeigt, wie eng diese Architektur mit der gleichzeitig stattfindenden weiträumigen geopolitischen wie architektonischen und infrastrukturellen Neuordnung der Region in den 1920er-Jahren verknüpft war und sich in den Dienst imperialer Expansion durch neu gestaltete Infrastruktursysteme, Ölpipelines, Eisenbahntrassen, Flugplätze und Zollhäuser stellte. Die zweite Sektion, geleitet von meinem Co-Direktor des Bauhaus-Instituts, Max Welch Guerra, trägt den Titel »Bauhaus: Reform der Lebenswelt und gesamtgesellschaftliche Rationalisierung« und versammelt Aufsätze von Gesellschaftswissenschaftlern und Architektur- und Planungshistoriker*innen, die sich mit dem Paradox der auf Fortschritt und Innovation setzenden Avantgardebestrebungen, die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft effizienter und wettbewerbsfähiger zu machen, auseinandersetzt. In den ersten Jahren in Weimar wollte Gropius mit dem Bauhaus vor allem eine neue Ästhetik für den Alltag einer neuen Gesellschaft entwickeln. Im Haus Am Horn in Weimar, einem Versuchshaus, an dem Meister und Studierende des Bauhauses zusammenarbeiteten, wurde 1923 im Rahmen der ersten Bauhaus-Ausstellung vorgeführt, wie reduziert und zugleich komplex Architektur im Zusammenspiel mit den Künsten sein kann. Dort finden sich eigens für das Haus gestaltete Baubeschläge, Lampen, handgewebte Teppiche, sogar Kinderspielzeug oder das feine Silber-Teeservice von Marianne Brandt. Das waren gewiss vielmals Produkte, die sich einkommensschwache Schichten nicht leisten konnten, aber es waren auch Vorläufer einer industriellen Produktion, anhand derer sich die Künstler*innen mit Formen und Materialien auseinandersetzten. Später, in Dessau unter der Leitung des zweiten Bauhausdirektors Hannes Meyer, wurden ganz gezielt bezahlbare Innenausstattungen und Ideen für kollektive Siedlungsprojekte entwickelt. Die Beiträge dieser Sektion stellen damit einen ganz wichtigen und für die gegenwärtige Politik der städtebaulichen Architektur und Planung, aber auch für die einer Lehrinstitution, wie der Bauhaus-Universität Weimar, dringlichen Aspekt vor: das Bauhaus als handelnde Institution. Denn tatsächlich, wie Welch Guerra es in seiner Einleitung formuliert, kann »die Optimierung der ökonomischen und politischen Verhältnisse im Hinblick auf eine höhere betriebswirtschaftliche Effizienz beziehungsweise volkswirtschaftliche Produktivität« nicht widerspruchsfrei sein. An dem Widerspruch, sowohl künstlerisch, frei und politisch dissident zu gestalten als auch

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gleichzeitig einem faustischen Pakt mit der konsumsüchtigen Gestaltungsindustrie zuzustimmen, musste auch die HfG Ulm 1968 scheitern.16 Umso bedeutsamer sind die Beiträge dieser Sektion, um die Möglichkeiten gesellschaftlicher Reform für eine gerechtere Gesellschaft durch Architektur, Planung und Pädagogik in der 100-jährigen Geschichte bis in unsere aktuelle Zukunftsplanung zu reflektieren. Die dritte Sektion betitelte Eva von Engelberg-Do kal mit der Frage »BauhausModerne: 100 Jahre Avantgarde?« und lud ihre Autor*innen dazu ein, sich mit einem weiteren Paradox der Moderne zu beschäftigen, nämlich dem Widerspruch, einerseits nach Innovation und Veränderung zu streben, andererseits überzeitliche Gültigkeit zu beanspruchen. Die Architekturmoderne versuchte alles zu unternehmen, um dem historistischen Prunk des 19. Jahrhunderts zu entkommen und nicht nur eine Fortsetzung der Stilgeschichte mit ihrem Stilepochensystem abzulehnen, sondern es auch abzulehnen, ihre funktionalistischen Gestaltungen als Stil zu bezeichnen. Diese Sektion widmet sich der Frage entsprechend heutigen Modernekonzepten und blickt auf unterschiedliche Verortungen der Moderne in einer 100-jährigen Perspektive zurück. Gerade die jüngere Architektur- wie auch Designgeschichte ist von Revivals, Neo-Stilen und Zitaten der Klassischen Moderne geprägt – und weist damit eine Polyphonie der Stimmen, postmoderne Interpretationen und Gesten der Hommage auf. Doch die Moderne entkommt der Tyrannei der Zeit nicht. 1975, in jenem Jahr, in dem das Bauhaus-Gebäude in Dessau noch Bauruine war, reflektierte der französische Architekt und Theoretiker Bernard Tschumi über den Zustand von Le Corbusiers Villa Savoy, die bis zu den Renovierungsmaßnahmen 1963 völlig verfallen war. Am Anblick der verwahrlosten und verlassenen Ikone der Moderne nimmt er Gefallen, denn sie bedeutete für ihn die Überwindung der doktrinären Metanarrative der Architekturmoderne.17 Der Staub, gegen den die Moderne kämpfte, war zurückgekehrt, um sie heimzusuchen. Ähnlich wie Charles Jencks, der 1977 die Sprengung der Großwohnsiedlung Pruitt-Igoe als den Moment bezeichnete, als die Moderne starb, und die Postmoderne ausrief, verstand Tschumi das ruinöse oder zerstörte Nachleben der Moderne als Befreiung und entdeckte in ihm euphorisch Sinnlichkeit und Erotik.18 Es waren auch diese die Moderne unterwandernden Diskurse, die in den 1980er-Jahren in den informelleren, nicht offiziellen Kreisen der Internationalen Bauhaus-Kolloquien bereits diskutiert wurden. Und es war dieses Interesse an den pluralistischen Diskursen und einer nun möglich gewordenen offenen Kritik an der Architektur und ihrer politischen Instrumentalisierung, die Gerd Zimmermann darin bestärkte, 1992 das erste Bauhaus-Kolloqium nach der Wiedervereinigung unter den Titel »Macht und Architektur« zu stellen und unter anderem Charles Jencks als Referenten einzuladen.19 Doch die Bauhaus-Geschichte birgt neben den historischen Zäsuren auch solche in Bezug auf die Fristen des Urheberrechts. So ging Ende 2013 ein gewisses Aufatmen durch die Museumswelt, als in jenem Jahr das Urheberrecht des Bauhaus-Meisters Oskar Schlemmer auslief – 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers. Über Jahre hatten sich Sammlungen, Kunsthändler*innen und Auktionator*innen gescheut, Schlemmers Werke auszustellen, zu verkaufen oder in Auktionen anzubieten. Dem für das Triadische Ballett berühmten Künstler konnte jahrelang keine Retrospektive in Museen gewidmet werden, weil sich die Nachfahrenschaft Schlemmers und seiner Frau Tut über den rechtmäßigen Besitz und den Umgang mit dem Nachlass verstritten hatte.20 Erst unmittelbar mit dem Auslaufen der Schutzfrist konnte die Staatsgalerie Stuttgart 2014 die umfassende Retrospektive Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt zeigen. Dieses Beispiel deutet an, wie viele Werke des Bauhauses der Öffentlichkeit möglicherweise noch nicht zugänglich gemacht wurden – nicht weil sie noch nicht aufgefunden

17 Vorwort

worden wären oder etwa verschollen sind, sondern weil Familien und private Sammler*innen die Werke verbergen.21 Wenn also zuvor die ideologische Interpretation oder die Unmöglichkeit der Forschungen über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg als ein Hindernis für das umfassende Verständnis der Bauhaus-Geschichte erwähnt wurden, sind es hier die im Dunkeln gehaltenen Werke, die das Verständnis der Geschichte der Moderne verklären. Umso dankenswerter sind die Beiträge dieser Sektion, die hier neue Lichter setzen. In der vierten Sektion, »Entwürfe aus der Welt von morgen«, beleuchtet Johannes Warda mit seinen Autor*innen die Aktualität und Bedeutung utopischer Planungen. Obwohl rückblickend sicher einleuchtend, waren wohl die Teilnehmer*innen der Nachmittagsveranstaltung dieser Sektion des Kolloquiums überrascht, als sich das Audimax plötzlich bis auf die letzten Ränge füllte und die Referent*innen nach ihren Vorträgen mit einer Vielzahl glühender Fragen und Zusprüche seitens des nun überwiegend studentischen Publikums begrüßt wurden, was die Zeit für Diskussion in fast revolutionärer Manier überzog. Warda hat in der Sammlung dieser Beiträge diesen Moment des Aufbegehrens und Fragens einer neuen Generation von jungen Wissenschaftler*innen, Architekt*innen und Theoretiker*innen dokumentiert. Nur ein Jahr vor dem Ausbruch der Pandemie, die 2020 einen Großteil des kulturellen Lebens und persönlichen Austauschs komplett lahmlegte – und dies, wie sich bereits abzeichnet, wohl auch 2021 tun wird –, versuchten die Autor*innen auf die Frage zu antworten, ob das Jahr 2019 eventuell einen Epochenbruch darstellen könnte, ähnlich wie das Jahr 1919. Auf die Bedeutung der Französischen Revolution angesprochen, soll der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Zedong, gesagt haben: »Es ist noch zu früh, um das zu sagen.« In der Tat, nur 100 Jahre nach der Revolution, die das Bauhaus darstellte, können wir uns vielleicht diese Maxime zu eigen machen und riskieren, einige vorläufige Gedanken anzubieten. Obwohl im Kontext des 100-jährigen BauhausJubiläums geschrieben, gehören die Gedanken in dieser Sektion einer Jugend, die eine radikale Neuorientierung aller Bereiche des sozialen und politischen Lebens mit Blick auf eine umfassende Demokratisierung und eine gerechte Gesellschaft für möglich hält und ihren Zukunftsoptimismus durch Entwürfe einer Lebensumwelt, Architektur, Planung und Gesellschaftsidee durchzusetzen versucht. So war auch den Herausgeber*innen und Autor*innen der Beiträge dieses Buches klar, dass es darum geht, diese Geschichte durch neue historische Kontextualisierungen, neue Forschungsmedien und letztlich durch unsere eigenen Ansprüche an die Gegenwart zu hinterfragen. Die Tatsache, dass es erstmals eine Sektion gab, in der nur Frauen vortrugen, und zum ersten Mal ein Beitrag vorgestellt wurde, der die Bauhaus-Geschichte mit Bezug auf das reflektiert, was wir heute als seine Community der LGBTQIA+ bezeichnen würden, bezieht unsere Gegenwart genauso auf die Geschichte, wie wir es in dem für einige Autor*innen und Leser*innen vielleicht noch immer ungewöhnlichen Format des Genderns im Schriftbild dieses Buches tun. Auch mit Blick auf die energiegeladene Atmosphäre im Saal stand das Kolloquium und steht nun diese Publikation in der Tradition der Internationalen Bauhaus-Kolloquien, das Maximum des Sagbaren auszuschöpfen. Ich möchte mich an dieser Stelle im Namen meiner Mitherausgeber*innen, Eva von Engelberg-Do kal, Max Welch Guerra und Johannes Warda, herzlichst bei allen Autor*innen für ihre originellen Beiträge und den stets spannenden Gedankenaustausch mit ihnen bedanken. Besonderer Dank gilt Sammler*innen und Archiven für ihre freundliche Unterstützung in der Bereitstellung von Bild- und Kartenmaterial. Ich danke der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität und dem Bauhaus-

Anmerkungen 1 »Das Bauhaus gehört der Welt, aber es kommt aus Deutschland und ist einer der erfolgreichsten Exportartikel unserer Kulturgeschichte. Deutschland ist daher nicht nur sich selbst, sondern auch der Welt verpflichtet das Bauhaus zu bewahren und zu fördern.« Aus der Pressemitteilung zum Parlamentsbeschluss zur Förderung des Bauhaus-Jubiläums: SPD-Bundestagsfraktion, »Bundestag verabschiedet Antrag zum Bauhaus-Jubiläum 2019«, Pressemitteilung Nr. 79, 05.02.2015. Unter: https://www.spdfraktion.de/ node/36068/pdf (letzter Zugriff: 12.03.2021). 2 Im Oktober 2018 sah sich die Stiftung Bauhaus Dessau auf politischen Druck hin gezwungen, das Konzert einer linksgerichteten Punkband im Bauhaus-Gebäude in Dessau abzusagen, was zeigt, dass die politischen Spannungen rund um die Schule und ihr Erbe anhalten. Die Absage wurde vor allem damit begründet, dass das Gebäude, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, nicht zu einem Ort der politischen Agitation und Aggression zwischen rechtsextremen und linken Aktivist*innen werden könnte. Politiker*innen und kulturelle Gruppen haben diese Entscheidung weitgehend kritisiert. Siehe »Open Letter to the Bauhaus Dessau Foundation« (24.10.2018). Unter: https://www.e-flux.com/announcements/ 224013/open-letter-to-the-bauhaus-dessau foundation/ (letzter Zugriff: 14.03.2021). 3 Vgl. »Politische Kultur im Freistaat Thüringen« (2019). Unter: https://www. landesregierung-thueringen.de/fileadmin/ user_upload/Landesregierung/Landesregierung/ Thueringenmonitor/Thueringen-Monitor-

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2019-Zusammenfassung.pdf (letzter Zugriff: 14.03.2021). Im Februar 1968 schreibt Gropius an Karl-Heinz Hüter in Ost-Berlin in einem Beantwortungsschreiben auf den Erhalt des hier im Text später angesprochenen Manuskriptes von Hüters Buch Das Bauhaus in Weimar: »Although I have, as you rightly state, never been politically active, I know for sure that this very fact has made it possible to bring the Bauhaus as far as I did.« (Korrespondenz zwischen Walter Gropius und Karl-Heinz Hüter, Inv. Nr. 650339, 08.02.1968, Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung; vgl. Ines Weizman (Hg.): Dust&Data. Traces of the Bauhaus. Leipzig, S. 376– 382. Vgl. Erklärungsschrift des Staatlichen Bauhauses »Der Streit um das Staatliche Bauhaus« für die Abgeordneten des Landtages des Freistaates SachsenWeimar-Eisenach vom Juni 1920. In: Volker Wahl: Das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919–1926. Dokumente. Köln 2009, S. 618–632, hier: S. 619. Thomas Flierl: »Migrant with a Conflicted Sense of Home: Hannes Meyer after the Bauhaus«. In: Ines Weizman (Hg.): Dust & Data. Traces of the Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 402– 419, hier: S. 416 [Übersetzung aus dem Originaltext:Thomas Flierl]. Hans Maria Wingler: Das Bauhaus 1919–1933. Weimar Dessau Berlin. Köln / Schauberg 2009 (1. Auflage: 1968). Vgl. Fiona MacCarthy: Walter Gropius. London 2019. Im Rahmen der Forschungen zur Ausstellung The Matter of Data. Auf den Spuren der »Bauhaus-Mo-

Vorwort

Ines Weizman, März 2021

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Institut für die finanzielle Unterstützung dieses Buches. Michael Pilewski sei für seine gewissenhafte Übersetzung gedankt. Wo der Text in editorischer Nacharbeit verändert wurde, ist dies im Textkommentar vermerkt. Ich danke Pernilla Kober für ihre Assistenz in der Zusammenstellung dieses Buches. Des Weiteren gebührt dem jovis Verlag, namentlich Tim Vogel, herzlicher Dank für die professionelle und zügige Manuskriptbearbeitung und für die freundliche Unterstützung. Zudem danke ich der freien Lektorin Miriam Seifert-Waibel für ihre sorgfältige Durchsicht der Texte. Felix Holler möchte ich für die originelle grafische Gestaltung des Buches danken.

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derne«, die die politische Dimension des Begriffs Bauhaus-Moderne und die Komplexität der Exilund Fluchtgeschichte der Moderne zwischen Deutschland und Palästina in den 1930er-Jahren untersuchte, habe ich gemeinsam mit dem Centre for Documentary Architecture Ita Heinze-Greenberg zu diesem Antrag von Hans Maria Wingler und ihren Forschungen zu Lebensläufen von Bauhäusler*innen in Palästina befragt. Vgl. https:// documentary-architecture.org/bauhaus-in-exile (letzter Zugriff: 12.03.2021). 10 In den Anmerkungen der bereits erwähnten Erklärungsschrift vom Juni 1920 wird erwähnt, dass das Bauhaus, durch antisemitische Vorwürfe gedrängt, die Konfessionen und Herkunft der Studierenden eher widerwillig preisgeben musste. Vgl. Volker Wahl: Das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919–1926. Dokumente. Köln 2009, S. 630. 11 Vgl. Norbert Korrek / Christiane Wolf: Das internationale Bauhaus-Kolloquium in Weimar 1976 bis 2016: Ein Beitrag zur Bauhaus-Rezeption; Dokumentation, Ausstellungsteil, Prolog. Weimar 2016. 12 Im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Geschichte der Internationalen Bauhaus-Kolloquien, die Norbert Korrek, Christiane Wolf und ich mit Studierenden der Universität und dem Centre for Documentary Architecture 2015/16 durchführten, konnten wir auch Hüters Geschichte und die seines Buches in einem Interview diskutieren. Für dieses und weitere Interviews mit Organisator*innen und Gästen der Kolloquien vgl. die Website zur Geschichte des Internationalen Bauhaus-Kolloquiums 1976–2019: https://bauhaus-kolloquium. documentary-architecture.org/ (letzter Zugriff: 14.03.2021); vgl. Ines Weizman: »The Internatio-

nal Bauhaus-Kolloquium in Weimar (1976–2019). Transcripts of Filmed Interviews« [inkl. Transkript des Interviews mit Hüter]. In: Dies. (Hg.): Dust &Data. Traces of the Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 376–382. 13 Ibid, Interview mit Marco de Michelis, S.384. 14 Vgl. Korrek / Wolf 2016, S. 19–69. 15 Vgl. https://bauhaus-kolloquium.documentaryarchitecture.org/ (letzter Zugriff: 14.03.2021). 16 Vgl. Anna-Maria Meister: »Radical remoteness. The HfG Ulm as institution of dissidence«. In: Ines Weizman (Hg.): Architecture and the Paradox of Dissidence. London 2014, S. 89–102. 17 Vgl. Bernard Tschumi: Architecture and Disjunction. Cambridge, MA / London 1975, S. 62–68. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. https://bauhaus-kolloquium.documentaryarchitecture.org/ (letzter Zugriff: 14.03.2021); Weizman 2019, S. 376–382. 20 Vgl. Peter Raue: »Schlemmer vor Gericht«. In: bauhaus. Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau, Nr. 6, 2014, S. 85–91. 21 Ich habe in diesem Kontext das Konzept der drei Leben der Moderne entwickelt: vgl. Ines Weizman: »The Three Lives of Modern Architecture: Wills, Copyrights and their Violations«. In: Thordis Arrhenius et al. (Hg.): Exhibiting Architecture. Place and Displacement. Baden 2014, S. 183–196; Ines Weizman: »Fahrenheit 2400° – The Second Life of Luis Barragán«. In: Jill Magid (Hg.): The Proposal. Berlin 2016, S. 136–148.

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Sektion I

Sektion I

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1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit

1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit

1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit

Die Beiträge in dieser Sektion lesen das Gründungsjahr des Staatlichen Bauhauses in Weimar in einem exemplarischen Querschnitt durch ein globales historisches Panorama des Jahres 1919 und versuchen dabei so etwas wie eine globale Mikrogeschichte der Schule zu erzählen. Mikrogeschichte ist ein Konzept, das in den 1970er-Jahren von der sogenannten italienischen Schule entwickelt wurde. Historiker*innen wie Giovanni Levi und Carlo Ginzburg wendeten sich von hegemonialen Geschichtserzählungen siegreicher Herrscher*innen und Kriegsherren ab und widmeten sich der histoire événementielle. Sie studierten daher Dokumente wie Krankenakten, Gerichtsprotokolle, Polizeiberichte, historische Nachrichtenartikel und Fotografien, um eine Geschichte derjenigen zu erzählen, die »einfache Leute« waren, unterdrückt wurden oder nicht dem entsprachen, was als Norm galt. Die Mikrogeschichte wurde auch der Geschichte der longue durée gegenübergestellt, eine Lesart, die die marxistisch inspirierten Historiker*innen der Annales-Schule um Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatten. Die Geschichte der longue durée versucht, die historischen Widersprüche und Konflikte über lange Zeiträume und Prozesse zu beobachten und auf ihre Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen; eine eher unpersönliche Geschichte wie die Geschichte des Kapitals, von Handelsbeziehungen oder großer Territorien wie des Mittelmeerraumes. Die Mikrogeschichte hingegen wagt sich auf ein unsicheres, da teils historisch kaum dokumentiertes Terrain, wobei das genaue Beobachten und die Spurensuche nach Indizien in Kunstwerken, Fotografien, aber auch in Landschaften, Architekturen und Innenräumen dazu verhelfen, eine Kulturgeschichte zu rekonstruieren. So, wie eine Mikroskopie der Farbschichten eines mehrfach übermalten Gemäldes oder der Fassade eines Gebäudes auf die Transformationsgeschichte eines Objektes rückschließen lässt, so erlaubt die Mikrogeschichte zugleich die Erschließung einer Welt, die – wie Ginzburg es mit seinen Untersuchungen zur Hexenverfolgung zeigt – sich von patriarchischen und maskulin dominierten Geschichtsdarstellungen emanzipiert. Es ist diese von vielen in der heutigen Gegenwart erfahrene Dringlichkeit – die Dokumente der Geschichte neu zu lesen, zu vernetzen, neue Methoden und Formate zu ihrer Erkundung und Erzählung zu entwickeln und Protagonist*innen eine Stimme zu verleihen, die bisher ungehört geblieben sind –, welche die Autorinnen dieser Sektion gemeinsam haben. 1919, unmittelbar nach dem Ende des Krieges und der Überwindung von mindestens drei Wellen der Spanischen Grippe, herrschten weltweit chaotische Zustände. In Großbritannien und den USA brachen die sogenannten Rassenunruhen aus. Schwarze mussten erfahren, dass sie, als Soldaten aus dem Krieg zurückgekehrt, keine Rechte hatten und fielen grausamen Lynchmorden zum Opfer. In den Häfen von London, Glasgow, Liverpool, Cardiff und Hull trafen auch noch nach 1919 südasiatische, afrikanische, afrokaribische, chinesische und arabische Seeleute und Soldaten aus noch länger geführten Kriegen und Kolonialbesatzungen ein, was zu rassistischen Unruhen führte, deren Geschichte auch erst im Zuge der »Black Lives Matter«-Bewegung aufgearbeitet wird. Deutschland war 1919 von einer zerrissenen und zunehmend aggressiven politischen Landschaft geprägt. Der Kaiser hatte abgedankt und die alte Ordnung schien beseitigt, doch Linke und Rechte, Konservative, Liberale, Lebensreformer*innen und Modernist*innen, Arbeiter*innen und Kapitalist*innen kämpfen gegeneinander. Hinzu kamen die kaum verwundene Traumatisierung durch die Erfahrung des Ersten

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Einführung Ines Weizman

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Weltkrieges und der Perspektivwechsel auf die gerade ausgerufene Russische Sowjetrepublik. Diese innenpolitischen Umstände hatten in Verbindung mit nun bereits global vernetzten politischen Wechselbeziehungen auch auf die Konstituierung und Ausrichtung der Institution des Bauhauses einen Einfluss. Das von Gropius enthusiastisch propagierte Bauhaus – aber auch die Geschichte Weimars als kulturelles Zentrum von Literatur, Musik, Kunst und Philosophie – zog sowohl Menschen an, die sich von der Verheißung des Experimentierens und der Gemeinschaft mit einer Gruppe der modernsten Künstler*innen und Architekt*innen angezogen fühlten, als auch solche, die einfach kamen, weil es für sie keinen anderen Platz gab. Der Wunsch der Bauhäusler*innen, eine neue Welt zu erschaffen, mag daran gelegen haben, dass sich alles, was man ihnen beigebracht hatte, zusammen mit dem ererbten Wertesystem aufgelöst hatte. »Alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht«, sagt Mephistopheles in Goethes Faust (der Dichter könnte diese Zeile nur ein paar Dutzend Meter von dem Ort entfernt geschrieben haben, an dem das Bauhaus 100 Jahre später gegründet wurde), was rund vier Jahrzehnte später Marx und Engels inspirierte, in deren Kommunistischem Manifest es heißt: »Alles Ständische und Stehende verdampft«.1 In einer Zeit, in der alle Gewissheiten ins Wanken geraten waren, stand das Bauhaus zugleich für ein neues Freiheitsgefühl und für einen Rückzugsort, an dem eine neue gerechte Gesellschaft gedacht werden konnte und aus dem Krieg zurückgekehrte junge Künstler*innen und Architekt*innen wieder Orientierung und Halt fanden. Gleichzeitig waren Medien wie Fotografie, Radio und Film, die in den Kriegsführungen bereits in extremen Situationen erfahren und erprobt worden waren, zu wichtigen Instrumenten des künstlerischen Ausdrucks geworden. Potenziell hatten unzählige und kaum nachvollziehbare Mikroereignisse, die sich in Weimar abspielten – eine Debatte in einer der Werkstätten, ein Streit im Büro von Gropius, ein Nachmittag, an dem Bauhäusler*innen Seiten aus Telefonbüchern herausrissen, um sie mit Fotos, die sie aus Zeitschriften der Schulbibliothek herausgeschnitten hatten, zu Collagearbeiten zusammensetzten2 – geografisch weite und zeitlich ausgedehnte Auswirkungen, indem sie sich mit Ideen, Objekten oder Personen auf den jeweiligen Migrationspfaden der Akteur*innen der Schule verbanden. Obwohl wir die Bauhausmeister*innen und einige Absolvent*innen der Schule heute für die »alten Weisen« unseres Handwerks halten, waren diese recht jung, als sie die Schule gründeten und dort zu lehren begannen: Walter Gropius war 36, Josef Albers und Johannes Itten waren 31, Gerhard Marcks 30, Georg Muche 26. Zudem war das ganze Unterfangen bis zu einem gewissen Grad improvisiert, ohne sich seines späteren Schicksals bewusst zu sein. Wie Norbert Korrek in seinen Forschungen zeigte, wurden zur Zeit der Gründung die oberen Etagen des Gebäudes noch als Lazarett für verwundete Soldaten genutzt, die aus den Schützengräben des Krieges zurückkehrten.3 Gunta Stölzl, die in Weimar ihr Studium begann und später Meisterin der Webwerkstatt werden sollte, hatte sich während des Krieges freiwillig beim Roten Kreuz als Krankenschwester gemeldet. Paul Klee entwarf für die Königlich-Bayerische Fliegerschule Tarnung für Flugzeuge, die die ersten Luftaufnahmen vom Nahen Osten und Nordafrika machten. Gropius diente im Signalkorps. Trotz mehrerer Verletzungen bat er nach jeder Genesung, zurück an die Front geschickt zu werden.4 Als sein Flugzeug abgeschossen wurde, kam er dank eines Fallschirms mit dem Leben davon.5 Auch László MoholyNagy wurde im Krieg verwundet, was, wie Joyce Tsai in ihrem Aufsatz zeigt, seine Arbeitsweise am Bauhaus beeinflusste.6 Wir müssen die Entstehung des Bauhauses in Bezug auf diese jungen Menschen verstehen, die aus dem Krieg zurückkehrten, den Kanonenlärm noch in den Ohren, den

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Tod und die Zerstörung in ihren Köpfen, einige vielleicht mit einer Störung, die wir heute als posttraumatische Belastungsstörung verstehen würden. Es ist vielleicht auch dem Trauma des Krieges geschuldet, dass die von den Bauhausmeistern vertretene Architektur oftmals eine »ästhetische Hygiene« anstrebte, die an die Qualität eines Krankenhauses erinnerte. Während verwundete Soldaten noch im Bett lagen und im Rollstuhl durch die Gänge des Van-de-Velde-Gebäudes geschoben wurden, wurden zwischen Berlin und Weimar spezielle schnelle Flug- und Bahnverbindungen eingerichtet, um Fahrten zu den Sitzungen der Nationalversammlung in Weimar zu ermöglichen. Gropius landete einige Male per Flugzeug in Weimar, statt mit Bus und Bahn anzureisen. Verschiedene Epochen prallten aufeinander. Um den Schriftsteller William Gibson frei zu zitieren: »Die Zukunft war schon da, sie war nur nicht gleichmäßig verteilt.«7 Der italienische Künstler Giorgio de Chirico spendete Gropius und Lyonel Feiniger 1921 eine Lithografie für ihr Projekt der Bauhaus-Mappen, die die moderne Kunstbewegung bekannt machen und dem Bauhaus dringend benötigte finanzielle Mittel beschaffen sollte. Tracey Eve Winton nimmt in ihrem Aufsatz diese Schenkung zum Ausgangspunkt, um die Freundschaft der Künstler mit den im Werk Chiricos verarbeiteten Konflikten in der Erfahrung des Krieges und seiner Suche nach einer neuen Konzeption von Raum und Zeit zu verbinden. Zeynep Çelik Alexander verleiht dem Gründungsjahr Textur, indem sie die Kontinuitäten von pädagogischen Konzepten zwischen früheren Denkschulen und dem Bauhaus untersucht.8 Sie beleuchtet vor allem künstlerische Übungen zur Vermittlung eines, wie sie es nennt, »kinästhetischen Wissens« und hinterfragt, ob das Bauhaus tatsächlich einen solch eindeutigen historischen Wendepunkt darstellte. Joyce Tsai widmet sich wie erwähnt der Kriegserfahrung Moholy-Nagys im österreichisch-ungarischen Militär. Trotz der wenigen überlieferten Dokumente aus dieser Zeit rekonstruiert sie die Inhalte, die Moholy-Nagy als militärischer Ausbilder jungen Soldaten vermitteln musste und stellt Kontinuitäten zu seinen aktivistischen Tätigkeiten in der 1919 neu ausgerufenen Ungarischen Sowjetrepublik, zu seinem abstrakten Werk, zu seiner Lehre und seinen künstlerischen Experimenten und seiner Lehre am Bauhaus heraus. Elizabeth Otto nimmt die Gründung des 1919 von Magnus Hirschfeld ins Leben gerufenen Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin zum Ausgangspunkt, um die bisher kaum explizit erforschte Geschichte von Queerness am Bauhaus zu erzählen. Ihre Untersuchungen zur künstlerischen Produktion am Bauhaus mit Blick auf das, was wir kurz als LGBTQIA+ bezeichnen würden, erfordern sensibilisierte Betrachtungen der Werke selbst, um versteckte Gesten und Symbole zu erkennen und die Schwierigkeiten ihrer Rezeption zu vermitteln. In meinem Aufsatz nehme ich die Gleichzeitigkeit des Ausbruchs einer Heuschreckenplage in Palästina, des weltweiten Ausbruchs der Spanischen Grippe und der Geschichte der 1919 noch im Bauhausgebäude untergekommenen Kriegsveteranen zum Ausgangspunkt, um die politische Trennung des Nahen Ostens durch die in den Versailler Verträgen ratifizierte Sykes-Picot-Linie noch einmal 100 Jahre später in Bezug auf die entlang dieser Grenze unterschiedlich rezipierten internationalen Architekturmodernen zu untersuchen. Der exemplarische Blick auf die Mikrogeschichte des Jahres 1919 soll noch kaum erforschte Details, Zusammenhänge und Fragestellungen zur Bauhausgeschichte vorstellen, um den oftmals allzu selektiv agierenden und instrumentalisierten Historiografien des Bauhauses entgegenzuwirken. Gerade im Hinblick auf die komplexe Geschichte der Rezeption und der Migration des Bauhauses im globalen Beziehungsgeflecht der internationalen Geschichte der Architekturmoderne bedarf es einer globalen Mikrogeschichte, die Methoden und Zugänge findet, um Raum und Zeit neu zu lesen, zu dokumentieren und vielleicht zu erfinden.

25 1919: Die Neuerfindung von Raum und Zeit

Anmerkungen 1 In der maßgeblichen englischen Übersetzung und vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, von Samuel Moore aus dem Jahr 1888 wird diese als er in den USA als »feindlicher Ausländer« galt, Zeile mit »All that is solid melts into air« wiederfür die Kriegsindustrie und entwickelte alternagegeben. Unter Bezugnahme sowohl auf Faust als tive Baumaterialien für das Militär in Zeiten der auch auf Das Kommunistische Manifest wurde das Knappheit sowie Schutzausrüstungen für Soldaberühmte Werk von Marshall Berman (New York ten und verwundete Veteranen. Vgl. Robin Schul1982) so betitelt. denfrei: »Assimilating Unease: Moholy-Nagy and 2 Vgl. Frank Simon-Ritz: »Fate of the Books: The the Wartime / Postwar Bauhaus in Chicago«. In: Atomic Dwelling: Anxiety, Domesticity, and Postwar Library at the Bauhaus Weimar«. In: Ines Architecture. London 2012, S. 87–93. Weizman (Hg.): Dust & Data. Traces of the Bauhaus 7 Laut Wikiquote soll Gibson dies zum ersten Mal across 100 Years. Leipzig 2019, S. 284–294. 3 Vgl. Norbert Korrek: »›Reserve Hospital No. 11 Art am 31. August 1993 in einem Interview in der School‹: The Bauhaus in the Period of Transition NPR-Radiosendung Fresh Air gesagt haben. Er wiefrom World War I to the Weimar Republic«. In: derholte es, eingeleitet mit den Worten »As I’ve Ines Weizman (Hg.): Dust & Data. Traces of the said many times …« (»Wie ich schon oft gesagt Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 238–253. habe …«). »The Science in Science Fiction«, Talk 4 Vgl. Fiona MacCarthy: Walter Gropius: Visionary of the Nation, National Public Radio, 30.11.1999 Founder of the Bauhaus. London 2019. [11:20 min.], https://www.npr.org/templates/story/ 5 Zum Kriegseinsatz von Walter Gropius an der story.php?storyId=1107153; https://en.wikiquote. Westfront, siehe Deborah Ascher Barnstone: The org/wiki/William_Gibson (für beide letzter ZuBreak with the Past: Avant-Garde Architecture in griff: 08.03.2021). Germany, 1910–1925. London 2019, S. 80–88. 8 Vgl. John V. Maciuika: Before the Bauhaus: Archi6 Wie Robin Schuldenfrei in ihrer Recherche gezeigt tecture, Politics, and the German State, 1890–1920. Cambridge, MA 2008. hat, lehrte und entwarf László Moholy-Nagy, als er 1937 Direktor des New Bauhaus in Chicago wurde,

»[J]ede Sache [hat] zwei Aspekte […]. Der eine ist der geläufige, den wir fast immer wahrnehmen und den die Menschen generell sehen. Der andere ist der spektrale oder metaphysische Aspekt. Ihn können nur wenige in Stunden der Erleuchtung und der metaphysischen Abstraktion erkennen.« — Giorgio de Chirico, 1919 Als das Bauhaus 1919 eröffnet wurde, waren die Künstler*innen bereits dabei, einen neuen europäischen Raum- und Zeitkontext zu erforschen. Dieser Essay befasst sich mit einem Maler, dessen architektonische Kunstwerke Walter Gropius sammelte: Giorgio de Chirico (1888–1978). In diesem Jahrzehnt erforschte der italienische Maler RaumZeit-Konzepte und schuf metaphysische Gemälde, die eine tiefer liegende Struktur der Realität freilegen. Seine visuell einfache, aber ikonografisch komplexe Poetik deutet an, wie der Schöpfer Spuren der Vergangenheit untermauert, indem er die Gegenwart intensiviert und die Zukunft feierlich heraufbeschwört. De Chirico kanalisierte die verstörende Welt des Ersten Weltkrieges und die Konflikte und Mehrdeutigkeiten der menschlichen Erfahrung kraftvoll in eine neue Vorstellung von sinnvoller Ordnung. 1921 baten Gropius und Lyonel Feininger, der Meister der Druckwerkstatt, zeitgenössische Avantgardekünstler*innen um einen Abzug ihrer Werke, den sie in speziell gedruckte Portfolios der Neuen Europäischen Graphik, auch Bauhaus-Drucke genannt, aufnehmen könnten. Diese sollten dazu beitragen, die moderne Kunstbewegung bekannt zu machen und dem Bauhaus dringend benötigte Mittel zu beschaffen. De Chirico schenkte für die Vierte Mappe (Italienische und Russische Künstler) seine Lithografie Orestes und Pylades, ein Werk, das sich gegenwärtig in der Sammlung des Harvard Art Museums befindet (  Abb. 1). Das zentrale ikonografische Bild zeigt die tiefe spirituelle Verbundenheit von Euripides’ Orestes, der Pylades mahnt: »Hüte dich, daß du nicht theilest meinen Wahnsinn!«2 Sein Symbol der Busenfreundschaft von der griechischen Bühne aus trug zu Gropius und Feininger eine verschlüsselte Botschaft intellektueller Intimität, die seine metaphysische Philosophie mit ihrer eigenen radikalen Vision gegen eine verständnislose Welt in Einklang bringt. Während die Geste des Händedrucks traditionell ein Bündnis besiegelt, führte in der altgriechischen Grabkunst das dieser entsprechende Dexiosis-Motiv die Lebenden mit den Toten wieder zusammen. Subtexte des Kontakts mit der Unterwelt symbolisierten de Chiricos künstlerische Suche nach neuen Richtungen, die eine ungewisse Zukunft in der Vergangenheit verankern und die Reichhaltigkeit unerzählter Geschichten in einem neuen modernen Idiom zum Vorschein bringen konnten – eine Präfiguration, die sich verwirklichte, als er dieses Motiv des Orestes und des Pylades zu seiner traumartigen »Archäologen«-Serie ausarbeitete. 1926 malte de Chirico Die mysteriösen Archäologen, an einem städtischen Platz gelegen, mit Andeutung auf den Ozean dahinter. Der Raum dient gleichzeitig als Theaterbühne mit geöffnetem Vorhang. Vor einem Hintergrund aus Fragmenten der Antike

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Tracey Eve Winton

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stehen sich die Figuren zweier ruinierter Statuen gegenüber. Der uns zugewandte Körper ist aus architektonischem Stein zusammengesetzt. Seine Organe sind Gebäude, und unser Blick entdeckt in seinem körperlichen Fleisch die geistigen und kulturellen Mechanismen der Stadt: eine metabolische Welt des Geschichtenerzählens, der Aufführung und der Zeit der Ereignisse. 1899 hatte Sigmund Freud seine Studie Die Traumdeutung veröffentlicht. Ein Jahrzehnt später reiste Freud sieben Wochen lang mit Carl Gustav Jung durch die Vereinigten Staaten, und jeden Morgen analysierten sie die Träume des anderen. Eines Tages erzählte Jung beim Frühstück von einem architektonischen Traum. Er fand sich in einem Rokoko-Salon im Obergeschoss eines ihm unbekannten Hauses wieder, von dem er jedoch erkannte, dass es ihm gehörte. Beim Erkunden ging er eine Treppe hinunter in eine ältere Etage, im mittelalterlichen Stil, einfacher eingerichtet, mit gedämpftem Licht. Hinter einer schweren Tür führte eine steinerne Treppe in den Keller hinunter. Unten angekommen, entdeckte er einen antiken Gewölberaum, diesmal in römischer Bauweise. In dessen Boden ließ sich eine Steinplatte anheben, um eine schmale Treppe freizulegen, die in eine in den Felsen gehauene Höhle stürzte, die dick mit dem Staub der Zeit bedeckt war, »und darin lagen Knochen und zerbrochene Gefäße wie Überreste einer primitiven Kultur. Ich entdeckte zwei offenbar sehr alte und halb zerfallene Menschenschädel. – Dann erwachte ich.«3 Jungs Traumhaus, ein Modell der Psyche, inszeniert eine hermetische Initiation in umgekehrter Richtung. Er regrediert in den materiellen Bereich, ein Amalgam aus Alchemie und Archäologie. Von einem kunstvollen, mit der aufklärerischen Vernunft assoziierten Stil ausgehend, durchquert seine Abwärtsreise historische Epochen, von der jüngsten Moderne zurück zum Anbruch der Menschheit, die Stockwerke untereinander geschichtet. In der urzeitlichen Grabkammer widersetzt sich die unvollkommene Materie der lebensspendenden Kraft der Form. Der Träumer ergründet die Substanz der Zeit, während die Architektur ihre Metabolisierung des Raumes zu einer kohärenten Einheit zusammenfügt. Tief eingetaucht in die vorsintflutliche Zeit, entdeckt Jung die ferne Vergangenheit, die auf unglaubliche Weise präsent bleibt – nicht nur präsent, sondern auch das Fundament der Moderne und ihre spätere Zukunft darstellt. Im Laufe der 1910er-Jahre entwickelte der junge de Chirico seine Pittura metafisica, in der sich inmitten eines unheimlichen Anachronismus eine Modernität der Stadt herausbildet. Seine Bilder fühlen sich archetypisch an, und entsprechend seiner metaphysischen Forschung ahmte er die großen mittelalterlichen Künstler wie Duccio und Giotto nach, deren gemalte Welt ein Theater der göttlichen Dinge war. In ihren Konventionen der räumlichen Definition, in denen architektonische Elemente Orte und Zeiten

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 Abb. 1 Giorgio de Chirico, Orestes und Pylades, aus Mappe IV (Italienische und Russische Künstler) der Baushaus-Drucke – Neue Europäische Graphik, 1921

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unterschieden, fand er seinen Stil. Obwohl er, wie im Bild von 1927, Die zwei Archäologen (  Abb. 2), erkennbare Gebäude malte, schränkte der Realismus seine künstlerische Arbeitsweise nicht ein. Ebenso wenig wie der Naturalismus, dessen Besonderheit der detaillierten Struktur er mied. De Chirico wandte sich von der formalen Konstruktion der Historienmalerei mit den ihr innewohnenden Geometrien und ihrer Betonung der architektonischen Ordnung ab und schuf einen übernatürlichen Raum jenseits des menschlichen. Trotz der Ähnlichkeiten mit der Perspektive der Renaissance durchbrach er deren räumliche Kohärenz, Stabilität und Symmetrien, um das Dezentrierte, Polysemische, Unvollständige und Ungesehene einzuführen. Indem er Standpunkte vermehrte und Fluchtpunkte neu verteilte, übertrug er die subjektive zeitliche Erfahrung auf die Leinwand. Strukturell teilen seine Szenen Qualitäten des »Bewusstseinsstroms« der modernen Literatur. Die Zeitlichkeit wurde so zu einem zentralen Thema seiner Untersuchungen, und wie Jung erkannte er die Rolle der Zeit im Medium der Architektur. Seine Gemälde thematisieren die Architektur zusammen mit den physischen Werkzeugen für ihren Entwurf und ihre Schaffung und entwerfen so eine metaphysische Welt, die der Mensch nach seinem eigenen Bild erschafft. In Der große Metaphysiker von 1917 setzt sich der Körper der Figur aus zeichnerischen Mitteln wie Geodreiecken, Reißschienen und Winkelmessern zusammen. Seine Gliederpuppenfiguren und später seine Archäologen verraten jedoch die traditionelle Vergleichbarkeit von Körper und Gebäude. Der Körper des Metaphysikers, eine Collage von Instrumenten, widerspricht der Logik und impliziert, dass durch das Irrationale die schöpferische Kraft und das wahre Wissen um die kosmischen Gesetze entstehen. In seinem eigenen Atelier schmückte de Chirico seine Staffelei mit religiösen Talismanen und deutete damit einen Ansatz zum Zeichnen als zeremonielle und geweihte Aufführung an. Ebenso fokussieren die Architektenwerkzeuge eine zeremonielle Praxis, um die Zukunft zu verheißen und zu bauen; und seine gemalten Szenen waren Ersatzorte für das Werden. Er ergänzte die schattenhafte Praxis des Schöpfers um das Thema der kosmischen Neuschöpfung. Die Welt neu zu erschaffen, bedeutet auch, das Selbst zu rekonstruieren. Die Poetik beginnt in einer Welt, die bereits von anderen menschlichen Stimmen erfüllt ist. In den zahlreichen erhaltenen Exemplaren der Beunruhigenden Musen, von denen viele fiktiv datiert sind, offenbaren die mystischen Ursprünge des Erbauten unsere grundlegenden kulturellen Institutionen der Geschichte und des Theaters. Seine Palette ikonografischer Motive fordert uns auf, über die Werkzeuge nachzudenken, mit denen wir unsere vom Menschen geschaffene Welt konstruieren, und insbesondere über die Architektur, ihr Hauptmuster.

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 Abb. 2 Giorgio de Chirico, Die zwei Archäologen, 1927, Öl auf Leinwand, 49 × 61 cm

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De Chirico untersuchte das künstlerische Objekt als den verkörperten Vermittler der fundamentalen Realität und der Natur der Dinge. Sein metaphysisches Projekt beschäftigt sich mit der Entfaltung der Abstraktion, indem er Jungs Katabasis zurückverfolgt und den Umriss, die Form oder die Oberfläche durch metabolische Prozesse der Erzeugung und Zersetzung vereinfacht. In diesen Kunstwerken, in denen die natürliche Welt so gut wie nicht vorhanden ist, beziehen sich Früchte, die als reife Opfergabe auf einem Altar dargebracht werden wie die erotisierten Artischocken in Die Eroberung des Philosophen (1913/14), auf die Antike durch das bevorstehende Opfer – ein Ereignis, das durch das passende Timing, die Reife und Fruchtbarkeit der Jahreszeit und die Tageszeit orchestriert wird. Das metaphysische Projekt stellt unsere Zeit- und Raummaße in einen größeren Zusammenhang, hebt kartesianische Ordnungssysteme auf und setzt hinter den Kulissen Dionysios, den Gott des Theaters, wieder ein. Durch unzählige Kompositionen rund um öffentliche Plätze, wie seine Ariadne (1913) (  Abb. 3), prognostizierte er das moderne Stadtgefüge Europas. Mit den abgesteckten Grenzen und festen Oberflächen ihrer Objekte und Gebäude umfassen seine öffentlichen Plätze »magische Kreise« und hybridisieren so die lange Dauer mit der Zeit des Ereignisses. Sie stellen die chora dar, einen Scheinraum zwischen Sein und Werden, von dem Platon sagte, er könne nur im Traum erfasst werden. In seinem Gemälde Der Seher (1915) wirft eine troubadourartige Figur im Vordergrund, eine Verschmelzung von Künstler und Motiv, einen Schatten, der, nachgezeichnet, einen nicht euklidischen, kreisförmigen Raum offenbart. Der Schatten fällt auf den linken Bildrand und wird auf der rechten Seite vervollständigt. Authentisch modern, anstatt eine axiale Position zu bestimmen, präsentiert de Chirico seine Diskurse

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 Abb. 3 Giorgio de Chirico, Ariadne, 1913, Öl und Grafit auf Leinwand, 135,6 × 180,3 cm

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in dynamischer Anordnung von Symbolen in unregelmäßigen Flächen. Seine Theaterstädte sprechen durch radikal vereinfachte, elementare Formen, wie Stadtmauern, Arkaden, Statuen und Brunnen, Türme, Paläste und Tempel – aber auch Fabriken und Bahnhöfe, mit Säulen, Lochfenstern und Schornsteinen. Diese städtischen Szenarien verweben die menschliche Wahrnehmung mit räumlicher Komplexität. In Apparizione della Ciminiera (1917) wird ein Zug, der vor Kurzem am Horizont zum Stehen gekommen ist, von mehreren architektonischen Objekten eingerahmt – jedes mit eigenen Bauprinzipien gezeichnet. De Chirico malte häufig Züge in der Ferne. Ihre Rauchfahnen zeigen Bewegung oder Windrichtung an und erzeugen durch die Bewegung eine Dauer. Die künstlerischen Indizien deuten darauf hin, dass de Chiricos Züge das berühmte Gedankenexperiment von Albert Einstein (aus dem Jahr 1905)4 darstellen, das die Relativität der Gleichzeitigkeit erklärt – eine Vorstellung, die unser Verständnis von Zeit und Positionsunterschieden dramatisch verändert hat. Einstein benutzte das Bild eines fahrenden Zuges, um zu zeigen, dass die Zeit keine universelle Konstante ist, sondern vom Bezugssystem der Beobachtenden abhängt. In seiner Physik ist die Raumzeit qualitativ und lokalisiert, nicht synchronisiert. In diesem heterogenen Universum sind Materie, Energie und Licht alle voneinander abhängig. Nicht nur die Erde und die Himmelskörper üben eine Anziehungskraft aus, sondern auch alle Objekte mit Masse, und die Raumzeit krümmt und beugt sich um sie herum. De Chiricos Objekte reagieren in ähnlicher Weise auf unsichtbare Anziehungskräfte, indem sie sich gruppieren, anstatt sich auszubreiten. Sie klammern sich an Oberflächen und aneinander fest. Der Raum ist nicht homogen oder isotrop, sondern hierarchisch und mit Eindrücken, Qualitäten und Subjektivität gewichtet. Massive Dinge wie Türme und Statuen auf Sockeln erzeugen regionale Gravitationszentren. Physikalisch und mystisch erzeugt das körperliche Objekt Raumzeit. Seine Objekte – oder Modelle für Objekte – sind seltsame hybride Dinge mit undurchdringlichen Oberflächen. Ihre Identitäten und Rollen sind fließend und resultieren aus psychologischen Bildtransformationsprozessen wie den künstlerischen Operationen, die Freud in seinem Buch über Träume beschrieben hat: Tropen wie die Verdichtung von mehreren Bildern zu einem synthetischen Bild und die Verschiebung. Aus Restbildpartikeln improvisiert eine Funktion namens »sekundäre Revision« eine Geschichte, um alles miteinander zu verbinden. Dank der Parallelen im Herstellungsprozess könnte Freuds Beschreibung auf de Chiricos Stadtbilder zutreffen: »Diese Funktion verhält sich so, wie es der Dichter den Philosophen böswillig zuschreibt: Sie füllt die Lücken in der Traumstruktur mit Fetzen und Flecken auf. Als Ergebnis seiner Bemühungen verliert der Traum seinen Anschein von Absurdität und Unverbundenheit und nähert sich dem Modell einer verständlichen Erfahrung an.«5 Die metaphysische Malerei forderte die Betrachtenden heraus, sich zu engagieren, indem sie Widersprüche zwischen Objekten wie auch intern inszenierte. Marcel Duchamps Readymades lösten ab 1913 fabrikmäßig gefertigte Objekte von ihrem Verwendungszweck ab und emanzipierten sie so vom vorgezeichneten Schicksal. In seinen archaischen Objekten setzt de Chirico zur Erinnerung ein Gegengewicht, indem er in die gewöhnliche Bedeutung von Formen eine ähnliche Kunst des Vergessens einführte, wobei er stillschweigend die Freiheit des unbestimmten Schicksals eines Objekts bejaht. Seine eigentümlichen Mischformen sind »Monster« (vom lateinischen moneo, erinnern oder vorhersagen), deren Verdichtung Zeiträume impliziert. Wenn wir vergleichen, wie der Kubismus (ab 1907) alles zerlegte, und inspiriert von Paul Cézannes Strategie der passages der Farbe über den Umrissen, die sichtbar machte, wie Qualitäten zwischen Objekten und Umgebungen ineinanderflossen, können wir de Chiricos Ansatz besser verstehen, das Objekt im Gegenteil zu isolieren und zu befestigen

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und eine »Fremdheit unter den Dingen« zu schaffen, denn durch sein Theater der Objekte konnte er die moderne Raumzeit modellieren. Seine Bilder werfen Fragen auf, und er nannte sie Rätsel. Scheinbar zufällige eigentümliche Objekte, die eine sinnvolle Assemblage bilden, reproduzieren eine fast fünf Jahrtausende alte piktografische Form. Freuds Theorie darüber, wie die Psyche Traumbilder zusammensetzt, belebte den Rebus für die Moderne wieder und veränderte die Art und Weise, wie Künstler*innen die Ikonografie verwendeten, indem sie die Bedeutung auf die Montage unzusammenhängender »trivialer« Details anstatt auf eine post-rationalisierte Erzählung richtete. Traumbilder sind geheime Spuren, die von unbewussten Prozessen hinterlassen werden. Sie kündigen eine künstlerische Welt von Indizien und Hinweisen an, deren Vorläuferinnen – wie de Chiricos arkane Symbole bezeugen – Wahrsagerei, Weissagung, Alchemie und Astrologie waren: die okkulten Künste der Interpretation von Naturzeichen. Die metaphysische Malerei dehnte diese esoterische Rede von der physischen Welt auf das Alltägliche aus, wo das Zeichen, die Spur, die gezeichnete Linie, der Schatten, der Hinweis, der Tropus – wie ein Handschuh für die Hand – in der Gegenwart Zeichen vorweggenommener und verschwundener Reiche offenbaren. So verdichten die gemalten Objekte in Turin Frühling (1914), als ob sie vom Meer angespült worden wären, einen weiten Bogen von Zeit und sprechen zu uns in Stille über Orte, die wir nie besuchen können, die aber, wie Jungs Höhle, in unserer Welt versunken bleiben, was für die Realität grundlegend ist. Die Stadtmauer, ein Schlüsselmotiv, das de Chirico entwickelte, legt den Horizont als Grenze des Sehens und des Wissens fest. Um das Vergehen der Zeit sichtbar zu machen, stellt de Chirico in unterschiedlicher Tiefe von den Betrachtenden aus indexikalische Objekte auf: fliegende Wimpel, aufsteigender Rauch und in diesem Fall die Segel eines Schiffes, die die Bewegung in und durch die Luft verfolgen. Jenseits des Horizonts, vor unserem Blick verborgen, liegt der tiefe Ozean des Unbewussten, der, um die menschliche Geschichte, unsere Kunst und Kultur zu erklären, eine Tonfigur, eine Schriftrolle mit magischen Beschwörungsformeln und eine fossile Muschel – die Madeleine des kollektiven Gedächtnisses – angespült hat. De Chirico verglich das metaphysische Kunstwerk mit diesem Bild, das er häufig suggerierte, ohne es direkt zu zeigen: »die Fläche eines völlig ruhigen Ozeans«, die »uns […] in Unruhe [versetzt durch …] all das Unbekannte, das sich in der Tiefe verbirgt«.6 Das Rätsel der Stunde (1910/11) inventarisiert die vielen Aspekte der Zeit. Die flache Fassade spielt die vertraute Rolle einer gemalten Theaterkulisse, einer archetypischen Szene der Wiederkehr. Die abgerundeten Arkaden und Loggien schaffen Rhythmus und Tempo. Eine moderne Uhr, Emblem der standardisierten Zeit, trägt römische Ziffern, die Tausende von Jahren alt sind. Sie markiert die Siesta-Stunden, in denen die öffentlichen Plätze leer sind, korreliert mit dem Spiel des starken Sonnenlichts – bewegtes Zeichen des Jahres und des Tages, undurchsichtige Schatten, die Tiefen der Vergessenheit der Zeit. Unter seinen rotierenden Zeigern veranschaulicht das Wasser einer spielenden Fontäne, wie die Zeit in Zyklen zirkuliert. Der moderne Mensch, wie Heraklit, tritt nie zweimal in denselben Fluss. Die dominante architektonische Wand versperrt jede perspektivische Tiefe und fokussiert die gegenwärtige Erfahrung, die die historischen Tiefen dahinter verbirgt. Lineare Zeit ist eine Illusion. Wir sind die Schöpfer*innen der Zeit, nicht ihre Zeug*innen. In Das böse Genie eines Königs (1914/15) stützt eine sich im Maßstab verschiebende Oberfläche – gleichzeitig heiliger Altar, Bühne und schräge Piazza – abgegrenzte Objekte, die wie Kinderspielzeug gefärbt sind. Die semiabstrakten Spielzeuge ähneln Apparaten für Gründungsrituale: dem römischen lituus, der zur Bestimmung von Grenzen verwendet wurde; dem gnomon, ein archaisches Gerät zur Zeitmessung

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anhand der Sonne; dem etruskischen Lebermodell für Haruspik – Weissagung der Zukunft7 –, während die liegende kegelförmige Figur dem Gründungsdepot antiker Bauriten ähnelt. De Chirico stellt Schablonen auf, um die urbane Zukunft und unser kollektives Schicksal zu zeichnen, und untersucht die Verbindung und Trennung der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Wie bei den Entwurfswerkzeugen legt er den Schwerpunkt auf die Rolle des Menschen, den hieratischen artifex, der den Epochen zur Reife verhilft. Gewichtete, gebeugte Raumzeit liegt einem Theater der Erscheinungen zugrunde, in dem Dinge erscheinen, bestehen, verschwinden – und wiederkehren. Von unten betrachtet, verdeckt das weitgehend verdunkelte weiße Gebäude des Gemäldes selbst die Stadtmauer, die den Horizont bildet: die Grenze unserer körperlichen Sicht und die symbolische Grenze des Wissens. Jenseits dieser Grenze können nur die Künste der Prophezeiung (Apollon) und der Weissagung Form erkennen. In seinen metaphysischen Städten, darunter zahlreiche »Piazza d’Italia«-Bilder, wird die Phantasmagorie der Bilder, die den introspektiven Blick auf sich ziehen, durch das Theater signalisiert. Seine römischen Säulengänge sehen seltsam flach aus, denn sie sind die szenischen Flügel einer Bühne. Die Wimpel wehen im Wind, aber der Rauch hängt reglos. Der Turm wirft keinen Schatten, denn wie der grüne Himmel, der ihn zusammendrückt, ist er eine gemalte Kulisse. In einer langen Tradition, die bis in die römische Antike zurückreicht, stellt die permanente Szenografie des Theaters die »ideale Stadt« dar, eine metaphysische forma urbis. Die Theater feiern die Neuinszenierung, wie der Mensch die menschliche Welt in ihrer wesentlichsten Form neu gestaltet. Eine theatralische Kulisse in seinem Das Spielzeug des Prinzen (1915) zeigt den Duomo di Pienza, einer Stadt, die (Dichter und Dramatiker) Papst Pius II. 1462 neu gründen ließ. Pius interpretierte das perspektivische Wissen, um eine »ideale Stadt« zu formen, die einen metaphysischen Raum sichtbar macht, eine Welt, die von innen heraus durch die geometrische Ausbreitung des unsichtbaren Lichts geformt wird. Sein Architekt8 zeichnete Linien in Stein, indem er Marmorstreifen in die Oberfläche der Piazza und die sie umgebenden neuen architektonischen Fassaden legte, um den volumetrischen Raum lesbar, geometrisch-spirituell und kontinuierlich zu machen. Die gepflasterte Oberfläche interpretiert das Raster neu, das die Künstler zeichneten, um in der Verkürzung eine illusorische Tiefe zu berechnen. Im Pienza des Spielzeugs verweist de Chiricos Piazza auf die Gesetze der Optik, während sie sich zu Rhomben verformt, die einer römischen Sonnenuhr ähneln. Der Schatten des gnomons bewegt sich fingerartig über den Boden. Er zeichnet die Dauer im Raum nach und evoziert den Lauf der Zeit durch den Tag – und zwar von der Antike über die Renaissance bis zur Moderne. Wie seine Stadtlandschaften mit ihren widersprüchlichen perspektivischen Strukturen unterminieren de Chiricos »metaphysische Innenräume« die Aussicht auf einheitlichen Raum. Geschlossene Räume können ganze Landschaften enthalten, und Außenansichten dringen durch Fenster wie durch Augen in die Erinnerung ein. Diese Gemälde schieben die Wahrnehmung zwischen Innen- und Außenwelten hin und her und evozieren wiederum narrative Mäander von Bewusstseinsströmen, die in ihrer Kontinuität ohne Konsistenz daran erinnern, wie die Architekten der damaligen Zeit versuchten, Innenräume wieder mit Außenräumen zu verbinden. Ein Gemälde von 1917 mit dem Titel Metaphysisches Interieur mit der Piazza d’Italia fügt ein unvollendetes Gemälde in das Gemälde ein und verbindet in einem engen Raum seinen ausgedehnten, offenen Raum – eine große Piazza mit einer Statue der schlafenden Ariadne. Das nonfinito überstrahlt die Geschlossenheit des Raumes, und das in Arbeit befindliche Werk zeichnet seine Welt aus einem neuen Blickwinkel, einem volleren Moment neu. Die

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modulierte Abstraktion seines Stils fördert die Mehrdeutigkeit zwischen Gemälden, Kästen und Fenstern oder gerahmten Öffnungen, die alle in der gleichen Bildsprache und im gleichen Maßstab auf die Leinwand gezeichnet sind, sich aber auf unterschiedliche Größenordnungen beziehen. Ausgehend von den Details, die räumliche Fragmente zueinander in Beziehung setzen, erzählen die Ähnlichkeit der Formen und die umgekehrten Schatten eine Geschichte »hinter den Kulissen«, wie das Gemälde entstanden ist. Der Künstler, nicht ganz identisch mit de Chirico, malte die Szene, die man durch das Fenster sieht, zu einer anderen Zeit, als die Dinge noch anders waren; er stand an anderer Stelle und tauschte somit das Auge und den Fluchtpunkt. Im räumlichen Bereich lassen sich die Ungereimtheiten zwischen aneinandergrenzenden Elementen nicht durch Anwendung von Logik in Einklang bringen. In Der doppelte Traum vom Frühling (1915) schreibt eine in das Gemälde eingesetzte Zeichnung den oder die Betrachter*in als Künstler*in ein. Die Linienzeichnung versperrt das Panorama dahinter, sodass die numinose Abstraktion der unbewussten mystischen Welt – einer zukünftigen Erinnerung, die gerade im Entstehen begriffen ist – die sichtbare Landschaft in den Hintergrund drängt und beide sich gegenseitig zu beeinflussen scheinen. De Chirico erforschte die Grenzen des Sehens als symbolische Grenzen des Wissens. Er machte ein Spiel aus Zeigen und Verstecken. Die Stadtmauer verstärkt den Horizont. Objekte blockieren unseren begehrenden Blick. Es erwacht der Schatten, der oder die blinde Seher*in, die nicht sichtbare Welt. Schatten, Dunkelheit und Stille. Flächen führen in blinde Ecken; leere Wände laufen zu einer scena per angolo zusammen; Leinwandkanten stutzen Objekte; Fenster und Rahmen erlauben nur Teilblicke, weil wir zu nah oder zu weit entfernt sind. Wir können das große Ganze nicht sehen. Stattdessen bietet jede Leinwand ein Puzzleteil. Und die verstreuten Bilder selbst sind Teile eines größeren Puzzles. In diesen Bildern bleibt vieles latent, in Dunkelheit getaucht, unter der Oberfläche, hinter der Ecke, außerhalb des Raumes, hinter dem Horizont, hinter dem Vorhang, hinter den Betrachtenden. Er gibt Figuren wie die schlafende Statue der Ariadne wieder, die Wahrsager*innen mit geschlossenen Augen oder blind, im Vorauswissen der Zukunft mit ihrem inneren Auge; und wie Andrea Mantegna zieht er Bühnenvorhänge über Albertis »Panoramafenster«. Wie seine Zitate des theatralischen Raumes symbolisiert seine ikonische Architektur der Fabrik die kreative Neuinszenierung. In einem späteren metaphysischen Interieur aus dem Jahr 1948, Interieur mit Fabrik I 9, blicken wir in ein Atelier mit einem Panoramafenster. Im Mittelgrund lehnen zwei Bilder gestapelt übereinander. Die nähere Leinwand stellt eine Fabrik dar, und durch das Fenster in der linken Wand sieht man

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 Abb. 4 Giorgio de Chirico, Interieur mit Fabrik I, 1948, Öl auf Leinwand, 92,3 × 72,3 cm

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auf ein Gebäude, das diesem ähnelt, ohne identisch zu sein, was darauf hindeutet, dass die Ansichten in irgendeiner Weise miteinander verwandt sind. Die gemalten Schatten deuten auf unterschiedliche Lichtquellen hin: eine, die von der schattigen linken Seite des Hauptraumes kommt; zwei widersprüchliche Quellen im Bild innerhalb des Bildes, die den Fluchtpunkt verschieben; und eine völlig andere Richtung in der Außenlandschaft, die durch das Fenster auf der rechten Seite gesehen wird. Durch den Hauptraum breitet sich das Sonnenlicht nach links aus, während es in den Gemälden-in-Gemälden in die entgegengesetzte Richtung strömt. Der oder die Betrachter*in könnte durch Umdrehen direkt auf diese eingefügten Landschaften blicken. Das bedeutet, dass man de Chiricos Gemälden den Rücken zukehren muss, um sich einem anderen, nicht sichtbaren Fenster zuzuwenden, das sich in der Randzone befindet, in der man steht – ein unsichtbarer virtueller Raum, den sein Bild impliziert. Der Körper wird zum anderen Fenster, und der Raum, in den man hinausschaut, ist ein innerer Raum, in dem Erinnerung und Vorstellungskraft verschmelzen. Dieses Feld nicht linearer narrativer Komplexität ist keine willkürliche Verwirrung, sondern entfaltet die reichhaltige subjektive Erfahrung der Welt in der Zeit. De Chiricos Modernismus steht im Widerspruch zu früheren, hierarchischen Ordnungssystemen der Architektur wie dem Neoklassizismus oder den Beaux Arts. Die Stadt zu träumen, ist eine dionysische Praxis, die unterbewusste Begehren freisetzt, was zu Urempfindungen, lokalen Ausbrüchen, kryptischen Bildern führt, die den Körper direkt zum Ausdruck bringen. In The Fatal Temple (1914) vereinigt eine »Collage« Zeichnungen aus verschiedenen historischen Epochen und versperrt den vertrauten Blick darüber hinaus. Auf einer Tafel, in archaischem Stil, arbeitete de Chirico das im Schnitt gezeichnete Gehirn heraus, während Mund und Auge geschlossen bleiben. Die weibliche Büste allein verfestigt sich, verschmilzt aber wieder mit ihrem eigenen schwarzen Schatten und scheint in der Dunkelheit zu träumen, ihre Erinnerung oder Fantasie wird von einem stilisierten Blitz getroffen. Sie erhebt sich über ein Fischfossil, das mit der mythologischen und geologischen Zeit harmoniert. Dies ist eine Welt der Gefühle, des Lebens und des Todes, der Zeichen und Diagramme, des Fleisches und des Materials, eine Geschichte über die Endlichkeit und Fragen ohne Antworten. Die Zeit verschiebt sich von der intimen Skala der Hand ins Epische und Geologische, eine Reise in den nicht kartografierten, unbekannten und mythischen Teil des Selbst, in die fantastische Vorstellungskraft und das Auge des Geistes. Sein*e Protagonist*in befindet sich auf einer Reise. Die Bedeutung ergibt sich aus zweideutigen Bildern von taktilen Dingen, Materialien, Handarbeit, Händen und Handschuhen, Teilen und Schatten des Körpers und Details, die wie in Das Lied der Liebe (1914) im Maßstab dazu abgebildet sind. Giorgio de Chirico führte das Zitat, den Anachronismus, die Rückblende, die Gegenperspektive, das Trompe-l’oeil, die poetische Zweideutigkeit, ja sogar das Paradox in den Alltag ein. Er brachte in seine ikonografischen Objekte die architektonische Erfindung der Wiederverwendung ein. In antiken Städten bauten Bauherren frühere Fundamente und dekorative Stützmauern ab und mobilisierten spolia, da Bausubstanz und Baustellen materielle Träume sein könnten. Die neue Welt war vor allem wegen der alten möglich – aber sie sollte ihr nicht ähneln. De Chirico führte Abstraktion und Figuration zu einem Mittelweg, in dem Mehrdeutigkeit mit einem präzisen Ziel regierte – eine Herangehensweise, die den materiellen Schöpfungen des frühen Bauhauses und anderen künstlerischen Strömungen dieser Zeit ähnelt. In seinen metaphysischen Interieurs verwandeln sich gewöhnliche Gegenstände in magische Werkzeuge für mögliche Zukünfte. Die Hierophanten der Zukunft sind Wahrsagende, Orakel und – vor allem – Architekt*innen. Für de Chirico bestand die

7 wie die Bronzeleber von Piacenza, ca. 200 v. Chr. 8 Bernardo Rossellino, Freund von Leon Battista Alberti. 9 Die Bildrechte für das hier beschriebene Bild Interieur mit Fabrik I konnten bis zur Drucklegung nicht eindeutig geklärt werden. Es ist unter dem link to tinyurl.com/Giorgio-de-Chirico abrufbar (letzter Zugriff: 04.05.2021). Abbildung 4 zeigt ein ähnliches Bild des Malers mit gleichem Titel. 10 Giorgio de Chirico: »Manoscritti Eluard«. In: Andrea Cortellessa (Hg.): Giorgio de Chirico Scritti, Band 1. Mailand 2008, S. 32–33, hier: S. 612.

Giorgio de Chiricos metaphysische Stadt: Mystische Fragen zu Raum und Zeit

Anmerkungen 1 Übersetzung des Beitrags und aller Zitate aus dem Englischen von Michael Pilewski. 2 Euripides: »Orestes«. In: Gustav Ludwig (Hg.): Euripides Werke, Band 3 [1848]. Stuttgart 1853, S. 1305–1350, hier: S. 1331, Zeile 782. 3 Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Zürich / Stuttgart 1962, S. 163. 4 Vgl. Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Jerusalem 1956. 5 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Leipzig / Wien 1899, S. 96. 6 Giorgio de Chirico: »Sull’arte metafisica«. In: Valori Plastici, Nr. 4–5, 1919, S. 15–18, hier: S. 16.

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Aufgabe als Schöpfer darin, die Wirklichkeit zu enthüllen. Die erkennbare Welt, verum ipsum factum, entstand aus der Auseinandersetzung mit Zeit und Raum, die humanisiert, aber nicht domestiziert wurde. Metaphysische Kunst bedeutete, über die bequemen Oberflächen vertrauter Dinge hinausschauen zu lernen und die Tiefen nach beunruhigenden Realitäten auszuloten, die kurz vor dem Ausbruch standen. Die Quelle von de Chiricos Optimismus war seine starke Empfindung des Staunens. »Besonders nötig«, schrieb er, »ist große Sensibilität: alles in der Welt als Rätsel zu betrachten und in der Welt wie in einem riesigen Museum seltsamer Dinge zu leben.«10 Seine architektonische Vision, die mit archäologischen und psychoanalytischen Symbolen, fremden Objekten und der Schwerkraft von Körpern harmonierte, wandte sich nach innen, um im Inneren auf eine radikale Fremdartigkeit zu treffen, auf das Mythische, das Irrationale und das Begehren. In der zeitlich komplizierten Architektur der Stadt fand er neue Modelle für die Neugestaltung der Welt und ihrer vielen Zukünfte.

1922 beschrieb der heute in Vergessenheit geratene britische Historiker G. M. Trevelyan in einem faszinierenden Satz die Ereignisse von 1848 – jenen fieberhaften Moment revolutionärer Aktion, der zwar keine Früchte trug, aber unauslöschliche Spuren in der ganzen Welt hinterließ. Dieser entscheidende Moment im 19. Jahrhundert, so schrieb er, war »der Wendepunkt, an dem die Geschichte keine Wendung mehr nahm«2. Dieser Satz, so untypisch er für einen Historiker sein mag, der als eifriger Verfechter der liberalen Politik bekannt war, zeigt dennoch ein Dilemma auf, das Geschichtswissenschaftler*innen gut kennen. Was ändert sich in den Momenten, in denen sich alles ändern soll? Was bleibt bestehen? Wie kann man historischen Wandel schließlich definieren? In diesem Aufsatz möchte ich das Jahr 1919, das Gründungsjahr des Bauhauses, einem ähnlichen Gedankenexperiment unterziehen. Das Bauhaus wird fast immer als Schauplatz bahnbrechender künstlerischer Neuerfindung, Wiederaufbau und Revolution dargestellt, aber was wäre, wenn man auf Trevelyans Provokation hin die doppelte Bedeutung des Begriffs Revolution auf das Bauhaus übertragen würde? Was wäre also, wenn man die sogenannte Bauhaus-Revolution gleichzeitig als abrupte Veränderung und als Rückkehr zu einem früheren Zustand verstehen würde? Wäre es dann möglich, das Bauhaus einerseits als eine Zäsur in der Geschichte der ästhetischen Moderne und andererseits als Fortsetzung der Bräuche und Traditionen des 19. Jahrhunderts aufzufassen? Könnte dieses Dilemma Historiker*innen helfen, das Bauhaus zu entontologisieren und die mit ihm bedingungslos verbundene Neuartigkeit zu problematisieren? In einem Versuch, diese Fragen zu beantworten, möchte ich auf den August 1918 zurückblicken, als Johannes Itten, der in Wien eine Version dessen lehrte, was die erste Iteration des Vorkurses am Bauhaus werden sollte, Folgendes in sein Tagebuch schrieb: »Über den Unterricht: Anfänger müssen zur Schulung des scharfen, exakten Beobachtungsvermögens ganz genaue, photographisch genaue Zeichnungen, auch farbige, nach der Natur machen. Ich will Auge und Hand schulen und das Gedächtnis. Also Auswendiglernen des Gesehenen. Ich schule zuerst den physischen Körper, Hand, Arm, Schulter und die Sinne. Das ist Schulung des äußerlich gegebenen Menschen. Nach und nach erfolgt die Ausbildung des Verstandes. Klares, einfaches, denkendes Beobachten des sinnlich Wahrnehmbaren. Ist diese Schulung auf einer gewissen Stufe angelangt, wird der Körper in vermehrtem Masse entfesselt. Chaotische Übungen. Erkennen des Ich. Zwei Welten: das Ich und das NichtIch, eine wichtige Erkenntnis. Das Außen und Innen, Unten und Oben. Ziel ist möglichst reine und vollkommene Entfesselung, also Darstellung des Ich. Die Erkenntnis, daß nichts außen, was nicht innen ist, führt zur reinen Schulung des Innen. Zum Gegensatz von Schulung des Außen. […] Der Verstand bleibt immer die Sicherung nach unten.«3

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Trotz seiner philosophischen Übertreibung ist dieser kurze Tagebucheintrag eine ausführliche Untersuchung wert, denn Itten scheint hier gleich zwei scheinbar unvereinbare erkenntnistheoretische Ziele zu verfolgen. Erstens bekennt sich Itten, wie viele seiner reformgesinnten Zeitgenoss*innen, zu einem pädagogischen Modell, nach dem die Schulung des Körpers Vorrang vor der Schulung des Geistes hat und das aufklärerische Ideal des Verstandes nicht die treibende kognitive Kraft, sondern lediglich die »Sicherung nach unten« ist. In Anlehnung an seinen Mentor Adolf Hölzel, der seine Schüler*innen an der Stuttgarter Akademie aufforderte, täglich 1000 Federstriche zu machen, um ihre Muskeln zu kräftigen, forderte Itten seine Schüler*innen auf, ihren ganzen Körper mit Gefühl zu durchdringen, bis sie sich der Ausdrucksfähigkeit ihres Körpers voll bewusst wurden.4 Dies zeigte sich am deutlichsten in den Atem-, Summund Zeichenübungen, die er von seinen Schüler*innen am Bauhaus und anderswo verlangte. 1921 beschrieb Paul Klee Ittens Vorkurs in seinen Briefen humorvoll wie folgt: »Nachdem er einige Gänge gemacht hat, steuert er auf eine Staffelei zu, auf der ein Reißbrett mit einer Lage Schmierpapier steht. Er ergreift eine Kohle, sein Körper sammelt sich, als ob er sich mit Energien ladete, und geht dann plötzlich zweimal nacheinander los. Man sieht die Form zweier energischer Striche, senkrecht und parallel auf dem obersten Schmierbogen, die Schüler werden aufgefordert, das nachzumachen. Der Meister kontrolliert die Arbeiten, läßt es sich von einzelnen Schülern extra vormachen, kontrolliert die Haltung. Dann kommandiert er’s im Takt, dann läßt er dasselbe Exercitium stehend ausüben. Es scheint eine Art Körpermassage damit gemeint zu sein, um die Maschine auf das gefühlsmäßige Funktionieren hin zu schulen. Ähnlich werden neue elementare Formen, wie und andere mehr vor- und nachgemacht. Zum Beispiel und mit mehrfachen Erläuterungen über warum und über Ausdrucksart. Dann erzählt er etwas vom Wind, läßt einige aufstehen und den Ausdruck ihrer Empfindung bei Wind und Sturm annehmen. Nachher gibt er die Aufgabe: die Darstellung des Sturmes. Dazu läßt er etwa 10 Minuten Zeit, und kontrolliert hierauf die Erzeugnisse. Worauf er die Kritik abhält. Nach dieser Kritik wird weiter gearbeitet. Ein Blatt nach dem andern fällt abgerissen zur Erde. Manch einer arbeitet mit großer Wucht, daß gleich mehrere Blätter auf einmal verwirtschaftet werden. Nachdem sie zuletzt alle etwas müde geworden sind, läßt er die Vorunterrichtler diese Aufgabe zu weiterer Übung mit sich nach Hause tragen.«5 Man beachte, wie in diesem kurzen Abschnitt Worte durch Formen ersetzt werden. Ich habe diese Art des Denkens an anderer Stelle als »kinästhetisches Wissen« bezeichnet – eine nicht propositionale, nicht sprachliche Art des Wissens, von der angenommen wird, dass sie durch die Bewegungen des Körpers erlangt wird.6 Die Vorstellung, dass es eine alternative Art des Denkens geben könnte, die sich nicht auf die abstrakten Funktionsweisen des Geists beschränken lässt, hatte es schon früher in verschiedenen Formen gegeben, aber die Idee gewann Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum eine neue Aktualität und eine andere Tragweite.7 Entscheidend an dieser Entwicklung war die vom herausragenden deutschen Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz propagierte Differenzierung zwischen Wissen – propositionalen, diskursiven und konzeptuellen Erkenntnissen, die konventionell als Ideal der strengen Naturwissenschaften verstanden wurden – und Kennen, also nicht diskursiven, nicht konzeptuellen Erkenntnissen, die durch Erfahrung gewonnen wurden.8 Darüber hinaus vermutete Helmholtz, dass Kennen das Potenzial habe, eines Tages über

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eine ähnliche Gesetzlichkeit wie Wissen zu verfügen.9 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts versuchte ein Reformer nach dem anderen, das Potenzial zu realisieren, das Helmholtz dem Kennen zugeschrieben hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden dann die Lehrpläne der Schulen nach dem Vorbild Johann Heinrich Pestalozzis überarbeitet, sodass den Kindern etwas namens Formenlehre beigebracht wurde; Bilderbücher gewannen an Bedeutung; und eine Methode aus der Mitte des Jahrhunderts, die Stigmografie, wurde wiederbelebt – eine Methode, die von der Annahme ausgeht, dass junge Schüler*innen besser dran seien, Formen vor dem Wort lesen und schreiben zu lernen (  Abb. 1).10 (Itten, es sei hier daran erinnert, begann seine Karriere 1908 als Grundschullehrer in einem Schweizer Dorf.) Zu dieser Zeit wurden auch die ersten Bildungsprogramme in deutschen Museen eingeführt, im Glauben an die Übermacht des Bildes über die Schrift; und Universitätsstudent*innen, die, so befürchteten die Professoren, nicht mehr in den Feinheiten der klassischen Tradition geschult waren, wurden mittels Diavorträgen unterrichtet.11 Noch relevanter ist in diesem Zusammenhang, dass, gerade als diese neuen Lehrmethoden das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts bedrohten, eine neue Art von Kunstschule entstand und begann, die Beaux-Arts-Tradition infrage zu stellen, die in Europa und darüber hinaus seit mindestens dem Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschend gewesen war. Diese Geschichte ist fast völlig in Vergessenheit geraten, aber die Seiten der zeitgenössischen Zeitschriften sind voll von Anzeigen für diese neue Art von Schule, für die das Bauhaus definitiv nicht das erste und wohl auch nicht das letzte Beispiel war.12 Zu den größten und einflussreichsten gehörte die Debschitz-Schule, die 1902 von den Künstlern Hermann Obrist und Wilhelm von Debschitz in München gegründet wurde.13 Im Gegensatz zu den akademischen Zeichenmethoden, die auf den Prinzipien des Kopierens und Nachahmens beruhen, stützte sich die neue Zeichentechnik, die in der Debschitz-Schule entwickelt wurde, auf die unwillkürlichen Bewegungen des menschlichen Körpers. Hier, wie auch an anderen vergleichbaren Schulen, wurde der Lehrplan nicht in Malerei, Skulptur und Architektur unterteilt, sondern in einem einjährigen Vorkurs konsolidiert, dessen Ziel es war, die Schüler*innen in Form, Linie, Farbe und Raum – also in der Gestaltung – auszubilden.14 Dieser neuen Gestaltungslehre, die stark an die sich gleichzeitig an den Universitäten im deutschsprachigen Raum entwickelnde Disziplin der experimentellen Psychologie angelehnt war, lag die Annahme zugrunde, dass jede Form, Linie oder Farbe genau einem Gefühl zugeordnet werden könne, weil der Körper auf Reize in vorhersehbarer Weise reagiere. Von Debschitz benutzte zum Beispiel ein Diagramm, um seinen Student*innen zu zeigen, wie die emotionale Wirkung einer Linie durch kleine Veränderungen an ihr manipuliert werden kann (  Abb. 2). Wollte Bildung eine bestimmte Art von Menschen – männlich, bürgerlich und evangelisch – formen, deren Innerlichkeit durch eine genaue Lektüre des Klassizismus fokussiert und deren Wahrneh-

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 Abb. 1 Zeichenübungen für Kinder unterschiedlichen Alters

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mung geschärft werden sollte, so strebte diese Übungsform danach, eine andere Art von Menschen zu kultivieren, deren Gefühls- und Ausdrucksfähigkeit durch eine erhöhte Empfänglichkeit für Form, Farbe und Linie geschärft werden sollte.15 Itten war nicht der einzige am Bauhaus, der bewies, dass er an kinästhetisches Wissen glaubte. Man könnte sogar behaupten, dass trotz aller Meinungsverschiedenheiten unter seinen zahlreichen Figuren und trotz des Kontrastes zwischen dem frühen und dem späten Bauhaus kinästhetisches Wissen an der Schule ein gemeinsamer Nenner blieb – auch nachdem dieses alternative erkenntnistheoretische Prinzip an anderer Stelle diskreditiert worden war. Wie Peter Galison in seinem Aufsatz über Rudolf Carnaps Besuche an der Schule in den späten 1920er-Jahren gezeigt hat, mag der Philosoph zwar viele Ähnlichkeiten zwischen dem logischen Empirismus und dem Bauhaus-Denken gefunden haben, doch war er erstaunt über die Tendenz, die er an der Schule beobachtete, Formen, Linien und Farben einen emotionalen Wert zuzuweisen.16 Bauhäusler*innen – nicht nur die Schüler*innen von Itten, László Moholy-Nagy und Josef Albers, die den Vorkurs unterrichteten, sondern auch die von Wassily Kandinsky und Klee, die diesen Kurs während des größten Teils der Geschichte der Schule mit formtheoretischen Vorträgen verfolgte, akzeptierten implizit, dass es eine Korrespondenz zwischen physischem Reiz und psychischem Empfinden gab. Eine Version von Kandinskys Fragebogen, in dem die Schüler*innen aufgefordert wurden, Grundformen mit Grundfarben zu korrelieren, veranschaulicht diese Annahme: Randbemerkungen zeigen, dass das Dreieck mit Gelb und der Kreis mit Blau übereinstimmen sollte (  Abb. 3). Sogar Walter Gropius, dem eine solche psychologische Sprache normalerweise gleichgültig war, argumentierte 1923: »Rot z.B. löst andere Empfindungen in uns aus als Blau oder Gelb, runde Formen sprechen uns anders an, als spitze oder zackige.«17 Diese Geschichte ist jedoch komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Das Werk der Bauhäusler*innen manifestiert nicht nur die erkenntnistheoretische Tendenz, die ich als kinästhetisches Wissen bezeichnet habe – eine Art von Wissen, das durch Hände statt durch den Verstand und durch Bild und Form statt durch Text und Wort entsteht. Itten, um auf sein Zitat am Anfang dieses Aufsatzes zurückzukommen, beschwor im gleichen Atemzug all jene Techniken herauf, die man mit der Tradition der Bildung und mit kunstwissenschaftlicher Ausbildung in Verbindung bringen möchte: fotografisch korrektes Zeichnen, Auswendiglernen und vor allem die Schulung des Inneren durch eine rigorose Disziplinierung der Wahrnehmung. Ist es also nicht naheliegend zu vermuten, dass die am Bauhaus entwickelte Pädagogik ebenso rückwärts wie vorwärts blickend gewesen sein könnte? Itten, so stellt sich heraus, hatte keine Skrupel, die Praktiken der akademischen Ausbildung zu übernehmen und anzupassen. Diese kombinierte er regelmäßig mit östlicher Mystik, um an sich selbst Experimente durchzuführen und so seine Wahrnehmung zu schärfen: Laut seinen Tagebüchern beobachtete er einen Gegenstand »fünf Minuten lang genau in allen seinen Einzelheiten«, reproduzierte ihn am nächsten Tag aus dem

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 Abb. 2 Schema einer Haferhülse mit acht verschiedenen Wirkungen

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Gedächtnis und verglich schließlich die Zeichnung mit dem ursprünglichen Gegenstand. »Schulung der Beobachtungsgabe, Aufmerksamkeit, Einbildungskraft, Konzentrationskraft, kurz, des Gedächtnisses. Ich muss auch meine Schüler mehr auswendig zeichnen lassen.«18 Am Bauhaus ließ er seine Schüler*innen eine Woche lang jeden Morgen eine halbe Stunde lang einen Topffarn zeichnen und ließ sie am Ende der Woche den Farn aus dem Gedächtnis reproduzieren.19 In anderen Fällen wandte er akademische Techniken noch offener an. Zu den Aufgaben, die Itten regelmäßig im Unterricht verwendete, gehörte zum Beispiel die Analyse von Gemälden alter Meister: Mithilfe eines Skioptikons und Schwarz-Weiß-Laternbildern projizierte er ein Gemälde an die Wand, schaltete den Projektor aus und bat seine Schüler*innen, die Proportionen, die formale Anordnung usw. des Gemäldes aus dem Gedächtnis zu untersuchen.20 Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass Itten nicht wie in der akademischen Tradition das Kopieren oder Imitieren eines äußeren Modells (wie etwa einer Zeichnung, einer Skulptur oder eines Architekturfragments) anregte. Ebensowenig befürwortete er eine Technik, bei der die Student*innen die Triebe ihres inneren Gefühls frei zum Ausdruck bringen sollten. Stattdessen passte Itten die Prinzipien des Bildungsideals des 19. Jahrhunderts an, um eine Lehrmethode zu formulieren, bei der das innere Empfinden nur beachtet wurde, um dann rigoros geschult zu werden; und das Ich nur entfesselt wurde, um durch aufmerksame Konzentration neu ausgerichtet zu werden. Um die von Itten selbst immer wieder beschworene Objekt-Subjekt-Dichotomie zu nutzen: Es handelte sich um ein Lehrprogramm, das die Schulung des subjektiven Gefühls mit objektiver Strenge beinhaltete. Mit anderen Worten: Am Bauhaus wurde das kinästhetische Wissen der Bildung des 19. Jahrhunderts zugeordnet. Trotz ihrer Meinungsunterschiede hatten die Bauhaus-Meister*innen zum Beispiel das gemeinsame Ziel, körperliche Empfindungen strengen Protokollen zu unterwerfen, damit sie zuverlässig als Bausteine eines legitimen Wissens dienen konnten. Die Schüler*innen wurden während ihrer gesamten Ausbildung mit solchen Protokollen konfrontiert. In einer Aufgabe, die Kandinsky beispielsweise in seinen Kursen wiederholt verwendete, erhielten seine Schüler*innen die Anweisung zur Nutzung einer »gf [Grundfläche] 30 × 30 [cm] in 9 Quadrate geteilt […]. 18 kl. flächen 5 × 10 [cm]; darauf – 3 pr[imär], 3 sek[undär], 3 unbunte; zweck – ausgleich o–u [oben und unten], betonung des zentrums, s-w [schwarz-weiß] – akzente, gr[au] – vermittlung«21 (  Abb. 4). In Vorwegnahme des Neun-Quadrat-Raster-Problems, das in der Nachkriegszeit eine Hauptstütze der Architekturausbildung in Nordamerika sein sollte, bot diese Übung den Schüler*innen nicht eine freie Fläche, auf der sie sich mit uneingeschränkter Freiheit ausdrücken konnten, sondern vielmehr eine Reihe strenger Einschränkungen, die sie zwangen, über eine stark begrenzte Anzahl formaler Möglichkeiten nachzudenken. Denn wie viele Rechtecke von 5 × 10 Zentimetern konnten in ein Quadrat von 30 × 30 Zentimeter passen? Das anzuwendende Verfahren war klar: alle Iterationen, die innerhalb der gegebenen Beschränkungen möglich waren, in Betracht ziehen; die Wirkung jeder Komposition auf sich selbst testen und schließlich ein Urteil über die bestmögliche Komposition fällen. Das pädagogische Ziel bestand hier nicht darin, eine korrekte Lösung zu finden, sondern vielmehr darin, sicherzustellen, dass die Schüler*innen jedes Mal die Protokolle genau befolgten. Die in der Experimentalpsychologie entwickelten Techniken der Gestaltung wurden somit als ein Prozess definiert, bei dem die zufällige Selbstbeobachtung mithilfe streng definierter Verfahren in eine methodische innere Wahrnehmung überführt wurde. Doch wie im Laboratorium der Experimentalpsychologie war auch am Bauhaus die Grenze zwischen Introspektion und sozialer Handlung verschwommen. Der Prozess der methodischen Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Erfahrung wurde in der

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 Abb. 3 Fragebogen, ausgefüllt von unbekannter Hand aus Wassily Kandinskys WandmalereiWerkstatt, 1922/23

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 Abb. 4 Übung aus Kandinskys Kurs zur Formenlehre. Oben und unten links: Johannes Jacobus van der Linden, 1930/31; rechts: Hans Thiemann, Betonung des Zentrums, Ausgleich oben und unten

Tat fast immer in der Öffentlichkeit realisiert. So wie Lehrer*innen im Zeichenunterricht der Sekundarstufe mit stigmografischen Methoden die formalistische Übung vor einem Klassenzimmer voller Kinder durchführten, kombinierten die Bauhaus-Meister Vorträge mit Vorführungen und Übungen im Unterricht, wobei häufig Requisiten zum Einsatz kamen. Die Schülerin Ursula Schuh erzählte, Kandinsky habe »eine große Anzahl verschiedenfarbiger Rechtecke, Quadrate, Scheiben und Dreiecke mitgebracht, die er uns in verschiedenen Kombinationen vorhält, um unser Sehvermögen zu prüfen und zu bilden.«22 (  Abb. 5) Nach dem Verlassen des Bauhauses setzten Max Bill an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und Albers am Black Mountain College und in Yale die Aufführungspraxis im Klassenzimmer mit ähnlichen Lehrmitteln fort (  Abb. 6). Klee entwickelte andere, aber nicht weniger strenge Methoden zur Schulung der Introspektion. Während Kandinskys in sich geschlossene Aufgabenstellungen die durchzuführenden Operationen Schritt für Schritt vorgaben, wandte Klee eine ebenso rigorose Methode des Automatismus an, mit dem Ziel, Serien zu produzieren. Er benutzte mathematische Formeln und geometrische Konstruktionen, die mit einem Lineal und einem Zirkel akribisch ausgeführt wurden, um formale Iterationen automatisch zu erzeugen. Sowohl in seinen eigenen Vorlesungsnotizen als auch in den No-

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tizen der Student*innen aus seinen Kursen über Form und Farbe finden sich zahlreiche Beispiele für eine Technik, bei der Farbgitter mithilfe von Zahlenmatrizen verändert wurden – gespiegelt, im oder gegen den Uhrzeigersinn gedreht, horizontal oder vertikal invertiert oder vollständig transformiert. Formale Variationen wurden jeweils nicht willkürlich, sondern nach einem mühsam ausgearbeiteten Regelwerk erzeugt (das man anachronistisch als Algorithmen bezeichnen könnte). Daraus folgte, dass das Raster in Klees Werk keine Form aus Selbstzweck war, sondern ein Instrument, das die disziplinierte Manipulation anderer Formen lenkte. Als Meyers konstruktivistische Tendenzen das Lehrprogramm der Schule übernahmen, schrieb Klee 1928 eine leidenschaftliche Rechtfertigung der Intuition, aber die Privilegierung der Intuition bedeute nicht, dem inneren Ausdruck unbegrenzt freien Lauf zu lassen. Vielmehr bezeichnete Klee in Anlehnung an Helmholtz die Kunst als »exakte Forschung«: »auch der kunst ist zu exakter forschung raum genug gegeben und die tore dahin stehen seit einiger zeit offen. was für die musik schon bis zum ablauf des achtzehnten jahrhunderts getan ist, bleibt auf dem bildnerischen gebiet wenigstens beginn. mathematik und physik liefern dazu die handhabe in form von regeln für die innehaltung und für die abweichung. heilsam ist hier der zwang, sich zunächst mit den funktionen zu befassen und zunächst nicht mit der fertigen form. algebraische, geometrische aufgaben, mechanische aufgaben sind schulungsmomente in der richtung zum wesentlichen, zum funktionellen gegenüber dem impressiven. man lernt hinter die fassade sehen, ein ding an der wurzel fassen. […] lernt bewegung durch logischen zusammenhang organisieren. lernt logik. lernt organismus. […] heiss nur zu innerste innerlichkeit.«23 Klees Worte können als Antwort auf die Frage verstanden werden, die Gropius zwei Jahrzehnte später in Scope of Total Architecture stellte: Kann es eine »Wissenschaft der Gestaltung« geben?24 Im Gegensatz zu den folgenden Kritiken des Funktionalismus war dies keine Wissenschaft, die sich bedingungslos den Naturwissenschaften verschrieb, sondern eine neue Wissenschaft der Erfahrung, deren strenge Maßstäbe sich nur an die Naturwissenschaften anlehnten. Im Hinblick auf Klees Beharren auf systematischer Intuition ist zu beachten, dass die Herstellung formaler Iterationen zwar durch eine Art Automatismus ermöglicht wurde – sei es durch ein Rezept, eine mathematische Formel oder ein geometrisches Muster –, dass aber die Entscheidung über die endgültige Form letztlich vom Urteilsvermögen kommen sollte, jenem von der Aufklärung so sehr geschätzten Urteilsvermögen, das den Menschen von Tieren und Maschinen unterschied. Vor diesem Hintergrund sind die grandiosen Aussagen der Bauhaus-Meister*innen über die Erschaffung einer neuen Fachrichtung für bare Münze zu nehmen. Als Gropius 1937 sein eineinhalb Jahrzehnte zuvor entstandenes Bullaugen-Lehrplandiagramm wieder aufgriff, postulierte er die Gestaltungslehre als Garant einer Einheit, die durch fachspezifisches Wissen bedroht sei (  Abb. 7). Die Bauhaus-Lehre würde, wenn sie, wie er vorschlug, auf allen Ebenen des Bildungssystems angeboten würde, »konzentrisch wachsen, wie die Jahresringe eines Baumes, das Ganze von Anfang an umfassen und es gleichzeitig allmählich vertiefen und erweitern«25. Das Lehrplandiagramm kann also auch als ein Diagramm des Selbstseins gelesen werden. In Anlehnung an die gleiche konzentrische Form argumentierte Moholy-Nagy 1929 ebenfalls, dass der moderne Mensch – oder, wie er ihn nannte, »der sektorhafte Mensch« – durch Spezialisierung segmentiert worden sei (  Abb. 8).26 Dem Bauhaus fiel die Aufgabe zu, eine Form der Bildung zu entwickeln, die den Menschen wieder »ganz« machen würde, indem sie dafür sorgte, dass dieser Mensch organisch aus seinem primitiven Wesenskern wuchs.

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 Abb. 5 Von Kandinsky während der Vorlesungen verwendete Requisiten für Kontraststudien und begleitende Vorlesungsnotizen von Erich Comeriner

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Natürlich war ein solches Toben gegen die durch die kapitalistische Arbeitsteilung auferlegte Spezialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gerade neu. Aber genau darum geht es mir: Diese konzentrischen Modelle des Selbstseins, die am Bauhaus entworfen wurden, unterschieden sich in der Tat nicht so sehr von denen eines Wilhelm von Humboldt, dessen Vorstellung von Bildung darauf abzielte, das Selbst zu einer willenszentrierten Festung zu formen, die dem Ansturm äußerer Empfindungen widersteht, oder denen Johann Gottlieb Fichtes, der eine introspektive, kontemplative und einmalig deutsche Innerlichkeit als Absolutum postulierte.27 Es war auch nicht unähnlich dem Modell des Ichs, das fast ein Jahrhundert später von dem Psychologen Wilhelm Wundt vorgelegt wurde, der ein Bildungsideal aus der Wende zum 19. Jahrhundert wieder aufleben ließ und das Ich als »Gesamtheit der Wirkungen«28 vorstellte, das durch Wahrnehmung und den Vorgang der Apperzeption zusammengehalten wird: »Aus der Fülle der eigenen Handlungen werden die inneren, die Acte der Apperception, nothwendig wieder als die ursprünglicheren und unmittelbareren ausgesondert. […] So bleibt nothwendig als letzte Stufe dieser Entwicklung die übrig, dass das Individuum sein eigenstes Wesen in der reinen Apperception erkennt, d. h. in der dem übrigen Bewusstseinsinhalte gegenübergestellten inneren Willensthätigkeit. Das Ich empfindet sich zu jeder Zeit seines Lebens als dasselbe, weil es die Thätigkeit der Apperception als eine vollkommen stetige, in sich gleichartige und zeitlich zusammenhängende auffasst. […] Aber je vollkommener der Wille von […] äusseren Einflüssen sich löst, um so näher kommt doch die Auffassung jenem idealen Ziel des persönlichen Daseins, wo das ganze innere Leben des Menschen als sein eigenes Werk erscheint und er sich daher im Guten

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 Abb. 6 Max Bill hält einen Vortrag an der Hochschule für Gestaltung in Ulm mit einem Lehrmittel, wie es Kandinsky am Bauhaus zum Experimentieren mit Nachbildern verwendete, 1956

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 Abb. 8 Darstellung des Selbstseins

wie im Schlimmen als der Urheber seiner Gedanken und Affecte und aller äusseren Folgen, die aus ihnen hervorgehen mögen, betrachtet. […] Diese Einheit von Fühlen, Denken und Wollen, in der wieder der Wille als der Träger aller übrigen Elemente erscheint, ist die einzelne Persönlichkeit.29 Das beharrlich zentristische Modell des Ichs, das die Bauhäusler*innen für den »neuen Menschen« entwarfen, war also unerwartet rückschrittlich und im Geiste näher am 19. Jahrhundert, als man zunächst annehmen mag. Selbst wenn man sich das erkenntnistheoretische Projekt des kinästhetischen Wissens zu eigen machte, strebten die Lehrmethoden, die innerhalb der modernen Gestaltungsausbildung entwickelt wurden, danach, das verkümmernde Bildungsideal zu rehabilitieren – nur eben nicht mit Wissen, sondern mit Kennen. Sobald ihr anachronistischer Charakter erkannt ist, gewinnt die BauhausPädagogik eine neue Bedeutung, genauso wie Gropius’ Beharren auf der Zentralität von Raum und Architektur (oder richtiger: Bau) im Bauhaus-Betrieb. Als Gropius argumentierte, dass der Raumbegriff für jeden Aspekt des Lehrplans zentral sei und als das Medium diene, das die einzelnen Werkstätten der Schule miteinander verbinde, stellte er nicht einfach die Architektur, den Bereich, in dem er selbst ausgebildet worden war, vor andere. Bau und Raum (den die meisten dank Theoretiker*innen wie August Schmarsow als das Wesen der Architektur des späten 19. Jahrhunderts erkennen würden) hatten hier eine wesentlich umfassendere erkenntnistheoretische Bedeutung.30 Wie Gropius in seinen Vorlesungsnotizen von 1921 formulierte, war die künstlerische Arbeit lediglich das Mittel, mit dem wir uns selbst aufbauen.31 In diesem Sinne bedeutete Bau im Namen der Schule mehr als nur Architektur. »Gropius scheint das sehr bewußt, und er erkennt darin das Manko der Akademien, die die Menschenbildung außer acht lassen«, schrieb Oskar Schlemmer 1921 in einem Brief und begrüßte, »daß das Bauhaus nach ganz anderer Seite hin ›baut‹ als erwartet wird, nämlich: den Menschen.«32 Was für eine Zäsur war das Bauhaus also in der Geschichte der ästhetischen Moderne? Wie neuartig waren der »neue Mann« und die »neue Frau« des Bauhauses? Wie stabil waren diese Kategorien, die sich in der Wissenschaft zu ontologischen Begriffen verfestigt haben? Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Geschichte wird es möglich

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 Abb. 7 Bauhaus-Lehrplan, 1922

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Anmerkungen Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur 1 Dieser Aufsatz erschien auf Englisch: »1919: The Gesammtheit der Wissenschaft. Rede zum GeburtsTurning Point at Which History Failed to Turn«. In: Ines Weizman (Hg.): Traces of the Bauhaus feste des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich across 100 Years. Leipzig 2019, S. 210–225. Übersetvon Baden und zur akademischen Preisvertheilung zung des Beitrags und aller Zitate aus dem Engliam 22. November 1862. Heidelberg 1862, S. 16. schen von Michael Pilewski. 9 Aber er gab nie an, auf welche Weise, vgl. Helm2 George Macaulay Trevelyan: British History in holtz 1871, S. 92–93. the Nineteenth Century. London 1923 (4. Auflage), 10 Der Pädagoge Carl Goetze griff Helmholtz’ Differenzierung zwischen Wissen und Kennen auf in S. 292. 3 Tagebucheintrag vom August 1918. In: Willy Rotz»Zeichnen und Formen«. In: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages ler (Hg.): Johannes Itten. Werke und Schriften. Züin Dresden am 28. und 29. September 1901. Leipzig rich 1972, S. 60. 4 Zu Hölzels Zeichenübungen siehe Adolf Hölzel: 1902, S. 145–146; und in »Zeichnen und Formen«. »Die Schule des Künstlers«. In: Der Pelikan, Nr. 11, In: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen 1921, S. 7–8. der Kunsterziehungstage in Dresden, Weimar und 5 Brief von Paul an Lily Klee, 16.01.1921. In: Felix Hamburg (mit einer Einleitung von Ludwig Pallat). Klee (Hg.): Paul Klee. Briefe an die Familie, 1899– Leipzig 1929, S. 37–38. Ein Beispiel der Formenlehre findet sich in Adolf Stuhlmann: Zeichenunter1940, Band 2. Köln 1979, S. 969–970. 6 Vgl. Zeynep Çelik Alexander: Kinaesthetic Knowing: richt und Formenlehre in der Elementarclasse. HamAesthetics, Epistemology, Modern Design. Chicago/ burg 1870. Die Stigmografie wurde von Franz Carl London 2017. Hillardt entwickelt, vgl. ders.: Stigmographie. Das 7 Ich denke hier an die alternativen Denkweisen, Schreiben und Zeichnen nach Punkten. Eine neue Methode. Kohlmarkt 1846. die Pamela Smith untersucht hat, vgl. Pamela Smith: The Body of the Artisan: Art and Experience 11 Siehe etwa die Hamburger Kunsthalle und Alfred in the Scientific Revolution. Chicago 2004; Matthew Lichtwark, der die Gespräche veröffentlichte, die C. Hunter: Wicked Intelligence: Visual Art and the er mit Kindern vor den Kunstwerken im Museum Science of Experiment in Restoration London. Chiführte (Alfred Lichtwark: Drei Programme. Berlin cago 2013; Otto Sibum: »Working Experiments: A 1902). Zum Aufsatz über die Vorzüge des DiavorHistory of Gestural Knowledge«. In: Cambridge trags ist der folgende Text des deutschen KunsthisReview, Nr. 116.2325, Mai 1995, S. 25–37. torikers Hermann Grimm aufschlussreich: »Die 8 Vgl. Hermann von Helmholtz: »Die neueren FortUmgestaltung der Universitätsvorlesungen über schritte in der Theorie des Sehens« [1868]. In: neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung Ders.: Populäre Wissenschaftliche Vorträge. Braundes Skioptikons« [1892/93]. In: Ders.: Beiträge zur schweig 1871, S. 102–106; Hermann von Helmholtz: deutschen Culturgeschichte. Berlin 1897, S. 276–395.

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zu argumentieren, dass sich das vom Bauhaus angestrebte Modell des Ichs asymptotisch von den beiden um die Jahrhundertwende verfügbaren Modellen entfernte. Das am Bauhaus angestrebte Modell sollte nicht dem idealistischen Modell entsprechen, das Humboldt und Fichte, um zwei der bedeutendsten Theoretiker der Bildungstradition zu nennen, entwarfen. Es sollte auch nicht einem Modell des Selbstseins gleichen, das sich im Zuge dieser neuen Ästhetik leicht selbst gestalten und umgestalten konnte. Wenn es am Bauhaus eine neue Fachrichtung gab, dann eine, die ein prekäres Gleichgewicht zwischen der scheinbaren Stabilität des Ersteren und der gepriesenen Wankelmütigkeit des Letzteren anstrebte. So gesehen könnte 1919 nur ein weiterer Wendepunkt gewesen sein, an dem die Geschichte schlichtweg keine Wende nahm.

1919: Der Wendepunkt, an dem die Geschichte keine Wendung mehr nahm

Wesentliche zeichnen sollen; meist die Bewegung, die Hauptlinie, die Kurve. […] Dann zeigt er die weinende Maria Magdalena vom Grünewald-Altar; die Schüler bemühen sich, aus dem sehr Komplizierten ein Wesentliches zu lösen. Itten sieht die Versuche und donnert: Wenn Sie ein künstlerisches Empfinden hätten, so müßten Sie vor dieser erhabenen Darstellung des Weinens, das das Weinen der Welt wäre, nicht zeichnen, sondern dasitzen und in Weinen zerfließen. Spricht’s und schlägt die Tür zu!« Oskar Schlemmer: »Brief an Otto Meyer-Amden, 16.05.1921«. In: Tut Schlemmer (Hg.): Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher. München 1958, S. 112–113, hier: S. 112. Eine ähnliche Schilderung findet sich in Felix Klee: »Meine Erinnerungen an das Bauhaus Weimar«. In: Eckhard Neumann (Hg.): Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse [1971]. Köln 1985, S. 80–82, hier: S. 81. 21 »Aufgaben – Sommerferien 1928«, Getty Research Institute, Wassily Kandinsky papers, Series I. Bauhaus teaching materials. Berlin / Dessau 1925– 1933, box 1, folder 1, page 21. 22 Ursula Schuh: »Im Klassenzimmer Kandinskys«. In: Eckhard Neumann (Hg.): Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse [1971]. Köln 1985, S. 240–241, hier: S. 241. 23 Paul Klee: »Exakte Versuche im Bereich der Kunst«. In: bauhaus, Nr. 2/3, 1928, S. 17. 24 Walter Gropius: Scope of Total Architecture. New York 1943, S. 30. 25 Walter Gropius: »Education toward Creative Design«. In: American Architect and Architecture, Nr. 150, Mai 1937, S. 29–30, hier: S. 30. 26 László Moholy-Nagy: Von Material zur Architektur (Bauhausbücher, Band 14). München 1929, S. 10–11. 27 Vgl. etwa Wilhelm von Humboldt: »Dreiundsechzigster Brief. Tegel, im Oktober 1826«. In: Briefe von Wilhelm von Humboldt an eine Freundin, Band 1. Leipzig 1848 (2. Auflage), S. 251ff.; Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Leipzig 1794. 28 Wilhelm Wundt: »Sechzehnte Vorlesung«. In: Ders.: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele [1863]. Hamburg / Leipzig 1906, S. 271. 29 Wilhelm Wundt: »Das Ich und die Persönlichkeit«. In: Ders.: Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens [1886]. Stuttgart 1892, S. 445–458, hier: S. 447–448. Eine ähnliche Idee findet sich etwa zur gleichen Zeit bei Georg Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«. In: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Leipzig 1911, S. 248. 30 Vgl. August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Leipzig 1894. 31 Vgl. die Transkription von Walter Gropius’ Raumkunde (Bauhaus-Archiv Berlin, GS 20, Mappe 21, 1). 32 »Brief von Oskar Schlemmer an Otto Meyer, 03.02.1921«. In: Tut Schlemmer (Hg.): Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher. München 1958, S. 105.

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12 Für eine kurze Geschichte dieser Schulen siehe Hans Maria Wingler (Hg.): Kunstschulreform 1900–1933. Berlin 1977. 13 Die Debschitz-Schule hat in der Wissenschaft wenig Beachtung gefunden. Die umfassendste Geschichte der Schule findet sich in der Magisterarbeit von Dagmar Rinker: Die Lehr- und Versuchsateliers für angewandte und freie Kunst, Debschitz-Schule, München 1902–1914. Magisterarbeit, Universität München, 1993. Weitere neuere Abhandlungen über die Schule sind etwa: Helga Schmoll gen. Eisenwerth: »Die Münchner Debschitz-Schule«. In: Hans M. Wingler (Hg.): Kunstschulreform, 1900–1933. Berlin 1977, S. 66–82; Beate Ziegert: »The Debschitz School, Munich: 1902–1914«. In: Design Issues, Nr. 3.1, Frühjahr 1986, S. 28–42; Beate Ziegert: The Debschitz School Munich: 1902–1904. Masterarbeit, Syracuse University, 1985; und Norbert Götz: »Die DebschitzSchule Hohenzollernstraße 21«. In: Helmut Bauer/ Elisabeth Tworek (Hg.): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. München 1998, S. 236–255. Vgl. auch Çelik Alexander 2017, S. 131–166. 14 Vgl. Wilhelm von Debschitz: »Eine Methode des Kunstunterrichts«. In: Dekorative Kunst, Nr. 7, März 1904, S. 209–227; Debschitz, Wilhelm: »Lehren und Lernen in der bildenden Kunst«. In: Süddeutsche Monatshefte, März 1907, S. 266–279. 15 Es sollte hier erwähnt werden, dass diese alternative Subjektivität als besonders geeignet für Frauen befunden wurde, die diese Schulen für Gestaltung besuchten. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte hatten Frauen nur begrenzten Zugang zu den konventionellen Kunstakademien. Während die École des Beaux-Arts seit 1897 Frauen aufnahm und ihnen damit ermöglichte, sich 1903 um den Prix de Rome zu bewerben, blieben die staatlichen Hochschulen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges für deutsche Frauen weitgehend unzugänglich. Laut der Historikerin Edith Krull nahm die Münchner Akademie zwischen 1813 und 1840 jährlich eine bis fünf Studentinnen auf, die jedoch als Ehrenmitglieder und Dilettantinnen galten. Edith Krull: Kunst von Frauen. Das Berufsbild der bildenden Künstlerinnen in vier Jahrhunderten. Frankfurt am Main 1984, S. 13. 16 Peter Galison: »Aufbau / Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism«. In: Critical Inquiry, Nr. 16.4, Sommer 1990, S. 736. 17 Walter Gropius: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar. München 1923, S. 8. 18 »Notizbuch, Flirsch, zwischen 9. und 19. Juli 1918«. In: Eva Badura-Triska (Hg.): Johannes Itten Tagebücher Stuttgart 1913–1916, Wien 1916–1919. Wien 1990, S. 300–304, hier: S. 302. 19 Johannes Itten: Mein Vorkurs am Bauhaus. Ravensburg 1963, S. 115. 20 Johannes Itten: Design and Form: The Basic Course at the Bauhaus. New York 1964, S. 9. Schlemmer beschrieb Ittens Methode so: »Itten […] zeigt Lichtbilder, wonach die Schüler dieses oder jenes

László Moholy-Nagy (1895–1946) verwendete ein Selbstbildnis und eine Landschaftszeichnung, die er mit Anfang 20 angefertigt hatte, als Abbildungen für seinen autobiografischen Text »Abstract of an Artist«, den er an seinem Lebensende verfasste und der posthum in einer überarbeiteten Ausgabe von The New Vision von 1947 veröffentlicht wurde (  Abb. 1, 2).2 Über sein Frühwerk schrieb er: »Der junge Maler geht über Dilettantismus, bloßes unbewusstes Kritzeln und schlafwandlerische Wiederholung von Beispielen hinaus, wenn er beginnt, Probleme für sich selbst zu entdecken und dann versucht, diese zu lösen.«3 Im Rückblick auf diese Bilder erzählte Moholy-Nagy, wie seine Anlehnung an die Zeichnungen Vincent van Goghs ihn dazu brachte, sein erstes »Problem« zu identifizieren und zu artikulieren. Wie können Linien, die auf einem Blatt angeordnet sind, die Qualitäten des dreidimensionalen Raumes vermitteln? Die Auseinandersetzung mit diesem Grundproblem verlieh seinen ersten Skizzen Konsistenz. Als Moholy-Nagy mehr als zwei Jahrzehnte später sein Frühwerk noch einmal betrachtete, erkannte er ein Bemühen, das »über die analytische Absicht hinausging«. Die Striche, die er auf die Seite setzte, artikulierten rhythmische Netzwerke und »zeigten weniger Objekte als [seine] Begeisterung für sie«.4 Das Selbstbildnis und die Landschaft, die ausgewählt wurden, um diese Ideen in dem Aufsatz zu illustrieren, fallen ungefähr mit der Gründung des Bauhauses in Weimar im Jahr 1919 zusammen. Doch war Moholy-Nagy bis dahin weder in der Kunstszene angekommen, noch hatte er sich der renommierten Schule angeschlossen. Er war in jenem Jahr in Budapest kaum 24 Jahre alt und beschäftigte sich noch damit, was es für ihn bedeutete, Künstler zu sein. Trotz seiner Jugend hatte er bereits beim Militär gedient und war auch ein Veteran des Ersten Weltkrieges. Über Moholy-Nagys Zeit beim Militär ist wenig bekannt, aber es existiert ein formelles Porträt von ihm in voller österreichisch-ungarischer Uniform (  Abb. 3). Es wurde zweifellos in einem Studio aufgenommen, das sich auf die Herstellung von Erinnerungsstücken für Familien spezialisiert hatte, die ihre Söhne in den Krieg schickten.5 In Familienunterlagen ist eine Karte zu finden, die Moholy-Nagy gezeichnet hat, wahrscheinlich im Jahr 1917. Das Blatt zeigt ein Gebiet in der heutigen Ukraine in der Nähe der Karpaten, wo er gekämpft hatte. Auf der Rückseite hielt er in einer Tabelle Zahlenangaben fest, die die erforderlichen Daten für die Berechnung der Flugbahn der Artilleriewaffe seiner Einheit, einer tonnenschweren Feldhaubitze, darstellten, die zum Zielen einen Berghang hinaufgeschleppt werden musste, um dem Feind größtmöglichen Schaden zuzufügen.6 Es gibt nur wenige andere offizielle Dokumente aus seiner Zeit im Krieg, aber das ist wenig überraschend.7 Die Karte und die Tabellen, die er anfertigte, waren weder Kunstwerke noch Souvenirs; sie seien bei seinen Vorgesetzten abgegeben worden, um die Ziele seiner Einheit zu fördern. Moholy-Nagy wurde 1917 verwundet und verbrachte wegen seiner Verletzungen den Rest des Krieges als Reservist; er teilte seine Zeit zwischen der Ausbildung der Truppen und der Rückkehr zu seinen Studien

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in Budapest auf. Zunächst bereitete er sich auf eine juristische Laufbahn vor, doch bezeichnete er seinen Beruf bereits 1918 als den eines Malers.8 Im Frühjahr 1919, als die Ungarische Sowjetrepublik ausgerufen wurde, schloss sich Moholy-Nagy mit anderen Künstler*innen und Intellektuellen zusammen, um die Revolution zu unterstützen und seinen Beitrag dazu zu leisten. Wie viele seiner Zeitgenossen bestärkte ihn seine Kampferfahrung darin, dafür zu sorgen, dass sich der Erste Weltkrieg nicht wiederholt. Die Kunst, die er schuf, und die von ihm gepflegte Rhetorik hingen eng mit dem revolutionären, avantgardistischen Milieu zusammen, dem er sich anschloss. In diesen Jahren nahm er einen von den ungarischen Aktivist*innen geprägten Stil an, der sich seinerseits auf den deutschen Expressionismus stützte.9 Diese Merkmale sind in den frühen Zeichnungen erkennbar, die er als Begleitmaterial zu »Abstract of an Artist« veröffentlichte; man könnte behaupten, dass sie unter dem Einfluss des ungarischen Aktivismus und Expressionismus entstanden sind. Was Moholy-Nagy in diesen frühen Zeichnungen sah, war jedoch mehr als nur Einfluss. Zu der Zeit, als er »Abstract of an Artist« verfasste und das Werk seiner Jugend untersuchte, hatte er bereits mehrere Katastrophen überlebt. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte zwei Weltkriege, globale politische und wirtschaftliche Krisen, weitverbreitete Verfolgung, Vertreibung und Völkermord. Er fand sich zu Beginn des Atomzeitalters wieder, als er sich einer Strahlentherapie gegen seine Leukämie unterzog und Zeuge der Kraft der Atombombe wurde. Rückblickend erkannte er in seinen Zeilen Ambitionen, die weit über eine mimetische Beschreibung oder das Festhalten an einem Stil – auch wenn diese avantgardistisch waren – hinausgingen. Zum Beispiel bietet die Landschaft, die er in »Abstract of an Artist« aus den späten 1910er-Jahren veröffentlichte, eine durch Stacheldraht versperrte Sicht (  Abb. 2). Sie verdeckt unsere Fähigkeit, die Szene dahinter zu interpretieren, und macht die Entfernungen und Merkmale der Topografie undurchsichtig. Wenn wir Moholy-Nagys eigene Perspektive auf diese Zeichnungen einnehmen, beginnen wir die Linien als Kanäle für die Energien zu erkennen, die durch ein Netz von Drähten strömen; sie geben dem Nervengeflecht, das den Soldaten in den Gräben umgab, eine visuelle Form. Ebenso zeichnet sein Selbst-

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 Abb. 1 (links) László Moholy-Nagy, Selbstporträt, ohne Datum  Abb. 2 (oben) László Moholy-Nagy, Landschaft, 1917

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 Abb. 4 László Moholy-Nagy, Selbstporträt [Im Hospital], 1945

porträt aus etwa derselben Zeit nicht nur sein eigenes Abbild nach, sondern vermittelt durch jede Markierung das, was er als Aufregung bezeichnete (  Abb. 1). Moholy-Nagys Hand drückt den Ölstift tief in das Blatt und hinterlässt frenetische Striche, die um Zusammenhalt ringen. Durch die unterschiedliche Dichte und den spürbaren Druck jeder Markierung werden die Züge seines Gesichts und seiner muskulösen Schultern zum Leben erweckt. Wir verbinden Moholy-Nagy nur selten mit Selbstbildnissen oder expressionistischer Figuration, und doch hat er diese Werke am Ende seines Lebens neu überdacht.10 Er schuf 1945 sogar ein weiteres Selbstbildnis, das er im Krankenhaus zeichnete (  Abb. 4). Er betrachtet sich selbst im Spiegel und hält in der Hand einen spitzen Bleistift, der die Oberfläche seines Blattes streift. Die Grafitspitze zeichnet das Terrain seines Gesichts mit leichten, gebrochenen Strichen nach, als ob sie die Umrisse seines Gesichts telegrafieren und so die Augenhöhlen, die Hautfalten und das verdrehte Gestell seiner drahtumrandeten Brille übertragen würde. Die präzisen Schraffuren in diesem Selbstporträt finden sich auch in anderen Werken, die er in dieser Zeit schuf, vor allem in seinen abstrakten Space Modulators – hybride Malerei / Skulpturen aus Plexiglas, die sich auf zarte Kratzer stützten, die über die glänzende Kunststoffoberfläche verteilt waren, um die Haftung von Ölfarbe auf dem neuen industriellen Material zu erleichtern.11 Trotz der in den beiden Selbstporträts erkennbaren Veränderung des Ansatzes sind Moholy-Nagys Gesicht und das Werk seiner Hand in beiden zu erkennen. Sie unterscheiden sich nicht im Stil, sondern in der Sensibilität. Aber zwischen Ende der 1910er- und Mitte der 1940er-Jahre hatte sich die Welt verändert, und Moholy-Nagy ebenfalls. Sein späteres Selbstporträt zeichnete Moholy-Nagy um die Zeit, als er »Abstract of an Artist« sowie sein letztes Buch, Vision in Motion, vollendete. Moholy-Nagy starb im November 1946, nur etwas mehr als ein Jahr nach Kriegsende, als noch wenig Klar-

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 Abb. 3 Unbekannter Fotograf, László MoholyNagy in Militäruniform, ca. 1915–1918

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heit über Vergangenheit und Zukunft formuliert worden war. Das 1947 ebenfalls posthum erschienene Buch Vision in Motion bietet eine eindrucksvolle Beschreibung der Aufgabe des Künstlers, die mit dem Werk, das er produzierte und über das er reflektierte, in Resonanz steht. Auf den ersten Seiten diskutiert Moholy-Nagy die »prägende ideologische Funktion«, die der Künstler erfüllen muss. Wie der letzte Krieg, der Zweite Weltkrieg, gezeigt habe, müsse der Künstler »Partei ergreifen und seinen Standpunkt verkünden«. Was Moholy-Nagy vertritt, ist jedoch keine Kunst der Propaganda, sondern eine Sensibilität dafür, wie »das Werk des Künstlers den schöpferischen Problemen in anderen Bereichen entspricht und sie in der Struktur der Zivilisation der jeweiligen Epoche ergänzt«12. »Durch seine Sensibilität wird der Künstler zum Seismografen von Ereignissen und Bewegungen, die die Zukunft betreffen. Er interpretiert den noch verschwommenen Weg kommender Entwicklungen, indem er die Dynamik der Gegenwart erfasst und sich von den momentanen Motivationen und transitorischen Einflüssen befreit, ohne jedoch deren Tendenzen zu bewerten. Ihn interessieren nur die Aufzeichnung und Vermittlung seiner Vision. Das ist es, was sich in seiner Kunst materialisiert.«13 Bei einer solchen Beschreibung stellen wir uns Künstler*innen als besonders raffinierte Instrumente vor, die auf die Strömungen abgestimmt sind, die in einer bestimmten Epoche nachhallen, als die Nadeln, durch die das gefühlte und gehörte Grollen einer Epoche in grafischer Form übertragen wird, im Zickzack über ein Blatt im Laufe der Zeit. Als er diese Zeilen schrieb, war er fast schon ein Jahrzehnt lang in Chicago als Lehrer, Designer und Verwalter tätig, zunächst am kurzlebigen New Bauhaus, später an der School of Design, die schließlich in Institute of Design umbenannt wurde. Er hatte das Glück, dem Flächenbrand des Krieges in Europa zu entkommen, hatte aber mit dessen Schrecken zu kämpfen. Wir könnten Vision in Motion als ein erweitertes Manifest betrachten, in dem Künstler*innen und Lehrer*innen aufgefordert werden, zur Schaffung der Bedingungen beizutragen, die eine lebensfähige Zukunft für die Menschheit ermöglichen. Die zu ergreifenden Maßnahmen sind nicht vereinzelt, sondern kollektiv, nicht persönlich, sondern verteilt. Die von ihm vorgeschlagene Formulierung des Künstlers als Seismograf stellt die Frage, was es für Kunstschaffende bedeuten könnte, die eigene Hand für die Belange der jeweiligen Epoche statt für die eigenen Zwecke anzubieten. Mit dieser ergreifenden Metapher begriff Moholy-Nagy seine eigene Hand als Instrument im Dienst seiner Epoche, das eine Zukunft schreibt und beschreibt, die er nicht mehr erleben sollte. Seltsamerweise schwingen in dieser Formulierung Aspekte seiner Erfahrung als Soldat mit. 1915 trat Moholy-Nagy in das österreichisch-ungarische Militär ein. Er war gerade 20 Jahre alt. Seine Familie beschaffte die Mittel für den Kauf seines Pferdes, eine Voraussetzung für den Eintritt in die Offiziersklasse. Er begann als Kadett und erreichte am Ende des Ersten Weltkrieges den Rang eines Leutnants in der Reserve. Moholy-Nagy diente als Artillerieaufklärer. Nach seiner medizinischen Entlassung von der Front wurde er Ausbilder in der Reserve.14 Wir wissen, dass der Erste Weltkrieg von seinen Soldaten die Beherrschung komplexer technischer Sichtweisen verlangte, aber er erforderte auch Offiziere, die in der Lage waren, ihre Männer zu führen und sie zu unterrichten, damit sie die ihnen zugewiesenen Aufgaben und Aufträge erfüllen konnten. Die Offiziere erhielten Handbücher, die nicht der Originalität, sondern der Klarheit halber geschrieben worden waren: so zum Beispiel Artillerieunterricht. 10,0 cm M. 14 Feldhaubitze, ein Bericht, der für die Art von Feldhaubitze gedacht war, die Moholy-Nagys Einheit eingesetzt hatte. Das Buch

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bot technische Spezifikationen für die besagte Waffe. Die Druckschriften unterstrichen aber auch, wie wichtig es ist, dass der Offizier seine Männer ausbildet, damit sie die Funktionsweise ihrer Waffe verinnerlichen, um den Kriegszielen zu dienen. Der Auftrag geht aus dem ersten Satz im Vorwort klar hervor: »Die Kenntnis des Geschützes und seines Gebrauches ist die Grundlage für seine zweckmäßige Verwendung. Der praktische Kriegszweck allein ist für die Ausbildung maßgebend.«15 Für jedes Geschütz des österreichisch-ungarischen Militärs – verschiedene Modelle und Kaliber der Haubitze hatten unterschiedliche Spezifikationen und Bauteile – mussten individuelle Handbücher verfasst werden. Doch alle beginnen mit diesem Satz. Publikationen wie Artillerieunterricht begannen mit einer allgemeinen Materialbeschreibung von Geschützen. Die vor dem Ersten Weltkrieg herausgegebenen Exemplare enthielten gezeichnete schematische Diagramme; die während des Krieges gedruckten Exemplare enthielten Fotos der Geschützteile. Der zweite Abschnitt befasste sich damit, wie das Geschütz bedient oder einsatzbereit gemacht werden sollte. Der dritte Abschnitt befasste sich mit der Wartung; der vierte mit den Fertigkeiten, die erforderlich sind, um Befehle auszuführen und verschiedene Kommunikationsmittel zu nutzen, darunter Telefonie, Morsezeichen und Semaphore. Im fünften Abschnitt ging es um die Pflege der Pferde – keine geringe Angelegenheit, wenn die Bewegung der Geschütze vom Eisenbahnnetz zu ihrem Einsatzort von diesen Lasttieren und den Männern der Einheit abhing. Damit die moderne Kriegsführung funktionieren konnte, musste der Körper jedes Soldaten zu einem Medium werden, durch das die Bilder und Geräusche des Schlachtfelds in verwertbare Daten für die Vorgesetzten umgewandelt wurden.16 Im Vorwort von Artillerieunterricht werden die Rollen des Offiziers und seiner Männer unterschieden. Die Aufgabe des Offiziers war es, zu führen und zu lehren. Der Offizier musste seinen Männern die Komplexität der Maschine und die Gefahren ihres Einsatzes in einer Weise vermitteln, die sie zum Einsatz bewegen würde: »Der Lehrer muß bedenken, daß er nur dann für den Dienst Vorzügliches leistet, wenn er der ihm anvertrauten Mannschaft – bei verhältnismäßig raschen Erfolgen – Eifer, Lebhaftigkeit, frohe Laune sowie den festen Willen einzuflößen weiß, für den Dienst und für die Ehre ihrer Waffe das Höchste zu leisten.«17 Der Offizier musste zu gleichen Teilen technischer Experte und Meister der Stimmung sein – der Erfolg der Einheit hing von der Fähigkeit des Offiziers ab, die Beiträge der einzelnen Männer zu synthetisieren, um eine geschlossene Einheit im Dienste ihrer Waffe zu schmieden. Im Kontext des österreichisch-ungarischen Militärs musste der Offizier ein Übersetzer von Sprachen, Technologien und Kulturen gleichermaßen sein. So heißt es in Artillerieunterricht weiter: »Eine so ausgebildete Truppe wird aber dann auch imstande sein, im Kampfe den Jahrhunderte alten, auf vielen Schlachtfeldern errungenen Ruhm der k.u.k. Artillerie zu erhalten und zu vermehren.«18 Die Vorstellung, dass der Offizier alles in seiner Macht Stehende tun sollte, um das Ansehen der k.u.k.-Artillerie für kommende Generationen zu bewahren, mag uns als absurd erscheinen. Moholy-Nagy erkannte schon als Soldat den Wahnsinn des Unterfangens und äußerte seine Gefühle bereits damals in Briefen und Gedichten. Doch die Sprache des Artillerieunterrichts findet in Moholy-Nagys Kunst und Gedanken bis in seine letzten Werke einen unerwarteten Widerhall. Wie wir sehen werden, verinnerlichte er die Lektionen, die er seinen Untergebenen weiterzugeben hatte – und vermittelte später Aspekte ihrer Werte und Strategien in einigen seiner wichtigsten theoretischen Schriften und Kunstwerke. Er gab diese Lehren jedoch auf eine Weise weiter, die von der Besonderheit seiner eigenen Verpflichtungen geprägt war.

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1922 veröffentlichte Moholy-Nagy »Produktion-Reproduktion« in de Stijl.19 Dort artikulierte er die Kernprinzipien seiner Philosophie der Technik. Er argumentiert, dass die fortschrittlichsten Technologien seiner Zeit – zum Beispiel das Grammofon, die Fotografie und der Film – alle erfunden worden waren, um bestehende visuelle und klangliche Beziehungen zu erfassen. Das heißt, das Grammofon wurde erfunden, um existierende Klänge wiederzugeben, während die Fotografie und der Film am häufigsten verwendet wurden, um den Konventionen des naturgetreuen Sehens zu folgen. Diese Technologien versprachen revolutionäre Veränderungen, aber sie konnten unsere Wahrnehmung nicht wirklich verändern, da sie lediglich bestehende Wahrnehmungsmuster reproduzierten. Damit Technologien produktiv werden konnten, so MoholyNagy, mussten sie auf neue Weise eingesetzt werden.20 Moholy-Nagys Definition von Produktion und Produktivität hatte zunächst wenig mit den wirtschaftlichen Konnotationen zu tun, die mit den einzelnen Begriffen am engsten verbunden sind. Vielmehr hatte die Produktivität speziell damit zu tun, inwieweit die menschlichen Sinne erweitert werden konnten: »Der Aufbau des Menschen ist die Synthese aller seiner Funktionsapparate, d.h. daß der Mensch in seiner Periode dann der vollkommenste ist, wenn die ihn ausmachenden Funktionsapparate – die Zellen ebenso wie die kompliziertesten Organe – bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bewußt bezw. ausgebildet sind.«21 Diese Zeilen zeigen die Spuren von Moholy-Nagys militärischer Erfahrung. Im offensichtlichsten Sinne scheint die Formulierung ein mechanistisches Modell des Menschen aufzuerlegen – man könnte dies als die Auferlegung seiner kriegerischen Ausbildung im zivilen Leben lesen. Schließlich finden wir in der Kriegswissenschaft eine ständige Bestrebung zur Leistungsmaximierung, zum Drängen der Soldaten, um Moholys Sprache zu verwenden, »bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.«22 Es gibt jedoch einen kritischen Unterschied. Moholy-Nagy mag zwar eine Sprache verwendet haben, die den Menschen in Teile zu zerlegen schien, die verbessert und geschliffen werden konnten, aber er tat dies in Anerkennung der transformativen Kraft der Technologie, die er aus erster Hand auf dem Schlachtfeld erlebt hatte. Der Mensch muss dazu ausgebildet werden, seine Leistungsfähigkeit bis an seine Grenzen zu steigern. Nicht, um den Anforderungen des Krieges gerecht zu werden, sondern um menschliches Leben zu verbessern. Dieser Ausbildung sei am besten durch die Kunst gedient. Moholy-Nagy schreibt: »Die Kunst bewirkt diese Ausbildung – und das ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben, da von der Vollkommenheit des Aufnahmeorgans der ganze Wirkungskomplex abhängt – indem sie zwischen den bekannten und den noch unbekannten optischen, akustischen und anderen funktionellen Erscheinungen weitgehendste neue Beziehungen herzustellen versucht und deren Aufnahme von den Funktionsapparaten erzwingt.«23 Hier argumentiert er, dass die Kunst den Fortschritt der Menschheit beschleunige, gerade weil sie in der Lage sei, neue Impulse zu geben. Indem wir die Funktionsmechanismen des Menschen neuen Sinnesreizen aussetzen, trainieren wir ihn für die neuen Gegebenheiten einer modernen Welt, behauptete er. Wie wir sehen werden, bedürfen die Strategien, die er forderte, um Kunst und Maschinen in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse zu stellen, des Eingreifens der menschlichen Hand, um die Möglichkeiten bestehender und zukünftiger Technologien aufzuzeigen. Das Paradigma, das er aufstellt, stellt den Menschen in den Mittelpunkt, was die Schrift Artillerieunterricht, die den »praktischen Kriegszweck allein« als letztendliches Ziel der Ausbildung ansetzt, grundlegend zuwiderläuft.

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In »Produktion-Reproduktion« bietet Moholy-Nagy eine Reihe von Fragen an, eine Art Rubrik, um Erkundungen anzuleiten, wie eine Technik, ein Werkzeug oder ein Medium produktiv gemacht werden könnte. »Wozu dient dieser Apparat (Mittel)? Was ist das Wesen seiner Funktion? Sind wir fähig und hat es einen Wert, den Apparat so zu erweitern, daß er auch der Produktion dienstbar wird?«24 Ein Beispiel dafür, wie bestehende Technologien produktiv gemacht werden könnten, war nichts anderes als Ritzen, das »ohne mechanische Außenwirkung durch den Menschen selbst« auf eine Grammofonplatte geritzt wurde. Der Kratzer führt einen neuen Klang ein, der gänzlich ohne den Einsatz eines neuen Instruments oder Orchesters erzeugt wird und dennoch die Musikaufführung und Komposition durch die Einführung »neuer, noch nicht existierender Töne und Tonbeziehungen«25 verändert. Ein einziges von menschlicher Hand eingebrachtes Ritzen, betont er, lässt die Nadel des Grammofons überspringen und verwandelt die Grammofonplatte in etwas, das nicht nur vorhandene Klänge aufnimmt oder wiedergibt, sondern uns stattdessen neue Wege der Klangerzeugung und damit des Hörens eröffnet, die unsere Erwartungen an dieses Gerät und seine Auswirkungen auf unseren eigenen Körper erweitern. Dieses kleine Ritzen offenbart sofort, wie diese Technik funktioniert, wofür sie gebaut wurde und wie sie in Zukunft neue Ziele erreichen könnte.

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 Abb. 5 László Moholy-Nagy, Konstruktionen in Emaille, Installation in der Galerie Der Sturm, Berlin, Februar 1924

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»Produktion-Reproduktion« schlug bereits bei der Veröffentlichung ein. Etwa zur gleichen Zeit begann Moholy-Nagys Ausstellung in der Galerie Der Sturm in Berlin. Walter Gropius engagierte Moholy-Nagy 1923 für das Bauhaus, unter anderem aufgrund seiner Arbeit an industriell anmutenden Skulpturen und der starken Aussagekraft des Essays. Seine Berufung war Teil von Gropius’ neuer Strategie, das Bauhaus neu auszurichten: hin zur Vereinigung von Kunst und Technik und weg von seinen expressionistischen Ursprüngen. Für eine Schule, die ihr Verhältnis zu Industrie und Technik definieren wollte, war der Titel von Moholy-Nagys Essay besonders reizvoll. Neue Wege zu finden, um produktiv zu werden, war für die öffentlich finanzierte Kunstschule, deren Fortbestand mit wachsenden politischen und finanziellen Herausforderungen konfrontiert war, absolut entscheidend.26 Während seiner Jahre am Bauhaus festigte Moholy-Nagy seinen Ruf als glühender Verfechter der Integration von Kunst und Technik, umso mehr als er 1924 in der Berliner Galerie Der Sturm Konstruktionen in Emaille zeigte (  Abb. 5). In einer Galerie mit abstrakten Gemälden auf Paneel, Leinwand und Papier zeigte er gefertigte Porzellanemaille auf Stahlgemälden, die in einer Schilderfabrik in Thüringen, dem Förderland des Staatlichen Bauhauses in Weimar, hergestellt worden war. Moholy-Nagy warb für diese öffentlich-private Partnerschaft. In einem erläuternden Text zur Ausstellung argumentierte er, dass die Zukunft der Kunst und der Malerei nicht in der Herstellung kostbarer Originale liege, sondern in der Erschaffung von Formen, die eine moderne Betrachtungsweise und Formgebung ermöglichten, die so klar und präzise sind, dass sie sogar telefonisch kommuniziert werden könnten.27 In denselben Jahren erklärte er »Das traditionelle Bild ist historisch geworden und vorbei.«.28 Moholy-Nagys Ausstellung der Konstruktionen in Emaille war sensationell. Einige seiner linksorientierten Kritiker*innen sahen sie als Beweis dafür, wie sich der Westen die Sprache des Konstruktivismus ohne dessen politische Substanz aneignete. Konservative Kritiker*innen wetterten gegen seine Provokation und sahen sie als Beweis für das Bestreben des Bauhauses, die großen deutschen Kulturtraditionen, die Weimar repräsentierte, auf der Suche nach den neuesten Modeerscheinungen der Moderne zu beseitigen. Einige seiner glühenden Verfechter*innen erkannten sein Ziel – Behne verstand das Projekt als Konzeptbeweis für eine Kunst, die für ein Massenpublikum gemacht ist.29 Doch Moholy-Nagy wollte mehr tun, als nur den Massen den Zugang zur Kunst zu ermöglichen. Diese Werke zeigen auch die zentralen Forderungen von »ProduktionReproduktion«. Wenn im Text danach gefragt wird, wie irgendein Mittel – das heißt Technik, Werkzeug oder Medium – produktiv gemacht werden kann, dann kann die Frage auch in Bezug auf die künstlerischen Medien gestellt werden, mit denen MoholyNagy arbeitete. Wenn die Malerei und ihre höchste Leistung bisher durch ihre Originalität oder Virtuosität bestimmt wurden, so fragt sich Moholy-Nagy, was man sonst noch erreichen könnte. Flankierend zu der Ausstellung von Konstruktionen in Emaille Mitte der 1920er-Jahre argumentierte Moholy-Nagy in der 1924 fertiggestellten und 1925 veröffentlichten Publikation Malerei, Fotografie, Film, dass neue Materialien erforscht werden sollten, um Gemälde für jeden Haushalt erhältlich zu machen und so die Entstehung einer, wie er es nannte, häuslichen Pinakothek zu ermöglichen.30 Sein Ziel war nicht, ein breiteres Publikum von neu gewonnenen Kunstliebhaber*innen oder -sammler*innen zu kultivieren, sondern stattdessen allen moderne Gemälde als Mittel zur Wahrnehmungsförderung anzubieten. Gemälde auf neuen Materialien könnten in den Händen gehalten, manipuliert, auf Tische gestellt, an die Wand gehängt, auf dem Kopf stehend usw. betrachtet werden. Anders ausgedrückt: Gemälde aus der Fabrik seien nicht zum

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Vergnügen gemacht. Die Tatsache, dass die Konstruktionen in Emaille zwei Kreuze als Teil ihrer Komposition enthalten, gibt uns einen Hinweis auf ihre Absicht: Angesichts seiner Erfahrungen als Aufklärungsoffizier in der österreichisch-ungarischen Artillerie beginnen die Gestaltungselemente den Fadenkreuzen der Zielfernrohre zu ähneln, die er für seine Arbeit beim Militär verwendet hatte (  Abb. 6). Kreuze helfen den Betrachtenden zu fokussieren, sowohl bei Gemälden als auch bei Zielfernrohren. Die Ziele, die für sie in Krieg und Frieden in den Mittelpunkt rücken sollten, hätten für Moholy-Nagy als  Abb. 6 militärischer Ausbilder und KünstlererzieAbbildung aus Artillerieunterricht. 10.0cm her trotz der Ähnlichkeit der Zielrichtung M. 14 Feldhaubitze. Zu Abt. 7 Nr 35355 vom nicht unterschiedlicher sein können. Jahre 1916. – Normalverordnungsblatt für Im Krieg lernte Moholy-Nagy, dass das k. u. k. Heer, 37. Stück von 1916 der menschliche Körper so umgestaltet werden kann, dass er durch die Optik der Maschine sehen kann, und dass er seinen Zweck erfüllen kann, indem er den Menschen seinen Waffen unterwirft. Im Frieden versuchte er, diese Lektion umzuwandeln, um die Beziehung umzukehren: Menschen müssen die Maschine so manipulieren, dass sie menschlichen Zwecken dient. Der Kratzer erschließt das Potenzial der Technologie, den menschlichen Bedürfnissen zu dienen. Am Ende seiner Karriere wandte MoholyNagy die Lektionen, die er früh gelernt hatte, an, um sich einer neuen Realität zu stellen. Dieser Essay begann mit einer Untersuchung von Moholy-Nagys späten Schriften und seiner rückblickenden Bewertung der eigenen frühen Selbstporträts, die sich auch mit der Art und Weise befasst, wie er die Bedeutung seiner Spuren und seiner militärischen Ausbildung las. Am Ende seines Lebens, so möchte ich behaupten, betrachtete Moholy-Nagy sich selbst als Mittel. In diesem Moment unterwarf er sich den gleichen Fragen, die er in »Produktion-Reproduktion« an andere Medien stellte. Wie könnten Kunstschaffende produktiv werden? Wie könnten sie zu Instrumenten werden, die der Menschheit dienen können? Der oder die Künstler*in als Seismograf stellt die Antwort dar.

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habe ich die Beziehung zwischen dem technologisierten Sehen und seinen Auswirkungen auf die Abstraktion der Zwischenkriegszeit in Moholy-Nagys Werk untersucht. Siehe Joyce Tsai: »Reconfiguration of the Eye: László Moholy-Nagy«. In: Gordon Hughes / Philipp Blom (Hg.): Nothing but the Clouds Unchanged: Artists and the First World War. Los Angeles 2014, S. 156–63; Joyce Tsai: »Lines of Sight«. In: Artforum, November 2015, S. 272–77; Joyce Tsai: László Moholy-Nagy: Painting after Photography. Oakland 2018. 15 Artillerieunterricht. 10.0cm M. 14 Feldhaubitze. Zu Abt. 7 Nr 35355 vom Jahre 1916. – Normalverordnungsblatt für das k. u. k. Heer, 37. Stück von 1916. Wien 1916, S. 4. 16 Vgl. Tsai 2018, S. 277. 17 Artillerieunterricht 2016, S. 4. 18 Ebd. 19 Vgl. László Moholy-Nagy: »Produktion-Reproduktion«. In: de Stijl, Nr. 7, Juli 1922, S. 98–101. Dieser Aufsatz ist in modifizierter Form in seinem Buch Malerei, Photographie, Film (1925/27) wiederabgedruckt. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd., S. 98–99. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Für Dokumente, die die akuten Herausforderungen aufzeigen, mit denen sich das Bauhaus in Weimar an mehreren Fronten konfrontiert sah, siehe Ute Ackermann / Volker Wahl (Hg.): Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919–1925. Weimar 2001. 27 Vgl. Moholy-Nagy: »Emaille im Februar 1924«, 1. Übersetzung von Doherty, »Constructions in Enamel: 1923«. In: Barry Bergdoll and Leah Dickerman. Bauhaus 1919-1933 : Workshops for Modernity. New York: The Museum of Modern Art, 2009, S.130. 28 Vgl. László Moholy-Nagy: Malerei, Photographie, Film. München 1925, S. 43. 29 Zur konservativen Auffassung vgl. »Kommentar«. In: Das Kunstblatt, März 1924, S. 96. Eine zustimmende Rezension lieferte etwa Adolf Behne: »Snob und Anti-Snob«. In: Die Weltbühne, Nr. 20, 1924, S. 235–236. 30 Vgl. Moholy-Nagy 1925, S. 19.

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Anmerkungen 1 Dieser Aufsatz erschien auf Englisch: »Epochal Trace: László Moholy-Nagy, Drawing, and The Task of the Artist«. In: Ines Weizman (Hg.): Traces of the Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 226–237. Übersetzung des Beitrags und aller Zitate aus dem Englischen von Michael Pilewski. 2 László Moholy-Nagy: »Abstract of an Artist«. In: Ders.: The New Vision. New York 1947, S. 67–68, hier: S. 68. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Lloyd Engelbrecht hat in seinem Buch Mentor der Moderne Moholy-Nagys Leben und Werk akribisch rekonstruiert und eine umfangreiche Dokumentation über seine Aktivitäten vorgelegt. Vgl. Lloyd Engelbrecht: Mentor to Modernism. Cincinnati 2009, S. 32–62. 6 Vgl. Levante Nagy: »The Beginning of the Multi-Faceted Career of László Moholy-Nagy«. In: Belinda Chapp (Hg.): László Moholy-Nagy: From Budapest to Berlin. Newark / Delaware 1995, S. 22–25. 7 Eine umfassende Serie von Zeichnungen und Skizzen von Moholy-Nagy aus der Kriegszeit von 1917, darunter auch ein Selbstporträt als Verwundeter im Juli / August 1917 aus der Sammlung von Elsö Magyar Látványtár Alapitvány, wurde in der Ausstellung Auf dem Weg nach Weimar im Kunsthaus Apolda und im gleichnamigen Katalog 2009 präsentiert. Siehe Hans-Dieter Mück (Hg.): Auf dem Weg nach Weimar: László Moholy-Nagy Moholy: 1917–1923. Austellungskatalog Kunsthaus Apolda. Apolda 2009. 8 Vgl. »Personalblatt«, 29. September 1918, Sibyl Moholy-Nagy Papers, Archives of American Art, Washington, DC. 9 Vgl. Oliver Botar: Technical Detours. New York 2006, S. 55. 10 Für eine Abhandlung über Moholy-Nagys figurative Zeichnungen siehe Krisztina Passuth: »The Postcards and Figurative Drawings of László Moholy-Nagy in an International Context«. In: Belinda Chapp (Hg.): László Moholy-Nagy: From Budapest to Berlin. Newark / Delaware 1995, S. 59–69. 11 Vgl. Joyce Tsai (Hg.): Paintings of Moholy-Nagy. Santa Barbara 2016. 12 László Moholy-Nagy: Vision in Motion. Chicago 1947, S. 29. 13 Ebd., S. 30. 14 Vgl. Engelbrecht 2009, S. 32–62. An anderer Stelle

Auf einer historischen Fotografie von Heinz Loew aus dem Jahr 1927, aufgenommen in einem Atelier im Dessauer Bauhaus-Gebäude, sitzt ein Mann im Profil mit den Händen im Schoß;2 vor ihm die durchsichtige, geisterhafte Erscheinung eines anderen Mannes, der seinen Blick erwidert (  Abb. 1). Beide Figuren sind schwarz drapiert, sodass schwer zu erkennen ist, wo der Körper des einen Mannes endet und der des anderen beginnt. Sicherlich kann das Doppelporträt von Loew und Karl Hermann Trinkaus im Rahmen des zunehmenden Interesses an fotografischen Experimenten betrachtet werden, das ein wesentlicher Bestandteil des Bauhauses war.3 Die Überlagerung der Szene durch die lichtdurchlässige Glasvase und den spiegelnden Glaszylinder lässt dieses Foto als heimlichen Witz verstehen; der Mann Trinkaus – nomen est omen – erscheint in einem Glas! Es ist auch eine Art Geisterfoto. Aber mehr noch als von dieser geisterhaften Gestalt wird dieses Bild von der Liebe heimgesucht, die ihren Namen nicht zu nennen wagt.4 Es ist ein Bild der Zärtlichkeit zwischen Männern, wie es in der Kunstgeschichte und im bekannten Korpus der Bauhaus-Bilder relativ selten vorkommt. Wir wissen wenig über die Beziehung zwischen Loew und Trinkaus.5 Aber dies ist sicher ein queeres Bild, im mehrfachen Sinne des Wortes: unheimlich, exzentrisch und schwul. Das Foto fängt zwar liebevolle Männer zusammen ein, doch nur bedingt; die Figuren sind durch Elemente der Bildkomposition eingeschränkt, und eine von ihnen ist eine geisterhafte Figur, die gleichzeitig anwesend und abwesend ist. Kurz gesagt, das Foto ist kodiert, um sein Ziel, männliche gleichgeschlechtliche Begierden darzustellen, plausibel bestreiten zu können, da es einfach als nur ein formales fotografisches Experiment interpretiert werden könnte. So verstanden, sind Loew und Trinkaus und damit auch die Betrachter*innen der Fotografie unschuldig. Das Bild mag formal originell und komplex sein, aber da es weder sexuell explizit noch auf andere Weise eindeutig auf gleichgeschlechtliches Begehren eingeht, geht es auf Nummer sicher – was ganz im Einklang mit seiner Entstehung in einer Gesellschaft steht, in der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe standen, wie es §175 der Weimarer Verfassung vorsah.6 Die Fähigkeit der bildlichen Darstellung, Bedeutung durch Suggestion, Symbole und Allegorien zu vermitteln, ist seit Langem bekannt; dies hat es Künstler*innen und anderen ermöglicht, einigen Betrachter*innen Ideen diskret auf eine Weise zu vermitteln, die andere wahrscheinlich nicht wahrnehmen würden. Jonathan Katz bezeichnet diese Tradition als »die Kunst des Codes«, eine Methode, die von vielen queeren Künstler*innen beherrscht wurde, die in unterschiedlichen Verhältnissen unter Regimen lebten, die ihre Begierden kriminalisierten.7 In seinem aufschlussreich betitelten Essay »Hide / Seek« weist Katz darauf hin, dass »das soziale Universum des sexuellen Begehrens in der Malerei wie im Leben sehr oft notgedrungen durch die subtilsten Gesten, Blicke und Codes vermittelt wird. Wenn das besagte Begehren buchstäblich illegal ist, ist es um so mehr auf der Flucht, sodass Bilder von queerer historischer Bedeutung […] unter unserer heutigen Wahrnehmung völlig unentdeckt geblieben sind.«8 In diesem Aufsatz möchte ich das Bauhaus queer darstellen. Eine Paarung der Ideen queer und Bauhaus mag unerwartet sein, und in der Tat befasst sich meines Wissens keine andere Forschung explizit mit der kulturellen Produktion am Bauhaus in Bezug auf schwule, lesbische oder Transgender-Sexualität und -Identität. Dennoch ist

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die Erforschung eines queeren Bauhauses sinnvoll, wenn man die Offenheit für Lebensreform und andere neue Lebensweisen bedenkt, die im Zentrum des Bauhaus-Projekts standen; dazu gehörten auch Vorstellungen über Sex und, bis zu einem gewissen Grad, Sexualität.9 Außerdem blühte zwischen den Weltkriegen sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands trotz der restriktiven Gesetze der Weimarer Republik zu Homosexualität und Empfängnisverhütung eine breite Kultur des sexuellen Experimentierens auf. Zeitschriften mit unverhohlen schwulen und lesbischen visuellen und schriftlichen Inhalten fanden weite Verbreitung und förderten Netzwerke der queeren Kultur, die mit Clubs in den Städten, aber auch mit Menschen in kleineren Städten verbunden waren.10 In dieser Zeit erlebte auch die Erforschung biologischer und kultureller Aspekte der Sexualität eine Blütezeit, vor allem durch die Arbeit des bahnbrechenden Sexualforschers Magnus Hirschfeld, der – im entscheidenden Jahr für dieses Forum – 1919 die

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 Abb. 2 Standbild aus Anders als die Andern (Regie: Richard Oswald), 1919

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 Abb. 1 Heinz Loew, Doppelporträt Heinz Loew und Hermann Trinkaus im Atelier, Doppelbelichtung, 1927, moderner Silbergelatineabzug (1988) vom Original-Glasnegativ, 24 × 18 cm

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weltweit erste Einrichtung für Sexualforschung gründete: das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Es wurde auf dem Prinzip begründet, dass Wissenschaft und nicht religiöse Moral die Grundlage für politische und gesellschaftliche Normen sein sollte.11 »Möge recht bald auch auf diesem Gebiet das Recht über das Unrecht, die Wissenschaft über den Aberglauben, die Menschenliebe über den Menschenhaß den Sieg erringen!«, verkündete Hirschfeld 1919 in einer Rede zur Premiere von Anders als die Andern, dem weltweit ersten Film (  Abb. 2), der sich mit dem Thema männliche Homosexualität auseinandersetzte.12 Für viele waren die 1920er-Jahre eine Zeit, die nicht so weit von diesem Ideal entfernt war, eine Zeit des ausgeprägten Optimismus hinsichtlich des Potenzials der Öffentlichkeit, sexuelle Unterschiede besser zu akzeptieren. Die Idee eines queeren Bauhauses ist notwendigerweise provisorisch und investigativ, denn dieses neue Forschungsgebiet wagt sich an Identitäten und Praktiken heran, die während der Weimarer Republik kriminalisiert und diskriminiert wurden (  Abb. 3). Während wir bei vielen Künstler*innen nie viel über ihr Privatleben erfahren werden, stammen einige der Werke, die ich unter der Rubrik queeres Bauhaus untersuche, von den wenigen erkennbaren schwulen und lesbischen Bauhäusler*innen. In meinem Buch untersuche ich auch das Beisein beziehungsweise das Fehlen derer, die wir als Transgender bezeichnen würden, wie im Fall des angehenden Studenten Johanna Voelcker, der ansonsten qualifiziert schien, als er sich 1920 am Bauhaus bewarb, aber nicht angenommen wurde; Voelcker schloss sein Bewerbungsschreiben mit den Worten: »Seit Ende September dieses Jahres habe ich die behördliche Genehmigung, Männerkleidung tragen zu dürfen, von welcher Erlaubnis ich jetzt Gebrauch mache«, und unterschrieb mit »Johanna Voelcker, genannt Hans Voelcker«.13 Auch wenn weibliche Homosexualität in der Weimarer Republik nicht als kriminell galt, gibt es Hinweise darauf, dass Frauen, die Beziehungen zu anderen Frauen hatten, möglicherweise am Bauhaus nicht willkommen waren, wie im Fall von Annemarie Hennings, der Tochter der Kabarettistin und Dadaistin Emmy Hennings, die eine Affäre mit der Schweizer Schülerin und Weberin Maria Geroe-Tobler hatte und, als dies der Bauhaus-Direktion bekannt wurde, die Schule verließ.14 Bezugnehmend auf die Designerin, Malerin und Archivarin Margaret Camilla Leiteritz befasse ich mich auch mit dem Begriff des queeren Singles. Sicherlich erlauben einige der Werke von Leiteritz Interpretationen, die das lesbische Begehren zum Gegenstand haben; aber das aufkommende Forschungsgebiet des Single-Seins ermöglicht es uns, zu vermeiden, dass, mit den Worten von Andreá Williams, »Partnerschaften wieder in den Mittelpunkt gerückt werden«, um das Leben eines jeden Menschen zu erklären. Dieses Forschungsgebiet hilft uns auch, uns von der Annahme zu lösen,

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 Abb. 3 Werbung für Damenklub Violetta, Berlin, betrieben von Lotte Hahm, 1929

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dass die Sehnsüchte und das Sexualleben eines unverheirateten oder partnerlosen Individuums »verborgen« sein müssen, wenn wir sie nicht kennen.15 Im Gegensatz dazu scheint Leiteritz’ Ledig-Sein – ihre Weigerung, eine Paarbeziehung einzugehen – von zentraler Bedeutung für ihre Identität gewesen zu sein. Auf ihre und die Arbeit von Richard Grune werde ich am Ende meines Aufsatzes zurückkommen. Ich werde mich hier auf zwei Mitglieder eines erkennbaren kleinen queeren Kreises von Bauhaus-Künstler*innen konzentrieren: Max Peiffer Watenphul und Florence Henri (  Abb. 4). Mindestens ein Schüler, von dem wir rückblickend wissen, dass er queer war, trat bereits 1919 in die Schule ein: Max Peiffer Watenphul. Peiffer Watenphul, der vor allem wegen seiner modernistischen Stadt- und Landschaftsmalerei in Erinnerung geblieben ist, hatte bereits ein Jurastudium und eine Promotion abgeschlossen, als er auf eine Ausstellung von Paul Klees Malerei stieß und sich 1919 entschied, als Künstler ans Bauhaus zu kommen.16 Er verbrachte vier Semester an der Schule und blieb bis 1923 in Weimar.17 Zu seinem vielfältigen Schaffen aus den zwei Jahren am Bauhaus gehört ein bunter Schlitzteppich aus der Zeit um 1921. Am Bauhaus wurde das Weben allgemein als Frauenarbeit angesehen.18 Aufgrund dieser extrem starken geschlechtsspezifischen Zuordnung ließe sich dieses Objekt als kodiert im Sinne dessen betrachten, was wir als medium drag bezeichnen könnten. Dabei wird der Künstler bis zu einem gewissen Grad feminisiert, indem er eine geschlechtsspezifische Produktionsweise anwendet. Wie beim inszenierten Tragen von Frauenkleidern (performative drag) ist diese Art der Überschreitung spielerisch und wird gewöhnlich als vorübergehend empfunden. Und in der Tat ist die kritische Rezeption dieses kühnen und abstrakten Wandteppichs oft bemüht zu betonen, dass dies Peiffer Watenphuls einzige brillante Weberei war. Das Werk wurde als Inbegriff des Bauhauses wahrgenommen und 1923 für die Reproduktion im Ausstellungskatalog des Staatlichen Bauhauses ausgewählt.19 Peiffer Watenphul wurde schnell erfolgreich als Maler; 1920 wurde er vom prominenten Galeristen Alfred Flechtheim vertreten; er schloss sich der Düsseldorfer Künstlergruppe Junges Rheinland an und freundete sich mit Mitgliedern der Avantgarde wie

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 Abb. 4 Fotograf*in unbekannt, Florence Henri und Max Peiffer Watenphul, 1930, ca. 8,5 × 6 cm

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Otto Dix und Max Ernst an.20 Als er 1923 Weimar verließ, verkehrte er weiterhin in Bauhaus-Kreisen und unterhielt enge Freundschaften mit den Weberinnen Maria Cyrenius und Grete Willers. Später freundete er sich eng mit Florence Henri und ihrer Lebensgefährtin Margarete Schall, beide Bauhäuslerinnen, an.21 Peiffer Watenphul lernte am Bauhaus auch die Fotografie kennen und vertiefte seine Fähigkeiten in diesem Medium Ende der 1920er-Jahre an der Folkwangschule in Essen. Seine Freundschaft mit Henri, die in den späten 1920er-Jahren begann, hatte einen deutlichen Einfluss auf sein Werk. Ihre Sensibilität für kühne Strukturen und klare Formen entfaltet sich auch in seinem fotografischen Werk, vor allem in seinen außergewöhnlichen Porträtserien, die er in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren schuf und von denen er einige mit Freude als »Grotesken« betitelte. Dazu gehören Fotografien von Frauen, darunter seine glamouröse junge Schwester Grace und Willers, die zu seinen Lieblingsmotiven in Fotografie und Malerei zählte.22 Die Frauen sind in effektvoll inszenierten Einzelporträts festgehalten; jede ist mit Juwelen und Perlen besetzt, in Stofflagen und Netzen drapiert oder von einem knalligen Gemälde flankiert und mit grellem Make-up bedeckt. Am dramatischsten ist sein Foto der Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey (  Abb. 5). Dieses Bild war eines von mehreren, die in einem Band modernster Fotografie erschienen, der 1931 in Paris von der französischen Grafikzeitschrift Arts et métiers graphiques veröffentlicht wurde. Johanna Ey ist in strukturierte Stofflagen eingehüllt; von Fächern und Stoffen umgeben, lehnt sie sich schräg zurück. Das großzügige Dekolleté liegt frei; sie selbst ist mit Schmuck, Straußenfedern, Spitze, Kunstblumen und grellem Make-up verziert. Ihr leeres Weinglas, ihre halb geschlossenen Augen und ihr halb entkleideter Zustand verleihen dem Bild eine zwielichtige Intimität und eine Aura fröhlicher Ausschweifung. In einem Brief an seinen Bauhaus-Freund Cyrenius aus dem Jahr 1932 gab er ein Update zu dieser Serie: »Habe neue glänzende Photos gemacht. Aber wie man sagt sehr pervers!!?«23 Mit Peiffer Watenphuls Porträts in diesem Stil sind wir weit in das Terrain des camp vorgedrungen, ein Begriff, den Susan Sontag in ihren bahnbrechenden »Anmerkungen zu Camp« als »die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung« beschrieb. »Und camp ist esoterisch – eine Art Geheimkode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen.«24 Laut Sontag ist camp »gut, weil es schrecklich ist«.25 Um camp zu sein, muss ein Kunstwerk einen leidenschaftlichen »Versuch, etwas Außergewöhnliches zu tun« beinhalten.26 Camp umfasst auch den Tausch der Geschlechter-

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 Abb. 5 Max Peiffer Watenphul, Portrait von Johanna Ey, 1931, 19,2 × 23,1 cm (aus: Photographie 1931. Paris 1931, S. 81)

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rollen und die Androgynie und wird mittlerweile als eine grundsätzlich queere Ästhetik angesehen. Im Fall von Peiffer Watenphul gehörten zu seinen Subkulturen auch seine Bauhaus-Kontakte und, so gut es sich rekonstruieren lässt, seine Freunde in der schwulen Untergrundszene. Frau mit Fächer (  Abb. 6), eines der Bilder, die Peiffer Watenphul ausdrücklich mit dem Untertitel »Groteske« versehen hat, weist einige der gleichen Elemente und Requisiten auf wie frühere Bilder, einschließlich der Halsketten, des Fächers, der Feder und der Stoffblumen. Zu der auffälligen, freizügigen Kleidung und der übertriebenen Schminke hat er für dieses Modell eine Perücke hinzugefügt. Dies ist in diesem Fall nützlich, denn im Gegensatz zu der auf dem Porträt von Ey dargestellten camp-artigen Frau scheint das Motiv dieses hyperfeminisierten Porträts eine Frau zu sein, die von einem Mann in Frauenkleidern gespielt wird. Sie lächelt breit und hebt kokett die Arme in einer Kontrapost-Pose über den Kopf, die einen aus einem Tanz eingefangenen Moment heraufbeschwört. (Nebenbei bemerkt: Diese und eine weitere Fotografie desselben Motivs hatten ein kurioses Nachleben: Sie landeten in der Sammlung des Nazi-Industriellen und Sammlers Kurt Kirchbach und tauchten erst Ende der 1990er-Jahre wieder auf.27) Die camp-Porträts und -Grotesken bilden nicht nur einige Angehörige der Bauhaus-Kreise Peiffer Watenphuls ab, sie zirkulierten auch unter ihnen; Josef Albers, der als einer der strengsten Modernisten des Bauhauses in Erinnerung bleibt, besaß zwei Fotografien aus der Serie.28 Diese Gemeinschaft seiner Bauhaus-Freunde war Peiffer Watenphul offensichtlich sehr wichtig; auf die Rückseite eines seiner Porträts von Willers klebte er ein Textfragment: »Dieses ›Geschehen in einer Sommernacht‹ zeigt uns einen Kreis heutiger Menschen, die eine uralte Tradition verkörpern. Sie sind nicht Abenteurer, vielmehr Freie, dem Himmel nah, der Erde und allem Getier.«29 Diese Netzwerke boten Peiffer Watenphul eine fortwährende Gemeinschaft, in der er mit dem Leben und queeren Empfindungen experimentieren konnte. Seine Fotografien aus dieser Zeit erwecken spielerisch ein theatralisches Gefühl von Weiblichkeit, das für ihn eine besondere Resonanz gehabt haben dürfte. Sie bezogen sich wahrscheinlich auf sein Leben als schwuler Mann, in dem das Tragen von Frauenkleidern ein Teil der lebendigen schwulen Untergrundkultur war.30

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 Abb. 6 Max Peiffer Watenphul, Frau mit Fächer (Groteske), ca. 1928, Silbergelatineabzug, 30,2 × 24,1 cm © Archiv Peiffer Watenphul [GALERIE BERINSON, BERLIN]

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Peiffer Watenphuls Reisen brachten ihn 1921 zunächst nach Italien. 1931 gewann er den deutschen Rom-Preis und verbrachte ein Jahr an der Deutschen Akademie in der Villa Massimo. Wahrscheinlich nahm er in diesem Jahr eine weitere kurze Fotoserie auf, die einen jungen Mann fast vollständig entkleidet in sexuell suggestiven Posen zeigt. In diesen Fotografien ist jede Spur von camp-artiger Inszenierung verschwunden. Diese Fotografien strahlen ein offenes sexuelles Begehren zwischen dem Modell und seinem Fotografen aus (  Abb. 7). In ihrer direkten Erfassung eines begehrten italienischen Jugendlichen erinnern sie an die Arbeiten des deutschen Fotografen Wilhelm von Gloeden aus früheren Jahrzehnten.31 Auf allen Fotos dieser Serie starrt das Motiv des Fotografen mit einem verführerischen Lächeln in die Kamera. In einem steht er an einem Bett, was stark darauf hindeutet, dass diese Fotos den Auftakt zu einer sexuellen Begegnung bilden. Im Gegensatz zu Peiffer Watenphuls Gemälden, bei denen es sich um faux-naive Landschaften und Porträts handelt, scheint ihn die Fotografie dazu ermutigt zu haben, das Spiel der Geschlechter mit seinen Freund*innen zu erforschen und einen jungen Mann zu fotografieren, den er begehrte. Wie Peiffer Watenphul fand Florence Henri über das Bauhaus sowohl ihren eigenen Weg als Künstlerin als auch einen Kreis von Gleichgesinnten. Henri wuchs inmitten der europäischen Avantgarde auf und ließ sich zur klassischen Konzertpianistin ausbilden, doch erst ein kurzer Besuch bei ihren Freundinnen Margarete Schall und Grete Willers, die beide im April 1927 am Bauhaus studierten, führte dazu, dass sie die Fotografie als ihr Medium entdeckte; Henri entschied sich, als nicht immatrikulierte Studentin zu bleiben, und besuchte den Vorkurs von László Moholy-Nagy und Albers sowie die Kurse von Wassily Kandinsky und Klee. Lucia Moholy fotografierte Henri dort als eine ausgesprochen moderne Frau; es ist auch relativ sicher, dass Moholy Henri ebenfalls Fotografie lehrte, unter Nutzung der Dunkelkammer in ihrem und Moholy-Nagys Meisterhaus, in dem Henri wahrscheinlich auch wohnte. Am Bauhaus schloss Henri lebenslange Freundschaften, darunter mit Walter und Ise Gropius, Hinnerk und Lou Scheper, Herbert und Irene Bayer und Marcel Breuer, dessen verchromte Bauhaus-Möbel –

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 Abb. 7 Max Peiffer Watenphul, ohne Titel (Junger Italiener), ca. 1931/32, moderner Silbergelatineabzug (1999) vom alten Negativ, 23,9 × 17,7 cm

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zusammen mit einer gläsernen Teekanne von Wilhelm Wagenfeld – zu Henris Ankäufen gehörten, als sie das Bauhaus im August verließ. Sie kamen in ihre Pariser Wohnung, ebenso wie ihre Freundin Schall, die spätestens zu diesem Zeitpunkt ihre Liebhaberin geworden war.32 Das Bauhaus ermöglichte es Henri, die Fotografie zu erlernen und sowohl ihre künstlerische Tätigkeit als auch ihr soziales Umfeld zu definieren. Sie wiederum sollte auch das Bauhaus definieren; 1938 wurde sie als einzige Fotografin in den Katalog zur ersten Bauhaus-Ausstellung in den USA aufgenommen, die in ihrer Geburtsstadt New York im Museum of Modern Art stattfand.33 Ich möchte im Folgenden kurz auf Henris bahnbrechendes Bild einer kühnen selbstständigen Fraulichkeit eingehen. In ihrem Selbstporträt von 1928 wird Henri selbst stoisch in einem Spiegel reflektiert – in einer Kulisse, die auf ein Minimum an architektonischen Elementen reduziert ist, die so inszeniert ist, dass sie perfekt ausgerichtet und gleichzeitig exzentrisch erscheint (  Abb. 8). Mit der architektonischen Strenge und dem seltsam abwesenden Motiv – sie erscheint zwar im Spiegel, nicht aber im primären Teil des Bildes – überschneidet sich hier das Bauhaus mit dem Surrealismus. Henri hat am Fuß des Spiegels ein Paar reflektierender Metallkugeln so platziert, dass sie sich selbst mit »Eiern« ausgestattet hat, ein visuelles Wortspiel, das mit der Ernsthaftigkeit ihrer Pose und Kulisse kollidiert. Doch dies ist auch ein Moment einer abstrahierten queeren Paarung; diese beiden perfekten Objekte sind gepaart, um ihre Gleichartigkeit zu betonen; sie sind zwei aus einem Guss. Und im Gegensatz zum vermeintlichen Thema des Werkes erscheinen sie auf beiden Seiten des Spiegels, um ihre Symmetrie und die Perfektion ihrer Form hervorzuheben. Aber Henri hat ihre Kamera auch auf andere Frauen gerichtet und mehrere Fotografien ihrer Partnerin Schall gemacht, die, wie ihre Selbstporträts, schiefe Spiegelungen mit Architektur vermischen, wodurch konkurrierende Zentren der visuellen Aufmerksamkeit entstehen und es schwierig wird, ihr illusorisches Motiv gezielt zu platzieren. Auf einer Fotografie von 1927 oder 1928 erscheint Schall rauchend, knabenhaft, modern und scheinbar gedankenverloren.34 Es handelt sich um eine bemerkenswert selbstbeherrschte Frau, ein

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 Abb. 8 Florence Henri, Selbstporträt (im Spiegel), 1928, Silbergelatineabzug, 25 × 18,4 cm

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 Abb. 9 Florence Henri, Portrait von Ré Richter (später Ré Soupault), 1930, moderner Abzug (2007) vom Original-Glasplattennegativ, 26 × 38 cm

lesbisches Motiv, das wir zwar sehen, aber nicht richtig zuordnen können, denn sie ist gerade außer Reichweite. Henri machte auch eine Reihe intimer und sinnlicher Fotografien der ebenfalls nach Paris gezogenen Bauhäuslerin Ré Soupault (  Abb. 9). Auf weichem, weißem Grund liegend und mit fast geschlossenen Augen, scheinbar im Halbschlaf, ist Soupault nackt, abgesehen von einem drapierten Netz, das sie erotisiert. Das Geflecht erinnert an Dessous und sogar an Fetischkleidung – eine Assoziation, die durch eine deutlich sichtbare erigierte Brustwarze verstärkt wird. Doch dies ist auch ein moderner Akt einer schönen liegenden Frau, und dies gehörte zu Henris Spezialitäten als Fotografin. Ende der 1920er-Jahre waren Henris Fotografien plötzlich allgegenwärtig und wurden in der Presse und von ihren Bauhaus-Kolleg*innen gefeiert; ein Rezensent der Essener Ausstellung Fotografie der Gegenwart von 1929 schrieb in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung: »Der Beitrag Frankreichs umfasste viele veraltete Nachahmungen, aber nur eine moderne Fotografin: Florence Henri.«35 Doch kaum hatte sie Erfolg als kreative Fotografin, setzte die Weltwirtschaftskrise ein und ihre Erbschaft reichte nicht mehr aus. Sie eröffnete ein Porträtstudio, nahm eine Reihe kommerzieller Arbeiten an und bildete unter anderen Gisèle Freund und Lisette Model aus. Henris kommerzielle Arbeit zu dieser Zeit popularisierte auch die Fotografie des Neuen Sehens an unwahrscheinlichen Stellen, etwa im softpornografischen Paris Magazine, das sich selbst als »sehr GEWAGT« bezeichnete und »100 sehr bewegende Fotos« enthielt, aber auch surrealistische Akte von Germaine Krull und Man Ray veröffentlichte.36 Auf dem Bild aus einer Ausgabe des Paris Magazine von 1934 ist

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der Oberkörper einer nackten Frau mit kurz geschnittenen Haaren zu sehen, die möglicherweise auf dem gleichen weichen, weißen Stoff liegt wie Soupault auf ihrem Bild. Doch diese Frau liegt verkehrt herum, sodass ihr Körper sowohl erotisiert als auch verfremdet wird. Auch wenn das Bild in einer gewöhnlichen Softcore-Publikation erschienen sein mag, ist es kein typischer Akt mit schüchtern-kokettem Blick. Es ist eher ein Foto einer unbekleideten schönen Person. Andere Fotografien von Henri beziehen sich offensichtlicher auf Bondage-Ikonografie, selbst wenn sie neue weibliche Typen einer modernen, sexuell selbstbestimmten Frau schaffen. Ein Portfolio mit Aktfotos aus dem Jahr 1934 enthält das Bild einer schlanken Frau, das aus nächster Nähe aufgenommen wurde, sodass ihre Figur die Bildfläche vollständig ausfüllt (  Abb. 10). Diese Fotografien scheinen nicht als kommerziellen Arbeiten gemacht worden zu sein, die in den Massendruck gingen, sondern als singuläre Bilder – Kunst zum Vergnügen. Auf diesem Foto trägt die Protagonistin nichts außer einem Gürtel, einem schlanken Streifen aus schwarzem Leder mit einer glänzenden Schnalle, der ihren geschmeidigen Körper in zwei Hälften teilt und den architektonischen schwarzen Streifen an der Wand hinter ihr widerspiegelt. Der Gürtel verleiht der Nacktheit dieser Frau eine eindeutig sexuelle Note, so als wäre sie für ein erotisches Spiel gekleidet, und doch wirkt die junge Frau auf dem Foto mit ihrem kurzen Haar nachdenklich und eigenständig, wie eine Diana der Neuzeit. Auch hier wendet das Modell seinen Blick von der Kamera in einer Geste ab, die seine eigene sinnliche Erfahrung und sein Seelenleben evoziert. Und doch könnte dieses erotisch aufgeladene Bild durchaus jede*n Betrachter*in ansprechen. Da Henri diese Fotografien offenbar nicht zur Veröffentlichung verkaufte, behielt sie die Kontrolle über den visuellen Zugang zu diesen Bildern, die eher Privatgegenstände geblieben zu sein scheinen, die unter Freund*innen und in den Räumen des Ateliers geteilt wurden.37 Sowohl Peiffer Watenphul als auch Henri als queere Bauhaus-Figuren zu betrachten, beleuchtet neue Aspekte ihrer Arbeit und enthüllt bisher unbekannte Kreise der Zugehörigkeit – einen weiteren Aspekt des Bauhauses selbst. Diese Netzwerke von Bauhaus-Fotograf*innen förderten die Schaffung neuer Bildformen – camp-artiger Por-

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 Abb. 10 Florence Henri, ohne Titel (Akt), 1934, 20,1 × 14 cm (aus: Ausstellungskatalog Millon et Associes, Paris 2008)

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träts, Grotesken, Akte, die vor queerer Sehnsucht brennen – und anderer, deren Nacktheit ebenso viel über ihre Selbstbehauptung und ihre eigenen Wünsche aussagt wie über die der Betrachter*innen. Peiffer Watenphul und Henri, die beide bereits zur Bauhaus-Diaspora gehörten, veröffentlichten ihre queeren Fotografien in Paris. Frankreich war nicht nur in seinen regulären Publikationen aufgeschlossener für solche Arbeiten als Deutschland, vielmehr machten die Machtergreifung der Nazis 1933 und die Gleichschaltung der Medien 1934, als Henri ihre Akte im Paris Magazine publizierte, eine Veröffentlichung dieser Fotografien in Deutschland äußerst unwahrscheinlich. Die Verheißungen von 1919 als Aufbruch zu einem neuen Weg der Demokratie und zur Freiheit wurden nicht immer reibungslos umgesetzt. Richard Grune, ein engagierter linker Bauhäusler, litt als erkennbar schwuler Mann unsäglich unter dem NaziRegime (  Abb. 11). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 setzte Grune seinen sozialistischen Aktivismus fort und wirkte zusammen mit Kieler Freund*innen an der Gründung von zwei antifaschistischen Zeitungen mit, von denen eine 1933 und eine 1934 in einer Auflage erschien. Er wurde 1934 verhaftet, jedoch nicht wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten oder der Herausgabe von Propaganda. Grune wurde als Homosexueller denunziert, der, so die Quelle, zwei extravagante Schwulenpartys in seinem Berliner Künstleratelier veranstaltet hatte. Als Homosexueller verurteilt, sollte Grune die nächsten elf Jahre fast ausschließlich in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern verbringen. 1937 kam er nach Sachsenhausen und von dort 1940 weiter nach Flossenbürg, einem Zwangsarbeitslager mit Steinbruch, in dem bekanntermaßen schwule Häftlinge routinemäßig lebensgefährliche Arbeit verrichten mussten. Grune verließ das Lager 1945 im Rahmen eines Todesmarsches, überlebte aber. Grunes fragmentarisch erhaltene Lebensgeschichte und sein weitgehend verschollenes künstlerisches Werk verdeutlichen die erhebliche Gefahr und Gewalt, der einige Bauhäusler*innen ausgesetzt waren, insbesondere jene, die es durch ihre Politik und ihre Sexualität wagten, die Grenzen der Gesellschaft zu überschreiten.38 Leiteritz’ queere Paarungen und singuläre Abstraktionen veranschaulichen, wie zur Generation der unabhängigen neuen Frauen, die das Bauhaus hervorgebracht hat,

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 Abb. 11 Richard Grune (mit Niels Brodersen), Umschlag von Die Rote Kinderrepublik. Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder (Berlin 1928), 28,7 × 22,9 cm

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Anmerkungen 1 Dieser Aufsatz basiert auf dem vierten Kapitel, fragte ihn der Staatsanwalt zu dieser Gedichtzeile; als Antwort darauf hielt Wilde eine inzwischen »Queer Bauhaus«, meines auf Englisch erschieberühmte Apologie der gleichgeschlechtlichen nenen Buches Haunted Bauhaus: Occult Spirituality, Gender Fluidity, Queer Identities, and Radical Liebe. Vgl. Lucy McDiarmid: »Oscar Wildes Rede Politics (Cambridge, MA 2019, S. 132–169). Ein von der Anklagebank«. In: Textuelle Praxis, Nr. 3, weiterer Auszug des Buches, »Queer Coded Bau2001, S. 453–455. haus«, erschien in: Ines Weizman (Hg.): Traces of 5 Heinz Loew war 1926–1931 am Bauhaus; er stuthe Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 86– dierte Theater und Bildhauerei und wurde Mitar88. Übersetzung des Beitrags und aller Zitate aus beiter in der Bildhauerwerkstatt. Außerdem expedem Englischen von Michael Pilewski. rimentierte er mit der Fotografie, und zwar allein 2 Vergleichsfotos im Bauhaus-Archiv belegen zweiund in Zusammenarbeit mit Edmund Collein (vgl. felsfrei, dass diese Aufnahme in einem der Ateliers Jeannine Fiedler: Bauhaus Photography. London im Prellerhaus des Bauhauses Dessau entstanden 1990, S. 349) und Joost Schmidt (vgl. Heinz Loew / ist, vermutlich in dem von Heinz Loew. Helene Nonne-Schmidt: Joost Schmidt: Lehre und 3 Karen Koehler bietet eine reichhaltige InterpretaArbeit am Bauhaus 1919–32. Düsseldorf 1984). Wetion dieses Bildes, die sich von meiner unterscheiniger ist über Karl Hermann Trinkaus bekannt; er det; sie konzentriert sich auf die beiden Figuren trat im Herbst 1927 in den Vorkurs des Bauhauses als Spiegel-Doppelgänger, die Tod und Verlust heund im Frühjahr 1928 in die Bildhauerwerkstatt raufbeschwören. Vgl. Karen Koehler: »Bauhaus ein. Vgl. Folke Dietzsch: Die Studierenden am BauDouble Portraits«. In: Elizabeth Otto / Patrick haus: eine analytische Betrachtung zur Struktur der Rössler (Hg.): Bauhaus Bodies: Sexuality, Gender, Studentenschaft, zur Ausbildung und zum Leben der and Body Culture in Modernism’s Legendary Art Studierenden am Bauhaus sowie zu ihrem späteren Wirken. Dissertation, Hochschule für Architektur School. London 2019, S. 281–282. 4 Der Satz »the love that dare not speak its name« und Bauwesen Weimar, 1990, S. 272. Nachdem er stammt aus dem Gedicht »Zwei Lieben« von Lord atemberaubende Anti-Kriegs-Collagen geschaffen Alfred Douglas, dem damaligen Liebhaber Oscar hatte, darunter Das große Spiel im Jahr 1933, arbeiWildes, aus dem Jahr 1894. Während Wildes Protete er als Flugzeugingenieur in der Junkers-Werkzess im Jahr 1895 wegen Sodomie und Unzucht bestatt in Dessau.

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einige gehörten, die es wagten, neuartige, radikal eigenständige Lebensweisen zu pflegen, die intime Beziehungen mit anderen Frauen einschlossen oder auch nicht – wir werden es nie erfahren. Leiteritz war eine Archivarin, und zwar eine sehr gute, die ihr Erbe für die Nachwelt kuratierte, indem sie Werke und Dokumente aussuchte; den Rest legte sie auf den Müllhaufen. Angesichts der Tatsache, dass der Nationalsozialismus bestrebt war, alle Spuren der pulsierenden queeren Kultur im Zwischenkriegsdeutschland auszulöschen, ist es jetzt zwingend notwendig, dass wir so viele Spuren wie möglich einer queeren Geschichte, die am Rande des Bauhauses geistert, in die Geschichte des Bauhauses zurückführen. Die Aufgabe, die Überreste eines queeren Bauhauses zu ermitteln und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, erlaubt es uns – neben Elizabeth Freemans Schriften zu queer hauntology, einer Erforschung dieser queeren Geister –, über eine Geschichte nachzudenken, die von neuen sozialen Beziehungen und neuen Werken miterzählt wird. Vielleicht kann dies, wie Freeman andeutet, auch neue Formen der sozialen Gerechtigkeit hervorbringen.39

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15 Andreá N. Williams: »Frances Watkins (Harper), Harriet Tubman, and the Rhetoric of Single Blessedness«. In: Meridians: Feminism, Race, Transnationalism, Nr. 2, 2014, S. 90–104, hier: S. 102. In ähnlicher Weise hat Benjamin Kahan provokativ behauptet, dass die Zeit gekommen sei, über das Zölibat nachzudenken. Vgl. Benjamin A. Kahan: Celibacies: American Modernism and Sexual Life. Durham, NC 2013, S. 1; sowie das Vorwort von Rudolph Bell und Virginia Yans zu ihrem gemeinsam herausgegebenen Band: Women on Their Own: Interdisciplinary Perspectives on Being Single. New Brunswick, NJ 2010, S. 1–15. 16 Zu seinen Gemälden siehe Mario-Andreas von Lüttichau (Hg.): Max Peiffer Watenphul: von Weimar nach Italien. Köln 1999; insbesondere sein Gemälde von Gertrud Grunow, S. 18. Die Biografie dieses Buches wurde mithilfe von Peiffer Watenphuls Nichte, Alessandra Pasqualucci, vervollständigt. 17 Vgl. Ingrid Radewaldt: »Simple Form for the Necessities of Life: The Weaving Workshop at the Bauhaus in Weimar«. In: Bauhaus-Archiv Berlin / Klassik Stiftung Weimar / Stiftung Bauhaus Dessau (Hg.): Bauhaus: A Conceptual Model. Berlin 2009, S. 81–84 (die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Modell Bauhaus). 18 Solange die Webereiwerkstatt bestand, studierten dort 13 Männer, verglichen mit 128 Frauen. Vgl. Patrick Rössler / Anke Blümm: »Soft Skills and Hard Facts: A Systematic Overview of Bauhaus Women’s Presence and Roles«. In: Elizabeth Otto / Patrick Rössler (Hg.): Bauhaus Bodies: Sexuality, Gender, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School. London 2019, S. 3–24. 19 Vgl. Lars Müller / Bauhaus-Archiv, Museum für Gestaltung (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar, 1919– 1923. Weimar 1923, S. 136. Obwohl dies Peiffer Watenphuls einzige Webarbeit ist, wurde sie so gut aufgenommen, dass eine Kopie davon angefertigt wurde. Heute ist nur noch eine Version erhalten, und niemand, auch nicht Peiffer Watenphul selbst im späteren Leben, weiß, um welche Version es sich handelt. Vgl. Radewaldt 2009, S. 82. 20 Vgl. von Lüttichau 1999, S. 111–113. 21 Fotografieren, Posieren und Verkleiden spielten bei diesen Freundschaften eine Rolle, wie die im Laufe der Jahrzehnte entstandenen Fotos dokumentieren. Vgl. Grace Watenphul Pasqualucci / Alessandra Pasqualucci: Max Peiffer Watenphul. Werkverzeichnis: Zeichnungen, Emailarbeiten, Textilien, Druckgraphik, Photographie. Köln 1993, S. 411–420. 22 Grotesken von beiden wurden in einer der führenden avantgardistischen Fotopublikationen der Zeit veröffentlicht, Photographie 1931 (Paris 1931), zusammen mit der hier besprochenen Groteske von Johanna Ey. Peiffer Watenphul malte 1922 das Porträt von Margarete Willers, nachgedruckt in Michael Siebenbrodt et al: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten. Ostfildern-Ruit 1994, S. 97. 23 Zitiert nach Peter Hahn: »Vorläufig nehme ich erst einmal alles auf: Max Peiffer Watenphuls Fotografien«. In: Ders. (Hg.): Max Peiffer Watenphul. Ein Maler fotografiert Italien, 1927 bis 1934. Berlin 1999, S. 2–12, hier: S. 4.

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6 Wie ich im vierten Kapitel meines Buches Haunted Bauhaus anmerke, führte § 175 nicht nur zu Verhaftungen, sondern auch zur Erpressung und manchmal zum Selbstmord von Männern, die verdächtigt wurden, schwul zu sein; und Magnus Hirschfeld war sehr aktiv im Kampf gegen dieses Statut. Vgl. James Steakley: »Cinema and Censorship in the Weimar Republic: The Case of Anders als die Andern«. In: Film History (New York), Nr. 2, 1999, S. 185–186, hier: S. 186. 7 Jonathan Katz: »The Art of the Code: Jasper Johns and Robert Rauschenberg«. In: Whitney Chadwick / Isabelle de Courtivron (Hg.): Significant Others: Creativity and Intimate Partnership. New York 1993, S. 188–207, 251–152. 8 Jonathan Katz: »Hide / Seek: Difference and Desire in American Portraiture«. In: Ders. / David C. Ward: Hide / Seek: Difference and Desire in American Portraiture. Washington, DC 2010, S. 13–15, hier: S. 14. 9 Ein bahnbrechender Essay über Sexualität am Bauhaus stammt von Ute Ackermann: »The Bauhaus: An Intimate Portrait«. In: Jeannine Fiedler (Hg.): Bauhaus. Köln 2006, S. 108–119. In letzter Zeit werden Themen von Geschlecht und Sexualität aufgegriffen in vielen der Aufsätze in Elizabeth Otto / Patrick Rössler (Hg.): Bauhaus Bodies: Sexuality, Gender, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School. London 2019. 10 Weitere Informationen über die wichtige Rolle von Publikationen im Kampf für die Emanzipation der Homosexuellen finden sich in Laurie Marhoefer: Sex and the Weimar Republic: German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis. Toronto 2015, insbesondere S. 40–49, 64–79. 11 Vgl. ebd., S. 4. 12 Hirschfelds Rede im Film wird hier zitiert nach James Steakley: »Film und Zensur in der Weimarer Republik. Der Fall ›Anders als die Andern‹«. In: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Nr. 21, 1996, S. 2–33. Vgl. Magnus Hirschfeld, Rede am 24. Mai 1919 zur Premiere von Anders als die Andern, in englischer Übersetzung in Vito Russo: The Celluloid Closet: Homosexuality in the Movies. New York 1987, S. 20. 13 Johanna Voelcker: Lebenslauf, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus 156, Blatt 152. Unter: https://staatsarchive.thulb.unijena.de/rsc/viewer/ThHStAW_derivate_00000358/ BH_Weimar_12_1363.jpg (letzter Zugriff: 15.03.2021). 14 Vgl. Bärbel Reetz: Emmy Ball-Hennings: Leben im Vielleicht. Frankfurt am Main 2001, S. 272. Über diese Ereignisse liegen zwar nur wenige Informationen vor, aber Hennings, deren späterer Familienname Schuett lautete, war 1928/29 im Vorkurs und dann in der Webereiwerkstatt am Bauhaus. Vgl. Dietzsch 1990, S. 258. Eine Fotografie von ihr im Sommer 1929 von Josef Albers ist abgebildet in Sarah Hermanson Meister: One and One Is Four: The Bauhaus Photocollages of Josef Albers. New York 2017, S. 61. Vgl. auch Isabella Studer-Geisser: Maria Geroe-Tobler, 1895–1963. Ein Beitrag zur Schweizer Textilkunst des 20. Jahrhunderts. Dissertation, Universität Zürich, 1995.

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ardian God« [1976]. Nachgedruckt in: Wolfgang Jacobsen: Conrad Veidt. Lebensbilder, Ausgewählte Fotos und Texte. Berlin 1993, S. 21–23. Es gibt zwar keine stichhaltigen Beweise dafür, dass Peiffer Watenphul speziell mit einer schwulen Gemeinschaft in Verbindung gebracht werden kann, aber seine Grotesken und seine Freundschaften mit anderen schwulen Männern, darunter Bauhäusler Werner Gilles und später Jean Cocteau, lassen auf schwule Verbindungen schließen. Darüber hinaus reiste er oft zu Zielen, die von schwulen Männern frequentiert wurden, darunter Ischia, das er 1937 zum ersten Mal besuchte. Vgl. von Lüttichau 1999, S. 114; Kunststiftung Poll, Berlin (Hg.): Begegnungen in Arkadien. Maler auf Ischia um 1950: Eduard Bargheer, Werner Gilles, Hermann Poll, Max Peiffer Watenphul. Dortmund 2013. 31 Vgl. Peter Weiermair: Wilhelm von Gloeden. Köln 1997. 32 Vgl. Giovanni Battista Martini / Cristina Zelich /  Susan Kismaric: Florence Henri: Mirror of the AvantGarde, 1927–40. New York 2015, S. 194–196; Elizabeth Otto / Patrick Rössler: Frauen am Bauhaus. Wegweisende Künstlerinnen der Moderne. München 2019. 33 Vgl. Herbert Bayer / Ise und Walter Gropius: Bauhaus. New York 1938, S. 154. 34 Die hier beschriebene Fotografie von Margarete Schall wurde reproduziert in: Otto, Haunted Bauhaus, S. 151. 35 Zitiert nach Giovanni Battista Martini / Alberto Ronchetti: »Biography«. In: Florence Henri: Mirror of the Avant-Garde, 1927–40. New York 2015, S. 196–200, hier: S. 197. 36 Vgl. Paris Magazine, Nr. 37, 1934, S. 551, 558, 567. Das andere Foto von Henri in dieser Ausgabe, auf S. 542, zeigt eine klassisch posierende Frau, deren Gesicht durch ihre stilisierte Pose verdeckt wird. Ein weiterer Abzug dieses Fotos bestätigt, dass Henri die markanten Schamhaare des Modells für die Veröffentlichung mit Airbrush herausgearbeitet hat. Siehe den Verkaufskatalog von Millon et Associés: Suite de 16 photographies de nus, par Florence Henri et M. B. De l’artiste de variété Line Viala et du peintre Honor David. Paris 2008, Bild 11. 37 Weitere Fotos aus dieser Serie finden sich in Millon et Associés: Suite de 16 photographies de nus. Paris, Bilder 1, 3, 5 und 7. 38 Vgl. Thomas Röske: »Sexualized Suffering: On Some Lithographs by Richard Grune«. In: Intervalla: Platform for Intellectual Exchange, Nr. 2, 2014, S. 80–96. 39 Vgl. Elizabeth Freeman: Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories. Durham / NC 2010, S. 10.

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24 Susan Sontag: »Anmerkungen zu Camp« [Notes on Camp [1964]]. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt am Main, 2003, S.322–341, hier: 322. 25 Ebd., 341. 26 Ebd., S. 332. Obwohl ihr Essay für die wissenschaftliche Analyse dieses kulturellen Phänomens von grundlegender Bedeutung ist, ist er von einigen kritisiert worden, weil sie camp desexualisiert und wörtlich genommen habe sowie dessen Macht als Subkultur geschmälert habe, indem sie es einem breiten Publikum beschrieben hat. Vgl. Charles Ludlam: »Camp«. In: Steven Samuels (Hg.): Ridiculous Theater: Geißel der menschlichen Torheit. Die Essays und Meinungen von Charles Ludlam. New York 1993, S. 224–228, hier: S. 226. 27 Diese beiden Fotografien wurden von Sotheby’s als Teil von 234 Fotografien verkauft, die angeblich aus der Sammlung von Helene Anderson stammten, einer erfundenen Sammlerin von Kunstwerken um die sogenannte »Neue Frau« aus den 1920er-Jahren. Anderson wurde von der späteren Besitzerschaft der Werke als Tarnung kreiert; vgl. Sotheby’s: Important Avant-Garde Photographs of the 1920s & 1930s. London 1997. Peiffer Watenphul verkaufte diese Fotografien wahrscheinlich um die Zeit ihrer Entstehung, 1929 oder 1930, an Kirchbach (E-Mail-Korrespondenz mit Hendrik Berinson, Galerie Berinson, Berlin, Januar 2011). Der Fotohistoriker Herbert Molderings hat die Wahrheit aufgedeckt, dass dies Kirchbachs Sammlung war. Vgl. »Kunsthandel. Lizenz zum Plündern«. In: Der Spiegel, 20. April 1998, unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7867165. html (letzter Zugriff: 15.03.2021). Dass sich seine Fotografien in dieser besonderen Sammlung befinden, ist umso faszinierender, als eines von Peiffer Watenphuls Gemälden 1937 auch in der Ausstellung Entartete Kunst in München zu sehen war. Vgl. von Lüttichau 1999, S. 113. 28 Peiffer Watenphul schickte sie an Albers, um ihm für seine finanzielle Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg zu danken, als Peiffer Watenphul als deutscher Staatsbürger, der in Italien lebte, keine Arbeit fand (vgl. ihre Korrespondenz in der Josef and Anni Albers Foundation). 29 Archivarische Notizen zu einer Fotografie, Bauhaus-Archiv. Der Text scheint von Paul Eipper zu stammen. Vgl. Paul Eipper: Die Nacht der Vogelsangs: Erzählungen. Berlin 1931. 30 Vgl. zum Beispiel Christopher Isherwoods Erinnerungen an einen schwulen Kostümball in Berlin und die erhabene Anwesenheit des Filmstars Konrad Veidt dort: Christopher Isherwood: »The Gu-

Im September 2015 fegte ein gewaltiger Staubsturm über den Nahen Osten. In Syrien, im Libanon, in Israel / Palästina, sogar in Zypern war die Sicht auf wenige Meter beschränkt. Eine der wissenschaftlichen Erklärungen dieses Staubsturms bestand darin, dass syrische Bauern und Bäuerinnen unter den Auswirkungen von Krieg und Dürre ihre zerstörten Dörfer, Häuser und Felder verlassen hatten, die allmählich zu Staub zerfielen – wie alles, das verlassen wird. Dann kam der Ostwind und trug diesen Staub in die Luft, wo er sich in einem orangen Wolkensystem von kontinentalem Ausmaß sammelte, sich langsam durch die Atmosphäre bewegte und dabei eigensinnig die Staatsgrenzen überquerte. Diese Wolke, die größer war als jeder einzelne Staat, den sie passierte, erinnert uns daran, dass diese wunderbare, aber tragische kriegsgeplagte Region ein gemeinsamer Raum mit einer gemeinsamen Ökologie ist; und dass auch die Menschen, die dort leben, einer gemeinsamen Menschheit angehören. Das Bild des aufgehobenen, transnationalen Staubs erinnert an die berühmte Szene in Michelangelo Antonionis Zabriskie Point, in der in Zeitlupe ein Meisterwerk der Moderne in die Luft gejagt wird – vielleicht der erste Tod, den die Moderne vor laufender Kamera starb, der zweite war jener, den Charles Jencks 1977 polemisch verkündete: die Zerstörung von Pruitt-Igoe. Dieser Essay beginnt mit der Staubwolke der 100-jährigen Geschichte der Moderne in dieser Region und der politischen und kolonialen Projekte, in die sie eingelassen war. Staub ist bewegte Materie, und dieser Essay handelt von dieser Dynamik. Er erzählt die Geschichte zweier Gebäude, von denen eines in Syrien, in den Golanhöhen, steht, das andere in Tel Aviv. Obwohl keines der beiden von Bauhaus-Lehrer*innen oder -Absolvent*innen entworfen wurde, werden beide derzeit – 100 Jahre nach der Gründung des Bauhauses – irrtümlich, wenn auch vielleicht zuneigungsvoll schlicht als Bauhaus-Bauten bezeichnet. Um dieser eigenwilligen Aneignung auf den Grund zu gehen, möchte ich diese beiden Gebäude in den Kontext der Geschichte der modernen Architektur setzen, die schließlich von Grenzen, Exil, Krieg gezeichnet, unterbrochen und verdrängt wurde. Es ist eine Geschichte verstrickter Protagonist*innen, Objekte, Materialien und Vorstellungen. In seiner Form und seinen Assoziationen versucht dieser Essay etwas von dieser Entropie zu fassen. Dabei folge ich einer Methodik, die ich in den letzten Jahren unter dem Begriff der dokumentarischen Architektur entwickelt habe. Ihr gemäß werden Bauten – als materielle und mediale Palimpseste – selbst als historische Dokumente betrachtet. Neben der Untersuchung dieser architektonischen Dokumente, dem traditionellen Zuständigkeitsbereich der Architekturgeschichte, ist die dokumentarische Architektur ein Analyseverfahren, das die Architekturhistoriker*innen in die Nähe der Archäolog*innen rückt.2 Sie zielt darauf ab, den vorhandenen Materialien und Texturen, sei’s mit bloßem Auge, sei’s durch das Mikroskop, ihre Geschichten abzuhorchen, die Geschichten von Zeit und Transformationen. Die Ge-

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schichte von Gebäuden verdichtet und verfestigt sich in einem langen Prozess materieller Transformationen und Anpassungen. Eine formale Analyse der Gebäude, zum Beispiel bloß anhand von Fotografien und Plänen, lässt nicht erkennen, dass die besten Zeugnisse einer Geschichte der Luftqualität, einer Geschichte der Verschmutzung die Gebäudeoberflächen sind, da die chemische Zusammensetzung der Luft sich in den äußersten Millimetern eines Gebäudes niederschlägt. Die dokumentarische Methode – eine Methode, die Gebäude als Diagramme ortsspezifischer materieller Kräfte begreift, die mit abstrakten architektonischen Absichten vereinbart werden müssen – widmet sich der Architektur und der Geschichte der Patina, der Anpassung, der Transformation und des Niedergangs der Gebäude nicht »nur« in Architekturgeschichten, sondern legt offen, was sich der Architekturgeschichte sonst wohl entziehen müsste. Das gilt auch für Staub. Staub ist niemals ein einzelnes Objekt. Staub ist eine gelebte Umgebung, in der menschliche Materialien, Baumaterialien, in der Luft befindliche Stoffe, tierische Materialien und molekulare Stoffe interagieren.3 Wir könnten von Sedimenten sprechen, abgelagerten Schichten der Geschichte. Staub verknüpft ein Objekt mit seiner Umgebung: Er ist weder das eine noch das andere, sondern etwas dazwischen. Er ist eine vollständige Bestandsaufnahme der Umgebung und verbindet sich zu einer einzigen Substanz, sobald er gesammelt und verdichtet wird. Die Figur des Staubs löst die singulären, fetischhaften Eigenschaften jedes Objekts auf, und so auch die eines Bauhaus-Objekts, dessen Fetischqualitäten sich anlässlich des Jahrhundertjubiläums des Bauhauses exponentiell vermehrt zu haben schienen. Mit Blick auf Marc Blochs Die Feudalgesellschaft beschreibt Carlo Ginzburg den Blick des Historikers als »kontinuierliches Hinund Herwechseln zwischen Mikro- und Makrogeschichte, zwischen Naheinstellungen (close-ups), Totalen oder Supertotalen (extreme long shots), um die Gesamtschau auf den historischen Prozess mittels erkennbarer Ausnahmen und temporärer Faktoren permanent in Frage zu stellen.«4 In diesem Sinne von Mikro- und Makrohistorie möchte ich die Materialität der beiden Gebäude, der beiden Subjekte dieses Essays, mit dem Anfang des Bauhauses verbinden. Die gigantische Staubwolke des Jahres 2015 passierte von fortwährenden historischen Katastrophen gezeichnete Stätten. 1915 verdunkelte eine verheerende Heuschreckenplage den Himmel und zerstörte den Großteil der Vegetation in Palästina, im Libanongebirge und Syrien. Die große Hungersnot, die folgte, war eine verheerende Konsequenz politischer, ökonomischer und ökologischer Faktoren, nämlich einer heftigen Dürre, der Heuschreckenplage und einer erdrückenden Waren- und Lebensmittelblockade.5 Nachdem sich das Osmanische Reich mit Deutschland verbündet hatte, erzwangen die Alliierten eine Blockade des gesamten östlichen Mittelmeers, um so die Versorgung abzuschneiden. Die Antwort war eine Blockade, die von General Cemal Pascha angeordnet wurde, dem türkischen Militärbefehlshaber in Syrien, der auch verantwortlich war für die Völkermorde an den Armenier*innen, Aramäer*innen und Assyrer* innen, die damals ihren Anfang nahmen. Am 9. Mai 1915 schrieb der in Jerusalem stationierte osmanische Soldat Ishan al-Turjman in sein Tagebuch (das 1917 verloren ging und in den 1970er-Jahren in der Abteilung für herrenlose (sic) arabische Besitztümer der Bibliothek der Hebräischen Universität wieder auftauchte):6 »Von allen Seiten trachtet man uns nach dem Leben: ein europäischer Krieg, ein osmanischer Krieg, die Preise gehen durch die Decke, eine Finanzkrise, und im Norden und Süden greifen die Heuschrecken das Land an. Dazu kommen die Infektionskrankheiten, die sich in den osmanischen Gebieten ausbreiten.«7 Tatsächlich breiteten sich in der Region Krankheiten wie Malaria, Ruhr, Typhus und Fleckfieber epidemisch aus.8

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Es mag schwierig sein, eine klare kausale Verbindung zwischen militärischer Gewalt, ethnischen Säuberungen, Völkermord und den damaligen Epidemien herzustellen, aber sie standen ganz offenkundig in einer Wechselbeziehung. Damals verbreitete sich die Spanische Grippe entlang der Fronten des Ersten Weltkrieges und der Handels- und Versorgungsströme, die der Krieg hervorbrachte. Mit diesem besonders bösartigen Stamm von Grippeerregern wurden weltweit etwa 500 Millionen Menschen infiziert, mehr als 50 Millionen starben zwischen März 1918 und März 1920. Ungeachtet des Ausmaßes und der Folgen wurde diese entsetzliche Zahl kaum dokumentiert und kommentiert, vermutlich weil sie vor allem aus dem Blickwinkel des europäischen Kontinents betrachtet wurde und die westliche Geschichtsschreibung dazu neigte, sie im Vergleich mit den Zerstörungen der beiden Weltkriege zu bagatellisieren.9 Dagegen argumentiert Laura Spinney in ihrem Buch Pale Rider, die Geschichte der Pandemie verlange einen anderen Ansatz, von der Grippe zu erzählen.10 Als Beginn der Pandemie gilt gemeinhin der Bericht vom Erkranken eines Kochs in Camp Funston in Kansas am 4. März 1918. Dabei handelte es sich um eines der Militärlager, in denen Soldaten für das US-Expeditionskorps AEF (American Expeditionary Forces) rekrutiert und ausgebildet wurden. Sie sollten das Grippevirus kurze Zeit später nach Europa tragen, zunächst nach Frankreich, dann, in den letzten sechs Monaten des Krieges, in die Gräben der Westfront und von dort nach Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien. Im Mai 1918 erreichte das Virus Nordafrika und Indien, im Juli China, Japan und Australien. Tatsächlich breitete sich die Grippe weltweit in drei deutlich unterscheidbaren Wellen aus – und um ihre Auswirkungen zu begreifen, braucht es eine nicht europäische Perspektive und eine Form der Geschichtserzählung, die nicht nur chronologisch vorgeht. Denn die Pandemie ist, wie Spinney bemerkt, kein rein biologisches Phänomen, sondern ebenso ein soziales. Sie lasse sich nicht unabhängig von ihrem historischen, geografischen und kulturellen Kontext betrachten.11 Vielleicht ist es gar zu sinnbildlich, dass der britische Diplomat Sir Mark Sykes, der im Abkommen mit seinem französischen Kollegen François George-Picot die schicksalshafte Linie durch den Nahen Osten zog, die den Namen der beiden trägt, im Jahr 1919 diesem Virus zum Opfer fiel. Zum Zeitpunkt seines Todes wurden im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz in Versailles verschiedene Möglichkeiten, diese Linie zu ziehen, skizziert und debattiert. Am 16. Februar 1919 starb er, 39-jährig, in einem Zimmer im Pariser Hôtel Le Lotti. Da er ein Diplomat und adliger Abstammung war, wurden seine Überreste nicht wie die vieler Tausender Opfer der Krankheit in ein Massengrab geworfen, sondern in einem hermetisch verschlossenen Bleisarg zu seiner Familie ins Sledmere House, Yorkshire, gebracht. Dieser Körper im Bleisarg ist eine der wenigen Spuren, die heute noch von diesem Virus erhalten sind. Im Jahr 2008, 89 Jahre nach Skyes’ Tod, wurde sein Leichnam ausgegraben. Wissenschaftler*innen versuchten, in seinen außergewöhnlich gut erhaltenen Überresten den genetischen Fingerabdruck des Virus von 1919 zu finden – in der Hoffnung, dadurch einen Impfstoff gegen das tödliche H1N1-Virus entwickeln zu können, das sich gerade weltweit verbreitete. Der Bleibehälter enthielt einen toten Körper, aber lebendige Viren. Und diese Viren in Sykes’ Gebeinen enthalten gleichsam alle Informationen, um die epidemiologische Geschichte des Ersten Weltkrieges zu entfalten – und damit der kompletten Neuordnung der Staaten, die die blutigen Grenzen des Nahen Ostens in den kommenden Kriegen, Konflikten und kolonialen Forderungen unterlaufen haben. Skyes’ Enkel Christopher Simon Sykes sagte im Vorfeld der Exhumierung: »Es ist schon faszinierend, dass er noch als Leichnam etwas Gutes für die Welt bewirken könnte.«12 Die virologische Archäologie ist Teil einer Archäologie der Moderne.

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Bauhaus auf dem Golan15 Die Zollposten, die der Daesch stürmte, waren nicht die einzigen, die durch die Verlagerung der Grenzen hinfällig geworden waren. Es gibt zwei verlassene Zollgebäude, ein britisches und ein französisches, die etwa eine Meile voneinander entfernt auf beiden Seiten der Sykes-Picot-Linie liegen, am Rande des von Israel besetzten Golan.16

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Das Sykes-Picot-Abkommen, ein Jahrhundert später Ebenfalls 1919 wurde das Bauhaus eröffnet, als Studierende und Lehrende von den Fronten des Ersten Weltkrieges zurückkehrten. Wie Norbert Korrek in seinen Forschungen ausführte, befand sich in dem Gebäude von Henry van de Velde – der als Belgier mit Kriegsausbruch selbst zum feindlichen Ausländer wurde – noch ein Krankenhaus für Kriegsversehrte, als Walter Gropius das Bauhaus gründete, weshalb es sich das Gebäude mit Soldaten und medizinischem Personal teilen musste.13 Das Deutschland, in das diese Soldaten zurückkehrten, war ein anderes: die alte Ordnung gestürzt, das Land in Trümmern, ein zerstörtes System, zerstörte Körper, der Kaiser war abgetreten, und aus dem Kaiserreich ging ein Nationalstaat hervor. Menschen bewegten sich kreuz und quer über den Kontinent. Überall Flüchtlinge. Das Europa von Ende 1918 mag kaum mit dem Nahen Osten vergleichbar sein, aber es erinnert uns doch an die Hunderttausende Flüchtlinge, die sich seit 2011 auf eine gefahrenreiche Reise begeben haben, um dem Krieg in Syrien und anderswo zu entkommen, aus Städten, zerstört von Bomben und Messern, zu Staub geworden. Die beiden Szenarien sind nicht identisch, doch das eine ist die Folge des anderen. Was gegen Ende des Ersten Weltkrieges geschah, gab den Konflikten, die die folgenden 100 Jahre bestimmen sollten, ihre Kontur. Die jüngsten Kriege und die Bilder spektakulärer Gewalt, die sie hervorgebracht haben, sind unter anderem Folgen der historischen Gewalt, deren Wurzeln in die Kolonialgeschichte der Levante zurückreichen, und der politischen und kulturellen Besetzung, die dieses Gebiet in den letzten 100 Jahren erfahren hat. Diese koloniale Ordnung und ihr blutiger Zusammenbruch sind nirgends so deutlich greifbar wie an der Sykes-Picot-Linie, die mit dem Messstab durch den Sand gezogen wurde, um die nach dem Ersten Weltkrieg von Großbritannien kontrollierten Gebiete von denen abzugrenzen, die von Frankreich beherrscht wurden: also Palästina von Syrien und Syrien vom Irak.14 In einem Video des Daesch von 2014 erklärte ein siegreicher islamischer Kämpfer, wie er mit seiner Armee einen Zollposten an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien erstürmt hatte. Nachdem er wütend auf einen Metallpfosten eingetreten hatte, der vormals die Grenze markiert hatte, wies der Kämpfer auf eine Karte, die auf die Außenwand eines Gebäudes gemalt war, vermutlich ein ehemaliger französischer Grenzposten. Er beschrieb sie als Erbe westlicher Kolonialgeschichte, nicht der Politik und Kultur der Region. Der Film endet mit der Ankündigung, der Daesch werde alle Zollposten entlang der Sykes-Picot-Linie einnehmen. In der Schlussszene – die eine Hommage an Antonioni sein könnte – explodiert das Gebäude, geht auf in einer gewaltigen Staubwolke. Diese Zerstörung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Architektur der Grenze, das heißt der Zollposten als Manifestationen einer Grenze, die über die längste Strecke unbefestigt und ungeschützt verlief. Ihre Architekturen zeigen, dass die Levante von Kairo über Amman bis Damaskus als Versuchsraum gesehen wurde, auf den die Entwicklungen der Moderne projiziert wurden. Die Moderne begriff sich selbst als grenzüberschreitende Bewegung, doch entlang der Sykes-Picot-Linie wurde sie in den Dienst imperialer Grenzziehungen gestellt: als Teil einer imperialen Infrastruktur von Erdöl-Pipelines, Kanälen, Bahnstrecken und Flughäfen.

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Sobald man den Jordan und die international anerkannte Grenze Israels überquert hat und sich in östlicher Richtung in die Golanhöhen bewegt,17 kann man sie an der israelischen Schnellstraße Nr. 91 entdecken, die lange Zeit eine Ost-West-Handelsroute durch den Nahen Osten darstellte. Diese Gebäude markieren einen der vielen Übergänge über die Sykes-Picot-Linie. Während auf der britischen Seite nur ein Gebäude an den Hof einer ehemaligen Karawanserei gebaut wurde, sieht die französische Seite komplett anders aus. Ein prachtvolles modernes Ensemble von Gebäuden, das die in der Nachbarschaft lebenden Israelis und forsche Touristenführer*innen »Bauhaus auf dem Golan« nennen. Die Errichtung dieser Zollposten zeugt von zwei historisch entscheidenden geopolitischen Transformationen in der Levante: der Aufteilung des besiegten Osmanischen Reiches unter den europäischen Mächten nach dem Ersten Weltkrieg und der konstitutiven Ära des vorstaatlichen Zionismus. Allerdings handelt es sich bei dem, was großzügig und ungenau als Bauhaus auf dem Golan bezeichnet wird, um ein Ergebnis des Transfers der Moderne in die Levante – ein Transfer, den man im politischen Kontext weiterer kolonialer europäischer Transfers verorten und begreifen muss, statt ihn als Zeugnis einer bekannten Architekturschule zu vermarkten. Die Architektur war Medium und Instrument einer neuen politischen Ära in der Region. Während zwischen Frankreich und der südlichen Küste Englands, zwischen Dover und Calais etwa ein 30 Kilometer breiter Kanal liegt, gab es hier nur ein Rinnsal: den Jordan, wenige Meter breit, über den ungelenk eine kartografische Linie gezogen wurde, die aufs Geratewohl weiterlief durch den restlichen Nahen Osten, dann und wann punktiert durch koloniale Vorposten wie diese Zollhäuser. Die Zollhäuser befinden sich auf einem Hügel direkt hinter der internationalen Grenze, die der Jordan markiert, über den heute zwei Brücken führen. Eine wurde erst kürzlich errichtet, sie wird von Autos und Panzertransportern genutzt, die mehrmals am Tag in die Berge hinein und wieder heraus fahren; die andere ist eine stillgelegte BaileyBrücke,18 die nach der Besetzung durch das israelische Militär in den 1960er-Jahren dort gebaut wurde, wo sich noch Überreste der mittelalterlichen Jisr-Benât-Ya’q b-Brücke fanden (  Abb. 1).19 Dieser Übergang markierte den nördlichsten Punkt, den Napoleons Armee im Versuch, den Nahen Osten zu erobern, erreichte. Major Fritz Ludloff, ein deutscher Offizier, der bei der zwischen 1911 und 1913 durchgeführten Samarra-Expedition des Archäologen und Orientalisten Ernst Herzfeld für Zeichnungen und Luftaufnahmen zuständig war,20 scheiterte im September 1918 am selben Punkt beim Versuch, dem Befehl von General Otto Liman von Sanders zu folgen und die Brücke gegen die berittene Infanterie der Australian Mounted Division zu halten, die vom britischen General Sir Edmund Allenby angeführt wurde.21 Die letzte Geste der Deutschen in Palästina bestand darin, die Brücke zu sprengen, die seit der Römerzeit Jaffa über die Via Maris mit Quneitra und Damaskus verbunden hatte – und damit Ägypten mit den nördlichen Reichen Syrien, Anatolien und Mesopotamien. Wie die unter diesem Namen bekannte Straße mag auch diese »Straße nach Damaskus« unserer Lektüre der modernen Historiografie einen Dreh geben. Heute ist die Straße gesäumt von Zäunen, hinter denen Minenfelder liegen, etlichen israelischen Militärbasen, den verbrannten Kadavern syrischer Panzer, Denkmälern für gefallene israelische Soldaten, Überresten der Basaltwände gewaltsam geräumter syrischer Dörfer und Panzersperren. Die Minenfelder schützen hier kurioserweise die Natur. Die Landschaft erscheint ursprünglich, unberührt, voller wild lebender Tiere, ungestört grasender Rinder, Blumen, die zeigen, dass die Natur vom Fortschritt viel drastischer bedroht ist als von Kriegen. Es ist eine bizarre Landschaft, etwas Apocalypse

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 Abb. 2 Luftaufnahme der Royal Air Force des britischen (links) und des französischen Zollpostens (rot markiert und vergrößert von der Autorin) an der Grenze zwischen dem französischen und dem britischen Mandatsgebiet in den westlichen Golanhöhen (RAF PS12, Nr. 5134, 29. Januar 1945)

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 Abb. 1 Drohnenaufnahme der heutigen Schnellstraße 91 und der stillgelegten Bailey-Brücke am Ort der ehemaligen Jisr-Benât-Ya’qūbBrücke über den Fluss Jordan, 2019

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Now, etwas Herr der Ringe oder The Sound of Music. Ganz in der Nähe der Brücke liegt das ehemalige britische Zollgebäude, das – im Gegensatz zu seinem voll ausgebauten Gegenstück weiter oben in den Bergen – verfallen und unzugänglich ist (  Abb. 2). Eingeschlossen von einem Zaun mit Minenwarnungen, kann es nur mithilfe von Drohnenaufnahmen studiert werden.22 Wo Frankreich seinen Stolz und seine Macht markierte, indem es auf Höhe der Berge einen großen modernistisch-funktionalistischen Gebäudekomplex errichtete, eignete sich Großbritannien einen arabischen Khan oder eine Karawanserei an, einen Hof mit Gebäuden, in denen sich Ställe für Tiere und eine Herberge für Reisende und Händler*innen fanden. Dieser Bau wurde um einen größeren Lager- und Bürobereich im für diese Zeit so typischen orientalistisch-eklektischen britischen Stil erweitert. Die Kühe, die heute in diesem Gebäude leben, mögen sich dieser Zeit noch erinnern. Kein Wunder, dass sie sich dort wohlfühlen, denn dank der rundum zu vermutenden Minen war meiner wohl der erste Besuch, den sie überhaupt bekommen haben. Man könnte sagen, dass sich Großbritannien bis Mitte der 1930er-Jahre nur langsam für die Moderne öffnete, und zwar sowohl in der Heimat als auch an den kolonialen Außenposten. Die Forschungsarbeit, Dokumente ausfindig zu machen, die es erlauben, die Urheberschaft dieser beiden Bauten zu benennen und diese zu datieren, ist noch nicht getan, aber fürs Erste können wir den Stil der beiden Gebäude einer Lektüre unterziehen – der im einen Falle ortsbezogen und eklektisch, im anderen modern ist. Sie scheinen die unterschiedliche Haltung zur modernen Architektur zu repräsentieren, die Großbritannien und Frankreich Mitte der 1920er-, Anfang der 1930erJahre einnahmen. Der französische Zollposten befindet sich heute in privater Hand. Im September 2019, rechtzeitig zu den Feierlichkeiten des Bauhaus-Jubiläums in Tel Aviv, wurde hier ein Boutique-Hotel eröffnet, nachdem der Eigentümer, Leo Gleser, ausgedehnte Renovierungsarbeiten hatte durchführen lassen, begleitet von einer enthusiastischen Kampagne. Colonel Gleser, wie er auch genannt wird, ist ein ehemals hochrangiger Offizier der Armee und des Mossad und hat sich in jüngerer Vergangenheit einen Namen als führender Sicherheitsberater für internationale Großevents wie die Olympischen Spiele in London und Rio gemacht. Im Jahr 2012 pachtete er Land und Gebäude und machte sich unverzüglich daran, das heruntergekommene, von Einschüssen durchsiebte Gebäude, das jahrelang als Zielscheibe, als Toilette und als Wandfläche für jugendliche Graffiti-Künstler*innen gedient hatte, in etwas zu verwandeln, das er ein »Bauhaus-Hotel« nennt und das auf Tourist*innen zählt, die sich an dieser vom Krieg geschundenen, eher sogar vom Krieg bewahrten Landschaft erfreuen wollen (  Abb. 3). Auch wenn es keine belegbare Verbindung zwischen dem Bauhaus und diesem Gebäude gibt, versuchte er, es einzubinden in die internationalen Feierlichkeiten zum Bauhaus-Jubiläum. Mit der Hilfe der israelischen Armee und des Ministeriums für Tourismus gelang es ihm, ein Gebiet von 70 Dunam (etwa 7 Hektar) rund um das Zollhaus und die angrenzenden Bauten von Minen zu befreien und großzügig neue Zufahrten und Wege zu gestalten. Ein Architekturbüro und eine Ingenieursfirma vor Ort entwickelten einen Plan für einen Boutique-Hotel-Komplex mit Luxuswohnungen. Die Tochter des Eigentümers, eine junge Innenarchitektin, übernahm die Aufgabe, die »Bauhaus-Charakteristika« des Gebäudes zum Vorschein zu bringen. Gleser selbst reiste nach Europa, um historische Baumaterialien zusammenzutragen. Aus der näheren Umgebung ließ er Dutzende Palmen umpflanzen, schließlich wurden – da die Palmen auch nach zwei Jahren nicht gediehen – einige Olivenbäume aus der umgebenden Region herbeigeschafft. Das neue Hotel wurde mit einem Schwimmbad ausgestattet und zusätzliche Gebäude wurden errichtet, um die Kapazität des Hotels zu steigern.

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Das Beit Ha-Mekhes Ha-Elyon – hebräisch für: Oberes Zollhaus in den Golanhöhen – war eigentlich kein einzelnes Gebäude, sondern ein Ensemble von Bauten verschiedener Größe und Funktion. Hinter einer Mauer, von der noch Überreste erhalten sind, befanden sich das Hauptgebäude des Zollamts, das Haus des Steuerbüroleiters und ein Gebäude, das Gleser »das Casino« nennt. Außerhalb der Mauer, unmittelbar oberhalb der heutigen Schnellstraße 91, befand sich ein passierbarer Kontrollposten, der anders als die Gebäude innerhalb der Mauern aus Beton war, möglicherweise in den späteren 1930er-Jahren erstellt. Dieses Gebäude, das in den frühen 1970er-Jahren zerstört wurde, verfügte über etwas, das als abgerundeter Kassenschalter, Kiosk oder Wachposten dienen konnte. In der Nähe dieses Gebäudes befand sich ein kleiner Bunker, der am 15. Juni 1967 überraschend in die Luft flog, als die siegreiche israelische Armee wenige Tage nach Ende des Sechstagekrieges mit Munition hantierte, die darin gelagert wurde. Elf israelische Soldaten verloren bei der Explosion ihr Leben, ein Vorfall, der in der Siegeseuphorie nach dem Krieg nicht gemeldet, sondern erst um 1990 bekannt wurde.23 Durch die Renovierung ist es nun schwierig, das ursprüngliche Ensemble zu erkennen. Bevor damit begonnen wurde, ließen die Schusslöcher in den Gebäuden, die wohl eher von israelischen Militärübungen als von kämpferischen Auseinandersetzungen stammen, die Basaltmauern unter dem ursprünglich dunkelgelb / ocker gestrichenen Betonputz erkennen – ein Indiz dafür, dass die Gebäude wohl von Maurern vor Ort gebaut wurden. Das Hauptgebäude, das die übrigen leicht überragt, ist ein rechteckiger zweistöckiger Bau, hinter dessen nüchtern-modernen Wänden sich ein eher klassisches Empfinden für Ordnung und Symmetrie zeigt. Es ist typisch für das, was Jean-Louis Cohen als militarisierte Moderne beschrieben hat.24 Grund- und Aufriss des Gebäudes sind eher langweilig, eine recht unscheinbare, aber respektable Institution. Das Haupttreppenhaus ist der Fassade etwas vorgelagert und überragt die Dachlinie um ein Stockwerk, vielleicht einem Uhrenturm nachempfunden.

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 Abb. 3 Drohnenaufnahme vom renovierten Hotelkomplex (ehemaliger französischer Zollposten) mit Schriftzug »Bauhaus« in Anlehnung an den Schriftzug am Bauhaus Dessau, 2019

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Bauhaus in der Levante Es ist nicht mehr möglich, auf dieser Straße von Jaffa nach Damaskus zu reisen oder von Haifa nach Beirut und Istanbul und zurück nach Kairo. Der Raum der Moderne im Nahen Osten – Henry Russel Hitchcock und Philipp Johnson sahen die Moderne als Bewegung in der Architektur, aber auch als eine Bewegung über Grenzen hinweg – scheint fragmentiert zu sein, zerstückelt. Das war nicht immer so. Dass sich dort ein Zollposten befand, bedeutet schließlich, dass Güter und Menschen trotz der Grenzen passieren konnten, dass es einen aus heutiger Sicht größeren, fluideren Raum gab, in dem man sich bewegen, in dem Handel stattfinden konnte. Die Geschichte der arabischen – oder levantinischen – Moderne zu erzählen, sie über die gegenwärtigen Staatsgrenzen hinweg zu verfolgen, ist eine Arbeit, die noch kaum in Angriff genommen wurde, und die ich hier in diesem Rahmen nicht weiter ausführen kann. Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass das Zollhaus ein Übergangspunkt ist, ein mögliches Verbindungsstück zwischen zwei Geschichten von Bewegung und Migration – jener von der Migration über Grenzen hinweg, die die Menschen in der Levante auf ihrem eigenen Weg zur Modernisierung unternahmen; und jener anderer Moderner, die vom aufziehenden Sturm der Geschichte in die Region geworfen wurden. Diese Geschichten haben sich schließlich tragisch überlagert, verwirrt, sind zusammengerauscht. Doch die Geschichte der jüdischen Migration und Flucht nach Palästina und die Geschichte der Moderne in der arabischen Welt sind auch ein und dieselbe; ihre Welt ist dieselbe. Das

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Direkt neben diesem Gebäude befindet sich das Haus des Direktors oder des Leiters des Steuerbüros, das eine dynamischere Plastizität aufweist. Sein dominierendes Element ist, derselben Logik militärischer Modernität folgend, abermals ein Treppenturm, dessen hohes vertikales Fenster sich über zweieinhalb Stockwerke zieht. An der Ostwand stehen drei Rundfenster gegen sechs steinerne Borde, die aus dem Treppenhaus ragen – Corbusier’sche Bullaugen ohne Meer, als hätte Vers une architecture, 1923 erschienen, auf dem Schreibtisch der unbekannten Architekt*in gelegen, die das Ensemble des Zollpostens entworfen hat. Dieses Vorhaben war so abgelegen, dass es unwahrscheinlich war, dass irgendjemand, den er oder sie für bedeutend gehalten haben mag, es zur Kenntnis nimmt. So schien wohl die Sünde des Experiments erlaubt – ein Probelauf vielleicht für einen Auftrag in einer Metropole, die auch eine der Hauptstädte des jüngst besetzten Orients hätte sein können. Es ist jedenfalls ein Beispiel der klassischrationalistischen Moderne, die in der französisch dominierten Kolonialwelt von Algier über Kairo bis Damaskus Mitte der 1920er- bis in die 1930er-Jahre weitverbreitet war. Das Zollhaus hat höchstwahrscheinlich nichts mit dem Bauhaus zu tun, aber es zeugt vom erfolgreichen Export des Markennamens, wie nachdrücklich der Eigentümer des Hotels ihn ins Spiel bringt. Um die Wirkung des Namens Bauhaus in der Region zu verstehen, müssten wir von diesem Übergang aus in beide Richtungen reisen, zu den Stationen, die durch die Schnellstraße 91 verknüpft werden – Tel Aviv / Jaffa, Damaskus, später auch Beirut. Würde man Palästina in Richtung Syrien und Libanon verlassen, dann wäre der Zollposten das erste Gebäude, das man sähe, aber keineswegs das letzte moderne Gebäude auf der Strecke. Auf Reisen durch den Libanon sind mir ähnliche Gebäude aus der französischen Besatzungszeit aufgefallen. Die Geschichte des Bauhauses im Nahen Osten beschränkt sich meist auf auf das britische Mandatsgebiet Palästina, jüdische Einwander*innen und die sogenannte Weiße Stadt. Das Zollhaus lässt diese Vorstellung problematisch erscheinen; es widerspricht ihr, denn es befindet sich unmittelbar jenseits der Grenzen dessen, was wir gemeinhin als Raum des Bauhauses wahrnehmen. Von Tel Aviv gesehen, liegt das Gebäude nicht in Palästina, es ist das erste Gebäude nach Palästina.

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Zollgebäude ist nicht einfach ein Tor, das zur Moderne in der Region führt, ein Vorläufer, der ihre Ankunft verkündet, sondern wir könnten, einem futuristischen Slogan gemäß, begreifen, dass das Tor die Moderne ist. Moderne ist Bewegung, Bewegung ist Moderne, und jedes Tor führt stets in zwei Richtungen. Die Weiße Stadt von Tel Aviv Seit 2003 zählt die Weiße Stadt von Tel Aviv zum UNESCO-Weltkulturerbe. Vorausgegangen war dem, wie Sharon Rotbard es in seinem Buch White City, Black City beschrieben hat, eine 20-jährige historiografische Kampagne, die ein urbanes Narrativ schuf. In seinem Buch erzählt er, wie die vereinfachte Geschichte der sogenannten Weißen Stadt in den 1980er-, 1990er-Jahren genutzt wurde, um Tel Aviv als modern, weltstädtisch und westlich darzustellen, und zwar im Kontrast zur, wie er es nennt, »schwarzen« Stadt, dem weitgehend arabisch-palästinensischen Jaffa, aber auch zu den Spuren jener arabischen Dörfer, die geräumt worden waren, um die Weiße Stadt zu errichten.25 Rotbard kritisiert, wie die Kampagne für die Weiße Stadt von Tel Aviv eingesetzt wurde, um eine Hierarchie israelischer Städte zu etablieren: Tel Aviv wurde als junge, modische, internationale Stadt gebrandet, Jerusalem als historische Stadt; und Haifa – das noch eine beträchtliche palästinensische Bevölkerung hat und über ein bemerkenswertes urbanes Ensemble moderner Architektur aus der Zeit vor der Staatsgründung verfügt, die lokale Elemente verwendet, unter anderem Steinmauerwerk, und zu Teilen von arabischen Architekten der Moderne gebaut wurde – als weniger reinweiß als Tel Aviv. Die Suche nach dem Weiß, das laut Rotbard gar zu oft als Bauhaus-Moderne etikettiert wird – es gibt etliche Bücher und Ausstellungen unter dem Titel Bauhaus Tel Aviv –, verhindert eine komplexere historische Matrix, um die europäischen Einflüsse auf die zionistische Architektur in Palästina zu rekonstruieren. In der Berufung auf das Bauhaus verschiebt sich die Geschichtsschreibung der modernen Bewegung in Israel von den kolonialen Wurzeln zu einer Erzählung nationaler Erneuerung – aus den Händen aus Deutschland geflohener Architekturschaffender, die die sozialistischen Träume in den

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 Abb. 4 Drohnenaufnahme vom Max-Liebling-Haus vor der Renovierung, Tel Aviv, 2018

Das Max-Liebling-Haus Die Geschichte des Max-Liebling-Hauses wurde von den Mitarbeiter*innen des White City Centers gemeinsam mit dem Centre for Documentary Architecture (CDA) erforscht. Letzteres war aus Untersuchungen, die ich gemeinsam mit Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar zu Gebäudebiografien und Exilarchitekt*innen aus Deutschland in Großbritannien und im britischen Mandatsgebiet Palästina durchgeführt hatte,

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Die Materialität der Bauhaus-Moderne Im September 2019 wurde das Liebling Haus – The White City Center nach umfangreichen Renovierungsarbeiten eröffnet. Das Projekt wurde 2015 von der Gemeinde Tel Aviv-Jaffa und der deutschen Regierung initiiert. Das Zentrum soll »die Entwicklung einer lebendigen deutsch-israelischen Zusammenarbeit fördern« und die 2003 von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannte Weiße Stadt Tel Aviv bekannter machen. Die Tatsache, dass Israel Anfang des Jahres die UNESCO verlassen hatte, überschattete die Eröffnung. Das Verhältnis hatte sich allmählich verschlechtert. Als erste Organisation der Vereinten Nationen hatte die UNESCO 2011 Palästina als Vollmitglied aufgenommen. Als Reaktion darauf setzten Israel und die Vereinigten Staaten ihre jährlichen Zahlungen aus, die im Falle der USA 22 Prozent des Gesamtetats der Organisation ausmachten. Nach der Anerkennung Palästinas durch die UNESCO wurden einige Stätten im von Israel besetzten Westjordanland ins Welterbe aufgenommen: 2012 die Geburtskirche in Bethlehem; 2014 die Steinterrassen von Battir (die Entscheidung der UNESCO trug dazu bei, dass das oberste Gericht Israels den Plan, die Sperrmauer dort verlaufen zu lassen, verhinderte);29 2017 wurde auch die Altstadt von Hebron / al-Chalil aufgenommen. Der Ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen protestierte, dass durch die Aufnahme Hebrons »historische jüdische Stätten als Orte des palästinensischen Erbes unter Schutz gestellt würden«, und nannte die UNESCO »ein Werkzeug der Feinde Israels«.30 Das moderne, trubelige Tel Aviv einerseits, das besetzte und geteilte Hebron andererseits verkörpern die paradoxe Verfasstheit des heutigen Israels.

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Sand bauten.26 Der forcierte Exodus der Palästinenser*innen bereitete der BauhausModerne den Weg, Staub wurde aufgewirbelt und schien sich wieder zu legen. Die Architekt*innen, die vor Ort die Werte jener Moderne hochhielten, die ihren Ursprung in Deutschland und speziell im Bauhaus hatte – darunter frühere BauhausStudierende wie Arieh Sharon, Shmuel Mestechkin, Shlomo Bernstein, Chanan Frenkel, Munio Weinraub und Selman Selmanagi –, arbeiteten im ganzen Land, sie konzentrierten sich keineswegs allein auf Tel Aviv.27 Tel Aviv wurde zu großen Teilen von jungen Architekt*innen geprägt, die mit der Moderne vertraut waren, jedoch, wie Zvi Efrat einwendet, mit einer Moderne, die »nicht an einem Ort der Modernität und Modernisierung entstand, sondern bei ihnen; einer Architektur, die den fehlenden Kontext ergänzen sollte, eine Revolution inszenieren, die es nicht gegeben hatte, die die Erinnerung an Prozesse von Modulation und Serialisierung in sich tragen sollte, die an ganz anderen Orten abliefen, die nicht eigentlich eine Stadt hervorbringen würde, sondern eine kosmopolitische Mise en Scène, ein kleinbürgerliches Dekorum, nach dem die jüdischen Einwanderer, die aus Mitteleuropa kamen, und die Exilierten der vierten und fünften Alija sich sehnten.«28 Um die Schwierigkeiten, die in der Zirkulation von Ideen, aber auch in anderen Dynamiken, der Bewegung von Menschen, Baumaterialien und Geldern von Deutschland nach Palästina und in die weitere Region, lagen, genauer zu untersuchen, wende ich mich im Folgenden der zweiten Fallstudie zu, dem Max-LieblingHaus in Tel Aviv (  Abb. 4).

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hervorgegangen. Die Renovierungsarbeiten gaben Gelegenheit, sich mit der Materialität des Gebäudes auseinanderzusetzen und einen Blick unter mehrere Farbschichten zu werfen. In der Tiefe der gebrochen weiß gestrichenen Wände haben sich Materialschichten abgelagert, Geschichten der Erbauer*innen, der Materialien, der Nutzer*innen. Gebaut wurde dieses Mehrfamilienhaus vom Investor Max Liebling und seiner Frau Tony, die 1935 mit österreichischen Pässen aus der Schweiz emigriert waren. Sie beauftragten den Architekten Dov Karmi, der zunächst an der Bezalel Academy of Arts and Crafts in Jerusalem, dann von 1925 bis 1930 Architektur und Ingenieurswesen an der Universität Gent in Belgien studiert hatte. In dieser Zeit könnte Karmi – wie seine Kommiliton*innen aus Palästina, etwa Elsa Gidoni und Genia Averbouch – Henry van de Velde kennengelernt haben, der nach seinem Weggang aus Weimar 1915 erst in die Niederlande, dann 1926 zurück nach Belgien gezogen war, wo er einen Lehrstuhl für Architekturgeschichte in Gent übernahm und Direktor des Institute Supérieur des Arts Décoratifs in Brüssel wurde.31 Dieses Beziehungsnetzwerk lässt nicht nur die komplexen Wege der Ideen und die Diskussionen ahnen, die die jungen Architekt*innen führten, bevor sie um 1930 nach Tel Aviv zurückkehrten – wobei es durchaus auch ums Bauhaus gehen mochte –, sondern könnte auch einige der besonders interessanten Farbkonzepte erklären, die Karmi für die Innengestaltung des Max-Liebling-Hauses entwickelte.32 Tony und Max Liebling, die in dem Mehrfamilienhaus gemeinsam mit den Familien bekannter Ärzte lebten, die aus Deutschland emigriert waren, vermachten ihr Haus nach ihrem Tod der Stadt Tel Aviv, wobei sie den Wunsch äußerten, das Gebäude möge als Waisenhaus, Kinderheim, Altenheim, Wohnheim für bedürftige Studierende oder Museum dienen. Letzteres nahm die Stadt gern an. Bis die letzten Anwohner*innen auszogen, nutzte die Stadt das Gebäude im Erdgeschoss als Kindergarten und als Bürofläche. Bevor die Renovierungsarbeiten begannen, hatte das CDA Gelegenheit, den Zustand des Gebäudes im Jahr 2015 zu dokumentieren.33 Den Voraussetzungen der dokumentarischen Methode folgend, Gebäude als materielle und mediale Wirklichkeit zu untersuchen, haben wir die Arbeit der internationalen Konservator*innen dokumentiert, die im Max-Liebling-Haus tätig waren, um die materielle Geschichte des Gebäudes zu rekonstruieren.34 Um die »Biografie« des Gebäudes zu studieren, verwendeten wir archäologische Verfahren. Wir untersuchten die Textur der Oberflächen, um Hinweise auf die Erbauer- und Nutzerschaft des Gebäudes zu finden, und suchten in der Tiefe der Wände nach verborgenen Objekten und alten infrastrukturellen Systemen, die wir mit Dokumenten, Plänen, Fotografien, Notizen und Korrespondenzen abglichen. Die materielle Gegebenheit des Gebäudes wurde – weit mehr als dessen Architekt und Bewohnerschaft – zum Protagonisten. Es mag wenig überraschen, dass unsere Entdeckungen zurück nach Deutschland führten. 1933 wurde zwischen der Jewish Agency of Palestine und dem deutschen Reichsministerium für Wirtschaft das umstrittene Ha’avara-Abkommen (hebräisch für Transfer) geschlossen. Vorausgegangen waren dem Verhandlungen, an denen jüdische Geschäftsleute als Privatpersonen im Mandatsgebiet Palästina und Repräsentant*innen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland teilnahmen. Dieses Abkommen ermöglichte es deutschen Jüdinnen und Juden, die aus Nazi-Deutschland emigrieren wollten, einen Bruchteil ihres Vermögens außer Landes zu bringen und einen Teil ihres Geldes in Form von Baumaterialien zu erhalten, wenn sie nach Palästina kamen.35 Das System funktionierte so: Vermittelt durch eine Treuhandgesellschaft mit Sitz in Berlin, die Palästina Treuhandstelle zur Beratung Deutscher Juden GmbH, kurz: Paltreu, zahlten deutsche Jüdinnen und Juden Geld in Reichsmark auf spezielle Konten bei zwei Banken – den bekannten deutsch-jüdischen Bankiersfirmen M.M. Warburg in Hamburg und A.E.

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Wassermann in Berlin. Im Mandatsgebiet Palästina konnten Importeur*innen dieses Geld nutzen, um deutsche Produkte zu kaufen. Die deutsche Industrie wurde von den Nazis massiv subventioniert, daher waren die Produkte günstiger als entsprechende Produkte, die in Palästina hergestellt oder aus anderen Ländern importiert wurden. Die Hersteller*innen in Deutschland wurden von den Paltreu-Konten bei den Banken Warburg und Wassermann bezahlt, die Importeur*innen in Palästina bezahlten die deutschen Produkte, indem sie auf die Ha’avara-Konten bei der Anglo-Palestine Bank und der Bank der Tempelgesellschaft einzahlten. Das Geld auf der Anglo-Palestine Bank und der Bank der Tempelgesellschaft wurde dann genutzt, um den deutsch-jüdischen Migrant*innen, die in Palästina ankamen, ihr Geld in palästinensischen Pfund auszuzahlen, abzüglich hoher Gebühren. Von 1933 bis 1939, als der Boykott deutscher Waren sich verschärfte, verschaffte das Ha’avara-Abkommen Deutschland lukrative Einnahmen,36 auch wenn es vor allem ein symbolischer Sieg war, der es Deutschland ermöglichte, auf Boykotte mit dem Verweis zu antworten, dass selbst jüdische Organisationen Geschäfte mit Deutschland machten. Das führte zu Behauptungen, die sich teilweise bis heute halten, etwa: Die Zionistische Vereinigung habe mit den Nazis kollaboriert.37 Diesen Anschuldigungen liegt der historische Fehler zugrunde, die Motivationen und Handlungen von Menschen, die flohen, um ihr Leben zu retten, mit denen jener zu vermengen, die vor der Konsumentscheidung standen, Produkte eines mörderischen Regimes zu kaufen oder eben nicht. Auf jeden Fall musste dieses hochentwickelte Transfersystem, an dem zahllose Privatpersonen und Mittler*innen mitwirkten, sich dem Wandel von Prozessen anpassen, die ständig neu justiert und verhandelt werden mussten, um auf die wechselhafte politische Situation in Deutschland und im Mandatsgebiet Palästina zu reagieren. An beiden Orten entwickelten sich die Ereignisse rapide. Während die Nazis ihre Macht ausbauten und die Repressionen gegen Jüdinnen und Juden verschärften, setzten die britischen Behörden unter Druck der arabischen Länder, die die jüdische Migration ablehnten, auf eine schärfere Kontrolle der Einwanderung. Der Zustand des Max-Liebling-Hauses, der im Prozess der Renovierung »entblößt« wurde, bot eine wertvolle Gelegenheit, mithilfe des ganzen methodischen Spektrums dokumentarischer Architektur materielles Beweismaterial zu bergen. Materialien haben komplexe Geschichten zu erzählen, sie handeln von so winzigen Details wie den Bestandteilen und Pigmenten der Terrazzoböden, den Inschriften auf der Rückseite von Kacheln, etwa den Stempeln der Firma Villeroy & Boch, den Leitungen tief im Inneren der Hauswände, aber auch den offensichtlicheren Fassadenelementen des Gebäudes, den Fenstern, Türgriffen, Armaturen und Farben (  Abb. 5, 6).38 Um die komplexe Geschichte der modernen Architektur zu verfolgen, müssen die Wege der Baumaterialien, Bauelemente und Objekte rekonstruiert werden, zurück zu deutschen Herstellerfirmen, Manufakturen, Händler*innen und vielleicht auch Architekt*innen. Die Qualität

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 Abb. 5 Fenstergriff der Firma Wehag (1936) im Max-Liebling-Haus, Tel Aviv, 2018

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des Zements, grau oder weiß, und die chemischen Eigenschaften von Farbpigmenten – Informationen in Staubkörnern – eröffnen, wie das Virus im Leichnam von Sir Mark Sykes, eine Geschichte der Materialien, die die Welt in sich zu tragen scheint (  Abb. 7). In Tel Aviv wurde die moderne Architektur als einzigartige Form nationaler Erneuerung präsentiert, die sich sowohl von der europäischen Vergangenheit als auch vom orientalischen Kontext des Nahen Ostens abgrenzte. Die Geschichte der Emigration von Deutschland nach Palästina gehört zweifellos zu den wichtigsten Kapiteln in der Geschichte des Bauhauses und der Migration seiner Vorstellungen, Protagonist*innen und Objekte, doch das Bauhaus-Jubiläum ließ auch eine weit umfangreichere, facettenreichere Historiografie der Moderne in der Levante aufscheinen. Die Materialanalyse des Max-Liebling-Hauses verweist auf ein Problem im Narrativ der Weißen Stadt Tel Aviv, das dessen Ursprünge im Bauhaus verortet: Die Jahre von 1933 bis 1939, in denen ein Großteil der Häuser errichtet wurde, die das moderne Herzstück von Tel Aviv bilden, sind eben die Jahre des Ha’avara-Abkommens mit Nazi-Deutschland. Tausende Auswander*innen und Flüchtlinge kamen in diesen Jahren von Deutschland nach Palästina, und zahlreiche Erzeugnisse von Hersteller*innen, die dem deutschen Regime nahestanden, gelangten nach Tel Aviv, wo sie das Wachstum der »ersten hebräischen Stadt« vorantrieben. Die Weiße Stadt hat also einen unleugbar dunklen Kern, wenn man das umstrittene Wesen des Ha’avara-Abkommens bedenkt, doch unter den historischen Umständen ist diese Dualität leicht nachvollziehbar. Ein weiterer Begleitumstand des Ha’avara-Abkommens, der hier nur angedeutet werden kann, war, dass viele Fabriken und Manufakturen in Palästina in ökonomische

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 Abb. 6 8-Screen-Videoinstallation Deep White zur Materialanalyse einzelner mit dem Ha’avaraAbkommen verbundener Bauelemente des Max-Liebling-Hauses im Rahmen der Ausstellung The Matter of Data des Centre for Documentary Architecture, Satelit – Architektur Galerie Berlin, 2020

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Schwierigkeiten gerieten. Die Gründe für die Schließung der Betriebe lassen sich oft nicht genau rekonstruieren, aber die Phoenicia Glass Works Company in Haifa etwa musste 1937 abgewickelt werden, nur wenige Monate nachdem der massive Import vergleichbarer Produkte aus Deutschland begonnen hatte.39 Eine weitere historische Koinzidenz ist der Ausbruch des arabischen Aufstandes in Palästina 1936. Dieser Protest, der schließlich von Großbritannien niedergeschlagen wurde, organisierte sich weitgehend um einen Generalstreik und den Boykott jüdischer Waren und Dienstleistungen. Einer der Gründe des arabischen Aufstands war ein ökonomischer. In seinem Essay »From Poverty to Revolt« erzählt der Historiker Mahmoud Yazbak, wie ab Mitte der 1920er-Jahre die arabischen Betriebe und »mobilen Lohnarbeiter«, die in Sektoren außerhalb der Landwirtschaft gewechselt waren, unter Einfluss der neuen jüdischen Produkte und Produktion einen ökonomischen Einbruch erlitten. Mitte der 1930er-Jahre führten die günstigen Importe aus dem Ausland und die neuen hohen Einfuhrzölle für Produkte aus Palästina dazu, dass Zehntausende »arbeits- und mittellos« wurden. In der Folge »entwickelten sie, zurückgeworfen zwischen Dorf und Stadt und zunehmend verzweifelt angesichts der immer heftigeren Armut, in die ihre Familien gerieten, ausgeprägte soziale Unzufriedenheit, zumal in den Barackensiedlungen an den Rändern von Jaffa und Haifa.«40 Es wäre zu simpel, die Ursache dieser Entwicklungen im Ha’avara-Abkommen zu suchen, aber es gehört zweifellos in den Kontext ihrer Entstehung, und es ist durchaus möglich, dass das Abkommen dazu beigetragen hat, diese Bedingungen zu verschärfen. Auch dieses Ereignis könnte die zwei Gebäude auf den beiden Seiten der Sykes-Picot-Linie verbinden. Die besondere Episode zum Warentransfer

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 Abb. 7 Detail der 8-Screen-Videoinstallation Deep White zur nanoskopischen und mikroskopischen Materialanalyse von Farbanstrichen und Baumaterialen im Max-Liebling-Haus im Rahmen der Ausstellung The Matter of Data des Centre for Documentary Architecture, Satelit – Architektur Galerie Berlin, 2020

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Remote Sensing und digitale Taktilität Die glatten Oberflächen der modernen Architektur begründen deren Faszination für Farbe – von den Pantone-Farben Le Corbusiers bis zur Weiße der Weißen Stadt. Doch hier, beim Max-Liebling-Haus, bleicht auch das Weiß aus, werden Spuren einer tragischen Vergangenheit weißgewaschen. Wenn wir diese Schichten abtragen, kommt eine Archäologie der Moderne nicht umhin, die Schichten einer fossilierten Vergangenheit freizulegen. In der Tiefe der Wand liegt das »Unbewusste« des Gebäudes. Diese architektonische Variante des »Optisch-Unbewussten«, wie Walter Benjamin es beschrieben hat, wird mithilfe neuer digitaler Verfahren und Technologien offengelegt, die die Zeit anhalten, verlangsamen oder beschleunigen können.41 Dieses technologische Unbewusste wird durch zahlreiche Sensoren und Untersuchungsverfahren erkundet, die bis in die kleinste, in die molekulare, Struktur der Materie vordringen. Es ist diese »Architekturgeschichte im Zeitalter digitaler Untersuchungsmethoden«, die es uns erlaubt, eine latente, unterdrückte Geschichte zu entdecken. Um durch die Tiefen der Architekturgeschichte zu navigieren, muss man physische und kulturelle Grenzen überschreiten, andere Medien, Archivpraktiken und Kommunikationsweisen nutzen. Es scheint paradox, dass diese 100-jährige Geschichte des Bauhauses durch die beiden großen Pandemien, die Spanische Grippe und das Covid-19-Virus, gerahmt wurde. Doch in dieser neuen Kartografie der Forschung werden digitale Medien zu einem wertvollen Werkzeug – das in diesem Falle hilft, die Geschichte moderner Architektur im britischen Mandatsgebiet Palästina und dessen Grenzregionen als ein vernetztes Ensemble von Begegnungen zwischen Menschen und Dingen zu beschreiben, die sich in Bewegung befanden. Dabei ermöglichen es architektonische Details, Fragmente und Stoffproben, die »Tiefenerinnerung« des Gebäudes zu entschlüsseln. In diesem Sinne stellte das Bauhausjubiläum einen forschungsmethodischen Wendepunkt dar, durch den aus der Spannung zwischen Mikrogeschichte und Makrokartografie neue Zugänge zur und Fragen an die Geschichte hervorgebracht werden.

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zwischen Deutschland und Palästina muss letztlich auch als Teilaspekt der Anomalien von unterbrochenen Waren- und Informationstransfers im Nahen Osten in Konsequenz der Grenzziehung der Sykes-Picot-Linie gelesen werden. In diesem Sinne lässt sich die Materialgeschichte des Max-Liebling-Hauses mit den zur Kontrolle des überregionalen Warentransfers angelegten Zollhäusern auf den Golanhöhen verbinden und in einer weiteren Untersuchung fortsetzen.

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www.telegraph.co.uk/news/uknews/1544160/ Aristocrats-coffin-could-hold-key-to-bird-flu.html (letzter Zugriff: 02.02.2021). 13 Vgl. Norbert Korrek: »›Reserve Hospital No. 11 Art School‹: The Bauhaus in the Period of Transition from World War I to the Weimar Republic«. In: Ines Weizman (Hg.): Dust & Data. Traces of the Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019, S. 238–253. 14 Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verbündeten sich Großbritannien, Frankreich und Russland gegen Deutschland und erklärten damit auch dem Osmanischen Kalifat Krieg, das sich mit Deutschland verbündet hatte. Im Jahr 1916 unterzeichneten der britische Diplomat Sir Mark Sykes und sein französischer Kollege François GeorgePicot ein Geheimabkommen über die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach Beendigung des Krieges. Mit der Zustimmung des noch vom Zaren regierten Russland wurde Großbritannien der Küstenstreifen zwischen dem Mittelmer und dem Jordan zugesprochen, außerdem Jordanien, der südliche Irak und die Häfen von Haifa und Akkon. Frankreich sollte die Kontrolle über den Südosten der Türkei, den nördlichen Irak, Syrien und Libanon übernehmen, Russland über Istanbul, Armenien und den Norden Kurdistans. Palästina sollte zu diesem Zeitpunkt unter internationale Verwaltung gestellt werden. Dieses Geheimabkommen wurde 1917 bekannt, als Anführer der Russischen Revolution die darin formulierten Bedingungen veröffentlichten, um die Briten und Franzosen bloßzustellen. Dennoch wurde die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland im Krieg unterlag, Realität, die Briten und Franzosen teilten die Levante unter sich auf. Laut Sir Mark Sykes, der seinen Vorschlag erstmals 1915 vorstellte, sollte auf der Landkarte des Nahen Ostens eine Linie durch das Osmanische Reich gezogen werden, die vom e in »Acre« (Akkon) zum letzten k in »Kirkuk« reichte. Vgl. James Barr: A Line in the Sand: Britain, France and the Struggle that Shaped the Middle East [2011]. London 2012, S. 12. 15 Vgl. Ines Weizman: »Bauhaus on the Golan: Notes towards an Architectural History of the Sykes-Picot Line«. In: Bauhaus Magazin, Nr. 7, 2015, S. 112–120; Ines Weizman: »Archives Fever – Adolf Loos in Palestine«. In: Jörg Stabenow / Ronny Schüler (Hg.): The Transfer of Modernity – Architectural Modernism in Palestine 1923–1948. Berlin 2019, S. 33–47. 16 1923 wurde Frankreich durch den Völkerbund ein Mandat über Syrien zugesprochen, das neben dem eigentlichen Syrien auch das Gebiet des heutigen Libanon und Alexandretta umfasste. Die Grenzen dieses Mandats, das bis 1943 bestand, als Syrien und Libanon die Unabhängigkeit erlangten, entsprachen jenen des Sykes-Picot-Abkommens von 1916. 17 Bis zur Anerkennung durch die USA im Jahr 2019 war Israel das einzige Land, das die (eigene) Annexion des Golan anerkannte. 18 Zu dieser vom britischen Ingenieur Donald C. Bailey entworfenen transportablen Brücke vgl. JeanLouis Cohen: Architecture in Uniform: Designing

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Anmerkungen 1 Dieser Essay ist ein übersetzter Auszug des Aufsatzes »Bauhaus Modernism across the Sykes-Picot Line« aus meinem Buch Dust & Data. Traces of the Bauhaus across 100 Years. Leipzig 2019a, S. 544–572. (Übersetzung des Beitrags und aller Zitate aus dem Englischen von der Autorin.) 2 Vgl. Ines Weizman: Documentary Architecture. Dissidence through Architecture, Arquitectura Documental. Disidencia a Través de la Arquitectura. Santiago de Chile 2020; Ines Weizman: »Dokumentarische Architektur. Digitale Historiografien der Moderne«. In: ARCH+, Nr. 234, 2019b, S. 198– 209. 3 Diese Überlegungen zum Staub beruhen in weiten Teilen auf den Forschungen von Forensic Architecture (FA), die die besonders heftige Bombardierung der Stadt Rafah in Gaza durch die IDF am 1. August 2014 rekonstruieren. Vgl. Eyal Weizman: Forensic Architecture: Violence at the Threshold of Detectability. New York 2017, S. 193, 133–213. 4 Carlo Ginzburg: Faden und Fäden: wahr falsch fiktiv. Berlin 2003, S. 104. 5 Die katastrophalen Folgen der Hungersnot im Libanongebirge und im Golan hängen auch damit zusammen, dass die Franzosen Ende des 19. Jahrhunderts in Syrien und im Libanongebirge die Herstellung von Seide eingeführt haben. Um Tausende Maulbeerbäume anzupflanzen, die bei den Seidenraupen beliebt sind, gaben die Landwirt*innen, unterstützt von der Regierung des Osmanischen Reiches, die traditionelle Landwirtschaft auf. Als der Seidenhandel durch den Ersten Weltkrieg zum Erliegen kam, traf dies die libanesischen Landwirt*innen hart, da sie auf den ökonomischen Austausch mit anderen Gegenden angewiesen waren. Die Monokultur und die Schwierigkeit, vom Anbau von Maulbeerbäumen schnell auf die Produktion von Nahrungspflanzen umzustellen, führten zu Hungersnöten unter der armen Bevölkerung. Eingehender zum landwirtschaftlichen Wandel, der auch dazu führte, dass sich die Form des Besitzes und der Bebauung des Landes änderte, was wiederum die sozialen Beziehungen in der Region veränderte, vgl. Kais Firro: »Silk and Agrarian Changes in Lebanon, 1860–1914«. In: International Journal of Middle East Studies, Nr. 2, 1990, S. 151–169. 6 Vgl. Salim Tamari: Year of the Locust: A Soldier’s Diary and the Erasure of Palestine’s Ottoman Past. Berkeley 2011, S. 19. 7 Ebd., S. 118. 8 Vgl. Stefanie Wichart: »The 1915 Locust Plague in Palestine«. In: Jerusalem Quarterly, Nr. 56/57, 2013/14, S. 29–39; Zachary J. Foster: »The 1915 Locust Attack in Syria and Palestine and Its Role in the Famine during the First World War«. In: Middle Eastern Studies, Nr. 3, 2015, S. 370–394. 9 Vgl. Laura Spinney: Pale Rider: The Spanish Flu of 1918 and How It Changed the World. London 2017, S. 4–7. 10 Vgl. ebd., S. 7. 11 Vgl. ebd., S. 5. 12 »Aristocrat’s coffin could hold key to bird flu«. In: The Telegraph, 1. März 2007, unter: https://

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Schließlich waren die Juden, die Weimarer Republik und das Bauhaus allesamt Opfer der Nazis.« Sharon Rotbard: White City, Black City: Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa. London 2015, S. 12. 26 Vgl. ebd., S. 43ff. 27 Eine detailliertere Betrachtung der Wege von Bauhäusler*innen nach Palästina und zur Entstehungsgeschichte der Stadt Tel Aviv im Kontext von Flucht und Migration stellte das Centre for Documentary Architecture (CDA) unter meiner Leitung 2019 vor. Eingeladen durch die BauhausKooperation entwickelte das CDA das Forschungsprojekt »The Matter of Data«. Auf den Spuren der »Bauhaus-Moderne«, das im Bauhaus-Museum in Weimar (27.09.–05.11.2019), im Liebling-Haus – The White City Center in Tel Aviv (19.09.2019– 31.05.2020) sowie in der Architektur Galerie Berlin (30.01.–29.02.2020) ausgestellt wurde. Vgl. hierzu: https://documentary-architecture.org/archive /publications/the-matter-of-data, https://www. bauhauskooperation.de/index.php?id=1667 (beide letzter Zugriff: 02.02.2021). 28 Zvi Efrat: The Object of Zionism. Leipzig 2018, S. 163. 29 Vgl. Weizman 2017, S. 125–127. 30 https://www.haaretz.com/us-news/u-s-and-israelofficially-leave-unesco-citing-anti-israel-bias1.6805062 (letzter Zugriff: 02.02.2021). 31 Für ihre Hilfe bei dieser Recherche danke ich Erica ten Hove vom Archiv der Universität Gent und Vera Heinemann, Anna Luise Schubert und Amelie Wegner vom Centre for Documentary Architecture. 32 In ihrer faszinierenden Untersuchung der Farbpigmente, die sich im Max-Liebling-Haus unter mehreren Schichten Farbe fanden, entdeckte die Konservatorin und Farbexpertin Marlu MüllerOrtloff kein Weiß, sondern ein Spektrum heller Farben im gesamten Haus: Orange, Pfirsich und Apricot, die man, wie sie anführt, auf die Farbtheorie zurückführen kann, die van de Velde in den frühen 1910er-Jahren in Weimar entwickelt hatte und die Dov Karmi in Belgien bei ihm kennengelernt haben könnte. Vgl. das Interview und die filmische Dokumentation des Centre for Documentary in ihrem Weimarer Pigmentstudio (April 2018) und im Max-Liebling-Haus (Juli 2018), verfügbar im Online-Archiv des Centre for Documentary Architecture, unter: http://documentary-architecture. org (letzter Zugriff: 15.03.2021). 33 Zur Einweihung des White City Center zeigte das Centre for Documentary Architecture 2015 unter dem Titel Aus dem Zweiten Leben: Dokumente vergessener Architekturen eine Ausstellung zu deutsch-jüdischen Architekt*innen im Exil. Vgl. hierzu https://documentary-architecture.org/ archive/publications/from-the-second-life (letzter Zugriff: 15.03.2021). 34 Vgl. Ines Weizman: »Documentary Architecture: The Digital Historiographies of Modernism«. In: Faktur: Documents and Architecture, Nr. 1, Herbst 2018, S. 6–25; Weizman 2019b, S. 198–209. 35 Das Abkommen sollte auch ein Problem lösen, dem sich Jüdinnen und Juden gegenüber sahen, wenn sie versuchten, Deutschland zu verlassen:

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and Building for World War II. Ausstellungskatalog CCA, Paris 2011, S. 270ff. 19 hebräisch: Gesher Bnot Ya’akov, deutsch: TöchterJakobs-Brücke. 20 Als die britische Mesopotamian Expeditionary Force 1917 Samarra einnahm, wurden etwa 90 Schachteln mit Antiquitäten entdeckt, die die deutschen Archäologen Ernst Herzfeld und Friedrich Sarre von Ausgrabungen mitgenommen hatten, um sie nach Berlin zu schicken. Während das britische Außenministerium zunächst ablehnte, diese Schätze aus dem Irak zu entfernen, entschied das Kolonialamt 1921, mit persönlicher Autorisierung durch Winston Churchill, sie ins Britische Museum zu transportieren, wo sie von Herzfeld untersucht und bearbeitet wurden. Der Inhalt der Schachteln wurde inventarisiert und an verschiedene internationale Museen verteilt, nur zwei Schachteln wurden 1936 ins Irakische Nationalmuseum gebracht, das im Jahre 1926 gegründet worden war und die Rückgabe forderte. Vgl. Juliette Desplat: »The Other Battle of Samarra«. Unter: https:// blog.nationalarchives.gov.uk/blog /the-otherbattle-of-samarra/ (letzter Zugriff: 16.01.2021). 21 General Otto Liman von Sanders wurde 1913 als Leiter einer deutschen Militärmission ins Osmanische Reich entsandt. Im Februar 1918 übernahm er den Oberbefehl über die Heeresgruppe F (»Jilderim«), eine gemeinsame Gruppe der deutschen und der osmanischen Armee im Zweiten Weltkrieg, die bis Oktober 1918 bestand. Da ihm der nötige Nachschub und Verstärkung verwehrt wurden, gelang es ihm nicht, den Vorstoß der Truppen des britischen Generals Sir Edmund Allenby und ihrer australischen Verbündeten in Palästina zu stoppen. Vgl. Otto Liman von Sanders: Five Years in Turkey [1928]. Uckfield 2015; zu Major Ludloff und dem Rückzug über die Töchter-Jakobs-Brücke: S. 286. 22 Wie mein Schwiegervater demonstriert hat, gelangt man über diese alten Minenfelder, indem man die Exkremente der Rinder als Wegmarkierungen nutzt. Vermutlich gibt es hier seit Langem keine scharfen Landminen mehr, sagte er, als wir uns in Schuhen, die wir nie wieder tragen werden, auf den Weg zum Gebäude machten. Als wir dort ankamen, lachten wir vor Erleichterung laut auf, da wir sahen, dass das gesamte Gebäude etwa 20 Kühen als Rastplatz diente, die aus den Fenstern blickten. Da Rindfleisch ein wichtiges Element der israelischen Wirtschaft im Golan ist, fühlten sie sich hinter den Warnschildern des Minenfeldes wohl recht sicher. 23 Eine Gedenkstätte für die gestorbenen Soldaten wurde im Herbst 2018 auf dem Gelände des künftigen Hotels errichtet. 24 Vgl. Cohen 2011, S. 13. 25 »Der Bauhaus-Stil, der sich vor Ort etabliert hatte, begann nun, über Israels Grenzen hinaus zu wirken, diesmal als nationaler Anspruch auf internationale Anerkennung. Dieses Werben um internationalen Zuspruch hatte auch etwas von emotionaler Erpressung: ›Ihr wolltet uns in Weimar nicht – dann akzeptiert uns bitte in Tel Aviv.‹

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Arbeiten von Anna Luise Schubert und Amelie Wegner, Bauhaus-Universität Weimar, 2018; von der Verfasserin betreut). Eine detailliertere Analyse wurde in der Ausstellung und dem nachfolgenden Katalog The Matter of Data des CDA 2019 vorgestellt. 38 Ines Weizman: »Black Coloured White / Schwarz Gefärbtes Weiß«. In: Hannes Sulzenbacher / Hanno Loewy (Hg.): All about Tel Aviv- Jaffa. Die Erfindung einer Stadt. Hohenems et al. 2019, S. 200–208. 39 Vgl. G. Walsh, Wirtschaftsberater der palästinensischen Regierung, Jerusalem. Notiz zu einem Gespräch mit dem Wirtschaftsberater am 17. Juni 1938 über die Wiedereröffnung der Phoenicia Glass Works Company, Haifa, datiert auf den 22. Juni 1938 (Israel State Archive, File C/13/36). 40 Mahmoud Yazbak: »From Poverty to Revolt: Economic Factors in the Outbreak of the 1936 Rebellion in Palestine«. In: Middle Eastern Studies, Nr. 3, Juli 2000, S. 93–113. 41 Die »technische Reproduktion«, so Benjamin, »kann, beispielsweise, in der Photographie Ansichten des Originals hervorheben, die nur der verstellbaren und ihren Blickpunkt willkürlich wählende Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugänglich sind, oder mit Hilfe gewisser Verfahren wie der Vergrößerung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natürlichen Optik schlechtweg entziehen.« Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1935]. Frankfurt am Main 2007, S. 13.

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Nach den deutschen Devisenbestimmungen wurde ihr Vermögen erheblich besteuert, die Einwanderungsbehörden im britischen Mandatsgebiet setzten aber Einwanderungsquoten, durch die die Visavergabe an Einwanderungszertifikate geknüpft wurde, die belegten, dass die Emigrant*innen über hinreichend Finanzmittel verfügten, um in Großbritannien oder Palästina zu leben. 36 Vgl. Günter Schubert: Erkaufte Flucht. Der Kampf um den Haavara-Transfer. Berlin 2009. 37 Das Ha’avara-Transferabkommen wurde schon von Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (München 1964), Edwin Black in The Transfer Agreement: The Dramatic Story of the Pact between the Third Reich and Jewish Palestine (New York 1984) und Tom Segev in Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung (Reinbek bei Hamburg 1995) kontrovers diskutiert. Grundlegend ist die Studie von Werner Feilchenfeld, Dolf Michaelis und Ludwig Pinner: Haavara-Transfer nach Palästina und Einwanderung deutscher Juden 1933–1939 (Tübingen 1972). Vgl. auch Dorothea Hauser: »Zwischen Gehen und Bleiben. Das Sekretariat Warburg und sein Netzwerk des Vertrauens 1938–1941«. In: Susanne Heim / Beate Meyer / Francis R. Nicosia (Hg.): »Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben.« Deutsche Juden 1938–1941. Göttingen 2010, S. 115–133; außerdem Material Itineraries: Reporting the Import of German Building Materials in Palestine 1930–1940 (unveröffentlichte M.Sc.-

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Sektion II

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Bauhaus: Reform der Lebenswelt und gesamtgesellschaftliche Rationalisierung

Bauhaus: Reform der Lebenswelt und gesamtgesellschaftliche Rationalisierung

»Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer zahlte die Spesen?« Wer je Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters1 gelesen hat, wird sich mit der Gropius-Zentrik nicht zufriedengeben können. Wer sich zudem noch mit gesellschaftswissenschaftlichem Problembewusstsein der Gründung des Bauhauses annähert, wird sich in Anlehnung an Max Weber fragen, welcher Gestalt denn die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen war, die einem Walter Gropius zum Durchbruch verhalf.2 Eine Möglichkeit, auf die Gropius-Zentrik zu antworten, ist, die Weimarer Republik ins Spiel zu bringen. Erst die Durchsetzung der Weimarer Koalition, des Bündnisses zwischen reformistischer Sozialdemokratie und modernisierungsorientiertem Kapital bei der Verabschiedung der Verfassung von 1919, schuf den aktiven Staat, der die Kommunen in die Lage versetzte, Wohnsiedlungen zu finanzieren, und es der Bevölkerung ermöglichte, die Gegenstände zu bezahlen, die die Massenproduktion von Alltagsgegenständen auf den Markt warf. Dieses Argumentationsmuster ist allerdings trügerisch, denn die Gründung der Republik und die Gründung des Bauhauses geschahen beinahe gleichzeitig. Offensichtlich sind Republik und Bauhaus einer gemeinsamen gesellschaftspolitischen Konstellation entsprungen. Wie das historische Bauhaus als ein Produkt seiner Zeit erklären und zugleich der Wirkung eines Walter Gropius gerecht werden? Kontextualisieren und differenzieren Die vier Texte dieser Sektion geben Aufschluss über das Bauhaus als Ausdruck seiner Epoche in zweierlei Weise: einmal als Ergebnis, einmal als handelnde Institution in einer Zeit mehrfachen Umbruchs. Eine solche historische Kontextualisierung wirkt der Überhöhung einzelner Personen entgegen und hilft zugleich, deren Beitrag genauer zu bestimmen.

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Walter Gropius ist nicht tot zu kriegen. Wie auswendig gelernt, äußern auch gebildete Zeitgenoss*innen immer wieder den Satz: »Walter Gropius hat 1919 das Bauhaus gegründet.« Eine solche Vorstellung hat Vorteile. Sie erleichtert die Erzählung, denn sie reduziert die Komplexität der Welt. Ein Gesicht wird evoziert, das Gesicht eines elegant und willensstark aussehenden Herrn. Eine solche Vorstellung bedient auch die Interessen eines ganzen Berufs. Die Architektur erscheint als die Leitwissenschaft, Architekt*innen scheinen fähig zu sein, mitten im Chaos – das nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches als Ergebnis eines verlorenen Weltkrieges und nach der gescheiterten Novemberrevolution herrschte – die Zügel in die Hand zu nehmen. Figuren, deren Namen heute zu den Ikonen der Kultur des 20. Jahrhunderts gehören, hörten auf den Ruf des Walter Gropius, kamen nach Weimar und stürzten unter dessen Führung die Gestaltung der Welt der Dinge um, die Ausbildung der Gestalter*innen sowie die Art und Weise, wie man über Gestaltung spricht. Diese Personalisierung kann sich auf ein weitverbreitetes Interpretationsmuster stützen. Es gehört zum üblichen Diskurs der Architekturgeschichte von Helsinki bis Buenos Aires, dass bauliche und städtebauliche Innovationen als das hauptsächliche oder alleinige Werk von Architekt*innen vorgestellt werden. Das Bild des Demiurgen wirkt. Möge die Leserin, möge der Leser prüfungshalber die Augen schließen und etwa an Brasília denken – oder an die Nord-Süd-Achse Berlins.

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Einführung Max Welch Guerra

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Durch den Ausgang des Großen Krieges 1918 wurde in Deutschland die weltweite Legitimationskrise des Liberalismus und des Konservatismus, der bis dahin tragenden ideologischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft, besonders evident, ja handgreiflich. Das Vakuum währte nur kurz, denn 1919 erfolgte die pionierhafte Gründung eines Sozialstaates. Es eröffneten sich somit Freiräume, die eine schon zuvor entstandene vielköpfige und bunte Bewegung füllte. Dazu gehörten Unternehmer und liberale Politiker ebenso wie Architekten, die zunächst teilweise mit den radikalen Linken kokettierten. Eine Teilerklärung für den Protagonismus der Architektenschaft liegt indessen in der fortgesetzten Krise ihrer Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ging darum, die Produktionssphäre ebenso wie die Reproduktionssphäre und die Herrschaftsmechanismen im Sinne einer von industriellen wie wissenschaftlichen Prinzipien geleiteten Rationalisierung grundlegend zu reformieren. Die Perspektiven für eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse reichten bis hin zur Rationalisierung des Alltags. Diese Bestrebungen wurden durch eine ebenso erstarkte Lebensreformbewegung teils gebrochen, teils potenziert, die auch esoterische bis hin zu rassistischen Elementen zeitigte. Rationalisierung meint hier eine durch den Einsatz von Wissenschaft und Technik intendierte, dabei gewiss nicht gradlinige und schon gar nicht widerspruchsfreie Optimierung der ökonomischen und politischen Verhältnisse im Hinblick auf eine höhere betriebswirtschaftliche Effizienz beziehungsweise volkswirtschaftliche Produktivität. Zugleich umfasst der Begriff den gesellschaftswissenschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurs, der die reale Rationalisierung teils begleitet, teils antizipiert. Das Programm der Rationalisierung betraf nicht nur die Produktion von Gebrauchsgegenständen und Wohnbauten. Die Untersuchung des Bauhauses in der Dessauer Phase erweitert den Blick auf die Umwälzung der Gesellschaft in Richtung einer homogenen Lebensweise, deren räumliche Disposition vom Wohnungsgrundriss über die Neuordnung der Struktur der Stadt bis hin zum regionalen Generalplan nun im Sinne der industriellen Rationalität umdefiniert wurde. Zumindest ab 1925 entfaltete sich in Dessau eine Kongenialität mit dem Wirken der CIAM, erreichte mithin eine international weitreichende Resonanz. Das Bauhaus glich einem Laboratorium für die städtebaulichen wie territorialen Leitbilder, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Antlitz der reichen und der armen kapitalistischen Länder und ebenso der Länder des Staatssozialismus tief greifend verändern sollten. Der konzentrierte Blick auf die Tätigkeit von Walter Gropius in der Phase bis 1924 hilft, seine fachpolitische Agenda zu rekonstruieren und korrigiert die herkömmliche Interpretation des Handwerks als strategisches Gegenstück zur Industrie. Gropius, mit der Logik der industriellen Produktion bereits gut vertraut, sah im Handwerk vor allem den Weg zur Herstellung von Modellen und Typen für eine rationalere Massenproduktion – durch die Industrie. Das Wirken des ersten Direktors des Bauhauses wird verständlich als die durch die neuen Verhältnisse gebrochene und potenzierte Fortführung des Rationalisierungsprogramms seitens Industrieller und Gestalter*innen, die etwa im Deutschen Werkbund schon vor dem Ausbruch des Krieges einen kräftigen Rationalisierungsschub der Lebenswelt verfochten. Die Fixierung auf Architektur, Design und Kunst, die die Beschäftigung mit dem Bauhaus so oft begleitet, verstellt den Blick dafür, dass zu den hervorgehobenen Produkten des Bauhauses der Städtebau gehörte. Dies verdankt sich dem Umstand, dass die Disziplin Städtebau seit der Vorkriegszeit gerade in Deutschland einen soliden Stand erreicht hatte: Sie hatte sich professionalisiert, stark internationalisiert und auch gelernt, unterschiedliche weitere Disziplinen einzubeziehen. Zudem fand der Städtebau

3 Vgl. Bernd Polster: Walter Gropius. Der Architekt seines Ruhms. München 2019.

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Anmerkungen 1 Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters. Frankfurt am Main 1967. 2 Vgl. Max Weber: Der Sinn der Wertfreiheit in der soziologischen und ökonomischen Wissenschaft (ersch. 1917). In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. Vierte, erneut durchgesehene Aufl. Tübingen 1973, S. 317.

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in der Weimarer Republik eine besondere Förderung durch den neuen Typus der kommunalen Stadtplanungspolitik. Der Siedlungsbau des Bauhauses negierte indessen die bestehende Stadt und erwies sich als eine Quelle sozialräumlicher Segregation. Festzuhalten ist zudem, dass die Bauhäusler*innen mit dem sektiererischen Anspruch auftraten, nur die eigene Gestaltungssprache sei modern. Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Hannes Meyer – jeder der drei Direktoren des Bauhauses steht für bestimmte Aspekte, für bestimmte Phasen der Umgestaltung der Lebenswelt als hervorgehobenes Handlungsfeld einer weiter reichenden Rationalisierungspolitik. Der erste Direktor ragt nicht nur deshalb hervor, weil er am längsten an der Spitze des Hauses stand; auch nicht nur, weil er der geniale Architekt seines eigenen Ruhms war.3 Er war derjenige, der die Agenda der Rationalisierung der Lebenswelt durch Gestaltung in Weimar und Dessau etablierte. Er war der geeignete Fachmann, dieses Kapitel aufzuschlagen. Walter Gropius ist nicht tot zu kriegen.

In unserer kulturellen Selbstverortung hat das Bauhaus einen festen Platz. Es gehört zum innersten Kreis all jener künstlerischen und kulturellen Avantgarden und Initiativen, welche die sogenannte Klassische Moderne erschaffen haben, auf deren Grundlagen wir heute noch zu stehen meinen. Das Bauhaus, seine Architektur und sein Design sind zusammen mit Schriftsteller*innen wie Franz Kafka und Virginia Woolf, mit Maler*innen wie Pablo Picasso und Marc Chagall zu Ikonen unserer ästhetischen und kulturellen Gegenwart geworden, die politische Verfolgung durch den Nationalsozialismus hat seinen Produzent*innen und Produkten zugleich auch den moralischen Ritterschlag politischer Korrektheit und den sicheren Status historischer Opferschaft erbracht. Die zeitliche Distanz hat unter diesen Umständen die normative Gültigkeit ihrer Produkte und Ideen noch gesteigert. Der Klassik-Effekt ist 2019 spürbar wie lange nicht mehr. All dies sind bereits Gründe genug, um Historiker*innen neugierig zu machen und ihren Widerspruchsgeist zu reizen. Aus ihrer Sicht ist das Bauhaus Kind seiner Zeit, tragen seine Produkte die Spuren widerstreitender Ideen, von kulturellen, politischen und sozialen Konstellationen, welche mit der heutigen Zeit wenig oder nichts gemein haben, für uns fast unverständlich, in jedem Fall fremd geworden sind. Klassizität beanspruchten ihre Akteur*innen kaum für sich. Ich konzentriere mich im Folgenden darauf, die vielfach irritierenden Zeitumstände und Denkfiguren zu bündeln, welche die Projekte des Bauhauses in seinen Weimarer und Dessauer Jahren beeinflusst, geprägt oder behindert haben. Ich verbinde mit dieser kurzen historiografischen Verfremdung ganz ähnliche intellektuelle Erwartungen wie Bert Brecht, als er den V-Effekt auf die Bühne brachte. Was war also aus heutiger Sicht so anders im intellektuellen Europa der Zwischenkriegszeit? Ich möchte vier Aspekte hervorheben. Erstens waren alle kulturellen oder künstlerischen Projekte der Zeit konfrontiert mit einer Politisierungswelle besonderer Art: Ihre Autor*innen sahen sich nicht nur immer wieder veranlasst, Stellung zu beziehen in politisch-moralischen Tagesfragen, sondern waren aufgefordert, das eigene professionelle Handeln und die ihm zugrundeliegenden ästhetischen Kategorien in politisch-weltanschauliche Begriffe zu übersetzen. Politisierung meinte in diesem Fall also zugleich äußeren Zwang wie inneren Antrieb, das eigene Tun in die Weltanschauungskämpfe der Zeit einzuschreiben. Selbst

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Rationalisierungspläne und Weltanschauungskämpfe : Das Bauhaus-Projekt im Kontext der kultur- und sozialpolitischen Trends und Konflikte der Zwischenkriegszeit in Deutschland

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Lutz Raphael

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Weltanschauungskämpfe im Zeichen der Politisierung von Kunst und Lebensführung Die Weltanschauungskämpfe der Zwischenkriegszeit standen zum einen in direkter Verbindung mit Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkrieges. Mit dem Verlauf insofern, als dieser Krieg die schlimmsten Erwartungen pazifistischer Kriegsgegner*innen vor 1914 übertraf. Er forderte mehr als 17 Millionen Todesopfer, führte zu Hungersnöten und Mangelernährung und belastete die Gesellschaften bis zum Zerreißen – und er veränderte tief greifend ihre politischen Rahmenordnungen.5 In den kriegführenden Ländern hatten die politisch-militärischen Eliten ihre Bevölkerung mit nationalpatriotischen beziehungsweise chauvinistisch-imperialistischer Propaganda mobilisiert. Deren Spuren blieben auch nach Kriegsende deutlich wahrnehmbar. Der Phantomschmerz des vermeintlich geraubten Sieges versetzte vor allem nationalpatriotisch gestimmte Männer in einen Zustand ressentimentgeladener Unzufriedenheit mit der Nachkriegsordnung. Die wachsende Enttäuschung und Ernüchterung über diesen totalen Krieg hatten aber auch breiten Widerstand gegen Durchhalteparolen und Chauvinismus provoziert. Auf Kriegsende und Friedensschluss wurden weitreichende Hoffnungen auf eine endlich bessere Welt projiziert. Diese Konstellation führte vor allem in den besiegten Ländern zu einer lang anhaltenden Polarisierung der politischen Lager und vereinte linke wie rechte Minderheiten im wechselseitigen Hass.6 Radikaler Nationalismus und revolutionärer Sozialismus beziehungsweise Kommunismus wurden einflussreiche Strömungen, welche den Ausnahmezustand als Chance für die Überwindung

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künstlerische oder kulturelle Positionen, die diesen Zeittrend ablehnten, rückten in der Zwischenzeit immer stärker unter den Druck, Partei zu ergreifen, beziehungsweise politisch-weltanschaulich vereinnahmt zu werden. So geriet selbst die Pose eines kulturkritischen, fortschrittsfeindlichen Fundamentalismus reiner Ästhetik zum Politikum.1 Zweitens entfaltete sich seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Dynamik einer Rationalisierungsbewegung, die gleichermaßen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur erfasste.2 Sozialingenieur*innen wurde zu Leitfiguren für Sozialplanung und Sozialgestaltung – sie wurden für Liberale genauso wie für Nationalist*innen und Sozialist*innen zu bevorzugten Partner*innen, wenn es darum ging, die soziale Welt angesichts der Verheerungen des großen Krieges wieder zu ordnen beziehungsweise die eigenen Sozialutopien zu verwirklichen. Immer stand das social engineering in enger Tuchfühlung mit den weltanschaulich-politischen Deutungskämpfen der Zeit.3 Drittens vertiefte sich unter dem Eindruck der militärisch-politischen Ausnahmezustände und angesichts der anhaltenden Dynamik von Industrialisierung und Urbanisierung der Gegensatz zwischen Stadt und Land, zugespitzt zwischen großstädtischen und kleinteiligeren dörflichen wie kleinstädtischen Lebenswelten. Kultur- und Konsumstandards klafften auseinander und wurden politisiert. Vor allem die Wächter*innen der alten Ordnung: Lehrer*innen, Pfarrer, Bürgermeister*innen beäugten mit brennender Sorge alle Aufbrüche und Reformbewegungen der jüngeren Generation und der Frauen, insbesondere die kulturellen Verführungen der neuen städtischen Freizeitangebote vom Kino über den Sport bis zum Tanzvergnügen.4 Überfremdungsängste und Großstadthorror einten rechte wie linke Tugendwächter*innen und nationalkulturelle Heimatkämpfer*innen. Viertens konfrontierten die Ausnahmezustände der Jahre 1914 bis 1919, dann 1922/23 und 1929 bis 1934 immer wieder Designer*innen, Architekt*innen und Künstler*innen mit existentiellen Notlagen und moralisch-politischen Ausnahmesituationen, denen sich die wenigsten entziehen wollten. Diese Konstellation wiederum heizte die Konflikte an und stachelte deren weltanschaulich-politische Dramatisierung weiter auf.

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aller Notlagen und Barrieren auf dem Weg in eine bessere nationale respektive soziale Zukunftsordnung begrüßten. Daraus wurden Weltanschauungskämpfe, weil die beiden bis dahin in Europa dominanten politischen Ideologien mit und nach dem Krieg erheblich an Überzeugungskraft und Mobilisierungspotenzial verloren: gemeint sind Liberalismus und Konservatismus. Sie hatten noch am Vorabend die europäische Politik, aber darüber hinaus auch die kulturellen Produktionsfelder maßgeblich geprägt. Nun mutierten sie zu Weltsichten der Alten und dann der ewig Gestrigen, sie fanden auch ihren Niederschlag in dem wehmütigen Blick der alten Eliten in Wirtschaft und Politik auf die »gute alte Zeit« vor 1914. Gewicht und Gestaltungspotenzial des Liberalismus waren fast untrennbar an die Position der Siegermächte gebunden, und im Guten wie im Schlechten mit der internationalen Ordnung identifiziert, die im Versailler Frieden verankert worden war. Selbst in Großbritannien geriet der Liberalismus in eine intellektuelle Krise.7 Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass in der Zwischenkriegszeit sowohl für den politischen Konservatismus wie für den Liberalismus die weltanschaulichen Fundamente erodierten und sie damit so gut wie jede Ausstrahlungskraft für das Feld kultureller Produktion verloren. Dessen Avantgarden orientierten sich zusehends an der sozialistischen wie nationalistischen Konkurrenz, deren ideologischen Gehalte und Konnotationen in diesen Jahren durch zahlreiche Anleihen bei Lebensphilosophie und freireligiösen Strömungen, bei lebensreformerischen und völkischen Sekten angereichert wurden. Das deutsche Wort Weltanschauung markiert am besten die Mischung aus politischen Grundsätzen, populärwissenschaftlich verbrämtem Meinungswissen über Mensch und Welt und religiösen Bedürfnissen, welche breite Kreise der Gebildeten als attraktiv empfanden. Diese Mischung wurde wiederum zahlenmäßig noch viel größeren Kreisen Un- oder nur rudimentär Gebildeter als Doktrin und wissenschaftlich fundierte Weltsicht autoritativ vermittelt. Der Transfer vormals konfessionell gebundener religiöser Bedürfnisse in das politische und kulturelle Feld gehört sicherlich zu den grundlegenden Basisprozessen, welche der Zwischenkriegszeit ihr besonderes Gepräge geben. Das Programm des Eugen-Diederichs-Verlags steht exemplarisch für diese intellektuelle Gemengelage.8 Die Ausstrahlung dieser kompromisslosen und damit tendenziell oder offen demokratiefeindlichen Politikmodelle war umso größer, als es vor allem im Kreis der Jüngeren und der Gebildeten ein positives Echo fand. Dies ist nur zu verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass seit der Jahrhundertwende weltanschaulich diffuse Lebensreformbewegungen den Konformismus einer bürgerlich-konservativen wie bürgerlichliberalen Gesellschaft herausgefordert hatten.9 Auf die intellektuellen Hintergründe dieser vielfältigen Impulse neuer Ordnungsmodelle für die Moderne um 1900 geht Christof Dippers Beitrag in diesem Band genauer ein.10 Die Radikalisierungseffekte der politisch-militärischen Ereignisse und die intellektuellen Aufbrüche der Moderne um 1900 mussten zusammenkommen, um jene krisenhafte Aufbruchstimmung zu generieren, in welche die Akteur*innen am Bauhaus eingebettet waren, wenn sie nach eigenen Positionen und nach Gestaltungslösungen suchten. Seine Studierenden waren typischerweise die ersten, welche weltanschaulichpolitisches Engagement einforderten beziehungsweise in die Klassen brachten, aber auch die Meister*innen verfolgten mehr als nur professionelle Ziele, trugen lebensreformerische Ideen und Praktiken weiter.11 Die Versuche der drei Leiter des Bauhauses, Walter Gropius, Hannes Meyer und Ludwig Mies van der Rohe, einen autonomen Gestaltungsraum für das Projekt zu retten, scheiterten nach kurzer Zeit und jeder Stabilisierungsversuch blieb provisorisch und prekär, weil die Politisierungstendenzen innen wie außen übermächtig, die weltanschaulichen Aufladungen der eigenen künstleri-

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Rationalisierungsbewegungen Gleichzeitig war das Bauhaus Teil der Rationalisierungsbewegung, welche bereits im Ersten Weltkrieg starke Impulse erhalten hatte und nach 1918 unter den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und angesichts der anhaltenden sozialen Probleme und Notlagen weiteren Aufschwung erhielt.16 Diese Rationalisierungsbewegung war immer janusköpfig: Sie meinte sowohl ökonomische Einsparungen und Produktivitätssteigerungen als auch sozialkulturelle Neuorientierung. Letztere zielte darauf ab, das Verhalten der einzelnen beziehungsweise ganzer Gruppen hin zu größerer Rationalität, zu mehr Gesundheit, zu größerer Effizienz, ja zu größerem Glück zu verändern. Der »Fordschritt«17 mit d statt t, wie dies Kurt Tucholsky treffsicher formuliert hat, meinte beispielsweise eine regelrechte Begeisterung für die Unternehmens- und Lebensrezepte Henry Fords: Die bandgestützte Massenfertigung des neuen Konsumguts Auto verband sich bekanntlich bei Ford mit der Vision neuer Arbeiterquartiere und einer neuen, gut entlohnten Arbeiterschaft.18 Fords Autobiografie und seine Erfolgsrezepte wurden sogar in der bolschewistischen Sowjetunion Bestseller, aber auch Nationalsozialist*in-

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schen respektive handwerklichen Produktion immer präsent blieben, quasi unvermeidbar waren.12 Dabei fällt auf, dass linke wie rechte, also sozialistisch-kommunistische wie völkisch-nationalsozialistische, Interpretationen dessen, was am Bauhaus geschaffen, gelehrt und gelernt wurde, sich große Mühe geben mussten, um die Ambivalenzen und Anknüpfungspunkte auszublenden, welche vor allem der gemeinsame Bezug auf die lebensreformerischen, jugendbewegten Impulse in der Praxis erzeugte. Die Gemeinsamkeiten der architekturpolitischen Antipoden der 1920er-Jahre, von der Stuttgarter Schule und Gropius, von Paul Schultze-Naumburg und Meyer, waren größer, als es die Standpunktlogik der Lagerbildung erkennen ließ. So beschwor das Gründungsmanifest des Bauhauses 1919 den ganzen Pathos lebensreformerischer Aufbrüche und einer neuen ganzheitlichen Ordnung, wenn Gropius von der Versöhnung von Kunst und Handwerk sprach, das »Werkmäßige« als »Urquell des schöpferischen Gestaltens« feierte und die »Wiedereingliederung des Künstlers in den ursprünglichen Zusammenhang bildnerischer Tätigkeit« als Ziel formulierte.13 Die Wortführenden des Bauhaus-Experiments knüpften vor allem an die zeittypischen Erwartungen an, durch eine bewusstere Lebensführung und eine einheitliche Gestaltung der Lebenswelt an der Entstehung eines »neuen Menschen« mitzuarbeiten. Der »Zeitwille«, wie dies genannt wurde, drängte darauf, die historistischen »Gestaltungskulissen« des 19. Jahrhunderts einzureißen und damit zugleich auch die bürgerlichen Konventionen hinter sich zu lassen. Auch die Rückbesinnung auf Handwerk und eine Umgestaltung des Kunstgewerbes standen im Banne eines Strebens nach »neuer Ganzheit«.14 Dieses Pathos ganzheitlicher Neuerfindung einer modernen Ordnung der Sachen und der Menschen machte das Bauhaus auch von innen besonders anfällig für die Weltanschauungskämpfe der Zwischenkriegszeit. Denn dort agierten und agitierten vor allem jene, welche die Notlagen der eigenen Zeit als Ergebnis intellektueller Zerrissenheit, falscher politischer und moralischer Kompromisse und als Verlust existenzieller Authentizität deuteten. Noch 1932/33, als das nach Berlin verlagerte Bauhaus unter seinem neuen Direktor van der Rohe um seine Weiterexistenz kämpfte, brachte es der Dessauer Landeskonservator Ludwig Grote in einem Unterstützungsbrief für die Sache des Bauhauses an die Kulturpolitiker der neuen braunen Machthaber in Thüringen klar zum Ausdruck: »Der neue Stil kann marxistisch-kommunistisch sein, er kann aber auch deutsch und klassisch sein.«15 Ambivalente Anschlussfähigkeit und Entscheidungszwang waren die beiden Seiten derselben Medaille geworden.

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nen lasen sie mit Freude, denn Ford war auch ein glühender Antisemit. Während die kapitalistische Massenproduktion nach Fords Rezeptur im Europa der Zwischenkriegszeit noch weitgehend Utopie blieb, fanden die fordistischen Produktionsprogramme dann in den 1930er-Jahren in den stalinistischen Industrieplanungen Anwendung, bevor sie im Zweiten Weltkrieg massiv in der deutschen Rüstungsproduktion Einzug hielten. Viel eher als in der industriellen Produktion wurden die neuen Prinzipien von Produktionsrationalisierung und -planung in Stadt- und Raumplanung und konkret im Wohnungsbau, voran im Mietwohnungsbau, umgesetzt. In Architektur und Stadtplanung markieren die 1920er- und 1930er-Jahre erhebliche Weiterentwicklungen in der technischen Normung und Standardisierung. Die »Rationalisierung der Architektenarbeit«19 war Bestandteil der Bestrebungen zur Senkung der Herstellungskosten für den dringend benötigten städtischen Wohnraum, zur Optimierung der Stadt- und Verkehrsplanung. Architekturausstellungen waren zentrale Foren, um das Neue Bauen einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen und um sich um Aufträge bei den politischen und ökonomischen Eliten zu werben. Der oder die Architekt*in war dabei nur eine*r der vielen neuen Sozialingenieur*innen, die mithilfe konkreter Gestaltungsentwürfe, auf der Grundlage neuer soziografischer und sozialstatistischer Daten ökonomische, ästhetische und soziale Gesichtspunkte städtischen Bauens und Planes zu vereinbaren suchten.20 Im Mittelpunkt dieser sozialplanerischen Initiativen stand dabei die standardisierte Befriedigung von Grundbedürfnissen einer industrialisierten Massengesellschaft. Sozialdemokratische Stadtplaner*innen, Bau- und Wohnungsgenossenschaften, aber auch Unternehmen wurden wichtige Auftraggeber*innen für Bauhaus-Architekt*innen und -Designer*innen. Das spätere Bauhaus traf den Nerv der Zeit mit seinem Programm, rational durchgestaltete Lebensräume bis ins kleinste Detail zu entwerfen und bis zur Produktionsreife zu entwickeln. Die idealen Sozialexpert*innen der Zwischenkriegszeit verbanden Aufmerksamkeit fürs Detail mit grundlegenden Veränderungsambitionen im Großen, setzten zugleich auf die Wirksamkeit neu gestalteter Umwelten und die Erziehungsimpulse, die von Lebensreform und Weltanschauung ausgingen.21 So dienten die viel besuchten Architektur- wie Hygieneausstellungen dieser Zeit zugleich auch dem Zweck, das neugierige Publikum mit den Anforderungen eines neuen, besseren Lebens vertraut zu machen, die neue funktionalistische Anordnung der Räume und Objekte als attraktive Entwürfe eines modernen Lebensstils zu präsentieren. Thomas Etzemüller hat anhand des schwedischen Buches Acceptera (deutsch: Akzeptiere), einer Programmschrift schwedischer Architekt*innen des Neuen Bauens von 1931, gezeigt, wie die Selbstverteidigung des neuen Baustils und der funktionalistischen Ästhetik zugleich auch eine Werbeschrift für eine neue Lebenshaltung war, die auf die »Gesunden« und »Ehrlichen« zielte und die modernen Lebenswelten der Zukunft vor allem als Befreiung von den Formen und Gestaltungsidealen des 19. Jahrhunderts und als technisch innovative Weiterentwicklung älterer funktionsorientierter Bau- und Wohnstile präsentierte.22 Die Architekt*innen und Sozialplaner*innen einer funktionalistischen Moderne bemühten sich um Rückbindung an Tradition und warben um die Zustimmung der Vielen. Die Sozialutopie des »neuen Menschen« zeigt in diesen Jahren sowohl ihre autoritäre, ja totalitäre Seite als auch ihre sozialliberale Seite schrittweiser Selbstdisziplinierung durch gezielte Gestaltung von Wohn- und Arbeitsplatz.23 Das Bauhaus-Projekt teilt auch mit vielen anderen Projekten und Initiativen der Zeit das Pathos der Dringlichkeit. Die Gestaltungsentwürfe konnten nicht warten, die neuen Ideen atmeten avantgardistische Ungeduld, und dies war nicht allein das Privileg der Jugend, sondern

Krisenmomente und Ausnahmesituationen Kommen wir zum vierten Aspekt: den verdichteten Umbruch- und Ausnahmesituationen. Über dem Bauhaus hing wie bei den meisten künstlerischen Projekten dieser Zwischenkriegsjahre das Damoklesschwert finanzieller und existenzieller Ungewissheit. Ihre Experimente waren prekären Zuständen abgerungen. Das gilt für die unmittelbare Nachkriegszeit ebenso gut wie für die Jahre der Inflation 1922/2326 und der

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Kulturkämpfe zwischen Stadt und Land, Metropole und Provinz Schließlich geriet das Bauhaus für viele seiner Mitglieder unerwartet in den großen Gegensatz zwischen Metropole und Provinz, zwischen Stadt und Land. Damit ist die dritte epochentypische Eigenart benannt, in deren Spannungsfeld das Bauhaus gehört. Seine Vorgeschichte ist aufs Engste mit den kulturpolitischen Ambitionen einer thüringischen Residenzstadt verknüpft. Den großen Namen Weimar für die eigenen Gestaltungsambitionen zu nutzen, war neben der praktischen Nähe zu Berlin vermutlich zu verführerisch, als dass die Bauhaus-Initiatoren die Offerten aus Köln hätten annehmen können. Mit der Wahl Weimars begab sich das Bauhaus aber, ob es wollte oder nicht, in die Konfrontation mit den national-konservativen Kunst- und Kulturaktivist*innen kleinstädtischer Prägung. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in kritische Distanz zu den neuesten Strömungen der Metropolen geraten und nach dem verlorenen Krieg war dies vollends so. Die kulturpolitische Dramatisierung zwischen kleinstädtischem Provinzgeschmack und großstädtischem Avantgardismus war keine Weimarer Spezialität, sie ist ein europäisches Phänomen.24 Denn anders als noch im langen 19. Jahrhundert nahm nun die Provinz nicht einfach dankbar und glücklich die hochkulturellen Spitzenleistungen der Metropolen an und eiferte ihnen nach, sondern deren Kulturwächter*innen und -aktivist*innen mobilisierten nun lautstarken Widerstand gegen die Asphaltliteratur, gegen Kulturbolschewismus und Amerikanismus.25 Die Großstadtkritik wurde gewissermaßen hochkulturell aufgeladen und nationalpolitisch beziehungsweise klassenpolitisch gewendet. In jedem Fall wurde aus der Irritation durch Fremdes, aus der Distanz gegenüber den Zugereisten und Ausländer*innen nun ein systematisches kulturpolitisches Argument für Heimatschutz und deutsches Dach, für Klassik und gegen Experimente. Dieser Stadt-Land-Gegensatz begegnet den Kulturund Sozialhistoriker*innen nicht nur im Deutschen Reich, sie finden ihn in Frankreich, Großbritannien, in der Sowjetunion und in Polen. Für das Bauhaus wurde er existenziell, da weder Weimar noch Dessau urbane Milieus boten, die Schutzräume sicherten und Resonanzen schufen. Die Insularität der Avantgarde war der Preis, den das Experiment zahlen musste, als es versuchte, den Glanz der Weimarer Klassik auf das eigene Projekt zu lenken.

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allgemeiner Zug des social engineering dieser Jahrzehnte: Die Unordnung der Gegenwart und die krisenhafte Zuspitzung ökonomischer, sozialer und politischer Fehlentwicklungen machte in den Augen der Sozialexpert*innen ihr ebenso entschlossenes wie auch präzises Eingreifen zum Gebot der Stunde. Diese Zuspitzung der Krisenwahrnehmung zum Interventionsgebot suggerierte nicht nur eigene Wichtigkeit, sondern war zugleich auch Einfallstor für politische Aufladungen und Dramatisierungen. Raum für stille Sozialtechnologien und unauffällige Gestaltungsrevolutionen war nicht vorhanden. Das trennt diese Jahrzehnte so markant von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Bauhaus-Entwürfe und -Ideen ihren sicheren Platz in den vielen Modernisierungsvorhaben fanden, die nun im Osten wie im Westen hegemoniale Gültigkeit beanspruchen konnten.

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Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933/34. Dies gilt aber auch für die politischen Krisenjahre 1919, 1920 und 1923 und die Krisenjahre der Präsidialkabinette 1930 bis 1933. Was über den Sog hin zur Politisierung und zur Radikalisierung gesagt wurde, entfaltete erst in diesen ereignis- und konjunkturhistorischen Verdichtungen seine volle Wucht. Jüngere kulturhistorische Forschungen haben darauf aufmerksam gemacht, dass diese Umbruchszeiten aber keineswegs als Einbahnstraße ständig sich verschlechternder Arbeits- und Lebensbedingungen missverstanden werden dürfen.27 Sie enthielten zumal für die avantgardistisch gestimmte Jugend auch das Versprechen, dass alte Strukturen brüchig geworden waren und ein Neubeginnen zum Greifen nahe war. Dem Krisenbewusstsein wohnte also eine erhebliche sozialpsychologische Ambivalenz inne, es enthielt ebenso viel Befreiungskraft und Gestaltungspotenzial wie Angst und Einschüchterung. Der Expressionismus des frühen Bauhauses artikulierte solche Stimmungen in ihrer ganzen Breite. Kommen wir zu einer abschließenden Betrachtung. Ich habe versucht, das Bauhaus-Projekt in seine ideengeschichtlichen Epochenbezüge zu stellen. Aus einer solchen Perspektive erweisen sich gerade die Ambivalenzen und Widersprüche als aufschlussreich und bedenkenswert. Mit den anderen Avantgarden der 1920er-Jahre teilt das Bauhaus das Schicksal, in den Sog der politischen Konfrontation zwischen marxistischer Linken und nationalistischer Rechten geraten zu sein, aber auch den kräftigen neuen Rationalisierungsbestrebungen und den Selbstermächtigungen der Sozialexpert*innen wichtige Stichworte und Handreichungen geliefert zu haben. Erst der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland, dann dessen kurzer ideologischer und militärisch-politischer Triumph in Europa 1939 bis 1943 haben das Bauhaus zu dem gemacht, was wir heute feiern: zu einem von den Schlacken seiner Verwicklungen und Verirrungen gereinigten Klassiker der Moderne. Historiker*innen werden immer mehr Gefallen daran finden, den Reichtum der Widersprüche und Ambivalenzen zu betonen. Das galt schon für die erste Weimarer Klassik.

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von Saldern: »›Alles ist möglich.‹ Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts«. In: Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europäische Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Köln / Weimar 2012, S. 155–192. 19 Konstanty Gutschow: »Bauzahlen. Leitgedanken«. Zitiert nach: David Kuchenbuch: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2010, S. 89. 20 Vgl. David Kuchenbuch: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2010; Martin Kohlrausch: Brokers of Modernity. East Central Europe and the Rise of Modern Architects, 1920– 1950. Leuven 2019. 21 Thomas Etzemüller: »Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze«. In: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 11–39. 22 Vgl. Thomas Etzemüller: Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden. Bielefeld 2010, S. 164–171. 23 Zu den Spielarten siehe Etzemüller 2009; Lutz Raphael: »Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918–1945)«. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 327–346; Wolfgang Hardtwig: »Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime«. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 27, 2001, S. 5–40. 24 Vgl. Lutz Raphael: »Les menaces des temps modernes. La politisation des dynamiques culturelles dans l’Europe de l’entre-deux-guerres«. In: Francia, Nr. 41, 2014, S. 225–238. 25 Vgl. Stephanie Middendorf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980. Göttingen 2009, S. 179–324; Adelheid von Saldern: »Überfremdungsängste. Gegen Amerikanisierung der deutschen Kultur der zwanziger Jahre«. In: Alf Lüdtke et al. (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 213–244. 26 Vgl. Martin H. Geyer: Verkehrte Welt: Revolution, Inflation und Moderne. München 1914–1924. Göttingen 1998. 27 Vgl. Moritz Föllmer et al. (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik: zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main / New York 2005; Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik: Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918– 1933. München 2008.

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Anmerkungen 1 Vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. 2 Vgl. Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. »Amerikanisierung« in Deutschland und Frankreich (1900–1933). Stuttgart 2003; Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. 3 Vgl. Thomas Etzemüller: »Social Engineering« (2007). Unter: https://docupedia.de/zg/ Etzemueller_social_engineering_v2_de_2017 (letzter Zugriff: 08.03.2021). 4 Vgl. Lutz Raphael: »Moderne Zeiten und neue Ordnungen«. In: Ders.: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München 2011, S. 131–157 5 Vgl. Jörn Leonhard: Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014. 6 Vgl. Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923. München 2018. 7 Vgl. Richard Overy: The morbid Age: Britain between the wars. London 2009. 8 Vgl. Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister: der Eugen-Diederichs-Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996. 9 Vgl. Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998; Florentine Fritzen: Gesünder leben: die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006. 10 Siehe in diesem Band S. 148–159. 11 Exemplarisch der Bauhaus-Meister Johannes Itten. Vgl. Bauhaus Archiv, Museum für Gestaltung (Hg.): Bauhaus 1919–1933. Köln 1991, S. 24–34. 12 Zu den konkreten Konflikten des Bauhauses mit den kommunal- und landespolitischen Verantwortlichen sowie zu den internen politischen Konflikten siehe ebd., S. 46–49, 113–114, 199–200, 227–236. 13 Walter Gropius: »Bauhausmanifest«. In: Bauhaus Archiv, Museum für Gestaltung (Hg.): Bauhaus 1919–1933. Köln 1991, S. 18–19. 14 Vgl. Peter Gay: »Der Hunger nach Ganzheit. Erprobung der Moderne«. In: Ders.: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Republik 1918–1933. Frankfurt am Main 1970, S. 99–137. 15 Brief Ludwig Grote an Hugo Bruckmann vom 3. Mai 1932, im Archiv für Bildende Kunst im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Nl Grote, zitiert nach: Bauhaus Archiv, Museum für Gestaltung 1991, S. 230. 16 Vgl. Etzemüller 2009; Klautke 2003. 17 Kurt Tucholsky: »Auf dem Nachttisch« [1931]. In: Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke in zehn Bänden, Band 9. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 139. 18 Vgl. Adelheid von Saldern / Rüdiger Hachtmann: »Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung«. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Nr. 6, 2009, S. 174–185; Adelheid

Wenn wir heute über das Bauhaus, seine Geschichte, über die Akteure und Akteurinnen in dessen unterschiedlichen Entwicklungsstufen aus Anlass des 100-jährigen Gründungsjahres dieser Kunst- und Designschule sprechen, so hat das für mich – bei aller Wertschätzung – etwas Verstörendes. Schließlich begegnen wir einem seit Längerem andauernden Bauhaus-Hype, der gemessen an der zum Teil vernichtenden Kritik, die an dieser Ausbildungsstätte und ihren Protagonisten und Protagonistinnen im Umfeld der Postmodernediskurse veröffentlicht und kanonisiert wurde, staunen lässt. Das betrifft vor allem die Beurteilung des Gründers und Architekten Walter Gropius, der bereits im Jahre 1983 aus Anlass seines 100. Geburtstages im Urteil der Geschichte als »Bösewicht« beleumundet war, und als Erfinder und Propagandist der »Glaskisten, Betonklötze, [der] in Zeilen erstarrten Siedlungen und all [der] verdrossenen grünen Witwen darin« galt. So las man es in der Wochenzeitung Die Zeit, in der Manfred Sack den Hohepriester der postmodernen Architektur, Philip Johnson, zitierte, der auf die Frage, ob »Gropius einer der größten Architekten dieses Jahrhunderts war«, geantwortet hatte: »Wer ist er denn überhaupt?«1 Diese Antwort war ein Indiz für die einsetzende meinungsprägende Abschiedsvorstellung der Moderne und damit für das Bauhaus als ihrem fortschrittsoptimistischen Repräsentationsmodell. Seitdem galt es als ausgemacht, dass der einst als »Silberprinz« gefeierte Bauhaus-Gründer Gropius wie seine Schule dem zu vernachlässigenden historischen Erbe zugeschlagen werden sollte. Was in dieser Modernekritik zunehmend aus dem Blick geriet, waren die seit den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach und nach publizierten Veröffentlichungen zur Komplexität und Widersprüchlichkeit dieser Bauhaus-Geschichte. Nach den je eigenen wissenschaftlichen Wertesystemen und Methoden hatte man damals begonnen, die bereits vorliegenden Quellen zu ordnen, weitere zu finden, um sie hermeneutisch zu deuten, wobei die so wachsenden Archivbestände in Ost- und Westdeutschland wiederum nur ausgewählten Blicken zugänglich blieben. Immerhin zeigte sich im Laufe der Zeit, dass die Gründung des Bauhauses im Jahre 1919 und seine turbulente Entwicklung bis hin zur Schließung 1933 nicht allein aus der Sicht seiner im Westen geschätzten Protagonist*innen und autobiografischen Erinnerungsschriften adäquat beschrieben werden konnte. Erst unter Berücksichtigung der in Weimar und Dessau umfangreich dokumentierten Institutionengeschichte erschloss sich nämlich, dass die Erzählungen zum Bauhaus nur vor dem Hintergrund der politökonomischen Einflussfaktoren im europäischen Umfeld der Kriegs- und Revolutionsjahre seit 1914 sinnvoll angelegt werden konnten. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor 30 Jahren und den damit verbundenen Archivöffnungen ist jetzt eine Neubewertungswelle initiiert worden, die zwischen oral history und Dokumentenstudien die Bauhaus-Rezeption erweitert. Dabei brachten die Forschungen bereits viel Wissenswertes zutage, haben aber zuweilen auch ungemein schrill verfasste Bewertungen gezeitigt. Letzterer Aspekt scheint mir in

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Karin Wilhelm

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Moderne Lebenswelten – Gropius und Walther Rathenau Im Jahr 1912 erschien eines der meistgelesenen Bücher der unmittelbaren Vorkriegsjahre, Walther Rathenaus Darstellung der modernen mechanisierten Lebenswelt: Zur Kritik der Zeit. Rathenau, Sohn des jüdischen Gründers der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) Emil Rathenau und damals als Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des weltweit agierenden Elektrokonzerns AEG in Berlin ansässig, war schon seit Längerem zu einer intellektuell-kulturell prägenden Figur der aufstrebenden Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches geworden. Mit seinem Buch reagierte Rathenau auf die kulturelle Brüchigkeit einer Zeit, die er als Analyse des Verfalls des »bürgerlichen Liberalismus« durch die kriegsverherrlichende Bismarck-Ära interpretierte. Rathenau diagnostizierte, dass sich mit der Generation der nach 1880 Geborenen – und zu dieser gehörte Gropius – offensichtlich ein veränderter Lebensund Wertehorizont eingestellt hatte, der sich von der traditionellen, gleichsam naturhaft erlebten Existenz abkoppelte. Rathenau konstatierte: Diese Generation »ist seit dem Bestehen der Welt die erste, die im mechanisierten Verkehrsgetriebe, im Getöse und Flimmer der Großstadt ohne Erstaunen erwachte und aufwuchs. Heute mag es schon Sprößlinge geben, die im Schlafwagen gezeugt, in der Narkose geboren, mit Sterilisatoren ernährt und in Automobilen gewiegt in die Welt der elektrischen Leitungen und Warenhäuser eintraten. Das Gesetz der Großstadt, das die Erinnerungsbilder verjagt, die Sinne blendet und betäubt und alles Erstaunen auslöscht, führt zum Skeptizismus, zur Müdigkeit und Neurose.«2 Im Umfeld dieser individuellen psychisch labilen Anpassungsstrategien beobachtete Rathenau nun ein psychosoziales Milieu, das im Gegenzug zur dieser künstlichen Welt Strategien entwickelte, die er als gezügelte Rebellion gegen die Vätergeneration deutete und als kulturelles Ausstiegsmodell aus dieser technisch aufgerüsteten Enteignungsmechanik des Existenziellen interpretierte. »Es gibt heute im Tiergartenviertel kein Stockwerk, wo nicht junge Begabungen für Neuromantik, Innenkunst, latinisierendes Deutsch und kontrapunktischen Tierstimmenimitation ihr Wesen treiben. Sie werden Kunstgeschichte studieren, Antiken sammeln und Monographien schreiben […]. Ein menschlich rührender Zug ist diesen Großstadtkindern eigen, sobald sie ihren Zustand erkennen: eine Sehnsucht erwacht nach Natur, Innerlichkeit und Einheit. Doch es erwächst aus dieser Sehnsucht keine Gestaltung […]. Aus der Verneinung schlägt Rauch, aber keine Flamme.«3 Das Feuer jedoch sollte sich dann mit den Kriegserlebnissen zwischen 1914 und 1918 gerade im Umfeld der in Berlin angesiedelten Künstlerzirkel entzünden und erfasste auch den Bauhaus-Gründer Gropius.

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vielen der neu publizierten, eben auch in den literarisch frei konzipierten Büchern zum Bauhaus oder den psychodramatisch angelegten Biografien bis hin zu trivialen Filmerzählungen zu dominieren. So ist zur 100-Jahr-Feier des Bauhauses die Auferstehung eines neuen Mythenprojekts zu verzeichnen, das sich im Umfeld der dekonstruktiven und genderkomprimierten Wahrheitsfindung eines erstaunlich marktgängigen Aufmerksamkeitsdiskurses bedient. Will man in diesem Geflecht die Übersicht nicht verlieren, so sind jene aus dem Blick geratenen Forschungsarbeiten und Debatten der 1960er/1970er-Jahre nochmals zu Rate zu ziehen. Das bedeutet, dass wir das Staatliche Bauhaus Weimar und seinen Direktor Gropius im Fadenkreuz der gravierenden gesellschaftspolitischen Umbrüche während der deutschen Nachkriegsjahre um 1920 aufsuchen und die kulturellen, zivilisationsanalytischen Leitbilder auffächern müssen, die sein konzeptionelles Denken beeinflusst und geprägt haben.

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Gropius Ideen zur Gründung einer neuen Ausbildungsstätte in Weimar Seine erste, schon 1916 in Weimar eingereichte Bewerbungsschrift, »Vorschläge zur Gründung einer Lehranstalt als künstlerische Beratungsstelle für Industrie, Gewerbe und Handwerk«, kam dann auch ohne diesen hohen Ton aus. Dieser Entwurf wurde sachbezogen mit dem Blick auf den Weltmarkt als »eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Künstler, Kaufmann und Techniker«6 konzipiert. Diesem Konzept schwebte ein Kooperationsmodell vor, wie es im Deutschen Werkbund um 1910 mit großem Erfolg entwickelt wurde. Wenn Gropius in seiner Schrift von 1916 dann scheinbar romantisierend rückwärtsgewandt die »mittelalterlichen Hütten«7 als Vorbild einer neu zu strukturierenden Ausbildungsstruktur anführte, so blieb dieses Modell doch sachbezogen auf die wirtschaftlich effiziente Gemeinschaftsarbeit von Experten und Expertinnen ausgerichtet. Sein Ziel war, wie er es aus dem Arbeitsumfeld des Berliner Ateliers von Peter Behrens kannte, die künstlerisch ambitionierte Entwicklungsarbeit zur unverzichtbaren Grundlage der industriellen Produktion zu machen. Das Programm dieser »künstlerischen Beratungsstelle« formulierte mithin ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für »freischwebende« Künstler und Künstlerinnen und die freiberufliche Architektenschaft in der modernen Welt der Lohnarbeit, in der der Deutsche Werkbund bereits als »Gewerkschaft der Kunstschaffenden«8 agierte, wie Friedrich Naumann 1908 bemerkt hatte. Gropius unterließ es damals, dem Handwerk eine traditionell berufsbildprägende Sonderrolle zuzumessen. Seine »Vorschläge zu einer Beratungsstelle« fassten vielmehr jene Erfahrungen zur Modell- und Typenproduktion zusammen, die er im Arbeitsumfeld des künstlerischen Beirates des Weltkonzerns AEG, Peter Behrens, kennengelernt hatte. Zugleich griff sein Vorschlag auf eigene Positionen aus den Vorkriegsjahren zurück. Dazu gehörten Gedanken, die er in einem Vortrag von 1911 über »Monumentale Kunst und Industriebau«9 und vor allem in dem ein Jahr zuvor entwickelten »Programm einer allgemeinen Hausbaugesellschaft auf künstlerisch einheitlicher

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Als Gropius, der 36-jährige, in jenem modernisierten Berliner Großstadtmilieu aufgewachsene Bürgerssohn, 1919 die Möglichkeit erhielt, die Hochschule für Bildende Kunst (so der Name seit 1910, ehemals Großherzogliche Sächsische Kunsthochschule) und die durch Henry van de Velde aufgebaute Großherzogliche Kunstgewerbeschule im Staatlichen Bauhaus Weimar als Leiter neu zu strukturieren, agierte er als Vertreter eben jener Doppelnatur, die Rathenau vor Augen hatte. Einerseits pragmatisch auf die unhintergehbaren Voraussetzungen einer technisch-maschinell strukturierten Arbeits- und Lebenswelt orientiert, suchte er andererseits nach Lösungen, um die darin wirksame Dominanz der »Anpassung des Leibes und der Seele an den Mechanismus«4 zu kompensieren. Sein Weg sollte ihn nicht, wie viele andere, in die Innerlichkeit des Monte Verità entführen, in jenes Tessiner Vegetarieridyll, das der in Berlin geborene Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam besuchte und leicht spöttelnd beschrieben hat. Aber Gropius sollte sich im Fahrwasser der Berliner Kapitalismuskritiker*innen und Lebensreformer*innen bewegen. Es waren die literarisch und zeichnerisch imaginierten Sozialutopien, die Blicke in fernöstliche Kulturen, wie sie im Berliner Arbeitsrat für Kunst oder in der Novembergruppe im intellektuellen Umfeld der Kriegsjahre gediehen, die der humanistisch ausgebildete Gropius durch die »Künstler Anarchisten«5, wie er jene Akteur*innen gerne nannte, damals kennenlernte. In diesem politischen Umfeld und unter dem Eindruck des verlorenen Krieges sollte auch er in die BauhausProgrammatik von 1919/20 einen emphatischen Jargon einfließen lassen – eine Sprache, die dem eher pragmatisch argumentierenden Architekten bislang eher fremd war.

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Berufung nach Weimar Als Gropius dann tatsächlich nach Weimar berufen wurde, stand die Stadt als Gründungsort der neuen Republik bereits für den großen gesellschaftspolitischen Um-

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Grundlage m.b.H«,10 expliziert hatte. Im Programm von 1910 monierte Gropius die unwirtschaftliche, zu teuer bezahlte Handarbeit im Baugewerbe und rühmte demgegenüber die auf Normierung angelegte und zum industrialisierten Typus neigende Gleichheit. Den Kerngedanken seiner Ambitionen fasste er in der Aussage zusammen, es gelte »Kunst und Technik zu einer glücklichen Vereinigung« zu bringen. Schließlich sei nur so dem Publikum die Möglichkeit zu bieten, in den Besitz »wirklich reifer guter Kunst und solider gediegener Ware zu gelangen«.11 Vor diesem Hintergrund entwickelte Gropius die Ästhetik einer formal-gestalterischen Einheitlichkeit, die er aber nicht allein auf die landläufig diskutierte Angleichung von Stoff und Form reduzierte. Vielmehr betrachtete er die kommende formal-gestalterische Einheit auch unter dem Aspekt der »gänzlich neuen Lebensbedingungen« des modernen großstädtisch geprägten Menschen und seiner »modernen Lebensäußerungen«.12 Mit diesen Argumenten griff Gropius Ergebnisse soziologischer Studien auf, in denen um 1900 soziale Differenzierungen und vermehrt schichtenspezifische Angleichungsprozesse der neuen Lebensstilprägungen beschrieben wurden. Auch Rathenau, auf dessen Unterstützung mittels der Hausbau-Gesellschaft Gropius 1910 nicht zu Unrecht gehofft hatte, beschrieb sie in seinen Schriften als Ergebnis der modernen mechanisierten bürgerlichen Gesellschaft: »Ein Rechtsanwalt von heute ähnelt seinem medizinischen Stammtischgenossen weit mehr als ein Leineweber einem Tuchmacher von ehedem. Und mehr noch ähneln sich ihre Häuslichkeiten, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Kleidungen, ihre Denkweisen und ihre Wünsche […]. Fügt man dem […] Ausgleich der Lebensbedingungen die Wirkungen eines beständig wachsenden Volkswohlstandes hinzu, so erhält man die Grundbedingungen der Mittelstandstendenz, die für die mechanisierte Gesellschaft bezeichnend ist.«13 Diese Entwicklung zur Mittelstandsgesellschaft hatte die AEG in der Gebrauchsgüterproduktion auf der Grundlage der vorfabrizierten Massenproduktion in das private Lebensmilieu längst eingespeist. Eine solche Dominanz der technisch-maschinell geprägten Produktionslogik auf die Lebensverhältnisse in der modernen Gesellschaft hatte Gropius in seinem Vorschlag zu einer »Lehranstalt und künstlerischen Beratungsstelle«14 während der Jahre des Ersten Weltkrieges nicht unterschlagen, sondern vorausgesetzt. Gropius konnte mit diesem Pädagogikkonzept einer industriell verwertbaren künstlerischen Ausbildung die Weimarer Kulturpolitiker von 1916 noch nicht überzeugen. Karl-Heinz Hüter dokumentierte in seiner Darstellung die Ablehnung dieser ersten Weimarer Bauhaus-Planung mit dem Widerstand durch die Handwerkskammer. Und Fritz Mackensen, der damalige Direktor der Weimarer Hochschule für bildende Kunst, urteilte klarsichtig, dass das »von dem Architekten Gropius« vorgelegte Konzept »mehr die künstlerische Durchdringung von Handel und Großindustrie im Auge«15 habe als die Verfeinerung der Handwerksarbeit. Wenn Gropius drei Jahre später in seinem 1919 neu geschriebenen »Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar« sodann das hohe Lied des Handwerks anstimmte und vom Einheitskunstwerk schwärmte, das »aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens«16, so mag man darin den Taktiker wähnen, der aus dem Misserfolg gelernt hatte. Das aber verkennt die historische Situation, auf die die emphatische Rede vom »neuen Bau der Zukunft auf der Grundlage des Werkmäßigen« drei Jahre später nach dem verlorenen Krieg reagierte.

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bruch des Deutschen Reiches ein, in dem die unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen um politische Einflusssphären sowohl parteipolitisch als auch straßenkämpferisch rangen. In dieser politischen Unübersichtlichkeit und der gesamteuropäischen zivilisationsgeschichtlichen Umbruchsphase, in einer Situation der täglichen Geldentwertung, der Hungersnöte und der Umwertung gesellschaftsprägender Werte, betonte seine umgearbeitete Ausbildungskonzeption die Handwerksorientierung explizit. »Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Bilden wir […] eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung«17. Aus dieser Wiedervereinigung der werkkünstlerischen Einzeldisziplinen mag dann das entstanden sein, was Gropius den »großen Bau« nannte und emphatisch mit der Tradition einer gotischen Baukunst identifizierte. In dieser Metaphorik vom großen Bau leuchtete jetzt die neuromantische Seite der im Berliner Tiergarten geprägten Großstadtjugendlichkeit auf. Dabei waren es die utopischen Fantasiegeschichten des Katerpoeten Paul Scheerbart, des ehemaligen Kunstgeschichtsstudenten und inzwischen hoch geschätzten Schriftstellers, der mit seiner literarischen »Kristallomanie«18 die gefühlsbetonte Gotikschwärmerei der jungen, im Arbeitsrat für Kunst engagierten Architekten wie Gropius stimulierte. Für Scheerbart, diesen »Dichter der Architekten«19, war der gotische Dom das Symbol einer poetisch gefärbten Sozialutopie, die den neuen, ethisch und moralisch geläuterten Menschen ersehnte. Auf diesen Aspekt der Gotikauffassung griff Gropius dann 1921 zurück, als er auf die Journalistenfrage, wie sich nach der Zerstörung der bekannten alten Kultur Weimarer Provenienz ein »Neu-Weimar« bilden könnte, pro domo antwortete: »Holt euch die Besten, […] helft ihnen in dem nun anhebenden gigantischen Kampfe einer aus der Tiefe dieses Chaos vulkanisch aufbrechenden neuen ›gotischen‹ Weltanschauung mit der alten erschütterten Welt der klassischen Bildung«20 zu brechen. Unübersehbar lebte in diesen Sätzen ein historisches Motiv wieder auf, das bereits 100 Jahre zuvor die Vorstellungswelt der post-napoleonischen Gotikrezeption eines Karl Friedrich Schinkel beflügelt hatte. Schinkels Darstellung des gotischen Doms, den er beispielhaft um 1815 in mehreren Gemälden ikonisch als Inkarnation des so heiß ersehnten deutschen Nationalstaates hatte auferstehen lassen, war in ihrer romantischen Naivität aber im Revolutionsgeschehen von 1918 und dem Sturz der wilhelminischen Monarchie nicht mehr zitierfähig. Dennoch umkreiste die in Künstlerzirkeln damals gängige Gotikadoration abermals die Idee einer neu zu entwickelnden selbstbewussten deutschen Nationalkultur. In diesen Diskursen begann seinerzeit die Kulturkritik Oswald Spenglers eine wesentliche Rolle zu spielen. Auch der kunstgeschichtsbeflissene Gropius kannte sie und verband mit der gotischen Baukunst jetzt eine Position, die Spengler in seinem geschichtsphilosophischen Monumentalwerk Der Untergang des Abendlandes hatte wortgewaltig aufleben lassen. Aus diesem Buch übernahm er die Formulierung der »gotischen Weltanschauung«21 – ein Begriff, mit dem Spengler die besondere Form der kämpferischen männlichen Willenskultur umschrieb, mithin ein kulturprägendes »Lebensgefühl«, das nationalisiert zugleich als ein Begleitstück der »weltumspannenden Rassegeschichte« zu lesen sei.22 Es kann auf die vieldeutigen Facetten der ideologischen Implikationen zwischen Spengler, Richard Wagner und der Wiener Schule der Kunstgeschichtsschreibung, die in den verschiedenen Programmschriften des Walter Gropius zu lesen sind, nicht näher eingegangen werden. Unterstreichen aber möchte ich, dass die im hohen Ton der Kulturkritik vorgetragene Gotik- und Handwerksidee des Bauhaus-Programmes von 1919 nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass sich hinter den emotionalisierten Sprachbildern expressionistischer Manier der zivilisationsprägende Pragmatismus des

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Modellentwicklungen des vorfabrizierten Bauens: der Typus Wie schon Sigfried Giedion 1948 in der großen Studie Mechanization Takes Command. A Contribution to Anonymous History24 darlegte, wurde diese Diversifikation der handwerksdefinierten Produktentwicklung schon vor 1900 vor allem im Möbelbau praktiziert. Ähnliche Herstellungsverfahren kannte man schon lange aus dem Montagebau des Ingenieurswesens. Der Architekt Gropius verfolgte diese Entwicklungen des vorfabrizierten Bauens mit seinem teamwork-Kollegen Adolf Meyer dann in seinem

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Berliner Industriearchitekten Gropius nie vollkommen verflüchtigte. So finden wir einen sachlich argumentierenden Tonfall in vielen Briefen, zahlreichen behördlichen Stellungnahmen und in den Reden vor thüringischen Wirtschaftsvertreter*innen, in denen Gropius die Bauhaus-Ausbildung in ihrer ökonomischen Effizienz und Rentabilität bewarb. Zeitgleich treffen wir in den kulturpolitisch agitatorisch konzipierten Schriften und Redemanuskripten auf die ausdrucksstarke Oh-Mensch-Rhetorik, die das rationale Argument deklamatorisch übertönt. Es ist darin kein Widerspruch, vielmehr begegnen wir in beiden Formen des Sprachspiels eben jener Ambivalenz des modernen Großstadtmenschen, wie ihn Rathenau in seiner leicht neurotischen Veranlagung so trefflich charakterisierte. Gropius griff die dubiose politische Bedeutung des gotischen Weltanschauungssehnens eines Spenglers eher vage auf. Er nutzte den Begriff in seiner kulturrevolutionären Metaphorik, um das darin historisch angelegte Projekt der kooperativ organisierten Gemeinschaftsarbeit zu benennen. In diesem Kontext wurde die Handwerksorientierung zum prägenden Leitbild der frühen Weimarer Bauhaus-Pädagogik. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Handwerk nicht auf eine retrospektiv angelegte Arbeitsform reduziert und auf traditionsgebundene Handhabungen der Werkzeugbetätigungen verengt wurde. Vielmehr sollte in diesem Umfeld die neu auch künstlerischintellektuell geschulte Handfertigkeit aktiviert werden, um innovative Impulse zur Erfindung, zum Experiment zu bestärken. Schließlich lag es im Vermögen der geschulten Hand, durch Geschicklichkeit und Übung das beispielhafte, wertbeständige Modell zu entwickeln – und darum ging es. Diese Eigenarten der Handwerksarbeit und ihrer Fingerfertigkeiten pflegte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den jeweiligen Innungen im Standard der Qualitätsarbeit und arbeitete in vielen Fällen der Industrie schon zu. Richard Sennett rief diese Haltung Ende der 2000er-Jahre in seiner Studie The Craftsmen als »ursprüngliches Identitätsmerkmal des Handwerkers«23 wieder in Erinnerung. Beide Aspekte, die Modellentwicklung wie auch deren hohe Material- und Ausführungsqualität, wurden zu Vorgaben, die die handwerklich geprägte Bauhaus-Ausbildung in Weimar mit Blick auf die anzustrebende industrielle Verwertung begründen sollten. Darin blieb das Programm von 1910 – eben jene Idee des Architekten Gropius, in der typengeprägten maschinellen Vorfertigung die »Kunst und Technik zu einer glücklichen Vereinigung« führen zu können – unausgesprochen wirksam. Wenn Gropius anlässlich der Bauhaus-Ausstellung 1923 der Öffentlichkeit sodann den Slogan Kunst und Technik – eine neue Einheit präsentierte, so war der Gedanke, wie wir mit Blick auf die Idee der Hausbaugesellschaft von 1910 gesehen haben, weder neu, noch bedeutete diese Verbindung die grundsätzliche Abkehr vom handwerklichen Arbeitsethos der Weimarer Gründungseuphorie. Vielmehr behielt die handwerkliche Modellentwicklung als Bindeglied zwischen dem künstlerisch geprägten Entwurf und seiner typisierten Vervielfältigung im Maschinenprodukt seine maßgeblich entwicklungstechnische Funktion. Das sollte sich auch in den kommenden Jahren der Werkstättenausbildung nicht substanziell ändern.

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privaten Weimarer Entwurfsbüro, das im Van-de-Velde-Bau untergebracht war. Bereits im Programm von 1910 annoncierte er im Umfeld seiner AEG-Kontakte, dass sein Konzept zur Vorfabrikation kleiner Wohnhäuser »bis ins Detail durchgearbeitet fertig und baureif«25 vorläge. Die Möglichkeit zur Realisierung unterstützte damals der Hinweis auf zwei kleine amerikanische Versuchsbauten, die Thomas Alva Edison in New Jersey mit der Edison Portland Cement Company soeben aus normierten Schalungselementen für den Betonguss hatte errichten lassen.26 Schon 1908 prophezeite Edison in der New York Times: »Within the next twenty or thirty years, and it will start with the next two or three – concrete architecture will take enormous strides forward; the art of molding concrete will be reduced to a science of perfection and, what is equally important, of cheapness«27. Nur fünf Jahre später stellte der Peter-Behrens-Biograf Fritz Hoeber das »gegossene Haus als zukünftige[n] Typ unserer Baukunst« in den Sozialistischen Monatsheften vor.28 Die ersten preiswerten Edison-Betongusshäuser im Siedlungsverbund entstanden schließlich 1919 bei New Jersey mit dem Ziel einer slum clearence und um die herrschende Wohnungsnot zu lindern. Just in jener Zeit begann man im Büro Gropius / Meyer ähnliche Problemlagen zu bearbeiten. Gropius träumte davon, für die Architekturausbildung, die es institutionell am Weimarer Bauhaus noch gar nicht gab, »Probierplätze« einzurichten, um »modellmäßige Planungen in kleinem und großem Maßstab« zu ermöglichen. Er träumte davon, künftig Gebäude »durch kinematographische Stereo-Aufnahmen« zu visualisieren, »die gute Architekturen alter und neuer Zeit an den Augen des Beschauers vorbeilaufen« lassen. Solche Bilder, die »wie Mutoskope« angeordnet sind, könnten dann »durch vergrössernde Stereoskopgläser betrachtet werden«.29 Für diese Idee stand offensichtlich das Erlebnis des Films Pate und der im AEG-Umfeld positionierte Gropius kannte gewiss die Entwicklung des Kinetoskopen, der in den 1890er-Jahren im Umfeld Edisons entwickelt worden war.30 Bereits 1911 hatte Gropius die Idee einer »Industrialisierung der Zeichnung«31 vor Augen gehabt, wir treffen also auf Überlegungen, die sich später in den animierten Computerzeichnungen realisieren sollten. Zugleich entwarf und realisierte das Büro Gropius / Meyer mit assoziierten Mitarbeitenden weiterhin funktionale und durch Glas großzügig belichtete Fabriken, plante Privathäuser und realisierte 1920 mit dem jüdischen Bauunternehmer Adolf Sommerfeld eine Villa am Berliner Botanischen Garten in Holzbauweise. »Ausgerechnet an dem Holzhaus für einen Spekulanten und Kriegsgewinnler« – so lesen wir es in einem 2018 publizierten Büchlein zum Bauhaus im bekannten, besonders jüdischen Unternehmern unterstellten Jargon –, ausgerechnet an einem Villenbau habe sich »die Bauhaus-Romantik vom Einheitskunstwerk der Zukunft, das aus der Handwerksgemeinschaft erschaffen wird«32 materialisiert . Auf die Problematik dieser Aussage soll hier nicht eingegangen werden, für unseren Zusammenhang aber ist es wichtig, dass das Bauatelier Gropius / Meyer einige künstlerisch individuell geprägte Innenausbauten der Bauhaus-Werkstätten in Sommerfelds Privathaus einbeziehen konnte und zugleich das Projekt zur Vorfabrikation in Montagebauweise durchaus im Sinne des Bauunternehmers weiterentwickelte.33 Wie die Modelle solcher Musterbauten hätten aussehen sollen, zeigten kurz darauf die Entwürfe für »Typenhäuser der Siedlung ›Am Horn‹«. 1923 wurde dann unter Verwendung normierter Baumaterialien für Wände und Decken das Haus am Horn mit sogenannten »Jurko Einheitsplatten […,] einer Vorform der industriell gefertigten Betonplatten«34, errichtet, die ab Werk geliefert worden waren. All das schien mit der Vision vom »großen Bau der Zukunft« nur noch bedingt zu tun zu haben. Und doch: Gropius hat 1919 offenbar im Umfeld des Arbeitsrates ein Projekt angedacht, das seine gotikschwär-

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merische Idee vom »großen Bau« gleichsam säkularisierte und dabei einen Bautypus präsentierte, der die ersehnte formale Einheitlichkeit und soziale Gleichheit auf der Basis des vorfabrizierten Bauens skizzierte. Das Projekt »Wohnberge« wurde dann im Büro Gropius 1928 weiterverfolgt. Gedacht war offenbar eine Skelettkonstruktion, in die »seriell gefertigte Wohneinheiten« eingefügt werden sollten. Im »Wohnberge«Projekt deutete sich der Typus des großstädtisch angelegten Wohnhochhauses an, dem die genossenschaftliche Idee des bezahlbaren, gleichwertigen Wohnens zugrunde lag, wie sie die Weimarer Verfassung im Artikel 155 garantierte. Das Terrassenmodell des »Wohnbergs« ist, wenn es denn 1919 entstand, als ein erster Kommentar dieser verfassungsrechtlichen Maßnahme zu lesen. Zugleich prononcierte das verdichtete Terrassenwohnmodell den Lebensstil einer zukunftsorientierten modernen Mittelstandsgesellschaft im Sinne Rathenaus. In der Architekturentwicklung sollte es von historischer Breitenwirkung werden.35 Ein ferner, erinnernder Gruß an die Silhouette des »Wohnbergs« sollte 1968 im oberpfälzischen Amberg mit der im Montageverfahren hergestellten Spannbetonkonstruktion für die Produktionshalle der Thomas Glas und Porzellan AG entstehen. Als »Glaskathedrale« der Firma Rosenthal AG gefeiert und somit sakralisiert, wurde die Idee des »großen Baus der Zukunft« letztlich zum großflächig verglasten, gut durchlüfteten Industriebau, in dem das mundgeblasene Objekt neben dem seriell gepressten Glas in Teamarbeit gefertigt wurde.

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22 Ebd., S. 701. 23 Richard Sennett: Handwerk. Berlin 2008, S. 39. 24 Vgl. Sigfried Giedion: Mechanisation Takes Command. A Contribution to Anonymous History. Oxford 1948; Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt am Main 1987. 25 Gropius 1988c, S. 21. 26 Ebd., S. 20: »In Amerika lässt Edison bereits ganze Häuser mit Wänden, Decken, Treppen, Rohrleitungen usw. aus Beton in variable eiserne Formen gießen und erreicht somit, auch den Maurer und Zimmermann zu entbehren.« Mit der Arbeit Edisons war Gropius seit seiner Arbeit im Berliner Büro von Peter Behrens wohl vertraut. 27 Interview »Nine New Inventions Certain. They will Come Soon – and Pave the Way for Hundreds more«. In: New York Times, 22. November 1908, S. 8. Edison hatte bereits 1908 Häuser angemeldet, die in einem einzigen Betoniervorgang entstehen. Zur Geschichte des vorfabrizierten Bauens siehe Kurt Junghans: Das Haus für alle. Zur Geschichte der Vorfertigung in Deutschland. Berlin 1994. 28 Fritz Hoeber: »Das gegossene Haus als zukünftiger Typ unserer Baukunst«. In: Sozialistische Monatshefte, Nr. 19, 1913, S. 671–674, hier: 671ff. 29 Alle Zitate: Walter Gropius: Gesichtspunkte für Kunstausstellungen (Typoskript im Rahmen des Arbeitsrats für Kunst), zitiert nach Franciscono 1971, S. 283. 30 Wir dürfen davon ausgehen, dass Gropius von einem der ersten utopischen Filme jener Jahre, die Edison produziert hatte, gehört oder ihn vielleicht schon gesehen hatte. 1910 war der Film A trip to Mars entstanden und beflügelte die Idee von der Überwindung der Schwerkraft – ein Phänomen, das fortan die Architektenschaft inspirierte. 31 Reginald Issacs / Walter Gropius: Der Mensch und sein Werk, Band 1. Berlin 1983, S. 266. 32 Winfried Nerdinger: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne. München 2018, S. 34. 33 Gemeint ist das Projekt »Montagehaus« von 1929. 34 Karin Wilhelm: »Die Muster- und Verkaufsausstellung. Das Haus am Horn«. In: Museumspädagogischer Dienst Berlin (Hg.): bauhaus weimar 1919– 1924, materialien zum bauhaus. Berlin 1984/86, S. 42. 35 Vgl. Karin Wilhelm: »Alltag(s)-Wissen. Der Traum vom guten Leben«. In: ARCH+, Nr. 230, 2017; projekt bauhaus, Nr. 2, S. 76ff.

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Anmerkungen 1 Manfred Sack: »Vater der Moderne. Revolution mit dem Bauhaus. Walter Gropius zum 100.«. In: DIE ZEIT, 13. Mai 1983, S. 3–5, hier: S. 4. 2 Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit [1921]. Berlin 1922, S. 209. 3 Ebd., S. 210. 4 Ebd., S. 90. 5 Marcel Franciscono: Walter Gropius and the creation of the Bauhaus in Weimar: The ideales and artistic theories of its founding years. Illinois 1971, S. 250. 6 Walter Gropius: »Vorschläge zur Gründung einer Lehranstalt als künstlerische Beratungsstelle für Industrie, Gewerbe und Handwerk«. In: Hartmut Probst / Christian Schädlich (Hg.): Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Band 3. Berlin 1988a, S. 60– 62, hier: S. 61; vgl. Karl Heinz Hüter: Das Bauhaus in Weimar. Berlin 1976, S. 201ff. 7 Gropius 1988a, S. 62. 8 Friedrich Naumann: »Deutsche Gewerbekunst«. In: Ders.: Werke, Band 6. Köln / Opladen 1964, S. 260–270, hier: S. 263. 9 Walter Gropius: »Monumentale Kunst und Industriebau« (Vortrag im Folkwang-Museum, 1911). In: Hartmut Probst / Christian Schädlich: Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Band 3. Berlin 1988b, S. 28–51. 10 Walter Gropius: »Programm zur Gründung einer allgemeinen Hausbaugesellschaft auf künstlerisch einheitlicher Grundlage m.b.H.«. In: Hartmut Probst / Christian Schädlich: Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Band 3. Berlin 1988c, S. 18–25. 11 Beide Zitate: ebd., S. 19. 12 Zitiert nach Hüter 1976, S. 203. 13 Rathenau 1922, S. 78f. 14 Vgl. Gropius 1988a. 15 Hüter 1976, S. 204. 16 Zitiert nach ebd., S. 208. 17 Zitiert nach Hans M. Wingler: Das Bauhaus 1919– 1933. Weimar – Dessau – Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937. Köln 2002, S. 39. 18 Wolfgang Pehnt: »Paul Scheerbart, ein Dichter der Architekten«. In: Paul Scheerbart: Glasarchitektur. München 1971, S. S. 141–161, hier: S. 149 19 Ebd. 20 Zitiert nach Volker Wahl: Das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dokumente zur Geschichte des Instituts 1919–1926. Köln / Weimar / Wien 2009, S. 264. 21 Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1920]. München 1997, S. 394. Auf die Bedeutung der Spengler-Lektüre kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.

1925 übersiedelte das Bauhaus ins anhaltinische Dessau, wo es politisch gewollt war und auf bessere finanzielle Unterstützung hoffen konnte als in Thüringen. Es traf dort auf eine boomende Industrieregion, die dank des Unternehmens Junkers und seiner Flugzeug- und Motorenwerke international bekannt war. Die Bevölkerung wuchs, neue Siedlungen erschienen auf der Landkarte, Dessau sah sich auf dem Weg zur Großstadt.1 In dasselbe Jahr fiel auch die Gründung eines Landesplanungsverbandes, der diesen Boom in geordnete Bahnen lenken wollte. Im mitteldeutschen Industriebezirk sollten fortan regionale Flächenaufteilungspläne entstehen – mit dem Ziel, Wohnen und Arbeiten zu trennen, Grünräume zu sichern und den Verkehr auszubauen.2 Immer mehr Arbeiter und Angestellte wurden in dieser Zeit zu Pendlern, die täglich zwischen Wohnort und Arbeitsplatz wechselten; und sie sollten es auch werden, denn die Teilung des Alltags in Phasen der Arbeit und Phasen der Erholung war Teil einer intendierten Rationalisierung, die auf eine effiziente Organisation von Arbeitskraft zielte. Daran war auch das Bauhaus interessiert: Die Zerlegung und Taktung von Tätigkeiten war ein zentrales Entwurfsthema der dortigen Baulehre, die mit der Übersiedlung nach Dessau systematisiert und ausgebaut wurde. Verantwortlich für sie war der Schweizer Hannes Meyer, der 1927 Leiter der Meisterklasse für Architektur wurde und im Jahr darauf Walter Gropius als Leiter des Bauhauses ablöste. Mit Meyer rückte die Architektur ins Zentrum der Lehre am Bauhaus, wobei ihn ebenso wie Ludwig Hilberseimer, der Meyer ab 1929 unterstützte, das Bauen in neuen Maßstäben interessierte.3 Seitdem der Siedlungsbau auf Basis öffentlicher Förderung betrieben wurde, also seit Ende des Ersten Weltkrieges, verschmolzen architektonischer und städtebaulicher Entwurf. Der Entwurf von Siedlungen, ja ganzer Städte trat in den Fokus des Architekturdiskurses, und für die internationale Avantgarde, die sich 1928 unter dem Namen Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) vereinsmäßig konstituierte, bildete er den Dreh- und Angelpunkt. Die Internationalen Kongresse für Neues Bauen, zu deren Gründungsmitgliedern Meyer zählte, sahen in der »Stadt- und Landesplanung« ihre zentrale Aufgabe und in der »Rationalisierung« ihr wichtigstes Entwurfskriterium.4 Dieses Schlagwort war in den 1920er-Jahren weitverbreitet.5 Dass sich die Lehrenden am Bauhaus und Vertreter*innen der CIAM darauf bezogen, war nicht spezifisch – auch dem Heimatschutz verpflichtete Architekten taten dies.6 Das Neuen Bauen machte aus der Rationalisierung aber, darauf will dieser Beitrag hinaus, ein ästhetisches Programm. Das Motiv diente der Formgenerierung: Entwürfe sollten direkt der Analyse von Tätigkeiten entspringen, die es zu optimieren galt. Entsprechend wichtig wurden quasi-wissenschaftliche Entwurfsansätze, die mit diagnostischen Werkzeugen wie Diagrammen und Karten arbeiteten. Diese Darstellungs- und Entwurfswerkzeuge werden im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Der Beitrag behandelt die Baulehre Meyers ebenso wie den vierten CIAM-Kongress, der auf der Suche nach der »funktionalen Stadt« war und dafür eine Unmenge Karten produzierte. Dessau, das für den Kongress von einer Gruppe von Bauhäuslern kartiert und dabei neu entworfen wurde, wird dabei immer wieder in den Blick kommen. Der Beitrag beginnt auch mit Dessau, das be-

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Christa Kamleithner

Dessau in den 1920er-Jahren: Boom und regionale Neuordnung Das Bauhaus agierte nicht im Niemandsland. Dennoch ist es die Ausnahme geblieben, das Bauhaus als Teil einer Industrieregion zu begreifen, der zahlreiche Akteur*innen den Stempel der Modernität aufprägten. Das 2003 erschienene Buch Bauhaus, Junkers, Sozialdemokratie von Walter Scheiffele und die 2016 am Bauhaus Dessau gezeigte Ausstellung zu den Fantasten und Erfindern in der Region zählen zu diesen Ausnahmen.7 Am Bauhaus selbst wusste man Dessau zu schätzen. Dabei übten vor allem Junkers und seine Flugzeuge, die als ein Ausweis von Modernität galten, eine große Faszination aus. Junkers-Flugzeuge finden sich etwa auf dem Prospekt für das Verkehrsbüro der Stadt, das der Bauhaus-Schüler und -Lehrer Joost Schmidt gestaltete (  Abb. 1), oder den bekannten Fotos des gerade neu errichteten Bauhaus-Gebäudes. Ebenso wurde das Medium der Luftbildfotografie genutzt. Gropius etwa begann sein Buch über die Bauhaus-Bauten in Dessau mit einem Luftbild, das zeigt, dass die unter dem Bild stehende Forderung erfüllt war: dass das Bauhaus-Gebäude nämlich auch für den Blick von oben gestaltet worden war.8 Architekt*innen, Planer wie Sozialwissenschaftler waren in den 1920er-Jahren von den neuen Luftbildfotografien begeistert – ließen sich diese doch als Beweis dafür verwenden, dass die bestehenden Städte chaotisch waren und akuter Ordnungsbedarf bestand.9 Gegenüber der Dessauer Altstadt hoben sich die gerade neu errichteten Wohnsiedlungen jedenfalls deutlich ab. Egal ob mit Satteldach oder Flachdach: Die gartenstädtischen Siedlungen, die auf den zahlreichen Junkers-Luftbildern zu sehen sind, die von Dessau und seiner Umgebung in den 1920er-Jahren gemacht wurden, waren locker bebaut und bildeten aus der Luft gut sichtbare Großformen. Sie entstanden auf freiem Feld, wo Grund und Boden günstig waren, errichtet etwa von der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft Dessau, deren Stammkapital neben der Stadt Dessau und dem Land Anhalt von großen Dessauer Industrieunternehmen eingebracht wurde.10 Die meisten dieser Siedlungen, selbst wenn sie modernistischen Charakters waren, hatten nichts

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reits in Reorganisation begriffen war, als sich die Architekturavantgarde für Fragen der Stadt- und Landesplanung zu interessieren begann.

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 Abb. 1 Joost Schmidt, Prospekt für das Verkehrsbüro der Stadt Dessau, 1931

mit dem Bauhaus zu tun. Die 1926–28 errichtete KnarrbergSiedlung im Stadtteil Ziebigk etwa stammt vom Loos-Schüler Leopold Fischer (  Abb. 2), dem Hauptarchitekten des Anhaltischen Siedlerverbandes, an dessen Bauvolumen Gropius mitnichten herankam. Der Verband zählte zu den schärfsten Kritikern der von Gropius geplanten, zeitgleich entstehenden Siedlung Törten, bei der eine Rationalisierung der Bauprozesse erprobt und die deshalb von der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen gefördert und dokumentiert wurde. Doch die wie eine tayloristische Fabrik organisierte Baustelle, an der Drehkräne Deckenbalken verlegten und mit der Stoppuhr gemessene Arbeiter Schlackensteine im Takt versetzten, produzierte, wie sich herausstellte, nicht günstiger als konventionelle Baustellen.11 Ja, die neue Produktionsweise war sogar teurer und brachte von Beginn an sichtbare Bauschäden mit sich, was zu einer regelrechten Krise zwischen der Stadt Dessau und dem Bauhaus führte.12 So unterschiedlich die Ziegelbauten Fischers und die Siedlung Törten von der Bauweise her aber auch waren, sie ähnelten sich darin, dass sie in derselben Weise Lebensformen rationalisierten. Denn in all den westlich und südlich von Dessau gelegenen Siedlungen – die die Bauhäusler Hubert Hoffmann, Wilhelm Hess und Cornelis van der Linden bei ihrer Dessau-Analyse Anfang der 1930er-Jahre als »gartenstadt« vermerkten (  Abb. 3)13 – wurde nichts anderes gemacht als gewohnt. Während im

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 Abb. 3 Dessau-Analyse, 1932/33, Bevölkerungsdichte

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 Abb. 2 Knarrberg-Siedlung in Dessau-Ziebigk, JunkersLuftbild-Zentrale 1927

Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung

Altstadtgebiet unterschiedlichste Wohnweisen vertreten und dort in den Wohnhäusern auch Freiberufler, Handwerker oder Heimarbeiterinnen anzutreffen waren, gab es in diesen Siedlungen in der Regel nur eine Wohnform: ein vom Arbeiten separiertes Wohnen ohne Untermieter*innen und Heimarbeit, das durch feste und qualifizierte Arbeit in jenen großen Unternehmen leistbar wurde, die auf rationell organisierte Massenproduktion setzten. Die männlichen Bewohner dieser Siedlungen pendelten, während ihre Frauen den Haushalt besorgten. Die Siedlung Törten etwa besaß einen nahen Bahnanschluss, über den sich nicht nur gelegentlich Halle, Merseburg oder Leipzig erreichen ließen, sondern auch täglich Bitterfeld und Wolfen, wo viele Dessauer arbeiteten, wie eine Karte des Planungsatlasses des mitteldeutschen Industriebezirks zeigt (  Abb. 4).14 Dessau befindet sich auf dieser Karte im oberen Bilddrittel, fast unsichtbar im Vergleich zu der breiten roten Verbindung zwischen Dessau und Wolfen, die den täglichen Pendlerstrom im Jahr 1929 visualisiert. Mit der Übersiedlung nach Dessau kam das Bauhaus in eine Industrieregion, die von einer enormen Kapitalkonzentration geprägt war. Das damals größte Chemieunternehmen der Welt, der Trust IG Farben, der 1925 durch Zusammenschluss von unter anderem Agfa, BASF und Bayer entstand, hatte Standorte in Wolfen und Leuna. Es gab Kaliwerke und Braunkohlegruben, Großkraftwerke, die Kohle verstromten, und das Unternehmen Contigas, das aus Kohle Gas herstellte. Der Mittellandkanal, dessen Fertigstellung 1926 beschlossen wurde, versprach infrastrukturelle Unterstützung beim Ausbau der Region und der bereits erwähnte Landesplanungsverband ihre koordinierte Entwicklung.15 Der Verband wurde von den Unternehmen finanziell mitgetragen, und nicht zufällig hießen die von ihm erstellten Pläne »Wirtschaftspläne«16. Auch für Dessau gab es einen solchen Plan (  Abb. 5). Er sah – violett eingefärbt – ein neues Industriegebiet an der Elbe vor, die durch den Mittellandkanal aufgewertet werden sollte, sowie – in hellem Rot und durch Grünstreifen getrennt – Wohnsiedlungen im Westen und Süden Dessaus. Wirtschaftspläne sollten, so hieß es, der »Industrie eine glatte Entwicklung, dem notwendigen Verkehr eine reibungslose Gestaltung, der […] Bevölkerung ein gesundes Wohnen und die Gelegenheit der Erholung ermöglichen.«17 Wie der für den mitteldeutschen Industriebezirk erstellte Planungsatlas klarmacht, der neben Siedlungs- und Wirtschaftsplänen zahlreiche statistische Karten enthält, ging es bei dieser Rationalisierung der räumlichen Ordnung allerdings zuerst um den Umgang mit einem wirtschaftlichen Strukturwandel.

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 Abb. 4 tägliche Pendlerströme im mitteldeutschen Industriebezirk, 1929

Meyers Baulehre und die Ästhetik der Rationalisierung Auch am Bauhaus wurden Rationalisierung und wissenschaftliche Analyse großgeschrieben. Josef Albers eröffnete seinen Vorkurs mit der Ansage: »Wir können es uns nicht leisten, Material und Zeit zu verschwenden«,21 Paul Klee riet den Studierenden: »lernt in die tiefe graben«, »lernt analysieren«, denn nur so dringe man zur »vorgeschichte des sichtbaren« vor;22 und Meyer setzte auf »die wissenschaftliche Projektierungsmethode von Gebäuden«, die mit der »Erforschung der Produktionsprozesse« anhob und alle »vorgefassten Schemata und Formen« hinter sich lassen sollte.23 Diesen Ansatz teilte Meyer mit ABC, jener Basler Avantgardegruppe, die auch die CIAM aufmischte. In ihrem Geist wollte er am Bauhaus unterrichten.24 Die erste Ausgabe ihrer Zeitschrift machte deutlich, worum es der Gruppe ging: »Klarheit« sollte in die Gestaltung gebracht und neue Maßstäbe bewältigt werden. Die Städte sollten neu gestaltet werden, ja das »Leben« überhaupt, worunter sie »eine sich entfaltende Bewegung der einen Kraft« verstand – was weniger poetisch hieß, dass die »Völker« angesichts des

Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung

Denn während die Mittelgebirgslagen an Bevölkerung verloren, wuchsen die größeren Städte und die Orte um die Produktionsstätten der monopolistischen Großunternehmen. Auffällig war dabei, dass die Wachstumszonen an den überregionalen, besser getakteten und ausgelasteten Eisenbahnstrecken lagen. Der Generalsiedlungsplan für die Region bildete diesen Wandel ab und forcierte ihn, denn neue Industriegebiete wurden an infrastrukturell begünstigten Orten situiert und die neuen Wohngebiete in Pendelentfernung.18 Bei ihrer Situierung half eine Isochronenkarte (  Abb. 6), die zeigt, welche Ortschaften innerhalb einer Stunde Pendelzeit von den größeren Städten aus erreichbar waren – zugleich deutete sie für die Zukunft eine eng verflochtene Wachstumszone an.19 Dem Generalsiedlungsplan kam so wissenschaftlicher Charakter zu: Er war aus bevölkerungsstatistischen Karten abgeleitet, die eine als zukunftsträchtig angesehene Entwicklung sichtbar machten, die der Plan zu verstärken suchte. Nur war diese Zukunft nicht selbstverständlich. Die monopolkapitalistische Prägung der Region war eher die Ausnahme als die Regel,20 und mit der Weltwirtschaftskrise 1929 geriet sie bald schon ins Wanken.

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 Abb. 5 Wirtschaftsplan DessauRosslau-Zerbst, 1931

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herrschenden »Daseinskampf[s]« zusammenstehen und die »äusserste Kraftanstrengung« wagen müssten.25 Das entsprach dem Ton der Zeit. Angesichts wachsender internationaler Konkurrenz wurde zur Einheit der Nation aufgerufen, die Planer und Ingenieure als zusammenhängenden Wirtschaftsorganismus begriffen.26 Deren Analysefähigkeit und ökonomisches Wissen sollten sich, so ABC, die »Künstler« zu eigen machen, wobei von ihnen noch mehr erwartet wurde: »ein innerliches Erkennen« nämlich, »ein Durchsehen der Materialien in ihrem rein elementaren Wert«.27 Die neue Wissenschaftlichkeit eröffnete also eine »ästhetische Option«28. Alte Formen sollten aufgesprengt und der Blick auf die Tätigkeiten und Prozesse gelenkt werden. Dies wertete die Analyseinstrumente auf und führte dazu, dass Karten und Diagramme einen zentralen Stellenwert in Meyers Unterricht bekamen. So entstanden bei ihm zahlreiche Studienblätter, die der Entwurfsvorbereitung dienten, denen aber auch ein Eigenwert beigemessen wurde.29 Beispielsweise analysierte Edmund Collein das Haus in Dessau, in dem er zusammen mit drei Generationen einer Arbeiterfamilie wohnte (  Abb. 7). Dabei waren Form und Aufteilung des alten Hauses Nebensache. Von Belang waren für ihn vielmehr der zeitliche Rhythmus seiner Bewohner*innen – wann sie schliefen, aßen, den Garten pflegten oder außer Haus waren. Der je eigene Rhythmus der einzelnen Familienmitglieder wurde so deutlich: Die 27-jährige Tochter, die Angestellte eines Warenhauses war, hatte andere Arbeitszeiten und Freizeitgewohnheiten als ihr Vater, ein Schichtarbeiter, oder der als Untermieter einquartierte Bauhaus-Student. Das Diagramm zielte allerdings nicht auf das Spezifische der individuellen Tagesabläufe und ihres Zusammentreffens, sondern visualisierte vielmehr verallgemeinerbare »Funktionen« (wie die Vertreter*innen des Neuen Bauens gerne sagten), die konvergierten oder sich in die Quere kamen – und die es zu optimieren galt. Blickt man auf zeitgleiche Bauhaus-Texte kann das Diagramm eigentlich nur so gelesen werden, dass es Reibungsverluste sichtbar machen sollte. Denn die Praxis der Untervermietung stand am Bauhaus in der Kritik: Familien und Ledige sollten separat untergebracht werden.30 Überhaupt standen (potenzielle) Störungen im Fokus ihrer Analysen. Ein anderes Studienblatt etwa visualisierte entwurfsrelevante störende Einflüsse aus der Nachbarschaft (  Abb. 8) – Flugzeuglärm, Staub von der Straße, Tiergeschrei, Küchengerüche und anders mehr – und skizzierte die Radien ihrer Ausbreitung. Die sind nicht immer wirklich nachvollziehbar. Das Blatt zeigt aber eines: Die Bauhäusler*innen waren an unsichtbaren Kräften interessiert, aus denen heraus Gebäudeformen entstehen sollten. Nie ging es dabei um das Besondere. »Rationalisierung und Standardisierung«, hieß es in der Gründungserklärung der CIAM, die auch in der Zeitschrift des Bauhauses

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 Abb. 6 Plan der Einstundenentfernung, Landesplanung Merseburg, 1928

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 Abb. 7 Edmund Collein, Studie zur Periodizität des Lebensraumes, Studienarbeit bei Hannes Meyer, 1929

zirkulierte, »fordern vom Verbraucher, dem Besteller und Bewohner des Hauses, eine Klärung seiner Ansprüche im Sinne einer weitgehenden Vereinfachung und Verallgemeinerung der Wohnsitten.«31 Der Geist der CIAM, deren Gründung 1928 in Meyers erstes Semester als Direktor am Bauhaus fiel, prägte die dortige Lehre.32 Die bei Meyer entstandenen Studien zielten so wie die Gründungserklärung der CIAM auf Verallgemeinerung: »Bedürfnisse« wurden typisiert und in Gehäuse übersetzt, die ihnen entsprechen sollten, so etwa beim kollektiven Entwurf für die Erweiterung der Siedlung Törten. »Kleinbürger« sollten hier »in eingeschossiger Flachbauweise« wohnen und »Proletarier in dreigeschossigen Laubenganghäusern«, wobei es, folgt man Meyer, um die soziale Mischung ging.33 Inspiriert war der Entwurf wohl vom Berliner Städtebauer Theodor Goecke, bei dem Meyer um 1910 studiert hatte.34 Dieser hatte bereits damals eine »gemischte Bauweise« aus Mietshausbebauung und Einfamilienhäusern vorgeschlagen,35 wobei diese Mischung aber eigentlich eine Separierung war, die auf Störungsfreiheit zielte. Sie wollte mit der Mischung des Berliner Blocks aufräumen und die Hinterhofbebauung, die häufig gewerblich genutzt wurde, durch Einfamilienhäuser ersetzen sowie die unterschiedlichen sozialen Klassen auf die verschiedenen Haustypen verteilen. Diesen Vorschlag, der noch ins Blockraster eingepasst war, radikalisierten Meyer und seine Studierenden: Anstelle der Blöcke mit ihren unterschiedlichen Lichtverhältnissen traten Zeilen, die optimal besonnt sein sollten. Überhaupt waren Sonnenstandsberechnungen und Vergleiche der Zimmerausleuchtung bei Süd- beziehungsweise West-/Ostausrichtung zentrale Themen der Analysen und Entwürfe am Bauhaus.36 Dass diese Studien so ernst genommen wurden, hatte seinen Grund in der Wichtigkeit, die der Sonne für die Erholung zugeschrieben wurde, und Erholung wiederum war – mit Blick aufs große Ganze – der Zweck der Wohnung, ihre »Funktion«. Wenn

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»alle dinge dieser welt […] ein produkt der formel: (funktion mal ökonomie)« sein sollten, wie es in Meyers Manifest »bauen« hieß, inkludierte dies nicht nur äußerste Sparsamkeit, sondern die Betrachtung der Einzelphänomene unter dem Gesichtspunkt des Ganzen, das heißt: der »volkswohlfahrt«.37 Die Wohnung hatte der Produktivität des Gesellschaftskörpers zu dienen, dessen Kräfte optimal entfaltet werden sollten, und je schneller der Takt der Maschinen wurde, desto wichtiger waren Ruhe und Erholung. Diese Perspektive war nicht erst dem Bauhaus eigen. Beispielsweise war der Städtebauer Karl A. Hoepfner bereits 1921 davon überzeugt, dass »jede Arbeitskraft bis an den Rand der Erschöpfung ausgenutzt« werden müsse, dass aber, damit die Kräfte »nicht vorzeitiger Erschöpfung anheimfallen«, die Wohnungen so gestaltet werden müssten, dass sie »Ruhe und Erholung« gewährleisteten,38 weshalb er exzessive Besonnungsstudien durchführte.39 Wenn in den 1920er-Jahren von Rationalisierung die Rede war, meinte dies also nicht nur die effektive Organisation von Betrieben.40 Der Begriff inkludierte die Steigerung der Produktivität ebenso wie den schonenden Umgang mit der Kraft der Arbeiter*innen. Arbeitswissenschaft und Psychotechnik setzten sich mit ihrer Ausdauer auseinander, mit Aufmerksamkeit und Ermüdung angesichts schnell rotierender Maschinen und monotoner Tätigkeiten, wobei in ihren europäischen Spielarten weniger das einzelne Unternehmen als vielmehr die nationale Leistungsfähigkeit insgesamt in den Blick kam.41 Am Bauhaus waren die neuen Wissenschaften durch Johannes Riedel vertreten, der von Meyer 1928 als Gastdozent berufen worden war. Er brachte den Bauhäusler*innen die wissenschaftliche Betriebsführung nach Taylor ebenso nahe wie die Bewegungsstudien der Gilbreths, Fords Konzept der Fließbandarbeit und das Basiswissen der Arbeitspsychologie. Riedel war davon überzeugt, dass mit der »Kraft des arbeitenden Menschen« sorgsam umgegangen werden müsse – zugleich stellte er sie in den Dienst der »Gesamtheit«, als deren »Eigentum« er sie ansah.42 Als freier Mitarbeiter des Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung (DINTA) kam Riedel von einem führenden arbeitswissenschaftlichen Institut, das gegründet worden war, um die negativen Effekte der Rationalisierung einzudämmen und den Gewerkschaften den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Institut hatte dabei eine deutlich nationalistische, ja völkische Schlagseite,43 sodass es nicht wundernimmt, dass die Kostufra, die kommunistische Studentenfraktion am Bauhaus, Riedel so lange anfeindete, bis dieser ging. Die politische Sensibilität der Bauhausleiter hielt sich demgegenüber in Grenzen. Ihr Vortragspro-

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 Abb. 8 Siegfried Giesenschlag, Beziehungen zur Nachbarschaft und Außenwelt einer Siedlung, Studienarbeit bei Hannes Meyer, 1930

Kartenoperationen: Der Entwurf der »funktionalen Stadt« Die sicherlich umfangreichste Analyse, die am Bauhaus entstand, bewegte sich auf der Ebene der Stadt- und Landesplanung und untersuchte Dessau und Umgebung. Ihr Anlass war der (mehrfach verschobene) vierte CIAM-Kongress 1933, der der »funktionalen Stadt« gewidmet war und seit 1931 von Cornelis van Eesteren vorbereitet wurde, der in die Erweiterungsplanungen für Amsterdam involviert und daher der Planungsexperte der CIAM war. Anders als bei den vorangegangenen CIAM-Kongressen ging es bei diesem Kongress nicht um Entwürfe, jedenfalls nicht im engeren Sinn. Stattdessen wurden Karten von über 30 Städten angefertigt, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen (die Le Corbusier dann 1943 zur Charta von Athen machen sollte).46 Dessau zählte neben Berlin, Köln und Frankfurt am Main zu den von der deutschen Landesgruppe bearbeiteten Städten und wurde von den Bauhäuslern Hubert Hoffmann, Wilhelm Hess und Cornelis van der Linden kartiert, die allerdings nicht nur die geforderten drei Karten mit Begleittext, sondern darüber hinaus gleich ein 48-seitiges Leporello mit Karten, Diagrammen, Fotos, Texten und Plänen erstellten.47 Materialien aus dem Atlas der mitteldeutschen Landesplanung gingen darin ebenso ein (  Abb. 4–5 etwa) wie Studien, die noch 1930 bei Meyer entstanden waren, der auf einen Auftrag der Stadt Dessau für

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gramm war von äußerster Divergenz.44 Der dezidiert anti-metaphysische Wiener Kreis, der die Welt transparent aus kleinsten Elementen aufgebaut sehen wollte, war ebenso am Bauhaus eingeladen wie die Vertreter der Leipziger Ganzheitspsychologie, die an die deutsche Volksseele glaubten, die sie für besonders geeignet hielten, die innere Struktur der Welt zu erfassen.45 Was nur hatten sich die an einer universalistischen Formensprache interessierten Bauhäusler*innen davon erwartet? Offenbar schien ihnen jedwede Wissenschaft recht, die versprach, unsichtbare Strukturen und Kräfte freizulegen, und so neue Größen und Kategorien schuf, die für den Entwurf operabel gemacht werden konnten.

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 Abb. 9 Dessau-Analyse, 1932/33, Siedlungsplan Wilhelm Hess

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den Generalbebauungsplan gehofft hatte, oder großmaßstäbliche Siedlungsentwürfe, die von Hilberseimer betreut worden waren.48 Nachdem das Dessauer Bauhaus allerdings im September 1932 auf Betreiben der NSDAP (die im April zuvor die Wahlen in Anhalt gewonnen hatte) geschlossen wurde, musste ein Großteil der Arbeit außerhalb Dessaus stattfinden.49 Diese Dessau-Analyse versammelte eine Vielzahl an Themen. Sie untersuchte Geologie, Klima und Windrichtungen, die Geschichte des Ortes, Grundbesitz und Einkommensverhältnisse, die »wohnungsverhältnisse«, darunter die Bevölkerungsdichte (  Abb. 3) und den Verlauf der Bautätigkeit, »wirtschaftliche funktionen«, Gewerbestandorte, Verkehrsnetze und Pendlerströme etwa, darüber hinaus die kulturellen Einrichtungen im Zentrum sowie die Versorgung der Stadt mit Energie und Rohstoffen. Den Junkers-Werken wurde eine eigene Seite gewidmet – und sie standen auch im Zentrum der Entwürfe, mit denen das Leporello schloss.50 Der Siedlungsplan von Wilhelm Hess (  Abb. 9) sah neue Wohngebiete westlich und südlich von Dessau vor, insbesondere für die Belegschaft der Junkers-Werke, was angesichts dessen, dass das Unternehmen gerade Insolvenz angemeldet hatte, eigentümlich anmutet. Die Analyse blendete die Weltwirtschaftskrise offensiv aus, die industrielle Entwicklung schien geradlinig weiterzugehen. Der Plan setzte fort, was die Analyse zuvor als »entwicklungstendenzen« festgestellt hatte: die Entstehung zweier Industrielinien an den Eisenbahnen und die bereits in Angriff genommene Dezentralisierung der Stadt mittels Siedlungstrabanten. Diese »tendenzen« wurden allerdings radikalisiert – große Teile Dessaus schienen so unhygienisch, dass sich ihre Evakuierung empfahl. Das alte Zentrum blieb bestehen, doch die südlichen Arbeiterquartiere mussten Industrieflächen weichen (kariert eingetragen). Der Fluss Mulde wurde zum schiffbaren Kanal umgebaut und sollte ein weiteres, östlich gelegenes Industrieband erschließen (womit die Zerstörung der dortigen Auen- und Parklandschaft in Kauf genommen wurde). Gewohnt wurde dann nur noch in einiger Entfernung vom alten Dessau, und zwar in Siedlungen, in denen die verschiedenen Lebensformen klar verteilt waren. Die Entwürfe, die den Siedlungsplan ausformulierten, sahen kleine Apartments in den südlichen Zeilenbauten und größere Wohnungen in der nördlich gelegenen »Kinderstadt« vor, ergänzt um Schulen, Kinderheime, Kultur- und Sporteinrichtungen. Nur drei Themen der Analyse wurden damit tatsächlich entwurfsrelevant: der Verkehr, die Bevölkerungsdichte und die Windrichtung. Die Industrie wurde entlang der Eisenbahnen ausgebaut, die am dichtesten bevölkerten Quartiere der Stadt – auf

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 Abb. 10 Ludwig Hilberseimer, Industrierauch über Dessau, 1932/1944

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einer Karte im Leporello schwarz markiert (  Abb. 3) – wurden abgerissen und sämtliche Wohngebiete so gelegt, dass sie vom Industrierauch, der von den vorherrschenden Westwinden verteilt wurde, nicht erreicht worden wären (  Abb. 9). Die Windrichtung bestimmte auch den Entwurf, den der Bauhaus-Meister Hilberseimer selbst 1932 erstellt hatte. Dieser machte aus Dessau kurzerhand eine Bandstadt – argumentiert mit einer Karte der Verrauchung, die sich über ganz Dessau verteilte (  Abb. 10). Damit wollte Hilberseimers monothematischer Entwurf Schluss machen: Denn hier lagen die Industriebetriebe nun östlich der Wohnquartiere, womit Wohnen und Arbeiten endlich ungestört ihren Gang nehmen konnten – ein Thema, mit dem, neben dem der »Durchsonnung«, Hilberseimer später noch ganze Bücher füllen sollte.51 So weit gingen die Studierenden nicht; das alte Zentrum blieb bei ihnen bestehen.52 Die Geschichte der Stadt spielte für den Entwurf dennoch keine Rolle. Sie wurde vielmehr auf das Zentrum verdichtet, das mit dem Entwurf, der es aller anderen »Funktionen« entledigte, erst zum reinen Zentrum wurde. Darum, um »Funktionen«, ging es beim vierten CIAM-Kongress. Doch was waren sie? Gab es sie bereits oder mussten sie erst hergestellt und rational organisiert werden? Schon die Gründungserklärung der CIAM, an der Meyer mitgewirkt hatte, hatte »das Wohnen, das Arbeiten, die Erholung« als jene »Funktionen« bestimmt, die der »Stadtbau« ordnen und verkehrstechnisch regeln sollte.53 Neu waren diese Begriffe nun nicht, auch die deutschen Landesplaner verwendeten sie.54 Der vierte CIAM-Kongress setzte sie voraus – allerdings wollte er sie durch »Tatsachenmaterial« bestätigt wissen.55 Der Kongress hatte den Vorsatz gefasst, »wissenschaftlich zu arbeiten«56, auch wenn ein exaktes Vorgehen kaum möglich war, da der Zugang der einzelnen Landesgruppen zu statistischen Daten sehr unterschiedlich war.57 Diese brauchte man aber, um die Karten herzustellen, auf die man sich nach langem Streit 1931 geeinigt und für deren Bearbeitung van Eesteren Musterkarten von Amsterdam bereitgestellt hatte;58 zwar nicht für die zweite Karte, die lediglich die bestehenden Verkehrsnetze darstellen sollte, jedoch für die dritte, die unter anderem Pendlerverbindungen ins Umland kartieren sollte, und vor allem für die erste Karte, die sich der Visualisierung der »Funktionen« widmete. Auf ihr sollte die »City« dunkelblau markiert werden, die »Industrie« schwarz, »Verfallswohnungen« braun-schwarz, »Arbeiterviertel«, »Mittelstandviertel« und »Luxusviertel« rot, orange und rosa sowie Wälder und Parks grün (  Abb. 11 z.B.). Dabei waren die Farben so angelegt, dass sie Einheiten bildeten – Arbeiten, Wohnen und Erholung eben.59 Wie willkürlich die Grenzen dieser Einheiten gezogen wurden, zeigt sich im Detail. Beispielsweise verläuft die Südostgrenze der »City« auf der ersten Berlinkarte am Görlitzer Bahnhof, womit sie ein Mischgebiet, in dem es Wohnungen, Gewerbehöfe und Geschäftsstraßen gab und gibt, in ein Geschäftszentrum und ein Wohnquartier teilt.60 Zwar war in der Großstadt Berlin längst die Tendenz einer sozialen und funktionalen Entmischung zu verzeichnen, doch nur bei entsprechendem Abstraktionsgrad ließen sich daraus so klar begrenzte Einheiten bilden wie auf den Karten für den vierten CIAMKongress. Und Willkür war auch da am Werk, wo für kleinere Städte wie Dessau, in denen man kaum von einer wirklichen Citybildung sprechen konnte, dieselben Kategorien verwendet wurden. So wurde die Dessauer Altstadt, die auf dem Wirtschaftsplan der Landesplaner schlicht als »Mischgebiet« ausgewiesen wurde (  Abb. 5), auf der CIAMKarte in eine City, Verfallsgebiete und Wohngebiete geteilt (  Abb. 11). Während die Landesplaner nur neue Gebiete als monofunktionale Zonen definierten, zerlegten die Vertreter*innen des Neuen Bauens auch gleich die bestehende Stadt in Zonen für Wohnen, Arbeiten und Erholung, womit sie diese »Funktionen« zu universellen Kategorien machten. Die Karten für den vierten CIAM-Kongress gaben vor, die Gegenwart abzubilden –

Anmerkungen 1 Vgl. Walter Scheiffele: Bauhaus, Junkers, Sozialde- 5 Vgl. Adelheid von Saldern: »›Alles ist möglich.‹ mokratie. Ein Kraftfeld der Moderne. Berlin 2003. Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 2 Vgl. Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche 20. Jahrhunderts«. In: Lutz Raphael (Hg.): TheoRaumplanung im 20. Jahrhundert. Göttingen 2008, rien und Experimente der Moderne. Europas GesellS. 49–75. schaften im 20. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien 3 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: Baulehre und Entwerfen 2012, S. 155–192. am Bauhaus 1919–1933. Weimar 2003. 6 Vgl. zum Beispiel Gustav Langen: Deutscher Le4 »Die Erklärung von La Sarraz« [1928]. In: Martin bensraum. Ein Beitrag zur deutschen Raumwirtschaft und zur Gesamtrationalisierung in Wirtschaft, Steinmann (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen / Congrès Internationaux d’ArchiSiedlung und Volksleben. Berlin 1929. Der als Extecture Moderne. Dokumente 1928–1939. Basel / perte für Siedlungsplanung bekannte Langen, der Stuttgart 1979, S. 28–29, hier: S. 28. eine zunehmend völkische Siedlungsphilosophie

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und doch griffen sie operativ in die Zukunft ein, wenn sie Einheiten definierten, die zwar auf beobachtbaren Tendenzen beruhten, aber keineswegs bereits als klar begrenzte und einzig denkbare städtische Entitäten vorlagen. Erst die Karten machten Tendenzen zu handfesten Elementen, die mit wenig Zutun in die gebaute Wirklichkeit überführt werden konnten.61 Wie Wilhelm Hess’ Siedlungsplan für Dessau zeigt, den die Bauhäusler*innen mit ihrer Analyse mitlieferten, mussten diese Elemente nur noch entzerrt und Dessau in die Sprengzeichnung seiner »Funktionen« überführt werden. Das Neue Bauen wollte die Willkür ausschalten, die jedem Entwurf anhaftet, und durch wissenschaftliche Ableitung ersetzen: Form sollte durch Analyse generiert werden. Doch dabei verselbständigte sich das Mittel der Analysen – und der Abstraktionsgrad der Diagramme und Karten übertrug sich auf die Entwürfe. Deren Maßstab und abstrakte ästhetische Erscheinung verdankten sich, so die These dieses Beitrags, nicht nur den neuen Maßstäben der Industrie und der sich anbahnenden Massengesellschaft, sondern auch einem neuen Willen zum Wissen, der wenig am Detail interessiert war, sondern große Entwicklungslinien isolierte – und in architektonische Form übersetzen wollte.

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 Abb. 11 Karte I von Dessau, CIAM 4, 1933

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22 Bauhaus Dessau: »junge menschen, kommt ans bauhaus!« [1929]. Wiederabgedruckt in: Thomas Flierl / Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyer und das Bauhaus im Streit der Deutungen. Leipzig 2018, A01. 23 SMNKW Moskau: »Bauhaus Dessau 1928–1930, Museum für die neue Kunst des Westens« [1931]. Übersetzt in: Thomas Flierl / Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyer und das Bauhaus im Streit der Deutungen. Leipzig 2018, A08, hier: S. 179. 24 Vgl. Sima Ingberman: ABC – Internationale Konstruktivistische Architektur 1922–1939. Braunschweig / Wiesbaden 1997, S. 120. 25 »Kollektive Gestaltung«. In: ABC, Nr. 1, 1924, S. 1–2, hier: S. 1. 26 Vgl. zum Beispiel Moritz Föllmer: »Der ›kranke Volkskörper‹. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik«. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 1, 2001, S. 41–67. 27 Mart Stam: »Das Chaos im Stadtbau«. In: ABC, Nr. 1, 1924, S. 2. 28 Claude Schnaidt: »Über die Erfahrungen im Städtebau von Hannes Meyer«. In: ARCH+, Nr. 24, 1974, S. 20–26, hier: S. 23. 29 Als Ausstellungsstücke einer geplanten Wanderausstellung etwa – vgl. Winkler 2003, S. 62; Hubert Hoffmann: »Erinnerungen eines Architekturstudenten«. In: Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko. Basel 2019, S. 116–129. 30 Hubert Hoffmann: »Mietshaus oder Siedlungshaus?«. In: bauhaus, Nr. 4, 1929, S. 23–24. 31 Erklärung von La Sarraz [1928]/1979, S. 28, abgedruckt auch in bauhaus, Nr. 4, 1928, S. 8–9. Dies meinte keineswegs die Befragung der Bewohnerschaft, sondern das Expertengespräch – vgl. Hans Joachim Dahms: »Verwissenschaftlichung und Formverzicht. Der CIAM-Kongress ›Die Wohnung für das Existenzminimum‹«. In: Regina Bittner (Hg.): Bauhaus zwischen International Style and Lifestyle. Berlin 2003, S. 86–106, hier: S. 97f. 32 Zur engen Verbindung vgl. Magdalena Droste: »De Stijl and Urban Planning. Hannes Meyer and Dutch Artists and Architects 1924–30«. In: Museum Boijmans Van Beuningen (Hg.): Netherlands – Bauhaus. Pioneers of a New World. Rotterdam 2019, S. 118–124, hier: S. 122f. 33 »Dokumentation Laubenganghäuser der Siedlung Dessau-Törten (1929–1930)«. In: BauhausArchiv Berlin et al. (Hg.): Hannes Meyer 1889–1954. Architektur Urbanist Lehrer. Berlin 1989, S. 228–234, hier: S. 228. 34 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: Der Architekt Hannes Meyer. Anschauungen und Werk. Berlin 1989, S. 21. 35 Vgl. Gerhard Fehl / Juan Rodríguez-Lores: »Die ›gemischte Bauweise‹«. In: Stadtbauwelt, Nr. 71, 1981, S. 273–284. 36 Beides hat Vor- und Nachteile – entsprechend gab es unterschiedliche Auffassungen. Philipp Tolziner etwa plädierte für die Ausrichtung der Schlafräume nach Osten und der Wohnräume nach Westen; Hilberseimer letztlich für die konsequente Südausrichtung. Vgl. das Diagramm Tolziners in: Bauhaus-Archiv Berlin et al. (Hg.): Hannes Meyer 1889–1954. Architektur Urbanist Lehrer. Ber-

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vertrat, war 1922 zu einem Vortrag am Weimarer Bauhaus eingeladen, der dann aber nicht stattfand – vgl. Christoph Bernhardt: »Zwischen Bauhaus-Moderne und konservativer Siedlungspolitik. Gustav Langen als Grenzgänger im Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts«. In: Peter Bernhard: Bauhausvorträge. Gastredner am Weimarer Bauhaus 1919–1925. Berlin 2017, S. 265–272. 7 Vgl. Scheiffele 2003; Claudia Pierren / Torsten Blume / Alexia Pooth: Moderne Typen, Fantasten und Erfinder. Große Pläne! Zur Angewandten Moderne in Sachsen-Anhalt 1919–1933. Bielefeld / Berlin 2016. 8 Vgl. Walter Gropius: Bauhausbauten Dessau. München 1930, S. 16. 9 Vgl. Jeanne Haffner: The View from Above. The Science of Social Space. Cambridge, Mass. / London 2013, Kap. 2. 10 Vgl. http://www.hugo-junkers.info/junkers-pfadbauhaus.html (letzter Zugriff: 19.12.2020). 11 Vgl. Gropius 1930, S. 152–200; Scheiffele 2003, S. 90–151. 12 Vgl. Philipp Oswalt: »Die verschwiegenen BauhausKrisen«. In: Thomas Flierl / Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyer und das Bauhaus im Streit der Deutungen. Leipzig 2018, S. 247–265. 13 Vgl. dazu Gregor Harbusch et al.: »Established Modernists Go into Exile, Younger Members Go to Athens«. In: Evelin van Es et al. (Hg.): Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis. Bussum / Zürich 2014, S. 162–195. 14 Vgl. dazu Harald Kegler: Landesplanung Mitteldeutschland. Spiel-Räume: Die Entstehung der wissenschaftlichen Raumordnung in Deutschland – das Dezentralisierungsparadigma, die Internationalisierung, der Planungsatlas und die demokratisch basierten Strukturen in den Schlüsseljahren 1925–1932. Hannover 2015. 15 Vgl. Ulla Machlitt: »Das Bauhaus vor dem Hintergrund sozialökonomischer Strukturen und politischer Kräftegruppierungen in Dessau 1925 bis 1930«. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Nr. 5/6, 1976, S. 475–480. 16 Kegler 2015, S. 79f. 17 Philipp Rappaport: »Grundlagen und Ziele städtebaulicher Wirtschaftspläne«. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, Nr. 42, 1926, S. 472–474, hier: S. 473; vgl. dazu Leendertz 2008, S. 58–61. 18 Vgl. Landesplanung Merseburg (Hg.): Landesplanung im engeren mitteldeutschen Industriebezirk Merseburg: ihre Grundlagen, Aufgaben und Ergebnisse. Merseburg 1932. 19 Vgl. Kegler 2015, S. 170. Dort ist auch der Atlas im Anhang abgebildet. 20 Vgl. Klaus Brake: »CIAM für das ganze Land: Von Berlin nach Europa und zurück. Elemente einer (womöglich) fordistisch bestimmten Raumorganisation«. In: Stiftung Bauhaus Dessau / RWTH Aachen (Hg.): Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit. Dessau 1995, S. 289–299. 21 Das berichtete Hannes Beckmann, der von 1928 bis 1931 Schüler am Bauhaus war – vgl. Rainer K. Wick: Bauhaus-Pädagogik. Köln 1994 (4., überarb. Auflage), S. 185.

Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung

49 Und zwar in Probstzella, wo sich eine Gruppe von Bauhäusler*innen versammelt hatte. Vgl. Simone Divendahl: »The Functional City. The Contribution of Bauhaus Students Jan and Kees van der Linden to the 1933 CIAM Congress«. In: Museum Boijmans Van Beuningen (Hg.): Netherlands – Bauhaus. Pioneers of a New World. Rotterdam 2019, S. 126–134, hier: S. 129. 50 Das Leporello ist zur Gänze abgedruckt in: Harbusch et al. 2014, S. 169f. Gregor Harbusch sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die Zusendung eines hochauflösenden Scans, aus dem die Abbildungen 3 und 9 stammen. 51 Vgl. ebd., S. 168 und 171; Ludwig Hilberseimer: The New City. Principles of Planning. Chicago 1944, S. 134f.; Hilberseimer 1963. Zur »Durchsonnung« vgl. Poerschke 2018. 52 Darauf liegt die Betonung in Divendahl 2019, S. 131. 53 Erklärung von La Sarraz [1928]/1979, S. 28f. Erst in Le Corbusiers Charta kam der Verkehr (circuler) als vierte »Funktion« hinzu – vgl. »Die ›Charte d’Athènes‹, Punkte 77, 78, 79 und 81« [1943]. In: Martin Steinmann (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen / Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Dokumente 1928–1939. Basel / Stuttgart 1979, S. 164–167, hier: S. 164. 54 Vgl. Leendertz 2018, S. 49–75; Somer 2007, S. 92. 55 »Die Richtlinien für den 4. Kongress« [1931]. In: Martin Steinmann (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen / Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Dokumente 1928–1939. Basel / Stuttgart 1979, S. 114–115, hier: S. 115. 56 »Die Erklärungen zu den Karten« [1931]. In: Martin Steinmann (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen / Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Dokumente 1928–1939. Basel / Stuttgart 1979, S. 120–121, hier: S. 120. 57 Vgl. Enrico Chapel: »Thematic Mapping as an Analytical Tool. CIAM 4 and Problems of Visualization in Modern Town Planning«. In: Evelin van Es et al. (Hg.): Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis. Bussum / Zürich 2014, S. 27–37, hier: S. 33. 58 Vgl. Somer 2007, Kap. 3. 59 Vgl. die Kartenlegenden in: ebd., 140f. und 149. 60 Vgl. die Abbildungen in Christa Kamleithner: Ströme und Zonen. Eine Genealogie der »funktionalen Stadt«. Basel 2020, S. 334. 61 Vgl. ebd., S. 305–320.

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lin 1989, S. 247; sowie Ludwig Hilberseimer: Entfaltung einer Planungsidee. Berlin / Frankfurt am Main / Wien 1963, S. 26; dazu Ute Poerschke: »Data-Driven Design in High Modernism. Hilberseimer’s Solar Orientation Studies«. In: ARCC-EAAE International Conference (Philadelphia, 16.–19. Mai 2018), Proceedings, Band 2, S. 125–132. Für den Hinweis auf diesen Aufsatz danke ich Magdalena Droste. 37 Hannes Meyer: »bauen«. In: bauhaus, Nr. 4, 1928, S. 12–13. 38 Karl A. Hoepfner: Grundbegriffe des Städtebaues, Band 1. Berlin 1921, S. 52. 39 Vgl. ebd., S. 137–195. Der zweite Band enthält noch eine Reihe weiterer Formulierungen, die die radikale Einordnung des Individuums in den »Organismus« der Stadt fordern, die Hoepfner zugleich als »Maschine« verstand, deren Funktionen störungsfrei zusammenspielen sollten. Vgl. Karl A. Hoepfner: Grundbegriffe des Städtebaues, Band 2. Berlin 1928, S. 53–57 und 177–181. 40 Vgl. von Saldern 2012. 41 Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien 2001, S. 345; Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. Berlin 2018. 42 Zitiert nach Martin Kipp: »Arbeitspsychologe und Arbeitspädagoge Johannes Riedel«. In: Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko. Basel 2019, S. 276–287, hier: S. 277. 43 Vgl. Rabinbach 2001, S. 338–342. 44 Vgl. Peter Bernhard: »Die Gastvorträge am Bauhaus – Einblicke in den ›zweiten Lehrkörper‹«. In: Anja Baumhoff / Magdalena Droste (Hg.): Mythos Bauhaus. Zwischen Selbsterfindung und Enthistorisierung. Berlin 2009, S. 91–111. 45 Zu ersterem vgl. Peter Galison: »Die Gastlehrer des Wiener Kreises: Rudolph Carnap, Herbert Feigl, Otto Neurath, Hans Reichenbach«. In: Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko. Basel 2019, S. 328–347; zu Felix Krueger, der an der Universität Leipzig Psychologie lehrte und ein Mentor Riedels war, vgl. Anne Harrington: Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler. Princeton 1999, insbesondere S. 127. 46 Vgl. Kees Somer: The Functional City. The CIAM and Cornelis von Eesteren, 1928–1960. Rotterdam 2007; van Es et al. 2014. 47 Unterstützt von einer Vielzahl an Kolleg*innen – vgl. Harbusch et al. 2014, S. 168. 48 Vgl. ebd.; Winkler 2003, S. 67, 119; zu den Entwürfen, an denen auch Selman Selmanagic beteiligt war, vgl. Magdalena Droste / Bauhaus-Archiv: Bauhaus 1919–1933. Köln et al. 2002, S. 216f.

100 Jahre Bauhaus! Das Bauhaus-Jubiläum ist für alle, die sich auch beim Thema Bauhaus um eine nüchterne, vielleicht sogar wissenschaftliche Sichtweise bemühen, eine echte Herausforderung. Kann das aber überhaupt gelingen? Sind wir immun gegen all diese Bauhaus-Beschwörungen, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen? Gegen eine Hagiografie, die in der Wahl ihrer Mittel und Aussagen atemberaubend ist? Gegen einen »Alles-Bauhaus-Selbstbeweihräucherungsfuror«1, wie Niklas Maak dies nannte? Das Bauhaus ist offenbar alles, was irgendwie modern aussieht, und es ist überall, auch in Guatemala und Eritrea. Und es wirkt wie eine Droge, heilsbringend, vernebelnd, aber auch irgendwie tückisch, ja aggressiv. Was hinter der Heilslehre verschwindet, ist das Bauhaus selbst, ein nur schwer greifbares Phänomen. Denn es gab ja viele Bauhäuser – viele Orte, viele Gebäude, viele Direktoren, viele Studierende, viele Bauhäusler*innen also; aber auch viele Prinzipien, viele Gestaltungen. Es gab natürlich auch ein dominierendes Bauhaus, das Bauhaus mit dem Quadrat, dem Dreieck und dem Kreis. Das Bauhaus unter Walter Gropius von 1919 bis 1928. Zuallererst muss daher jede*r verdeutlichen, was er oder sie denn überhaupt meint, wenn er oder sie vom Bauhaus spricht. Mein Ausgangspunkt ist kein Gebäude, keine Person, kein Zeitpunkt, kein Ort, sondern ein Thema, das auf den ersten Blick ein Randthema zu sein scheint. Ein Thema aber, das gesellschaftlich von Belang ist, es auch erlaubt, Fragen zu stellen, die das polymorphe und polylokale Bauhaus und unsere Rezeption nüchtern umkreisen können. Das ist das Thema Städtebau, eines der größten professionellen Innovationen der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, ein Thema, das das neue Bauhaus 1919 vorfindet, auf das es reagieren muss, und auf das es bestimmte praktische Antworten findet. Interessant ist bei diesem Thema zudem nicht nur, was passiert ist, sondern auch, was wie später rezipiert wurde. Aber auch das Thema Städtebau ist zu umfangreich. Ich möchte mich hier nur auf die beiden Antworten des Gropius-Bauhauses beschränken, die nicht gebaute Siedlung am Horn und die gebaute Siedlung Dessau-Törten. Zudem möchte ich den Start des Bauhauses betrachten, das sogenannte Manifest, das im April 1919 veröffentlicht wurde. Zunächst möchte ich aber fragen: Was war der Stand der Städtebaudebatten und Praxen zu dieser Zeit? Wettbewerb »Groß-Berlin« (1908–1910) und Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin (1910) Die größten Ereignisse zum Thema Städtebau in Deutschland lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bauhaus-Manifests nicht einmal zehn Jahre zurück: der Wettbewerb »Groß-Berlin«, der 1910 entschieden wurde, und die Allgemeine StädtebauAusstellung in Berlin, die 1910 gezeigt und von etwa 65.000 Menschen besucht wurde. Kern der Ausstellung waren die Ergebnisse des Wettbewerbs »Groß-Berlin«. Warum war das ein Meilenstein, eine Innovation, wie das heute so schön vage heißt? Markus Tubbesing hat in seiner jüngst veröffentlichten Dissertation den Wettbewerb präzise wissenschaftlich rekonstruiert und analysiert.2 Neu war damals der Gegenstand, die permanent wachsende Großstadtregion, eine Siedlungsform vor allem in Europa

Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

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Harald Bodenschatz

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 Abb. 1 Wettbewerb »Groß-Berlin«, 1908–1910: Vorschlag von Hermann Jansen, einem der Wettbewerbsgewinner, für eine neue großstädtische Bebauung im Zentrum Berlins

und Nordamerika, die sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbreitete. In Deutschland war das Berlin, ein neues Phänomen, das etwas ganz anderes war als die überkommenen historischen Städte wie etwa Weimar. Berlin umfasste einen ganzen Archipel von Städten und Gemeinden. Der Zusammenhang wie das Wachstum der neuen Großstädte setzte den modernen Massenverkehr voraus, in der damaligen Zeit den Schienenschnellverkehr, die wichtigste Verkehrsinnovation dieser Zeit. Mit dem Wettbewerb zu Groß-Berlin wurde nicht nur erstmals erarbeitet, was die wesentlichen städtebaulichen Steuerungselemente dieses neuen Wachstums sein könnten, es wurden auch die Konturen einer neuen Profession deutlich, des Städtebaus, und es wurde sichtbar, wer im schrillen Konzert der Akteur*innen des Städtebaus den Taktstock übernehmen sollte: nicht die große Terraingesellschaft, die damals den Städtebau dominierte, sondern die Kommune, die zumindest auf dem Papier seit dem preußischen Fluchtliniengesetz die Planungshoheit hatte. Um diese Rolle effektiv wahrnehmen zu können, war eine neue planerische wie politische Kulisse zu bearbeiten, die wachsende Großstadtregion. Und um diese Kulisse angemessen bearbeiten zu können, war nicht nur ein Plan nötig, wie Berlin ihn mit dem Hobrecht-Plan noch kannte, es war eine ganze Palette von Teilplänen erforderlich: ein Verkehrsplan, ein Wohnungsbauplan, ein Freiflächenplan; und all diese Teilpläne mussten in einem Gesamtplan zusammengefasst werden. Dass in diesem Kontext auch die gesetzlichen Grundlagen hätten verfeinert werden müssen, etwa das Bodenrecht, wurde ebenfalls breit diskutiert – und zwar auf einem Niveau, das eigentlich bis heute nicht mehr erreicht wurde. (  Abb. 1) Die um 1910 vorgelegten Pläne hatten keineswegs nur operativen Charakter, sie waren exemplarische Botschaften, was erreicht werden kann, vor allem waren sie eine Werbung dafür, überhaupt erst einmal ein effektives Planungssystem zu installieren, samt deren Voraussetzung: ein Planungsverband oder besser eine neue große Einheits-

Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

Das Bauhaus-Manifest 1919 Nun, zwischen der Städtebau-Ausstellung in Berlin 1910 und dem Bauhaus-Manifest lagen nicht nur neun Jahre, eigentlich keine lange Zeit, dazwischen lagen auch die Jahre des Ersten Weltkrieges, die das gesamte Umfeld des Denkens und Handelns auch der Fachwelt radikal verändert haben. War 1919 ein Jahr des Aufbruchs? Ich würde es nicht so nennen. Es war ein Jahr der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesundheitlichen Krise, der schwer lastenden Kriegserfahrungen, der drohenden Auflagen der Siegermächte, aber es eröffnete zweifellos im Rahmen des Zusammenbruchs der alten Ordnung und der Unklarheit, wie es in und mit Deutschland weitergehen sollte, Spielräume, die vor 1914 nicht existiert hatten. Spielräume aller Art, für Linke wie Rechte, für Hochstapler*innen und Könner*innen. Als das Bauhaus-Manifest vorbereitet wurde, waren die Verhandlungen in Versailles noch nicht beendet, und die Verfassung in Weimar war noch nicht erarbeitet. Ob Deutschland durch Räte oder durch Parlamente regiert werden sollte, war nach den blutigen Auseinandersetzungen, die mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg einen Höhepunkt fanden, schon absehbar.

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gemeinde. Dafür wurden regelrechte städtebauliche Kampagnen auf den Weg gebracht, von denen die Städtebau-Ausstellung selbst einen Höhepunkt darstellte. Doch einen zentralen Punkt habe ich noch gar nicht angesprochen: die Frage, wie die Stadt der Zukunft aussehen sollte, vor allem die Großstadt der Zukunft. Sollte die neue Großstadt wieder zerschlagen werden, wie es manche Gartenstadttheoretiker wünschten? Sollte sie gezähmt werden? Sollte sie dem angloamerikanischen Weg der Suburbanisierung des Wohnens folgen? Um diese Fragen wurde teils erbittert gestritten, und bei den beiden genannten Ereignissen der Zeit um 1910 konnte sich kein Lager wirklich durchsetzen. Ebenso war umstritten, welche Rolle Architekt*innen in der Planung spielen sollten. Die Architektenschaft proklamierte oft die Dirigentenrolle für sich, in scharfer Kritik am kunstlosen Städtebau der Bauingenieur*innen. Dass aber all die genannten planerischen Aufgaben nicht allein von Architekt*innen geleistet werden konnten, dass sie nicht einmal allein von Architekt*innen diskutiert werden konnten, war ebenfalls klar. Daher war eine Zusammenarbeit vor allem mit Verkehrsingenieur*innen, Wohnungswesenexpert*innnen und Gesundheitswissenschaftler*innen von Bedeutung. Schließlich muss noch ein weiterer Gesichtspunkt hervorgehoben werden: Gute städtebauliche Lösungen setzten einen internationalen Erfahrungsaustausch voraus. Freilich beschränkte sich die Internationalität damals auf wenige Länder, vor allem auf Frankreich, Großbritannien, die skandinavischen Länder und die USA. Damit war vor dem Ersten Weltkrieg ein hoher professioneller Standard erreicht: Interdisziplinarität, Internationalität, Öffentlichkeitsarbeit, Wohnungsbau für alle, wenngleich in unterschiedlicher Qualität und Quantität, Unterordnung der Architektur unter den Städtebau, Orientierung auf eine Vielfalt der Zentren, sorgfältige Gestaltung der öffentlichen Räume und großen Freiräume, Ausdifferenzierung des städtebaulichen und rechtlichen Instrumentariums, Orientierung auf eine starke Kommune, faktisch auf einen kommunalwirtschaftlichen Städtebau. Die Form der neuen, ständig wachsenden Großstadt, das wurde deutlich, hatte ihre eigenen Merkmale – ein neuartiges Hauptzentrum und viele kleinere und kleinste Zentren, ausgedehnte Freiflächen, ein den Schienenstraßen folgender Entwicklungskorridor usw. Damals wurde für den Großraum Berlin der heute wieder hoch gehaltene Siedlungsstern entdeckt – als reale Entwicklung wie als Leitbild. Der heftige Streit um die Berechtigung der Großstadt überhaupt und den Sinn verallgemeinerter Suburbanisierung unterstrich das hohe Niveau der Städtebaudebatte vor dem Ersten Weltkrieg.

Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

Ebenso die tiefe Spaltung der Arbeiterparteien, die auf den Erfahrungen der Kooperation Gustav Noskes und auch Friedrich Eberts mit der Reichswehr beruhten. Kurt Tucholsky hat diese widersprüchlichen Verhältnisse wie folgt zusammengefasst: »Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wers glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.«3 In dieser Nachkriegskrise wurde im bürgerlichen Weimar das Bauhaus gegründet, das mit dem Manifest auch zeigen wollte, wie es mit der Vergangenheit brechen konnte. (  Abb. 2) Wenn man nun das in einer pathetischen Sprache formulierte Bauhaus-Manifest vom April 1919 betrachtet, so kommt dort das Wort Städtebau oder Stadtbaukunst gar nicht vor. Das ist ja auch keineswegs nötig, denn oft geht es implizit um Städtebau, auch wenn er nicht explizit genannt wird. Jedenfalls wurde die Architektur zum Nabel der Gestaltung erklärt, an der durchaus auch andere Disziplinen mitwirken oder, besser gesagt, der sie sich unterordnen sollten. Künstlerische Disziplinen wie Bildhauerei und Malerei, aber auch Kunstgewerbe und Handwerk, jedoch kein Bau- oder Verkehrsingenieurwesen, keine Wohnungswissenschaft und Freiflächenspezialistinnen. »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit«, so der erste berühmte Satz des Manifests, »ist der Bau.« Das war de facto ein städtebauliches Statement. Architekt*innen erschien als Taktgeber*innen, als Dirigent*innen – eine Haltung, die durchaus auch um 1910 anzutreffen war, wenngleich damals ein wenig erschüttert. In städtebaulicher Hinsicht rückte nach dem Krieg die Wohnungsfrage in das Zentrum der Debatten – ein Thema, das den Führern des frühen Bauhauses durchaus wichtig war, erst recht später in Dessau. Doch wohnungswissenschaftliches Wissen findet sich im Manifest nicht, und wohnungswissenschaftliches Spezialwissen war in der Führungsgruppe nicht verbreitet. Wie sah es aber mit der Internationalität aus, ein Aspekt, der heute dem Bauhaus oft als Wesensmerkmal angeheftet wird? Im Manifest spielt es keine Rolle, bei der Herkunft der Führungsfiguren schon, wenngleich man sicher nicht sagen kann, dass das Personal unter diesem programmatischen Aspekt gewählt wurde. Man muss natürlich fairerweise festhalten, dass durch den Ersten Weltkrieg das Niveau internationaler professioneller Vernetzung in vielen Sparten, vor allem in der Kunst, aber auch in Architektur und Städtebau, erheblich beschädigt wurde. Die Öffentlichkeitsarbeit spielte im neuen Bauhaus zweifellos eine Rolle, aber war sie nicht immer noch ein wenig von der diskriminierenden Weltkriegskunst beeinflusst?

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 Abb. 2 Text von Walter Gropius für das BauhausManifest, 1919

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Bauhaus-Siedlung Am Horn Schließlich bleibt die vielleicht entscheidende Frage: Wer bitte war denn der oder die Adressat*in der eigenen Reformprojekte, wer sollte ein Programm der baulichen Gestaltung voranbringen? Hier konnte es nach dem Ersten Weltkrieg eigentlich nur noch eine Antwort geben: die Kommune, die aber finanziell, institutionell, instrumentell und rechtlich ertüchtigt werden musste. Diese Kommune war mit Blick auf das Bauhaus um 1919 schlicht die Stadt Weimar. Man hätte auch sagen können: Weimar interessiert nicht, wir konzentrieren uns auf die Stadt, in der sich die Krisen bündeln, auf die Großstadt Berlin, diejenige deutsche Stadt, die die widersprüchliche moderne Entwicklung brennglasartig verdeutlichte. Das wäre aber bei einem Staatlichen Bauhaus in Thüringen natürlich wenig opportun gewesen. Denn die Reformschule war von Anfang an ein Projekt der linksliberalen politischen Parteien Thüringens, der SPD, USPD und der DDP, was zugleich die Gegnerschaft der konservativ-rechten Parteien implizierte. Zu Weimar gab es aber im Manifest keinen einzigen Satz. Ich finde das nicht nur aus taktischen Gründen problematisch. Im Manifest findet sich keine Überlegung, wie die eigene Arbeit gesellschaftlich wirksam werden soll. Vor allem vor Ort. Und die weitere Arbeit zeigt, dass eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Kommune nicht wirklich gesucht wurde. Nun, wir kennen das Gegenargument. Weimar war ein Hort der Reaktion, der Stadtbaurat ein Feind des Bauhauses, die Bewohner*innen spießbürgerlich und konservativ. Ich finde eine solche bis heute fortwirkende Haltung sehr schlicht, ja ausgesprochen arrogant, de facto die eigentliche Position schwächend und politisch gefährlich. Für einen Sozialwissenschaftler wie mich ist es jedenfalls klar, dass es zwischen einer Stadt und einer in dieser Stadt implementierten Gestaltungsinstitution Reibungen geben kann, ja geben muss, Reibungen, zu deren Bearbeitung von Anfang an geeignete Plattformen und Umgangsformen hätten aufgebaut werden müssen. Diese Reibungen sind nicht allein dem Konflikt zwischen einem guten Bauhaus und einem bösen Weimar geschuldet. Bekanntlich hatte das frühe Bauhaus keine Architekturabteilung, wohl aber das Privatatelier von Walter Gropius, das für das Bauhaus ein bauliches Know-how bereitstellte. Damit konnte sich das Bauhaus auch städtebaulich zu Wort melden, und zwar mit einem größeren städtebaulichen Experiment östlich der Ilm auf einem abschüssigen Gelände außerhalb der Stadtgrenze von Weimar. Von diesem Experiment sind zeichnerische Zeugnisse von Walter Determann und Fred Forbat bekannt. Ziel war eine Bauhaus-Siedlung für Meister*innen und Schüler*innen. Zunächst entwarf Determann 16 eingeschossige Blockhäuser in expressionistisch orientierter Architektur, die weder

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 Abb. 3 Vorschlag einer Bauhaus-Streusiedlung mit Holzbauten von Walter Determann, 1920

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 Abb. 4 Zweiter Vorschlag von Walter Determann für eine autarke Bauhaus-Siedlung, diesmal in einer streng axial-ornamentalen Ordnung auf einer Fläche von 500 × 400 Metern, 1920

gestalterisch noch städtebaulich noch verbal noch sonst irgendwie Bezug auf die vorhandene Stadt nahmen. Es handelte sich um eine Streusiedlung ohne besonderen städtebaulichen Anspruch (  Abb. 3). Umgekehrt gab es aber einen Bezug: 30 Bürger*innen der Straße Am Horn protestierten gegen die Siedlung. Der zweite Entwurf von Walter Determann war ganz anderer Art: eine völlig introvertierte Gemeinschaftsanlage in expressionistischer Architektur, eine Bauhüttensiedlung in symmetrischer Sechseckform und in markanten Farben, deren Höhepunkt ein axial betonter Gemeinschaftsbau bildete, das Verwaltung-, Fest- und Ausstellungshaus. Eine verschworene Gemeinschaft,

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 Abb. 5 Vorschlag für eine Bauhaus-Siedlung von Fred Forbat in sachlicher Form, 1922

die sich nach außen abgrenzen wollte, die in dieser Form eigentlich auch kein Wachstum ermöglicht hätte – ein programmatisch höchst aussagekräftiger Entwurf, grafisch höchst ansprechend, ja geradezu betörend. (  Abb. 4) Im Sommer 1921 änderten sich die Verhältnisse. Ziel war es nun, ein konkretes Gelände an der Straße am Horn zu pachten und dort eine Siedlung zu errichten. Zu diesem Zwecke wurde auch eine Bauhaus-Siedlungsgenossenschaft gegründet, und der ungarische Architekt Forbat wurde als Planer beauftragt. Forbats Entwurf unterschied sich radikal von Determanns Vorschlag. Er schlug frei stehende Doppelwohnhäuser und Reihenhäuser vor, dazu kamen Wohnheime für Schüler*innen, die eine Art Zentrum, einen Platzraum, prägten. Weiter war ein Schul- und Werkstattgebäude geplant. Formal finden sich noch die klassischen Elemente des traditionellen Städtebaus, wenngleich neu interpretiert – etwa durch Gebäude gefasste Straßen und ein zentraler, ebenfalls weitgehend gefasster Platz. Interessant ist die unübersehbare sozialräumliche Segregation des Städtebaus – Wohnungen in Heimen, hervorgehobene Doppelwohnhäuser, dazwischen die Reihenhäuser. (  Abb. 5) Im Jahr 1923 musste das Bauhaus sich in einer Ausstellung präsentieren. Im Programm der von etwa 15.000 Personen besuchten Ausstellung wurde der städtebauliche Anspruch einer angestrebten Bauhaus-Siedlung wie folgt präzise und wolkig zugleich umrissen: »Das Siedlungsgelände des Bauhauses soll einem weitgefassten Siedlungsplan dienen, der Einzelhäuser, Bad, Spielplatz und Gärten umfasst. Das weitgesteckte Ziel des Bauhauses schließt den metaphysischen Bau nicht aus, der über die Schönheit des Zweckvollen hinaus als wahrhaftes Gesamtkunstwerk die Verwirklichung einer abstrakten monumentalen Schönheit erstrebt.«4

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Siedlung Dessau-Törten Dass das Bauhaus nach Dessau umziehen würde, war nicht sofort klar. Der Grund dafür war wesentlich ein städtebaulicher, oder genauer: Es war der Auftrag der Dessauer Stadtregierung für eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, der Gropius nach Dessau zog, ein Auftrag, der von der SPD und der DDP 1925 abgesegnet wurde. Gropius versprach, eine preiswerte Sozialsiedlung zu bauen, und dieses Versprechen war die Voraussetzung für das Engagement der beiden politischen Parteien zugunsten des Bauhauses. In der Tat wurde eine Sozialsiedlung gebaut: Dessau-Törten. Die Analysen, auch Kritiken an dieser Siedlung sind zahlreich, die Lobpreisungen noch weit zahlreicher. Zu den Kritikpunkten gehörte die Wirtschaftlichkeit. Die Siedlung war keineswegs, wie versprochen, aufgrund ihrer seriellen Bauweise billiger als normale Siedlungen, im Gegenteil: Sie war teurer. Und sie hatte zahlreiche Baumängel. Philipp Oswalt hat das kürzlich noch einmal betont.6 Dies führte zu einer Krise des Verhältnisses zwischen der kommunalen und Landespolitik auf der einen und dem Bauhaus auf der anderen Seite, und es führte zu heftigen Protesten der großen Mehrheit der Siedler*innen. Vor diesem Hintergrund musste der Bauhaus-Direktor Gropius 1928 seinen Hut nehmen. (  Abb. 6, 7) Städtebaulich war die Siedlung Dessau-Törten auch unabhängig von den Finanzierungsproblemen und Bauschäden alles andere als ein positives Reformmodell, sie war kein Versprechen für eine bessere Stadt. Die Straßen dienten nur der Erschließung, sie boten keinen städtischen öffentlichen Raum. Die freien dreieckigen Restflächen waren kein Zeugnis hoher Stadtbaukunst. Die Hauptstraße, das Herz der Siedlung, folgte den Masten der Elektrizitätsversorgung – eine Verbeugung vor einer modernen Tech-

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Das bauliche Hauptwerk dieser Ausstellung war das Haus am Horn von Georg Muche, realisiert durch das Bauatelier Gropius, das nach dem Bauhaus-Gebäude in Dessau wohl am kultischsten überhöhte Gebäude aus der Werkstatt des Bauhauses. Das Haus am Horn war ein isolierter Bau für eine moderne Familie, der aber programmatisch durchaus andeutete, was für eine Art von Stadt oder besser Anti-Stadt im Bauhaus angestrebt wurde. Der Grundriss ist ein wenig ein Spiegel der Zeit, was das Geschlechterverhältnis angeht. Seine Adressatin war eindeutig die Mittelschicht, die aufstrebende Angestelltenfamilie. Und es war ein Dokument der Kritik an der bestehenden Stadt, mit der das Haus typologisch und städtebaulich nichts mehr zu tun hatte. Damals war das Haus am Horn sehr umstritten, auch Sympathisant*innen äußerten Kritik. Adolf Behne etwa sprach von Weltflucht und toter Symmetrie.5 Der Bau einer quasi autarken Siedlung war natürlich nichts Neues. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es zahlreiche Versuche in dieser Hinsicht gegeben, darunter einen sehr prominenten: die Gartenstadt Hellerau, einen durchaus erfolgreichen Versuch. Den Vergleich zu dieser Siedlung muss die Bauhaus-Siedlung freilich scheuen, wenngleich auch Hellerau nicht mythologisiert werden darf. Hellerau machte vor, wie eine Vor- oder Gartenstadt sozial segregativ gestaltet werden konnte – mit kleinen Reihenhäusern und einem räumlich getrennten Ortsteil für große Villen. Das Vorhaben einer Bauhaus-Siedlung im Weimar scheiterte aus finanziellen Gründen, wegen der Krankheit von Forbat, aber auch infolge der Konflikte zwischen Stadt und Bauhaus. Dabei wurde die Schuld gerne wieder bei der Stadt gesucht, die mit allen Mitteln den Bau der Siedlung, so heißt es, hintertrieben hatte. Das Staatliche Bauhaus kam nach dem Fall der linken Landesregierung 1924 unter unerträglichen politischen Druck vor allem seitens der Deutschnationalen Volkspartei und musste im folgenden Jahr Weimar verlassen.

Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

Bauhaus und Städtebau Ich möchte hier nicht behaupten, dass das Bauhaus durch einen städtebaulichen Blick hinreichend erklärt werden kann. Ein solcher Blick erlaubt aber einen möglichen Ausbruch aus der alles durchdringenden Hagiografie. Die geplante Bauhaus-Siedlung in Weimar und die gebaute Siedlung Dessau-Törten waren sehr unterschiedlich – in der Form, in der Architektur, hinsichtlich der Umstände der Produktion, der Adressat*innen, der Akteur*innen. Dennoch gab es auch Gemeinsamkeiten, die für alle noch heute sichtbar sind: Beide Siedlungen nahmen demonstrativ keinen Bezug auf die vorhandene Stadt, sie zeigten, dass die vorhandene Stadt, die alte Stadt, etwas von gestern war. Sie propagierten die neue Stadt als autonome suburbane Siedlung, deren Bewohner*innen zu neuen Menschen erzogen werden sollten. Damit war zumindest ansatzweise eine problematische Botschaft verbunden: der alte Mensch, die alte Gesellschaft, die alte Stadt – das waren Phänomene, die nicht nur überwunden werden sollten, sondern die perspektivisch auch keine Daseinsberechtigung mehr hatten. Diese Botschaft war freilich keineswegs eine Innovation des Bauhauses. Schon der Wettbewerb »Groß-Berlin« hatte auf die Altstadt keine besondere Rücksicht genommen. Neu war etwas anderes, nämlich die Zuspitzung dieser Kritik und die Verbindung mit einer einzigen Alternative. Die Zuspitzung lag in der Art der Entwürdigung, in der Diskriminierung des Alten – ein vorbereitender Schritt zum zerstörerischen Abschied von der alten Stadt, zum Respektverlust vor dem alten Menschen, dem dumpfen Kleinstadtbürgertum etwa, das zum Gegner, im schlimmsten Fall zum Objekt des Hasses wurde. Nicht die Erfindung des neuen Menschen, sondern die diese voraussetzende Erfindung des alten Menschen – das war das eigentliche Problem. Was sollte man mit dem alten Menschen tun? Er stand der Zukunft im Wege, er sollte umerzogen werden, er musste umerzogen werden. Was aber, wenn der alte Mensch nicht umerzogen werden wollte? Diese Art der Diskriminierung war ein Trend, der die Weimarer Republik von Anfang an begleitete. Neu war, diese Auseinandersetzung mit dem Streit um die richtige Form zu verknüpfen. Die Diskriminierung der alten Stadt, des alten Menschen war mit einem Zukunftsprogramm verbunden, das gesellschaftlichen Fortschritt mit einer einzigen Gestaltungsoption zu verbinden versuchte und damit andere Gestaltungsoptionen und deren Vertreter*innen zu entwerten strebte – unter dem Beifall eines Teils der Fachwelt bis heute. Ein Programm, das Form und Fortschritt gleichsetzte, war nicht zuletzt mit Blick auf Mussolinis Italien und andere Diktaturen haltlos. So gelang es den Vertreter*innen einer Variante der Moderne die vielen anderen Varianten abzuwerten, zu verunglimpfen, ja ihnen einen modernen Charakter ab-

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nologie, die aber keine Zentralität schafft. Dafür gab es das Haus des Konsumvereins, den etwas trostlosen Höhepunkt der Siedlung im direkten wie indirekten Sinne. Wir wissen, dass die Bewohner*innen der Siedlung mit dem Städtebau nicht zufrieden waren, insbesondere mit dem Verhältnis von Fenstern und Straße. Dessau-Törten zeigt weder die Verarbeitung internationaler Erfahrungen noch den Einbezug von Spezialist*innen anderer Disziplinen. Aber anders als in Weimar war der Bezug zur Kommune diesmal geklärt: Es war die Stadt Dessau, die half, das zu realisieren, was am Bauhaus oder im Büro Gropius entworfen wurde. Interessant ist aber noch ein anderer Aspekt, der merkwürdigerweise auch gerne übersehen wird: die krasse sozialräumliche wie architektonische Klassentrennung von Törten und den Meisterhäusern. Ein Typus von klassenorientiertem Städtebau, den man vor 1914 gut kannte, aber nach 1918 nicht mehr erwartet hätte. Beide Anlagen wurden von der Stadt finanziert. (  Abb. 8)

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 Abb. 6 Lageplan der Siedlung Dessau-Törten, 1926–1928

 Abb. 7 Das Zentrum von Dessau-Törten mit dem Haus des Konsumvereins und der Hauptstraße mit den Masten für die Elektrizitätsleitungen, um 1928

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 Abb. 8 Räumlich und hinsichtlich des Standards auf großer Distanz zur Siedlung Dessau-Törten: die 1925/26 errichteten Meisterhäuser, 1926

zusprechen und ihre radikalisierte Moderne als die Moderne schlechthin zu stilisieren – ein unglaublich erfolgreiches narratives Modell. Dieses Narrativ war vielleicht die wirkungsmächtigste und folgenreichste Innovation des polymorphen Bauhauses. Damit ist das Thema Städtebau und Bauhaus natürlich nicht im Mindesten erschöpft. Mit dieser Auswahl klammere ich vieles aus, etwa und vor allem die für den Städtebau so wichtigen Bauhaus-Aktivitäten von Ludwig Hilberseimer. Ich klammere weiter aus, wie sich die städtebaulichen Aktivitäten in Weimar zum offiziellen Städtebau der Kommune verhielten; auch, wie dieses Verhältnis in der Regel ausgegrenzt wird. Mit der Folge, dass das wichtigste städtebauliche Erbe der 1920er-Jahre in Weimar, das sogenannte Kulturprojekt, eine grüne, durch Bauten flankierte Achse westlich der Weimarhalle, in der Regel ignoriert wird, ebenso wie sein Protagonist, der Stadtbaurat August Lehrmann. Sehr schön konnte man das wieder bei der sehr gelungenen Festveranstaltung zur Eröffnung des neuen Bauhaus-Museums erleben: kein Wort zum Kulturprojekt der 1920er-Jahre, obwohl dieses direkt vor dem neuen Museum liegt, kein Wort zum Bau der Schillerschule, der diagonal zum Bauhaus-Museum ebenfalls den Grünzug beherrscht, den wohl bedeutendsten Bau der Moderne während der 1920erJahre in Weimar (  Abb. 9). Ich klammere auch die wichtige Frage nach den Bezügen zur nationalsozialistischen städtebaulichen Modernisierung in Weimar und in Dessau aus. Ich klammere aus, wie sich das Bauhaus in der DDR verhielt, ebenso das Bauhaus der 1990er-Jahre, das vor dem Hintergrund des strategischen Programms des Indus-

Bauhaus, Bauhaus über alles … Ich hoffe, es ist klar geworden: Mir geht es überhaupt nicht darum, das Bauhaus zu skandalisieren. Es fällt freilich schwer, diese experimentelle Institution mit all ihren Widersprüchen angesichts der überbordenden hagiografischen Jubelwelle angemessen zu würdigen. Das fällt umso schwerer, wenn wir nicht nur auf Formen, sondern auch auf Strategien der Selbstinszenierung und der Ausgrenzung blicken, auch auf die Schwierigkeiten, sich in schwieriger Zeit zu behaupten. Das Bauhaus war ja eigentlich immer in der Defensive, es brauchte Hilfe, es hatte sich für die zunehmend widrigeren Verhältnisse aber nicht angemessen strategisch vorbereitet. Dennoch erhielt es angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung Unterstützung von einigen Kulturschaffenden und Professionellen der Weimarer Republik, auch von manchen, von denen man es nicht erwarten würde. Dazu gehörte der traditionell orientierte, sehr angesehene Architekt Theodor Fischer aus München. Er schrieb 1932 Folgendes: »Ich kenne das Bauhaus nur aus seinen Veröffentlichungen, und obwohl ich eine ganze Last von Bedenken im einzelnen gegen die dort bisher geübten Methoden habe, obwohl ich mutmaße, daß ich selbst dort niemals besondere Sympathien genossen habe, erkenne und bekenne ich, daß diesem Unternehmen eine wichtige Aufgabe in der Entwicklung zugefallen ist und noch zustehen kann. Ich weiß, daß unsere Zeit nicht einheitlich marschieren kann und daß, da ich selbst mich zu Versuchen berechtigt und genötigt glaubte, anderen dasselbe Recht zu Versuchen zugestanden werden muß.«8 Dieses Statement hatte Wilfried Nerdinger 1988 wiederentdeckt, als er die schöne Ausstellung zu Fischer vorbereitete. Heute muss man das Bauhaus vor seiner Heiligsprechung schützen, vor seiner Vermarktung. Das Bauhaus war in all seinen verschiedenen Ausprägungen ein Experimentierfeld mit Höhen und Tiefen, auch im Bereich des Städtebaus. Gerade deswegen war und ist es von Interesse. Es darf aber auf keinen Fall dazu dienen, alle anderen Varianten der baulichen Moderne zu diskreditieren, ins Dunkle zu schieben. Es ist unsere Entscheidung, was wir aus dem Jubeljahr 2019 machen, und diese Entscheidung kündet von unserer Gesellschaft, unserer Politik, unserer Fachwelt, unseren Problemen,

Das Bauhaus von Walter Gropius und der Städtebau

triellen Gartenreiches den Städtebau in ganz anderer Weise wie das Gropius-Bauhaus interpretierte. Ein wichtiges, nahezu vollständig vergessenes Aktionsfeld des Bauhauses, das während der Tage des Mauerfalls am Bauhaus in Dessau in der Ära Rolf Kuhn entwickelt wurde, an das aber im Herbst des Jubiläumsjahres auch noch erinnert wurde.7

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 Abb. 9 Die 1931 eröffnete und 1936 erweiterte Schillerschule, ein architektonisches wie städtebauliches Hauptwerk August Lehrmanns, des in der Weimarer Republik wichtigsten Stadtgestalters von Weimar, 1936

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Anmerkungen 1 Niklas Maak: »Jenseits vom Bauhaus«. In: Frank- 7 Tagung »Bauhaus Wende – Wende Bauhaus. 30 furter Zeitung am Sonntag, 24. März 2019, S. 34. Jahre Walter-Gropius-Seminar – Industrielles 2 Vgl. Markus Tubbesing: Der Wettbewerb Groß-BerGartenreich und neue Perspektiven«, 8.–10. November 2019. Veranstalter: Universität Kassel, lin 1910. Die Entstehung einer modernen Disziplin Zentrum für Geschichte der Planung in Stadt Städtebau. Tübingen / Berlin 2018. 3 Kurt Tucholsky: »Dämmerung«. In: Die Weltbühne, und Land (ZSL), vertreten durch Prof. Dr. Harald 11. März 1920, S. 332. Kegler. Kooperationspartnerinnen: Stiftung Bau4 Zitiert nach: Klaus-Jürgen Winkler: »Il Neues Bauhaus Dessau, Hermann-Henselmann-Stiftung, en a Weimar e l’eredità del Bauhaus«. In: Rassegna, Ferropolis GmbH. Trägerin: WFG Anhalt-DessauNr. 45, 1991, S. 60–88, hier: S. 60. Bitterfeld-Wittenberg mbh. Eine Publikation zur 5 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: Die Architektur am BauTagung ist in Vorbereitung. haus in Weimar. Berlin / München 1993, S. 108–109. 8 Zitiert nach Winfried Nerdinger: Theodor Fischer. 6 Vgl. Philipp Oswalt: »Die verschwiegenen BauhausArchitekt und Städtebauer 1862–1938. München Krisen«. In: Thomas Flierl / Philipp Oswalt (Hg.): 1988, S. 338. Winfried Nerdinger hat auch zum Hannes Meyer und das Bauhaus. Im Streit der DeuBauhaus-Jubiläum ein sachliches, nicht hagiotungen. Leipzig 2018, S. 247–265, hier: S. 248–251. grafisches Bändchen vorgelegt: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne. München 2018.

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unserer Sicht der Dinge. Und die ist, man verstehe mich nicht falsch, keineswegs nur affirmativ, jubeltrunken – nein, im Gegenteil: Es gibt so viel Kritik am Bauhaus wie vermutlich noch nie, an der Rolle der Frauen, an der nationalen Mystik des Programms, am Antisemitismus und Rassismus von Johannes Itten, an der damit verbundenen Esoterik des Alltags, am finanziellen Debakel von Dessau-Törten, an der Rolle von Gropius, an den Querelen unter den Bauhaus-Direktoren usw. Gerade im Jubiläumsjahr gibt es eine erstaunlich freche, wenig ehrfürchtige Debatte um die vielen Bauhäuser. Erst mit zeitlichem Abstand werden wir wissen, ob das Bauhaus aus dem Jubiläumstaumel besser herauskommen wird, als es hineingegangen ist.

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Sektion III

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Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?

Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?

Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?

Die am Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin ausgebildeten Architekten zählen zu den Protagonisten einer modernistischen Architektursprache, die heute vielfach als Bauhaus-Moderne firmiert. Als Teil der Kunstavantgarden des frühen 20. Jahrhunderts waren sie angetreten, um mit den bestehenden Traditionen zu brechen und eine neue Ära einzuleiten. Ihr Kampf richtete sich gegen die Stilarchitektur des Historismus, die durch ein von Funktion und Konstruktion determiniertes Bauen ersetzt werden sollte. Dabei galt es nicht nur die Neo-Stile selbst, sondern die Stilepochenfolge generell zu überwinden: Die Architekturmoderne wähnte sich als deren Höhe- und Endpunkt und somit auf einer nicht mehr hintergehbaren, allgemeingültigen Entwicklungsstufe. Von Anfang an existierte dadurch das Paradox eines von den Kunstavantgarden vertretenen Innovationsparadigmas und des zugleich erhobenen Anspruchs auf universelle zeitlose Gültigkeit. Ein Jahrhundert später gilt es daher, in einem grundsätzlichen Sinne nach unserem heutigen Modernekonzept zu fragen sowie nach dessen möglicher Prägung durch die Kunstavantgarden und deren Einfluss auf eine Traditionsbegründung oder aber Historisierung der Moderne. Ob wir uns weiterhin in der Moderne befinden oder aus einer neuen Ära heraus auf diese zurückblicken, wird spätestens seit der Postmoderne kontrovers diskutiert, ebenso was diese Moderne – zuletzt vermehrt im Plural der modernities – auszeichnet. Niemand bezweifelt heute, dass die Architekturmoderne der 1920er-Jahre ein zeitlich verortetes und damit historisches Phänomen bildet: Seit den 1960er-Jahren werden ausgewählte Bauten unter Denkmalschutz gestellt und für die Nachwelt erhalten und zuweilen rekonstruiert. Trotz dieser historischen Verortung ist unser Verhältnis zur Architekturmoderne aber nicht dasselbe wie zu anderen Epochen der Architekturgeschichte. So scheint deren Ästhetik für viele auch heute noch Gültigkeit zu besitzen und werden die fast 100 Jahre alten Bauten als modern im Sinne von zeitgemäß empfunden. Dasselbe gilt für die zeitgleich entstandenen und seit Langem von Museen angekauften Werke des avantgardistischen Produktdesigns der 1920er-Jahre. So sehen wir uns heute mit einem in seiner Entstehungszeit verankerten historischen Gestaltungskonzept konfrontiert, das dennoch modern erscheinen kann und sich sogar in jüngeren Bauten beziehungsweise im aktuellen Produktdesign wiederfindet. Thema dieser Sektion ist das Verhältnis jüngerer Architektur und aktueller Designprodukte zu den 100-jährigen Zeugnissen der vormaligen Kunstavantgarden. Zugespitzt stellt sich dabei die Frage nach Kontinuität, Klassizität oder Rückbezug: Handelt es sich um eine bis dato ungebrochene Bautradition der Avantgarden, um einmal gefundene und seitdem universell-gültige Ausdrucksformen im Sinne einer Klassischen Moderne oder um ein Revival, ein Phänomen der Retrokultur und damit um eine NeoModerne? Zentrale Bedeutung scheinen hier die 1960er- und 1970er-Jahre mit ihrer Ablehnung des bis dato gültigen Modernekonzepts zu haben – seines Totalitätsanspruchs und normativen Charakters, ebenso seines Fortschritts- und Innovationsparadigmas –, das nun ersetzt wurde durch einen reflexiven, dezidiert pluralen Ansatz und eine vielfältige Orientierung an der Geschichte. Mit der Kritik war zugleich ein neues Interesse am Phänomen der Moderne entstanden, die nun aus der empfundenen Distanz heraus reflektiert wurde. Dabei avancierte sie nicht nur zu einem zentralen Forschungsfeld, sondern wurde zugleich auch zu einer wichtigen Inspirationsquelle der Künste: Zeitlich

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Einführung Eva von Engelberg-Do kal

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parallel zu den Sanierungen einzelner Bauwerke finden sich seit den 1960er-Jahren vermehrt Neubauten, die den Formen der Architekturmoderne folgen. Hierzu zählen die Arbeiten der New York Five, die wegen ihrer Vorliebe für weiße Putzflächen den Namen Whities erhielten. Richard Meier orientierte sich dabei dezidiert an den Bauten Le Corbusiers als »Großmeister« der Klassischen Moderne.1 Wie Heinrich Klotz 1984 betonte, kann darin kaum eine ungebrochene Tradition gesehen werden, bezog sich Meier doch explizit auf Arbeiten der 1920er-Jahre und nicht auf Le Corbusiers Spätwerk: »Meier und die ›New York Five‹ griffen über diese letzte Stufe der Geschichte der Moderne bewusst zurück auf deren Anfänge und ließen eine ›maniera‹ wieder aufleben, die schon in Le Corbusiers eigenem Werk, aber auch in der allgemeinen Architekturentwicklung als eine historische Errungenschaft zurückgelassen worden war.«2 Auf Le Corbusiers Architektur, konkret dessen Villa Savoye, bezieht sich auch der 1995/96 entstandene Neubau des Weimarer Musikgymnasiums von Thomas van den Valentyn und Mohamed Oreyzi. Die Frage nach dem Verhältnis dieser Bauten zu ihren prominenten Vorbildern ist weder einfach noch eindeutig zu beantworten: Weder Meiers Bauten noch das Musikgymnasium sind Kopien, also exakte Wiederholungen dieser Architekturikonen; ob wir es mit Zitaten zu tun haben, bleibt zu diskutieren.3 Zweifellos greifen die Neubauten aber auf die Formensprache der Vorbilder zurück, ohne dabei jedoch – so unterstelle ich – historisierend anmuten zu wollen und ohne primär historisierend zu wirken. Damit kommen wir zurück zum Anspruch der Architekturmoderne auf überzeitliche Gültigkeit ihrer Ausdrucksformen. Eine durchgehende Formtradition wurde und wird vielfach behauptet, so etwa 2009 seitens des Architekturkritikers Falk Jäger anlässlich des letzten großen BauhausJubiläums: »Mehr denn je wird im 21. Jahrhundert die abstrakte Ästhetik im Sinne Mies van der Rohes gepflegt […]. Die Meisterhäuser von Walter Gropius sind nach wie vor beispielgebend für den Bau gehobener Einfamilienhäuser.«4 Diesen Eindruck könnten etwa die kubischen Putzbauten der Weimarer Siedlung neues bauen am horn (2000– 2014; vgl. den Beitrag von Annika Eheim und Jannik Noeske im vorliegenden Band) und die Neubauten im Weimarer Schießhaus-Areal (2015–2017) vermitteln. Aber handelt es sich tatsächlich um eine seit den 1920er-Jahren ungebrochene Formtradition? Zumindest für Weimar, Gründungsort des Staatlichen Bauhauses, ist dies zu verneinen, entstanden hier doch in den 1920/30er-Jahren – mit Ausnahme des Hauses am Horn (1923) und der Weimarhalle (1930–1932) – keine Bauten dieser Architekturmoderne.5 Davon ausgehend könnte man die in den 1920er-Jahren entwickelte Formensprache als eine historische ansehen, benannt von den Zeitgenossen als »International Style« oder »Bauhausstil«.6 Das heutige Entwerfen in dieser Sprache wäre demnach ein historisierender Rückgriff, und die Bauten müssten entsprechend einer Neo-Moderne7 oder einem Neo-Bauhaus zugeordnet werden. In diesem Sinne betonte Michael Hesse, dass die »Gestaltungsmittel der Moderne wie die anderer, vergangener Epochen zum formalen Material [werden], das in der Intertextualität des Systems von gleicher Gültigkeit ist.«8 Die Moderne zeige sich so als ein zeitgebundener Kunststil: »Damit allerdings ist die Moderne nicht länger die zeitlos gültige Kunst am Ende aller Stile. Sie ist selbst zu einem verfügbaren Stil neben anderen geworden.«9 Neben einer Bautradition und dem historisierenden Rückgriff eröffnet der Blick auf die anhaltend beliebten Referenzobjekte noch eine weitere mögliche Lesart: Mit der schon in den 1920er-Jahren von den Protagonisten der Architekturmoderne lancierten Kanonisierung einzelner Bauten wurde eine bestimmte Strömung innerhalb der pluralistischen Architektur dieser Zeit als vollendete Ausdrucksform herausgelöst und zum Ideal erhoben. Nicht zuletzt als Instrument gegen konkurrierende Tendenzen

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dominierte diese Lesart in der Historiografie und bestimmte die Vorstellung von Architekturgeschichte über Jahrzehnte hin. Der Modernismus der Kunstavantgarden wurde damit in den Rang eines zeitlosen Klassikers – der Klassischen Moderne – erhoben, welche Neubauten in eben diesen Formen als adäquaten Ausdruck auch späterer Zeiten vermitteln. Zentral für diese Lesart ist der Beitrag von Donatella Cacciola zu Reeditionen von Designprodukten der vormaligen Kunstavantgarden. In den 1960er-Jahren aufkommend und in den 1970er-Jahren boomend, werden diese als vermeintlich zeitlose moderne Klassiker vertrieben. Der Anspruch allgemeiner und überzeitlicher Gültigkeit der Kunstavantgarden war 2007 ein Thema der documenta 12 unter der Frage: »Ist die Moderne unsere Antike?«10 Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der documenta, formulierte dazu: »Es ist recht augenfällig, dass die Moderne, oder – vielleicht besser – ihr Schicksal, einen starken Einfluss auf zeitgenössische KünstlerInnen ausübt. Ein Teil der Faszination mag daher rühren, dass niemand so genau weiß, ob die Moderne nun ein abgeschlossenes Kapitel darstellt oder nicht. Nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts (den gleichen Katastrophen, die sie ins Werk setzte) scheint die Moderne in Trümmern zu liegen und vollkommen kompromittiert: sowohl durch die gnadenlos einseitige Umsetzung ihrer universalen Forderungen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als auch durch die simple Tatsache, dass Moderne und Kolonialismus historisch Hand in Hand gehen. Dennoch ist das Vorstellungsvermögen vieler Menschen von modernen Formen und Visionen tief durchdrungen und das bedeutet nicht nur Bauhaus, sondern auch Konzepte der Moderne wie ›Identität‹ oder ›Kultur‹, die aus der aktuellen Diskussion nicht wegzudenken sind. Kurz, es scheint, als stünden wir zugleich außerhalb und innerhalb der Moderne.«11 Ausgehend von dieser Irritation wurde die Moderne als Phänomen von verschiedenen Disziplinen thematisiert und untersucht, vonseiten der Architekturgeschichte steht eine umfassende kritische Analyse jedoch noch aus. Grundlegend für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Moderne ist zunächst eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Bedeutungsebenen. So kann die Moderne für eine Epoche stehen, wobei ganz unterschiedliche zeitliche Setzungen möglich sind: Beginnt sie bei den einen mit der Neuzeit (Early Modern), so bei anderen mit der Aufklärung, oder aber im 20. Jahrhundert; und endete – wenn überhaupt – mit der Postmoderne. Die Moderne kann aber auch eine Haltung beschreiben, die Aspekte der Ökonomisierung und Rationalisierung verbindet. Schließlich wird sie von verschiedenen Kunstströmungen im Sinne eines Traditionsbruchs beansprucht: Wie etwa die Futuristen oder Konstruktivisten erachteten sich auch die Vertreter der Reform- und Heimatschutzarchitektur als modern und wähnten sich am Beginn einer neuen Ära. In der Architekturgeschichtsschreibung beginnt die Epoche der Moderne zumeist mit der Aufklärung oder – aus dem spezifischen Blickwinkel einer Architekturhistoriografie der Moderne – um 1900. Als Zäsuren erscheinen im ersten Fall die neue historische Perspektive und das Konzept einer linear fortschreitenden Geschichte, wobei die damit verbundene Historisierung früherer Stile ihren architektonischen Ausdruck im Stilpluralismus seit dem 18. Jahrhundert fand. Die explizit auf die Moderne bezogene Architekturhistoriografie sieht die Zäsur dagegen in der Abwendung vom Historismus im frühen 20. Jahrhundert, sei es in Form eines reduzierten Klassizismus, der Reformarchitektur oder des Modernismus. Als moderne Architektur gilt bis heute mehrheitlich – und dabei der Narration der Avantgarden folgend12 – die letztere puristisch-schmucklose Formensprache, dies, obwohl sie, wie wir wissen, nur ein schmales Segment der Bauproduktion dieser Zeit ausmachte. Indem diese Architekturmoderne

8 Michael Hesse: »Moderne und Klassik. Kunstzitat und Kunstbewußtsein bei Philip Johnson«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Nr. 3, 2000, S. 372– 186, hier: S. 381. 9 Ebd. 10 Vgl. https://www.documenta12.de/de/100-tage/ 100-tage-archiv/lunch-lectures/ist-die-moderneunsere-antike.html (letzter Zugriff: 03.02.2020); mit Dank für den Hinweis an Meinrad von Engelberg. 11 Roger M Buergel [Dezember 2005]. Unter https:// documenta12.de/leitmotive.html (letzter Zugriff: 03.02.2020). 12 Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani: »Die Geschichte der Geschichte der ›Modernen Bewegung‹ in der Architektur 1925–1941: eine kritische Übersicht«. In: Ders. / Romana Schneider (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Band 2. Stuttgart 1994, S. 272–295. 13 Vgl. etwa Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1985, S. 419; Eva von EngelbergDo kal: »Historisierende Moderne: Heimatschutzarchitektur in Schleswig-Holstein«. In: Kirsten Baumann / Klaus Gereon Beuckers / Ulrich Schneider (Hg.): Moderne am Meer I. Künstlerische Positionen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein. Tagungsband zur Tagung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte der Stiftung-Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf und des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Petersberg 2021. Publikation in Planung.

Bauhaus-Moderne: 100 Jahre Avantgarde?

Anmerkungen 1 Vgl. Eva von Engelberg-Do kal: »Ewige Avantgarde oder Retro-Kultur? Das Neue als Rückgriff auf die Geschichte«. In: Sigfried Gronert / Thilo Schwer (Hg.): Positionen des Neuen: Zukunft im Design (Gesellschaft für Designgeschichte, Schriften 2). Stuttgart 2019, S. 58–71, hier: S. 63f. 2 Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart: 1960–1980. Braunschweig / Wiesbaden 1984, S. 318f. Vgl. von EngelbergDo kal 2019, S. 64. 3 Vgl. ebd.; Eva von Engelberg-Do kal: »Klassikerstadt!«. In: Dies. / Oliver Trepte (Hg.): Stadtbilder Weimar. Städtische Ensembles und ihre Inszenierungen nach der politischen Wende. Heidelberg 2019, S. 163–179, hier: S. 170. 4 Falk Jäger: »Ein subversives Vermächtnis. Das Bauhaus als moralische Instanz für Nachgeborene«. In: Gordon Watkinson: Bauhaus zwanzig – 21. Ideen für ein neues Jahrhundert. Basel 2009, S. 18–20, hier: S. 20. 5 Vgl. Oliver Trepte: »Kulturstadtjahr 1999«. In: Eva von Engelberg-Do kal / ders. (Hg.): Stadtbilder Weimar. Städtische Ensembles und ihre Inszenierungen nach der politischen Wende. Heidelberg 2019, S. 13–30, hier: S. 16–18. 6 Ernst Kállai: »Zehn Jahre Bauhaus«. In: Die Weltbühne, Nr. 4, 1930, S. 135–139. 7 Der Begriff Neo-Moderne beziehungsweise neomodernism wird seit den 1980er-Jahren verwendet. Vgl. Aaron Betsky: Making it modern. The history of modernism in architecture and design. New York 2016, S. 11.

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der 1920er-Jahre von Anfang an im Fokus der Historiografie stand, prägte sie unser Bild der Zwischenkriegszeit nachhaltig. Als Folge davon sind die Werke der Architekturavantgarde heute gut erforscht, ganz anders – trotz der in den 1980er-Jahren einsetzenden Kritik an dieser einseitigen Betrachtung – die Bauten der übrigen Strömungen.13 In dieser Sektion werden bewusst unterschiedliche Bedeutungsebenen von Moderne zur Diskussion gestellt. Die Referent*innen und Autor*innen kommen aus dem Bereich der Geschichte, Kunstgeschichte, Designgeschichte, Architektur und Urbanistik und garantieren damit ein gewollt breites Spektrum an Perspektiven. Donatella Cacciola zeigt die modernen Klassiker als individuelle, in den Firmengeschichten verankerte Werke und zugleich als klassisch-zeitlos gewordene Artefakte. Die verschiedenen Formen der Bauhaus-Rezeption an der heutigen Bauhaus-Universität Weimar werden im Beitrag von Annika Eheim und Jannik Noeske aus einer studentischen Binnensicht kritisch analysiert und an lokalen Architekturbeispielen erläutert. Das Phänomen der Moderne selbst thematisieren Christof Dipper und Eric Garberson: Ersterer vertritt die Vorstellung einer Kulturschwelle um 1900, wobei die einsetzende (ästhetische) Moderne von den Zeitgenoss*innen diametral als Fluch oder Segen gedeutet wurde. Garberson fragt, ob es sich bei der modernen Architektur um einen Zeitstil entsprechend älterer Epochenstile handelt oder ob sie – gemäß dem Anspruch der Protagonisten – als zeitlos gültiges Phänomen außerhalb dieses Stilkonzepts steht. Indem er die Stilepochenfolge als historisches Konzept liest, kann er die Gegenüberstellung von Rückgriff und Kontinuitätsanspruch selbst als Teil dieser historischen Sichtweise offenlegen.

Ein heute vergessener Schriftsteller, Eugen Wolff, prägte 1886 den Begriff Moderne, um das ästhetisch absolut Neue, Vorbildlose seiner literarischen Gruppe hervorzuheben. Heutzutage gehöre es nämlich »zu den Aufgaben des Dichters der Gegenwart«, deren Kennzeichen »die täglich mehr an Boden gewinnende Weltanschauung« sei (ein Produkt der idealistischen Philosophie, der Entschlüsselung der Natur und technisch ermöglichte Kulturleistungen), »der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen«. Das »höchste Kunstideal« könne darum »nicht mehr die Antike« sein, »sondern die Moderne«.1 Der Neologismus durchbrach jedoch schon bald die Grenzen der ästhetischen Diskurse, denn er brachte offensichtlich das Zeitgefühl einer insgesamt erreichten Kulturschwelle derart perfekt zum Ausdruck, dass er fast über Nacht Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand und ihn deshalb der Brockhaus schon 1895 aufnahm und dadurch gewissermaßen beglaubigte. So hieß es dort: »Moderne: Bezeichnung für den Inbegriff der jüngsten socialen, litterarischen und künstlerischen Richtungen«. Tatsächlich machte der Begriff eine wechselhafte, bis heute anhaltende Karriere, während seine Erfinder längst vergessen sind.2 Der neue Begriff Moderne sollte den Menschen das Bewusstsein vermitteln, in einer wirklich neuartigen Zeit zu leben, und er gab dieser gleich den Namen. Das ganz Neue konnte sehr Verschiedenes bedeuten: in materieller Hinsicht zweifellos, dass sich Technik und Wissenschaft und als Folge davon die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse massiv veränderten; auch die politischen Bedingungen modernisierten sich, wenngleich bedächtiger. Entwickelten sich die Dinge nun zum Schlechteren oder Besseren? Das war die große Frage und so nahmen die Ideenkonflikte um 1900 signifikant zu und spalteten die europäischen Nationen. Man musste neue Antworten finden. Wie ein Sprengsatz wirkte jene, die dem bisher vorherrschenden heroischen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts die neue Erkenntnis vom Preis dieser Fortschritte gegenüberstellte: die radikale Kulturkritik. Sie war dem traditionellen Konservatismus überlegen, da sie nicht das Rad der Geschichte bloß zurückdrehen wollte, und drängte diesen an den Rand. Den Anfang hatte Friedrich Nietzsche gemacht. Die spannungsgeladene europäische Ideengeschichte zwischen 1890 und 1930 kann hier nur in einem kleinen räumlichen und zeitlichen Ausschnitt skizziert werden. Er beginnt mit einem damals verbreiteten Urteil über die Gegenwart, kommt dann auf zeitgenössische Diagnosen und Vorschläge für vier damals als neu erachtete Themenbereiche zu sprechen und bemüht sich dabei, Zuversicht wie Widerspruch zu Wort kommen zu lassen. Den Schluss bildet die Zäsur des Ersten Weltkrieges, der einen Kultur- und Bürgerkrieg auslöste. Die Leitfrage richtet sich also auf die Sinnstiftung dessen, was die Zeitgenoss*innen um 1900 tagaus, tagein erlebten und was sie darin von jenen früherer Zeiten unterschied – und sie daher umso mehr unserer eigenen Gegenwart näherbringt.

Euphorie und Panik. Die Moderne und ihre Zeitdiagnosen um 1900

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Christof Dipper

Technik Beginnen wir mit der Materie, die herkömmlicherweise am ehesten mit der Moderne assoziiert wird, der Technik. Um 1900 war Technik ein großes Thema, denn in einem massiven Schub verwandelte sie damals nicht nur Werkzeuge und Industrie, sondern eben auch das tägliche Leben und folglich waren alle von ihr betroffen; genannt

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Zeitdiagnosen In der Forschung hat sich seit Langem eingebürgert, die wilhelminische Zeit unter geistesgeschichtlichem Gesichtspunkt als eine von Kulturpessimismus beherrschte Epoche zu sehen. Sie passt sich damit in den (angeblichen) Sonderweg der deutschen Geschichte ein und steht in direkter Verbindung zum Untergang der Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus,8 dem lange Zeit Moderneverweigerung nachgesagt wurde. In der Tat stößt man nicht nur auf manche persönliche Kontinuität, sondern immer wieder auf überraschende, ja verstörende programmatische Nähe. Auch nach der weitgehenden Abkehr der Geschichtswissenschaft von den Interpretamenten Sonderweg und nationalsozialistische Antimoderne beherrscht die Kulturkritik den Blick auf die Zeit um 1900, und zwar einfach deshalb, weil die Quellen ganz überwiegend diese Perspektive bieten. Das liegt am gebildeten Bürgertum, das die allermeisten Zeugnisse produzierte und dort seine »kulturelle Enteignung«9 lautstark beklagte. Sie ist geschichtlich unzweifelhaft nachgewiesen, aber nur Teil der Wahrheit. Die historische Gerechtigkeit gebietet es einfach, auch über die anderen, das heißt positiven, Zeitdiagnosen zu berichten, gerade weil sie über keine so leicht greifbaren Gesamtdarstellungen verfügen wie die Gegenseite10 und weil ihre damaligen Heroen oft weniger prominent und vielfach vergessen sind. Dieser Vergleich ist, soweit ich sehe, bisher nicht unternommen worden und kann daher hier nur mit Vorbehalt präsentiert werden. Unabhängig davon muss jedoch betont werden, dass beide Grundhaltungen – Zuversicht und Kulturkritik – modern sind.11 Wir werden sehen, dass die meisten Themen negative wie positive Resonanz ausgelöst haben.

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Selbstverortung in der Geschichte Kaum war 1886 Moderne als Programm formuliert, sahen sich die ersten Beobachter*innen als Angehörige einer »Generation von Übergangsmenschen«3. Verbreitet war die Ansicht, dass man in einen neuen Abschnitt der Geschichte eingetreten war, und viele, vom Kaiser4 bis zum Geistlichen5, sprachen von einer Übergangszeit, die zum Umdenken zwinge. Der Herausgeber des maßgeblichen enzyklopädischen Großwerkes Die Kultur der Gegenwart, Paul Hinneberg, schrieb 1906: »Unsere Zeit ist eine Zeit des Übergangs, eine Epoche des Suchens und Tastens nach neuen, zeitgenössischen Lebensund Bildungsidealen. Dieser Zug geht, seit länger als einem Jahrzehnt, durch alle Gebiete der Kultur. In der Wissenschaft hat das die vorigen Generationen charakterisierende Gefühl der Zuversicht, mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung die letzten Rätsel des Daseins lösen zu können, vielfach einer der Grenzen des Erkennens sich wieder bewußter werdenden kritischen Stimmung Platz gemacht.«6 Auf eine griffige Bilanz brachte es für 1913 der Historiker Karl Lamprecht: »Im ganzen sind wir also in einer Übergangsperiode begriffen.«7 Was gleich nach 1918 zur »guten alten Zeit« hochstilisiert wurde, war für die Mitlebenden anstrengende Gegenwart voller widersprüchlicher Neuigkeiten wie etwa Lebensreform und Technikeuphorie, Impressionismus und Denkmalpflege, Frauenbewegung und Hurrapatriotismus, Eugenik und Weltstadtvergnügen, Selbstoptimierung und Neurasthenie. Übergang meinte vieles und verunsicherte darum die einen, während andere aus ihm Hoffnung schöpften. Dazu nun die angekündigten vier Beispiele.

Viel heftigere Debatten löste der Umbruch im Kunstbetrieb aus, wo sich infolge der ab 1880 deutlich werdenden Ausdifferenzierung des kulturellen Lebens als eigenes Subsystem mit allmählicher Emanzipation von den traditionellen Mäzenen Staat beziehungsweise Herrscherhäuser und Kommunen die Kultur der Moderne zu entfalten begann.15 Eine wesentliche Triebkraft wurde der »Reiz der Häresie«16, das heißt ein Bruch ästhetischer Normen, die im Unterschied zu früheren nun immer rascher überboten wurden. Eine oppositionelle und damit in diesem Sinne moderne Kunstrichtung war die Sezession, ihr folgten in immer rascherem Wechsel weitere Schulen. Die Expressionisten nannten sich sogar Avantgarde, wurden alsbald ihrerseits von anderen Avantgarden, ja Futuristen überholt17 und so geriet schließlich der Kunstbegriff selbst unter Verdacht. Marcel Duchamps Readymade von 1913 ist vielleicht das bis dahin sinnfälligste Beispiel für den Wunsch, dass Kunst jetzt von den Kunstschaffenden definiert wird. Anders als die Ingenieure waren sich die Künstler*innen uneinig. Gerade das gehörte zur Modernität der Kunst, deren Urheber*innen, da immer öfter nicht mehr von Aufträgen lebend, sich also nicht an den Mächtigen, sondern an anderen Künstler*innen orientierten – positiv oder negativ. Daher brachte die Moderne in der Kunst einen hohen Bedarf an Manifesten und Programmen hervor, um sich im Blick auf den Markt von anderen abzusetzen.18 Das machte dem kulturkritischen Publikum den Angriff auf die Avantgarden noch einfacher. Es erwartete vom Kunstwerk nach wie vor innerweltliche Erlösung,

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Kunst

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seien nur elektrisches Licht, Motorisierung, vor allem aber Telefonieren und Fliegen als gänzlich neue Errungenschaften. Gerade die Veralltäglichung der Technik erfüllte aber viele Gebildete mit Besorgnis und so vergrößerten sie jetzt noch den seit Langem gepflegten Abstand zur Technik und ihren Urhebern. In den Worten des Elektrotechnikers und Physikers Friedrich Dessauer, wegen seines philosophischen Interesses eine Ausnahmefigur unter den Ingenieuren, klang das folgendermaßen: »Man brauchte natürlich Techniker; aber sie waren und blieben dienenden Ranges. So […] dachte die gebildete Welt«.12 Die »gebildete Welt« dachte außerdem an Goethes Zauberlehrling, wenn sie über Technik reflektierte: Die einmal entfesselte Technik werde zurückschlagen und sei darum für die Menschheit eher Fluch als Segen. Walther Rathenau sprach 1912 von der »Mechanisierung« (so nannte er die technische Seite der Moderne) als unausweichlichem Schicksal, deren Preis die Abhängigkeit von maschinenmäßigen Systemen sei. Kulturell bedeutete das unaufhaltsamen »Niedergang der alten Herrenrasse«, das heißt des selbstbestimmten, schöpferischen Menschen.13 Umgekehrt betrachteten die Ingenieure Technik als »Kulturhebel«. Erst sie ermögliche überhaupt die Heraufkunft der modernen Welt und stehe darum mit ihr in denkbar positiver Wechselbeziehung. Damit werteten sich die Ingenieure natürlich zugleich selbst auf. Zu Hilfe kam ihnen dabei die 1899 eröffnete Möglichkeit zur Promotion. Nun war es nur noch ein kleiner Schritt zur Distinktionsstrategie. Das Bildungsbürgertum stellte nicht länger die wichtigste Referenz dar und so ersetzte man mit dieser Absage den theoriegeleiteten Ingenieur durch den Erfinder, dem damit eine geradezu archetypische anthropologische Qualität zuerkannt wurde. Der Ingenieur galt nun als der »Mann der Tat par excellence«, ja er bekam teilweise geradezu den »Status des Ausnahmesubjekts der Moderne«, insofern er mit dem Künstler als Schöpfer par excellence in Beziehung gesetzt wurde, was bei dem technisierten Kunstbegriff nach 1900 keine Seltenheit war.14 Der mechanisierte Weltkrieg sollte dann aber Technik und Ingenieure in Verruf bringen, die Kulturpessimisten sahen sich bestätigt.

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Religion Mit der um 1890 beginnenden Industriemoderne im Deutschen Kaiserreich kam, wie gesagt, sehr viel Neues in die Welt. Zu den wichtigsten und bis heute unverändert wirksamen Begleiterscheinungen gehört die sich nun rapide öffnende Kluft zwischen Wissenschaft und Leben. Sie wurde den Menschen schon bald bewusst. Die Zeit um 1900 hallt wieder von Klagen über diese »Spaltung« und so bemühten sich bildende Kunst, Literatur und Philosophie (und zu ihr muss man auch den marxistischen Erlösungsgedanken rechnen) um Wiederherstellung der Ganzheit – was immer sie unter dieser nunmehr zur Utopie gewordenen Vorstellung verstanden. Mehr als diese Disziplinen, nämlich existentiell betroffen war natürlich die Religion. Biblisches und naturwissenschaftliches Weltbild passten überhaupt nicht mehr zueinander. Denn seit Darwin »sind wir zu der Annahme berechtigt, daß auch der Mensch weder als eine gewappnete Minerva aus dem Haupt des Jupiters entsprungen, noch als ein erwachsener sündenfreier Adam aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist, sondern sich nur äußerst langsam und allmählich aus dem primitiven Zustande thierischer Rohheit zu den ersten einfachen Anfängen der Cultur emporgearbeitet hat«.23 Der Autor, Deutschlands berühmtester Biologe, bestritt damit die Schöpfungsgeschichte und sah deshalb auch die Stellung des Menschen in der Natur völlig neu. Seine Wirkung befand sich um 1900 auf dem Höhepunkt; 1904 wurde er vom Internationalen Freidenkerkongress in Rom zum »Gegenpapst« ausgerufen. Angesichts der vielgestaltigen Ratlosigkeit um 1900 ist es kein Wunder, dass »die Religion ein zentrales Thema öffentlicher kulturpolitischer Diskurse und akademischer Debatten«24 war, denn damals pflegten sämtliche weltlichen Lebensordnungen im Medium der Religion verhandelt zu werden. Die Kirchen waren damit jedoch überfordert und so diagnostizierte Ernst Troeltsch 1912 eine »schwere Religionskrisis«25, weil sich Sekten, esoterische Literatenzirkel, Lebensreformkulte, Buddhisten, materialistische Freidenkerbünde und völkisch-neugermanische Neureligionen viel produktiver an den Basisprozessen der Moderne abarbeiteten, das heißt, ganzheitliche Angebote zur Lebensbewältigung entwarfen. Die protestantischen Landeskirchen dagegen bezahlten ihre privilegierte Stellung mit geistigem Immobilismus von solcher Art, dass selbst Pfarrer dies öffentlich kritisierten und der Jenaer Diederichs-Verlag mit dem »Aufbau neuen religiösen Lebens«26, so der Verlagsalmanach 1910, ein florierendes Geschäftsmodell, eben die »Verlagsreligion«27, entwickeln konnte. Natürlich handelte es sich dabei um eine »vertiefte, dogmenlose Religion«28, wie sie seit Langem erhofft und entworfen, aber um die Jahrhundertwende nun auch tatsächlich und öffentlich gelebt wurde.

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die seit den 1890er-Jahren für viele nur noch im nationalen Rahmen als erreichbar galt. Nun war es möglich, Kunst nicht nur ästhetisch, sondern auch als undeutsch abzuqualifizieren19 und umgekehrt Ausnahmekünstler einzudeutschen – Shakespeare und Rembrandt zum Beispiel.20 Noch moderner war es, Kunstwerke, ja ganze Gesellschaften mithilfe der neuen humanmedizinischen Leitwissenschaft Biologie rassenbiologisch zu stigmatisieren, wie es Max Nordau als erster tat: »Die für fin-de-siècle geltenden Literatur- und Kunstrichtungen und Moden« seien nichts als »Entartung und Hysterie«.21 Die Neue Secession (1910) und der Blaue Reiter (1911) stellten die bildungsbürgerliche Akzeptanz der modernen Kunst auf eine neue schwere Probe. Für die Mehrheit bedeutete solches den Untergang des Abendlandes. Der Autor dieses 1914 begonnenen Bestsellers sah jedenfalls nur noch markthörige »betriebsame Macher und lärmende Narren« am Werk und schloss daraus, »daß es mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist«.22

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Kapitalismus Die Sozialdemokrat*innen waren vor allem deshalb von kulturkritischen Perspektiven auf die Gegenwart frei, weil sie fast als einzige von einer besseren Zukunft überzeugt waren. Die kapitalistische Gegenwart war für sie auf jeden Fall zum Untergang verurteilt. Zwar beklagte ab Mitte der 1890er-Jahre Eduard Bernstein, mit ihrer Orientierung am Klassenkampf unterschätze die SPD Kraft und Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, aber das Erscheinen des dritten Bandes von Marx’ Kapital (1894) bestärkte die Parteiführung noch einmal in ihren hergebrachten Ansichten. Die Sozialist*innen waren es denn auch, die bis dahin fast als einzige vom Kapitalismus als Begriff für Gegenwart schlechthin sprachen. Das änderte sich kurz nach der Jahrhundertwende. Werner Sombarts bahnbrechendes Buch von 1902, Der moderne Kapitalismus, und Max Webers nicht minder bedeutsame Schrift von 1904, Die protestantische Ethik und der »Geist des Kapitalismus«, eröffneten die Diskussion um die Rolle des Kapitalismus in der Moderne, die im ab 1904 erscheinenden Archiv für Soziologie und Sozialpolitik das wichtigste Organ für den Meinungsaustausch über die Theorien und Konzepte der industriekapitalistischen Durchdringung aller Lebensordnungen fand.40 Dass der Kapitalismus, wie Troeltsch 1913 schrieb, »der eigentliche Beherrscher des Jahrhunderts«41 sei, war dort allgemeine Ansicht. Ob das gut oder schlecht war, darum drehte sich der Streit. Jüngere Soziologen und Ökonomen sahen ihn positiv, weil er letztlich die Nation stärke, jedenfalls wenn die politische Integration der Arbeiterschaft

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Die Lage stellte sich darum für die dogmatisch erstarrten und bürokratisierten Kirchen fatal, für die anderen Religionsproduzierenden vielversprechend und für die »Weltanschauungshungrigen«29 eher verwirrend dar. Was Erstere betrifft, so sah Troeltsch 1913 keinen Grund zur Hoffnung: »Bei den Beharrungsmächten, den alten Kirchen, hat sich nichts wesentlich Neues ereignet. Es ist die alte Geschichte: Kämpfe gegen Modernismus, Liberalismus, Anstrengungen, um den Schutz der Staatsmächte zu gewinnen, Versuche der Staaten, sich dem zu entziehen.«30 Dagegen hatten, den Auflageziffern nach zu schließen, die darwinistisch oder neoidealistisch vorgehenden Religionsstifter großen Zulauf31 und ebenso die Propheten nationaler Erneuerung32. Welche religiösen Erwartungen hatten denn nun die »Weltanschauungshungrigen«, die ihnen die Kirchen nicht boten? Letztlich nichts Geringeres als metaphysische Geborgenheit, das heißt »Wiederverzauberung«, Überwindung der Entzweiung von Ich und Welt, von Bewusstsein und Sein und damit zugleich eine Religion, die nicht mehr nur, modern formuliert, bloßes Subsystem im kulturellen Gesamthaushalt ist, sondern wieder »alles« erklärt, bindet, regelt. Und die Millionen Anhänger*innen der Sozialdemokratie? Nachdem die Partei in den 1890er-Jahren stillschweigend ihre revolutionäre Naherwartung begraben hatte,33 wurde Deutschlands prominentester Darwinist, Ernst Haeckel, zum gerne gelesenen Künder der naturalistischen Weltanschauung,34 die sich auf die neue Trinität des Guten, Wahren und Schönen beschränkte und das mit Goethes Worten absicherte;35 Goethe war darum auch der von Arbeitern am meisten gelesene Autor.36 Ihre Fragen zur Zukunft beantwortete dagegen August Bebel, der mit seinem mehrfach aktualisierten Bestseller Die Frau im Sozialismus37 namentlich der jungen Generation eine Art Bibel lieferte, die zwar nicht unfehlbar zu sein beanspruchte, aber mit ihren gerne geglaubten Prognosen irdische Zuversicht versprühte.38 Mit dem »leibhaftigen Evangelium des Menschenglücks auf Erden«39 in der Hand konnten Benachteiligung und Verfolgung den Anhänger*innen der SPD wenig anhaben, sie zählten zu den optimistischsten Teilen der kaiserzeitlichen Gesellschaft.

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Retter in der Not Natürlich entwickelten die von der Moderne Verunsicherten Programme, in denen sie den Weg der Rettung beschrieben. Diese Programme können inzwischen als gut erforscht gelten. Sie glichen sich insofern, als sie zumeist rückwärtsgewandte Utopien entwarfen, also die Umkehr in eine imaginierte Vergangenheit. Das propagierten Utopien freilich schon immer. Neu war dagegen, dass viele dieser Rettungsentwürfe ohne eine Retterfigur nicht auszukommen glaubten. Diese Personalisierung ist eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts, genauer: Sie entstammt Thomas Carlyles Heroismus, der dem oberflächlichen Zivilisationsoptimismus seiner Zeit, der einem selbstläufigen Fortschrittsdenken verpflichtet war, »das Evangelium der schöpferischen Tat«47 entgegensetzte. Die Tat avancierte im wilhelminischen Deutschland überhaupt zu einem Wert an sich, vorzugsweise bei den Kritiker*innen von Kultur und Gesellschaft. So veröffentlichte der Hannoveraner Privatdozent Theodor Lessing 1914 eine zweibändige Philosophie als Tat, in der er sich zum Aktivismus bekannte und der Philosophie ein Existenzrecht nur als praktische Wissenschaft der bewussten Gestaltung und Verbesserung des Lebens zugestand.48 Auch der Philosoph Rudolf Eucken empfahl seinen Landsleuten nach Niederlage und Revolution Tatkraft.

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gelinge. In seiner Ablehnung waren sich dagegen Sozialdemokraten und Kulturkritiker einig. Aber während erstere seine Selbstzerstörung erwarteten, riefen letztere nach dem Staat oder appellierten an die »gesunden Volkskräfte« zur Eindämmung, wenn nicht gar Beseitigung von »Großkapital, Großindustrie, Großhandel« im Interesse von Moral und Mittelstand.42 Den Nerv der Zeit traf Sombart mit seinem 1911 erschienenen Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben, seine »trianguläre Verknüpfung von ›Judentum‹, ›Kapitalismus‹ und ›Moderne‹«43 verhalf dem Antisemitismus zu einer Scheinrationalität, die ihn bis heute kennzeichnet. Außerhalb der Gelehrtenwelt und der Sozialdemokratie blieb Kapitalismus als Oberbegriff für die Deutung beziehungsweise Korrektur der Gegenwart wenig gebräuchlich, da seine moralische Verdammung vom Geld zu sprechen verlangte, das mittlerweile herrsche. Das änderte sich durch Krieg und Revolution. 1922 konnte Troeltsch mit gutem Recht feststellen: »Die Welt ist anders geworden als sie war, […] angelsächsisch, völlig kapitalistisch und gefaßt auf neue imperialistische Weltkämpfe.«44 Schon 1919 hatte Graf Keßler in seinem Tagebuch notiert, »Klerikalismus, Bolschewismus und Kapitalismus« samt seinen »Ausgeburten Militarismus und Imperialismus« seien die drei mächtigen Ideenkomplexe, die sich um Deutschland streiten.45 Positiv gemeint war das natürlich nicht, die Kulturkritik fühlte sich bestätigt und rief zum Endkampf auf. Oswald Spengler verstand den Kapitalismus mit seiner »Diktatur des Geldes« als schlechthin finale Herausforderung. »Der letzte Kampf […], in welchem die Zivilisation ihre abschließende Form erhält: der Kampf zwischen Geld und Blut«, sei unausweichlich, wenn die Welt vor Kapitalismus und Demokratie gerettet werden wolle.46 Diese antikapitalistische Rhetorik griff der Nationalsozialismus sogleich auf und sollte damit in der Weltwirtschaftskrise Erfolg haben. Unter dem Rubrum Euphorie und Panik könnten selbstverständlich noch weitere Basisprozesse, namentlich die Pluralisierung der Gesellschaft und Demokratisierung der Politik, in den Blick genommen werden. Aber auch so dürfte deutlich geworden sein, dass die Zuversicht so vieler Zeitgenoss*innen von den Klagen lautstarker Teile der kaiserzeitlichen Gesellschaft, die von den neuartigen Problemkonstellationen verunsichert waren, übertönt wurden. Von wem die Verunsicherten sich Abhilfe erhofften, soll der nächste Abschnitt zeigen.

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Bilanz und Ausblick Robert Musil notierte in den 1920er-Jahren voller Ironie: »Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee.«60 Der präzise Beobachter der Moderne erklärte damit ein Stück weit die Zunahme der Weltanschauungskonflikte, denn in der Umbruchszeit um 1900 traten neben die hergebrachten Weltbilder, Wissensformen und kulturellen Praktiken gänzlich neue oder bisher marginalisierte, die sich nun vernehmbarer artikulierten. Die Diskurse wurden vielstimmiger und dieser neuartige Pluralismus störte, ja verunsicherte vor allem die bisherigen Inhaber der kulturellen Deutungshoheit, die Gelehrten, ja überhaupt das Bürgertum, und erklärt wie gesagt das Übergewicht der kulturkritischen Stimmen. Die kulturelle Reichweite der Klagen war folglich enorm, sie darf aber nicht mit der sozialen in eins gesetzt werden. Neben Endzeitstimmung gab es auch konstruktive Auseinandersetzung mit der Moderne und natürlich nach wie vor platten Fortschrittsoptimismus, aber die Zuversichtlichen artikulierten sich wie üblich weniger lautstark als die sich bedroht fühlenden Kulturpessimisten. Der 1914 ausgerufene »Kulturkrieg«61 richtete sich naturgemäß vor allem gegen das Ausland, aber die nationale Konnotation von Kultur sah schon lange auch im Inne-

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»Einen Sinn« könne man der derzeitigen Lage nur abgewinnen, wenn man bereit sei, ihr »das Reich eines schaffenden Weltwillens entgegenzusetzen«. Gutmenschentum, um es in heutiger Sprache auszudrücken, helfe nicht: »In unserem menschlichen Zusammensein siegt nicht das Ansichgute und Ansichwahre, sondern […] es siegt das Kraftvolle, namentlich das Willenskräftige.«49 Es passt darum auch in die Zeit, dass 1909 eine Zeitschrift mit dem Titel Die Tat zu erscheinen begann und Diederichs sie 1912 erwarb. Er verhalf ihr nach dem Krieg mit einem breiten modernekritischen Programm zu erheblichem Erfolg.50 Keine Tat ohne Täter. Rettung versprachen sich die Sorgenvollen und Verzweifelten weniger von Programmen noch von Organisationen als von charismatischen Heilsbringern. Und diese fanden sich zu Hauf. Von Haeckels eher ironischer Ausrufung zum »Gegenpapst« war bereits die Rede. Eucken galt spätestens nach dem Nobelpreis 1908 seinen Anhänger*innen als »Prophet«51, nicht anders Paul de Lagarde, obwohl längst gestorben,52 während Stefan George sich als »Meister« ansprechen ließ; das passte natürlich zu seinem effektvoll inszenierten Antimodernismus.53 Und dann taucht immer öfter ein Wort auf, das bis 1900 in keinem Lexikon zu finden war: Führer.54 Der aus dem Englischen übernommene Terminus eignete sich besonders für eine charismatische Rolle, weshalb denn auch Bebel seinen Genoss*innen gleich einschärfte: »Eine Partei ist nicht der Führer wegen da, sondern die Führer der Partei wegen.«55 Aber die Kombination mit Charisma ließ sich nicht unterdrücken. So verlangte der Vorsitzende der rechtsradikalen Vaterlandspartei, Heinrich Claß, 1912 in seiner Abrechnung mit dem politischen System einen von Parteien, Bürokratie und Verfassung unabhängigen »Kaiser als Führer«56; 1913 bezeichnete der schriftstellernde Pfarrer Max Christlieb sein Idol Lagarde als »rechte[n] Führer und Wegweiser«57 und nach dem Krieg – das heißt nachdem Max Weber in seine Herrschaftssoziologie die »plebiszitäre Führerdemokratie«, die charismatische Führerpersönlichkeit »mit ›Maschine‹« also,58 eingeführt und damit den Begriff enorm aufgewertet hatte – wurde nun auch Eucken vom eben gegründeten Euckenbund, in dem sich »die Streiter für die geistige Tatwelt« versammelten, zum »geistigen Führer unserer Zeit«59 erklärt. Das Rennen um den »Führer« sollte dann ein anderer machen, der sich im Unterschied zu den hier Genannten auch selber dafür hielt und sich als solcher inszenierte.

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ren Feind*innen. So waren Wissenschaftler und solche, die sich dafür hielten, längst als »Experten zur Herstellung von Deutschen«62 und verlangten am Werk die Entfernung alles »Undeutschen«. Noch gelang es dem Obrigkeitsstaat, die Spannungen unter Kontrolle zu halten, aber Revolution und Niederlage destabilisierten die Lage vollends und radikalisierten die Gemüter der sich kulturell bedroht, wenn nicht rundheraus enteignet Fühlenden. Für die in diesem Beitrag näher betrachteten vier Gegenstandsbereiche hatte das unterschiedliche Folgen, denn obwohl alle national aufgeladen werden konnten, sorgten in einigen von ihnen Experten − dieser seit circa 1900 begegnende, nicht auf Deutung, sondern Problemlösung akademisch trainierte Sozialtypus − dafür, dass der Diskurs nicht völlig entgleiste. Paradebeispiel ist vielleicht die Technik, der Inbegriff der als bedrohlich empfundenen Moderne, wo die entstehende Techniksoziologie die spezifische Rationalität des Maschinenwesens darzulegen begann,63 was Ingenieure und Gebildete nicht daran hinderte, die Technik durch ihre Einbettung in die als überlegen betrachtete deutsche Kultur zugleich aufzuwerten und zu domestizieren; dem Staat maßen sie dabei eine entscheidende Rolle zu.64 Was den Kapitalismus betrifft, so steuerte ihn der Staat seit 1914 mit fester Hand und verlieh ihm dadurch eine deutlich andere Gestalt als zuvor; erst recht verschob der Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierung die Fronten. Als Ende der 1920er-Jahre die Möglichkeit seiner Selbstzerstörung am Horizont auftauchte, optierte die Mehrheit der Deutschen für seine Rettung, nicht seine Überwindung. Anders verhielten sich die Dinge im Falle der Religion. Die um 1900 bemerkenswert hohe Religionsproduktivität verlor jedenfalls nach 1918 ihre Dynamik, ohne dass allerdings die protestantischen Amtskirchen davon nennenswert profitiert hätten. Denn es war der Nationalismus, die wichtigste Integrationsideologie der bürgerlichen Gesellschaft und folglich vielen als Letztbegründung gegenwärtiger Existenz dienend, der zunehmend in die Lage kam, die metaphysischen Bedürfnisse namentlich der Protestant*innen zu befriedigen; die vom Protestantismus bevorzugte Gesinnungsethik erleichterte vielen diesen Schritt. Beispielhaft ist vielleicht die Biografie Max Maurenbrechers, eines Pfarrers, der nacheinander im Nationalsozialen Verein, bei der SPD, den Freireligiösen und Monisten war, aber 1917 wieder in die Sächsische Landeskirche zurückkehrte und 1930 ein Buch über den Heiland der Deutschen veröffentlichte, in dem Pazifismus, Mitleid und Individualismus zum Satanswerk erklärt werden.65 Genützt hat das dem Protestantismus nichts. Auch im Falle von Kunst, Literatur und Musik kam es nach 1918 zu keinerlei Versöhnung, im Gegenteil: Moderne und Tradition waren in schwere Konflikte verwickelt. Das führte dazu, dass die Alternative Euphorie und Panik nicht mehr nur sprachlich verhandelt wurde. Selbst der Euckenbund machte in seinem Gründungsaufruf im selben Jahr deutlich, dass das philosophische Integrationsprogramm des Professors bei seinen Anhänger*innen in Feindbildproduktion umgeschlagen war: »Um unseren Führer geschart wollen wir siegen. […] Zum Sturmangriff auf die feindlichen Stellungen! Stehe jeder auf seinem Posten in Wehr und Waffen, allzeit bereit für des Gottesreiches Herrlichkeit. Mit unserem Führer durch Krieg zum Sieg!«66 Aus Sätzen wie diesen spricht der Kompetenzverlust der frustrierten Gebildeten, die inzwischen vier Jahre Schützengraben hinter sich hatten und nun zum Kampf aufriefen. Die Rolle dieser Konflikte für die Destabilisierung der Republik war enorm. Die Machtergreifung der Nationalsozialist*innen erfolgte nämlich nicht nur in einem Klima des Bürger-, sondern, was gerne übersehen wird, auch eines regelrechten Kulturkrieges. Die Parole lautete: »Wiedergeburt der ›deutschen Kultur‹«, die trotz aller An-

6 Paul Hinneberg: »Vorwort«. In: Wilhelm Lexis (Hg.): Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart. Berlin 1906, S. IX. 7 Karl Lamprecht: »Neue Kulturgeschichte«. In: David Sarason (Hg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung. Leipzig / Berlin 1914, S. 449–464, hier: S. 450. 8 Maßgebliche Urheber dieses Bildes in der Forschung waren die Dissertation von Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair [1953], gedruckt 1961, in deutscher Übersetzung (Kulturpessimismus als politische Gefahr) 1963 erschienen, und die Freiburger Habilitationsschrift [1960] von Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1962. 9 Dieter Langewiesche: »Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert«. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989, S. 95–121, hier: S. 112. 10 Frank-Lothar Kroll betonte verdienstvoll die modernen Seiten des Kaiserreiches, blendete aber die erheblichen Ideenkonflikte weitgehend aus: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013. 11 Georg Bollenbeck wies wohl als erster darauf hin, dass die Kulturkritik »ein unterschätzter Reflexions-

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Anmerkungen 1 [Eugen Wolff]: »Thesen [der Freien litterarischen Vereinigung Durch!]«. In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes. Wochenschrift der Weltlitteratur, Nr. 51, 1886, unter: http://www.lyriktheorie.uni-wuppertal.de/ texte/1886_anonym.html (letzter Zugriff: 25.05.2020). 2 Näheres dazu einschließlich Belegen bei Christof Dipper: »Moderne, Version: 2.0« [17.01.2018]. Unter: http://docupedia.de/zg/Dipper_moderne_v2_ de_2018 (letzter Zugriff: 18.11.2019). 3 Hermann Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation. Eine zeitpsychologische Betrachtung. Leipzig 1889, zitiert nach Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Band 1. Weinheim / München 1986, S. 9. 4 »›Wir leben in einem Übergangszustande‹. Ansprache beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, 24.2.1892«. In: Ernst Johann (Hg.): Reden des Kaisers. München 1977 (2. Auflage), S. 56–58, hier: S. 57 5 »Wir stehen in einer Zeit, da die Menschen nach neuen Lösungen der alten, schweren Lebensfragen sich umsehen«. W. H.: »Rez. von K. König, Rhythmus, Religion, Persönlichkeit, Jena 1908«. In: Die Hilfe, Nr. 1, 1910, S. 15.

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strengungen der Gegnerschaft kultureller Modernität bislang nicht gelungen war, und machte den Nationalsozialismus für das Gros der Gebildeten überhaupt erst akzeptabel, denn mit ihr knüpfte er – scheinbar – an die »gute alte Zeit« vor 1900 an. Die Bücherverbrennung vom Mai 1933, das symbolträchtigste Ereignis, begrüßten die meisten als überfällige Befreiung von den Zumutungen der kulturellen Moderne. So hatte sich bei den Anhänger*innen der Panik schließlich sogar Euphorie eingestellt.

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Entwickelungslehre. Bonn 1902 (2. Auflage), S. 1–34, hier: S. 28. 24 Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter, Religion in der modernen Kultur. München 2004, S. 133. 25 Ernst Troeltsch: »Die Religion im deutschen Staate«. In: Ders.: Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Band 2. Tübingen 1912, S. 68–90, hier: S. 72. 26 Zitiert nach Gangolf Hübinger: »Eugen Diederichs«. In: Alf Christophersen / Friedemann Voigt (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München 2009, S. 169–182, hier: S. 170. 27 Friedrich Wilhelm Graf: »Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlags«. In: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996, S. 243–298. 28 Diederichs an Arthur Bonus, 31.10.1901, zitiert nach Justin H. Ulbricht: »Wider das ›Katzenjammergefühl der Entwurzelung‹. IntellektuellenReligion im Eugen Diederichs-Verlag«. In: Buchhandelsgeschichte 1996., Tl. 1, S. B111–B120, hier: S. B115. Der skeptische Troeltsch sprach unter Hinweis auf die »Propheten« Maurice Maeterlinck und Leo Tolstoi von einem »dogmen- und kirchenfreien Christentum, das freilich eine wesentlich literarische Existenz führt«. Ernst Troeltsch: »Das 19. Jahrhundert, Abschn. 5: Die Kulturkritik des Jahrhundert-Endes« [1913]. In: Hans Baron (Hg.): Ernst Troeltsch. Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 641–649, hier: S. 643. 29 Wilhelm Windelband sprach in seiner Heidelberger Festansprache 1910 vom allenthalben zu spürenden »Hunger nach Weltanschauung«. Zitiert nach Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 2013, S. 101. Diese Prägung »wurde schon bald zu einer stehenden Redewendung« (ebd). 30 Ernst Troeltsch: »Religion«. In: David Sarason (Hg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung. Leipzig / Berlin 1914, S. 533–549, hier: S. 536. 31 Von Ernst Haeckels 1899 erschienenen Welträthseln war die erste Auflage binnen Monatsfrist vergriffen, insgesamt betrug die deutsche Auflage circa eine halbe Million und wurde in 30 Sprachen übersetzt, Rosemarie Nöthlich (Hg.): Ernst Haeckel – Wilhelm Bölsche, Briefwechsel 1887–1919, Band 1. Berlin 2002, S. 118, Anm. 202. Wilhelm Bölsches Abstammung des Menschen von 1904 verzeichnete eine Gesamtauflage von 160.000 Exemplaren. Rudolf Eucken war ohnedies Erfolgsschriftsteller, 1920 gründete sich gar ein Euckenbund, dessen Mitteilungsblatt erst 1943 eingestellt wurde. Auch der von deutschen Indologen geformte Buddhismus versuchte den Brückenschlag zwischen Naturwissenschaften und Religion. Mehr dazu bei Perry Myers: German Visions of India 1871–1918. Commandeering the Holy Ganges during the Kaiserreich. Houndmills / Basingstoke 2013, insbesondere Kap. II. 32 So wurden von Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher von 1890 im Erscheinungsjahr 30 Auflagen gedruckt, bis 1893 erschienen weitere 13 Auflagen;

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modus der Moderne« ist: Eine Geschichte der Kulturkritik. München 2007, S. 7. 12 Friedrich Dessauer: Streit um die Technik. Frankfurt am Main 1958 (2. Auflage), S. 24 (Erstauflage 1927 unter dem Titel Philosophie der Technik). 13 Walther Rathenau: »Zur Kritik der Zeit« [1912]. In: Ernst Schulin (Hg.): Walther Rathenau. Hauptwerke und Gespräche – Gesamtausgabe, Band 2. München 1977, S. 17–103, hier: S. 70. Vgl. dazu Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1890–1933. Paderborn 1999, S. 85–97. 14 Tanja Paulitz: Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften 1850–1930. Bielefeld 2012, S. 256 und 259. Hervorhebung im Original. 15 Wolfgang J. Mommsen: »Die Kultur der Moderne im Deutschen Kaiserreich«. In: Wolfgang Hardtwig / Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. München 1993, S. 255. 16 Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Frankfurt am Main 2008, S. 24. 17 Die Legenden vom radikalen Traditionsbruch der Avantgarden zerstört Astrit Schmidt-Burkhardt: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarden. Berlin 2005. Durch immer neue genealogische Konstruktionen habe die Kunst dem »Legitimationsdruck der Moderne« zu begegnen gesucht: ebd., S. 17. 18 Beispiele in großer Zahl bei Klaus v. Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955. München 2005. 19 Aus Anlass des Erwerbs von Vincent van Goghs Mohnfeld durch die Bremer Kunsthalle hieß es in Karl Vinnens Manifest Ein Protest deutscher Künstler (Jena 1911), französische Malerei sei »eine große Gefahr für unser Volkstum«. »Zur Höhe gebracht wird ein Volk nur durch Künstler seines Fleisches und Blutes«. Zitiert nach Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 134 und 150. Das Manifest unterzeichneten 140 Künstler*innen, darunter auch Käthe Kollwitz. 20 Vgl. insbesondere den anonym bleibenden Bestseller von Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig 1890. Mehr dazu in Anmerkung 32. 21 Max Nordau: Entartung,Band 1.Berlin 1893 (2.Aufl.), S. 63. Hervorhebung im Original. Die Kehrseite war, dass man damit nun »Normalität« definieren konnte. Eugenik und Gerichtspsychiatrie, im Krieg auch das Militär, griffen das sofort auf. Beispiele bei Werner Sohn / Herbert Mehrtens (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft. Opladen 1999. 22 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [Bd. 1: 1918; Bd. 2: 1922], vollständige Ausgabe in einem Band. München 1963, S. 377. 23 Ernst Haeckel: »Ueber die Entwickelungs-Theorie Darwin’s« [1863]. In: Ders.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der

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41 Ernst Troeltsch: »Das 19. Jahrhundert, Abschn. 4: Kapitalismus und Imperialismus« [1913]. In: Hans Baron (Hg.): Ernst Troeltsch. Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 632–641, hier: S. 632. 42 Daniel Frymann [Heinrich Claß]: ›Wenn ich der Kaiser wär‹. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig 1912, S. 28. 43 Nicolas Berg: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig 2011, S. 9–21, hier: S. 16. 44 Ernst Troeltsch: »Die Amerikanisierung Deutschlands« [Januar 1922]. In: Ders.: Spectator-Briefe, hg. v. Gangolf Hübinger (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 14). Berlin 2015, S. 479–490, hier: S. 484. 45 Vgl. Eintrag vom 07.02.1919 in Angela Reinthal (Hg.): Harry Graf Keßler. Das Tagebuch, Band 7 (1919–1932). Stuttgart 2007, S. 125. 46 Spengler 1963, S. 1193. Spengler rechnete hier mit einem Sieg der Gegner von Kapitalismus und Demokratie und lässt einen Optimismus erkennen, den weder damals noch später kaum jemand bemerkt hat – wohl, weil Spengler »ein Optimist mit Trauerflor« war, wie Ernst Bloch 1921 treffend formulierte. »Spengler als Optimist«. In: Der neue Merkur, Nr. 5, 1921, S. 290–292, hier: S. 291. Blochs Aussage liegt vor dem Erscheinen des zweiten Bandes des Untergangs des Abendlandes. 47 Troeltsch 1913. In: Baron 1925, S. 643. Thomas Carlyle: Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History. London 1841 (in Deutsch erschienen 1893). 48 Theodor Lessing: Philosophie als Tat. Hannover 1914. 49 Rudolf Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart [1893]. Berlin / Leipzig 1920 (6. Auflage), S. 288 und 287. 50 Näheres bei Edith Hanke / Gangolf Hübinger: »Von der ›Tat‹-Gemeinde zum ›Tat‹-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift«. In: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996, S. 299–334. 51 Zitiert nach Graf 1996, S. 81f. 52 Vgl. Max Christlieb: »Paul de Lagarde«. In: Die Tat, Nr. 1, 1913/14, S. 1–4, hier: S. 2. 53 Auch im Bauhaus, das in seinen Anfängen noch etliche Schlacken der Antimoderne aufwies, ließen sich die Professoren als »Meister« ansprechen. 54 Vgl. Ernst Nolte: »Führer«. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2. Basel / Stuttgart 1972, Sp. 1128f., hier: Sp. 1128. 55 Das bezog sich auf den verhassten Johann Baptist v. Schweitzer. Er fügte hinzu: Wenn die Partei »betrogen und auf Irrwege geführt werden soll, ist es nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht, dem Führer die Führerschaft zu entreißen.« August Bebel: Aus meinem Leben, Band 2. Stuttgart 1911, S. 134. So schon 1903 in der Neuen Zeit. Vgl. Cora Stephan [Hg.]: August Bebel. Schriften 1862–1913, Band 2. Frankfurt am Main 1981, S. 93. Weber bescheinigte 1919 Bebel, er sei »noch ein Führer [gewesen], dem Temperament und der Lauterkeit des Charakters nach, so bescheiden sein Intellekt war.«

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mit der 49. von 1909 waren 60.000 Exemplare verkauft. Vgl. Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007, S. 295. Houston Stewart Chamberlains zweibändige Grundlagen des 19. Jahrhunderts von 1899 erreichten bis 1915 eine Auflage von 100.000 Stück (ebd., S. 313). Zu nennen wären noch weitere Autoren, unter ihnen an erster Stelle Paul Anton de Lagarde, dessen Deutsche Schriften von 1871/1881 sich überhaupt erst nach 1891, Lagardes Todesjahr, zu einem Bestseller entwickelten, sodass der Verleger Diederichs 1913 daraus einen nach Themen geordneten Auszug auf den Markt brachte, der ebenfalls zum Erfolg wurde: Paul de Lagarde: Deutscher Glaube, Deutsches Vaterland, Deutsche Bildung. Das Wesentliche aus seinen Schriften ausgewählt und eingeleitet von Friedrich Daab. Jena 1913. 33 Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution? Protestantische und sozialistische Zukunftserwartungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 190, 266. 34 Erleichtert wurde das der Sozialdemokratie durch ihren Glauben an geschichtliche Gesetze. »Was Darwin für die Naturgeschichte, was Darwin feststellte in Bezug auf die Gesetze, die die Entwicklung der Lebewesen beherrschen, das hat Marx für die menschliche Gesellschaft und ihre Einrichtungen geschaffen«, stellte Bebel auf dem Parteitag in Hannover im Oktober 1899 fest. Cora Stephan (Hg.): August Bebel. Schriften 1862–1913, Band 1. Frankfurt am Main 1981, S. 434. 35 Ernst Haeckel: Die Welträtsel [1899]. Leipzig 1924, S. 347f. Troeltsch hatte für derlei nur Spott übrig: »Hier tragen die ›Monisten‹ lediglich die alten Kleider der Naturphilosophie auf.« Ernst Troeltsch: »David Friedrich Strauß«. In: Die Hilfe, Nr. 4, 1908, S. 56–59, hier: S. 59. 36 So die Auswertung der Antworten an Adolf Levenstein: Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter. München 1912, S. 388ff. Schiller kam auf Platz 3, davor rangierte nur Bebel. 37 Die Erstauflage erschien 1879 in Zürich. Bis zum Todesjahr Bebels 1913 erreichten die mehr als 50 Auflagen 140.000 Käufer*innen. 38 Am 1. Mai 1919 verteilte sie in Hannover ein Flugblatt, auf dem zu lesen stand: »Ihr Arbeiter werdet einst in eigenen Wagen fahren, auf eigenen Schiffen touristisch die Meere durchkreuzen, in Alpenregionen klettern und schönheitstrunken durch die Gelände des Südens, der Tropen schweifen, auch nördliche Zonen bereisen. […] Und fragt ihr, wer euch solches bringen wird? Nun, einzig und allein der sozialdemokratische Zukunftsstaat«. Zitiert nach Hölscher 1989, S. 398. 39 Ebd. 40 Mehr dazu bei Gangolf Hübinger: »Kapitalismus und Demokratie im ›Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹ 1904–1933«. In: Detlef Lehnert (Hg.): Soziale Demokratie und Kapitalismus. Die Weimarer Republik im Vergleich. Berlin 2019, S. 49–76.

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man ist fast schon Koketterie, der Kern des Buches beruht auf der Dissertation Leos: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890– 1940. Berlin 2013. 63 Vgl. Julius Goldstein: Die Technik. Frankfurt am Main 1912. Goldstein reagierte auf die technikgeprägte Moderne nicht wie Weber resignativ (»Entzauberung«), sondern mit einer Frühversion der Dialektik der Aufklärung. Einzelheiten bei Christof Dipper: »Ein vergessener Technikphilosoph. Julius Goldstein und die Darmstädter Modernediskurse um 1900«. In: Technikgeschichte, Band 84, Nr. 1 2017, S. 3–27, hier: S. 22. 64 Vgl. Mikael Hård: »German Regulation: The Integration of Modern Technology into National Culture«. In: Mikael Hård / Andrew Jameson: The Intellectual Appropriation of Technology. Discourses on Modernity, 1900–1939. Cambridge, MA 1998, S. 33–67. 65 Vgl. Max Maurenbrecher: Der Heiland der Deutschen. Der Weg der Volkstum schaffenden Kirche. Göttingen 1930. 66 Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes, Nr. 1, 1920, S. 1 (zitiert nach Graf 1997, S. 85).

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Max Weber: »Politik als Beruf« [1919]. In: Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schluchter (Hg.): Max Weber Gesamtausgabe, Band I/17. Tübingen 1992, S. 157–249, hier: S. 221. 56 Frymann [Claß] 1912, S. 227. In der erweiterten 5. Auflage, Leipzig 1914, ließ Claß den »Ruf nach dem Führer« (auf S. 256) deutlich häufiger erschallen. 57 Christlieb 1913/14, S. 4 58 Weber 1992, S. 224. Dazu Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. Tübingen 1974 (2. Auflage), S. XIVf. und 416ff. 59 Zitiert nach Friedrich Wilhelm Graf: »Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration«. In: Gangolf Hübinger / Rüdiger vom Bruch / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Band 2. Stuttgart 1997, S. 53–85, hier: S. 84. 60 Musil nannte als Beispiele »Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube«. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1930]. In: Ders., Gesammelte Werke in 9 Bänden, hg. v. Adolf Frisé, Band 1. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 373. 61 »Die Geburt des ›Kulturkriegs‹ aus dem Geist der Zivilisationskritik« schildert meisterlich Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, S. 1 (Überschrift). 62 Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Stuttgart 2014 (2. Auflage), S. 79. Der Begriff Ro-

In diesem Beitrag behandle ich Fragen, die aus denen entwickelt sind, die Eva von Engelberg in ihrer Einladung zum Kolloquium gestellt hat: Was für eine Beziehung besteht zwischen moderner Architektur und der Abfolge der Epochenstile, die im 19. Jahrhundert etabliert wurde? Ist die moderne Architektur nur der nächste Stil nach dem Historismus des 19. Jahrhunderts? Oder positioniert der Anspruch, die multiplen Stile des Historismus durch etwas Zeitloses und Universales zu ersetzen, sie außerhalb der Geschichte, was ein neues System zur Ordnung der Architekturgeschichte erforderlich machen würde? Bedeuten die Erforschung und Konservierung von Gebäuden des frühen 20. Jahrhunderts, dass die moderne Architektur abgeschlossen ist, oder steht die Errichtung neuer Gebäude in modernen Stilen vielmehr dafür, dass sie fortgesetzt wird?1 Diese Fragen sind in der heutigen Zeit angesichts des stilistischen Pluralismus der architektonischen Praxis und der anhaltenden kritischen Beschäftigung mit Periodisierung, Stil und Zeitkonzeptionen von besonderem Interesse. Ich greife dieses Thema nicht als Experte für die Moderne oder die moderne Architektur auf, sondern als jemand, der die Entstehung der Kunstgeschichte als akademische Disziplin im frühen 19. Jahrhundert untersucht. Aus dieser Perspektive möchte ich behaupten, dass die Antworten in einem erneuten grundsätzlichen Überdenken des Epochenstilkonzepts zu suchen sind. Überholt ist dieses Konzept des 19. Jahrhunderts, weil es eine Verbindung zwischen Zeit und Stil voraussetzt, die in erster Linie als Formveränderungen begriffen wird. Ich konzentriere mich in der Folge auf die Beziehung der modernen Architektur zum Stilepochensystem und zeige, dass sie nicht außerhalb der Geschichte liegt und daher kein neues System zur Organisation der Architekturgeschichte erforderlich macht. Für den Augenblick genügt es, danach zu fragen, wie das bestehende System von Epochen und Stilen, insbesondere in Bezug auf die Moderne, verstanden wird. Epoche und Stil zu überdenken, eröffnet eine Möglichkeit, sich den Fragen nach Historisierung versus Kontinuität zu nähern. Zudem bietet diese Herangehensweise einen Grund, danach zu fragen, ob die Zeit für eine neue Vorstellung von Chronologie in der Architekturgeschichte gekommen ist. Epoche und Stil Seit dem frühen 20. Jahrhundert werden in sämtlichen Geisteswissenschaften methodologische Überlegungen zu den aufeinander bezogenen Begriffen Epoche und Stil angestellt. Unter Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen ist der konstruierte Charakter von Epochen und Periodisierung Allgemeingut, wobei einige ihren fortdauernden Nutzwert als heuristisches Verfahren verfechten, während andere verlangen, ganz auf sie zu verzichten.2 In der Kunst- und Architekturgeschichte bezieht sich der Stilbegriff auf die visuellen und physischen Merkmale von Objekten im Allgemeinen sowie im Speziellen auf Merkmale, die für eine bestimmte Epoche als gängig erachtet werden. Die Forschungen zur Periodisierung werden daher sehr oft unter einer generellen Be-

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trachtung des Stils subsumiert, die sich mit der Natur der Kunst selbst beschäftigt. Zweifel an seiner methodologischen Nützlichkeit haben längst aus Stil »ein Wort [gemacht], das man vermeiden sollte«3, wie George Kubler in einem viel zitierten, die kritischen Positionen der 1980er- und 1990er-Jahre verkörpernden Aufsatz feststellte. In jüngerer Zeit wurde eine solche Vermeidung infrage gestellt, weil sie die eigentliche Aufgabe übersieht, die Stil in der Kunst- und Architekturgeschichte einst erfüllte, immer noch erfüllt und wieder erfüllen könnte. Wie die Herausgeber einer Sonderausgabe der Zeitschrift Kritische Berichte 2014 feststellten, ist Stil ein »Untoter« oder »Wiedergänger«, der weiterhin alle Bereiche der Disziplin als »untilgbar vages«, jedoch unverzichtbares Instrument der Klassifizierung plagt. Im Vorwort zu einer Artikelserie in der Zeitschrift Architectural Histories führte Mari Hvattum jüngst die Vermeidung des Wortes Stil auch auf die lange Tradition moderner Architekt*innen und Theoretiker*innen zurück, die es als falsch und trügerisch ablehnen. Unter Architekturhistoriker*innen stehe das Wort heute »für Oberflächlichkeit, Formalismus, veraltete Periodisierung, eine grand narrative (große Erzählung), die ihr Verfallsdatum überschritten hat«. Wenn es nicht ernsthaft untersucht wird, so argumentierte sie, bestehe die Gefahr, dass sich überholte, möglicherweise irreführende Vorstellungen von Stil unbemerkt in Forschung und Lehre festsetzen.4 Indem sie die »abgelaufene große Erzählung« zu den auf den Stil angewandten Epitheta zählt, verortet sich Hvattum im allgemeineren intellektuellen Umfeld der letzten 40 Jahre. Wie die Varianten master narrative (Meistererzählung) und metanarrative (Metanarrativ) ist auch die »große Erzählung« zu einem abschätzigen Schlagwort für totalisierende Erklärungen geworden, konzipiert aus einer einzigen hegemonialen Perspektive. Solche Erzählungen sind deterministisch und arbeiten darauf hin, angeblich transzendente, universelle Wahrheiten oder die metaphysischen Kräfte, die den Lauf der Geschichte bestimmen, zu enthüllen. Eine Hauptkritik besteht darin, dass Meistererzählungen die Komplexität der Welt verschleiern und eine einzige Interpretation als Wahrheit verdinglichen. Infolgedessen wird zugegeben, dass es eine Vielzahl von Perspektiven gibt und gefordert, das Hauptaugenmerk auf lokale Erzählungen und die Besonderheit einzelner Ereignisse zu richten. Ein anderer Ansatz besteht darin, die konstruierte Natur vermeintlich transzendenter Wahrheiten aufzudecken und die essenzialistischen Prämissen, auf denen solche Erzählungen aufgebaut sind, infrage zu stellen. Methodologische Anfechtungen von Epoche und Stil tragen zu diesen Bemühungen bei, auch wenn sie sich nur selten in den diffusen Diskurs über Meistererzählungen einordnen. Zu den beständigsten Meistererzählungen gehört die Abfolge von Epochenstilen, die im frühen 19. Jahrhundert von der akademischen Kunstgeschichte etabliert und in Übersichtswerken, Handbüchern und anderen popularisierenden Texten ein immer breiteres Publikum aus Wissenschaftler*innen, Fachleuten und der wachsenden gebildeten Öffentlichkeit erreichte. Diese Texte bilden die Meistererzählung einer stetigen Weiterentwicklung der Kunst in chronologisch aufeinanderfolgenden Epochen.5 Jede Epoche hat demnach ihren eigenen Stil, der sich vor allem in den visuellen und materiellen Merkmalen der Kunstwerke manifestiert und als eine bestimmte Stufe in einer Gesamtentwicklung verstanden wird. Selbst wenn der Begriff Zeitgeist nicht verwendet wird, sagt man, dass jede Epoche etwas hat – eine Gesinnung oder eine Ansammlung von Verhältnissen –, das alles bestimmt, was sich in ihr abspielt, sodass Kunstwerke die Zeit ihrer Entstehung ausdrücken, offenbaren oder widerspiegeln. Bereits in den 1920er-Jahren erhielt die Stilabfolge jedoch abwertende Bezeichnungen, die sie auch heute noch oft trägt: march of styles und »Gänsemarsch der Stile«, letztere von Wilhelm

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Zeit und Geschichte Die Meistererzählung von der Stilepochenfolge ist abhängig von der Verknüpfung von Epoche und Stil, die um 1800 erfolgte, als sich Stil von einem klassifikatorischen Begriff für die Aufstellung und Kontrolle von Regeln und Normen, die weitgehend auf der antiken Rhetorik beruhten, in ein Instrument der historischen Analyse verwandelte.10 Die Zusammenführung von Erkenntnissen aus der Zeitwissenschaft mit Untersuchungen zur Geschichte der Kunstgeschichte und verwandter Disziplinen kann einen besseren Einblick mittels der Historisierung von Stil und der dadurch ermöglichten historischen Analyse geben.11 Während die moderne Zeitauffassung in den Jahrzehnten um 1800 im Zusammenhang mit einem tief greifenden und sich beschleunigenden politischen, sozialen und kulturellen Wandel ihre heute vertraute Gestalt annahm, liegen ihre Wurzeln bereits in der Frühen Neuzeit (etwa Ende des 15. bis Ende des 18. Jahrhunderts). Im Gro-

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Pinder geprägt, um den seiner Ansicht nach »untersten Dilettantismus« anzuprangern, der offensichtliche Überschneidungen zwischen scheinbar für sich allein stehende Epochen ignoriert.6 Die im deutschen Terminus explizit enthaltene Idee einer einzigen Entwicklungslinie ist im englischen Wort march nur eine von mehreren möglichen Bedeutungen, weil sich dieses auf alle Arten des Marschierens bezieht und nicht nur auf das in einer einzelnen Reihe. In Vorwegnahme der Kritik, die der späteren Bezeichnung Meistererzählung anhaftet, verspotten beide Begriffe die Implikation eines unaufhaltsamen Fortschreitens und die unkritische Akzeptanz allzu vereinfachender Stildefinitionen. Fast 100 Jahre später setzen die Epochenstile ihren »Zombie-Marsch« in der populären und akademischen Kunstgeschichte fort. Ihr Durchhaltevermögen in ersterer ist zu einem großen Teil auf ihre Funktion als fest verankerter Bestandteil des Allgemeinwissens und als Ausdruck gesellschaftlicher Distinktion zurückzuführen, aber auch auf ihre fortgesetzte Verwendung in letzterer als primäre Organisationskategorien. Hier ist ihre Beibehaltung zum Teil auf die Schwerfälligkeit institutioneller und disziplinärer Veränderungen zurückzuführen. Ein weiterer Faktor ist der allgemeine, aber zunehmend prekäre Konsens, der aus mehreren Jahrzehnten multidisziplinärer Kritik hervorgegangen ist: Obwohl Periodisierung und Stil interpretatorische Konstrukte sind, die einer äußeren Realität nur bedingt entsprechen oder diese nicht vollständig repräsentieren, können sie nicht einfach abgeschafft werden. In der Kunstgeschichte wird ihre Verwendung als heuristisches sowie praktisches Instrument der Beschreibung und Klassifizierung schon lange als vertretbar angesehen – trotz der sehr realen Besorgnis, dass fest verankerte Definitionen einzelner Periodenstile weiterhin Deutungskraft ausüben und die Parameter der Forschung prägen.7 Im letzten Jahrzehnt ist in einem neuen interdisziplinären Feld, den sogenannten time studies (etwa: Zeitwissenschaft), eine noch umfassendere Fragestellung nach dem Wesen der Zeit selbst entstanden. Auf der Basis früherer Forschung in den Geistesund Sozialwissenschaften hat die Zeitwissenschaft das konstruierte Wesen, die lokale und historische Eigenart der modernen Vorstellung von Zeit aufgezeigt. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass diese durch eine neue Vorstellung ersetzt wurde oder wird, auch wenn das Wesen dieser neuen Vorstellung noch ein reges Diskussionsthema bildet. Bis vor Kurzem akzeptierte die Fachliteratur über Periodisierung und Stil die moderne Zeit als gegeben, als neutral und universell.8 In ähnlicher Weise haben Kunsthistoriker*innen erst vor Kurzem begonnen, ihre Arbeit mit diesem neuen Feld in Verbindung zu bringen, obwohl seit Anfang des 20. Jahrhunderts Alternativen zu einem streng chronologischen Ansatz bestehen.9

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ßen und Ganzen zeichnet sich die moderne Zeit dadurch aus, dass sie die Gegenwart als zutiefst anders empfindet als die Vergangenheit und die Zukunft. Sie ist sowohl auf die Zukunft ausgerichtet, wobei der Schwerpunkt auf dem ununterbrochenen Fortschritt liegt, als auch auf die Vergangenheit als etwas, das sowohl verstanden als auch abgelöst werden muss. Dieses Verständnis brachte einen Prozess der Historisierung und eine Perspektive oder Denkweise mit sich, die gewöhnlich mit dem Begriff Historismus bezeichnet wird. Beide begreifen und erfahren die menschliche Kultur und ihre Erscheinungen historisch: als singuläre, einmalige Produkte einer unumkehrbaren Entwicklung in einem unidirektionalen Zeitfluss.12 Viel Verwirrung entsteht durch die uneinheitliche Verwendung des Begriffs Historismus in verschiedenen Disziplinen und unter Wissenschaftler*innen. Im engsten Sinne bezeichnet er einen bestimmten Teilbereich der Geschichtswissenschaft, vor allem in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im weiteren Sinne hat er zwei Bedeutungsebenen. Erstens bezieht er sich auf die soeben beschriebene Vergangenheitsorientierung mit ihren vielen damit verbundenen kulturellen Praktiken, unter anderem Denkmalpflege, Musealisierung und Tourismus. Zweitens bezeichnet er die theoretischen Perspektiven und die damit verbundenen Methoden, die von den Disziplinen des frühen 19. Jahrhunderts, einschließlich der Kunstgeschichte, auf der Grundlage der Frühen Neuzeit entwickelt wurden.13 Einige ziehen es jedoch vor, den Begriff Historismus auf den einen Teilbereich der Geschichtswissenschaft zu beschränken und für alles andere Historisierung zu verwenden.14 Der Historismus in der Architektur ist eine kulturelle Praxis, die sich auf die Methoden und Ergebnisse der Kunstgeschichte stützt. Unlängst hat Daniel Fulda ein wichtiges Korrektiv für das verbreitete Missverständnis angeboten, wonach die Historisierung einen ausschließlich relativierenden Ansatz verfolge und sowohl die Sichtweise als auch die Praktiken, die sich daraus ergeben, alles Absolute ablehnten. Er plädiert für ein nuancierteres Verständnis, das anerkennt, dass die historische Kontextualisierung Appelle an das Über-, Trans- und Ahistorische beinhalten kann.15 Das beschriebene Missverständnis ist in der Tat recht verbreitet, obwohl erste Ansätze zu einem differenzierteren Verständnis in der Forschung schon vorhanden sind. Diese hat die integrale Rolle von Appellen an über- und transhistorische Definitionen und Werte sowohl in den etablierten empirisch-hermeneutischen Disziplinen, vor allem der Altertumswissenschaft und der Geschichte, als auch in den mit ihnen verbundenen neuen Disziplinen, einschließlich der Germanistik und der Kunstgeschichte, aufgezeigt. Im Großen und Ganzen begriffen diese Disziplinen die menschliche Kultur als Teil des größeren Organismus der Natur und vertraten die Auffassung, dass die menschliche Lebenswelt aus vielen einzelnen Gebilden (Religion, Recht, Kunst usw.) besteht. Wie jedes Teil der größeren natürlichen Welt hat jedes Gebilde der menschlichen Kultur seine eigene wesentliche Natur und seine eigenen Naturgesetze. Diese sind nicht a priori als gegeben anzunehmen, sondern zeigen sich vielmehr durch das Studium der gesamten menschlichen Kultur als eine lange Reihe verschiedener Entwicklungsstadien, denn nicht alle Gesetze waren zu allen Zeiten und an allen Orten vollständig manifest. Das Studium von etwas erforderte daher immer notwendigerweise auch das Studium seiner Geschichte. Es bedurfte jedoch einer grundlegenden Definition, um sicherzustellen, dass über die Zeit hinweg dieselbe Sache studiert wird. In der Tat lenkte diese Definition eine in anderen Hinsichten empirisch ausgerichtete Untersuchung.16 Da die menschliche Kultur aus vielen einzelnen Gebilden besteht, erforderte die Analyse jedweder Art konkreter kultureller Produktion die Betrachtung der komplexen Wechselwirkung zwischen deren verschiedenen Gesetzmäßigkeiten, um festzustellen, inwieweit diese Wechselwirkung es jedem Gebilde ermöglichte, seine

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wahre Natur zu erlangen. So, wie nicht alle Gesetze in einer Periode erkennbar waren, konnte ein bestimmtes Gebilde nicht in allen Epochen seine eigentliche, wesentliche Form annehmen. Die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, sowohl in ihren historisch-empirischen (z.B. Franz Kugler) als auch in ihren spekulativ-philosophischen Formen (Georg Friedrich Hegel), beruhte auf der Grundannahme, dass die Kunst einen Organismus innerhalb des größeren Ganzen der menschlichen Kultur darstellt. Wie das größere Ganze hat sie ihr eigenes Wesen und wird von ihren eigenen universellen Naturgesetzen bestimmt.17 Diese Berufung auf Naturgesetze war ein wesentlicher Bestandteil der bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts etablierten historistischen Epistemologie der Kunstgeschichte.18 Sowohl die empirische als auch die spekulative Herangehensweise wurde von einer Reihe ähnlicher Auffassungen oder Definitionen von Kunst und ihren vielen Unterteilungen beherrscht. Interpretationen von Entwicklungsstadien innerhalb des Ganzen und von einzelnen Werken maßen sie an diesen kontrollierenden Auffassungen und bewerteten, inwieweit bestimmte historische Umstände es der Kunst erlaubten, ihr wahres Wesen zu manifestieren. Zwar wurden die Epochen unter ihren eigenen Bedingungen betrachtet, doch handelte es sich dabei nicht um eine Form von Kulturrelativismus, und selbst die Normen, die in einer bestimmten Periode galten, wurden anhand der universellen Gesetze bewertet, die während der gesamten Entwicklungssequenz galten. Wichtiger als die spezifische Abfolge von Epochen ist dabei ihre gemeinsame Konzeption als klar abgegrenzte Zeitabschnitte mit jeweils eigenem Charakter. Diese grundsätzlich historistische Auffassung wird zwar nicht immer mit dem Zeitgeist in Verbindung gebracht, aber sie wurde und wird durch den weitverbreiteten und oft beiläufigen Gebrauch des Begriffs verstärkt. Wie der Historismus selbst geht auch die Vorstellung, dass Epochen einen eigentümlichen Charakter haben, in Frankreich und England mindestens bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück und erscheint dort als genius saeculi oder esprit du siècle. Der Begriff Zeitgeist wurde nicht, wie noch oft behauptet, in den 1760er-Jahren von Johann Gottfried Herder geprägt, sondern tauchte schon um 1750 auf. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts, insbesondere nach der Französischen Revolution, erfuhr der Begriff eine weite Verbreitung – und damit zu einem Zeitpunkt, als er sich als besonders geeignet erwies, die Wahrnehmung einer neuen Gegenwart zu artikulieren, die sich qualitativ von der Vergangenheit unterschied. Neben seiner Verwendung als Instrument der Geschichtsanalyse in den akademischen Disziplinen erschien er im politischen Diskurs und im Alltagsdiskurs als Mittel zur Zeitdiagnostik oder -kritik, oft um Behauptungen aufzustellen, die bereits im 17. Jahrhundert aufgestellt worden waren, etwa dass eine Zeit, wie die stürmische Gegenwart, als Ganzes »verkommen« sein könnte oder dass bestimmte Bedingungen oder Personen mit dem Zeitgeist nicht im Einklang stünden. Bereits um 1800 wurde der Begriff Zeitgeist von Gelehrten, Satirikern und politischen Theoretikern attackiert. Er wurde als beinahe mystisch, als Gespenst, Dämon oder Phantom denunziert und als unpräzise und für das Verwischen oder das Ignorieren von Diskrepanzen innerhalb und zwischen Kulturen kritisiert. Solche Herausforderungen verstärkten nur seine rhetorische Kraft.19 Um 1900 war er zu einer Floskel geworden, die so eingesetzt wurde, als seien alle Fragen bezüglich seiner Relevanz und Geltung geklärt.20 Das Hauptinstrument zur Analyse und Bewertung der Beziehung zwischen Kunstwerken und der Zeit ihrer Entstehung war der Stil, unabhängig davon, wie die Entstehung dieser Werke verstanden wurde: ob durch das Wirken eines metaphysischen Geistes oder durch die zeitspezifische Wechselwirkung einzelner Organismen.

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Wichtiger als die vielen Definitionen, die seit dem späten 18. Jahrhundert erarbeitet wurden, ist hier die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Stil im Singular als universellem Phänomen und den Stilen im Plural, die sich auf einzelne Künstler*innen, Genres, Kunstgattungen, Nationen und Völker sowie Zeitabschnitte beziehen. Oft wird die Unterscheidung als ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen absolutem und relativem Stil formuliert, der einer Lösung bedarf.21 In gewisser Weise basiert dieses Bedürfnis nach einer Lösung auf dem von Fulda identifizierten Missverständnis, wonach die Historisierung per definitionem relativistisch sei. In einem anderen Sinne weist es jedoch auf die Spannung hin, die dem historistischen Denken selbst zugrunde liegt: Wie kann man das Besondere als Manifestation des Allgemeinen oder Universalen verstehen, ohne die naheliegende Implikation, dass alles Besondere, das heißt jede einzelne Erscheinung (etwa ein Stil oder ein Kunstwerk), fehlerhaft und unvollkommen sein muss, weil es dem Allgemeinen nur teilweise oder ungenau entsprechen kann? Ein Aufsatz von August Wilhelm Schlegel, der 1808 auf der Grundlage eines Vortrags aus dem Jahr 1802 veröffentlicht wurde, löst die Spannung zwischen universellem Stil und besonderen Stilen auf eine Weise auf, die beispielhaft zeigt, wie beide seither, wenn auch immer impliziter und unmerklich, funktionieren.22 Weil Kunst nach dieser Vorstellung allgemein und für alle gültig ist, ist die Zugabe von etwas Individuellem einschränkend und negativ. Weil der Mensch unausweichlich individuell ist, sind die von ihm geschaffenen Werke notwendigerweise durch Zeit, Ort und die jeweils zur Verfügung stehenden Materialien beschränkt. Es ist jedoch möglich, diese Beschränkung zu überwinden, weil der Mensch etwas Allgemeingültiges in sich trägt, an dem das Veränderliche und Besondere gemessen werden kann. So wie die Sittlichkeit die Eindämmung der »selbstischen Triebe« nach einem höheren Gesetz verlangt, so verlangt die künstlerische Tugend von den Künstler*innen, dass sie sich ihrer Individualität entäußern, um den Gesetzen der Kunst zu folgen. Auf diese Weise erreichen sie eine höhere Ausdrucksebene, die Stil genannt wird, statt der niedrigeren, individuelleren, als Manier bezeichneten Ebene. Es gibt jedoch viele verschiedene Stile. Aus folgenden Gründen behauptete Schlegel, dass die Verschiedenheit des Stils keine Unvollkommenheit bildet: Die Kunst ist ein unendliches Ganzes, dessen wahres Wesen aus verschiedenen Blickwinkeln erfasst werden kann. Wie die Natur selbst ist auch die Kunst ein Organismus mit vielen verschiedenen Teilen, von denen jeder seine eigenen Gesetze und damit seinen eigenen Stil hat. Da Kunst das Produkt menschlichen Handelns ist, verändert sie sich im Laufe der Zeit nach bestimmten Gesetzen. Zwar sind nicht alle Gesetze in allen Epochen erkennbar, aber alle Epochen haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, sodass man sagen kann, dass jede ihren eigenen Stil hat. Diese historistische Auffassung von Stil bildete die Grundlage für den sogenannten Epochenstil als das leitende analytische Konzept in der Kunstgeschichte. Wie die Fachliteratur gezeigt hat, wurde der Stil immer mehr durch die formalen Merkmale der Werke definiert und jede Epoche durch die Werke, die ihren dominanten Charakter, wie auch immer dieser verstanden wurde, am besten widerspiegeln oder ausdrücken sollten. Die Annahme, dass Stil als allgemeines Prinzip immer nur teilweise manifest sei, prägte weiterhin das Verhältnis zwischen der Kunst und ihrer Zeit, ebenso wie die anhaltenden Bemühungen, die Naturgesetze der Kunst zu erkennen, die als universeller und autonomer Bereich menschlichen Handelns verstanden wurden. Dies bestärkte die seit Langem bestehende Vorstellung, dass der Charakter oder die Verhältnisse einer Epoche den Fortschritt der Kunst behindern könnten oder die Kunst mit ihrer Zeit nicht im Einklang stehe.

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Zeitloser Stil als Stil der Zeit Als Nichtspezialist hatte ich Mühe, diese Behauptung in den Griff zu bekommen, und verlor mich in den unzähligen verschiedenen Arten, wie sie zum Ausdruck gebracht oder auch nur angedeutet wird. Letztendlich wurde mir klar, dass ich aus einem vagen Verständnis der Behauptung heraus gehandelt hatte und dass selbst die Forschung sich nicht direkt damit befasst. Dennoch konnte ich aus einigen besonders hilfreichen Sekundärquellen ihre Umrisse grob skizzieren und sie mit der obigen Diskussion in einer Weise verbinden, die die moderne Architektur fest im »Gänsemarsch der Stile« verortet. In vielen Varianten taucht diese Behauptung in den Schriften bei den ersten Theoretikern und Verfechtern des Neuen Bauens auf, etwa bei Walter Gropius, Walter Curt Behrendt, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier; sowie in jenen seiner Be-

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Moderne Architektur als Epochenstil An dieser Stelle möchte ich kurz fragen, ob die Leserin oder der Leser bemerkt hat, dass ich das Hauptthema dieses Aufsatzes, nämlich die moderne Architektur, noch nicht definiert habe. Ich tue dies, um auf die sowohl in populären als auch in wissenschaftlichen Diskursen vielfach bekräftigte voreingestellte Annahme aufmerksam zu machen, wonach sich modern, wenn es mit Architektur in Verbindung gebracht wird, nicht immer auf alles bezieht, was in der hier in einem weiteren Sinne als modern definierten Zeitspanne, das heißt seit etwa 1800, gebaut wurde. In Verbindung mit der Architektur beginnt die Moderne oft erst etwa 100 Jahre später und erinnert an eine weitgehend konsistente Reihe von strukturellen und visuellen Merkmalen, die in den meisten Gebäuden vor dem späten 19. Jahrhundert nicht vorkamen. Das zunächst diffuse Gefühl, dass moderne Architektur als Epochenstil im herkömmlichen Sinne verstanden wird, bestätigen die Texte zahlreicher Autor*innen. Wie Anthony Vidler gezeigt hat, war die moderne Architektur bereits 1940 vollständig in den kunsthistorischen Kanon und die Folge der Stilepochen aufgenommen worden. Sarah Williams Goldhagen erläuterte, wie die moderne Architektur als Stil durch eine begrenzte Ansammlung formaler Kennzeichen und Motive definiert wurde.23 Destilliert aus einer relativ überschaubaren Anzahl von Gebäuden sowie deren Charakterisierung in Texten und Ausstellungspräsentationen der 1920er-Jahre, bestanden diese aus Flachdächern, viel sichtbaren Glas-, Stahl- oder Stahlbetonkonstruktionen, harten Kanten, streng geometrischen, aber asymmetrischen Kompositionen und frei fließenden Innenräumen. Abweichende Bauten, jene, die nicht alle Kennzeichen aufwiesen, wurden oft ausgeschlossen oder nur teilweise in den modernen Kanon aufgenommen. Diese Kennzeichen bestimmten auch die übliche chronologische Unterteilung der Stilperiode: »langwierige Geburt« von 1890 bis 1918, schrittweise stilistische Synthese bis 1930, »stilistische Zerstreuung« bis 1965 und schließlich Jahre des Zusammenbruchs bis etwa 1980. Goldhagen zeigte auch, wie diese vornehmlich formalistische Definition der modernen Architektur sowohl die populärwissenschaftlichen Darstellungen beeinflusste als auch die wissenschaftliche Forschung einschränkte. So definiert ist die moderne Architektur logischerweise der nächste Schritt, der in der Stilepochenfolge dem Historismus des 19. Jahrhunderts nachfolgt. Dies gibt jedoch nur eine Teilantwort auf die Frage, wie sie sich zu dem im 19. Jahrhundert etablierten System der Epochenstile verhält. Denn damit bleibt die allgemeine Behauptung außer Betracht, wonach sich die Architektur, indem sie modern wurde, über todgeweihte historistische Stile hinaus zu einer Form des Bauens entwickelte, die zugleich universell und zeitgemäß ist.

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fürworter in der nächsten Generation: Siegfried Giedion und Nikolaus Pevsner. Alle arbeiteten in einer relativ kontinuierlichen kunst- und architekturhistorischen und architekturtheoretischen Tradition, die auf die Grundlagen zurückgeht, die Schlegel und seine Generation gelegt hatten und deren Weiterführung durch Heinrich Wölfflin, Alois Riegl, August Schmarsow und Cornelius Gurlitt erfolgte.24 Sie teilten eine Auffassung von Architektur als autonomer Einheit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Wesensmerkmalen sowie ein intensives Bemühen um die Definition und Herstellung eines »angemessenen Verhältnisses« zur Gegenwart, das häufig mit dem formelhaften Gebrauch von Zeitgeist beschrieben wird. Dieses angemessene Verhältnis beinhaltete ein Gleichgewicht oder eine Harmonie zwischen dem Wesen der Architektur und den gegenwärtigen sozialen, politischen, materiellen und technologischen Verhältnissen. In Fortführung einer theoretischen und auch polemischen Diskussion, die mindestens seit dem frühen 19. Jahrhundert andauert, stellte die Unterscheidung zwischen universellem Stil und einzelnen Stilen das Hauptinstrument zur Analyse dieser Beziehung dar.25 Verschleiert wurde diese Kontinuität jedoch durch die vielen neuen Begriffe, die nach 1900 eingeführt wurden. Während der Plural bei der Anprangerung der überholten historistischen Stile des 19. Jahrhunderts noch Anwendung fand, wurden die neuen Alternativen nicht immer als Stil bezeichnet: Der Begriff war bei den Verfechter*innen der modernen Architektur so negativ konnotiert, dass er nach Möglichkeit vermieden wurde. Der genaue Charakter der neuen Alternativen und ihre Eignung für die Gegenwart waren heftig umstritten. Insgesamt bestanden diese Alternativen aus einer Unmenge inzwischen bekannter Kunstströmungen und Ansätze, wie Funktionalismus und Expressionismus, Abstraktion und freie Gestaltung, authentischer Ausdruck der Absicht, organische Einheit von Form und Prozess oder von Form und Funktion.26 Wichtiger als die Spezifika einzelner Positionen und Gegenpositionen ist hier ihr gemeinsames Streben, das Besondere zu transzendieren, um etwas zu erreichen oder auf etwas hinzuarbeiten, das als universell oder allgemeingültig gedacht ist, sowohl in allgemeiner Hinsicht als auch im engeren Kontext der vermeintlich wahren Natur der Architektur. Während das Universelle notwendigerweise etwas Zeitloses impliziert, wurde Zeitlosigkeit nur ab und an explizit für die neue Architektur beansprucht und dann in vielfältiger Weise, einschließlich dem Vergleich mit vergangenen Idealen (griechische Tempel und gotische Kathedralen), der Behauptung, dass abstrakte Formen zeitlos seien, oder der Implikation, dass die gegenwärtige Industriegesellschaft der Architektur erlaube, ihr wahres Selbst zu verwirklichen. Treibende Kraft dieses Diskurses war die zentrale, dem Historismus eigene Spannung zwischen dem Streben nach dem Universalen und der notwendigen Beschränkung und Unvollständigkeit seiner besonderen Manifestationen. Daher die ständige Befürchtung, dass die neue Architektur in einen ästhetischen Formalismus abgleiten und nur noch ein weiterer Stil sein könnte. Von Anfang an war es jedoch genau das: eine Reihe formaler Merkmale und Kennzeichen künstlerischer Praktiken, bestimmt von den spezifischen historischen Umständen. Alle Ansprüche auf Universalität und zeitlose Gültigkeit basierten auf denselben, aus dem historistischen Denken stammenden Appellen an die transzendente Wahrheit wie die Meistererzählung des »Marsches der Stile«. Die verschiedenen Manifestationen des Architekturhistorismus stellten dieselben historistischen Ansprüche und suchten, denselben Appellen zu genügen. Auch wenn es den historischen Akteur*innen nicht erlaubt sein sollte, Interpretationen von Bauwerken und ihren Platz in einem breiteren historischen Rahmen ein für allemal festzulegen, so stellen diese Sichtweisen doch bedeutende historische Belege dar. Als solche bleiben sie wesentlich für das Verständnis

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Epoche, Stil und die Moderne Weit über ein Jahrhundert anhaltender theoretischer und methodologischer Kritik innerhalb der Fachdisziplin und darüber hinaus verweisen darauf, dass der »Gänsemarsch der Stile« eine Meistererzählung ist, die ihre Allgemeingültigkeit verloren hat. Die Arbeit der Zeitstudien scheint diese Ansicht zu bestärken, indem sie zeigt, dass die Vorstellung einer Abfolge eigenständiger Zeitabschnitte eindeutig modern und im Ursprung historistisch ist. Damit wird ihre Gültigkeit unter der sich jetzt herausbildenden neuen Zeitauffassung infrage gestellt. Die Periodisierung ist jedoch zu tief verwurzelt, als dass man sie einfach abschaffen könnte, zudem kann sie ein sehr wirksames Instrument der historischen Analyse bleiben, wenn sie klar als Methode zur einfachen Ordnung der Zeitfolge verstanden wird. Signifikante Unterschiede in der Periodisierung zwischen und auch innerhalb der Disziplinen zeigen, dass die Festlegung von Grenzen zwischen den Epochen willkürlich ist. Kontinuitäten und Brüche kommen je nach Analyseschwerpunkt an verschiedenen Stellen zum Vorschein, und Grenzen können gesetzt werden, um entweder Kontinuität oder Wandel hervorzuheben oder zu verdecken. Diese variablen Grenzen verstärken nur die inzwischen akzeptierte Ansicht, dass Epochen keine übergreifende Kohärenz haben, und erinnern daran, dass es höchste Zeit ist, den alten Zeitgeist als dominantes Moment der Kunst- und Architekturgeschichte restlos zu tilgen. Dies wird die noch immer zu enge Verbindung zwischen Epoche und Stil auflösen: Wenn Stil nicht mehr als Produkt eines metaphysischen Geistes oder als Zusammenspiel verdinglichter Abstraktionen angesehen wird, können wesentlich flexiblere und nuanciertere Interpretationen dafür entwickelt werden, wie die Formen von Kunst und Architektur aus bestimmten historischen Umständen heraus entstehen, oder umgekehrt, wie sie den Bedürfnissen einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit dienen. Wie die Periodisierung behält auch der Stil einen signifikanten Wert. Nach wie vor kann er ein nützliches Instrument zur Identifizierung und Benennung formaler Charakteristika sein, aber nur unter der Bedingung, dass man nicht fragt, ob diese Charakteristika einem mystischen Geist angemessen sind oder ihn zum Ausdruck bringen, oder ob sie einer normativen Auffassung dessen entsprechen, was jede Kunstform sein sollte. Wenn Epochen Werkzeuge sind, welche Arbeit wird nach der oben skizzierten Definition von moderner Architektur geleistet und welche nicht? Wie jeder gute altmodische Epochenstil lenkt sie die Aufmerksamkeit auf einen sehr realen formalen Bruch in der Ablehnung architektonischer Formen aus der Vergangenheit zugunsten eines neuen, von neuen Materialien, Technologien und Funktionen bestimmten Bauens. Allerdings ist das Verständnis von moderner Architektur angesichts der viel größeren Zeitabschnitte, auf die sich das Wort modern sonst bezieht, übermäßig begrenzt und einschränkend. Die vielen sich überschneidenden, widersprüchlichen und umstrittenen Bedeutungen dieses Begriffs werden durch seine sich verschiebenden Assoziationen mit zwei gleichermaßen instabilen Begriffen, Modernität und Modernismus, und durch die Unterschiede zwischen den nationalen Forschungstraditionen und die Eigenheiten der einzelnen Sprachen noch komplizierter. Auch wenn ich nicht erwarten kann, dieses Dickicht von Komplikationen zu entwirren, kann eine allgemeine Sortierung der Begriffe im Englischen und Deutschen dazu beitragen, diese Einschränkungen zu beseitigen.27 Abgesehen von der weitesten und etymologisch ältesten Bedeutung von »gerade jetzt« bezieht sich modern im Englischen gewöhnlich auf den Zeitraum, der um 1800 be-

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dieser Bauwerke, wie sie in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entstanden sind – und für ihre spätere Rezeption.

Die Anerkennung der historistischen Konzeption des Epochenstils zeigt, dass er kein neutrales oder relativierendes Analyseinstrument ist und nie ein solches war, sondern dass er immer Werturteile beinhaltet, die auf transzendenten Wahrheiten und zeitlosen Universalien beruhen. Zusammen mit der bereits etablierten Auffassung von Epochenstil und Stil als heuristischen Instrumenten wird dieses Verständnis hoffentlich zu einem bewussteren Umgang mit dem tief verwurzelten System der Stile führen. Hier ziehe ich weitere Verbindungen zur Zeitwissenschaft und mache Vorschläge, wie diese Ansätze liefern könnte, um die eingangs vorgestellten Fragen zu beantworten. In den laufenden Debatten herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich ab etwa 1970 das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verändern begann, wobei eine primäre Orientierung auf die Gegenwart und ein Gefühl von

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Fazit

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ginnt und bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht. Es besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass dieses Datum eine fließende Grenze zur vorhergehenden Frühen Neuzeit ab etwa 1500 markiert. In diesem Sinne wird modern gewöhnlich als Adjektiv verwendet, wie in the modern period. Sein relativ seltener Gebrauch als Substantiv bezieht sich auf Personen, die in einer als modern bezeichneten Zeit leben, obwohl es auch entweder für den Zeitraum selbst oder für die Konstellation der historischen Verhältnisse innerhalb dieses Zeitraumes stehen kann. Letzteres wird häufiger als modernity bezeichnet. Der Begriff modernism und sein Adjektiv modernist werden manchmal damit verwechselt, aber sie beziehen sich eher auf kulturelle und ästhetische Bewegungen, die sich damit befassen, auf die wahrgenommene Neuheit der modernity zu reagieren. Im Deutschen hat der Begriff Neuzeit die ältere Bedeutung, die modern im Englischen teilweise beibehält und die gesamte Spanne seit 1500 meint, wobei Frühe Neuzeit als das akzeptierte Äquivalent zu early modern gilt. Die Moderne bezeichnet ungefähr die gleiche Zeitspanne wie modern im Englischen und bezieht sich sowohl auf die Zeitspanne als auch auf die historischen Umstände, für die manchmal Modernität verwendet wird. Modernismus steht für die ästhetische Bewegung, zusammen mit dem Adjektiv modernistisch und dem Substantiv Modernist (für seine Vertreter*innen). Im allgemeinen Sprachgebrauch geht eine wichtige Unterscheidung oft verloren oder wird sogar aktiv verschleiert: Alles, was modernistisch ist, ist notwendigerweise modern, aber alles, was modern ist, ist nicht notwendigerweise modernistisch. Die oben beschriebene formalistische Definition begeht einen grundlegenden Fehler und wird nun in der Forschung über Modernität und Modernismus entschieden zurückgewiesen: Sie erlaubt es, einem privilegierten Moment das Ganze zu definieren und zum Maßstab zu werden, an dem alles andere gemessen wird. Neben der zu hinterfragenden Vorstellung, dass die moderne Architektur erst im frühen 20. Jahrhundert einsetzt, kann auch eine weitergehende Differenzierung dazu beitragen, diesen Fehler zu vermeiden. Viele, wie Goldhagen, verwenden für die untersuchten Gebäude den präziseren Begriff modernistische Architektur. Oft wird der Beginn der modernen Architektur um 1750 angesetzt, wobei Analysen dazu neigen, teleologisch zu sein und oft zu einer Meistererzählung des unaufhaltsamen »Marsches« in die Moderne werden. Stattdessen sollte aber eigentlich alles und jedes, was unter den Bedingungen der Moderne gebaut oder geplant wurde, ohne Vorbehalte oder Einschränkungen als modern betrachtet werden. Der Architekturhistorismus des 19. Jahrhunderts ist unbestreitbar modern, und er teilt mit dem Modernismus eine gemeinsame erkenntnistheoretische Grundlage, die bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht. Die Schwierigkeit einer adäquaten Übersetzung dieser terminologischen Unterscheidung ins Deutsche ist dem Autor bewusst.28

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Krise statt Fortschritt den Blick auf die ungewisse Zukunft prägten. Da die Zeit heute eher als kontinuierlich und vielschichtig denn als lineare Abfolge eigenständiger homogener Epochen wahrgenommen wird, steht die Vergangenheit in einem komplexen und wechselhaften Verhältnis zur Gegenwart. Die Gegenwart scheint sich ausgedehnt zu haben, indem sie Vergangenheit und Zukunft in sich einschließt. Obwohl sie eindeutig nicht mehr etwas Separates und Eigenständiges bildet, das objektiv zu untersuchen ist, muss die genaue Rolle der Vergangenheit in der Gegenwart noch bestimmt werden. Die Auseinandersetzung mit ihr wird nicht mehr vollständig von den Geschichtswissenschaften und anderen Disziplinen beherrscht, wenn das überhaupt jemals so war.29 Die oben gestellte Frage, ob Forschung und Erhaltungsmaßnahmen von Gebäuden des frühen 20. Jahrhunderts das Ende der modern(istisch)en Architektur signalisieren, impliziert, dass Forschung und Erhaltungsmaßnahmen automatisch eine Historisierung bewirken, und dass Historisieren bedeutet, ein Ding einer Vergangenheit anzuvertrauen, die so andersartig als die Gegenwart ist, dass der Prozess das Ding so gut wie unverständlich für das Hier und Jetzt macht. Während dies unter der modernen historistischen Zeitauffassung der Fall sein mag, könnten Forschung und Erhaltungsmaßnahmen auch als Förderung der Kontinuität verstanden werden, als eine Möglichkeit, die Vergangenheit am Leben zu erhalten. Die Bezugnahme auf und die Wiederverwendung von Formen der Vergangenheit, die auf vielen Arten von Forschung und Studien beruhen, taucht in der Geschichte der Weltarchitektur immer wieder auf. Die Frage könnte umformuliert werden, um zu durchleuchten, wie modern(istisch)e Gebäude untersucht und erhalten werden und ob diese Prozesse sie im modernen Sinne historisieren oder sie auf andere Weise der Gegenwart zugänglich machen. Obwohl ich nicht über das Fachwissen verfüge, mich der großen und viel diskutierten Frage zu stellen, ob der Modernismus fortbesteht, möchte ich davor warnen, ihn in erster Linie im Hinblick auf Kontinuität versus Wiederbelebung zu definieren. Diese Begriffe geben die moderne historistische Sichtweise wieder, wonach die Manifestationen der menschlichen Kultur einmalige Produkte einer unumkehrbaren, unidirektionalen Entwicklung in eigenständigen abgegrenzten Phasen sind. Wenn etwas einmal in einer bestimmten historischen Situation auftaucht, kann es demnach nicht unter anderen Umständen wieder auftreten, ohne kompromittiert zu werden mit der Implikation, dass Kontinuität gut und Wiederaufleben schlecht ist. Die Frage berührt auch Schlüsselaspekte der Periodisierung, bei der die Identifizierung von Kontinuität oder Wiederaufleben davon abhängt, wie Epochen definiert werden, sowohl zeitlich als auch bezüglich der in ihnen vorherrschenden historischen Verhältnisse. Solche Definitionen könnten zum einen oder zum anderen Ergebnis führen, und eine sorgfältige Beachtung der örtlichen Verhältnisse würde zeigen, dass auch beide gleichzeitig an verschiedenen Orten auftreten können. Oder man könnte die Unterscheidung für nicht mehr relevant erklären und stattdessen die Aufmerksamkeit darauf richten, wie die Formen, Theorien und Praktiken der historischen Moderne in späteren Zeiten eingesetzt werden. Da gezeigt wurde, dass die modern(istisch)e Architektur nicht zeitlos ist, sondern ihrer Zeit verbunden, ist ein neues System zur Organisation der Architekturgeschichte nicht erforderlich. Stattdessen wird die Überblendung der modernen historistischen Auffassung der Zeit durch etwas Neues den alten, gleichermaßen modernen und historistischen »Gänsemarsch der Stile« schließlich obsolet machen. Was ihn ersetzen wird, bleibt abzuwarten.

Epochenstil oder zeitloses Universelles: Die Moderne in der Architekturhistoriografie

11 Diese zusammengefasste Diskussion basiert auf Recherchen für ein Buch über Franz Kugler und sein Handbuch der Kunstgeschichte (1842). Eric Garberson: »Art History in the University: Hotho – Toelken – Kugler«. In: Journal of Art Historiography, Nr. 5, 2011, S. 1–89. 12 Vgl. Tamm/Olivier 2019, S. 3–4; Lorenz 2017, mit weiterführender Literatur. 13 Vgl. Jacques Bos: »Nineteenth-Century Historicism and Its Predecessors: Historical Experience, Historical Ontology and Historical Method«. In: Jens Bod / Jaap Maat / Thijs Weststejn (Hg.): The Making of the Humanities: From Early Modern to Modern Disciplines. Amsterdam 2012, S. 131–148. 14 Vgl. Daniel Fulda: »Historisierung und ihre Widerparte. Zwei Begriffsangebote samt einer Beispielanalyse zur Konstruktion des Klassischen im 18. Jahrhundert«. In: Moritz Baumstark / Robert Forkel (Hg.): Historisierung. Begriff – Geschichte – Praxisfelder. Stuttgart 2016, S. 17–35, hier: S. 17–19. 15 Vgl. ebd., S. 23. 16 Die Erforschung der Kultur als Organismus mit eigenen Gesetzen ist ein großes Thema in der Fachliteratur zu den historischen Disziplinen. Für eine fundierte Einführung siehe Peter Hanns Reill: »Science and the Construction of the Cultural Sciences in Late Enlightenment Germany«. In: History and Theory, Nr. 3, 1994, S. 345–366. 17 Vgl. Hubert Locher: »Das ›Handbuch der Kunstgeschichte‹. Die Vermittlung kunsthistorischen Wissens als Anleitung zum ästhetischen Urteil«. In: Wessel Reinink / Jeroen Stumpel (Hg.): Memory & Oblivion: Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art. Dordrecht 1999, S. 69–87; Eric Garberson: »Fixing Lessing’s Error: E. H. Toelken’s Addendum to Laokoon, 1822«. In: Sarah J. Lippert (Hg.): Space and Time in Artistic Practice and Aesthetics: The Legacy of Gotthold Ephraim Lessing. London / New York 2017, S. 74–96, hier: S. 79–80. 18 Vgl. Johannes Grave: »Postscriptum. Ein Ausblick auf die Folgen organischer Metaphorik im Diskurs der Kunstgeschichte«. In: Ders. / Hubert Locher / Reinhard Wegner (Hg.): Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800. Göttingen 2007, S. 219–229. 19 Vgl. Maike Oergel: Zeitgeist – How Ideas Travel: Politics, Culture and the Public in the Age of Revolution. Berlin 2019; Theo Jung: »Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert. Dimensionen eines umstrittenen Begriffs«. In: Achim Landwehr (Hg.): Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Bielefeld 2012, S. 319–355. 20 Vgl. Ralf Konersmann: »Der Hüter des Konsenses. Zeitgeist-Begriff und Zeitgeist Paradox«. In: Michael Gamper / Peter Snyder (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper. Freiburg 2006, S. 247–264, hier: S. 258. 21 Vgl. Hvattum 2019. 22 Vgl. August Wilhelm Schlegel: »Ueber das Verhältniß der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit; über Stil und Manier«. In: August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften,

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Anmerkungen 1 E-Mail-Austausch vom 24. und 27. Juni 2018. Ich möchte Eva von Engelberg dafür danken, dass sie mir angeboten hat, diese wichtigen Fragen aufzugreifen, sowie für die Einsichten, die sie mir beim Verfassen dieses Beitrags geboten hat. Übersetzung des Beitrags aus dem Englischen von Michael Pilewski, überarbeitet von dem Verfasser und Eva von Engelberg. 2 Klaus W. Hempfer: Literaturwissenschaft. Grundlagen einer systematischen Theorie. Stuttgart 2018, S. 214–256; Chris Lorenz: »Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker«. In: Fernando Esposito (Hg.): Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeit nach dem Boom. Göttingen 2017, S. 63–92. 3 George Kubler: »Towards a Reductive Theory of Visual Style«. In: Beryl Lang (Hg.): The Concept of Style. Ithaca 1987 (2. Auflage), S. 163–173, hier: S. 163. 4 Vgl. Jan von Brevern / Joseph Imorde / K. Ludwig Pfeiffer: »›A Word to Avoid‹: Editorial«. In: Kritische Berichte, Nr. 1, 2014, S. 3–7; Mari Hvattum: »Mere Style?«. In: Architectural Histories, Nr. 6, 2018, S. 1–4, hier: S. 1 und 4, unter: https://doi. org/10.5334/ah.342 (letzter Zugriff: 17.02.2019). 5 Vgl. Klaus Jan Philipp: Gänsemarsch der Stile. Skizzen zur Geschichte der Architekturgeschichtsschreibung. Stuttgart 1998, S. 13–19, 27–33; Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst. München 2001, S. 243–280; Petra Brouwer: »The Pioneering Architectural History Books of Fergusson, Kugler, Lübke«. In: Getty Research Journal, Nr. 10, 2018, S. 105–120. 6 Vgl. Richard Bach: »Schools, Colleges, and the Industrial Arts«. In: Art Bulletin, Nr. 2, 1920, S. 171– 175, hier: S. 174–175; Pinder, Wilhelm: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte [1926]. Leipzig 1941 (3. Auflage), S. 14–15. 7 Vgl. Hempfer 2018, S. 170–174; Philipp 1998, S. 13–16; Bruno Klein / Bruno Boerner: »Fragen des Stils«. In: Dies. (Hg.): Stilfragen zur Kunst des Mittelalters. Eine Einführung. Berlin 2006, S. 7–23, hier: S. 7–8, 15–16. 8 Vgl. Marek Tamm / Laurent Olivier: »Introduction: Rethinking Historical Time«. In: Dies. (Hg.): Rethinking Time: New Approaches to Presentism. London 2019, S. 1–20; Chris Lorenz: »›The Times They Are a-Changin’‹: On Time, Space, and Periodization in History«. In: Mario Carretero / Stefan Berger / Maria Grever (Hg.): Palgrave Handbook of Research in Historical Culture and Education. London 2017, S. 109–131. 9 Vgl. Dan Karlholm / Keith Moxey: »Introduction: Telling Art’s Time«. In: Dies. (Hg.): Time in the History of Art: Temporality, Chronology, and Anachrony. New York / London 2018, S. 1–10. Die gesammelten Beiträge zeigen eine Vielzahl neuer Alternativen auf, wobei jedoch keiner davon der Architekturgeschichte gewidmet ist. 10 Vgl. Wolfgang Brückle: »Stil (kunstwissenschaftlich)«. In: Karlheinz Barck et al.: Ästhetische Grundbegriffe, Band 5. Stuttgart / Weimar 2003, S. 664–688, hier: S. 667–686; Mari Hvattum: »Style: Notes on the Transformation of a Concept«. In: Architectural Histories, Nr. 7, 2019, S. 1–12, unter: https://doi. org/10.5334/ah.367 (letzter Zugriff: 02.02.2020).

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Band 2. Berlin 1828, S. 310–336; erstmals veröffentS. 121–160; Terry Smith: »Rethinking Modernism licht in Prometheus, Nr. 5, 1808, S. 1–28. Hvattum and Modernity Now«. In: Filozofski vestnik, Nr. 2, (2019, S. 5–6) gelangt zu einer ähnlichen Schluss2014, S. 271–319; Christof Dipper: »Die deutsche folgerung, argumentiert aber, dass der Stil selbst Geschichtswissenschaft und die Moderne«. In: die rechtmäßige Korrelation des künstlerischen Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutSchaffens mit seiner Zeit ist und nicht ein Instruschen Literatur, Nr. 1, 2012, S. 37–62. Ich möchte Professor Dipper für die aufschlussreichen Gement zur Messung dieser Korrelation. 23 Vgl. Anthony Vidler: Histories of the Immediate spräche am Kolloquium danken. Present: Inventing Architectural Modernism. Cam- 28 Dipper (2012, S. 37–38, 59) hat argumentiert, dass bridge, MA 2008, S. 7; Sarah Williams Goldhagen: das Substantiv »die Moderne« auf nichts vor den »Something to Talk About: Modernism, Discourse, späten 1880er-Jahren angewandt werden sollte. Style«. In: Journal of Architectural Historians, Nr. 2, Zu dieser Zeit wurde es erstmals verwendet, um sich auf neue ästhetische Bewegungen zu bezie2005, S. 144–167. 24 Vgl. Vidler 2008, S. 7; Alina Payne: From Ornament hen, und seine Bedeutung wurde bald erweitert, um die Wahrnehmung einer neuen Epoche zu to Object: Genealogies of Architectural Modernism. erfassen. Er räumt jedoch ein, dass das Adjektiv New Haven / London 2012, S. 112–114, 158–194. modern für den gesamten Zeitraum ab etwa 1800 25 Aus der umfangreichen Fachliteratur siehe Hvatangemessen ist. Dies mag es vielleicht rechtfertitum 2019 mit weiteren Quellenangaben. 26 Vgl. Detlef Mertins: »Introduction«. In: Walter gen, die Architekturmoderne mit modernistischer Curt Behrendt: The Victory of the New Building Architektur gleichzusetzen, aber die Verwendung Style. Los Angeles 2000, S. 1–84; Deborah Ascher des Substantivs für den gesamten Zeitraum ist beBarnstone: »Style Debates in Early 20th-Century reits zu gut etabliert. German Architectural Discourse«. In: Architectu- 29 Vgl. Tamm / Olivier 2019; Lorenz 2017. Siehe auch ral Histories, Nr. 6, 2018, S. 1–9, unter: https://doi. Hans Ulrich Gumbrecht: Our Broad Present: org/10.5334/ah.300 (letzter Zugriff: 17.02.2019). Time and Contemporary Culture. New York 2014 27 Dazu verweise ich auf Cornelia Klinger: »Mo(deutsch: Unsere breite Gegenwart. Berlin 2011). dern/Moderne/Modernismus«. In: Ästhetische Grundbegriffe, Band 4. Stuttgart / Weimar 2002,

Von der Tischleuchte von Carl Jakob Jucker und Wilhelm Wagenfeld über die Wiege von Peter Keler bis hin zu Marcel Breuers Stahlrohrstuhl B3 und zum Barcelona-Sessel von Ludwig Mies van der Rohe: All diese Designentwürfe wurden in der Nachkriegszeit reediert, werden bis heute zum Verkauf angeboten und sind inzwischen als BauhausKlassiker bekannt. Ab Anfang der 1970er-Jahre verdichtete sich das Auftreten von Reeditionen, die seit den 1960er-Jahren als Phänomen der Designgeschichte zu beobachten sind und Ende der 1980er-Jahre mit der Lancierung immer neuer Reproduktionen weltweit einen quantitativen Höhepunkt erreichten. Die Wahl der neu aufzulegenden Designwerke erfolgte dabei recht subjektiv nach der jeweiligen Produzentenstrategie der Firmen. Neben opulenten Firmendrucksachen erschienen die Reeditionen zeitgleich ab Mitte der 1960er-Jahre auch in zahlreichen gedruckten Medien wie etwa Periodika. Dort wurden sie recht unterschiedlich definiert und geradezu etikettiert: von »zeitgenössisch« bis hin zu Bezeichnungen als »moderne Klassiker« oder »historische Möbel«. Im Rückschluss stellt sich deshalb die Frage, inwieweit auch die Reeditionsproduzent*innen historisierende Ansätze intendierten. Die Postmoderne rezipierte ihrerseits die Reeditionen, die sich dazu eigneten, die Kunstavantgarde, der die reedierten Möbel entstammten, kritisch zu beleuchten, zu historisieren oder zu persiflieren. Mit der Entstehungsanalyse von Bauhaus-Reeditionen anhand von Reportagen und Werbekampagnen in Fachzeitschriften untersucht der Beitrag die Reeditionen zwischen (Kultur-)Erbe und Vermarktungszwecken und beleuchtet, wie Printmedien zu ihrer tragenden Rolle im making of der modernen Klassiker kamen und welche Rolle Bauhaus-Reeditionen in diesem Prozess zugesprochen wurde. 2003 behauptete der Kunsthistoriker Andreas Haus: »Mit Walter Gropius’ Tod [1969] endete die fast bedingungslose Gropius-Verehrung der Nachkriegszeit.«1 Gerade die späten 1960er-Jahre bildeten aber einen Höhepunkt der Hagiografie des Bauhauses, die sich jedoch eher auf die Objekte, die dort entstanden waren, als auf die BauhausAkteur*innen konzentrierte. Denn ebenfalls in den späten 1960er-Jahren (1968) hatte die weltweit agierende Möbelfirma Knoll, gegründet 1938 in New York vom gebürtigen Stuttgarter Hans G. Knoll, das italienische Unternehmen Gavina S.p.A. mitsamt Produktionspalette aufgekauft.2 Zu den für Knoll interessantesten Produkten gehörte der Wassily-Sessel, die Reedition von Breuers Stahlrohrsessel aus dem Jahr 1926, den Marcel Breuer und Dino Gavina 1962 aus der Taufe gehoben hatten und der sich innerhalb von Knolls Produktionsprogramm neben die 1947 geschaffene Reedition von Mies van der Rohes Barcelona-Sessel von 1929 reihte. (  Abb. 1) Wie war es aber zur Entstehung des Wassily-Sessels in Italien gekommen? Ein Teil der Bauhaus-Rezeption in der Nachkriegszeit hatte 1954 Giulio Carlo Argans Essay

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970erund 1980er-Jahren

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Donatella Cacciola

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Walter Gropius e la Bauhaus3 ausgelöst, der bereits im Titel ein Statement darüber abgab, welches Bauhaus gemeint war – dasjenige unter Gropius’ Direktorat. Doch die Idee der Reedition von Breuers Stahlrohrsessel verdankt sich in erster Linie Dino Gavinas Bewunderung für das Bauhaus allgemein und insbesondere für Marcel Breuer, die einem Personenkult nahekam. Breuers Ruf in Italien war nicht zuletzt durch ein weiteres Werk von Argan aus dem Jahr 1957 verfestigt worden: Marcel Breuer. Disegno industriale e architettura.4 In den Augen Gavinas hatte vor allem das Dessauer Bauhaus konsequente Ansätze für die Serienproduktion moderner Möbel geliefert, mehr als die Vertreter*innen des italienischen Razionalismo, und Gavina wusste sehr genau, was in der eigenen Produktionspalette als modern gelten konnte und was nicht. Schließlich hatte er par contre drei Jahre vor dem Wassily-Sessel den Sessel Lierna der Brüder Castiglioni produziert und sich damit bewusst antimodern präsentiert, denn der Sessel fügte sich ein in die italienische Neoliberty-Bewegung, ein Revival des Jugendstils am Ende der 1950er-Jahre. So sehr der Wassily-Sessel auch als modernes Möbelstück (wieder-)entstand, um endlich in einer mindestens dreistelligen Stückzahl jährlich produziert zu werden, trug er doch in seinem Namen einen historischen Bezug. In Erinnerung an Wassily Kandinsky, der Marcel Breuer mit der Einrichtung seines Meisterhauses in Dessau beauftragt hatte, setzte sich »Wassily« gegenüber den Namensvarianten »Weimar« oder »Dessau 1925« durch. Breuer wäre auch mit »1925« zufrieden gewesen.5 Fakt ist: Der historische Bauhaus-Bezug bestimmte das Verständnis des reedierten Sessels, sowohl in Gavinas als auch in Breuers Intentionen. Vor diesem Hintergrund nimmt meine Untersuchung ihren Ausgang in Italien, da sich beginnend mit den Breuer-Gavina-Reeditionen eine chronologische Kontinui-

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

 Abb. 1 Marcel Breuer, Stahlrohrsessel in der von Dino Gavina hergestellten Reedition Wassily, 1964/65

Entstehung von Bauhaus-Reeditionen in den 1970er-Jahren 1972 übernahmen Werner und Axel Bruchhäuser, zwei Polstermöbelfabrikanten aus Güstrow, die 1956 von Hans Könecke in Lauenförde gegründete Firma Tecta.8 Betrachteten beide – nach eigenen Worten – die Produktion von Möbeln des Bauhauses und damit des Weimarer und Dessauer Erbes in der DDR als chancenlos, so sahen sie im Westen die Gelegenheit, ein bestehendes privatwirtschaftliches Unternehmen weiter-

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

tät in der Entstehung von Reeditionen der Klassischen Moderne feststellen lässt, und somit von der Etablierung eines Geschäftsmodells die Rede sein kann. 1965, womöglich vom Erfolg des Wassily-Sessels inspiriert, ließ das alteingesessene und gelegentlich mit Gavina kooperierende Unternehmen Cassina die Reeditionen einiger Modelle von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand (wieder-)auflegen. Daraufhin entstand ein ganzes Produktionsprogramm – »I Maestri« (»Die Meister«) – das vorwiegend Reeditionen von Möbeln der Klassischen Moderne beinhaltete. Immer mehr Unternehmen widmeten sich sodann Reeditionen von Möbeln aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, wobei ihnen keine Epoche zu weit von der Gegenwart entfernt schien. Die in diesem Kontext entstandenen Bauhaus-Reeditionen stellten somit lediglich eine Facette dieses Replikenphänomens dar und wurden nicht häufiger hergestellt als Produkte früherer Zeiten – dies, obwohl sie den Ausgangspunkt der Reeditionen-Welle gebildet hatten. Während es sich aufgrund fehlender Dokumentationen schwierig gestaltet, den Erfolg der Reeditionen in Verkaufszahlen zu bemessen, sind Printmedien ein geeignetes Mittel, um ihre bildliche Verbreitung zu erfassen. Die Bedeutung dieser Printmedien als Vermittler der Designprodukte, die somit unter Umständen zentrale Akteure der Designgeschichte bilden, hat insbesondere Grace Lees-Maffei 2009 in dem von ihr erläuterten »PCM Paradigm« (Production, Consumption, Mediation Paradigm) aufgeführt.6 Verglichen mit Periodika ist die Anzahl von Buchpublikationen, die eine entsprechende Vermittlungsrolle spielen, verschwindend gering. Innerhalb der Untersuchung werde ich illustrierte Reportagen gleichwertig wie Werbekampagnen behandeln, denn in beiden Publikationsformen waren Reeditionen gleichermaßen präsent, wobei fast der Eindruck entstehen könnte, Werbeanzeigen seien stets mit Artikeln und Reportagen redaktionell abgestimmt gewesen. Geografisch konzentriere ich mich neben Italien auf die Bundesrepublik Deutschland. Letztere ist im Hinblick darauf von Interesse, inwiefern sich die Diaspora-Situation der Designer*innen ab Anfang der 1930er-Jahre auf die Vermarktung von Bauhaus-Objekten ausgewirkt hat. Im Übrigen lassen sich eher hier als in der DDR Bauhaus-Reeditionen nachweisen.7

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 Abb. 2 Reedition von Peter Kelers Wiege in einem Prospekt der Firma Tecta, Lauenförde (»Möbelentwürfe vom Bauhaus bis zur Gegenwart«, Auszug), Anfang der 1980erJahre

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Pressestimmen Eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Reeditionen in den Printmedien und den Illustrierten der 1970er-Jahre steht noch aus. Jedoch bewähren sich diese als Quellen sowohl für eine Chronologie der Entstehung von Reeditionen als auch zur Definition der dazugehörigen Begrifflichkeit. Berücksichtigt habe ich in der Folge Periodika der Bundesrepublik, wie Schöner Wohnen (ab 1964) und dessen 1979 entstandenen Ableger Häuser, sowie Italiens, darunter Domus (ab 1961), Interni (ab 1963), Abitare (ab 1962) und vereinzelt Casa Vogue (ab 1968).14

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zuführen und ihre eigenen Vorstellungen in ihrem Produktionsprogramm umzusetzen. 1974 startete die Manufaktur Tecta die Neuauflage von Gropius’ Stühlen, die dieser für das Fagus-Werk entworfen hatte. Im Jahr darauf erfolgte die Reedition von Peter Kelers Wiege.9 (  Abb. 2) Bis zum Ende dieser Dekade widmete sich Tecta der Kontaktaufnahme zu und der Kontaktpflege mit Entwerfer*innen bzw. deren Erb*innen sowie der Entwicklung von Reeditionen von Objekten mit Bezug zum Bauhaus. Bis 1979 entstanden je eine Neuauflage des Eisengarn-Gewebes als Meterware sowie des Stahlrohr-Klappsessels der Stuttgarter Weißenhof-Ausstellung von 1927 (als Reedition B4 genannt). Zudem kennzeichnete Tecta seine Bauhaus-Reeditionen später – quasi als Brand – mit dem Bauhaus-Signet von Oskar Schlemmer. Neuauflagen aus der Bauhaus-Weberei gab es zu diesem Zeitpunkt bereits: In Italien hatte Cassina schon 1973 einige Webmuster aus dem Bauhaus neu editiert,10 1975 folgte der Berliner Architekt Helmut Maucher mit der Neuauflage des Eisengarn-Gewebes.11 Schließlich wurde 1979 in Bremen Tecnolumen gegründet, jene Manufaktur, die vier Jahre später die Tischleuchte von Carl Jakob Jucker und Wilhelm Wagenfeld produzieren sollte. Die erwähnten Beispiele zeigen in erster Linie, dass Bauhaus-Objekte nach 1945 relativ beliebig ausgewählt und neu aufgelegt wurden. Die Selektion erfolgte dabei losgelöst von jedem Einrichtungskontext und ohne Bezug zur historischen Entstehung der Werke. Zum Teil bezogen sich die Produkte auf die Dessauer Zeit, zum Teil auf die Weimarer, zum Teil auf andere (Bau-)Werke von Bauhaus-Protagonist*innen. Doch vor allem wurden Objekte aus der Zeit des Gropius-Direktorates reediert. Auch Mies van der Rohe kam als Entwerfer von »Bauhaus-Objekten« offenbar in Anlehnung an sein Direktorat von 1930 bis 1933 ins Spiel, streng genommen entstanden seine reedierten Objekte aber nicht am Bauhaus. Praktische und rechtliche Gründe wie der direkte Kontakt zu den Entwerfer*innen oder deren Erb*innen und der Erhalt der Nutzungsrechte steuerten womöglich das jeweilige Firmenprogramm mit. Die Dekade der 1970er-Jahre verbindet die Gründung des Bauhaus-Archivs in Darmstadt 1968, die weltweit wandernde Ausstellung 50 Jahre Bauhaus im Jahr darauf und die Eröffnung des Bauhaus-Archivs in Berlin 1979. Es ist jedoch sehr fraglich, ob diese Ereignisse eine Rolle für die Produktionsprogramme und Verkaufsstrategien einzelner Unternehmen spielten. Umgekehrt ist beispielsweise der US-amerikanischen Presse zu entnehmen, wie vor allem die Ausstellung die Aufmerksamkeit auf die in den USA vertriebenen Reeditionen lenkte – so war es »finanzkräftigen, durch die Ausstellung angeregten Interessenten möglich, sich ein Stück Designgeschichte zu kaufen und in das eigene Wohnzimmer zu stellen.«12 Verwirklichte sich durch diese Reeditionen das Ziel des Bauhauses, also das, was Gropius seinerzeit im Fokus hatte? So sollte auf die Produktion von Designprodukten in der Kunstschule deren industrielle Reproduktion folgen.13 Abgesehen vom Konzept der Serienproduktion, die auf Reeditionen selten zutrifft, ist dies zu bejahen.

177 Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Nehmen wir als Beispiel die Inhalte von Schöner Wohnen, einer 1960 für ein breites Publikum gegründeten Zeitschrift zum Thema Wohnungseinrichtungen: Nebst zunehmender Präsenz von Reeditionen, welche die oft abgebildeten Stilmöbel verdrängten, erschien hier erstmals Ende 1974 der Begriff Klassiker, später ergänzt zu moderne Klassiker. Als Klassiker wurden in Schöner Wohnen nicht nur Bauhaus-Reeditionen bezeichnet, überhaupt nicht nur Reeditionen, sondern generell auch Möbel und Objekte, deren Entstehung vorzugsweise mindestens 20 Jahre zurücklag. Den Deklarierungen von Schöner Wohnen folgend, sind alle Reeditionen Klassiker, es eignen sich aber nicht alle Klassiker als Reeditionen. Implizit findet durch diese pauschalisierende Bezeichnung, die quasi in einem Schritt die Entstehungszeit der einzelnen Möbel mit dem Hier und Jetzt verbindet, eine unterschwellige semantische Verschiebung statt. Die Klassiker sollen als zeitlos verstanden werden; Begriffe wie historisch kommen in Verbindung mit den Reeditionen in Schöner Wohnen entsprechend nicht vor. Die Bezeichnung als moderne Klassiker für Bauhaus-Reeditionen assoziiert eine Rückkopplung zu Gropius’ Worten, der 1926 in den »Grundsätzen der Bauhaus-Produktion« verkündete: »Der moderne Mensch, der sein modernes, kein historisches Gewand trägt, braucht auch moderne, ihm und seiner Zeit gemäße Wohngehäuse mit allen der Gegenwart entsprechenden Dingen des täglichen Gebrauches.«15 Doch solche historische Bezugnahmen sind nicht das Thema dieser Zeitschrift. Vielmehr werden abgebildete Reeditionen mit dem Begriff Bauhaus versehen, als wären die historische Kunstschule und deren Programm den Leser*innen vertraut. Also wird Bauhaus zum Etikett, ebenso wie Klassiker. Auf den Seiten von Schöner Wohnen ist schon Ende der 1970er-Jahre die Zuordnung zum Bauhaus auf jedem halbwegs kantigen und mit Stahlrohr versehenen Möbelstück zu finden. Somit wird für einige Möbel, Reeditionen oder nicht, die Bauhaus-Assoziation benutzt, selbst wenn es hierfür keine sachliche Grundlage gibt. Zur gezielten Verallgemeinerung unter dem Begriff Bauhaus kam die anarchische Überflutung mit visuellen Bildern dieser Möbel: Wie niemals zuvor sind ab Ende der 1970er-Jahre die Reeditionen allgegenwärtig als Einrichtungskulisse vertreten. So zeigen Reportagen und Werbeanzeigen den Wassily-Sessel etwa in einer studentischen Dachwohnung, in einer Küche und in einer »guten Stube«. Somit wird die Bedeutung des Klassikers als etwas Allgemeingültiges stillschweigend übertragen. Welche Reeditionen treten als Klassiker dabei am häufigsten in Erscheinung? Hier sind neben den Möbeln von Le Corbusier vor allem Breuers Stahlrohr-Kragstuhl und Mies van der Rohes Barcelona-Sessel zu nennen. Basieren die oben aufgeführten Informationen auf Printmedien aus der Bundesrepublik, zeigt sich im selben Zeitraum in Italien ein anderes Bild: Dort erlebte die bildliche und überhaupt mediale Verbreitung von Reeditionen – insbesondere von Sitzmöbeln – einen rasanten Anstieg. Die Bezeichnung abgebildeter Möbel als »I classici moderni« (moderne Klassiker) erfolgte in italienischen Einrichtungsmagazinen erstmals 1948 (Domus),16 meint hier jedoch zeitgenössische Entwürfe von Breuer, Alvar Aalto und Eero Saarinen und keine Reeditionen. Die Verwendung dieses Ausdrucks blieb dabei auf Einzelfälle beschränkt, insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren sucht man ihn vergeblich. Casa Vogue bezeichnete Reeditionen ab den 1970er-Jahren als Klassiker. In den Zeitschriften Domus respektive Modo sprachen Design- und Architekturhistoriker*innen in unterschiedlicher Weise über Reeditionen: Josef Rykwert stellte die Frage, ob es sich dabei um Fälschungen handele – hielt aber eine qualitätsvolle Fälschung im Zweifelsfall für gut.17 Bruno Zevi sah Reeditionen von Charles-Rennie-MackintoshMöbeln generell kritisch, Neuauflagen von Werken Le Corbusiers begrüßte er dagegen.

1980er-Jahre Die Reeditionen erreichten eine Hochzeit in den 1980er-Jahren. Parallel hierzu traten vermehrt Publikationen dieser Werke auf, sowohl Zeitschriften als auch Bücher. 1981 brachte der Architekt und Kurator Klaus-Jürgen Sembach die populärwissenschaftliche Anthologie Moderne Klassiker – Möbel, die Geschichte machen19 heraus – eine Sammlung von Beiträgen, die davor Monat für Monat in der Zeitschrift Schöner Wohnen veröffentlicht worden waren. Damit etablierte sich die Bezeichnung moderner Klassiker für Reeditionen. Drei Kriterien waren bestimmend für die Auswahl der Vorbilder: Sie sollten vor 1971 entstanden sein – also mindestens zehn Jahre vor Publikation der Anthologie –, noch oder wieder produziert werden und »namhafte« Urheber*innen, zum Beispiel prominente Architekt*innen, haben. Die Vorbilder wurden in »moderne Klassiker«, »zeitgenössische Klassiker« und »Klassiker von morgen« unterteilt. Möbel, die Geschichte machen, sind – so die im Buch vertretene Auffassung – von überzeitlicher Bedeutung. Eine konsequente Rückbindung der Objekte an einen designhistorischen Kontext fand jedoch in dieser Publikation unter anderem aufgrund der zu vagen Auswahlkriterien nicht statt. Als Bauhaus-Reeditionen erschienen neben dem Wassily- und dem BarcelonaSessel die Tischlampe von Wilhelm Wagenfeld und Peter Kelers Wiege. Es spielte dabei keine Rolle, dass diese Möbel einst in kleinster Serie entstanden waren. Auch die Auflagenhöhe der Reeditionen hatte keinen Einfluss auf eine Bezeichnung als Klassiker. Sembachs Anthologie wurde in der Bundesrepublik in insgesamt 33 Auflagen gedruckt, 1985 erschien sie, herausgegeben vom Domus-Verlag, auf Italienisch.20 (  Abb. 3)

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Zevis subjektives Urteil rief die empörte Reaktion Gavinas hervor, der bis zum Ende seines Lebens nur Reeditionen bejahte, die nicht in der Manufaktur, sondern als Serie mit industriell hergestellten Elementen produziert werden können.18 In Domus erschienen zudem in Reportagen oder Werbekampagnen Reeditionen von Entwürfen, welche als nationale Moderne gedeutet wurden – so griff etwa ein österreichischer Produzent auf Werke von Josef Hoffmann und Koloman Moser zurück. In Italien ließ Aurelio Zanotta den Razionalismo der 1920/30er-Jahre mit Reeditionen von Möbeln Giuseppe Terragnis und Gabriele Mucchis wieder aufleben.

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 Abb. 3 Unter den modernen Klassikern sind generell wenige Reeditionen von BauhausEntwürfen zu finden. Umschlaggestaltung des Buches Moderne Klassiker. Möbel, die Geschichte machen von Klaus-Jürgen Sembach in der italienischen Ausgabe (Rozzano 1985); Coverdesign: Atelier Schöner Wohnen, Hamburg

Bauhaus-Reeditionen und Postmoderne Die Rückkoppelung des Retrotrends im Möbeldesign auf die Architektur ist aber bei Weitem nicht nur auf Marketingstrategien von Designproduzent*innen zurückzuführen: Auch in der Architektur wird seit den 1970er-Jahren verstärkt auf historische Bauten und Bauformen zurückgegriffen, darunter auf die der Avantgarden der 1920erJahre.23 Seit den 1970er-Jahren sind somit Produktdesign und Architektur durch den formal-gestalterischen Rückgriff auf das Vergangene verbunden. Die Hintergrundfolie all dessen bildet die Postmoderne. Jedoch sind postmodernes Produktdesign und das Phänomen der Reeditionen nicht deckungsgleich, auch wenn beide gemeinsam haben, dass sie Entwerfer*innen und ihre Objekte aus der – inzwischen historisch gewordenen – Klassischen Moderne wieder aktivieren. Besonders umsichtig müssen daher die jeweiligen Intentionen herausgearbeitet werden. Im Rahmen der 1977 gegründeten Initiative Alchimia stellte 1978 Alessandro Mendini eine Serie von Einzelobjekten unter dem Namen »Redesign del Movimento Moderno« vor. Pastellfarbige aufgeklebte Verzierungen kaschieren einen Wassily-Sessel, den Thonet-Stuhl Nr. 14 oder Gio Pontis Stuhl Superleggera. Bezüglich der Auswahl könnte man hier eine Parallele zu den Büchern über die modernen Klassiker sehen. Doch Mendinis Ziel war keineswegs die Bewerbung von Objekten, die primär zum Zweck des Verkaufs hergestellt wurden. Die Objekte des Redesigns sind verfremdete Ausgangsobjekte, die aber erkennbar bleiben. Der Vorgang des Verfremdens ist eine Art Mischung aus Ironisierung und kritischer Distanznahme zum Objekt und seinem historischen sowie symbolischen Wert. Zur Idee des Redesigns und seiner Rolle als Entwerfer schrieb Mendini 1981, quasi die platonische Ideenlehre aufgreifend: »[…] so glaube ich, dass alles, was ich entwerfen kann, bereits existiert, dass jedes Design immer und nur Redesign ist.«24 An die-

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Architekt*innen als Designer*innen »Every one of the major innovation of modern furniture designs has been the work of an architect«.21 Die doppelte Rolle der Architekt*innen als Entwerfer*innen von Bauwerken und Möbeln kam bei Bauhaus-Reeditionen auf mehreren Ebenen zum Tragen: Einerseits hatten Breuer und Mies van der Rohe – sofern man ihre Entwürfe mit dem Bauhaus assoziieren konnte – die Entwicklung der Reeditionen zumindest am Anfang teilweise persönlich begleitet. Andererseits verkörperten sie, solange sie lebten, die lebendige Erinnerung an das Bauhaus. Ihre Tätigkeit als Architekten während der 1920er-Jahre wertete die Reeditionen als »Autorenmöbel« doppelt auf. Die Wahrnehmung der Objekte erfolgte als Pars pro Toto: Ein Wassily-Sessel stand für Breuer, Architekt und Designer, Breuer wiederum stand für das Bauhaus. Allgemein lässt sich sagen, dass Möbelentwürfe von Architekt*innen ein zusätzlicher Ansporn für Unternehmen sein konnten, diese neu aufzulegen, diese aber dennoch den Marktgesetzen untergeordnet blieben – man denke an Cassina und die Reeditionen der Möbel von Erik Gunnar Asplund (ab 1983), die sich nicht gut verkauften und nach kurzer Zeit aus dem Produktkatalog verschwanden.22 So schnell konnte der Würdigung der Klassischen Moderne auch wieder ein Ende gesetzt werden.

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Vergleicht man sie mit Clement Meadmores Buch The Modern Chair. Classics in Production von 1974 sowie mit der Reihe »Möbel von Architekten«, die 1981 und 1983 in der Zeitschrift Interni erschien, sind die Schnittmengen frappant. Insgesamt sind die meisten Klassiker, die in den 1970er-Jahren neu aufgelegt wurden, Möbel von Architekt*innen.

Zeitgenössisch? Historisch? Modern? Bauhaus-Entwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Von Mitte bis Ende der 1980er-Jahre: Bekenntnis zum Historismus? Dessen ungeachtet zeigt ein Blick in die gedruckten Medien, dass über die Bezeichnung Klassiker weitgehend Konsens herrschte, sowohl in Deutschland als auch in Italien. Doch bereits in den 1980er-Jahre erhielten Reeditionen von mehreren Seiten die Bezeichnung »historische Möbel« – ein Bekenntnis zu der Tatsache, dass das Design dieser Möbelstücke der Vergangenheit angehörte. Filippo Alison, Professor für Innenarchitektur an der Universität Neapel und Cassinas Berater für die Serie »I Maestri«,

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sem Punkt trennen sich die Wege von Verkaufsobjekten und theoretisch aufgeladenen Kunstwerken: Die Verkaufsziele eines Privatunternehmens, das auf Umsatz und Gewinn angewiesen ist, sind etwas grundsätzlich anderes als eine »intellektuelle Übung« wie die von Alchimia. Überhaupt zielte die Initiative Alchimia, deren erste Serien den Namen »Bau.Haus 1« und »Bau.Haus 2« trugen, darauf ab, zu zeigen, dass sogar das Design der Klassischen Moderne, das Design per se und die Verbindung von Produktion und Industrie nicht mehr zweckerfüllend sind.25 Die Objekte bilden Unikate, befreien sich vom Geschmackszwang, die Entwerfer*innen sind Redesigner*innen und haben nicht die Kundschaft des »neuen« Produktdesigns (aber womöglich des Kunstmarktes) im Visier. Einige Jahre später erkannte jedoch Mendini, der schon lange kein Mitglied von Alchimia mehr war, sehr gut die sich anbahnende kommerzielle Opulenz der 1980erJahre. Das Einkaufserlebnis wurde zum Ziel seiner Ironie. So schrieb er 1982 in Domus: »Welcher Genuss, welche intellektuelle Übung, beginnend mit dem egoistischen Erkunden von Märkten, Verkaufskatalogen, verführerischen Schaufenstern, Werbung, fremden Häusern – je mehr man versucht, diesen Dämon der Versuchung zurückzuweisen, desto stärker taucht er wieder auf und setzt sich durch.«26 Diese Parolen scheinen die Bildunterschrift zu der Fülle an exklusiven Reeditionen zu sein, die in opulenten Zeitschriften verbreitet wurden – wie etwa in Häuser als Pendant zu Schöner Wohnen. Ins Kreuzfeuer der kritischen Selbstreflexion geriet schließlich die Zitatfreiheit der Postmoderne, die sich der Klassischen Moderne als einer Sammlung von Stilvorlagen bediente. Als »The Age of Plunder« beschrieb 1983 Jon Savage diese Praxis in der Zeitschrift The Face: »The postmodern quotation was an admission of a creative paralysis, a form of surrender«. Der Autor bezeichnete »the past as commodity and disposable«27, als wäre die Vergangenheit ebenfalls ein Produkt – griffbereit und im Zweifelsfall problemlos zu entsorgen. Demgegenüber war die Haltung der Produzent*innen von Reeditionen entschieden affirmativ. Aus unternehmerischer Sicht bildete das reedierte Objekt der Moderne ein zeitlich begrenztes Experiment unter Marktbedingungen und in diesem Zusammenhang fand Ironie keinen Platz. Selbst die Firma Tecta – für die Reeditionen aus dem Umfeld des Bauhauses ersehnte Wiederbelebungen der Klassischen Moderne bildeten und die ihre Objekte mit innovativen Techniken herstellte, als handele es sich um eine Fortsetzung des Bauhaus-Gedankens – begann das Produktionsprogramm zu variieren und setzte ab den 1980er-Jahren auf andere Produkte und Designer*innen wie Stefan Wewerka.28 Dennoch galten teilweise Bauhaus-Reeditionen als Spitzenprodukte innerhalb einer Produktionspalette, und dies führte aus wirtschaftlichen Gründen zu unterschiedlichen Entwicklungen. So gelang es Knoll, dem Wassily-Sessel in Deutschland künstlerischen Urheberrechtsschutz zusprechen zu lassen und ihn als Kunstwerk zu bewerben.29 Auch mündete Knolls Unternehmensstrategie in eine gewollte Pauschalisierung der Begrifflichkeiten. So entstand 1982 die Kollektion »Bauhaus-Klassiker«. Die Verkaufsbroschüren bildeten als Spitzenvertreter den Barcelona-Sessel und den Stahlrohr-Kragstuhl ab.

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kategorisierte Reeditionen in Domus erstmals 1982 als »Design storico«30. Doch eine kritische Untersuchung der »mobili storici«31 erfolgte erst 1988, als die Zeitschrift reedierte Stuhlmodelle unter die Lupe nahm, darunter den sogenannten Kragstuhl. Die Kernaussage ist hier, dass Reeditionen nicht alle gleich und nicht alle »stumm« sind.32 Dies stellt einen Ansporn dar, sich als Historiker*in mit der individuellen Geschichte eines reedierten Objektes und dessen Vorgänger kritisch auseinanderzusetzen – möglichst unter Verzicht auf pauschalisierende Begriffe wie zeitlos oder klassisch. Solche quellenbezogenen Untersuchungen zu Möbeln der Moderne gab es ab Mitte der 1970er-Jahre vereinzelt, zum Beispiel die Studien über Stahlrohrmöbel an der Technischen Universität Delft. Allerdings fanden in der damaligen Designhistoriografie Reeditionen – einschließlich Bauhaus-Reeditionen – keinen Platz. Ende der 1980er-Jahre entdeckte jedoch der Markt das Storytelling für sich und die Wiederentdeckung der Moderne wurde Teil eines ausgesprochenen Retrotrends. 1988 entstand das Unternehmen Manufactum, das auf Tradition setzt und nicht auf die mit dem Alten brechende Moderne. Sowohl der Name (manu factum – handgefertigt) als auch der bekannteste Firmenspruch – »es gibt sie noch, die guten Dinge« – verweist auf das Handwerkliche und bewertet es pauschal positiv. Auch bei Manufactum erscheint bis heute das immerwährende Etikett Bauhaus. Dieser Trend weitete sich aus: In den 1980er-Jahren bekannten sich Produzent*innen von Bauhaus-Reeditionen konsequent zur handwerklichen Herstellung. Alessi griff 1985 auf Marianne Brandts Aschenbecher und auf das Silberservice von 1924 zurück, um Letzteres als handwerkliche Herausforderung in Einzelstücken, und nicht seriell, neu zu vertreiben.33 Mit derselben Absicht wurde das Service erweitert. Auch in diesem Fall be-

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 Abb. 4 Vom Aschenbecher zum Klassiker und schließlich zur Designikone. Marianne Brandts Aschenbecher, 1995 von der Firma Alessi reeditiert, hier in der Ausstellung Design Icons of the 20th Century. High Concept Designs of the 1990s des US-amerikanischen Händlers Switch Modern in Atlanta, Georgia, 2019

Ab Anfang der 1970er-Jahre etablierte sich das Phänomen der Reeditionen von Möbeln und Designobjekten der Moderne unter Einbeziehung von Bauhaus-Entwürfen. Dieses Wiederaufleben der Moderne unter ökonomischer Zielsetzung kann man geradezu als ein gegen den Strom der Hochkultur gerichtetes Phänomen bezeichnen: Es handelt sich um keine Kritik an der Moderne, schon gar nicht um eine Persiflage, vielmehr um den Versuch, das Design der Moderne wiederaufleben zu lassen und nach Möglichkeit exklusive Artefakte zu schaffen (in Lizenz und durch Manufakturen hergestellte Reeditionen sind teurer als maschinell hergestellte Objekte, für die unter Umständen auch keine Tantiemen zu zahlen sind). Die Fülle unterschiedlicher Reeditionen, die seit dieser Zeit entstanden, ist nicht Teil des postmodernen Zitierens aus dem Fundus der Vergangenheit. Zudem entstehen Reeditionen zunächst nicht im Zuge eines bewussten Retrotrends wie bei der italienischen Neoliberty-Bewegung der 1950er-Jahre. Ganz im Gegenteil: Die Produzent*innen und die unmittelbare Rezeption in den Zeitschriften kaschierten durch die Bezeichnung der Reeditionen als Klassiker oder moderne Klassiker anfangs jeden Zeitbezug. Hier zeigt sich auch, dass diese Rezeption auf keiner wissenschaftlichen Reflexion basiert, zumal als moderne Klassiker eigentlich zumeist die Ausgangsobjekte gemeint waren, tatsächlich aber Abbildungen der Reeditionen so genannt wurden. Die vereinzelten Stimmen der Historiker*innen verirren sich in formalistischen Überlegungen. Insgesamt finden Reeditionen bislang keinen Platz in den Designgeschichten. Im Kontext der 1970er- und frühen 1980er-Jahre weisen Reeditionen dennoch einige Gemeinsamkeiten mit der Postmoderne auf, da sie oft in erster Linie formale Zitate beinhalten: Nur selten setzten die Produzent*innen und die Werbekampagnen sie jedoch in einen Kontext, daher konnte ihre »Botschaft aus der Moderne« kaum transportiert werden. Dies gilt auch für die Fälle, in denen die Entwerfer*innen der reedierten Objekte Architekt*innen waren. In der Rolle der Reedition als Pars pro Toto des Gesamtwerks des Architekten oder der Architektin könnte eine gewisse Verwandtschaft mit dem postmodernen Usus (anderer) Architekt*innen gesehen werden, Objekte als Miniatur-Architekturen zu entwerfen. Doch dieser Transferprozess erweist sich als zu komplex und fragmentarisch, um das Werk der einzelnen Designer-Architekt*innen der Moderne adäquat zu vermitteln. Anlässlich des Bauhaus-Jubiläums wurde Peter Kelers Wiege zum Markenzeichen des Bauhauses, so unter anderem im Falle des neu eröffneten Bauhaus-Museums in Weimar. Doch Kelers Verdienste sind eigentlich an anderer Stelle angesiedelt. Bereits im Jahre 2000 zählte ihn Michael Siebenbrodt – seit den 1970er-Jahren für die Erforschung des Bauhauses in Dessau und später lange Jahre in Weimar tätig, zuletzt als Leiter des Bauhaus-Museums – »neben Marcel Breuer und Farkas Molnár zu den Architekturvisionären des Weimarer Bauhaus[es]«34, was aber heute kaum zur Kenntnis genommen wird.

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Fazit

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kannte sich Alessi zu einem »historischen Produkt«, das als Reedition zudem durch eine »historische Technik« angefertigt wurde. Historisch bedeutete offensichtlich für die produzierende Firma: mit Blick auf Design und Technik der Vergangenheit. Zurückhaltend verhielt sich bis dahin die Designgeschichte selbst. (  Abb. 4) Sie ließ sich von den Reeditionen überholen und versäumte, die Gesamtheit der Reeditionen als eigenständiges, transnationales, historisierendes Phänomen beim Namen zu nennen.

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18 Vgl. den Brief von Dino Gavina an Alessandro Mendini, Herausgeber von Modo, als indirekte Antwort auf Zevi (16.12.1977, Archiv Dino Gavina, Bologna), abgedruckt in: Cacciola 2008, S. 401. 19 Klaus-Jürgen Sembach: Moderne Klassiker. Möbel, die Geschichte machen. Hamburg 1981. 20 Klaus-Jürgen Sembach: Classici moderni. Mobili che fanno storia. Rozzano 1985. 21 Undatierter Zeitungsausschnitt aus den Marcel Breuer Papers 1920–1986, Archives of American Arts, Washington, D.C., zitiert nach Cacciola 2008, S. 359. 22 Vgl. Cacciola 2008, S. 297–301. 23 Vgl. Eva von Engelberg-Do kal: »Ewige Avantgarde oder Retro-Kultur? Das Neue als Rückgriff auf die Geschichte«. In: Siegfried Gronert / Thilo Schwer (Hg.): Positionen des Neuen. Stuttgart 2019, S. 58–71. 24 Alessandro Mendini: Cosmesi Universale. Beilage zu Domus, Nr. 617, 1981, unter: http:// www.ateliermendini.it/index.php?mact= News,cntnt01,detail,0&cntnt01articleid=249& cntnt01detailtemplate=AnniDett&cntnt01lang= en_US&cntnt01returnid=189 (letzter Zugriff: 09.01.2021). Übersetzung der Verfasserin. 25 Hierzu siehe auch: Gerda Breuer: Die Erfindung des modernen Klassikers. Avantgarde und ewige Aktualität. Ostfildern-Ruit 2001, S. 141. 26 Alessandro Mendini: »Buying is an act of styling«. In: Domus, Nr. 633, November 1982, S. 1, zitiert nach Glenn Adamson / Jane Pavitt: »Postmodernism. Style and Subversion«. In: Dies. (Hg.): Postmodernism. Style and Subversion 1970–1990. Ausstellungskatalog Victoria and Albert Museum, London. London 2012, S. 12–97, hier: S. 50. Übersetzung durch die Verfasserin. 27 Jon Savage, »The Age of Plunder«. In: The Face, Nr. 23, 1983, zitiert nach Glenn Adamson / Jane Pavitt: »Postmodernism. Style and Subversion«. In: Dies. (Hg.): Postmodernism. Style and Subversion 1970–1990. Ausstellungskatalog Victoria and Albert Museum, London. London 2012, S. 12–97, hier: S. 65ff. 28 Im Übrigen gab und gibt es kein Unternehmen, das seinen Umsatz lediglich durch Bauhaus-Reeditionen und überhaupt Reeditionen bestreitet. 29 Vgl. Werbung, z.B. in: Der Spiegel, Nr. 51, 1984, S. 185. 30 Filippo Alison: »Design storico – L’ideologia della ricostruzione in un saggio di Filippo Alison«. In: Domus, Nr. 629, Juni 1982, S. 335f. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. den Verkaufskatalog von Alessi aus dem Jahr 1995, S. 104. 34 Michael Siebenbrodt (Hg.): Bauhaus Weimar, Entwürfe für die Zukunft. Ostfildern-Ruit 2000, S. 44.

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Anmerkungen 1 Andreas Haus: »Bauhausstil? Gestalteter Raum«. In: Regina Bittner (Hg.): Bauhaus-Stil. Dessau 2003, S. 176–193, hier: S. 177. 2 Vgl. Donatella Cacciola: Moderne Klassiker: Die wiedergefundene Zeit. Die Reeditionen von Sitzmöbeln und ihre Rezeption in Deutschland und in Italien. Dissertation, Technische Universität Delft, 2008, S. 147, unter: https://repository.tudelft.nl/ islandora/object/uuid%3A4e09a63c-78bf-4c61b865-6af71272db88?collection=research (letzter Zugriff: 20.12.2020). 3 Giulio Carlo Argan: Walter Gropius e la Bauhaus. Mailand 1954. 4 Giulio Carlo Argan: Marcel Breuer. Disegno industriale e architettura. Mailand 1957. 5 Vgl. Cacciola 2008, S. 136. 6 Vgl. Grace Lees-Maffei: »The PCM Paradigm«. In: Journal of Design History, Nr. 4, 2009, S. 351–368, insbesondere S. 358. 7 Michael Siebenbrodt im Gespräch mit der Verfasserin, 10.04.2019. 8 Vgl. Mateo Kries et al. (Hg.): Atlas des Möbeldesigns. Weil am Rhein 2019, S. 959. 9 Interview der Verfasserin mit Christian Drescher, Geschäftsführer von Tecta und Neffe eines Gründers, Axel Bruchhäuser, 08.03.2019. 10 Davon gibt es nur stilisierte kleinformatige Zeichnungen für Werbeanzeigen. Sie sind kaum dokumentiert, weil sie sich nicht lange auf dem Markt hielten. Dies geht aus Produktübersichten hervor, welche die Firma Cassina der Verfasserin zur Verfügung stellte. 11 Vgl. Cacciola 2008, S. 402f. Ungewiss ist, was aus dieser Reedition wurde. 12 Claudia Heitmann: »Etablierung des Mythos Bauhaus. Die Rezeption in den 60er Jahren – Zwischen Erinnerung und Aktualität«. In: Christina Biundo / Andreas Haus (Hg.): Bauhaus-Ideen 1919–1994. Bibliografie und Beiträge zur Rezeption des BauhausGedankens. Berlin 1994, S. 51–65, hier: S. 63f. Die Autorin zitiert hier einen Artikel vom 11.01.1969 aus der Chicago Tribune. 13 Vgl. Robin Schuldenfrei: »Luxus, Produktion, Reproduktion«. In: Magdalena Droste / Anja Baumhoff (Hg.): Mythos Bauhaus. Berlin 2009, S. 71–90, hier: S. 80. 14 Mit Ausnahme von Modo bildet die Grundlage für die Auswahl dieser Zeitschriften die Recherche für meine Dissertation: Cacciola 2008, S. 310–374. 15 Walter Gropius: »Grundsätze der Bauhaus-Produktion«. In: Volker Fischer / Anne Hamilton (Hg.): Theorien der Gestaltung, Grundlagentexte zum Design, Band 1. Frankfurt am Main 1999, S. 167–169, hier: S. 167. 16 Vgl. Domus, Nr. 229, 16. Oktober 1948, S. 43. 17 Vgl. Josef Rykwert: »XV. Triennale di Milano«. In: Domus, Nr. 530, Januar 1974, S. 1–17; 27–30, hier: S. 4.

Mythos Bauhaus-Universität Nur bei wenigen Universitäten in Deutschland, wahrscheinlich sogar der Welt, ist der Name der Einrichtung so eng verknüpft mit einer etablierten Bildwelt – bestehend aus Stahlrohrmöbeln, weißen Flachdachvillen und geometrischer Typografie – oder der griffigen Alliteration form follows function mit ihrem vermeintlich überzeitlichen Gestaltungsanspruch. Darüber hinaus ist der Bezug zu einer historischen Bildungseinrichtung natürlich ein klares Bekenntnis zu einer didaktischen Tradition – oder? Fraglos handelt es sich beim Phänomen Bauhaus um eine historiografische Konstruktion: »An diesen Mythos knüpft heute noch die Bauhaus-Universität an«1, wie Winfried Speitkamp, Präsident der Universität, in der Einleitung zur Jubiläumspublikation verkündet. »Erst mit der Erhebung zur Universität im Jahr 1996 nahm die Hochschule wieder den Begriff ›Bauhaus‹ in ihren Namen auf. Experiment und Risiko, Mut und Aufbruch sowie die Bereitschaft, sowohl neu, also anders und unkonventionell zu denken, auch Neues, also bislang Ungedachtes und Unerprobtes zu denken, zählten fortan quasi zur DNA der Bauhaus-Universität Weimar.«2 Also doch eine zumindest gewünschte Kontinuität von 1919 bis 2019? Der folgende Beitrag widmet sich dem Verhältnis der Bauhaus-Universität Weimar zur namensgebenden historischen Bildungsinstitution. Dafür werden wir den Prozess der Namensgebung rekonstruieren und nach den historischen Bezügen fragen, die dafür hergestellt werden mussten und möglicherweise bis heute wirken. Darüber hinaus betrachten wir das Verhältnis von Lehre und Studium zu dem historischen Vorbild. Denn eine Frage wurde im Jubiläumsjahr besonders an die Universität herangetragen: Was hat das Studium heute noch mit dem historischen Bauhaus zu tun? Der Text beruht auf Quellen der jüngeren Vergangenheit, darüber hinaus kommen wir nicht umhin, unsere unmittelbaren Erfahrungen als Studierende an der Fakultät Architektur und Urbanistik zu spiegeln. Im Laufe der Jahre haben wir uns immer wieder gefragt: Was bedeutet es, an der Bauhaus-Universität zu studieren? Was und wieviel hat unser Studium mit dem Staatlichen Bauhaus zu tun? Was hat davon überlebt, was wird künstlich am Leben erhalten und was darf man vielleicht getrost in die Schublade der Geschichte verbannen? Im ersten Teil nähern wir uns einer Darstellung der Ereignisse, die zur Umbenennung geführt haben. Dabei heben wir die Kontinuität der Bauhaus-Rezeption an der Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) hervor, die sich in Personenkonstellationen und Formaten wie dem Bauhaus-Kolloquium widerspiegelt; aber auch das wiederkehrende Feiern der runden Bauhaus-Geburtstage bildet eine historische Konstante. Der Bezug auf den »authentischen Ort« des frühen Bauhauses hat seine Wurzeln spätestens in den 1970er-Jahren und spielt noch heute für die Universität eine Rolle. In den 1990er-Jahren kam es bedingt durch die Umstrukturierung der Hochschule zu einer Debatte um die Ausrichtung der ehemaligen HAB, die besonders im »Namensstreit«3 Ausdruck fand und 1996 zur Umbenennung in Bauhaus-Universität

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

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Annika Eheim, Jannik Noeske

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

Zum Einstieg: Bauhaus-Rezeption an der HAB zwischen 1976 und 1989 Es ist bekannt, dass die Geschichte der Bauhaus-Rezeption eine Geschichte der Produktion von Bildern und Narrativen ist, die – teilweise von Angehörigen der Gestaltungsschule selbst angestoßen – eine Vorstellung des Bauhauses zeichnen, die uns bis heute beeinflusst. Dass diese Prozesse in Ost und West zwar teilweise parallel, aber doch unter überaus verschiedenen Vorzeichen abliefen, hat zuletzt Martin Bober in umfassender und kohärenter Weise berichtet.4 Für uns besonders interessant sind die Versuche, das historische Bauhaus zu aktualisieren oder zu einem Zukunftsmodell zu erheben. Denn die Bauhaus-Universität Weimar steht nicht erst seit der Umbenennung für den Versuch einer Aktualisierung, während sich die anderen Bauhaus-Institutionen – weitestgehend – der historischen Forschung verschrieben haben. Wir fragen also, in welchem Zusammenhang die Vorstellung eines (vermeintlich uneingelösten) BauhausVersprechens entstanden ist, das heute wieder aktuell zu sein scheint. Die Umbenennung im Jahr 1996 ist Ergebnis und sichtbarstes Zeichen der institutionellen Umstrukturierung nach der politischen Wende. Die Bezüge zum Bauhaus waren in der gesamten Zeit der DDR – wenngleich in unterschiedlichem Maße – vorhanden; besonders präsent bekanntermaßen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Direktion von Hermann Henselmann sowie seit den 1970er-Jahren, verbunden mit der Sanierung und Teilrekonstruktion des historischen Bauhaus-Gebäudes in Dessau sowie dem ersten Bauhaus-Kolloquium in Weimar. Um also der Frage nach dem Beginn der Aktualisierungsversuche nachzugehen, bewegen wir uns zunächst zurück in das Jahr 1976, in dem das erste Bauhaus-Kolloquium in Weimar stattfand. Unter dem Titel »50 Jahre Bauhaus Dessau« wurde im Oktober in Weimar getagt. Damit beteiligte sich die HAB an der internationalen Bauhaus-Forschung. Federführend verantwortlich für die inhaltliche Konzeption zeichnete Professor Christian Schädlich. Bauhausforscher*innen sowie Bauhäusler*innen kamen während des dreitätigen Kolloquiums in Weimar zusammen. Mit Institutionen wie dem Kolloquium und dem ständigen Arbeitskreis der Bauhaus-Forschung wurde das Erbe von Weimar aus interpretiert.5 Die Wiederaneignung des Bauhauses bewegte sich bereits zu diesem Zeitpunkt zwischen einer zeitgenössischen, mehr oder weniger politischen Indienstnahme und einer historischen Erforschung. So hieß es beispielsweise in einem Beschluss des Zentralkomitees der SED zum ersten Kolloquium, dass die »progressiven Ergebnisse des Bauhauses«6 zur Lösung aktueller baulicher Fragen herangezogen werden müssten. Auch das letzte Bauhaus-Kolloquium vor der politischen Wende im Juni 1989 hatte einen Schwerpunkt auf aktuellen politischen Themen.7 Es stand unter dem Titel »Produktivkraftentwicklung und Umweltgestaltung«. Die Themen waren breit gefächert: »Interdisziplinär angelegt, verbindet es die Diskussion aktueller Entwicklungsprobleme der Gesellschaft und des Bauens, der Architektur und Produktgestaltung mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung progressiven Erbes«8, so heißt es im Programm der

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Weimar führte. Dazu spiegelte sich die gegenüber der DDR-Zeit veränderte BauhausRezeption nicht zuletzt in Bauprojekten wider, die auch von Angehörigen der BauhausUniversität Weimar mitgeplant oder umgesetzt wurden. Abschließend betrachten wir Aktualitätsversprechen, die »dem Bauhaus« – ganz besonders im Jubiläumsjahr 2019 – scheinbar selbstverständlich innewohnen. Denn an der Universität selbst stand eine Frage im Mittelpunkt, die besonders von außen im Jubiläumsjahr an sie herangetragen wurde: Wie aktuell ist das Bauhaus heute und was können wir von ihm noch lernen?

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Bauhaus-Universität: Der Name ist Programm? »Im Mittelpunkt des Weimarer Hochschulkonzepts steht der Gedanke einer erneuten Verbindung von Kunst und Technik. […] Natürlich hat das Konzept von der Technisierung der Ästhetik oder Ästhetisierung der Technologie seine historische Parallele am Bauhaus. Nichts aber sollte uns ferner liegen als dessen Imitation.«13 Seit nunmehr über 23 Jahren trägt die heutige Bauhaus-Universität Weimar ihren Namen – das ist etwa die vierfache Zeit, die das historische Staatliche Bauhaus an diesem Ort verbracht hat. Der neue Name, der die Bezeichnung Hochschule für Architektur und Bauwesen ablöste, wurde am 23. Oktober 1996 mit einem Festakt im Deutschen Nationaltheater gefeiert. Dabei stellt die Umbenennung einerseits den Höhepunkt einer wiedererstarkten Bauhaus-Rezeption in Weimar, andererseits das Ergebnis einer Emanzipation der Universität von ihrer DDR-Vorgängerinstitution durch Umstrukturierungsmaßnahmen und eine Neuausrichtung dar. Sichtbarstes Zeichen ist, neben den strukturellen Veränderungen zur Demokratisierung der Hochschule und der Überprüfung des wissenschaftlichen Personals hinsichtlich einer Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit,14 die Gründung der Fakultät Gestaltung im Jahr 1993, die erstmals seit den 1950er-Jahren in Weimar eine künstlerisch-gestalterische Ausbildung im engeren Sinne ermöglichte. Im gleichen Atemzug wurden aber auch Fachbereiche in den Hintergrund gedrängt oder mussten – wie Städtebau und Gebietsplanung – 15 ganz weichen. Mit der Auflösung des informationswissenschaftlichen Fachbereichs und seiner Überführung

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Tagung. Nichtsdestoweniger betont Bober die ambivalente Stellung des historischen Bauhauses in Weimar: »Auf der einen Seite genießen die von Weimar betriebenen jährlichen Bauhaus-Kolloquien einen hervorragenden internationalen Ruf in der Fachwelt. […] Auf der anderen Seite hat die hohe Akzeptanz des Forschungsgegenstandes ›Bauhaus‹ wenig mit der pädagogischen Praxis an der Hochschule zu tun.«9 Einen ersten Aktualisierungsimpuls im Bereich der Lehre hatte es ab 1981 gegeben, als mit einer versuchten Wiederbelebung des berühmten Bauhaus-Vorkurses ein Einführungskurs für die Architekturstudierenden geschaffen wurde.10 Die Anlehnung an das historische Vorbild blieb jedoch eine rhetorische Figur und steht damit für den Versuch einer Legitimation des Einführungskurses. »Im Gegensatz zum materialästhetisch geprägten Vorkurs Johannes Ittens ging es in ihm [im Einführungskurs] allerdings nie um ein Orientierung stiftendes Probesemester, sondern um eine Brücke zwischen unterschiedlichen Bildungsbiographien und konkreten Anforderungen eines universitären Architekturstudiums.«11 Das enge Korsett der DDR-Ausbildung von Architekt*innen, Stadtplaner*innen oder Bauingenieur*innen ließ jedoch keinen Raum für eine freiere Implementation von Bauhaus-Gedanken oder direkteren Bezügen auf den historischen Vorgänger. Dazu kam die politische Vereinnahmung der Bauhaus-Rezeption durch Staat und Partei.12 Der Wunsch nach einer stärkeren Bezugnahme ist deutlich sichtbar: Mit den Bauhaus-Kolloquien war ein wissenschaftliches Format zur Erforschung des Bauhaus-Erbes etabliert, über den Einführungskurs wurde ein direktes pädagogisches Pendant zum Staatlichen Bauhaus hergestellt und die Architekturstudierenden leisteten mit Praktika und Arbeitseinsätzen bei Aufmaß und Rekonstruktion des Dessauer Bauhaus-Gebäudes wichtige Zuarbeiten. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Biografien der zu dieser Zeit an der Hochschule Tätigen. Mit dem Fall der Mauer, den sich anschließenden Diskussionen um gesellschaftliche Erneuerung in der DDR und schließlich der Wiedervereinigung hatten sich die Rahmenbedingungen aber soweit verändert, dass die Bezüge zum historischen Bauhaus nicht zuletzt in der Lehre neuen Raum bekamen.

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Emanzipation und Kontinuität nach der Wende Noch wenige Tage vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gründete sich in Weimar am 13. September 1990 ein Verein mit dem Namen Bauhaus Weimar Stiftung. Doch dies ist nur der Anfang einer Reihe von Initiativen zur weiteren Etablierung der Bauhaus-Rezeption durch die beteiligten Akteur*innen. Zudem erkannte man die Chance, Aufmerksamkeit, Prestige und damit nicht zuletzt wirtschaftliche Vorteile aus dem Bauhaus-Erbe zu ziehen. Wenngleich die personellen Überschneidungen zwischen Verein, zivilgesellschaftlichen Foren und Hochschule signifikant waren, scheint sich die Dynamik der frühen 1990er-Jahre nicht spezifisch innerhalb oder um die Hochschule für Architektur und Bauwesen abgespielt zu haben. Diese war vor allem mit strukturellen Fragen beschäftigt und hatte mit dem engen Finanzrahmen des Landes Thüringen zu kämpfen. Zentral waren in Weimar die Diskussionen um den Aufbau eines Bauhaus-Museums, in die sich auch die Hochschule unter anderem mit Entwurfsaufgaben einbrachte (siehe unten). Erst 1992, als mit dem VI. Bauhaus-Kolloquium ein klares Bekenntnis zur Kontinuität dieser DDR-Institution erfolgte und gleichzeitig die kritische Reflexion der in den DDR-Jahren geleisteten Aufarbeitung angemahnt wurde, kamen auch strukturelle Debatten zum künftigen Verhältnis der Hochschule gegenüber dem Bauhaus-Erbe auf.19 Als Gerd Zimmermann, langjähriger Mitarbeiter an der Hochschule und seit 1992 Professor für Architekturtheorie, im Wintersemester 1992/93 das Amt des Rektors antrat, entwickelte sich die Auseinandersetzung mit dem Bauhaus-Erbe in Bezug auf die Ausrichtung der Hochschule in zwei Bereichen, nämlich der Gründung der Fakultät für Gestaltung im Jahr 1993 sowie der 1996 erfolgten Umbenennung.20 Beide Prozesse sind eng miteinander verbunden. An erster Stelle steht ein vom Wissenschaftsrat angestoßener Prozess21 zur Etablierung einer künstlerischen Ausbildung, die bekanntermaßen seit den 1950er-Jahren in Weimar nicht möglich war. Damit wird auch die Diskussion um einen neuen Namen eröffnet, der das um die Gestaltung erweiterte Lehrangebot repräsentieren, die Hochschule aber auch in der neuen Hochschulkonkurrenz positionieren sollte. Die Frage nach dem Namen bildete damit eine der zentralen Diskussionen, die um Ausrichtung und Identität der Hochschule geführt wurden.

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in das heutige SCC (Servicezentrum für Computersysteme und -kommunikation) sowie der Gründung der Fakultät für Medien im Jahr 1997 war das akademische Profil der heutigen Universität in seinen Grundzügen ausgebildet.16 Zudem wurde die visuelle Markenidentität – Logo, Farben, Typografie etc. – festgelegt, die bis heute Verwendung findet und nur schleichend und stellenweise eine Aktualisierung erfährt. Dazu gehören unter anderem das Logo und die Typografie, aber auch ein visueller Fokus auf die ehemaligen Kunstschulbauten an der Geschwister-Scholl-Straße in der Werbung, auf der hochschuleigenen Website sowie seit kurzer Zeit in Social-Media-Kanälen.17 Erst im Zuge des 100-jährigen Jubiläums wurde die visuelle Marke Bauhaus-Universität um ein Jubiläumsdesign erweitert: Eine kantige Schriftgestaltung und abstrahierende Schwarz-Weiß-Fotografien sollen das in die Jahre gekommene Design der 1990er ergänzen und modernisieren. Es stellt sich die Frage, ob damit einer weitergehenden Überarbeitung vorgegriffen wurde. Im Rahmen der von 1991 bis 1995 andauernden Debatte um die Benennung war Bauhaus-Universität Weimar nicht der einzige Vorschlag – und auch nur einer unter einigen anderen mit Bauhaus-Bezug.18 An dieser Stelle gilt es, erstens die Debatte um die Namensgebung nachzuzeichnen und zweitens nach der Materialisierung der BauhausRezeption in Form von Entwurfs- und Bauprojekten zu fragen.

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Im Sommer 1992 wurde die Namensdebatte erneut in den Senat getragen. Das Gremium nahm eine eher distanzierte Haltung zur Verwendung von Bauhaus als Namensbestandteil ein, da man die Gefahr der Identifikation mit der Vorgängerinstitution sah. So wurde die ungelenke Formulierung »Neues Bauhaus Weimar – Hochschule für Bauen und Gestalten« vorgeschlagen.22 Am Ende dieses Prozesses steht die Umbenennung der Hochschule in Bauhaus-Universität Weimar – den Namen hatte die Senatskommission 1991 eingebracht.23 Im Verlauf der folgenden fünf Jahre, insbesondere aber 1994 und 1995, wurden jedoch immer wieder verschiedene Alternativen kontrovers diskutiert. Lucius Burckhardt, schweizerischer Architektur-, Planungs- und Designtheoretiker, wurde 1992 zum Gründungsdekan der Fakultät Gestaltung berufen und nahm als solcher im Namens- und Ausrichtungsstreit der damaligen HAB eine zentrale Rolle ein. Er verkörperte das Lager der erklärten Kritiker*innen eines direkten Bezugs zum historischen Bauhaus. In seiner Eröffnungsrede zur Fakultät wird deutlich, wie sehr er für sich die historischen Bezüge konstruieren musste. »Natürlich sind wir alle im Bann der großen Vergangenheit, wir bauen weiter am Bauhaus. Und wir haben es uns nicht leicht gemacht mit der Auseinandersetzung mit diesem Bauhaus, und wir haben uns eigentlich – aber dies tönt jetzt leicht und vielleicht leicht ironisch auch, aber es war schwierig es herauszufinden – aber wir haben uns wirklich auf die Formel dann zurückgezogen: vom Bauhaus kann man lernen, dass man in seiner Zeit innovativ sein muss.«24 Insbesondere mit Blick auf das Vortragsmanuskript25 zeigt sich eine kritische Distanz gegenüber gängigen Bauhaus-Vorstellungen einerseits sowie zu den von der Hochschulleitung rhetorisch vorbereiteten Aktualisierungsbestrebungen andererseits. Im November 1994 wurden erneut Namensvorschläge diskutiert,26 die teilweise Bauhaus-Bezug aufwiesen, woraufhin der Senat eine Findungskommission für den Namen der Hochschule beauftragte. Diese Arbeitsgruppe schlug in konsequenter Kleinschreibung bauhaus weimar universität vor. Besonders vonseiten der Fakultät Gestaltung wurde das Aufgreifen des Bauhauses im Namen immer wieder kritisiert. So schrieb die damalige Kunstprofessorin Barbara Nemitz in einem Brief an Gerd Zimmermann am 29. November 1994: »Der Name BAUHAUS ist ein zeitgebundenes Programm. Er ist inzwischen überholt. Einen darüber hinaus gültigen Wert hat der Begriff nicht.«27 Nemitz spricht in ihrem Schreiben darüber hinaus den Vermarktungsaspekt an, den der Bauhaus-Bezug mit sich brächte und der auch heute noch als »zweifellos geniales und erfolgreiches Marketingkonzept«28 beschrieben werden kann. Nemitz selbst brachte den Vorschlag AKT Architektur – Kunst – Technik – Weimar – Universität ein. Als schließlich vom Senat die beiden Optionen Beibehaltung des alten Namens und Bauhaus Weimar – Universität zur Wahl gestellt wurden und im Mai 1995 für die erste Variante optiert wurde, drohte die noch junge Fakultät Gestaltung, sich von der Universität unabhängig zu machen. Dies konnte mit der Namenswahl Bauhaus-Universität Weimar abgewendet werden, ein Vorschlag, der erstaunlicherweise vom Fakultätsrat der Gestaltungsfakultät kam. Das 15. Konzil der Hochschule beschloss so am 26. Oktober 1995 die Annahme des Namens.29 Die Befürworter*innen dieser direkten Bezugnahme auf das Bauhaus konnten sich also durchsetzen. Zimmermann betonte in seiner Eröffnungsrede des Festaktes zur Umbenennung, dass im neuen Namen »Statussymbol und Zukunftsentwurf in einem«30 zu sehen seien. In Bezug auf die Fakultäten Bauingenieurwesen sowie Architektur, Stadt- und Regionalplanung bemerkte er: »Die Vision vom ›anderen Bauhaus‹ hat somit ein Strukturgerüst, das der profilierenden Konzeption der ›neuen Einheit von Kunst und Technik‹ Realität verleiht.«31 Weiter heißt es: »Bauhaus ist kein revival von Bauhaus. Nichts ist zu imitieren, nichts zu kopieren. […] Was bedeutet also der Name? Er ist

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Über das Bauen Die Bauhaus-Rekursion lässt sich jedoch nicht nur anhand geschichtlicher Zusammenhänge, didaktischer Ansätze und Forschungsschwerpunkte beleuchten, sondern auch – gerade in Anbetracht der inhaltlichen Ausrichtung als Architekturhochschule – anhand von Entwürfen und Bauprojekten. Hierfür soll im Folgenden auf Projekte eingegangen werden, für welche die heutige Bauhaus-Universität maßgeblich verantwortlich zeichnete. Bereits zu Beginn der 1990er-Jahre wurden an der HAB umfangreiche Überlegungen und Entwurfsprojekte zu einem Ausstellungsgebäude für das Staatliche Bauhaus angestellt. Die Idee eines Museums war im Entstehen und wurde im Rahmen einer Aufgabenstellung für Diplomarbeiten unter Betreuung von Klaus-Jürgen Winkler und Gerd Zimmermann, wenn auch nicht in der Realität, so doch zumindest in der universitären Lehre konkretisiert. Die Suche nach einem passenden Standort für ein BauhausMuseum in Weimar, der in den Folgejahren immer wieder diskutiert wurde, war bereits zu diesem Zeitpunkt eine der Kernaufgaben des Gesamtprojekts. Neben dem anschließenden Entwurf eines Ausstellungsgebäudes galt es weiter, auch allgemeine Strategien für ein Ausstellungskonzept zu entwickeln. Zur Gestaltung heißt es in der Aufgabenstellung: »Das Raumkonzept und die Formensprache des Museums sollen nicht ›Bauhaus-Formen‹ kopieren, sondern eine kritische Aneignung der Moderne versuchen. Ziel ist keine nostalgische, sondern eine für die Gegenwart kreative Lösung.«35 Ein Entwurfsprojekt aus dem Jahr 1991 – als Semesterarbeit und nicht als Diplomentwurf ausgeführt – ist dabei überaus aufschlussreich.36 (  Abb. 1) Das neue Museum sollte seinen Platz im Blockinneren zwischen Belvederer Allee, Berkaer Straße sowie Bauhausstraße37, unmittelbar südlich des Hauptgebäudes der HAB erhalten. Der straßenseitig erschlossene Komplex besteht aus mehreren Gebäudeteilen. Südlich befindet

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natürlich ein Zeichen der Referenz [sic!] an unsere weltberühmte Vorgängerschule, vor allem aber sollte er eine Denkweise bedeuten.«32 Genauso offensichtlich, wie die historische Bezugnahme stattfindet, distanzieren sich andere wiederum vom Staatlichen Bauhaus. Glaubt man Achim Preiss, Professor der Gestaltungsfakultät, errang das Bauhaus nun »den Status eines Vorbildes für kulturelles Krisenmanagement […]. Wie bei allen Deutungsversuchen ging es auch hier nicht um das Bauhaus, sondern um eine historische und ortsbezogene Legitimation eigener Vorstellungen.«33 Letztendlich scheint, dass der Namensstreit nicht den Umfang der strukturellen Debatten um Ausrichtung und Profil der Universität abzubilden vermag, da die Bezugnahmen auf das Bauhaus genau wie die Distanzierung vom historischen Phänomen doch allzu häufig rhetorischer Natur waren. Doch zweifelsohne ging es bei dem Streit um die Deutungshoheit an der neu strukturierten Hochschule und – folgt man der Argumentation des Historikers Ekkehard Schönherr – steht der Namensstreit für eine »kompromissbereite Ernsthaftigkeit« der Fakultät Gestaltung und der Hochschule insgesamt und bildet einen ersten »Beleg für übergreifende Tragfähigkeit der neuen Strukturen.«34 Stellt man also fest, dass es im Namensstreit und der Entscheidung erstens um die rhetorischen Bezüge und eine Distanzierungen ging und zweitens darum, wie fach- und hochschulpolitische Positionen legitimiert beziehungsweise diese in ihrem Zusammenwirken sichtbar werden sollten, stellt sich die Frage, inwieweit die Erfindung einer kohärenten Bauhaus-Geschichte bis in die (damalige) Gegenwart auch materiell Niederschlag gefunden hat.

 Abb. 3 Konzeptcollage Entwurf 1991: Neben dem unverkennbaren vertikalen Schriftzug des BauhausGebäudes in Dessau werden hier konkrete personelle und formale Verweise lose angeordnet und mit dem Entwurf des Weimarer Museums in Zusammenhang gebracht

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 Abb. 2 Ansicht Entwurf 1991: Deutlich zu erkennen sind die formalen Anleihen der Kubatur des Hauses am Horn

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 Abb. 1 Freiflächengestaltung und städtebaulicher Übersichtsplan von Studierenden der HAB zum Museum »Bauhaus und Moderne« in Weimar. Der Entwurf positioniert sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hauptgebäude der heutigen Bauhaus-Universität, dabei werden axiale Verbindungen zum Treppenhaus aufgenommen

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sich der auf quadratischem Grundriss basierende kompakte »Tempel«38, der die Dauerausstellungen aufnehmen sollte. Verbunden ist dieser mit weiteren Gebäudeteilen, angeordnet um einen kreisrunden Innenhof, der die wechselnden Ausstellungen und Nebenräume des Museums beinhalten sollte. (  Abb. 2) Formale Bezüge zum ehemaligen Staatlichen Bauhaus liegen nicht nur auf der Hand, sondern waren der Entwurfsbeschreibung nach auch explizit intendiert. Dabei wird einerseits der Standort mit der »Nähe zu den Räumlichkeiten des ehemaligen Bauhauses«39 begründet, andererseits die Idee verfolgt, die »Tragkonstruktion der ehemaligen Bauhaus-Kantine für die Gestaltung des Cafés«40 wiederzuverwenden und so den Geist der alltagsnahen Institution an der ehemaligen Gestaltungsschule in die neuen Museumsplanungen zu integrieren. Die offenkundige formale Verwandtschaft zum Haus am Horn bleibt hingegen ungenannt, erscheint aber in Form einer bauzeitlichen Fotografie als bildliche Referenz. (  Abb. 3) Charakteristisch sind dabei insbesondere die Kubatur und ungefähre Grundrissdisposition: ein flacher Baukörper auf quadratischem Grundriss mit einem zentralen, nach außen ringförmig umschlossenen Raum, der seine Belichtung über einen leicht erhöhten durchfensterten Aufbau erhält. Hinter der Bezeichnung ebendieses Museumsgebäudes als Tempel steht eine Überhöhung des historischen Referenzobjekts, die als apotheotisch oder ironisierend gelesen werden kann. Die Geschichte der Wiederentdeckung des Bauhauses in Weimar lässt sich auch anhand der baulichen Maßnahmen am Haus am Horn nachvollziehen. Seit 1971 durch Familie Grönwald bewohnt und als »authentischer Ort« verstanden, wurde das Wohnzimmer in privater Initiative zu einem ersten musealen Bauhaus-Ort in Weimar umgewidmet.41 Nach Leerzug des Hauses und nun unter Verantwortung des Freundeskreises der Bauhaus-Universität Weimar erfolgte schließlich im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 1999 eine umfassende Sanierung und bauliche Purifizierung. Dabei wurden unter anderem die Anbauten an das Wohngebäude von 1926, 1927 und 193342, die das Erscheinungsbild des Hauses seit Jahrzehnten maßgeblich geprägt hatten, vollständig abgebrochen. (  Abb. 4) Der vermutete Ursprungszustand des Musterhauses von 1923 – angepasst an veränderte Nutzungsbedürfnisse mit entsprechenden Küchen- und Sanitäreinbauten – war die gestalterische Prämisse der Sanierung in jenen Jahren. Für das Jubiläum 2019 hat nun die Klassik Stiftung Weimar ein neues Konzept erarbeitet und 20 Jahre nach den ersten Wiederherstellungsarbeiten eine erneute Sanierung unter erweiterten gestalterischen Vorzeichen in Angriff genommen. Das Augenmerk lag diesmal darauf, den Zustand von 1923 im Detail bestmöglich abzubilden. So wurden unter anderem die 1999 eingebauten Fenster mit zeitgenössischen Profilen und Zweischeibenverglasung entfernt und durch die feingliedrigen und scharfkantigen Alternativen mit Einscheibenverglasung und ausgefallenem Fensteröffnungsmechanismus – weitestgehend entsprechend der Ausstellungssituation von 1923 – ersetzt.43 Demnach lässt sich mit der ersten umfangreichen Sanierung nach der Wiedervereinigung eine Distanzierung von dem gewachsenen Gebäude sowie der Nutzungs- und Baugeschichte als Ganzes erkennen. Zugleich wird die vermeintliche Bauhaus-Schicht priorisiert und scheinbar freigelegt. Als die Klassik Stiftung Weimar die Verantwortung für das Haus im Jahr 2017 übernahm, wurde eine erneute Revision der vormaligen Sanierungsprämisse – insbesondere in gestalterischer Hinsicht – für das Bauhaus-Jubiläum vorgenommen. Mit dem erneuten Umbau orientiert sich die Stiftung weitestmöglich am vermeintlichen Ursprungszustand – damit wird das Haus endgültig Museum und Ausstellungsobjekt zugleich. Nachdem die UNESCO das »Bauhaus und seine Stätten in Weimar und Dessau« in die Weltkulturerbeliste aufgenommen hatte, wurde auch die umfassende und systematische Sanierung des Hauptgebäudes und des benachbarten Winkelbaus (Van de Veldes

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Kunstschule und Kunstgewerbeschule) in Angriff genommen. Den Auftrag dafür erhielt das Kölner Architekturbüro Thomas van den Valentyn44 sowie das Hannoveraner Büro Harms und Partner. In Zusammenarbeit mit den Denkmalbehörden wurde ein Konzept entwickelt, das insbesondere auf eine funktionelle Modernisierung abzielte. Wenngleich die Gebäude demnach nicht grundlegend neu gedacht oder nutzungstechnisch neu bestimmt werden mussten, fielen trotz behutsamer Eingriffe doch weitreichende gestalterische Entscheidungen: Einbauten der 1950er-Jahre wurden vollständig entfernt und die Struktur wurde weitestgehend auf den Stand des Van-deVelde-Entwurfs zurückgesetzt.45 Dazu griff man mit der Entfernung einer Erinnerungstafel am Hauptgebäude, die zu DDR-Zeiten der Geschichte der Hochschule Rechnung tragen sollte, auch in die Zeitschichten des Bauwerks ein. Damit wurde ein Zeugnis der Selbsthistorisierung der ehemaligen HAB getilgt (  Abb. 5).46 Die Zeit des Bauhauses, das die Gebäude ab 1919 für sechs Jahre genutzt hatte, hatte hingegen nur wenige sichtbare Spuren hinterlassen, die direkt im Anschluss an die Machtbeteiligung der NSDAP in Thüringen 1930 und die Investitur Paul SchultzeNaumburgs entfernt und partiell in den 1970er-Jahren rekonstruiert worden waren.47 Im Zuge der Sanierung hielten jedoch in kleinen, aber prägnanten Gesten Entwürfe aus den Reihen der weltbekannten Gestaltungsschule in das ehemalige Kunstschulgebäude Einzug, die Frage nach den zu ersetzenden Türdrückern wurde so mit einem Entwurf aus dem Dessauer Bauhaus beantwortet. Hier kam der Entwurf von Wilhelm Wagenfeld von 1928 zum Einsatz, den er in den dortigen Metallwerkstätten entwickelt hatte, »da sie [die filigranen Türdrücker: AE / JN] die filigrane Jugendstil-Ästhetik aufnehmen, zugleich aber eine gestalterische Brücke zur kurzen Phase des Bauhaus bilden«48 würden. Auch prominente Lampenentwürfe von Marianne Brandt aus der Dessauer Bauhaus-Zeit wurden im Nebentreppenhaus sowie im Flur des zweiten Obergeschosses verwendet. Das Direktorenzimmer im ersten Obergeschoss war ebenfalls Teil der Gesamtsanierung, wurde jedoch durch Klaus-Jürgen Winkler, damals Dozent für Architekturgeschichte und maßgeblicher Akteur der Weimarer Bauhausforschung, und den Architekten Gerhard Oschmann als eigenständiges Projekt realisiert. Hier fand eine gestalterisch freie Art der »Rekonstruktion« – ohne Einbindung vorhandener Substanz und auf bemerkenswert spärlicher Dokumentationsgrundlage – ihre Umsetzung.49 Die Ambition, das Direktorenzimmer als einzig vermeintlich räumliches Gesamtkunstwerk in Weimar zu implementieren, wurde mit großer Akribie verfolgt. Eine räumliche Anbindung an das bauzeitliche Raumgefüge mit dem zunächst von Itten konzipierten und

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 Abb. 4 Haus am Horn aus nordöstlicher Richtung, aufgenommen vermutlich in den 1970er-Jahren; gut zu erkennen: die Anbauten, die im Zuge der Sanierung in den 1990er-Jahren entfernt wurden

Städtebauliches Projekt mit historischen Anleihen? Die 1990er waren insgesamt dynamische Jahre, geprägt von einem allgemeinen Bau- und Sanierungsboom in Weimar.52 Die Klassikerstadt wurde noch vor der Wiedervereinigung zu einer Modellstadt der Stadtsanierung ernannt, um hier exemplarisch die Implementation bundesdeutscher Sanierungslogik und Finanzierungsmechanismen zu erproben. Nach der Aufnahme der beiden Schulbauten in die Liste des UNESCOWeltkulturerbes 1996 folgte zwei Jahre später dasselbe für das »Klassische Weimar«. Dazu war im Jahr 1994 beschlossen worden, Weimar 1999 (als erste Kleinstadt sowie erste Stadt im postsozialistischen Teil Europas) zur Kulturhauptstadt Europas zu ernennen. Dass diese Entscheidung auch einen städtebaulichen Entwicklungsschub bedeutete, zeigen größere Projekte wie der Neubau der Weimarhalle und die Sanierung / Teilrekonstruktion des Neuen Museums genau wie Sanierungsprogramme für Straßenzüge und die Umgestaltung öffentlicher Räume.53 Zum gleichen Anlass wurde auch in Nachbarschaft zum Haus am Horn, ebenfalls auf dem Hügelrücken am Ilmpark, ein 10 Hektar großes Gebiet beplant. Bis dato von sowjetischen Truppen als Kasernengelände genutzt, fiel es nach ihrem Abzug der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen zu, die in Zusammenarbeit mit Professor*innen der Bauhaus-Universität Weimar das Gebiet entwickeln wollte. Mit dem einberufenen Gutachterverfahren hatte man sich zum Ziel gesetzt, eine »Vision über das Wohnen im 21. Jahrhundert«54 zu entwerfen. Für den südlichen Bereich ging dabei Adolf Krischanitz mit seiner sogenannten »Grammatik für eine parzellenorientierte Bebauung«55 als Sieger hervor. Damit wurden lediglich Entwurfsparameter festgelegt, die die Bebauungsdichte ebenso definieren sollten wie die Grundzüge der architektonischen Gestaltung. Die Festlegung einer »kompakten, kubischen Erscheinung«, die dem Wunsch nach einer »strukturellen Ähnlichkeit« nachkommen sollte,56 ist dabei besonders aufschlussreich. Strikte Vorgaben waren ein Flachdach mit Attika, die gedachte Addition von Teilvolumina an das Gesamtvolumen sowie die genaue Festsetzung von Trauf- und Attikahöhen.57

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1923 nach Entwürfen von Josef Albers gestalteten Warteraum fand jedoch nicht statt.50 Mit dieser Entscheidung treten gleichzeitig auch die formalen Präferenzen innerhalb der Wiederentdeckung des Bauhauses zu Tage. Während zeitweise dort die 1998 eingerichtete Gropius-Professur untergebracht wurde,51 handelt es sich bei dem rekonstruierten Gropius-Zimmer heute um den einzigen museal genutzten Raum des Hauptgebäudes – mit einer roten Kordel separiert.

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 Abb. 5 Hauptgebäude der damaligen Hochschule für Architektur und Bauwesen im August 1989: rechts des Haupteingangs die Tafel, die an die Geschichte der Hochschule erinnert

 Abb. 8 Nicht zuletzt in der Namensgebung für Plätze und Straßen spiegelt sich der Rekurs auf das Bauhaus. Im Bild der Georg-MuchePlatz, der mit seiner länglichen, vergleichsweise symmetrischen Anlage an einen Anger erinnern soll

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 Abb. 7 Gestaltungselemente wie hell verputzte Fassaden, Flachdächer, Über-EckFenster oder die »steinerne Pergola« (Dank an Hannes Heitmüller für den Begriff) stehen für eine Bezugnahme auf die Klassische Moderne

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 Abb. 6 Haus Schmitz (im Vordergrund) als Beispiel für ein von einem Hochschullehrer entworfenes Bauwerk

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Bauhaus – aktueller denn je? Seitdem mit dem Bauhaus-Atelier ein zentraler Ort der Aneignung des BauhausErbes durch die Universität geschaffen worden war, gab es keine Bauprojekte mehr, die mit den oben genannten vergleichbar wären. Auch die inhaltlich-rhetorischen Referen-

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An diesem Ort hatte Fred Forbat etwa 70 Jahre zuvor ein Siedlungskonzept für die Bauhäusler*innen entworfen, um so die eigenen Visionen eines gemeinschaftlichen Wohnens umzusetzen. Zeichnungen aus dem Jahr 1922 zeigen frei stehende, kompakte Baukörper, Reihenhäuser und, an seinem Uhrturm erkennbar, ein neues Schulgebäude. Die Bezeichnung neues bauen am horn für das Projekt der 1990er-Jahre ist also alles andere als zufällig, sie kokettiert. Als Anknüpfung an die nie umgesetzten Ideen des bauhäuslerischen Gemeinschaftslebens am Horn sollte nun das zeitgenössische Wohnen visionär gestaltet werden. Das Ergebnis ist ein formal überzeugendes Gestaltungskonzept, das, wie Gerd Zimmermann sagte, mit dem Neuen Bauen der Klassischen Moderne »verblüffend verwandt«58 sei. Die visionären Wohnkonzepte, die unter anderem mit einer hohen Bebauungsdichte, innovativen Eigentumsverhältnissen, der Verbannung des motorisierten Verkehrs und einer dezentralen Stadttechnik einhergingen, sind jedoch weitestgehend auf dem Weg dorthin verloren gegangen. Das städtebauliche Projekt war Außenstandort der EXPO 2000. Während die formal-gestalterische Verwandtschaft der Einzelbauten zur Klassischen Moderne, zumindest in den meisten Elementen, nicht geleugnet werden kann, handelt es sich städtebaulich um ein Beispiel ambitionierter Neubaugebietsplanung und weist keine Bezüge zum Städtebau auf, wie er zu Zeiten des Bauhauses gedacht wurde.59 Mit den Einfamilienhäusern war die Suche nach experimentellem Wohnen und der Sonderrolle des Gebietes am Horn noch nicht abgeschlossen. Ein zum Bauhaus-Jubiläum 2019 geplanter Neubau für ein Studierendenwohnheim, mit dem »in der Nähe zum ›Haus am Horn‹ von Georg Muche, dem ersten realisierten Bauhausgebäude von 1923, […] das Wohnen zum Experiment«60 werden sollte, wurde vorerst nicht realisiert. Es wäre der Beitrag der laufenden IBA Thüringen zum Bauhaus-Jubiläum gewesen und trug deshalb den Titel »Das 100«. Insgesamt kann jedoch keine rein affirmative Bezugnahme auf bauliche Zeugnisse aus der Weimarer Bauhaus-Zeit festgestellt werden. Während in der Wiederbelebungshochzeit der 1970er-Jahre und im Zuge des Begriffs- und Baurevival der 1990erJahre vieles unter dem Titel Bauhaus geführt, rekonstruiert und neu errichtet wurde, fielen baulich auch gegenteilige Entscheidungen: Nach einem langjährigen Prozess beschloss die Universität im Jahr 2009, den Küchenanbau vom Sommer 1919, der das vormalige Brendel’sche Atelier aus der Kunstschulzeit zur Speiseanstalt umnutzte, abzubrechen. (  Abb. 9) Zwar handelt es sich dabei nicht um einen Entwurf aus den Reihen des Bauhauses – die Schule fungierte vielmehr als Auftraggeberin und Nutzerin –, gleichwohl stellt der Küchenanbau eine funktionale Gebäudeerweiterung dar, mit der die so geschaffene Speiseanstalt in den Mittelpunkt des alltäglichen Schullebens rückte:61 eine programmatische Bauaufgabe, die der Bauhaus-Direktor initiierte, um den Schüler*innen mit der Einrichtung einer Mensa die »pekuniäre Sorge bei der Ungunst der Zeiten während des Studiums«62 zu nehmen. Gestalterische und städtebauliche Gründe für einen Abbruch des schlicht gehaltenen, flach gedeckten Ziegelanbaus waren schließlich stärker als die denkmalpflegerischen Bedenken. Mit dem Kompromiss einer Ablesbarkeit der ehemaligen Gebäudekubatur durch Gestaltung der Bodenbeläge wurde hier schließlich eine didaktische Idee umgesetzt. Die seit 2010 wirksame Namensgebung als Bauhaus-Atelier rekurriert in einer sonderbaren Wortneuschöpfung auf die vormalige Nutzung als Brendel’sches Kunstschulatelier und Bauhaus-Mensa.

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zen an das Staatliche Bauhaus sind weniger geworden. Das geht ohne Frage mit einem Generationenwechsel einher. 2011 schied Zimmermann als langjähriger Rektor aus dem Amt. Mit Winfried Speitkamp, dem neuen Präsidenten seit 2017, hat ein Historiker diese Stelle inne und – nicht nur mit seiner neu geschaffenen Professur Kulturgeschichte der Moderne – den klaren Auftrag, den Umgang mit dem Bauhaus-Erbe im Kontext von Geschichte und Gesellschaft reflektiert zu gestalten. »Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Phänomenen der Moderne stehen im Zentrum, das besondere Augenmerk gilt den mit dem Namen des Bauhauses verbundenen Aspekten der Moderne«63, heißt es auf der Website der Professur. So steht ein im Jahr 2017 erschienener Artikel Speitkamps64 für eine geschichtspolitische Ausrichtung der Universität, wobei Jubiläen genutzt würden, »um eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte der Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«65 Speitkamp erkennt damit die Notwendigkeit an, sich das historische Jubiläum anzueignen, geht aber auch auf kritische Distanz. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Gestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten wider. Vergleicht man den Duktus der Bauhaus-Bezugnahme 2019 mit dem der 1990er-Jahre, treten die Unterschiede deutlich hervor. Denn heute wird immer wieder betont, wie reflektiert man sich das Bauhaus-Erbe aneignen müsse, wie ambivalent dieses Erbe doch sei – ja, wie schwierig sich überhaupt die Begriffe der Identität und des Erbes darstellten.66 Dabei handelt es sich insbesondere um eine wissenschaftliche Debatte, die mit kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten 25 Jahre unterfüttert ist. Auf Basis der akademischen Bearbeitung des Themas agiert die Hochschulleitung heute vorsichtiger mit der Erfindung einer kontinuierlichen Geschichte von 1919 und 2019. Das ist sicherlich einer der signifikantesten Unterschiede zu den 1990er-Jahren. So stellt Claudia Weinreich, Pressesprecherin der Universität, fest, dass Aktualitätszuschreibungen nun häufig von außen kämen:67 »Oft genug erleben wir […], dass gerade die Medien eine auf das Heute erweiterte Bauhaus-Geschichte mithilfe von Projekten und Arbeiten aus der Bauhaus-Universität Weimar darstellen möchten, um einen nachvollziehbaren Wunsch nach Kontinuität zu erfüllen. Geschätzt werden einfach zu erklärende, gut darstellbare Parallelen, Arbeitsweisen und Projekte, die denen der Bauhaus-Angehörigen der 1920er Jahre gleichen. Dies mündet so manches Mal in einer verkürzten Darstellung.«68 Vergessen scheinen die Rufe nach einem »anderen Bauhaus«, nach einer »neuen Einheit von Kunst und Technik«, die innerhalb der Hochschule erfunden wurden und in den 1980er- und 1990er-Jahren einen Höhepunkt erreichten. Diese Distanzierung ist

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 Abb. 9 Küchenanbau aus Backstein für das Staatliche Bauhaus Weimar an das ehemalige Brendel’sche Atelier, Dokumentation des Rückbaus 2009

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verständlich und angesichts der Bekenntnisse zu einer kritischen Haltung gegenüber der Institution notwendig. Erinnert sei dennoch an die Zeit, als die Universität selbst mit solchen Referenzen – wenigstens rhetorisch – für sich werben konnte. Kritiker*innen gab es durchaus, doch sie wurden überstimmt. Ihnen blieb nur die Flucht in ironische Formulierungen. Die internationale Aufmerksamkeit jedoch wird nicht zuletzt dank des Namens auch weiterhin Bestand haben. Die Konstruktion des Bauhaus-Erbes und seine Aneignung in den 1990er-Jahren sind also erstens Ausdruck von Kontinuitäten der Rezeption an der Weimarer Hochschule, die sich auch in den akademischen Biografien der Beteiligten zeigen; zweitens Zeichen gesamtgesellschaftlicher Umbruchprozesse, die auch die Universität erfasst haben; und drittens handelt es sich dabei um das Ergebnis von Identitäts- und Markenbildung, die für den inneren Zusammenhalt genauso wie für ein vergleichsweise solides Außenbild gesorgt haben. Auch die Vergegenwärtigung des Bauhauses in Architekturentwürfen und Bauprojekten hatte in den 1990er-Jahren Konjunktur. Mit dem neuen bauen am horn, der »Rekonstruktion« des Direktorenzimmers sowie Umbau und Sanierung des Hauses am Horn wurden renommierte Projekte realisiert, die im Kontext des Schlagwortes Bauhaus verortet werden können. Die betrachteten Projekte changieren zwischen einer ideenbasierten Wiederbelebung, einem bewussten gestalterischen Rückgriff und der Musealisierung und damit Historisierung des Bauhauses. Nicht zu vergessen ist dabei jedoch, dass Weimar in den 1990er-Jahren als Modellstadt und Kulturstadt Europas einen grundlegenden Bau- und Sanierungsboom erlebte – die hier genannten Projekte sind damit nur ein Ausschnitt weitreichender Investitionsmaßnahmen, denen überwiegend kein Bauhaus-Bezug zu attestieren ist. Das dargelegte Studierendenprojekt zur Konzeption eines ersten Bauhaus-Museums ist zwar als Aufgabenstellung und aufgrund seiner Bauhaus-Referenzen aufschlussreich, steht jedoch keinesfalls repräsentativ für ein kollektives Entwurfsverständnis der HAB. Eine der zentralen baulichen Maßnahmen der neuen Bauhaus-Universität Weimar war die Sanierung der ehemaligen Kunstschulgebäude.69 Der Einbau von Bauhaus-Lampen und -Türdrückern als expliziter gestalterischer Rückgriff auf die Zeit des Bauhauses ist auch mit der Ablehnung der unmittelbar vorangegangenen Epoche zu erklären. Die formale Bezugnahme auf die Gestaltungsschule der frühen 1920er-Jahre wurde damit im Resonanzraum des vereinten Deutschlands erprobt. Bei allen Referenzierungen bleibt jedoch festzuhalten, dass das allererste Gebäude, welches das Staatliche Bauhaus Weimar initiiert und errichtet hat, im Jahr 2009 abgebrochen wurde. Im Jubeljahr haben wir indes gemerkt, dass dieses Jubiläum auch dazu einlädt, sich als Universität neu zu positionieren. Neben den baulichen Maßnahmen wurden auch drängende Fragen nach der politischen Positionierung der Universität sowie besonders die Umstellungen in den Curricula, die aktuell unter dem Label Bauhaus-Studiengang oder Bauhaus-Semester laufen – mit offener Kritik an den Bologna-Reformen –, angestoßen. Mit dem historischen Bauhaus hat das nur sehr entfernt etwas zu tun. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie über das Vehikel des Jubiläums angestoßen wurden. Erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, welche Früchte diese Anstrengungen tragen. Hinzu kommen Diskussionen um Rassismus und Diversität, aber auch um neue Partizipationsmethoden im Universitätsalltag, die innerhalb der Institution entstanden und an die Hochschulleitung herangetragen wurden. Dabei handelt es sich nicht um historisch konstruierte Debatten, sondern um aktuelle Forderungen mit den Schlagworten »Experiment und Risiko, Mut und Neugier«70.

8 Zitiert nach https://bauhaus-kolloquium. documentary-architecture.org/ (letzter Zugriff: 11.01.2020). 9 Bober 2006, S. 171f. 10 Vgl. Bernd Rudolf: »Der Einführungskurs. Resonanzraum«. In: Winfried Speitkamp / Claudia Weinreich (Hg.): Idee, Inhalt, Form. Beiträge zur Gestaltung der Gegenwart. Weimar 2019, S. 45–51, hier: S. 46. 11 Ebd. 12 Vgl. Bober 2006, S. 175. 13 Gerd Zimmermann: »Europäische Provinz. Die ›Bauhaus-Universität‹ Weimar«. In: Bauwelt, Nr. 14, 1996, S. 856. 14 Vgl. Ekkehard Schönherr: »Zwischen Autonomie und Zwang. Die Umstrukturierung der HAB Weimar zur Bauhaus-Universität, 1988–1996«. In: Frank Simon-Ritz / Klaus-Jürgen Winkler / Gerd Zimmermann (Hg.): Aber wir sind, wir wollen und wir schaffen. Von der Großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität Weimar 1860–2010. Weimar 2012, S. 303–339, hier: S. 311f. 15 nach der Wende umbenannt in Stadt- und Regionalplanung und 1996 »gegen bundesweite Proteste […] abgeschafft«. Max Welch Guerra: »Fachdisziplin und Politik«. In: Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / ders. (Hg.): Städtebau-Debatten in der DDR. Berlin 2012, S. 42–69, hier: S. 63 16 Vgl. Schönherr 2012, S. 326.

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

Anmerkungen 1 Winfried Speitkamp: »Bauhaus neu denken. Zur Einführung«. In: Ders. / Claudia Weinreich (Hg.): Idee, Inhalt, Form. Beiträge zur Gestaltung der Gegenwart. Weimar 2019, S. 15–22, hier: S. 16. 2 Ebd., S. 16f. Angemerkt sei, dass die Hochschule für Architektur und Bauwesen schon 1993 zur Universität erhoben wurde und fortan bis 1996 den sperrigen Namen Hochschule für Architektur und Bauwesen – Universität trug. 3 Martin Bober: Von der Idee zum Mythos. Die Rezeption des Bauhaus in beiden Teilen Deutschlands in Zeiten des Neuanfangs (1945 und 1989). Kassel 2006, S. 186, unter: https://kobra.uni-kassel.de/ handle/123456789/200603157583 (letzter Zugriff: 15.01.2020). 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Norbert Korrek: »Zur Bauhaus-Rezeption an der Weimarer Hochschule von 1945–79«. In: Frank Simon-Ritz / Klaus-Jürgen Winkler / Gerd Zimmermann (Hg.): Aber wir sind, wir wollen und wir schaffen. Von der Großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität Weimar 1860–2010. Weimar 2012, S. 172–224, hier: S. 213. 6 Ebd. 7 Vgl. Harald Kegler: »Wiederholung als Chance. Die Bauhaus-Kolloquien in Weimar und Dessau«. In: Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / Max Welch Guerra (Hg.): Städtebau-Debatten in der DDR. Berlin 2012, S. 163–176.

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Die Beschäftigung mit der Geschichte der Universität führt im besten Fall nicht dazu, eine historische Linearität vom historischen Bauhaus zur heutigen Universität zu konstruieren, welche die institutionellen Etappen der letzten Jahre ignoriert oder sogar verneint. Die letzten 100, ja 160 Jahre sind an unserer Universität nicht spurlos vorbeigegangen und haben aus der ehemaligen Kunstschule eine weltbekannte Gestaltungsschule, eine renommierte technische Hochschule und zuletzt eine zeitgemäße Universität mit Schwerpunkt auf Bau, Gestaltung, Kunst und Medien gemacht. Der Bedeutungszusammenhang zwischen historischer Institution und heutiger Universität veränderte sich in den letzten 25 Jahren. Wir haben heute die Möglichkeit, uns verstärkt von der historischen Institution Bauhaus zu lösen. Die Bezüge zum Bauhaus-Erbe sind indirekter geworden und auch weniger formal. Wir fragen heute weniger danach, was uns das Bauhaus noch sagen kann, sondern wir nehmen uns der Vergangenheit an und betrachten sie als solche – in Seminaren und Vorlesungen, aber auch in der Forschung. So kann das Bauhaus getrost in der Geschichte ankommen.

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

37 bis Februar 1991 Erich-Weinert-Straße. 38 Das Museum wird durch die Verfasser*innen selbst als »Tempel« bezeichnet (ebd). 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Vgl. Marlis Grönwald: »Die Nutzungsgeschichte 1923–1996«. In: Freundeskreis der Bauhaus-Universität (Hg.): Haus am Horn. Rekonstruktion einer Utopie. Weimar 2000, S. 111–115, hier: S. 112f. 42 Vgl. ebd., S. 111. 43 Vgl. Anke Blümm: »Die Sanierung des Hauses am Horn«. In: Dies. / Martina Ullrich (Hg.): Haus am Horn. Bauhaus-Architektur in Weimar. Weimar 2019, S. 100–103, hier: S. 101f. 44 Der gleiche Architekt realisierte in Weimar auch den Neubau für das Musikgymnasium Belvedere, das häufig mit einem weiteren Klassiker der Architekturmoderne in Verbindung gebracht wird: der Villa Savoye von Le Corbusier (1928–1931. Vgl. Eva von Engelberg-Do kal: »Klassikerstadt!«. In: Dies. / Oliver Trepte (Hg.): Stadtbilder Weimar. Städtische Ensembles und ihre Inszenierungen nach der politischen Wende. Heidelberg 2019, S. 165–179, hier: S. 170. 45 Vgl. Gerwin Zohlen: »Die Sanierung des Hauptgebäudes der Bauhaus-Universität Weimar durch Thomas van den Valentyn aus Köln«. In: Heidemarie Schirmer / David Mannstein (Hg.): Die Belebung des Stoffes durch die Form. Van de Veldes Kunstschulbau in Weimar. Weimar 2002, S. 101–114, hier: S. 103f. 46 »Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. Gegründet 1860 als Kunstschule. 1919–1925 Staatliches Bauhaus Weimar unter Leitung von Walter Gropius. Nach Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus Wiedereröffnung am 24. August 1946 als Hochschule für Baukunst und bildende Künste. Das Gebäude wurde nach dem Entwurf von Henry Van de Velde 1904–1911 erbaut.« So lautete die Inschrift der rechts des Haupteingangs am Hauptgebäude angebrachten Tafel. Eine zweite Tafel erinnert an Henry van de Velde und ist bis heute am Winkelbau, an der südöstlichen Ecke, zu finden. In den Dokumentationen der Sanierung findet sich leider kein Verweis auf deren Existenz, geschweige denn auf die Entfernung der Tafel am Hauptgebäude. Siehe Heidemarie Schirmer / David Mannstein (Hg.): Die Belebung des Stoffes durch die Form. Van de Veldes Kunstschulbau in Weimar. Weimar 2002; Heidemarie Schirmer (Hg.): Van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar. Geschichte und Instandsetzung. Weimar 2011. Gefunden in einer privaten Fotosammlung auf dem Fotoportal flickr: https:// flic.kr/ps/qUi7A (letzter Zugriff: 09.01.2020). 47 Dabei handelt es sich um Wandmalereien und  -reliefs, unter anderem von Oskar Schlemmer. Angestoßen durch die Feierlichkeiten des 50-jährigen (Dessauer) Bauhaus-Jubiläums im Jahr 1976 wurden diese zwischen 1976 und 1980 wiederhergestellt. Vgl. Christine Hoh-Slodczyk: »Ein Baudenkmal. Das Gebäude der Kunstgewerbeschule«. In: Heidemarie Schirmer (Hg.): Van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar. Geschichte und Instandsetzung. Weimar 2011, S. 60–88, hier: S. 85.

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17 Vgl. Jannik Noeske: »Van-de-Velde-Campus. Zwischen Hinterhof und Repräsentation«. In: Die Bauhaus-Universität Weimar und die politische Geschichte hinter ihrem Städtebau. Forschungsprojekt im M.Sc. Urbanistik. Projektdokumentation. Weimar 2018, S. 40–57, hier: S. 54f. 18 So heißt es in einem Positionspapier der Senatskommission Forschung und Hochschulentwicklung vom 25.11.1991 zum Thema der Namensfindung: »Im Rahmen der Strukturdebatte an der HAB stand auch immer wieder ein neuer Name zur Diskussion […]: Vorgeschlagen wurden auch ›Hochschule für Baukunst‹, ›Hochschule für Gestaltung‹, ›Gropiusuniversität‹ oder ›Bauuniversität‹. Die Bezeichnung Bauhaus-Universität sollte den Vorzug erhalten […]«, empfahl die Kommission. Zitiert nach Schönherr 2012, S. 327. 19 Vgl. Bober 2006, S. 181f. 20 Vgl. ebd., S. 172. 21 Vgl. Schönherr 2012, S. 313. 22 Vgl. Bober 2006, S. 192. 23 Vgl. Anm. 18. 24 https://vimeo.com/channels/bauhausinteract/ 173754597 (letzter Zugriff: 11.01.2020). 25 Vgl. https://www.uni-weimar.de/de/kunstund-gestaltung/profil/eroeffnungsrede-desgruendungsdekans/ (letzter Zugriff: 11.01.2020). 26 so etwa Schlemmer-Universität, GABI – Gestaltung Architektur Bauingenieurwesen Informatik, HUMANUM. Vgl. Schönherr 2005, S. 328. 27 Zitiert nach Bober 2006, S. 192. 28 Hans-Rudolf Meier: »Blick zurück in die Zukunft«. In: Winfried Speitkamp / Claudia Weinreich (Hg.): Idee, Inhalt, Form. Beiträge zur Gestaltung der Gegenwart. Weimar 2019, S. 33–36, hier: S. 35. 29 Vgl. Schönherr 2012, S. 329. 30 Gerd Zimmermann: »Begrüßung«. In: Ders. (Hg.): Ein neuer Name wurde gefeiert. 23. Oktober 1996. Weimar 1996, S. 12–19, hier: S. 13. 31 Ebd., S. 17. 32 Ebd., S. 18f. 33 Achim Preiss: Weimarer Konzepte. Die Kunst- und Bauhochschule 1860–1995. Weimar 1996, S. 52. Weiter polemisiert er: »Stattdessen wurden im luftleeren Raum eine Vielzahl von Antinomien (Kunst und Technik) gebildet, manche sogar in alliterierter Form (Ökologie und Ökonomie), die es jetzt durch ein neues Kulturkonzept zu harmonisieren gelte. Mal abgesehen davon, daß Kultur damit überfordert ist, bleibt auch das Ziel dieser Bemühungen im Nebel, was sicherlich ein Phänomen dieses beabsichtigten Verlustes der DDR-Geschichte ist, denn ansonsten gäbe es ja eine Perspektive. So wartet man auf einen deus ex machina, ein Künstlergenie, das in methodischer Tradition des Bauhauses wieder ein gesellschaftliches Gesamtkunstwerk entwirft […]«. Ebd., S. 53. 34 Schönherr 2012, S. 329. 35 Archiv des Lehrstuhls Entwerfen und Architekturtheorie (AdM), nicht katalogisiert. Aufgabenstellung Diplomarbeit 1991: Museum »Bauhaus und Moderne«, Weimar (Eine Entwurfsstudie). 36 Vgl. AdM, nicht katalogisiert, Mikrofiche rückvergrößert, ohne Titel, 1991. Semesterarbeit von Torsten Lieberenz und Petra Kertscher, 14 Schautafeln.

Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

Heidemarie Schirmer (Hg.): Wo die Kunst entstand: die Atelierbauten der Weimarer Kunstschule. Weimar 2014, S. 156–165, hier: S. 161. 62 ThHStA Weimar, Staatliches Bauhaus Weimar 213, Bl. 9: Mitteilung von Walter Gropius an den Gemeinderat. 63 https://www.uni-weimar.de/de/architektur-undurbanistik/professuren/kulturgeschichte-der-moderne/ (letzter Zugriff: 13.01.2020). 64 Vgl. Winfried Speitkamp: »Identität durch Erbe? Historische Jubiläen und Jahrestage in der Erinnerungskultur«. Neue Bauhausvorträge, Nr. 2, 2017, unter: https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/ frontdoor/index/index/docId/3646 (letzter Zugriff 11.01.2020). 65 Ebd., S. 6. 66 Vgl. zum Beispiel Meier 2019. 67 So zuletzt auf anschauliche Weise im ZDF-Morgenmagazin mit der Reportage »BAUHAUS LEBT! – Eine Kunstschule wird 100« von Peter Twiehaus. Hier wird das heutige Produktdesignstudium auf ungenierte Weise mit den Worten kommentiert: »[…] ganz im Sinne der Bauhaus-Lehre von vor 100 Jahren« (Min. 6:45). Glücklicherweise darf sich die porträtierte Studierende Paula Mühlenau davon direkt distanzieren und auf aktuelle Herausforderungen verweisen. Vgl. https://www. zdf.de/nachrichten/zdf-morgenmagazin/bauhauslebt-100.html [letzter Zugriff: 13.01.2020]. 68 Claudia Weinreich: »Die Universität als Möglichkeitsraum. Zur Einstimmung«. In: Winfried Speitkamp / dies. (Hg.): Idee, Inhalt, Form. Beiträge zur Gestaltung der Gegenwart. Weimar 2019, S. 11–13, hier: S. 12. 69 Auch die Campuserweiterung nach Süden, Standort des im Jahr 1991 entworfenen Bauhaus-Museums, wurde mit Bauhaus-Bezügen beworben und kommentiert, wenngleich weder historische noch formale Parallelen gezogen werden können. Der Wettbewerb wurde kurz vor der Umbenennung im Jahr 1996 entschieden. Die Bauwelt kommentierte seinerzeit: »Die voller Stolz als ›neues Bauhaus‹ gepriesene Hochschule sucht keine Vision eines neuen Aufbruchs, und fast alle Wettbewerbsteilnehmer scheinen eher der Überzeugung zu sein, daß das Gewesene das einzig Bedeutende ist.« Sebastian Redecke: »Van de Velde und der Minimalismus«. In: Bauwelt, Nr. 14, 1996, S. 836–838, hier: S. 838. 70 Speitkamp 2019, S. 17.

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48 Zohlen 2002, S. 106. 49 Vgl. ebd., S. 109. 50 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: »Vom ›Itten-Raum‹ zum ›Vorraum‹«. In: Ders. / Gerhard Oschmann (Hg.): Das Gropius-Zimmer. Weimar 1999, S. 38–45, hier: S. 39f. 51 Vgl. https://www.uni-weimar.de/de/architekturund-urbanistik/professuren/theorie-undgeschichte-der-modernen-architektur/alte-seiten/ lehrstuhlgeschichte/ (letzter Zugriff: 09.01.2020). 52 Für einen Überblick zu den Baumaßnahmen in der Zeit nach der politischen Wende vgl. Eva von Engelberg-Do kal / Oliver Trepte (Hg.): Stadtbilder Weimar. Heidelberg 2019. 53 Vgl. Oliver Trepte: »Architektur und Städtebau zum Kulturstadtjahr 1999«. In: Eva von EngelbergDo kal / Oliver Trepte (Hg.): Stadtbilder Weimar. Heidelberg 2019, S. 15–31, hier: S. 15ff. 54 Gerd Zimmermann: »Eine Bauhaus-Siedlung?«. In: Lars-Christian Uhlig / Walter Stamm-Teske (Hg.): neues bauen am horn. Eine Mustersiedlung in Weimar. Weimar 2005, S. 14–21, hier: S. 14. 55 »Planungsziele«. In: Lars-Christian Uhlig / Walter Stamm-Teske (Hg.): neues bauen am horn. Eine Mustersiedlung in Weimar. Weimar 2005, S. 34–45, hier: S. 36. 56 »Südlicher Bereich – eine Grammatik fürs Bauen«. In: Lars-Christian Uhlig / Walter Stamm-Teske (Hg.): neues bauen am horn. Eine Mustersiedlung in Weimar. Weimar 2005, S. 72–79, hier: S. 77. 57 Fernab universitärer Beteiligung und expliziter Bauhaus-Bezüge wurden im Weimar der 1990erJahre weitere Bauprojekte geplant und teilweise realisiert, die sich des allgemeinen Formenkanons der Klassischen Moderne bedienten. Hierzu vgl. von Engelberg-Do kal 2019, S. 170f. 58 Gerd Zimmermann: »›Bauhaus-Universität Weimar‹. Zur Genese einer Vision«. In: Frank SimonRitz / Klaus-Jürgen Winkler / ders. (Hg.): Aber wir sind, wir wollen und wir schaffen. Von der Großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität Weimar 1860–2010. Weimar 2012, S. 431–461, hier: S. 442. 59 Weder der expressionistisch-symmetrische Entwurf Determanns noch die Großzügigkeit des Forbat’schen Entwurfs finden ein gestalterisches Pendant im Entwurf von Krischanitz. 60 https://www.iba-thueringen.de/projekte/weimardas-100 (letzter Zugriff: 11.01.2020). 61 Vgl. Ute Ackermann: »Das Bauhaus ist immer noch vorwiegend Speiseanstalt«. In: Klaus Aschenbach / 

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Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum?

Sektion IV

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Entwürfe aus der Welt von morgen

Entwürfe aus der Welt von morgen

Entwürfe aus der Welt von morgen

Weimar, Weihnachten 1919: »[…] in einer lustigen Bude auf einem Platz« verschenkten die Bauhäusler*innen Spielzeug, das sie in den entbehrungsreichen Anfangsmonaten der neuen Gestaltungsschule hergestellt hatten, »öffentlich an arme Kinder«.1 Mit diesen »rein aus der Freude am Spielerischen geschaffenen und ganz von der Eigenart des Materials geformten«2 Objekten trat das Bauhaus erstmals in Erscheinung und gab eine Kostprobe seines noch nicht voll zum Tragen gekommenen avantgardistischen Ausbildungskonzepts. Die Aktion fiel mitten in die erbitterte Auseinandersetzung um Ästhetik und Pädagogik der Schule, die in der Stadt und den überregionalen Kulturzeitschriften tobte. Der bis 1933 nicht verstummenden Gegnerschaft des Bauhauses galt schon das Spielzeug als weiterer Beleg für die Politisierung der Schule, beobachtete der Verleger Bruno Adler.3 Der in den ersten Jahren dem Bauhaus und der Wiener Gruppe um Johannes Itten verbundene Adler führte in Weimar den Utopia-Verlag. Unter diesem programmatischen Label verlegte er unter anderem Ittens »Edition Utopia«; auch die Satzungen des Bauhauses erschienen im Utopia-Verlag.4 Im Kontext der revolutionären Aufbrüche und Hoffnungen nach dem Ersten Weltkrieg, in dieser »Zeit der Utopien«5, ist die Virulenz des Utopie-Begriffs am frühen Bauhaus kein Zufall. Eine der wirkmächtigsten Denkfiguren der Neuzeit, begegnet uns die Utopie seit Thomas Morus’ Utopia vor allem in literarisch-philosophischen, künstlerischen und architektonischen Entwürfen als per definitionem unerreichbarer Idealzustand an einem fernen Ort oder in einer fernen Zukunft. Stets wurden Utopien aber nicht nur um ihrer selbst willen imaginiert. Sie dienten auch als Handlungsmaxime für die Gestaltung der Gegenwart und eines besseren Lebens im Hier und Jetzt. Auf dieses Paradox verweisen Schlagworte wie konkrete Utopie, gelebte Utopie oder machbare Utopien, die seit dem 20. Jahrhundert gehäuft in Architektur und Design auftauchen. In den Handlungen der Bauhäusler*innen, dem heute social codierten Verschenken von Spielzeug oder dem Bau des Musterhauses Am Horn als einziger architektonische Hinterlassenschaft in Weimar manifestiert sich dieser Utopiebegriff. Mit der Krise des modernen Paradigmas verloren auch die Planungsutopien ihren totalisierenden Anspruch. Enthierarchisierte, partizipative Ansätze erweiterten das Entwerfen um konkrete Bausteine und Formate zu einem Prozess der Umsetzung. Utopievorstellungen, so wäre eine Hypothese zu formulieren, wurden in eine Gestaltungspraxis transformiert, ohne dass das Utopische seine Imaginationskraft verloren hätte. Zugleich erfährt die Gesellschaftsutopie eine neue Konjunktur und erscheint im Zeitalter der Social-Media-Revolution und der digitalen Aufklärung greifbarer denn je. Sie wird nicht monokausal-ideologisch philosophiert, sondern kommt als pluralistisches Do-it-yourself-Projekt daher, als partizipatorische Provokation der herrschenden (auch der demokratisch arrivierten) Verhältnisse – nicht als Marsch durch die Institutionen, sondern als Spaziergang über die Salatbeete auf den Brachen der Stadt. Dabei ist es mitnichten so, dass die Herausforderungen der Gegenwart alle gelöst wären. Verglichen mit den klaren Verhältnissen der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges muss das beginnende 21. Jahrhundert als Entgrenzung globaler Probleme erscheinen. Aber diese Gegenwart prägt eben auch die konstitutive Erfahrung revolutionärer Veränderung im geopolitischen Maßstab und die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Akteursgruppen, wie 1989/91 und seit dem Arabischen Frühling. Nicht zuletzt dominieren seitdem Massenmedien der Vernetzung, Kommunikation, aber auch Selbstdarstellung und Selbstoptimierung die Erfahrbarkeit des Digitalen. Alle analogen

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Einführung Johannes Warda

205 Entwürfe aus der Welt von morgen

Prozesse finden vor dem Hintergrund der unendlichen Dimensionen digitaler Welten statt, in einem Dazwischen, einem hybriden Mensch-Maschine-Raum, der die Möglichkeiten des Kommenden erahnen lässt, es aber auch erlaubt, im selben Moment doch noch einmal offline zu gehen und den Salat zu ernten. Was bedeutet es genau, eine neue gesellschaftliche Ordnung oder gar ein neues politisches System zu gestalten? Kunst und Gestaltung vermögen es, auf mehr oder weniger normative Art und Weise Zustände abzubilden, die sich von der Gegenwart qualitativ unterscheiden. Nicht immer geht es um die visionäre Vorwegnahme dessen, was einmal möglich sein könnte. Die Formulierung von Zielvorstellung für die Gestaltung von Zukunft ist dabei auch ein wesentliches Werkzeug für die kritische Reflexion der Probleme der Gegenwart. Und so können die übergeordneten Fragestellungen dieses Kapitels auch als Hommage an die Geschichte der Bauhaus-Kolloquien verstanden werden. Seit seinen Anfängen 1976 hat sich das Kolloquium stets auch darin geübt, über die Gegenwart hinauszudenken und nach der Welt von morgen zu fragen – sowie nach der Rolle der gestaltenden Disziplinen bei ihrer Ausformulierung. Das Kolloquium im Sommer des denkwürdigen Jahres 1989 stellte unter dem Titel »Der wissenschaftlichtechnische Fortschritt und die sozial-kulturellen Funktionen von Architektur und industrieller Formgestaltung in unserer Epoche« nicht etwa das 70. Bauhaus-Jubiläum in den Mittelpunkt, sondern würdigte mit einer Ausstellung Hannes Meyer anlässlich seines 100. Geburtstages. Einer der Vortragenden, Claude Schnaidt, Architekturtheoretiker, Aktivist und erster Biograf Hannes Meyers, präsentierte den Tagungsgästen eine fast delikat zu nennende Zukunftsvision und erinnerte an ein weiteres Jubiläum, den 200. Jahrestag des Sturmes auf die Bastille am 14. Juli 1789. Mit Blick auf die Gegenwart beschwor er den Unmut der »Milliarden Menschen«, die »überall« kämpften, »um sich die Welt wieder anzueignen.« Nur wenige Monate vor den tief greifenden Veränderungen in der DDR rief Schnaidt dem Weimarer Publikum zu: »Aux armes citoyens, es müssen noch viele Bastillen gestürmt werden!«6 Zur Eröffnung der Hannes-Meyer-Ausstellung trug er die blau-weiß-rote Kokarde am Revers seines weißen Sakkos.7 Während hier zwischen den Zeilen die Krise der politischen Ordnung anklingt, thematisierte der Formgestalter Martin Kelm, Leiter des Amtes für industrielle Formgestaltung der DDR, die ökologische Krise. Die Natur werde »künftig mehr denn je den Menschen«8 brauchen. In weiten Teilen liest sich Kelms Beitrag als weiterer Versuch einer ökologischen Verantwortungsethik für die Gestaltung. Bezogen auf die Diskurse der 1970erund 1980er-Jahre war dies kaum mehr als ein Nachhall; anschlussfähig in der Gegenwart von 1989/90 waren eher Prognosen wie diese: »In den 90er Jahren werden Technik und Technologie einen weiteren großen Schub erfahren. Vernetzte Computersysteme. Kommunikationsindustrien, hochkomplizierte Maschinen und Anlagen oder neue Generationen von Konsumgütern völlig neuer Anwendungsmöglichkeiten sind in Vorbereitung.«9 Was 1989 noch realistisch klang, firmierte wenige Jahre später auf dem Bauhaus-Kolloquium 1996 bereits als »Techno-Fiction«, die zur »Kritik der technologischen Utopien« animiere, wie es im Untertitel der Tagung heißt.10 Die volle Durchschlagskraft der ökologischen Krise und die Erkenntnis neuer technologischer Heraus- oder Überforderungen setzte dagegen erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein. Die Beiträge dieses Kapitels knüpfen in unterschiedlicher Weise an die Beschäftigung mit Zukunftsvorstellungen und der Gestaltung neuer Ordnungen an. Sie tun dies transdisziplinär – aus architektur- und designtheoretischer, entwerferischer und politikwissenschaftlicher Perspektive. Dass dystopisch anmutende Szenarien für die Kalibrierung gestalterischen Handelns eine Rolle spielen, ist einer breiteren Öffentlichkeit spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie bekannt. Damals wurde über die globalen

der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Nr. 1–3, 1990, S. 26–28, hier: S. 26. 7 Vgl. das Foto Ausstellungseröffnung Hannes Meyer, Hauptgebäude der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Juni 1989. Archiv der Moderne BHK/05/34, abgebildet in: Das BauhausKolloquium. Bilder aus dem Archiv der Moderne. No. 5, 1989. Weimar 2016, unter: https://bauhauskolloquium.documentary-architecture.org/content/14-1989/IBHK-1989-Fotoalbum.pdf (letzter Zugriff: 08.02.2021). 8 Martin Kelm: »Zukunftsprobleme und Design«. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Nr. 1–3, 1990, S. 15f., hier: S. 15. 9 Ebd. 10 Vgl. die Publikation der Tagungsbeiträge in: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, Nr. 3–4, 1997.

Entwürfe aus der Welt von morgen

Anmerkungen 1 Bruno Adler: »Kunst und Politik in Weimar«. In: Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler, Nr. 55, 1919/20, S. 485–487, hier: S. 485. 2 Bruno Adler: »Vom Staatlichen Bauhaus in Weimar«. In: Die Werkstatt der Kunst, Nr. 27, 1920, S. 183–185, hier: S. 184. 3 Vgl. Adler 1919/20, S. 485; zu Adler vgl. Renate Müller-Krumbach: »Mitwirkung im Widerspruch. Der Utopia-Verlag und das Bauhaus«. In: Marginalien, Nr. 177, 2005, S. 32–44. 4 Vgl. Bruno Adler (Hg.): Utopia, Dokumente der Wirklichkeit. Weimar 1921; Bruno Adler: Satzungen Staatliches Bauhaus in Weimar. Weimar 1922. 5 Gertrude Cepl-Kaufmann: 1919 – Zeit der Utopien. Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres. Bielefeld 2019. Für die Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur danke ich an dieser Stelle Stefanie Klemm. 6 Claude Schnaidt: »Viele Bastillen müssen noch gestürmt werden«. In: Wissenschaftliche Zeitschrift

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Planspiele und Response-Konzepte der Katastrophenstäbe berichtet, die in Erwartung einer ebensolchen Lage vor Jahren erstellt worden waren. Sebastian Löwe beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den apokalyptischen Visionen des Speculative Design und lenkt den Blick darauf, wie mithilfe dystopischer Weltentwürfe Strategien für angemessenes Handeln aus der Gegenwart heraus entwickelt werden. Eher positiv konnotiert ist dagegen die »Welt ohne Arbeit«, für die Daniel Grenz eine städtebauliche Utopie durchspielt. Gespeist aus jüngeren Diskursen der verschiedenen Modelle eines Grundeinkommens und der digitalen Transformation der Arbeitswelt entsteht hier ein Nearfuture-Szenario in klassischer Science-Fiction-Ästhetik. Aber auch ein Blick zurück kann helfen, utopische Zukunftsvorstellungen zu rekonstruieren. Daran erinnert Agnes Cameron (mit Gary Zhexi Zhang, Kalli Retzepi und Sam Ghantous), die zwischen Bitcoin und Blockchain die Blaupause einer dezentralen Internet-Allmende freilegt, die auf Peer-to-Peer-Protokollen und Mesh-Netzwerken basiert: Do-it-yourself-Internet. Der Beitrag des Quartetts bewegt sich in den Tiefen dessen, was auch als Infrastruktur der sogenannten Digitalisierung bezeichnet werden könnte. Einer Massenkonsumgesellschaft sind eher digitale Oberflächen zugänglich. Doch was passiert im Smarthome, im Grenzbereich zwischen physischem Raum und digitalem device? Denkanstöße dazu bietet Florian Bengerts Entwurf einer Architekturtheorie für das well-connected environment. An der Schnittstelle von Kunst- und Politikwissenschaft ist schließlich der Beitrag von Marie Rosenkranz angesiedelt. Die Autorin berührt darin jene Frage nach der Gestaltung einer neuen politischen Ordnung und erörtert, inwieweit Kunstaktivismus zur Vermittlung der supranationalen Idee Europa und seiner Werte beitragen kann.

Zivilisationskritische Vorstellungen vom Ende der Welt kursieren nicht exklusiv in postmodernen Gesellschaften. Sie erhalten jedoch vor dem Hintergrund einer immer kontroverser geführten Auseinandersetzung über den Klimawandel, einer radikaleren Außen- und Atompolitik unter US-Präsident Trump, Massenepidemien wie SARS und dem Coronavirus sowie zahllosen technologischen Eingriffen in die Natur mit der Chiffre Neo-Survivalism neuen Auftrieb. Die New York Times schrieb 2017 unter dem Titel »How to Survive the Apocalypse« nicht ganz ohne Ironie: »Yes, the world is clearly coming to an end. But is there anything you can do to prepare?«1 Sie traf damit ins Zentrum einer weitverbreiteten Furcht vor dem Ende der zivilisierten Welt und davor, nicht vorbereitet zu sein. Das Phänomen Neo-Survivalist sei nicht länger Domäne durchgedrehter Camouflage-Anzugträger, resümierte die Times, sondern längst zum kulturellen Mainstream geworden. Schaut man sich die Vorstellung der sogenannten Neo-Survivalists, darunter Prepper*innen, Doomsday-Gläubige und andere, genauer an, fällt auf, dass zunächst einmal abstrahiert wird von der konkreten Ursache für das umso deutlicher vor Augen stehende Ende der Zivilisation. Es gilt, vorbereitet zu sein, wenn »es« losgeht. Dabei ist recht unerheblich, was letztlich der Auslöser für den Untergang ist. Da werden kollabierte Währungssysteme genauso dazugezählt wie alle Arten von Natur- und Technokatastrophen bis hin zu Szenarien der Maschinenrevolte und Massenepidemien. Um entsprechend gewappnet zu sein, legt sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung Ressourcen zu, die das Überleben garantieren sollen – ganz unabhängig davon, ob das Leben danach auch (über-)lebenswert ist. Laut einer YouGov-Umfrage von 2017 haben 12 Prozent der US-Amerikaner*innen einen durchdachten Notfallplan für eine ZombieApokalypse.2 Diese unverrückbare Gewissheit, dass es nicht so weitergehen kann, dass eine moderne Zivilisation letztlich an sich selber zugrunde gehen muss und dass dafür überall Zeichen zu sehen sind und folglich das Ende unaufhaltsam näher rückt, macht letztlich auch die in großer Zahl erscheinenden Ratgeberbücher nicht zur utopistischen Literatur, sondern zu einem ernst genommenen Sachbuchgenre, für das Amazon eine eigene Bestsellerliste führt.3 An diese Gewissheit schließt im Lichte einer etwas anders gemeinten Vorbereitung eine Praxis des sogenannten spekulativen Designs an. Exemplarisch für die Art und Weise der Befassung mit einer lebensunwerten Zukunft ist der Faraday Chair des Designerduos Anthony Dunne und Fiona Raby. Das Victoria and Albert Museum in

Dystopische Weltentwürfe

Dystopische Weltentwürfe. Zu einem kulturellen Wahrnehmungsmuster und seiner Verwendung im Speculative Design und Unternehmenskontext

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Sebastian Löwe

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London, in dessen Sammlung sich die Arbeit befindet, zitiert den Survivalism als zentralen Hintergrund des Faraday Chair: »In fashion, graphics and other media a prevailing theme in 1990s design has been survivalism – a preoccupation also of some artists of the period […]. Dunne & Raby’s work makes a considerable contribution to this theme, which centres on strategies that enable individuals to survive in what is perceived as an increasingly hostile world. The Faraday chair is a significant object in this debate.«4 Historisch verortet in den 1990er-Jahren mit der drohenden Y2K-Krise, die mit dem Beginn des Jahrtausends auch das Ende der Zivilisation durch überforderte Computer gekommen sah, formuliert der Faraday Chair eine dunkle Vision der Zukunft. Allerdings nicht, das sei an dieser Stelle schon kurz vorweggenommen, um vorbereitet zu sein auf das drohende Ende, sondern um kritisch die Gegenwart zu reflektieren – und um damit letztlich dieses spezifische Untergangsszenario abzuwenden. Das kulturelle Deutungsmuster einer Zivilisation, die ihren Fortschritt immer schon gleich mit untergräbt, hat sich gesellschaftlich durchgesetzt, wie man sieht; seine Überführung in das spekulative Design ist aber dennoch erklärungsbedürftig. Denn so sehr es den Prepper*innen, Survivalists und Doomsday-Anhänger*innen einleuchten mag, dass das Ende der Welt nur eine Frage der Zeit ist, so sehr will sich doch das spekulative Design von einer allzu einfachen Sicht auf solche Vorstellungen absetzen und aufklärerisch wirken. Gerade an dieser Stelle bedarf es einer kritischen Bestandsaufnahme des künstlerisch-gestalterischen Verfahrens, das der Faraday Chair exemplarisch für das spekulative Design einsetzt. Die Frage steht damit unmittelbar im Raum, ob es ausreicht, den Betrachter*innen eine radikale Dystopie vor Augen zu führen, um die Gegenwart zu ändern. Anhand des Faraday Chair soll dieser Frage nachgegangen und in einem zweiten Schritt mit einer Zukunftsszenariostudie aus dem Unternehmenskontext kontrastiert werden. Im Feld des Designs, das gemeinhin als Speculative Design oder Critical Design5 gilt, wird bevorzugt ein Wahrnehmungs- und Urteilsverfahren angewandt, das prototypisch in dem bereits erwähnten Faraday Chair mit gestalterischen Mitteln anschaulich gemacht und so den Betrachter*innen als Wirklichkeit des Designs an den Grenzen zur Kunst vor Augen tritt. (  Abb. 1) Der 1995 entworfene Faraday Chair besteht aus einem geschweißten Stahlrahmen, auf den ein Acrylglas-Quader montiert ist. In dem Quader befinden sich ein Kissen aus Baumwolle und ein Plastikschlauch, der auch aus dem Quader herausragt. Das gesamte Objekt misst 72 × 125 × 72 Zentimeter. Er stammt aus dem übergeordneten Werkzyklus »Hertzian Tales« des Designerduos Anthony Dunne und Fiona Raby und knüpft an Traditionen des Produktdesigns an. Die Namensgebung ist bewusst als Referenz gewählt, um gedanklich Parallelen zu Möbeln des täglichen Gebrauchs und ihrer Gestaltung herzustellen. Der Faraday Chair nimmt gleichzeitig Bezug auf den englischen Physiker Michael Faraday (1791–1867) und den sogenannten faradayschen Käfig, eine Abschirmkonstruktion gegen elektromagnetische Wellen. Nähert man sich der Bedeutung dieses Objekts über die Namensgebung, dann stehen zwei Bedeutungsfelder zunächst nebeneinander: die des Alltagsmöbels und die des Strahlenschutzraumes. Schließt man beide Bedeutungsfelder zusammen, formen sie auf der sprachlichen Ebene ein spekulatives Objekt: Der Name konstruiert einen nahen oder fernen Alltag, in dem Menschen einen solchen faradayschen Stuhl zum Schutz vor Strahlung benutzen müssen. Auf der Ebene der Gestaltung des Objekts fällt erst einmal die schlichte, reduzierte Formgebung auf. Nehmen wir für einen Augenblick an, der historische und konzep-

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 Abb. 1 Anthony Dunne und Fiona Raby, Faraday Chair, Stuhl: geschweißter Stahlrahmen, Akryl, Silikon, Baumwollkissen, 1995

tionelle Hintergrund der Arbeit sowie ihr Titel wären unbekannt, dann ist es zunächst ein Objekt, dessen Bedeutung offenbleibt. Es oszilliert zwischen Vitrine, Aquarium und künstlerischem Werk der Minimal Art. Erst durch die angedeutete Nutzung – eine liegende Frau mit dem Schlauch im Mund – wird das Objekt als Möbelstück erkennbar. Es hat zwar, wie in der Abbildung zu sehen, weniger etwas von einem Stuhl als mehr von einem Bett, aber auch hier oszilliert der Bedeutungsraum – zwischen einem Schutzraum, der psychologisch Trost und Zuflucht bietet, über die Fötusstellung der liegenden Frau, die Erinnerungen an den Mutterleib wachruft, bis hin zu Assoziationen eines Käfigs oder gar eines Sargs. Dieser fluktuierende Bedeutungsraum ist kennzeichnend für die konzeptionelle Aussage der Arbeit. Schließt man die Bedeutungen zusammen, zeichnen auch sie die spekulative Natur des Objekts nach. Es ist ein Designobjekt, das seine Nutzer*innen vor Strahlung schützt, aber den Komfort versagt, den wir von Design im Alltag gewöhnt sind. So wird aus dem Schutzraum gleichzeitig ein Raum der Inhaftierung und das wirft damit bei den Betrachter*innen die Frage auf: Welcher Alltag ist derart subjektfeindlich, dass er solch ein Design benötigt? Dunne und Raby arbeiten eigenen Angaben zufolge mit spekulativen Objekten, die nicht erstrebenswerte Zukünfte formulieren.6 Sie entwickelten im Faraday Chair exemplarisch die Kritik an einer Wirklichkeit, die noch nicht eingetreten ist, die aber durch das Objekt sichtbar wird. Es ist die dystopische Vision einer Wirklichkeit, in der elektromagnetische Strahlung keine positiven Effekte zeitigt. Man denke an die Ge-

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schichte der Elektrizität als Überwindung von Schranken und der Ermöglichung von Produktion, Kommunikation und Transport. Der Faraday Chair erzählt von den negativen Konsequenzen der elektromagnetischen Wellen, von einer Strahlung, die Körper und Gesundheit schädigt. Das Designobjekt selbst ist in Bezug auf Erläuterungen, Konkretisierungen oder gar Erklärungen dieser zukünftigen Wirklichkeit unbestimmt, geradezu hermetisch. Das auf geometrische Grundformen reduzierte Objekt erklärt uns als Betrachter*innen nicht, vor welcher Art von Strahlung wir dort geschützt sind, in welchen Alltag der Chair eingebettet ist, wie wir ihn benutzen, wie lange wir darin liegen müssen und ob er der einzige sichere Raum ist. Genauso wenig deutet er auf einen konkreten Zeithorizont hin. Ob Menschen in diesem faradayschen Stuhl in naher oder ferner Zukunft leben, all das kann man dem Objekt selbst nicht entnehmen. Daraus lässt sich ein zentraler Schluss in Bezug auf das Urteilsverfahren ziehen, das der Faraday Chair anwendet. In der Zukunftsvision, in der dieser Stuhl existiert, geht es nicht darum zu skizzieren, wie sich Alltag, Gesundheit und Strahlenschutz gegenseitig bedingen oder gar welche breiteren politischen und ökonomischen Verhältnisse mit so einer Art von Alltag im Zusammenhang stehen. Vielmehr ist es dem Objekt an der inhaltlich unbestimmten Warnung gelegen, dass diese furchtbare Wirklichkeit eines Tages eintritt. Damit eröffnet der Faraday Chair die Spekulation darüber, was eigentlich zu so einer Zukunft geführt hat und wie sie verhindert werden kann. Da sich aber keine kausale Beziehung zur Gegenwart herstellen lässt, werden die Betrachter*innen darauf verwiesen, spekulierend rückzuübersetzen, welche Praktiken in ihrer Gegenwart möglicherweise solch eine Zukunft hervorgebracht haben könnten. Dabei sind die Betrachter*innen, ähnlich wie die Anhänger*innen jedes imaginierten Weltuntergangszenarios, frei darin, alle erdenklichen Quellen des zukünftigen Übels zu identifizieren – oder eben nicht. Die Freiheit der Betrachter*innen, der Gegenwart im Lichte eines solch dystopischen Weltentwurfs ansichtig zu werden, beruht also letztlich auf der Freiheit des Objekts, sich auf keine Erklärung des dystopischen Phänomens festzulegen. Obwohl die Designer*innen darauf Wert legen, dass es sich bei dem Faraday Chair um einen kritischen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Diskussion handelt, birgt dieses Wahrnehmungs- und Urteilsverfahren nicht notwendig Einwände gegen die Gegenwart. Es bleibt dem Interesse und – wenn man das etwas zugespitzt ausdrücken mag – letztlich auch der Willkür der Betrachter*innen überlassen, selbst Ursachenforschung zu betreiben und Zusammenhänge zu konstruieren. Damit steht das Verfahren des spekulativen Designs vor einer Aporie: Der Verzicht darauf, einen kausalen Zusammenhang zwischen Phänomenen der Gegenwart und der spekulativen Zukunft zu formulieren, steht im Widerspruch zum Ausgangspunkt des Designobjekts, nämlich eine solche Zukunft ein Stück weit zu korrigieren und zu verhindern. Selbst wenn es nur die kritische Debatte ist, die das Objekt anstoßen will, letztlich soll die Debatte eine Modifizierung der Gegenwart bewirken. Es bleibt aber offen, welchen Beitrag zu einer kritischen Debatte ein Objekt leistet, das sich einem Einblick in Zusammenhänge (der wesentlichen Quelle für Interventionen wohlgemerkt) so systematisch verschließt. Was bleibt, ist eine wenig differenzierte und letztlich auch etwas schrille Gefahrenanzeige der Zukunft. Man möchte sich als Betrachter*in der eigenen Gegenwart ohnehin fragen, ob man eine derart kuriose Zukunft erblicken muss, um kritische Einwände der eigenen Gegenwart gegenüber formulieren zu können. Denn was das Verfahren des dystopischen Weltentwurfs als Abschreckung in seiner Ausgangsposition immer schon unterstellt, ist, dass man als Betrachter*in erst kritisch wird und womöglich handelt,

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wenn man einer solch radikalen Zukunft gewahr wird – ganz so, als ob gegen die Gegenwart und ihren Zustand keine ernstzunehmenden Einwände formuliert werden könnten. So soll aus der Perspektive des Faraday Chair erst die spekulative Gewissheit eines drohenden Untergangs genug Anlass und Stoff hergeben für eine kritische Diskussion. Dass aus spekulativen dystopischen Weltentwürfen nicht notwendig eine Abschaffung der Ursachen für diese dystopischen Zukünfte folgt, zeigt eindrucksvoll die Szenariostudie Delivering Tomorrow. Logistik 2050 der Deutschen Post AG. Die Studie besteht aus fünf detailliert ausgearbeiteten Szenarien einer Welt im Jahr 2050. Schon das erste Szenario konfrontiert die Leser*innen mit einer Dystopie, die den Titel »Zügelloses Wachstum – drohender Kollaps« trägt. Dort wird prosaisch ausgemalt, in welch verheerendem Ausmaß ein globales Handeln nach dem Imperativ des ökonomischen Wachstums den Planeten zerstört: »Die auf dem Massenkonsum von neun Milliarden Menschen gründende Entwicklung der Wirtschaft hat zu massiven Umweltschäden geführt. Im ständigen Wettlauf um Rohstoffe werden die Umweltverschmutzung und sogar die Zerstörung der Ökosysteme implizit in Kauf genommen. Der Rohstoffabbau hat tiefe Narben auf allen Kontinenten und auf dem Meeresgrund hinterlassen. In Kanada haben die Förderung und Verarbeitung von Ölsand weite Landstriche zerstört. Im Pazifik bringt die Tiefseeförderung hochsensible Ökosysteme aus dem Gleichgewicht. Vor der Küste Norwegens ist die Tiefsee-Ölförderung fehlgeschlagen, und seit zwei Jahren dringt Öl aus den Tiefen des Meeres nach oben. Die Rohstoffförderung in der Antarktis bedroht das wenige Tierleben, das es auf dem eisbedeckten Kontinent überhaupt gibt. Die Treibhausgasemissionen sind enorm, und die Welt steuert auf einen Anstieg der Erdtemperatur um 6 °C bis Ende des Jahrhunderts hin. In den meisten Regionen ist die globale Erwärmung zunächst relativ langsam fortgeschritten, so dass sich ihre Folgen bislang bewältigen ließen. Doch jetzt (2050) scheint sich die Erderwärmung exponentiell zu beschleunigen. Fluten, Dürren, Stürme und andere extreme Wetterereignisse haben bereits merklich zugenommen und werden in der nahen Zukunft noch häufiger auftreten.«7 Was folgt nun aus einer so detailliert anschaulich gemachten Dystopie? Immerhin wird hier ein Zerstörungsprozess beschrieben, den jene ökonomischen Player (wie das Logistikunternehmen Deutsche Post / DHL) zu einem Großteil selbst herbeigeführt haben. Interessanterweise ist die Erkenntnis, die aus dem dystopischen Weltentwurf folgt, der Antrieb, das eigene ökonomische Überleben unter der Überschrift »Implikationen für die Logistikindustrie«8 kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wo die Szenariostudie eben noch das Wachstum ganz allgemein als Treiber für Umweltzerstörung identifizierte, fährt sie nun fort, Folgen für das Wachstum der Deutschen Post abzuschätzen, das damit kein bisschen zurückgenommen ist. Im Gegenteil, dort, wo sich der Klimawandel auf die Wertschöpfung auswirkt, warten neue Wachstumschancen: »Die Folgen des Klimawandels wirken sich auf unterschiedliche Weise auf die Wertschöpfung der Logistikindustrie aus: – Erstens hat die globale Erwärmung Folgen für die Handelsrouten. Mit der Schmelze des arktischen Eises öffnen sich kürzere und effizientere Transportwege. Dabei erhöht die Zunahme extremer Wetterphänomene jedoch das Risiko häufiger Unterbrechungen von Handelsrouten. KatastrophenManagement und Notfallplanung gewinnen an Bedeutung.

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– Zweitens verschärfen die Versicherer und Finanzmärkte ihre Risikobewertung von Logistikunternehmen aufgrund des immer häufigeren Extremwetters. Logistikunternehmen sehen sich mit höheren Kapitalkosten konfrontiert. Durch die hohen Energiepreise verschieben sich die komparativen Vorteile: Nicht nur Offshoring, sondern auch Nearshoring werden zu verbreiteten Strategien. Große Logistikunternehmen unterstützen Hersteller mit strategischer Beratung in diesem Bereich. Die hohen Energie- und Rohstoffpreise drücken auf die Gewinnmargen, da diese Kosten nicht vollständig an die Kunden weitergereicht werden können.«9 Wenn das Eis der Polkappen schmilzt, dann kann das eine Szenariostudie durchaus als Gefahr für Mensch und Tier beklagen und gleichzeitig darüber erfreut sein, dass damit die Transportwege effizienter werden. Wo sich das Wetter drastisch ändert und Naturkatastrophen erzwingt, muss man eben nur ein gutes Katastrophenmanagement implementieren. Wenn alles immer anfälliger und ephemerer wird, dann eröffnet das auch neue Geschäftsoptionen durch die Beratung anderer Unternehmen in Sachen Resilienz. Dieser knallharte Pragmatismus ist nicht mit Zynismus zu verwechseln. Der dystopische Weltentwurf gilt der Deutschen Post AG an keiner Stelle als Appell an ein gemeinsames gesellschaftliches Handeln in der Gegenwart, sondern als kritische Bestandsaufnahme eines Konzerns, der sein eigenes Überleben sichern will. Aus Sicht der Deutschen Post AG gilt es, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um die Wirkungen des skizzierten Szenarios zu kompensieren. Das Motto lautet im besten Survivalist-Jargon: »vorbereitet sein«; und Klimawandel und Energieproblematik kommen für die Deutsche Post daher unter dem Gesichtspunkt der Kosten und des kapitalistischen Geschäfts in den Blick. Anders als die Werke des Speculative Design zielen diese negativen Szenarien nicht auf eine kritische gesellschaftliche Debatte, sondern auf die individuelle Steuer- und damit Beherrschbarkeit der negativen Zukunftsvision. Auch wenn jetzt vielleicht niemand Kritik an den ökonomischen Verhältnissen durch die Deutsche Post AG erwartet hat, über das Verfahren, dessen sie sich bedient, lässt sich aber etwas Wesentliches sagen: Die spekulative Zukunftsvision verhandelt das kollektive Schicksal der Katastrophe als Frage des privatwirtschaftlichen Überlebens. Die Studie stellt letztlich immanent die These auf, dass die negativen Utopien nur insofern einen Korrekturbedarf der Gegenwart darstellen, als sie das eigene Geschäft verhindern. Dass man auch der dunkelsten Zukunft durch geschicktes Management noch etwas Positives abringen kann, stellt die Studie sehr deutlich heraus – und bekennt sich so ausdrücklich zum Wachstum und damit zu den Ursachen für den beklagten Weltuntergang auf Zeit. Beide spekulativen Weltentwürfe zeichnen ein düsteres Bild der Zukunft. In beiden Fällen ist mit dem Weltentwurf ein kritischer Appell oder Handlungsauftrag an die Gegenwart verbunden. Es folgt aber inhaltlich jeweils etwas Anderes aus ein und demselben formalen Verfahren. Was bei Dunne und Raby ein Appell an eine Zivilgesellschaft ist, die dystopische Zukunft zu verhindern, ist im Szenario der Deutschen Post AG der Aufruf an sich selbst, die dystopische Zukunft beherrschbar zu machen. Aus diesen zugegebenermaßen kontrastiven Beispielen lassen sich jedoch Schlüsse auf das Verfahren des dystopischen Weltentwurfs ziehen: Das Erzählen einer dystopischen Welt impliziert erstens nicht immer gleich einen widerständigen Inhalt. Hinzu kommt, dass zweitens auch mit der Narration einer nicht lebenswerten Zukunft, mit der klare Bedenken und Einwände gegen diese spezielle Zukunft formuliert werden, nicht automatisch ein positiver politischer, ökonomischer oder sozialer Wandel herbeigeführt wird.

8 Ebd., S. 49. 9 Ebd., S. 50f. 10 Vgl. https://www.decolonisingdesign.com (letzter Zugriff: 06.02.2020). 11 Eine offene Online-Debatte zu dieser Frage entspann sich 2014 im Projekt »Design and Violence Debate« des Museum of Modern Art anhand eines Beitrags von John Thackara. Einzusehen unter: https://www.moma.org/interactives/exhibitions/ 2013/designandviolence/republic-of-salivationmichael-burton-and-michiko-nitta (letzter Zugriff: 06.02.2020). 12 Vgl. Sebastian Loewe: »Toward a Critical Design Thinking: Propositions to Rewrite the Design Thinking Process«. In: Dialectic. A scholarly journal of thought leadership, education and practice in the discipline of visual communication design, Nr. 2, 2019, S. 127–150.

Dystopische Weltentwürfe

Anmerkungen 1 Alex Williams: »How to Survive the Apocalypse«. In: New York Times, 24. September 2017, S. 1. 2 Vgl. https://www.statista.com/chart/11729/zombieapocalypse_-fight-or-flight (letzter Zugriff: 06.02.2020). 3 Vgl. https://www.amazon.com/Best-Sellers-BooksSurvival-Emergency-Preparedness/zgbs/books/ 8975382011 (letzter Zugriff: 06.02.2020). 4 https://collections.vam.ac.uk/item/O63805/ faraday-chair-chair-dunne--raby/ (letzter Zugriff: 06.02.2020). 5 Vgl. Matt Malpass: Critical Design In Context. London 2017. 6 Vgl. http://www.digital-projects-index.juliendrochon.net/portfolio/faraday-chair (letzter Zugriff: 06.02.2020). 7 »Szenario 1: Zügelloses Wachstum – drohender Kollaps«. In: Deutsche Post AG (Hg.): Delivering Tomorrow. Logistik 2050. Eine Szenariostudie. Bonn 2012, S. 38–51, hier: S. 45f.

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Es kommt letztlich auf die politischen und ökonomischen Subjekte und ihre Interessen an, was aus diesen Szenarien jeweils folgt. In diesem Sinne sollten kritische Designer*innen das Verfahren kritisch reflektieren und es so modifizieren, dass zwischen Ausgangs- und Endpunkt, zwischen Gegenwart und Zukunft die Notwendigkeit eines kritischen Einwandes deutlich wird und dieser Einwand seine politische, ökonomische und soziale Wirkung auch gleich mitkonzipiert. Diese Neubestimmung soll weder als strenge Handlungsanweisung noch als feststehende Methode oder ethische Richtlinien für kritisches Design verstanden werden, sondern vielmehr als offene Suche nach Formen der kritischen Gegenwartsdiagnose und -intervention mit den Mitteln des Designs. Damit soll das Speculative Design nicht zurückgewiesen, aber doch zugunsten einer kritischen Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt ein Stück weit relativiert werden. Im Anschluss an Ahmet Ansari und das Decolonizing Design Collective10 könnte man fordern, dass sich kritisches Design erst der Kritik der Gegenwart widmen sollte, bevor es neue Zukünfte imaginiert. In diesem Sinne schließt diese Vorstellung an Strömungen innerhalb des Critical Design an, die stärker die Debatte betonen. Wie Design einen räumlichen und diskursiven Rahmen für solch kritische Debatten bieten kann, bleibt bis heute weitgehend ein Desiderat.11 Critical Design Thinking könnte hierfür jedoch erste Anschlüsse bieten.12 Critical Design Thinking fusioniert Bestandteile des Critical Design mit dem Gestaltungsfindungsund Managementprozess des Design Thinking zu einem debattenfokussiertem Designprozess, der stärker die kritische interdisziplinäre Auseinandersetzung über politische, soziale und ökonomische Fragen in den Mittelpunkt des Designs stellt. Der theoretische Rahmen des Critical Design Thinking bedarf allerdings noch der praktischen Umsetzung und Erprobung im oben angesprochenen Sinne.

Der nachfolgende Beitrag setzt sich aus zwei Vortragsmanuskripten zusammen. Das erste ist real und kam 2019 im Rahmen des XIV. Bauhaus-Kolloquiums zum Einsatz, das zweite ist fiktiv und stammt aus der Zukunft. Das erste beschreibt die Spekulation einer Welt ohne Arbeit als hoffnungsvoll und aufkommend, das zweite als gescheitert und vergangen. Aber wieso braucht es zwei Vorträge aus zwei Jahrhunderten für diesen Beitrag? Im Call für die Sektion »Entwürfe aus der Welt von morgen« wurde danach gefragt, im Rahmen eines Gedankenexperiments »die Gegenwart von der Zukunft aus zu denken«.1 Zum Zeitpunkt meiner Teilnahme am Call hatte ich das als passend zu meinem Entwurf auf der Maßstabsebene der Stadtplanung zu einer »Welt ohne Arbeit« gedeutet. Dabei – und auch beim späteren Vortrag im Rahmen des Bauhaus-Kolloquiums – kam jedoch eine Perspektive zu kurz, die eigentlich den entscheidenden Punkt aller baulicher Tätigkeit ausmachen sollte: diejenige der Menschen, die in dieser Utopie leben sollten. Beim Entwerfen war dieser Blickwinkel der potenziellen Bewohner*innen ein Schlüsselzugang für mich zum Thema. Um »die Gegenwart von der Zukunft aus zu denken«, hatte ich ein fiktives Tagebuch von Bewohner*innen dieser Siedlung geführt, in welchem ich mir das Leben darin ausmalte. Im Laufe der weiteren Bearbeitung des Entwurfs geriet diese Perspektive des Menschen jedoch zugunsten abstrakterer beziehungsweise großmaßstäblicher Planung und Leitbilder ins Hintertreffen – wie es wohl oft der Fall ist, wenn Architekturschaffende sich großen Visionen zuwenden. Um diesen Fehler nicht zu wiederholen, bilden diese Tagebücher die Grundlage für die zweite Hälfte meines Beitrags. Sie werden jedoch nicht in ihrer Ursprungsform wiedergegeben, sondern in eine Reflexion aus einer weit entfernten Zukunft (in 100 Jahren) über eine Utopie zu einer näheren Zukunft (der Post-Arbeit-Gesellschaft) eingebettet. Dieser Beitrag bildet damit für mich weniger den Abschluss einer Beschäftigung mit der Rolle von Spekulationen im Entwurfsprozess, sondern viel eher den Auftakt weiterer Experimente mit der Überlagerung und Verschränkung von Zeit in der Architektur. Eine Welt ohne Arbeit: Spekulative Stadtplanung als Testfeld für technologische Revolutionen. Manuskript eines Vortrags für das XIV. Bauhaus-Kolloquium in Weimar, 12. April 2019

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Organisator*innen des Bauhaus-Kolloquiums, vielen Dank für Ihre Einladung nach Weimar, es ist mir eine große Ehre, heute vor Ihnen über meine Gedanken zu einer Gegenwart, die aus der Zukunft gedacht wird, zu sprechen. Unsere Arbeitswelt befindet sich im Wandel: Laut einer Studie von Forschern der University of Oxford werden in den nächsten 20 Jahren 47 Prozent der heutigen Arbeitsplätze verschwunden sein.2 Christoph Keese beschreibt in Silicon Valley: Was aus dem

Welt ohne Arbeit. Eine Utopie zwischen Stadtplanung und Science-Fiction

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Daniel Grenz

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mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, wie Investor*innen und Verwalter*innen von Risikokapitalfonds die Entscheidung überlassen wurde, »disruptive Innovationen« zu fördern und damit maßgeblich die Entwicklungsrichtung neuer Technologien zu beeinflussen.3 Diese sind demnach nicht das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Bürger*innen, Staat und Privatunternehmen, wie man das von lebendigen Demokratien erwarten sollte, sondern liegen zum Großteil in privater Hand. Aus dieser Problemstellung ergibt sich eine Reihe von Fragen für mich als angehender Architekt: Wie kann durch den Einsatz architektonischer Werkzeuge die längst überfällige Debatte über die Entwicklungsrichtung neuer Technologien angestoßen werden? Und wie lässt sich mithilfe architektonischer Werkzeuge herausfinden, welche Zukunftswünsche überhaupt Bürger*innen haben, die an einem solchen Aushandlungsprozess teilnehmen wollen? Die beiden Politikwissenschaftler Nick Srnicek und Alex Williams begreifen Zukunft als etwas, das in demokratischen Prozessen geformt werden muss und betonen das gesellschaftliche Potenzial von Technologien, die Arbeit zu automatisieren. Darauf aufbauend fordern sie, als Gesamtgesellschaft die Automatisierung mit dem Ziel voranzutreiben, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu ermöglichen, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen.4 Dieses Szenario möchte ich im nächsten Schritt im Rahmen eines Entwurfs auf ein konkretes Areal anwenden und dabei aufzeigen, wie der Wegfall der Notwendigkeit zur Arbeit die Stadt verändern könnte. Als Untersuchungsort wurde die spanische Hauptstadt Madrid gewählt. Eine Stadt, in der die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008 bis heute zu spüren sind und in der daher auch die Suche nach anderen Modellen von Volkswirtschaft staatlich gefördert wird. Um den Arbeitsschwerpunkt innerhalb Madrids festzulegen, habe ich ein Quartier gesucht, das durch die Notwendigkeit zur Arbeit geformt ist – um daran besonders deutlich erläutern zu können, was sich beim Wegfall dieser Notwendigkeit ändern würde. Des Weiteren musste es ein Quartier sein, in welchem das aktuelle Wirtschaftssystem an seine Grenzen gelangt ist. Diese Kriterien treffen auf den Stadtteil Orcasur im Süden Madrids zu. Er ist als klassische Schlafstadt für Arbeiter*innen konzipiert und liegt direkt am Autobahnring, über den die Arbeiter*innen leicht zu ihren Arbeitsorten in der Industrie gelangen sollten. Die Wohnbauten sind extrem kosteneffizient und repetitiv gebaut worden, gleichzeitig ist das Quartier durch Pkw-Mobilität geformt: breite Straßen mit ausreichend Parkplätzen. Von der genannten Industrie ist allerdings nicht mehr viel übrig. Die Folge ihrer Schließung und der Rezession ist neben Arbeitslosigkeit auch ein hoher Leerstand im Quartier Orcasur. Das spiegelt sich auch im extrem simplen Lageplan des Quartiers wider: die immer gleichen eng aneinander stehenden Zeilen und dazwischen Straßen für die Erschließung mit dem Auto. Die erste Frage, mit der ich mich beschäftigt habe, war, wie sich diese automatisierten Orte der Produktion in der Stadt unterbringen lassen könnten. Um das automatisierte Produzieren nicht nur zur materiellen, sondern auch zur räumlichen Grundlage des neuen städtischen Lebens zu machen, sind die Fabriken im Quartier platziert. Je nach Bestand und Position eines Baufelds im Quartier wurden unterschiedliche Fabriktypen entwickelt: Vom Sockel über die Aufstockung bis hin zum Feld aus Solitären und zur Einrahmung ergeben sich dadurch abwechslungsreiche räumliche Situationen. Im nächsten Schritt habe ich über Veränderungen des Tagesablaufs spekuliert, die sich in einer Welt ohne Arbeit ergeben könnten. Als Grundlage diente mir hierfür der klassische Tagesablauf der Nachkriegszeit, bestehend aus jeweils 8 Stunden Schlaf, Arbeit und Freizeit. Dieser Tagesablauf wandelt sich in dem von mir beschriebenen Sze-

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nario radikal: Plötzlich ist es allen selbst überlassen, ihren Tagesablauf jedes Mal von Neuem zu gestalten. Mit anderen Worten: Man hat die Zeit, um jeden Tag etwas anderes zu machen – ganz wie es beliebt. Diesen Paradigmenwechsel habe ich mit den Worten »Pflicht erfüllen wird Selbst erfüllen« überschrieben. Aufgrund der veränderten Tagesabläufe und damit veränderten Nutzungsmuster wird sich vor allem der öffentliche Raum umstrukturieren und wird er eine Vielzahl an öffentlichen Funktionen an einem Ort bereitstellen müssen. In der Collage zu diesem Leitbild zeigt sich überspitzt, wie an einem Ort vom Schwimmbad über das Museum und die Skatebahn bis hin zum Konzert alles seinen Platz finden kann. (  Abb. 1) Es gilt also, Strategien zu entwickeln, um viele kleine sehr stark nutzungsdurchmischte Städte in der bestehenden Stadt unterzubringen. Jedes Baufeld wird dann von der Nutzungsvielfalt so heterogen wie eine Stadt. Die Möglichkeiten, um dies zu tun, reichen von der vertikalen Stadt, der Umnutzung und Aufstockung bis hin zur Unterbringung der verschiedenen Typologien in Einzelgebäuden. Die Beschleunigung technologischer Entwicklungen, um eine volle Automatisierung der Arbeit möglich zu machen, sorgt damit paradoxerweise für eine Entschleunigung des Alltags. Denn: Wer nicht mehr arbeiten muss, kann sich mehr Zeit nehmen. Anstatt mit dem Auto oder Zug zu fahren, ergibt sich die Möglichkeit, mit dem Fahrrad oder zu Fuß die Stadt zu durchqueren. Den daraus folgenden Paradigmenwechsel habe ich »Eilen wird Flanieren« genannt. So wird etwa die Bahnhofshalle mit eilenden Reisenden zum Feld, auf dem flaniert wird. Auf die Stadt angewandt bedeutet das, eine Stadt der Fußgänger*innen und Radfahrer*innen zu planen und diese Freiräume abwechslungs- und spannungsreich zu gestalten, um die Tätigkeit des Flanierens nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu fördern. Im Entwurf zeigt sich das in einer großen Vielfalt an Freiraumtypen, die wiederum von Baufeld zu Baufeld variieren: vom Wald über die Wiese, den Acker, den See und den Berg bis zum Sportplatz. Die Notwendigkeit zur Arbeit bindet Menschen über Verträge an Orte, die sie regelmäßig aufsuchen müssen. Ohne Notwendigkeit zur Arbeit wird auch die Ortsgebundenheit deutlich geschwächt und das Nomadentum kehrt – zumindest für einige Bürger*innen – zurück in ihren Alltag. Den dritten Paradigmenwechsel bezeichne ich daher mit »Siedeln wird Reisen«. Der Stadtraum wird zum Campingplatz, das Bürogebäude zum Hostel. Als Campingplätze im Quartier fungieren die Wiese, das Dach oder Flächen im Gebäudeinneren.

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 Abb. 1 Paradigmenwechsel »Pflicht erfüllen wird Selbst erfüllen«

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Spannend wird es jetzt, wenn man anfängt, die verschiedenen entworfenen Typen zu überlagern. Es ergeben sich Hunderte von Möglichkeiten, die Typen auf den Baufeldern mit dem Bestand zu kombinieren. Die automatisierte Produktion bildet die Grundlage für die Unterbringung von »Städten in der Stadt«, bei deren Besuch man zwischen unterschiedlichsten Grünräumen flaniert und Camper*innen aus der ganzen Welt begegnet. Mit der Typensammlung habe ich somit eine Art abstrakten stadtplanerischen Baukasten geschaffen. Sie ist als ein System beziehungsweise als eine Formel zu verstehen, das oder die dann durch lokale Parameter an jedem Ort eine andere räumliche Ausformulierung erfährt. Gleichzeitig kann es auch als eine Art »Plug&Play«-Urbanismus für eine resiliente Stadt verstanden werden: Die Teile des Baukastens können eingesteckt und getestet werden. Je nach Erfolg dieses Testfelds können sie bleiben oder abgebaut und an einem anderen Ort wiederaufgebaut werden. Diesen Baukasten galt es nun, am Beispiel Orcasurs konkret auszuarbeiten. Basierend auf einer Analyse der Stärken und Schwächen des Quartiers habe ich Regeln entwickelt, wo und in welcher Weise sich die jeweiligen Typen unterbringen lassen. Mit diesen Regeln und ihren räumlichen Auswirkungen möchte ich nun fortfahren. Das Modell zeigt, wie sich das bestehende Quartier verändern könnte, wenn die Notwendigkeit zur Arbeit wegfallen würde. (  Abb. 2) Innerhalb des Quartiers stehen die Schwimmer*innen im Mittelpunkt, während gleichzeitig die Wiese als Campingplatz genutzt wird. Die Produktionsflächen stehen hier nicht im Vordergrund – sie befinden sich aufgestockt auf den Wohnbauten. (  Abb. 3) Ganz anders sieht es in  Abbildung 4 aus: Automatisierte Orte der Produktion bilden hier im Erdgeschoss einen Sockel, auf dem sich neue Sportflächen anordnen

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 Abb. 2 Modellfoto des Entwurfs, eine mögliche Anwendung der Typologien am Beispiel Orcasur

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 Abb. 4 Produktion im erweiterten Sockel

lassen, die Vorbeifahrende zum Mitmachen einladen. Gleichzeitig ist der Sockel gut mit dem städtischen Straßennetz verbunden, um gegebenenfalls Warenanlieferungen entgegenzunehmen. An den Quartiersstraßen werden darüber hinaus die bisherigen Hochhäuser noch einmal aufgestockt. Eine Aufstockung bisheriger Wohngebäude mit automatisierter Produktion könnte folgendermaßen aussehen: Autonome Fahrzeuge – wie der Kuka-Roboter – schaffen benötigte Waren aus den Nachbargebäuden heran, die dann über Aufzüge im Stadtraum in die oberen Etagen zur Fabrik gebracht werden können. Eine andere Art der Freiraumnutzung stellt die landwirtschaftliche Produktion dar: Aus der ungenutzten Wiese wird die Weide für Rinder (  Abb. 5); die hier violett dargestellten Bauten nehmen die für die dezentrale Viehhaltung notwendigen Anlagen auf. Für mein abschließendes Argument zitiere ich den Kunsthistoriker Prof. Simon Sadler. Er forscht an der University of California in Davis zu den visionären Projekten von Archigram und Constant und ich hatte die Gelegenheit, ihn zu dem hier vorgestellten Thema zu interviewen und mit ihm das Potenzial planerischer Visionen zu diskutieren. Er bewertet diese folgendermaßen: »There is a role for utopian imagery because it sets up questions. If you’re doing a project in which you’re describing the future the implicit question for everybody who is looking at it is: is that what we want? That then creates debate and participation – it creates a public.«5 Mit dieser Frage möchte ich meinen Vortrag beenden und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Gleichzeitig bin ich gespannt auf die Diskussion mit den anderen Redner*innen dieses Panels und auf Beiträge und Kritik aus dem Publikum.

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 Abb. 3 Produktion in der Aufstockung der bestehenden Wohngebäude

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Organisator*innen des Bauhaus-Kolloquiums, ich möchte mich ganz herzlich für Ihre Einladung nach Weimar zur 200-Jahr-Feier des Bauhauses bedanken. Man hat mich im Vorfeld der Veranstaltung darum gebeten, aus meiner Perspektive als Historiker über die Geschichte der Post-Arbeit-Siedlungen zu sprechen, die im vergangenen Jahrhundert als »reale Utopien« an zahlreichen Orten in Europa entstanden sind. Wie Sie wissen, blieb es bei diesen wenigen lokalen Experimenten. Und wie die vorhergehenden Redner*innen bereits herausgearbeitet haben, sind die Gründe für die ausbleibende Verbreitung (manche würden gar von einem Scheitern sprechen) der Siedlungen so vielfältig, wie die Siedlungen selbst. In meinem Vortrag möchte ich jedoch weniger auf diese Gründe eingehen. Ebenso wenig möchte ich bestimmten Hoffnungen, die sie möglicherweise an mich als Bauhistoriker hatten, nachgeben und ihnen in 15 Minuten Vortragszeit eine historische Einordnung dieser Siedlungen und der darin enthaltenen Ideen geben. Ich möchte stattdessen viel eher mit Ihnen auf die Details meiner Forschungen eingehen und – jenseits der abstrakten Diskussionen um Zahlen, Pläne und Gesetze – eintauchen in die Lebenswirklichkeit derjenigen, die von genau diesen Strukturen geformt werden. Dabei folge ich der These, dass eine Bewertung der Siedlungen in erster Linie über den Alltag ihrer Bewohner*innen erfolgen kann. Als Bauhistoriker geht es mir davon ausgehend darum, die Rolle von Architektur und Planung bei der Konstruktion dieser Alltäglichkeit herauszuarbeiten. Mich interessiert dabei insbesondere der

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Post-Arbeit-Siedlung revisited: Architektur, Utopie und Alltäglichkeit am Beispiel der Tagebücher von Eduardo Francisco Garcia (2003–2085) und Abiramy Miller (2037– 2105). Manuskript eines Vortrags von Dirk Yang für das XXXV. Bauhaus-Kolloquium in Weimar, 12. April 2119

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 Abb. 5 Produktion in kleinen Neubauten für die Landwirtschaft

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19. Juli 2045 Ich sitze mal wieder an meinem Flussfahrrad. Ich habe ja schon davon erzählt: Die Idee ist, damit auf einer längeren Fahrradfahrt auch mal eine Pause einlegen zu können, indem man sich damit im Flusswasser treiben lässt. Damit wir, wenn wir (oder

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Moment, in welchem die Utopie zugunsten des Alltags weicht; in dem also die große Vision nicht mehr als solche bewertet wird, sondern Teil der Normalität geworden ist – und damit das Leben von Bewohner*innen und ihre Bewertung der Welt entscheidend umgeformt hat. Damit verknüpft ist eine Reihe an Fragen, denen ich im Laufe dieses Vortrags nachgehen möchte: Wie veränderte sich der Alltag von Bewohner*innen dieser Siedlung im Laufe des 21. Jahrhunderts? Wie bewerteten sie diesen Alltag – auch im Vergleich zu vorhergehenden Generationen? Und welche Rolle kam Architektur und Stadtplanung der Siedlungen dabei zu, diese Alltäglichkeit zu formen? Im Rahmen meines Forschungsaufenthaltes in der Post-Arbeit-Siedlung Orcasur in Madrid bin ich auf zwei Dokumente, genauer gesagt analoge Tagebücher, von Zeitzeug*innen aus zwei Generationen des 21. Jahrhunderts gestoßen. Die Tagebücher waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht digitalisiert, sondern befanden sich als Erinnerungsstücke dieser ehemaligen Bewohner*innen nach ihrem Tod im Privatbesitz ihrer Kinder, Enkel*innen und Freund*innen. Der Wert dieser Tagebücher gegenüber anderen Quellen, mit denen wir es als Historiker*innen im 22. Jahrhundert zu tun haben, ist diese Unerreichbarkeit der Informationen für Außenstehende. Die Inhalte dieser Bücher sind nicht bereits zu Lebzeiten der Autor*innen veröffentlicht beziehungsweise digitalen Archiven hinzugefügt worden, sondern geben uns intime Einblicke in ihre Bewertung des Lebens in einer Utopie. Im Rahmen meines Vortrags möchte ich im ersten Schritt Ausschnitte aus den zwei Tagebüchern vorlesen: chronologisch, vom frühesten Beitrag im Jahr 2045 bis zum spätesten, 2080. Die chronologische Vorgehensweise macht es möglich, im Anschluss Kontinuitäten in der Beschreibung und in Bewertungen des Alltags durch die beiden Autor*innen klarer herauszuarbeiten, bevor ich mich an die Brüche zwischen ihnen wage. Darauf aufbauend werde ich dann untersuchen, welche Rolle Architektur und Stadtplanung bei der Konstruktion dieses Alltags zukam, um so einer Diskussion über die Neubewertung dieser Siedlungen den Weg zu bereiten. Die ersten Ausschnitte, die ich aus einem Tagebuch vorlese, stammen von Eduardo Francisco Garcia. Er wurde 2003 in Orcasur geboren und studierte Architektur an der ETSAM. Sein Werk ist ein typisches Beispiel für einen Vertreter der »Maker-Generation«. Sie zeichnet aus, dass sie nach der Einrichtung der Post-Arbeit-Siedlung in Orcasur in den 2030er-Jahren letztlich die Möglichkeiten der neuen ökonomischen Situation dafür nutzte, vor allen Dingen handwerklich aktiv zu werden, aber ansonsten einen relativ klassischen Alltag des 20. Jahrhunderts weiterlebte. Garcia beschäftigte sich dabei nicht nur mit der Architektur, sondern war vor allem auch durch seine Entwürfe für Möbel, Fortbewegungsmittel und kleinere Inneneinrichtungen maßgeblich beteiligt an der Herausbildung des spezifischen Madrider »Fablabismus«. Gemeinsam mit seiner Frau, der in Frankfurt am Main geborenen Künstlerin Tina Schneiderhans, die nach der Etablierung der Post-Arbeit-Siedlung Orcasur dorthin zog, lebte er bis an sein Lebensende 2085 dort. Die folgenden Ausschnitte aus seinem Tagebuch stammen aus den Jahren 2045 bis 2055. Sie sind also 10 bis 20 Jahre nach der Einrichtung der PostArbeit-Siedlung Orcasur entstanden, durch die sein Auskommen bis an sein Lebensende gesichert war und er sich davon ausgehend als einer der progressivsten Gestalter*innen seiner Generation etablieren konnte.

29. September 2051 Ich habe geschliffen und geschliffen und geschliffen und schließlich geölt. Verdammt anstrengend war es und lang gedauert hat es. Aber ich bin zufrieden. Ying hat mir beim Tragen geholfen und wenn das Öl getrocknet ist, können wir endlich die neue Tür platzieren. Nach all der Mühe bin ich ein wenig ängstlich, sie tatsächlich zu gebrauchen. Aber wenn ich mir vorstelle, morgens aufzuwachen und durch das feine Ornament in ihrer Mitte hindurch das Treiben im Laubengang zu beobachten … 19. Mai 2053 Schlaflos, schlaflos, schlaflos, schlaflos … Dafür Zeit zum Denken und Schreiben. Endlich – möchte ich fast sagen. Zu viel ist passiert, um einfach wegzuschlummern. Was haben wir geackert, alles nur für diesen Tag. Morgen. Wir acht im Flussfahrrad. Und die anderen Teams in ihren lahmen Kisten. Die Ex-M30 hoch mit Highspeed, dann ein Sprung in den Manzanares und einmal flott vors Matadero. Dann wir mit dem Pokal in der Hand? 17. Januar 2055 Die alte Museumsdiskussion ist wiederaufgekommen. Und wieder stehen sich die beiden Lager unversöhnlich gegenüber. Mir ist das eigentlich echt egal, ob ich mich ein, zwei Wochen in die Werkstatt stelle, meine alte Klapperkiste (und auch ein oder zwei von denen der anderen aus der alten Garage) in ihre Einzelteile zerlege und wir uns dann damit was anderes bauen. Oder ob die alten Dinger als ach so wertvolle Objekte für die Nachwelt erhalten werden und ich sie dafür restauriere. Welchen Wert das haben soll, wenn man sich eh die Einzelteile online runterziehen, fräsen und zusammenschrauben kann, frage ich mich zwar schon (wofür habe ich sie denn online gestellt?), aber irgendwie schmeichelt es mir auch.

Bevor ich mich tiefer gehend in einer Analyse der Tagebucheinträge von Eduardo Garcia mit den eingangs skizzierten Fragestellungen befasse, möchte ich noch Ausschnitte aus den Tagebüchern der zweiten Autorin, Abiramy Miller, vorlesen. Als 2035 Orcasur als Testfeld für eine Post-Arbeit-Siedlung gegründet wurde, legte die Stadt Madrid Wert darauf, neben den einheimischen Bewohner*innen möglichst

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26. Februar 2048 Diese verdammten Labertaschen machen Druck und jede*r kleine Hobbyjournalist*in giert nur nach einem Interview mit ihnen. Diese ganze ewige alte Leier. Die Geschichte wiederholt sich tatsächlich … Glaubt jemand diesen Quatsch? Wer würde sich denn freiwillig verpflichten, da jeden Tag aufzukreuzen, acht Stunden sonst was für irgendwen zu tun, nur um einen Tesla zu fahren? Die alten Dreckschleudern sind wir doch schon vor 20 Jahren losgeworden. Nur weil man mit Post-Its auf Inline-Skates durch einen klimatisierten Raum fährt, soll das keine Arbeit sein?

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jemand anderes) mal unterwegs sind, auch mal vorankommen – und ohne unnötig Geld für teure Busse oder ähnliches ausgeben zu müssen. In der Werkstatt war heute glücklicherweise nicht viel los, ist ja Sommer und die üblichen Verdächtigen sind auf Achse im Norden, während ich hier in der Hitze des Madrider Südens vor mich hin werkle. Die Luftauftriebanlagen kühlen wenigstens ein bisschen die Werkstatt, wenn man nicht gerade verreist ist, essenziell, um es hier aushalten zu können. Und die leere Werkstatt sorgt natürlich dafür, dass ich rumfräsen konnte, was das Zeug hält.

01. August 2076 Ich plane wieder eine Reise und es stellt sich leider mal wieder als schwieriger heraus als gedacht. Nachdem die letzten Zwischenmieter*innen unsere Bude verwüstet haben, wollen Sonja, Sanjay, Sam und die anderen nicht wieder einfach irgendwelche Reisenden bei uns reinlassen. Wer kann es ihnen verübeln? Ich fand es auch nicht gut, den ganzen Winter über die Wohnung zurechtflicken zu müssen. Aber meine Güte, wie oft passiert das schon, dass man an solche Vollpfosten gerät? Und darauf, erstmal mühselig zig Leute zu interviewen, habe ich erst recht keine Lust. Dann reparier ich lieber den Gemeinschaftsraum und helfe den anderen bei ihren Zimmern, anstatt hier jeden Abend Leuten dabei zuzuhören, wie sie sich bei mir einschmeicheln. Ich bin zum Glück nur für eine Woche hier, danach geht’s endlich Richtung Köln. 08. August 2076 Ich bin in Köln. Ein ordentliches Stück mit dem Fahrrad, aber jetzt bin ich da und mein Zimmer für die nächsten drei Monate ist auch bereit. Ich wohne alleine, zum ersten Mal seit Ewigkeiten keine Wohngemeinschaft. Aber ich bin hier nicht zum Quatschen, sondern um mir die Ornamente im Dom anzusehen. Oder besser gesagt: um sie zu studieren. Diesmal etwas genauer als bei den letzten Besuchen, als wir nur auf der Durchreise waren. Ich will sie verstehen, die Logik, die Regeln, die Machtstrukturen, die es möglich machten, dass Menschen solch eine Schönheit erschaffen können. Ich will aber auch dem Leben derer auf den Grund gehen, die Ewigkeiten damit verbracht haben, diese Schönheit bis in das winzigste Detail auszuarbeiten. Was hat es bedeutet, sich tagein, tagaus nur dieser einen Tätigkeit zu widmen? Wie wurden sie entlohnt? Haben

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16. Februar 2070 Ich war heute zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder zu Hause in Orcasur und mal wieder zwei Tage zu spät da … Mama hat mich natürlich gefragt, wie ich denn zu spät sein könne und immer so viel zu tun haben kann, wenn ich doch nicht arbeiten müsse. Sie und Papa seien nie in Eile. Pfff. Wozu haben sie mich denn auf die Schule in Orcasur geschickt, wo man mich genau dafür ausbildete, eben nicht als Kind zur Frührentnerin zu werden? Sie geben sich lieber ihren romantischen Handwerksexperimenten hin und erzählten irgendwas davon, dass Alex und ich die Zeit, die uns ihre Generation geschenkt habe, nicht zu schätzen wissen. Dass wir lieber an der Oberfläche von allem kratzten, anstatt uns tiefer gehend mit den Dingen zu beschäftigen. Was das jetzt wieder mit der Nutzung von Zeit zu tun hat, frage ich mich, aber gut.

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viele Zuziehende unterschiedlicher Herkünfte in ihrem Quartier anzusiedeln. In einer Art Lotterie konnten Menschen aus aller Welt sich dafür bewerben, für sich und ihre Nachfahren bis in das Jahr 2100 ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine Wohnung in Orcasur zu erhalten. Die Eltern von Abiramy, Mike aus Atlanta und Shruti aus Kalkutta, gehörten damals zu den Gewinner*innen. Sie lernten sich in Orcasur kennen, wo dann auch 2037 ihre Tochter zur Welt kam. Sie stammt dementsprechend aus der zweiten Generation an Bewohner*innen der Post-Arbeit-Siedlung – die neben einem klassischen Schulabschluss auch gewissermaßen für das Nichts-Tun ausgebildet wurden. Abiramy Miller lebte in Madrid, Bangalore, New York und Kapstadt. Von diesen Orten aus zog es sie bis in die entlegensten Winkel der Erde, von wo aus sie sich, nach einem Studium der Soziologie, Kunstgeschichte und Volkswirtschaft, mit den Produktionsbedingungen von Kunst und Architektur beschäftigte.

25. April 2080 Die Zeiten haben sich geändert, der »Fablabismus« ist am Ende. Ihre Sehnsucht nach dem Handwerk, ihre Schwärmereien für das Ornament, ihr endloses Flanieren, Spazieren und Teetrinken. Frührente für alle wollten sie damals, um sich darin verlieren zu können, Dinge zu basteln, handgemahlenen Cappuccino zu trinken und auf selbstgebauten Stühlen zu sitzen, die sie in monatelanger Arbeit ornamentiert hatten. Dass sie dabei eben Techniken aus der prämodernen Zeit übernehmen, die genauso eine Arbeitsgesellschaft war, und damit dieselbe Logik auf ihre Produkte anwenden, konnte ich mit meiner Veröffentlichung zeigen. All die Jahren der Studien im Kölner Dom, in den alten Archiven von Ford und denen von Google waren es wert. Doch wohin jetzt? Eine radikal andere Kunst und Architektur, ein radikal anderes Design für die Post-Arbeit-Gesellschaft denken? Das alte utopische Experiment also weiterführen? Oder auf den Erkenntnissen zu Mensch und Arbeit neue Utopien denken, die andere Fragen formulieren?

Orcasuriana – ein Fazit Die beiden Ausschnitte aus den Tagebüchern weisen eine Reihe enger Bezugnahmen zwischen der zweiten und der ersten Generation der Bewohner*innen auf. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die zweite Generation geradezu ein Teil der ersten ist, indem sie sich gegen diese und ihr Verständnis von Alltag wendet. Während die erste extrem progressiv in der Veränderung der Lebensbedingungen war – sie suchte die Utopie, die Welt ohne Arbeit etc. –, blieb ihr Alltag doch in den klassischen Lebensmodellen des (Post-)Fordismus verhaftet: der geregelte Alltag, die Paarbeziehung mit Kindern, die tägliche Tätigkeit, das Leben an einem Ort, die Spezialisierung auf eine Disziplin, gleichzeitig die Ruhe und Langsamkeit. Etwas, das Miller später zurecht als eine Art Frührente bezeichnet und sich gegen dieses wendet. Sie ist eine Rebellin – wendet sie sich doch gegen die Erfahrung dieser Frührente, versucht zu entlarven, übt Kritik, reist, wohnt auf verschiedenen Kontinenten, lebt alleine oder in Wohngemeinschaften. Gleichzeitig bildet die umgesetzte Utopie der Post-Arbeit-Gesellschaft die materielle Grundlage für ihre kritischen Texte und ihr Anschreiben gegen diese als veraltet und verschlafen wahrgenommene Lebensweise der ersten Generation. Alltag heißt für sie woanders, auf Achse, mit anderen Menschen zusammen zu sein und das Neue zu suchen – um hinter die Oberfläche der glatten Post-Arbeit-Siedlung und deren Bewoh-

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25. Juli 2077 Wenn ich mich nicht mal langsam beeile, beziehunsgweise überhaupt in die Gänge komme und etwas veröffentliche, geht’s mir an den Kragen und ich verliere mein Stipendium. Ein Jahr sei nun wirklich genug, um sich mit den Ornamenten zu beschäftigen, eine Verlängerung wird’s nicht geben. Die Uhren ticken eben anders außerhalb von Orcasur. Vorschnell veröffentlichen oder die Wohnung in Orcasur versuchen, mit einer wesentlich höheren Zwischenmiete an den Mann zu bringen? Ansonsten wird das Geld knapp mit dem Grundeinkommen allein.

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sie es freiwillig getan? Was unterscheidet die Arbeiten des »Fablabismus«, bei denen gelegentlich kleine Formen, Geometrien, Spielereien in gefräste Möbel von Hand geschnitzt werden, von den ihren? Inwiefern kann man sich überhaupt diesen Tätigkeiten hingeben, wenn sie einst unter ganz anderen Bedingungen voller Gewalt, aber auch spiritueller Suche entstanden sind?

Anmerkungen 1 https://arthist.net/archive/18234 (letzter Zugriff: 3 Vgl. Christoph Keese: Silicon Valley: Was aus dem 08.03.2021). mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt. Mün2 Vgl. Carl B. Frey / Michael A. Osborne: »The chen 2014. Future of Employment: How susceptible are 4 Vgl. Nick Srnicek / Alex Williams: Inventing the Jobs to Computerisation?«. Unter: https://www. Future: Postcapitalism and a World Without Work. oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/ London 2015. The_Future_of_Employment.pdf (letzter Zugriff: 5 Simon Sadler im persönlichen Interview am 09.04.2019). 27.04.2018.

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, ich freue mich auf die anschließende Diskussion!

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ner*innen zu blicken, unter denen sie aufgewachsen ist. Eine grundlegende Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Menschen und Arbeit ist ihr Anliegen. Das formt ihren Alltag, während gleichzeitig doch das Grundeinkommen und der daraus entstehende Städtebau die essenzielle Basis dafür bilden – und sie gerade daher eine typische »Orcasuriana« ist. Es ist die Post-Arbeit-Siedlung, die ihr eine Wohnung garantiert, die sie vermieten kann, um davon ausgehend an anderen Orten zu leben. Es ist die Erfahrung des Lebens in Orcasur, in jedem Stadtteil aus vielen Städten mit unterschiedlichsten Nutzungen für jeden Gedanken, die es möglich macht, dass sie in ihrer Studienwahl so viele verschiedene Disziplinen kombiniert. Es ist die Erfahrung der Begegnung im städtischen Raum beim Flanieren mit jemandem wie Eduardo Garcia, der die Post-ArbeitGesellschaft in einer spezifischen – von ihr als romantisch kritisierten – Form in künstlerische Arbeiten umsetzt. Es sind die Möglichkeiten des Nomadentums, die ihr gegeben sind und die sie nutzt, um Wissen anzueignen, das ihre Vorgängergeneration nicht hatte. Die Tagebücher Abiramy Millers zeigen eine neue Seite von Utopien. Wenn sie umgesetzt werden – und wenn auch nur im kleinen Rahmen –, produzieren sie eine Alltäglichkeit, die nicht einfach innerhalb der Sphäre der Utopie stehen bleibt. Stattdessen enthalten sie ihre Kritik als essenziellen Teil, die nur darauf wartet, freigelegt zu werden und in einen Prozess der Umgestaltung überzugehen. Daher möchte ich Sie, liebe Zuhörer*innen, dazu einladen, Kritik zu üben, andere Utopien und Experimente zu wagen, neue Fragen zu stellen und sich Angriffen auf ihre Werke auszusetzen.

In seinem ursprünglichen Ansatz verkörperte das Internet eine utopische Vision. Es sollte ein Spielplatz sein, eine offene Gesellschaft, ein kybernetisches Ideal; demokratisch aufgebaut und allen zugänglich.2 In den letzten Jahrzehnten haben wir gesehen, wie sich die Verheißung dieser Utopie verflüchtigt hat, da das Internet von einer Handvoll digitaler Unternehmen geprägt wird, deren Plattformen die Grenze zwischen kommerzieller Dienstleistung und Social Design verwischen. Das Schema der heutigen digitalen Plattformen wie die der »Großen Vier« – Amazon, Apple, Google und Facebook – hat die Logik der digitalen Netzwerke durch das zentralisierte Design und die Koordinierung der soziotechnologischen Produktion operationalisiert. Gleichzeitig hat die Monopolisierung ihrer Macht über die vernetzte Welt die ideologisch gefärbte Erzählung vom Netzwerk als virtuellem Raum freier und gleichberechtigter Mitsprache erschüttert und das Web als politisches Medium enttarnt, in dem Fragen von Identität, Raum, Staatsgewalt und Bürgerbeteiligung heiß umstritten sind. Obwohl klar geworden ist (insbesondere seit Beginn der COVID-19-Pandemie), dass das Internet ein unverzichtbares Hilfsmittel darstellt, stehen die Internetnutzer*innen routinemäßig vor der Entscheidung, ob sie extraktive, unsichere Plattformen nutzen oder sich aus dem Alltag ausgeschlossen sehen wollen.3 Jüngste Debatten um die weitreichenden und in die Privatsphäre eingreifenden Einstellungen von Zoom haben diese Auseinandersetzung ebenfalls verdeutlicht: Obwohl sie den Überwachungspraktiken der Plattform sehr ablehnend gegenüberstehen, sind Pädagog*innen und Organisationen auf die Nutzung der Plattform angewiesen, da es nur wenige weitverbreitete Alternativen gibt. Die staatliche Regulierung dieser Monopole, wenn sie denn als solche erkannt werden, erfolgt schleppend und ist kompliziert, wie das öffentliche Medienspektakel des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg bei der Anhörung vor dem US-Kongress 2018 gezeigt hat. Eine Ausnahme könnte die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union darstellen. Darüber hinaus zensieren mehrere Länder den Internetzugang ihrer Bürger*innen direkt: Am bekanntesten ist, dass Google seit 2010 in China nicht mehr aktiv ist, weil das Unternehmen nicht bereit ist, Informationen zu zensieren, die die Regierung in ein schlechtes Licht rücken (obwohl Google seitdem heimlich versucht hat, wieder in diesen Markt einzutreten);4 während Russland, Indien, Ägypten, Großbritannien und die EU Gesetze verabschiedet haben, die das Netz innerhalb ihrer Grenzen einschränken.5 Ein wesentlicher Faktor, der den Übergang zu dieser staatlich und unternehmerisch kontrollierten Internetlandschaft ermöglicht, ist die anhaltende Zentralisierung, insbesondere seit der Ära des Web 2.0. Wo früher der Datenverkehr im Internet über eine Vielzahl von Routen verlaufen konnte, fließt er heute viel eher zu Servern, die von Google, Facebook oder Amazon (respektive Baidu und Tencent in China) kontrolliert werden, und über einzelne, riesige Knotenpunkte an den Landesgrenzen, was ihn anfällig für Eingriffe staatlicher Akteur*innen macht. Der Technologe Francis Tseng unterscheidet zwischen politischer und infrastruktureller Zentralisierung: Ersteres sind die

Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets

Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets1

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Agnes Cameron, Gary Zhexi Zhang, Kalli Retzepi, Sam Ghantous

Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets

Protokoll und das dezentralisierte Web Heute bezieht sich der Begriff des dezentralisierten Web (dweb) auf eine lose Sammlung von Web-Technologien, die eine Peer-to-Peer-Version des World Wide Web und verwandter Netzwerktechnologien aufbauen wollen. Die gegenwärtige Welle des Dezentralisierungsdiskurses in den 2010er-Jahren entstand in erster Linie nach der

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undemokratischen und intransparenten politischen Systeme, die zu diesen Missbräuchen des Internets führen; Letzteres bezieht sich auf die Infrastruktur (große ISPs, zentralisierte Server), die diese Aktivitäten überhaupt erst ermöglichen.6 Dementsprechend ist in den letzten Jahren ein wiederbelebter Diskurs um Dezentralisierung zum Schlüsselparadigma geworden, durch das eine andere Zukunft für das Internet ins Auge gefasst wird. Passenderweise ist die Dezentralisierungsbewegung bestenfalls lose und umfasst Menschen mit unzähligen konkurrierenden Motivationen, von Hyper-Libertären bis hin zu Sozialist*innen, Geschäftsleuten und Umweltaktivist*innen, von denen jede*r eine eigene soziotechnische Vision hat. Der Medienwissenschaftler Nathan Schneider bemerkte kürzlich, dass der Begriff Dezentralisierung immer häufiger verwendet wird, dabei aber äußerst unklar bleibt, was darauf hindeutet, dass dieser »Mangel an Klarheit […] funktional ist, da er es Menschen unterschiedlicher ideologischer Überzeugungen ermöglicht, sich als Teil eines gemeinsamen Projekts zu verstehen.«7 In der Tat verleiht die Mehrdeutigkeit des Begriffs Dezentralisierung eine eigentümliche Macht und vermittelt ein Gefühl von Freiheit und Handlungsfähigkeit – geht sie doch im soziopolitischen Diskurs stets einher mit der Forderung nach Gleichheit durch eine Umverteilung von Macht, Ressourcen und Kontrolle »von oben« zum Volk »nach unten«. Umgekehrt, gleichsam ex negativo definiert, evoziert die Dezentralisierung das Bild einer Ordnung, bestehend aus der Ansammlung von Einzelteilen, die (wenn auch ungleichmäßig) miteinander verbunden sind, um das Gesamtsystem zu bilden.  Natürlich waren das Internet und das Web von Anfang an auf Dezentralisierung ausgerichtet. Wie Tim Berners-Lee über seine Auffassung des World Wide Web schrieb, »musste es vollständig dezentralisiert werden […,] das war die einzige Möglichkeit, wie eine neue Person damit beginnen konnte, es zu benutzen, ohne eine andere Person um Zugang zu bitten.«8 Darüber hinaus konnte die Dezentralisierung von Netzwerkinfrastrukturen (wie Internet Protocol, TCP / IP) mathematisch nachgewiesen werden, insofern als alle Knoten innerhalb des Betriebs des Systems gleich behandelt werden – unabhängig davon, wie das System im gesellschaftlichen Kontext tatsächlich genutzt wird. Darüber hinaus eliminiert die technische Dezentralisierung digitaler Netzwerke, wie Alexander Galloway argumentiert hat, nicht so sehr die Kontrolle, sondern verteilt sie in per se nie neutrale Protokolle, was zu »den am stärksten kontrollierten Massenmedien führt, die bisher bekannt sind.«9 Weit davon entfernt, Autorität zu eliminieren, totalisieren und harmonisieren dezentralisierte Protokolle die Kontrollstrukturen im gesamten System. Protokolle in diesem Sinne müssen sowohl als technologisches als auch als gesellschaftspolitisches Werkzeug verstanden werden, als ein gemeinsames Regelwerk, das es einem System erlaubt, ohne ein Zentrum zu operieren. Das Scheitern des Web 1.0 sollte uns jedoch davon überzeugen, dass das Protokoll allein nicht ausreicht, um die »guten Absichten«, mit denen ein System entworfen wird, aufrechtzuerhalten. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf eine peer-to-peer-kollaborative Produktion als zentrales Thema in der Dezentralisierungsbewegung und vertreten die These, dass ein breiteres gesellschaftliches Verständnis von Protokoll für die Vorstellungskraft neuer Netzwerke unerlässlich ist.

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Popularisierung von Blockchain, dem kryptografischen Peer-to-Peer-Austauschsystem hinter Bitcoin, das 2009 von Satoshi Nakamoto unter Pseudonym veröffentlicht wurde.10 Für die Befürworter*innen digitaler Bürgerrechte stellte Bitcoin die Verwirklichung eines lang gehegten Wunsches nach einem dezentralisierten Austauschsystem dar, das sichere und anonyme wirtschaftliche Transaktionen über Computernetzwerke ermöglichen würde, die außerhalb der Zuständigkeit der Nationalstaaten liegen oder von zentralisierten Institutionen wie Banken vermittelt werden. Im ursprünglichen Bitcoin-Paper formulierte Nakamoto: »Was wir brauchen, ist ein elektronisches Zahlungssystem, das auf kryptografischen Beweisen statt auf Vertrauen basiert und es zwei beliebigen Parteien ermöglicht, direkt miteinander zu handeln, ohne dass eine vertrauenswürdige dritte Partei erforderlich ist.«11 Während die Wirksamkeit von Bitcoin als elektronisches Geldsystem noch weitgehend unerprobt und durch den Hype stark getrübt ist, weckte das Aufkommen von Blockchain als Medium des dezentralen Peer-to-Peer-Informationsaustauschs ein erhebliches Interesse an dezentralen Netzwerken als Mittel zur Schaffung dezentraler sozialer Infrastrukturen. Im Mittelpunkt des Reizes von Blockchain stand der Anspruch, Vertrauen durch kryptografische Mathematik zu ersetzen. In der Rhetorik ihrer technoökonomischen Vorstellung wird Vertrauen von legalen Institutionen disintermediiert und dezentralisiert durch das Protokoll selbst konstruiert, erzwungen durch kryptografische Algorithmen, die unzuverlässiges Verhalten rechnerisch unmöglich machen. Zwar gibt es offensichtliche Überschneidungen innerhalb ihrer sozialen und infrastrukturellen Ambitionen, doch im Gegensatz zu den Kryptowährungen sind die dweb-Technologien nicht nur wirtschaftlicher oder rechtlicher Art. Sie konzentrieren sich im Hinblick auf das riesige Netz von Informationen und Diensten, das wir als Web bezeichnen, im weiteren Sinne auf Fragen des Zugangs, der Kommunikation und der Archivierung. Im August 2015 rief Brewster Kahle, ein einflussreicher Technologe aus der Bay Area und Gründer des Internet-Archivs12, unter dem Titel »Locking the Web Open«13 zu einem dezentralisierten Web auf. Unter Bezugnahme auf die Vorstellung »code is law« des Rechtswissenschaftlers Lawrence Lessig schrieb Kahle: »Die Art und Weise, wie wir das Web kodieren, wird die Art und Weise bestimmen, wie wir online leben. Deshalb müssen wir unsere Werte in unseren Code einbetten. Das Recht auf freie Meinungsäußerung muss in unseren Code eingebettet werden. Die Privatsphäre sollte in unseren Code eingebettet werden. Allgemeiner Zugang zu allem Wissen. Aber im Moment sind diese Werte nicht im Web verankert.«14 Im darauffolgenden Jahr organisierte das Internet-Archiv den ersten »Dezentralisierten Web-Gipfel«, der eine Reihe der ursprünglichen Erfinder*innen und Pionier*innen des Web15 mit Technologen, Forscher*innen und Interessenvertretungen zusammenbrachte, um eine Bewegung unter Kahles »kühnem Ziel« anzustoßen, das Web »offen zu sperren«, »Offenheit unabänderlich zu machen« und »die Redefreiheit in den Code selbst zu integrieren, zum Nutzen aller«.16 Kahles technoutopischer Schlachtruf erfolgte im Rahmen jenes Gipfels, der als erste große Zusammenkunft einer Gemeinschaft betrachtet werden kann, die sich um die Idee des dweb als ein soziales und technologisches Projekt versammelte, legitimiert durch das Internet-Archiv, eine der wenigen angesehenen und seit Langem bestehenden öffentlichen Institutionen des Internets. Während eine Reihe anderer Strömungen in der dweb-Erzählung fehlen, beruft sich der Diskurs bereitwillig auf den Begriff Code als Hüter und Garant von Rechten innerhalb der Onlinewelt und nimmt die Aufgabe auf sich, diese codebasierte Struktur als Grundlage eines utopischen sozialen Projekts aufzubauen.

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Peer-to-Peer (P2P) Wie populistische politische Plattformen versprechen auch dweb-Projekte oft, die Kontrolle über digitale Informationen wieder an das Volk zurückzugeben und ein P2P-Web aufzubauen, womit sie einen Appell an Menschen aussenden, die ihre anspruchsvolle Politik verwirklichen sollen. Diese Projekte könnten als ein Versuch gesehen werden, das Web zu »entnaturalisieren«, es als umstrittene soziale Infrastruktur zu destabilisieren und zu re-politisieren, indem seine Protokolle auf ein stärker gemeinschaftsorientiertes Netzwerk umgestellt werden. Während sich P2P auf bestimmte Netzwerkprotokolle und -technologien beziehen kann, kann es allgemeiner zur Charakterisierung einer verteilten Produktionsweise verwendet werden, bei der Peers (Individuen innerhalb eines Systems) zu einer gemeinsamen Nutzung beitragen. Wikipedia verwendet beispielsweise eine weitgehend »zentralisierte« Serverstruktur, wird jedoch allgemein als ein P2P-System betrachtet: Die Verwaltung von Wikipedia ist kollektiv, und die Arbeit einzelner Peers trägt zu einem gemeinsamen Wohl bei. Sie ist politisch und nicht infrastrukturell dezentralisiert. In der jüngeren Geschichte des Internets sind die bekanntesten P2P-Systeme Filesharing-Protokolle wie Napster und BitTorrent, die Anfang der 1990er-Jahre erschienen und wegen ihrer Urheberrechtsverletzungen berüchtigt wurden. Diese Sites verwendeten einen neuartigen Algorithmus, der es den Benutzer*innen ermöglichte, Inhalte zu »säen« (seed), das heißt, eine Datei in kleinen Stücken herunterzuladen und diese kleinen Stücke dann anderen im Netzwerk zur Verfügung zu stellen.17 Da nie die gesamte Datei auf einmal über das Netzwerk gesendet und nicht nur an einem Ort gespeichert wird, ist ein solches System extrem robust gegenüber Serverausfällen und der Durchsetzung von Urheberrechten. Als eine Kombination aus 90er-Jahre-Computer-Nostalgie und Open-Source-Zukunft stellt P2P eine Vorstellung vom Rechnen als informell, gemeinschaftlich und zugänglich dar, wobei Offenheit und faire Nutzung im Vordergrund stehen. In der Umgangssprache von BitTorrent bilden Seeders und Peers, die sich einen Torrent teilen, einen »Schwarm«, was auf die kontingente, kollektive, von »unten nach oben« organisierte Funktion des Systems anspielt. In jüngster Zeit werden die P2P-Metaphern erweitert, um über lokales und kollektives Rechnen (buchstäblich: Rechnen mit Gleichrangigen) nachzudenken – als eine Möglichkeit, sich eine andere, mehr auf den Menschen ausgerichtete Form des Rechnens vorzustellen. Ohne Peers hört das Netzwerk auf zu existieren. Heutige P2P-Projekte wie Dat18, IPFS19 und andere »inhaltsadressierbare« Netzwerke entfernen theoretisch einen Großteil der Infrastruktur, die heutige Webnutzer*innen davon abhalten, sich direkt an der Gestaltung von Netzwerken zu beteiligen. In diesen Fällen verwischt das P2P-Protokoll die Grenze zwischen Form und Funktion und definiert sowohl den digitalen Raum selbst als auch die Mittel, mit denen er (re-) produziert wird. Das IPFS beispielsweise beschreibt dieses System als ein System des »Besitzes und der Teilhabe« im Gegensatz zum Modell des World Wide Web, das auf »Besitz und Zugang«20 setzt – eine Verschiebung von der Sprache der Privatisierung hin zu der einer gemeinschaftsorientierten und kollektiv konstituierten räumlichen Anordnung. Auf Dat hingegen wird auf Inhalte über den Beaker-Browser zugegriffen. Das ist ein maßgeschneiderter P2P-Browser, der Seiten nicht über eine Serveradresse (wie bei HTTP) findet, sondern über eine verkettete Version der darin enthaltenen Informationen. Der Beaker-Browser ermöglicht es den Benutzer*innen, ihre eigenen und fremde Inhalte »auszusäen« und den Server durch eine einzige Anwendung zu ersetzen, die das Netzwerk sowohl erkundet als auch wartet.

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Das Internet und städtische Infrastruktur Schon in den frühen Zeiten der vernetzten Datenverarbeitung gab es eine Reihe von utopischen Visionen, wie sich diese Technologie in städtische Räume integrieren könnte. Projekte wie SEEK der MIT Architecture Machine Group – das eine rechnergestützte, neu konfigurierbare städtische Umgebung mit einem Schwarm von Wüstenrennmäusen und einem Roboterarm vorführte – versuchten, eine Vision für eine technologische Stadt zu entwerfen, die automatisch auf die Bedürfnisse ihrer Bewohner*innen reagierte, während ihre Funktionsweise vollständig verborgen blieb.21 Letztendlich erwies sich das Projekt zwar bei den Wüstenrennmäusen als nicht sehr beliebt, doch das in einer Blackbox verpackte und idealisierte Bild der technologischen Stadt blieb bestehen. Mit der zunehmenden Verbreitung privatisierter, vernetzter Infrastruktur in den Städten haben die Einwohner*innen nicht nur mit den Folgen fehlgeleiteter utopischer Visionen zu kämpfen, sondern auch mit der Gefahr der Überwachung und Datenerfassung durch große Unternehmen. Insbesondere Google »hat derzeit die Möglichkeit, ein Informationsrecht auf die Stadt zu kuratieren [… und] die Möglichkeit, zu entscheiden, wie eine Stadt auf Informationen reduziert wird, und die Art und Weise zu kontrollieren, wie diese in Wissen umgesetzt werden.«22 Das aktuelle Projekt »Sidewalk Labs« von Alphabet (der Muttergesellschaft von Google) verkörpert diese Idee voll und ganz, indem es behauptet, »Städte ›vom Internet aufwärts‹ neu zu erfinden«23. Kritiker*innen des Vorzeigeprojekts »Sidewalk Toronto« haben die mangelnde Transparenz des Projekts und seine Pläne, riesige Mengen privater Daten zu sammeln, um »ein Ökosystem zu ermöglichen, in dem städtische Innovationen gedeihen können«24, mehrfach infrage gestellt. Gegenwärtig plant diese öffentlich-private Partnerschaft, persönliche Daten sowohl von ihren Bewohner*innen als auch von den Mobiltelefonen aller anderen Personen zu sammeln, die den öffentlichen und privaten Raum durchqueren. Darüber hinaus bleibt der Entscheidungsprozess rund um das Projekt trotz eines angeblich »offenen« Partizipationsprozesses intransparent. In »Post-It Note City« prägt die städtische Medienwissenschaftlerin Shannon Mattern den Begriff »mapwashing« für diese Form der vermittelten Beteiligung und fordert die Leser*innen auf, »genau darauf zu achten, wie die Ethik der Beteiligung operationalisiert wird«.25 Für P2P-Projekte, die auf städtische Räume angelegt sind, ist die Rückgewinnung von digitalem Raum gleichbedeutend mit Handlungsfähigkeit gegenüber dem Physischen. Die Betonung der Ortsbezogenheit innerhalb der P2P-Bewegung steht in direktem Kontrast zum »ortlosen« Globalismus des ursprünglichen Web-Gedankens als Mittel zur Nutzung der bereits starken Bindungen innerhalb einer Gemeinschaft, um ein System aufrechtzuerhalten. Mesh-Netzwerkprojekte wie das Detroit Community Technology Project26, Barcelonas Guifi27 und der deutsche Freifunk28 sind dweb-Projekte, die sich ganz auf diese Ortsbezogenheit stützen. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Modell des Internets über Kabel, bei dem mehrere Haushalte an einen zentralen Knotenpunkt angeschlossen sind, der dann eine Verbindung zu einem größeren Netzwerk herstellt, verwenden Mesh-Netzwerke eine drahtlose Kommunikation zwischen einer »Masche« von Zugangspunkten, wobei die Informationen über eine beliebige Anzahl verschiedener Routen zu ihrem Ziel gelangen. Sie bieten ein Guerillamittel zur Bekämpfung des »digitalen Redlining«, bei dem Randgruppen vom Zugang zu Informationstechnologien abgeschnitten werden.29 Während Mesh-Netzwerke immer noch auf einen Internet Service Provider angewiesen sind, um sich mit dem »breiteren Internet« zu verbinden, ist es möglich, mit dezentralisierten Punkt-zu-Punkt-Netzwerken vollständig lokale Konnektivität zu verwalten. Die Einrichtung und Aufrechterhaltung

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Das Web im Eigenbau Die utopische Vision von P2P hat viel mit der Bauhaus-Philosophie gemeinsam: die Betonung des Kollektiven und die Auseinandersetzung mit dem materiellen Aspekt des Mediums als Voraussetzung für eine gerechte Beziehung zu ihm. Eine auf Nachhaltigkeit orientierte Technikzeitschrift, das Low-Tech Magazine, betreibt seine Website auf einem solarbetriebenen Server, der bei bedecktem Himmel gelegentlich offline geht. In ähnlicher Weise erwähnt die Webdesignerin und Pädagogin Laurel Schwulst auf P2Pforever.org, einer Website, die P2P-Projekte katalogisiert, nicht nur die Zeit, sondern auch den Ort jeder Aktualisierung und erinnert die Nutzer*innen daran, dass ihre Website kein fertiges Produkt ist, sondern sich »immer im Aufbau« befindet, immer in Abhängigkeit von den bruchstückhaften und persönlichen Anstrengungen eines Individuums in der Welt.35 Die Subkultur des dezentralisierten Netzes gleicht einer »Zurück zum LAN«-Bewegung,36 einer aufkommenden Cyberkultur, die die neuen Netzwerktechnologien bisweilen paradoxerweise als einen Weg sieht, die dominierenden Narrative der Hochtechnologie zu umgehen, und dabei Ideale des Lokalismus, des Kommunalismus und einer auf Selbstgenügsamkeit basierenden utopischen Heimwerkerethik aufgreift. Gegen die »abgeflachte« Universalität und die stets vernetzte Lebenswelt, die von digitalen Plattformen vorgegeben wird, erscheinen die Bildung von Diaspora und Lokalitäten als ra-

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dieser Netze erfordert ein hohes Maß an Beteiligung der Kommunen: Im Falle Detroit wurde beim Netzausbau mit lokalen Kirchen zusammengearbeitet, da die Höhe der Kirchtürme es dem Projekt erlaubte, neue Stadtteile anzuschließen. Gleichzeitig ermöglichen Open-Source-Projekte zur Kartenerstellung wie Open Street Map den Bürger*innen, ihre Beziehung zur eigenen Umgebung zu artikulieren: Im Gegensatz zum kuratierten Top-down-Ansatz von Google Maps ist die Plattform vollständig kommunal geführt und demokratisch verwaltet. Open Street Map ist jedoch nicht ohne einige Widersprüche: Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auf der Plattform ist krass. Schätzungsweise sind lediglich 3 bis 4 Prozent der Mitwirkenden Frauen.30 Ihr jüngst gewählter »Verwaltungsrat« besteht ausschließlich aus »weißen Männern aus Europa und Nordamerika«,31 was die Frage aufwirft: Wessen Welt schafft es nicht auf die Landkarte? Erin McElroy vom in San Francisco ansässigen Anti-Eviction Mapping Project erinnert uns daran, dass, wie jede andere technologische Intervention auch, »Community Mapping wirklich nur ein Werkzeug ist, das dazu beitragen kann, eine Reihe von Zukünften zu schaffen, je nachdem, wer es entwirft und benutzt.«32 In ihrem Aufsatz »An Informational Right to the City« – eine Antwort auf Lefebvres Originaltext nach einem halben Jahrhundert – argumentieren Shaw und Graham, dass »die räumlichen Konsequenzen die zunehmende Quantifizierung menschlicher sozialer Phänomene widerspiegeln werden«33; dass also die Informationsasymmetrien, die wir heute mit den vom Internet ausgegrenzten Gemeinschaften sehen, sich als Ungleichheiten im physischen Raum vertiefen werden. Sie behaupten auch, dass der Gedanke des ursprünglichen Internets ein Œuvre verkörperte – eine Auseinandersetzung mit der Technologie als »Werk der Freude« ebenso wie als Konsequenz der Notwendigkeit. Es ist dieser Gedanke, so argumentieren sie, der bei der Rückeroberung einer Zukunft für das Internet (von der »elektronischen Plackerei«, in der wir uns gegenwärtig befinden) wieder eingefangen werden müsse.34 Zwar müssten – wie in Gropius’ Manifest – nicht alle zu Handwerker*innen werden, doch müsse die neue Zunft der Handwerker*innen aus einer Vielzahl von Akteur*innen gebildet werden.

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Kritik an der Dezentralisierung So radikal und potenziell demokratisierend diese neue Auseinandersetzung mit dem Internet auch sein mag, reichen diese Visionen aus, um einen materiellen und politischen Wandel herbeizuführen? Während das P2P-Web notwendigerweise versucht, außerhalb der totalisierenden globalen Perspektive des gegenwärtigen Internets zu agieren, lohnt es sich zu hinterfragen, ob es nicht einfach die gleiche Machtdynamik reproduziert, die es zu untergraben versucht. Im Mittelpunkt der politischen Kritik an dezentralen Netzwerken steht ihre Tendenz zur Entflechtung und Entfremdung von den Materialitäten der technologischen und sozialen Produktion. Ulises Ali Mejias kritisiert die P2P-Bewegung als inhärent heterotopisch, ein Wort, das von Foucault geprägt wurde, um einen Bereich der »außergewöhnlichen Bedingungen eines umgebenden Systems […], das zugleich Alternative

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dikale Möglichkeiten, ebenso wie Offline-Formen der Vernetzung, wie Klatsch, Folklore und mündliche Überlieferungen. Das populäre soziale Netzwerk Secure Scuttlebutt37 verwendet beispielsweise ein P2P-«Klatschprotokoll«, das einen Local-First-Ansatz betont: Solange ein*e Benutzer*in eine lokale Verbindung mit einem anderen Peer herstellen kann, muss er oder sie nicht mit dem globalen Netzwerk verbunden sein, um auf dem Laufenden zu bleiben. In gartenbaulicher Metaphorik stellt Scuttlebutt über seinen Moderationsprozess fest: »Pflegen und Beschneiden sind keine fremde Pflicht […]. Infrastruktur ist ein freiwilliger Akt.«38 Die kommunalistische Rhetorik der dweb-Subkultur bedient sich des Begriffs der Ökologie in seiner wissenschaftliche Bedeutung im Sinne von organischen (Techno-)Umweltsystemen ebenso wie seiner etymologischen Wurzeln der Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft (oikos: Familie, Heim, Haus).39 Für viele bietet das dweb die Möglichkeit, neue Formen von Häuslichkeit, Lokalität und pädagogischen Praktiken in sanfteren Archipelen zu kultivieren, weit entfernt von den vorrückenden Imperien des Plattformkapitalismus. Die P2P-Technologien, die diese alternativen Praxisbereiche ermöglichen, sind letztlich eine – wenn auch stark affirmative – Projektion von Verwandtschaften, die auf bestehenden sozialen und technologischen Begehrlichkeiten aufbauen. Was bedeutet es, das Netzwerk als ein Medium zu betrachten? In ihrem Aufsatz »My Website Is a Shifting House Next to a River of Knowledge. What Could Yours Be?« betrachtet Laurel Schwulst eine Fülle von Metaphern dafür, was eine Website sein könnte, darunter ein Raum, ein Garten oder eine Pfütze. Ihre Metaphern beschwören Websites als »lebendige, zeitliche Räume«40 herauf, auf die sich ihre Macher*innen und Besucher*innen auf der Ebene des praktischen, sozialen, emotionalen Lebens beziehen: das heißt, sie sind zugleich Gebrauchsgegenstände und ein Ort der alltäglichen Praxis, sowohl im Text als auch im Kontext. Genauso wie P2P-Infrastrukturen, etwa Dat und IPFS, für ein Web plädieren, das eher einem gemeinsam genutzten Dateisystem als einem Redaktionssystem gleicht und damit die Vorstellung davon erweitert, was ein Netzwerk digitaler Objekte sein könnte, propagiert Schwulst, dass die Website nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Architektur ein Ort der inneren Einkehr und des äußeren Ausdrucks ist: »Wenn man Energie in eine Website steckt, dann hilft die Website wiederum, die eigene Identität zu bilden.«41 Während das Web zunehmend kommerzialisiert wird, wobei selbst persönliche Websites typischerweise professionellen Zwecken dienen, erinnert uns Schwulst daran, dass »eine überraschende, denkwürdige, monumentale, beruhigende, schockierende, unvorhersehbare, radikal langweilige, bizarre, umwerfende, sehr ruhige und subtile und / oder erstaunliche Website funktionieren könnte.«42

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P2P-Ideologie: Keine infrastrukturelle Dezentralisierung ohne politischen Wandel So wie das zeitgenössische Bauhaus über die Notwendigkeit eines dekolonialen Denkens über die Universalisierung des Designs nachdenkt,51 so ist es auch wichtig, dass die P2P-Bewegung ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und Besinnung bewahrt. In einem kürzlich gehaltenen Vortrag wies die Künstlerin Mimi Onuoha darauf hin, dass das Web für viele Menschen niemals zuvor in dem Maße zugänglich war, dass eine Zentralisierung derart totalisierend erscheinen könnte. Als Beispiel nannte sie die Stadt Detroit, wo 40 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet haben. In diesem Zusammenhang stellen Projekte wie die Equitable Internet Initiative – ein bürgerschaftlich betriebenes Mesh-Networking-Projekt in Detroit, bei dem die Einheimischen für die Wartung des Systems bezahlt werden – eine vielversprechende Alternative zum gegenwärtigen Zustand des Internets dar. Insbesondere das Detroit Community Tech-

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und Bestätigung der Unmöglichkeit von Alternativen ist«43, zu bezeichnen. Wie radikal sie auch immer erscheinen mögen, so argumentiert er, P2P-Systeme werden letztlich auf der Bandbreite betrieben, die von ISPs gekauft wird, auf Hardware, die unter ausbeuterischen Bedingungen in China aus Konfliktmineralen hergestellt wird, die mit Sklavenarbeit in der DR Kongo abgebaut wurden.44 Matteo Pasquinelli verallgemeinert unterdessen diese Kritik an netzwerkzentrierten Bewegungen als eine »entfremdete Politik, ohne Anerkennung der Offline-Arbeit, die das Online aufrechterhält«45. Der Entwickler von Scuttlebutt, Zach Mandeville, spricht diesen Widerspruch in seinem Dat-Aufsatz »A Praise Chorus« an und begreift ihn nicht als Anlass zur Gleichgültigkeit, sondern als Verantwortung zur Sorgfalt gegenüber bestehenden Technologien und als Gebot, sich bewusst an ihnen zu beteiligen: »Wir können uns der Gräueltaten bewusst sein, die im Dienst unserer Computer begangen werden […]. Aber wir können uns auch bewusst sein, dass dieser Computer existiert […,] es liegt in Ihrer Verantwortung, respektvoll mit diesem Computer umzugehen.«46 Inmitten einer Flut von soziotechnischen Diagrammen entstehen dweb-Projekte nicht nur aus unterschiedlichen Gemeinschaften, sondern stellen sich auf Schritt und Tritt neue vor. Das heißt, dass jedes White Paper47, das von einem dweb-Projekt oder einem Blockchain-Start-up produziert wird, ein neues und idealeres Protokoll für einen bestimmten sozialen Bereich voraussetzt. Zum Beispiel ist Mastodon ein dezentralisiertes soziales Netzwerk, das viele der gleichen Funktionen wie Twitter bietet, aber aus Serververbünden (unabhängige, aber miteinander verbundene twitterähnliche Gemeinschaften) besteht, die ihre eigenen Regeln und Verhaltenskodizes festlegen können. Während Twitter wegen seines Umgangs mit Missbrauch und Belästigung in die Kritik geriet, bezeichnete sich Mastodon als »sicherer und humanerer Ort« für soziale Medien,48 an dem man »seine perfekte Community finden«49 könne. Während die egalitäre Rhetorik des dweb versucht, Prinzipien in Protokolle einzubauen, sind die Communitys, die entstehen, nicht immer diejenigen, die man sich vorstellt. Wie sich herausstellte, war Mastodons technisches Modell für dezentralisierte, selbstverwaltete Communitys ein Erfolg, aber sein rasantes Wachstum wurde letztlich durch japanische lolicon-Gemeinschaften (»Lolita complex« – erotische Animationen und Zeichnungen von Kindern) vorangetrieben, die kurz zuvor von Twitter verbannt worden waren. Als »Flüchtlinge« des sozialen Netzwerks wanderte die lolicon-Gemeinde nach Mastodon ab und wurde bald zum größten Mastodon-Server der Welt.50 Die Episode zeigt, dass Communitys zwar Technologien hervorbringen können (schließlich existiert das dweb als Teil einer langen Geschichte der Entwicklung von Open-Source-Software), Technologien aber auch neue Communitys.

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nology Project (die Dachorganisation der EII) dokumentiert nicht nur, wie man ein Netzwerk herstellt, sondern auch, wie man eine Community bildet, die ein solches aufrechterhalten kann: ein Modell für eine politische Bewegung, das in verschiedene Bereiche übernommen wurde.52 Hier haben Bildung und Gemeinsinn Vorrang vor dem der Technologie selbst innewohnenden »Radikalismus«: die Politik eines Protokolls allein reicht nicht aus, um Veränderungen zu bewirken. Um es klar zu sagen: Das dweb – eine dezentrale Alternative zum World Wide Web – gibt es eigentlich gar nicht. Bestenfalls könnte man sagen, dass das dweb als eine Sammlung von Prototypen existiert, aber selbst funktionale Implementierungen mit einigen Millionen Nutzer*innenn lassen sich zu Recht nicht mit dem tatsächlich existierenden Web vergleichen, das sie ersetzen wollen. Nichtsdestotrotz existiert das dweb als ein Traum, der den Wunsch nach einer soziotechnischen Vision artikuliert, deren Geschichte bis zur Erfindung des Web selbst zurückreicht. Durch die Verbindung eines technischen Diagramms mit einer entsprechenden sozialen Fiktion wirken die neu entstehenden Technologien, die das dezentralisierte Web ausmachen, sowohl als funktionale Programme als auch als performative Metaphern für das Engineering und die Umsetzung dieser utopischen Vision. In dem Glauben, dass ein anderes Netz die Grundlage für eine andere Umgebung einer anderen sozialen Praxis bildet, beschäftigen sich die Diskurse des dweb mit einer Kultur- und Systemästhetik, die diese Utopien als radikale Alternative zu den aktuellen Gegebenheiten des Netzes vorstellbar machen. Ein technokratisches Verständnis des Protokolls ist für die Vorstellung dieser neuen Kommunikationswege von entscheidender Bedeutung. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, welche anderen Protokolle – Ethnie, Geschlecht, Klasse, Macht – und Ungleichheiten ebenfalls vorhanden sind. Donna Haraway schrieb 1988: »Wir wollen die Welt auch nicht theoretisieren, geschweige denn in ihr handeln, was globale Systeme betrifft, aber wir brauchen ein weltumspannendes Netz von Verbindungen, einschließlich der Fähigkeit, Wissen zwischen sehr unterschiedlichen – und von unterschiedlicher Macht geprägten – Gemeinschaften teilweise zu vermitteln.«53 Indem die P2P-Bewegung das Netzwerk sowohl als wesentliches Merkmal menschlicher Kommunikation anerkennt als auch als grundlegend fehlerhaft, wenn es bestehende Machtdynamiken einfach neu erschafft, bietet sie – mit der Betonung des Gemeingutes, der Peer-Produktion und lokaler Formen des Engagements – eine zeitgemäße Alternative zum gegenwärtigen Netz. Wenn die Bewegung jedoch mehr als eine utopische Vision sein will, muss sie auch dafür sorgen, dass Herstellung, Community Organising, Ausbildung, Wartung und Moderation – also die Arbeit, die offline geleistet wird – die gleiche Zeit und den gleichen Respekt erhalten wie die Technologie, die sie unterstützen.

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Architecture, and the »Techno-Social« Moment. Cambridge, MA 2013, S. 339–382. 22 Joe Shaw / Mark Graham: »An Informational Right to the City? Code, Content, Control, and the Urbanization of Information«. In: Antipode, Nr. 4, 2017, S. 907–927, hier: S. 910, unter: https:// doi.org/10.1111/anti.12312 (letzter Zugriff: 29.04.2020). 23 Daniel Doctoroff: »Reimagining Cities from the Internet Up«. In: Medium, 13. November 2016, unter: https://medium.com/sidewalk-talk/reimaginingcities-from-the-internet-up-5923d6be63ba (letzter Zugriff: 28.04.2020). 24 https://www.sidewalklabs.com/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 25 Shannon Mattern: »Post-It Note City«. In: Places Journal, Nr. 2, 2020, unter: https://placesjournal. org/article/post-it-note-city/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 26 Vgl. http://detroitcommunitytech.org/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 27 Vgl. https://guifi.net/en/node/38392 (letzter Zugriff: 28.04.2020). 28 Freifunk steht für freie Kommunikation in digitalen Datennetzen, vgl. https://freifunk.net/en/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 29 Vgl. https://muninetworks.org/content/clevelandresidents-file-digital-redlining-complaint-againstatt (letzter Zugriff: 28.04.2020). 30 Vgl. Maitraye Das / Brent Hecht / Darren Gergle: »The Gendered Geography of Contributions to OpenStreetMap: Complexities in Self-Focus Bias« (Vortrag im Rahmen des CHI 2019, 4.–9. Mai 2019, Glasgow). Unter: https://dl.acm.org/ doi/abs/10.1145/3290605.3300793 (letzter Zugriff: 29.04.2020). 31 Mikel Maron: »Diversity in OpenStreetMap: Seeking Your Help on Ideas for the Foundation, OpenStreetMap«, Blogpost am 21.01.2020. Unter: https://www.openstreetmap.org/user/ mikelmaron/diary/391966 (letzter Zugriff 29.04.2020). 32 Erin McElroy in persönlicher Korrespondenz mit Shannon Mattern, 11.09.2019. Nachzulesen unter: https://placesjournal.org/article/post-itnote-city/#ref_53 (letzter Zugriff: 29.04.2020). 33 Shaw / Graham 2017, S. 922. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. http://p2pforever.org/ (letzter Zugriff: 09.05.2019). 36 LAN (Local Area Network) ist ein P2P-Netzwerk, »das in seiner räumlichen Ausdehnung auf einen lokalen Bereich beschränkt ist. […] Über ein LAN können Endgeräte miteinander kommunizieren und bereitgestellte Services nutzen. Im privaten Umfeld dient das LAN dazu, die heimischen Endgeräte wie PCs, Drucker, Laptops, Smartphones oder Tablets untereinander und mit dem Internet zu verbinden.« (https://www.ip-insider.de/was-istein-lan-local-area-network-a-711442/ (letzter Zugriff: 04.03.2021).  37 Benannt nach den Wasserbehältern/-spendern, an denen sich – früher auf Schiffen, heute in modernen Großraumbüros – Gespräche entfalten.

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Anmerkungen 1 Übersetzung: Michael Pilewski; überarbeitet von Johannes Warda. 2 Vgl. John Perry Barlow: »A Declaration of the Independence of Cyberspace« (1996). Unter: https://www.eff.org/cyberspace-independence (letzter Zugriff: 08.03.2021). 3 Vgl. Kashmir Hill: »Life Without the Tech Giants«. In: Gizmodo, Nr. 1, 2019, unter: https:// gizmodo.com/life-without-the-tech-giants1830258056 (letzter Zugriff: 28.04.2020). 4 Vgl. Jeb Su: »Confirmed: Google Terminated Project Dragonfly, Its Censored Chinese Search Engine«. In: Forbes, Nr. 7, 2019, unter: https:// www.forbes.com/sites/jeanbaptiste/2019/07/19/ confirmed-google-terminated-project-dragonflyits-censored-chinese-search-engine/ #399844997e84 (letzter Zugriff: 28.04.2020). 5 Vgl. »Freedom House: Freedom on the Net – 2019 Report«. Unter: https://freedomhouse.org/report/ freedom-net/2019/crisis-social-media (letzter Zugriff: 27.04.2020). 6 Vgl. Francis Tseng: »Decentralise What?«. In: Phenomenal World, Nr. 7, 2019, unter: https:// phenomenalworld.org/analysis/decentralizewhat (letzter Zugriff: 27.04.2020). 7 Vgl. Nathan Schneider: »Decentralization: An Incomplete Ambition«. In: Journal of Cultural Economy, 17. April 2019, S. 3, unter: https:// doi.org/10.1080/17530350.2019.1589553 (letzter Zugriff: 27.04.2020). Alle Zitate aus fremdsprachigen Texten, auch im Folgenden, sind Übersetzungen von Michael Pilewski. 8 Zitiert nach ebd. 9 Alexander Galloway: Protocol: How Control Exists After Decentralization. Cambridge, MA 2004, S. 147. 10 Vgl. Satoshi Nakamoto: »Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System« (2009). Unter: https://bitcoin.org/bitcoin.pdf (letzter Zugriff: 24.04.2020). 11 Ebd. 12 Eine gemeinnützige Organisation in San Francisco, die regelmäßig alle öffentlichen Websites durchstöbert, um die größte digitale Bibliothek der Welt zu bilden. 13 Brewster Kahle: »Locking the Web Open: A Call for a Decentralized Web«. In: Brewster Kahle’s Blog (2015). Unter: http://brewster.kahle. org/2015/08/11/locking-the-web-open-a-call-for-adistributed-web-2/ (letzter Zugriff: 24.04.2020). 14 Ebd. 15 Unter den Teilnehmer*innen war eine Reihe von »Gründervätern« des Web und des Internets, darunter Tim Berners-Lee (WWW), Vint Cerf (TCP / IP), Ted Nelson (Hypertext) und Whit Diffie (DiffieHellman-Schlüsselaustausch). 16 Kahle 2015. 17 Vgl. http://www.bittorrent.org/beps/ bep_0003.html (letzter Zugriff: 29.04.2020). 18 Vgl. https://dat.foundation/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 19 Vgl. https://ipfs.io/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 20 https://docs.ipfs.io/introduction/overview/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 21 Vgl. Felicity Scott: »Discourse, Seek, Interact«. In: Arindham Dutta (Hg.): A Second Modernism: MIT,

Zurück zur Utopie: Dezentralisierung des Internets

geladen werden, um den Artikel lesen zu können. 47 Vorherrschende Zirkulationsart neuer Kryptogeld-/Dezentralisierungsprotokolle, die sich typischerweise in einem Kontinuum zwischen BlogPost und Forschungspapier befindet. 48 »Learning from Twitter’s Mistakes: Privacy and Abuse-Handling Tools in Mastodon« (2017). Unter: http://blog.joinmastodon.org/2017/03/ learning-from-twitters-mistakes/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 49 https://joinmastodon.org/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 50 Vgl. Ethan Zuckerman: »Mastodon Is Big in Japan. The Reason Why Is … Uncomfortable | … My Heart’s in Accra« (2017). Unter: http:// www.ethanzuckerman.com/blog/2017/08/18/ mastodon-is-big-in-japan-the-reason-why-isuncomfortable/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 51 Vgl. http://www.bauhaus-imaginista.org/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 52 Vgl. http://detroitcommunitytech.org/ (letzter Zugriff: 28.04.2020). 53 Donna Haraway: »Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«. In: Feminist Studies, Nr. 3, 1988, S. 575–599, unter: https://doi. org/10.2307/3178066 (letzter Zugriff: 28.04.2020).

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38 https://scuttlebutt.nz/docs/principles/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 39 Vgl. etwa https://www.wortbedeutung.info/Oikos/ (letzter Zugriff: 04.03.2021). 40 Laurel Schwulst: »My Website Is a Shifting House Next to a River of Knowledge. What Could Yours Be?«. In: The Creative Independent (2018), unter: https://thecreativeindependent.com/people/ laurel-schwulst-my-website-is-a-shifting-housenext-to-a-river-of-knowledge-what-could-yoursbe/ (letzter Zugriff: 29.04.2020). 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ulises Ali Mejias: »Off the Network: Disrupting the Digital World« (2013). Unter: https://lib.mit. edu/record/cat00916a/mit.002181786 (letzter Zugriff: 29.04.2020). 44 Vgl. ebd. 45 Matteo Pasquinelli / Institute of Network Cultures, Amsterdam: »Animal Spirits: A Bestiary of the Commons« (2008). Unter: https://lib.mit. edu/record/cat00916a/mit.001657510 (letzter Zugriff: 28.04.2020). 46 Zach Mandeville: »A Praise Chorus« (2018). Unter: dat://2295a89c2cdfb57ed91b135608627119199d5d834fbaede70a8713b2cedf6fe1/#text (letzter Zugriff: 28.04.2020). Es muss der Beaker Browser (https://beakerbrowser.com) herunter-

»Die Neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir ja oder nein zu ihr sagen. Aber sie ist weder besser noch schlechter als irgendeine andere Zeit. [...] Entscheidend wird allein sein, wie wir uns in diesen Gegebenheiten zur Geltung bringen.«1 Hören wir doch einmal genau hin. Nicht nur, wenn es still und leise ist, sondern auch im laut rauschenden Alltag sollten diese mahnenden Worte Ludwig Mies van der Rohes noch immer leicht im Raum hallen: Vor knapp 90 Jahren sieht er den Weg des industriellen Bauens mit Missverständnissen verstellt und warnt auf der Tagung des Deutschen Werkbundes in Wien zugleich mit prophetischem Vorgriff, dass mit dem technischen Fortschritt ein Sinnverlust des Bauens einhergehen wird. Während aktuelle Entwicklungen die Brisanz dieser Warnung unterstreichen, da immer mehr digitale Global Player mit ihren technifizierten Bausteinen in den Raum der Architektur drängen, wiegt sich die Architektur als Disziplin unverändert in trügerischer Sicherheit. Denn abgesehen vom abstrakten digitalen Fortschritt ist draußen, in der dreidimensionalen Wirklichkeit, augenscheinlich alles beim Alten geblieben. Dabei wird vergessen, dass wir uns noch immer in einer solchen »Neuen Zeit« befinden, in der sich ausschließlich die technischen Bedingungen, unter denen Architektur entsteht, rasant verschärft haben. Auch wie wir uns als Gesellschaftsgestalter*innen in diesem Kontext zur Geltung bringen können, wird nur marginal gefragt, obwohl die Notwendigkeit dringlicher ist als je zuvor. Daher möchte ich im Folgenden versuchen, Mies van der Rohes Worten neuen Klang zu verschaffen und so die Brücke zu unserer Gegenwart zu schlagen – einer »Neuen Zeit« der unbändigen Technikeuphorie, gepaart mit noch größeren, schnelleren Innovationsschüben. Aber auch einer Zeit, in der Technik wie nie zuvor konsumiert wird und durch die Omnipräsenz in sämtlichen Lebensbereichen nicht nur Architekturschaffende, sondern jede*n Einzelne*n als Privatperson betrifft. Denn um uns herum ist seit Mies eine völlig neue Welt entstanden, in der die Mauer längst keine Grenze mehr ist, genauso wie das Haus zwangsläufig kein Zuhause mehr darstellt. Wir befinden uns in einer Pattsituation: Uns ist klar, dass die digitale Sphäre unsere physische Welt umkrempelt (  Abb. 1). In dieser dreidimensionalen Wirklichkeit finden Architekt*innen aber kaum räumliche Anknüpfungspunkte zum Digitalen (auch wenn es nur durch das Physische existieren kann). Dies ist Anlass und Versuch, zugleich gestalterische und theoretische Exit Strategies herzuleiten, um einen Ausweg aus diesem Dilemma unserer Gegenwart zu finden. Auf der Metaebene gehen wir also der Frage nach, wie Architekturschaffende in der durch digitale Technologien bestimmten Gegenwart als kritische Akteur*innen agieren können; auf der konkreten Ebene nähern wir uns dem ganzen durch die Betrachtung von Smarthomes und Smartphones.

A Smarthome is Not a Smart Home. Über das zukünftige Zuhause

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Florian Bengert

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Traffic

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Enter your dream

Get started

 Abb. 1 Komplexes Netzwerk von zeitgenössischen phygitalen Landschaften, basierend auf Conrad Hal Waddingtons Modell der »eigenetischen Landschaft« (1957). Gekennzeichnet durch das Zusammenspiel von Räumen, Nutzern und Maschinen, die sich gegenseitig bedingen, aber nur teilweise physisch in Erscheinung treten

Die Auflösung der Wand: »Angekommen sein« hieß, sich physisch zu verorten Wir alle sind unser Leben lang auf der Suche nach dem einen Raum, den wir Zuhause nennen können; einem Ort, der uns das Gefühl gibt, angekommen zu sein. Diese Sehnsucht ist wohl eines der ursprünglichsten menschlichen Verlangen und gleichermaßen Grundmotiv jeglichen architektonischen Schaffens. Die persönliche Vorstellung, was »ankommen sein« genau bedeutet, wie auch die daraus resultierenden räumlichen Antworten, unterliegen demselben Wandel der Zeit und sind immer in der Wechselseitigkeit gesellschaftlicher wie technologischer Entwicklungen zu deuten: Die Transformation der Umwelt durch eine fortschreitende Technologie ist also stets Basis einer neuen sozialen Ordnung; das umgestaltete soziale Leben bringt wiederum neue Technologien hervor.2

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Satellite

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Die Flucht in die Bubble: »Angekommen sein« heißt, sich ortlos zu vernetzen Während das Gefühl des Angekommenseins durch die Auflösung der Wand entarchitektonisiert wurde, konnte das Smartphone in seiner Rolle als virtuelles Zelt zum Inbegriff der variablen Wohnung, des variablen Büros erwachen und so diesen Verlust zwar nicht räumlich, aber emotional kompensieren. »Angekommen sein« reduziert sich dabei allein auf die Verfügbarkeit einer schnellen Internetverbindung und manifestiert sich gleichermaßen in der exzessiven und hemmungslosen Benutzung unserer selbstzentrierten »Ich-Phones« in jeder erdenklichen Lebenslage. Als Objekt gewordenes Zuhause sichert das Smartphone zugleich territoriale Ungebundenheit und entkontextualisiert somit das Gefühl des Angekommenseins, denn egal wo ich es anschalte, es überbrückt lückenlos Distanzen und verortet mich in einer individuellen abstrakten Blase, ganz im Sinne Banhams Konzept der environmental bubble. Spielerisch und einfach zugleich bin ich dann gefühlt dort zu Hause, wo ich den Home button, also den »Zuhause-Knopf« drücke, um mein virtuelles Zelt als temporäre Stecknadel im medialen Positionierungsraum aufzuschlagen. Wenn es mir an einem Ort nicht gefällt, schlage

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Zu beobachten ist, dass im Zuge des zunehmenden Abstraktionsgrades neuer Technologien auch das soziale Leben beziehungsweise der öffentliche Raum zunehmend abstrahiert und beschleunigt wurde, beide verlagern sich schließlich immer mehr ins Netz. Konnten Architektur und Stadt, ganz im Sinne von Reyner Banhams Verständnis von Architektur als »kultureller Lösung« innerhalb technifizierter Ökosysteme,3 auf die maschinenbasierte Raumerfahrung des Autos noch mit neuen Typologien wie Tankstellen, Parkplätzen und Parkhäusern sowie neuen Wegesystemen (Ringstraßen, Schnellstraßen etc.) reagieren – dies kumulierte in der autogerechten Stadt der Moderne –, ist ihre Anpassung an die neuen Gegebenheiten einer abstrakten, medienbasierten Raumerfahrung in denkbar weiter Ferne. Das Smartphone hingegen hat nicht nur schon längst das Auto als Statussymbol abgelöst, sondern es auch als raumkonstituierende Architekturmaschine beerbt. Wurden unterschiedlichste Formen des Arbeitens und Wohnens durch die Architekturmaschine des Autos entkoppelt und der Mensch so zum Pendler, der tagtäglich wieder in seiner festen Homebase »ankommen« konnte, stellt die neue Architekturmaschine all diese Kategorien nun auf den Kopf. Arbeit und Freizeit, innen und außen, privat und öffentlich – im Topf der Synchronologie sind alle Räume gleichzeitig und gleichwertig präsent, alles kann überall stattfinden, alles kann überall gesteuert, überwacht und ausgewertet werden. Entwerferisch ist die Architektur dabei gefühlt auf der Entwicklungsstufe des Banham’schen »Zweiten Maschinenzeitalters«4 mit der Architekturmaschine des Autos stehen geblieben und hat es bis dato nicht geschafft, konzeptionelle oder räumliche Antworten auf diesen Wandel zu geben. Ihre Daseinsberechtigung sowie ihr Gestaltungsraum werden hingegen weiter untergraben. Denn während uns früher unsere Häuser schützen konnten – drinnen war privat, draußen war öffentlich –, sind im Zeitalter der abstrakten Kommunikation die Mauern immer durchlässiger geworden. Aus medientheoretischer Sicht beschreibt Vilém Flusser diesen Vorgang zu Beginn der 1990er-Jahre bildhaft treffend, wenn er vom Zerfall des heilen Hauses zur Ruine spricht, »durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.«5 Und auch Banham stellt bereits 30 Jahre zuvor schon die Frage nach der Daseinsberechtigung von Architektur, da sämtliche Hardware, Installationen usw. von selbst ohne die Hilfe des Hauses eigenständig und unabhängig stehen könnten.6 So verwundert es nicht, dass einstige architektonische Elemente wie Wand und Tür in dieser Gegenwart ihren operationellen Charakter verlieren und wir womöglich beginnen, uns unbehaust zu fühlen.

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Das fiktive Haus: »Angekommen sein« heißt, sich einem steuerbaren Umfeld hinzugeben Wie steht es aber knapp 60 Jahre nach Banham und 30 Jahre nach Flussers Aussage um »das Haus« beziehungsweise »Zuhause«? Ist es als gläsernes Haus vielleicht nur noch Hülle und Speicher analoger Habseligkeiten, die durch Hardware und Leitungen am Leben gehalten werden? Schützt es als datenerzeugende und datenauswertende Überwachungsmaschine letzten Endes diese Güter? Hält es diese Überwachung als Distributionsmaschine für Wärme, Elektrizität und Wasser, Wissen und Information am Leben? Wird Banhams »Well-tempered Environment«8 somit zum well-connected environment hoch kontrollierter Lebensräume, in dem sich die technische Infrastruktur des Hauses längst von der Architektur emanzipiert hat? Heimlich, still und leise hätte die Architektur so ihre Macht verloren, Räume zu programmieren. Daher müssen wir uns als Disziplin bewusst fragen: Haben wir, egal ob gelähmt oder berauscht vom digitalen Hype, die notwendige Entwicklung verschlafen, die Architektur an den sozialen Wandel, an die »Neue Zeit« anzupassen? Denn wenn sich das Gefühl des Angekommenseins wie bereits erörtert durch die Nutzung des Smartphones entkontextualisiert und sich in der zweiten Schlussfolgerung mit der Auflösung der Wand nun auch entarchitektonisiert hat, dann bleibt nur noch ein Anknüpfungspunkt übrig, den sich aber schon längst andere zu eigen gemacht haben. Die Rede ist von den alten Sehnsüchten nach Schutz, Komfort und Sicherheit. Genau hier, bei dieser emotionalen Komponente, greift das Konzept des Smarthomes. Immer mehr Tech-Konzerne widmen sich diesem Marktsegment und stellen so erneut, aber weitaus radikaler als Banham, den Daseinsanspruch der Architektur infrage. Dies geschieht ganz im Sinne einer »Folk Architecture«9, eines vermeintlichen Abbilds des alltagserleichternden Guten, welches sich der Komplexität der Gesamtheit entzieht und so dem eigentlichen technischen Architekturdiskurs schadet. Smartness im allgemeinen Sinne dient so als reines Verkaufsargument für stromfressende Gadgets, mit denen lediglich der Kulturwechsel vom Greifen zum Berühren hin zur Sprachsteuerung etabliert wird. Hat das Smartphone zuvor als Architekturmaschine die klassischen Mauern zu Fall gebracht, fungiert es im Kontext des Smarthomes wieder als mauern- und grenzenschaffende Maschine. Dabei versucht das Smartphone als vernetzte Kontrollinstanz in Rückkopplung mit all den ans Netz geschalteten Geräten eben genau das Gefühl des Angekommenseins durch nutzerspezifische Steuerungsprinzipien zu kompensieren

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ich das Zelt woanders auf. Dazu benötige ich einzig und allein ein solches Gerät; und deswegen benutzt man es auch gerne so häufig. Mit dem Smartphone online zu sein, ist also ein Zustand des Angekommenseins. So hat in nicht mal einem Jahrzehnt das Smartphone unsere Vorstellung davon grundlegend verändert, wie wir kommunizieren, konsumieren, arbeiten, uns erholen, lieben, ja überhaupt leben. Im Buch The One Device zeigt Brian Merchant dies so faszinierend wie erschreckend auf, wenn er die wenigen Errungenschaften der Menschheit aufzählt, die permanent in Gebrauch sind: Kleidung, Brille – und ein Telefon. Die Liste ist winzig. Und um auf dieser Liste zu erscheinen, muss das Objekt fast überall und in nahezu jeder Lebenslage wünschenswert sein.7 Das Smartphone ist somit nicht nur ein Werkzeug, sondern Fundament des modernen Lebens, das gleichermaßen als Voraussetzung angesehen wird, um in der nun dominanten Kultur der Digitalität handeln zu können. Banhams Gleichung »A Home is Not a House« könnte demnach um die Gleichung »A Home is my Smartphone« ergänzt werden.

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Die neue architektonische Smartness: »Angekommen sein« wird heißen, Zukunft mutig zu entwerfen! Nun wird man vielleicht den Eindruck nicht los, dass hier marginale Entwicklungen möglicherweise drastisch überzeichnet werden. Wer aber glaubt, dass die Architektur von all diesen Tendenzen gänzlich unberührt bliebe, übersieht, dass ihr Kern betroffen ist. Technifizierte Umwelten dürfen folglich nicht als Bedrohung, sondern müssen als Chance, als zu gestaltende Masse gesehen werden, denn sie eröffnen neue Perspektiven und Aufgabenfelder für die Architektur. Sie verlangen nach einer grundlegenden

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und so räumlich wieder zu verwurzeln. Die Fiktion der individuell steuerbaren vermeintlichen Sicherheitszone, in der man Licht, Temperatur, Lautstärke etc. nach Belieben ändern kann, könnte besser nicht sein, gaukelt die Sensitivität von Bewegungsmeldern, Kameras und Rechenleistung doch ein perfektes Gefühl des Angekommenseins vor. Smart ist dabei nicht smart, sondern lediglich sensitiv. Die Sensorkultur errichtet nichts anderes als ein fiktives Zuhause um die individuelle Bubble des Smartphones. Dabei ist es das »Ich-Phone«, das dem Individuum jenes Gefühl der Souveränität, Macht und Kontrolle zu vermitteln weiß, das einst von der festen Homebase mit Wand und Tür ausgestrahlt wurde. Die Rolle des Smartphones als (destruktive) Architekturmaschine wird auf diese Weise noch mehr gestärkt, die der Architektur weiter geschwächt, ist sie doch nur noch notwendiges Beiwerk, um die technische Versorgung aller vernetzen Instanzen zu gewährleisten. Als Camera Obscura stößt die Summe der vernetzten Geräte und architektonischen Elemente die Haustür weiter auf als je zuvor und vereinfacht so die Schlüssellochperspektive für Externe, wie Rem Koolhaas es beschreibt: »For thousands of years, the elements of architecture were deaf and mute – they could be trusted. Now, many of them are listening, thinking, and talking back, collecting information and performing accordingly. The door has become automated, transformed into an extension of the smartphone, with each opening and closure logged.«10 Um auf den Spuren Banhams zu bleiben, ist hierbei die Rede von environments, also digitalen Ökosystemen als omnipräsentem Teil der menschlichen Natur. Sie sind der technische Modus seiner Existenz. So registriert die Tür, wer wann kommt und geht, die Küche registriert den Verbrauch von Produkten des täglichen Bedarfs, das Wohnzimmer erfasst alltägliche Routinen und passt Licht und TV-Programm unserer Stimmung an, das Schlafzimmer überwacht unser Schlafverhalten, der Thermostat registriert und optimiert unseren Energieverbrauch und zu guter Letzt vervollständigt dann noch der Staubsaugroboter das physische Bild der Wohnung, in dem er, um operieren zu können, zunächst die Räume vermisst und anschließend zu einem ganzheitlichen Grundriss verbindet. Im Wifi werden daraus dann Datenpakete geschnürt, um als Livemitschnitt grafisch schön aufbereitet auf dem Smartphone zu landen. So schafft sich der Mensch stets neue environments und erlaubt es Geräten wie ihren Hersteller*innen, räumlich in aller Härte auf ihn einzuwirken, sei es auf konstruktive oder konsumptive Art, sei es individuell oder kollektiv, sei es unwissend oder informiert.11 Wie zukunftsfähige Architektur in derzeitigen wie kommenden hochtechnologisierten Zeitaltern aber wirklich aussehen kann, muss zunächst in einem solchen kleinen Maßstab der eigenen vier Wände grundlegend erörtert werden. Denn bevor wir von smarter Architektur oder intelligenten Räumen sprechen, sollten wir herausfinden, was ein Zuhause überhaupt noch leisten muss und inwiefern dabei von Smartness die Rede sein kann. 

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Revision ihrer Werkzeuge an der Schnittstelle zwischen physischer und digitaler Welt. Smartness hingegen kann und darf nicht in zunehmendem Maße als rein kommerzielles Konzept die Antwort auf das Angekommensein darstellen. Denn dies wäre nichts anderes als die bloße Suche nach smarten Alternativen für Wände und Türen. Daher ist es theoretische, technische, politische, ästhetische und räumliche Notwendigkeit, ein neues Verständnis vom gegenwärtigen, aber auch von kommenden digitalen Maschinenzeitaltern und dessen Maschinen zu entwickeln. Weil die wichtigsten Variablen hierbei nicht länger Baumaterialien und Stile sind, sondern der Mensch und dessen Interaktion mittels digitaler Maschinen. Ebenso gilt es, der Frage nachzugehen, wie gemeinsam mit den und durch die Maschinen unseres Zeitalters Zukunft entwickelt werden kann. In diesem Zuge sollte gleichermaßen gefragt werden, wie neue Utopien erdacht werden können. Und es ist festzustellen, welche Utopien bereits überholt wurden und veraltet sind. Denn vielleicht ist das Angekommensein im Zuhause, wie wir es bislang kannten (und noch immer so bauen), eine solch längst überholte Utopie und wird nur als altes Produkt durch das Attribut der Smartness neu verpackt. Gleichermaßen gilt es, die klassischen Elemente der Architektur auf ihre Handlungsfähigkeit zu überprüfen: Was funktioniert also noch, was nicht? Was muss neu gedacht werden? Ganz im Sinne Christopher Alexanders A Pattern Language (1977) oder auch Ernst Neuferts Bauentwurfslehre (1936) könnte so beispielsweise ein neuer Katalog als theoretische Grundlage erarbeitet werden, wie mit dem Hier und Jetzt umzugehen ist. Das könnte eine Chance sein, aus dem Smartphone und seinen smarten Begleiterscheinungen neues räumliches Gestaltungspotenzial abzuleiten, anstatt diese nur unreflektiert zu konsumieren. Vielleicht muss aber auch an Claude Parents und Paul Virilios System der Schräge erinnert werden, um auf die veränderte Körperhaltung durch die Benutzung von Smartphone und Co. räumlich reagieren zu können.12 Braucht es, so gesehen, andere Höhen, andere Tiefen, andere Sound- oder Materialanforderungen? Und ist der Boden eine neu zu denkende Fassade? Programmatisch muss also insbesondere danach gefragt werden, welche Sequenzen, Schwellen und Widerstände es beispielsweise geben könnte oder müsste, um gesellschaftsverändernde Tendenzen räumlich zu stärken oder zu negieren. Welche Gegenszenarien und Alternativen könnte die Architektur aufzeigen, um als kritisches Tool vor Augen zu führen, was sozial, ökonomisch und politisch durch blinden Technikkonsum schiefläuft. Wären beispielsweise künstliche Funklöcher als Teil einer Wohnung denkbar? Vielleicht könnte auch mehr nach dem digitalen Nutzerverhalten gebaut werden, einhergehend mit der Neucodierung von öffentlichen wie halb öffentlichen Gemeinschaftsflächen. Ökologisch könnte gefragt werden, durch welche architektonischen Maßnahmen beispielsweise zig Millionen Schubladen-Handys im urbanen Raum dem Rohstoffkreislauf zurückgeführt werden könnten. Welche architektonischen Maßnahmen beziehungsweise neuen Typologien könnten logistische Prozesse im urbanen Raum verträglicher machen mit dem Anspruch, Lebensraum zu verbessern? Oder gilt es auch kulturhistorisch neue Gebiete zu entdecken, wie Aspekte des digitalen Erbes bereits in den eigenen vier Wänden vorgesehen werden können? Diese Auflistung zeigt, dass nicht zwangsläufig neue, sondern vor allem offene Punkte noch immer unbeantwortet im Raum stehen. Es sind Anknüpfungspunkte, die nun zukunftsoptimistisch angegangen werden können und müssen. Denn erst, wenn wir uns auf diese »Neue Zeit« entwurflich einlassen, könnte es zu schaffen sein, den möglichen Verlust des Angekommenseins räumlich zu kompensieren. Wir müssen wieder beginnen, mutig in eine Zukunft hinein zu entwerfen, anstatt uns in der Reproduktion von alten, ausgedienten Strukturen zu verheddern oder diese nur reaktionär zu verwalten.

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Die offenen Punkte des Katalogs müssen im Rahmen von Studien und Entwürfen untersucht werden. Es wäre herauszufinden, welche Lücken technifizierte environments aufspannen und wie man sie smart besetzen könnte, um sie als erlebbares Terrain zu verstehen und so ein ganz neues Angekommensein zu ermöglichen – das wäre smarte Architektur! Dies sollte nicht nur die vom Bauboom geblendete Praxis beschäftigen, sondern insbesondere Teil einer akademischen Ausbildung sein, um mit genügend Freiraum und Entdeckerlust universitäre Entwurfsaufgaben als Experimentierfeld einer neuen Zeit zu verstehen. Denn was bringt es, einen entschleunigten Ruheraum in Graubünden zu entwerfen, wenn die dringliche architektonische Auseinandersetzung ganz andere beschleunigte Themen fordert? Ich möchte wirklich niemandem mit dieser Aussage kränken oder abfällig über Entwürfe anderer urteilen, ganz im Gegenteil. Nur wenn wir heute von »Entwürfen aus einer Welt von morgen« sprechen, dann sollten wir – wie auch das Bauhaus 1919 – mit der Vergangenheit bis dato brechen und das radikal Neue einfordern. Aber nicht das Neue um seiner selbst willen, sondern das Neue mit dem Ziel, durch revolutionäres Design eine neue Lebensgestaltung für eine Gesellschaft im Umbruch zu entwerfen. Ich habe große Lust, auf diese Reise zu gehen, um an den Entdeckerdrang Banhams und den Zukunftsoptimismus des Bauhauses anzuknüpfen. Zukunft kann so wieder zu einer Aufgabe, zu einer Option werden und kann zum Spekulieren und Testen realer Utopien anregen. Ziel wäre dann ein Diskurs, in dem es der Architektur vielleicht ebenso gelingt, im Taumel des Falles ihren schweren Rucksack alter Dogmen und Paradigmen abzustreifen und dabei einen historischen Wandel zu vollziehen, um sich selbst als Spiegel der Gesellschaft und als Experimentierfeld ihres Maschinenzeitalters wiederzuentdecken. Dies ist kein verträumt-romantischer Blick, gespeist von der Sehnsucht nach dem Analogen, sondern vielmehr der Wunsch nach einer ernsthafteren Auseinandersetzung mit dem Digitalen, beflügelt durch die Lust am Experiment, getreu dem Motto: »What if? Why Not? Let’s go!«

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7 Vgl. Brian Merchant: The One Device. The Secret History of the iPhone. London 2017. 8 Reyner Banham: The Architecture of the Well-tempered Environment [1965]. Chicago 1984. 9 In Anspielung auf den Begriff »Folk Politics«. Vgl. Nick Srnicek / Alex Williams: Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work. London /  New York 2015, S. 9–13. 10 Rem Koolhaas: »The Smart Landscape: Intelligent Architecture«. In: Artforum, Nr. 4, 2015, unter https://www.artforum.com/print/201504/thesmart-landscape-intelligent-architecture-50735 (letzter Zugriff: 10.03.2021). 11 Vgl. Henning Schmidgen: »Das Konzert der Maschinen. Simondons politisches Programm«. In: ZMK – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 2, 2012, S. 117–134, hier: S. 119. 12 Vgl. die manifestartige Zeitschrift architecture principe, 1963–1968 herausgegeben von Paul Virilio und Claude Parent.

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Anmerkungen 1 Ludwig Mies van der Rohe: »Die Neue Zeit«. In: Ulrich Conrads (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig / Wiesbaden 1975, S. 114. 2 Vgl. Peter Weibel: »Territorium und Technik«. In: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin 1989, S. 81–111, hier: S. 81 3 Vgl. Florian Sprenger: »Architekturen des Environment«. In: ZfM, Nr. 12, 2015, S. 55–67, hier: S. 56. 4 Vgl. Reyner Banham: Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter [1960]. Hamburg 1964; Martin Pawley: Theorie und Gestaltung im Zweiten Maschinenzeitalter [1990]. Braunschweig / Wiesbaden 1998. 5 Vilém Flusser: »Durchlöchert wie ein Emmentaler«. In: Fabian Wurm (Hrsg.): Vilém Flusser. Vom Stand der Dinge. Göttingen 1993, S. 79–82, hier: S. 80–81. 6 Vgl. Reyner Banham: »A Home is Not a House«. In: Art in America, Nr. 2, 1965, S. 70–79, hier: S. 70.

Mit dem Begriff des ikonografischen Defizits1 haben der niederländische Architekt Rem Koolhaas und sein Thinktank AMO 2004 auf das Fehlen einer verbindenden Symbolik und einer konkreten Materialität der EU hingewiesen. Let’s check: Was sehen Sie vor Augen, wenn Sie »Europa« denken? Einen geografischen Raum? Nichts? Moria? Ich würde – 16 Jahre nach Koolhaas’ Diagnose – einen Schritt weitergehen und sagen: Es fehlt nicht an Bildern, aber die bestehenden Bilder arbeiten nicht für, sondern gegen Europa2. Während sich die Mitgliedsstaaten der EU schwer tun, gemeinsame und menschenwürdige Strategien für die Flüchtlingspolitik zu entwickeln, und es der EU innenpolitisch kaum gelingt, ihren Wert gegenüber den europäischen Bürger*innen zu vermitteln, finden die Krisen der EU geradezu spektakulär und auf internationaler Bühne statt: Das »Brexit-Theater«3 produziert Bilder des Zerfalls und der Zerrüttung, das brennende Lager in Moria hat das Scheitern einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik ins visuelle Gedächtnis eingeschrieben und die Grenzkontrollen in Zeiten der Corona-Pandemie reartikulieren eine Vorstellung von nationaler Sicherheit, die es mit dem europäischen Projekt doch gerade zu überkommen galt. Das ikonografische Defizit als Leerstelle gibt es nicht mehr, sondern eher eine ikonische Fülle von Defiziten, Rückschritten oder zumindest: großen Hürden. Dennoch verweist der Gedanke des ikonografischen Defizits noch auf einen positiven Ansatzpunkt für politisches Handeln. Bilder sind dem Handeln nicht mehr nachgeordnet und bilden das politische Geschehen bloß ab, sondern sie selbst können zu Veränderungen führen – wie es etwa die Bewegung #BlackLivesMatter gezeigt hat, bei der es Bilder der Gewalt waren, die eine (erneute) Welle des antirassistischen Protests ausgelöst haben, diesmal mit einigen Erfolgen. So sehr man sich wünscht, diese Bilder hätte es nie geben müssen: Die Provokation verändernder Bilder ist eine wirksame politische Strategie. Dass sich auch Künstler*innen – als Profis der Darstellung – diese Logik zu eigen machen und dass sie ihre Strategien zunehmend auf die Politik anwenden, überrascht deshalb nicht. Unter dem Begriff des Aktivismus versuchen Künstler*innen zunehmend, direkt in politische Entwicklungen einzugreifen.4 Occupy Wall Street 2011 und die Proteste im Gezi Park 2013 sind Bewegungen, bei denen Künstler*innen und künstlerische Strategien eine wichtige Rolle spielten.5 In der Europadebatte allerdings scheint sich künstlerischer Aktivismus etwas anders zu entwickeln. Viele pro-europäische Projekte wirken deutlich gehemmt und zum Teil wenig schlagkräftig,6 gibt es doch einige komplizierte Fragen: Wie lässt sich die europäische Idee des Nichtnationalen bildlich stärken, ohne als Supporter*in der Politik an den EU-Außengrenzen dazustehen? Was bedeutet es, für Europa zu sein, wenn zeitgleich das Projekt der Dekolonialisierung stattfindet; und in welcher Nationalismuskritik und in welchen Europabegriffen lassen sich diese beiden Bewegungen verbinden? Und konkreter: Wie ließe sich eine europäische Ästhetik denken, die nicht nur das nationalstaatliche Repertoire an Pässen und Flaggen paraphrasiert, und so der

Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

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Marie Rosenkranz

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 Abb. 1 Rem Kolhaas, European Barcode, 2004 (oben)  Abb. 2 AMO, Ausstellung The Image of Europe, Brüssel, 2004 (unten)

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nationalen Souveränitätserzählung vieler Euroskeptiker ästhetisch in die Hände spielt? Dieser Beitrag wirft einen Blick auf einige künstlerische Projekte, in denen eine Diagnose des ikonografischen Defizits mitschwingt – und fragt nach deren Ästhetik genauso wie nach ihrem politischen Potenzial. Ich bleibe zunächst bei Koolhaas, der diesen Begriff nicht als losgelöstes theoretisches Konzept in die Welt setzte, sondern als Kontextualisierung einer eigenen Praxis verwendet hat: Gemeinsam mit AMO produzierte Koolhaas den europäischen Barcode als alternatives Symbol für die EU. Für die Ausstellung The Image of Europe im Rahmen der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft 2004 summierte der Thinktank des Architekturbüros OMA die Farben aller nationalen Flaggen zu einem bunten Barcode, der in Form eines runden Zelts auf dem Rond Point Schuman in Brüssel präsentiert wurde (  Abb. 1, 2). 2018 rief Koolhaas zudem gemeinsam mit dem Fotografen Wolfgang Tillmans im Rahmen des Forum on European Culture unter dem Motto »Act for Democracy« dazu auf, Vorschläge für eine bessere Kommunikation der EU einzureichen, die das Image der EU erneuern.7 Ein Versuch, ein geeintes Europa zu verbildlichen war auch das European Balcony Project des European Democracy Lab8 – das ebenso immer wieder mit AMOs Barcode operiert. Am 10. November 2018 haben 200 Kulturinstitutionen und Bürgerinitiativen in Europa in einer symbolischen Aktion die Europäische Republik ausgerufen. Dazu wurde ein Manifest von Ulrike Guérot, Robert Menasse und Milo Rau verlesen, das in 33 Sprachen übersetzt wurde. 100 Jahre nach den Republikausrufungen in Europa sollte damit auf die Kontingenz und die Fragilität des Status quo hingewiesen werden – ein positiv mobilisierender wie historisch mahnender Aufruf. Das European Democracy Lab lud Theater, Kulturinstitutionen und Bürger*innen in Europa ein, sich an der Aktion zu beteiligen, das Manifest zu verlesen und es kritisch zur Diskussion zu stellen. Die Ausrufungen wurden dezentral von den Theatern und Kulturinstitutionen organisiert und eigenständig in ihr Programm eingebettet. Neben den Ausrufungen an großen Theatern wie dem Nationaltheater in Gent (  Abb. 3), dem Burgtheater in Wien und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg organisierten Bürger*innen vielerorts Aktionen abseits des institutionellen Kulturbetriebs, etwa eine Ausrufung am Gate des Brüsseler Flughafens, auf einer Fußgängerbrücke zwischen Deutschland und Frankreich, von einem Plattenbau in Chemnitz und am Strand auf der italienischen Insel Lampedusa. Dabei entstanden zahlreiche Bilder und Materialien,9 die die demokratische Vielstimmigkeit der europäischen Idee performativ demonstrieren sollten. Die Aktion appellierte daran, die breite Mehrheit der pro-europäischen Stimmen symbolisch zu konzertieren und das Pro-Europäische genauer zu qualifizieren.10 Entscheidend war dabei, dieser Haltung Sichtbarkeit zu verleihen. Das dahinterstehende European Democracy Lab ist ein 2014 von der Aktivistin und Europawissenschaftlerin Ulrike Guérot gegründeter Thinktank mit Sitz in Berlin, der sich zum Ziel gesetzt hat, alternative Entwürfe für Europa zu produzieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Das European Democracy Lab arbeitet an der Schnittstelle von Forschung, Kultur und Politik – unter dem Motto »The European Republic is under construction«.11 Die symbolische Ausrufung im Rahmen des European Balcony Project ist dabei nicht als realer Prozess zu verstehen, mit dem direkt eine Europäische Republik12 als politisches System aufgebaut werden soll. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es – im Anschluss an die auf den italienischen Theoretiker Antonio Gramsci zurückgehende Hegemonietheorie – eine vorpolitische Ebene gibt, auf der Kultur als zentraler Aushandlungsort von Vorstellungskraft und somit politischer Willensbildung fungiert.13

247 Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

 Abb. 3 European Balcony Project, Gent, 2018 (oben)  Abb. 4 European Balcony Project, Albanien, 2018 (unten)

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Die Kunstaktion wie das European Balcony Project zeigen zunächst »nur« die Kontingenz aktueller Verhältnisse und so die Veränderbarkeit und Möglichkeit einer anderen europäischen, demokratischen Zukunft auf. Dabei kommt aber eine ästhetische Strategie zum Tragen, die eine politische Haltung im Feld des Sag- und Sichtbaren verankert – und den Begriff des Pro-Europäischen mit neuer Bedeutung versieht. Dadurch werden latente Wertevorstellungen konkretisiert und in künstlerischen Aktionen und Bildern artikuliert. Vor allem aber wird der Wunsch nach Utopien und Visionen als Methode politischer Veränderung inszenatorisch umgesetzt. Eine Analogie dazu bietet eine Arbeit des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar, der 2000 eine Kunsthalle in der schwedischen Kleinstadt Skoghall aufbaute. Passend zu der insbesondere für ihre Papierindustrie bekannten Stadt verwendete Jaar Papier als Baumaterial (  Abb. 5–7). Jaar zeigte die Arbeiten von 15 schwedischen Kunstschaffenden. Nach einer Weile brannte er die Halle ab.14 Kritik an dem Projekt wurde laut, obwohl doch eigentlich nur die Ausgangslage wieder hergestellt worden war: eine Stadt ohne Museum. Trotzdem hatte sich etwas verändert. Die Bürger*innen der Stadt stellten ein Komitee auf, dass ein »echtes« Museum errichten sollte – mit ihrem eigenen Programm. Die kurze Präsenz des Museums hatte ihnen ihr eigenes Bedürfnis nach einem städtischen Diskursort aufgezeigt und den Wert einer solchen Institution demonstriert. Jaars Arbeit zeigt, wie Künstler*innen politische Imagination anregen können, die sich in konkreter Politik materialisiert.15 Er förderte Bedürfnisse zutage, die bereits da waren, und organisierte dazu einen Diskurs – rund um das Kunstwerk oder besser gesagt: danach. Dabei lässt sich der provozierte Diskurs im Sinne einer partizipativen Kunst eigentlich nicht nur als Folge, sondern als Teil des Kunstwerkes lesen, da sich Kunst nach dem social turn längst nicht mehr auf Materielles beschränkt, sondern das soziale Geschehen selbst formt.16 Das European Balcony Project macht sich diese Methode zu eigen: Auch die kurzzeitig ausgerufene Republik kann eine reale politische Zukunft werden, weil sie die Möglichkeit eines anderen Europas vor Augen führt. Sowohl bei Jaars Arbeit Konsthall Skoghall als auch beim European Balcony Project handelt es sich dabei natürlich um Provokationen, deren Verhältnis zur Realität ein spielerisches ist. Der realpolitische Anspruch einer solchen Aktion muss zum Zwecke ihrer Wirksamkeit im Verborgenen bleiben. Sozial engagierte Kunst, Kunstaktivismus und ästhetische Strategien in der Politik sind nicht neu,17 doch werden diese Praktiken seit einer Weile vermehrt auf die Debatte über Europa angewandt. Auslöser der neuen künstlerischen Beteiligung am politischen Diskurs sind Re-Nationalisierungsprozesse und Zerfallserscheinungen der EU, von denen die Kunst einerseits selbst betroffen ist und auf diese andererseits auf andere Weise aufmerksam zu machen vermag. Ein Beispiel ist der Brexit, im Kontext dessen sich einige Künstler*innen mit Kampagnen und Aktionen positionierten und so einige kulturelle Fragen aus der Latenz holten, die in der politischen Debatte nur mitschwangen – obwohl Identitäten und Affekte eine ganz entscheidende Rolle spielten.18 Die gescheiterte Flüchtlingspolitik der EU führt hingegen eher zu einer Zurückhaltung im Kulturbereich, sich im Bereich der Bilder pro-europäisch zu engagieren, um nicht in den Verdacht einer Inkaufnahme einer europäischen Abschottungslogik zu geraten. In dieser Ausprägung der Europadebatte dominiert in der Kunst eine nahezu einstimmige Kritik der EU-Politik, die sich zum Beispiel eindrücklich im Rahmen der documenta 15 in Kassel zeigte – die aber naturgemäß auf positive Bilder verzichtet, und so häufig ohne grenzüberschreitende Antwort auf die Frage verbleibt, welche Form Europa als das Andere des Nationalen noch haben kann.19

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 Abb. 5–7 Alfredo Jaar, The Skoghall Konsthall, Intervention im öffentlichen Raum, Skoghall, 2000 

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Künstlerische Versuche, das ikonografische Defizit zu adressieren oder auch mit Ansätzen von Partizipation aktivistische Kritik an dem Verlauf des europäischen Projekts zu üben, müssen also mit der Ambivalenz des Europäischen umgehen – und ich behaupte, das können sie auch. Dabei ist die Bildproduktion ein Hebel, jedoch nur auch das künstlerische Tun an sich: Aktivistische Künstler*innen, die zu Europa arbeiten, stellen die so drängende Frage nach politischer agency in transnationalen politischen Öffentlichkeiten und die Frage nach den Adressat*innen und Sender*innen von politischer Kritik jenseits von Legislaturperioden. Die internationalistische Haltung, die das Kunstfeld dominiert, ist in der jüngsten Vergangenheit deutlich zur Disposition gestellt worden. Die Mobilisierung der Kunst als Aktivismus ist womöglich der Prozess, mit dem sie sich angesichts dieser Verschiebungen gesellschaftlich neu situiert – und neu situieren muss. Obwohl einflussreiche Theoretiker*innen in der Kunst nicht das größte Potenzial sehen, politische Fragen differenziert oder abschließend zu verhandeln, scheint sie doch gerade für diese grenzüberschreitenden Diskurse – und ihre Aufrechterhaltung – zurzeit ein wichtiger Raum zu sein. Kunst kann die gesellschaftlichen Konflikte, die in der Debatte um Europa konvergieren, in andere Fragen und konkrete Praktiken übersetzen, sie kann die Ambivalenz des Europäischen öffentlich verhandeln, an Sicherheiten rütteln und Alternativen imaginieren. Sie kann Zugang zur Politik organisieren und: Sie kann Selbstkritik. Vielleicht liegt darin eine für die Zukunft wünschenswerte Überschneidung der Kunst zur Logik des Europäischen.

Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

Rechte für alle Bürger*innen in Europa, jenseits nationaler Grenzen. Dabei wird die Unionsbürgerschaft als Zusatz zur nationalen Staatsbürgerschaft hinfällig: Alle Bürger*innen sollen stattdessen direkt in einer gemeinsamen Demokratie vereint werden. Von ihnen ginge alle Souveränität aus: Sie wählten eine europäische Regierung und ein Parlament und könnten sie demokratisch kontrollieren und zur Verantwortung ziehen. Gleichzeitig würden Städte und Regionen als kleinere politische Verwaltungseinheiten und kulturelle Bezugspunkte gestärkt. Neben dem europäischen Parlament gäbe es deshalb in dem Modell der Europäischen Republik einen Senat, in den die Regionen je zwei Vertreter*innen entsendeten, und der die Interessen dieser Regionen auf europäischer Ebene vertreten würde. Lokal- und Europapolitik sollen so an Gewicht gegenüber der nationalen Politik gewinnen. Vgl. ebd. 13 Vgl. Chantal Mouffe / Ernesto Laclau: Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics. London 1985. 14 Vgl. http://alfredojaar.net/index1.html (letzter Zugriff: 17.02.2020). 15 Vgl. Oliver Kohns / Martin Doll (Hg.): Die imaginäre Dimension der Politik. Paderborn 2014. 16 Vgl. Claire Bishop: Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London 2012. 17 Vgl. z.B. Yates McKee: Strike Art: Contemporary Art and the Post-Occupy Condition. New York 2016; Claudia Mesch: Art and Politics: A Small History of Art for Social Change since 1945. London 2013; Blake Stimson / Gregory Sholette (Hg.): Collectivism after Modernism; Seeing Power: Art and Activism in the 21st Century. Minneapolis, MN 2007. 18 Pippa Norris / Ronald Inglehart: Cultural backlash Trump, Brexit, and authoritarian populism. Cambridge, 2019. 19 Auf kleinerer Skala wird diese Scheu vor Utopien aber häufig abgelegt: So hat sich seit 2015 in Europa ein ganzer Strang an socially engaged art mit der Gemeinschaftsbildung von Geflüchteten und lokalen Nachbarschaften befasst. Exemplarisch seien hier die neue Nachbarschaft der Künstlerin Marina Naprushkina in Berlin-Moabit genannt oder zahlreiche Projekte der niederländischen bak basis voor actuele kunst.

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Anmerkungen 1 Vgl. Rem Koolhaas / AMO: »The image of Europe« (2004). Unter: https://oma.eu/projects/the-imageof-europe (letzter Zugriff: 14.12.2020). 2 Europa wird hier verstanden als das Projekt der Einigung der europäischen Bürger*innen und daher insofern synonym mit der EU verwendet, als dass nicht nur der geografische Raum, sondern auch das politische Einigungsprojekt gemeint ist. 3 Die Bezeichnung verwendeten bereits zahlreiche Medien und Institutionen, darunter auch namhafte wie der Deutschlandfunk und die Stiftung Wissenschaft und Politik. 4 Vgl. Karen van den Berg / Cara M. Jordan / Philip Kleinmichel (Hg.): The Art of Direct Action: Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019. 5 Yates McKee: Strike Art: Contemporary Art and the Post-Occupy Condition. New York 2016; Peter Weibel (Hg.): Global activism: art and conflict in the 21st century. Karlsruhe 2015. 6 So wirken Aktionen wie die pro-europäische AntiBrexit Campaign von Wolfgang Tillmans ästhetisch etwas konsensual und politisch durchaus angreifbar, wird doch aus einer ganz bestimmten Position gesprochen und ein streitbares europäisches »Wir« suggeriert. 7 »Ideenwettbewerb: Tillmans und Koolhaas rufen zur Imagekampagne für EU auf«. In: Monopol, 26.03.2018, unter: https://www.monopol-magazin.de/ tillmans-und-koolhaas-rufen-zur-imagekampagnefuer-eu-auf (letzter Zugriff: 14.12.2020). 8 Vgl. https://europeandemocracylab.org (letzter Zugriff: 14.12.2020). 9 Vgl. https://europeanbalconyproject.eu (letzter Zugriff: 17.02.2020). 10 Zur Disposition standen bei der Aktion auch die Grenzen Europas. So beteiligte sich etwa eine Gruppe in Albanien – ein Staat, der nicht Mitglied der EU ist – an der Aktion (  Abb. 4). In dem Manifest wurde festgehalten, dass »Europäer ist, wer es sein will« und somit wurde die Idee des Neigungseuropäers abgerufen. 11 Vgl. die Broschüre des European Democracy Lab (Berlin 2020); sowie https://europeandemocracylab.org/de/ (letzter Zugriff: 17.02.2020). 12 Das European Democracy Lab fordert nicht nur einen Markt und eine Währung, sondern auch eine gemeinsame europäische Demokratie. Das bedeutet: die gleichen sozialen und politischen

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Schlussbetrachtung

Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas

»Die Schubkraft einmal geronnener Begriffe reicht durch Jahrhunderte.« — Reinhart Koselleck1 Wenn wir heute über das historische Bauhaus reden, so haben wir zumeist nicht die – ohnehin komplexe, windungsreiche und obendrein widersprüchliche – Realgeschichte dieser einzigartigen Institution vor Augen, sondern die mehr oder weniger elaborierten Konstrukte, die aus autobiografischen Narrativen wie aus fachwissenschaftlichen Rezeptionen im Laufe der Zeit daraus hervorgegangen sind. Hinzu kommt ein weiteres Genre der Bauhaus-Verständnisse: Idealbilder des Bauhauses, die Institutionen und Interessengruppen nach geografischer und zeitgeschichtlicher Situiertheit als ein Instrument der Selbstdefinition zu entwerfen. Das Bauhaus der Weimarer Republik erhält so immer wieder den Charme jugendlichen Drangs. 2019 hatte ich Gelegenheit, in sehr unterschiedlichen Ländern zu berichten, wie die Bauhaus-Universität Weimar das runde Jubiläum feiert. Überall begegnete mir eine freundliche Neugier, überall eine spezifische Erwartung. In Prag sollte das Bauhaus die Gültigkeit sozialdemokratischer Reformprogramme illustrieren, in Ankara helfen, wohnungspolitische wie stadtplanerische Instrumente zum Abbau großer Elendsviertel zu finden. In Jekaterinburg ging es darum zu bestätigen, dass auch der Städtebau des sowjetischen Konstruktivismus ein international bedeutendes kulturelles Erbe sei, mindestens genauso wichtig wie die Rekonstruktion von Kirchen. An Universitäten in Argentinien und Chile suchten sich die Professor*innen der entwerfenden Fächer der Zugehörigkeit zu der mythischen Gestaltungsschule und so auch zur europäischen Moderne zu versichern. In der Oficina del Historiador schließlich, der Institution, die die Erneuerung Alt-Havannas plant und steuert, ging es um die Frage, wieso der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts sich so sehr dem Neubau verschrieben und den historischen Bestand derart vernachlässigt habe. In deutschen Landen war das Bild ein anderes. Zwar haben Bundes- und Landesregierungen das Jubiläum zuweilen in eine Feier für das Made in Germany, in ein Jubelereignis für den Standort Deutschland zu verwandeln versucht, aber sie haben zugleich die seriöse museale Beschäftigung mit dem Bauhaus in den drei historischen Standorten Weimar, Dessau und Berlin kräftig gefördert. In den publizistischen und fachwissenschaftlichen Wortmeldungen herrschte eine sehr offene Kritik des Jubilars, eine Kritik, die sich der Themen unserer Zeit bediente. Das historische Bauhaus könne etwa hinsichtlich der Behandlung von Frauen, der Missachtung des gebauten Erbes und insgesamt des städtebaulichen Bestandes, der Bekämpfung anderer Richtungen der gestalterischen Reformbewegung sowie des unreflektierten Zugriffs auf Ressourcen heute kein Vorbild für uns sein. Das Jubiläum hat der sich seit Längerem entfaltenden kritischen Deutung des historischen Bauhauses – zumeist ohne antimodernistische Sentiments anzuschlagen – zu einer Verdichtung verholfen, die dem Jubilar alle Makellosigkeit genommen hat.

Realgeschichte, Deutungen und Idealbilder. Entfaltungen eines Begriffs

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Max Welch Guerra

Realgeschichte, Deutungen und Idealbilder. Entfaltungen eines Begriffs

Eine plurale Analyse für einen pluralen Gegenstand Wie in der Einführung darlegt, entstammt die Zusammensetzung dieses Bandes der Intention, eine möglichst breite Diskussion des historischen Bauhauses zu ermöglichen. Dafür haben vier recht unterschiedliche Herausgeber*innen Expertinnen und Experten zusammengebracht, die durch ihre Disziplinen und fachpolitische Positionen, durch Generationszugehörigkeit und geografische Herkunft vielleicht sonst nie aufeinandergetroffen wären. Der plurale Gegenstand historisches Bauhaus erfährt hier eine plurale Analyse. So wird die Wirkung politischer und ökonomischer, kultureller und fachdisziplinärer Determinanten der Gestaltungsinstitution durch das Pendant biografischer Miniaturen einzelner Protagonist*innen geprüft und ergänzt. Die historische Einzigartigkeit des historischen Bauhauses wird wieder sichtbar und etwa um die Frage der Geschlechtsverhältnisse weiter konturiert. Zugleich wird nachvollziehbar, wie diese Einzigartigkeit zustande kommen konnte, wie sehr sie von dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreiches und der revolutionären Stimmung 1918/19, von der zugespitzten Krise der bürgerlichen Gesellschaft und den schwärmerischen wie rationalistischen Zukunftsprogrammen geprägt war, die dem Schoß eben dieser bürgerlichen Gesellschaft entstammten. Scheinbar im Widerspruch zur Eigenschaft, historisch einzigartig zu sein, steht die Feststellung, das Bauhaus wirke, etwa was didaktische Prinzipien der Kunsterziehung angeht, im breiten Fluss einer schon im vorangegangenen Jahrhundert begonnenen Bewegung, die danach trachtete, die traditionelle, die Beaux-Arts-Ausbildung zu überwinden. Das historische Bauhaus hat in dem intuitiven Niemandsland der Feuilletons und vieler akademischer Erörterungen eine solch überragende Präsenz erlangt, dass es heute als alleiniger Vertreter von Innovationen erscheint, die im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit übernommen wurden. Andere Tendenzen und Zweige der Reformbewegung verschwinden schier im Schatten der prominenten Gestaltungsschule – das gilt beispielsweise auch für das Programm, die Bauproduktion mit dem damals neuen Stand industrieller Technik zu rationalisieren und massenhaft Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung zu bauen. Andere Züge der konzeptionellen Arbeit der Institution werden zumeist ignoriert, etwa die Übertragung der Prinzipien räumlicher Rationalisierung auf den Maßstab der Stadt und der Region im Sinne der Neuordnungsvorstellungen der CIAM. Die Nachwirkungen des historischen Bauhauses wurden überall durch die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse gebrochen. Die Vermarktung der renommiertesten Designprodukte der großen Meister und der wenigen Meisterinnen zeigt anhand von Produktlinien und Konsumwellen, wie unstet die Akzeptanz des Labels Bauhaus war. Als ebenso unstet erweist sich die programmorientierte Rezeption des historischen Bauhauses als Erbe. Die Konzentration auf den Standort Weimar gibt den Blick frei für die späte und diffizile Akzeptanz des Bauhauses in der DDR, die durch jahrzehntelange Mühen von Fachleuten erst errungen werden konnte, aber auch für die Auseinandersetzungen, die als Teil der Vereinigungspolitik die Weimarer Hochschule bundesrepublikanisierte. Die 1996 in Bauhaus-Universität Weimar umbenannte Hochschule steht

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Uns konnte es nicht darum gehen, das richtige Verständnis des historischen Bauhauses zu liefern; das richtige Verständnis des Bauhauses existiert nicht. Wir haben uns mit dieser Publikation vorgenommen, Lesarten zur Diskussion zu stellen, Anhaltspunkte und neue kritische Perspektiven anzubieten, um dem schillernden, immer wieder phosphoreszierenden Gegenstand historisches Bauhaus nicht ausgeliefert zu sein.

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Was bleibt? Zukunftspolitische Potenziale des Bauhauses Im September 2020 überraschte die europäische Kommission nicht nur die akademische Fachwelt mit der Ankündigung, die Umsetzung eines 750 Billionen Euro schweren Programms zur Reform der Wirtschaft und der Lebensweise der EU zur Eindämmung des Klimawandels für die Jahre 2021 bis 2027 werde durch die Gründung von zunächst fünf EU-Bauhäusern begleitet werden.2 Viele reagierten verblüfft, etwa diejenigen, die immer noch denken, das historische Bauhaus sei eine Architekturschule gewesen, die einen Stil kreiert habe. Andere kritisierten, dass der Name einer 100 Jahre alten Institution für die Bewerbung europäischer Politik in den Dienst genommen wird. Das Bauhaus habe zwar im Laufe der Zeit ein buntes Programm verfochten, aber eine besondere Aufmerksamkeit für ökologische Fragen sei nie dabei gewesen. Hat die Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, etwa den berühmten Namen als bloßen Werbetrick verwendet? Nein! Der Vorgang ist anspruchsvoller: Wir stehen vor der neuesten Schöpfung eines Idealbildes. Die Europäische Kommission setzt auf den Fundus an Assoziationen, den sie beim gebildeteren europäischen Publikum vorzufinden vermutet, wenn die Rede vom Bauhaus ist, als einen Resonanzraum, um ein ambitioniertes, aber glaubwürdiges Versprechen zu vermitteln. Beim näheren Blick erweist sich der Rekurs auf das historische Bauhaus durch die Europäische Kommission als durchdacht. Wie vor 100 Jahren geht es heute darum, auf dringende gesellschaftspolitische Fragen mit einer Reform der im weiten Sinne verstandenen Gestaltung der Lebenswelt zu antworten – einer Reform, die den neuen Stand von Wissenschaft und Technik einsetzt, um prototypische Lösungen zu finden, die verallgemeinert werden können. Wie vor 100 Jahren geht es darum, solche Reformen mit einem eingängigen, nicht willkürlich erscheinenden ästhetischen Programm zu verfolgen. Und wie vor 100 Jahren geht es nicht allein darum, einen Schub an neuen Lösungen loszutreten, sondern auch herauszubekommen, wie der Nachwuchs ausgebildet werden kann, der für die Verstetigung der Produktion einer in diesem Fall klimafreundlichen Lebenswelt sorgt. Schließlich erscheint aus heutiger Brüsseler Sicht eine weitere Eigenschaft des historischen Vorbildes als vorteilhaft: Das Bauhaus war trotz aller Krisen ein nicht zu übersehender Botschafter des Neuen, der professionell und eifrig auftretende Multiplikator eines multidimensionalen Reformprogramms. Solche Rückgriffe auf das Bauhaus, solche Versuche, an der Dignität teilzuhaben, die der Name der Institution im Laufe der Jahre trotz aller Anfeindungen gewonnen hat, wird es auch in den nächsten Jahrzehnten geben. Ebenso ist damit zu rechnen, dass die sichtbar werdenden Schwächen und Verlegenheiten des Bauhauses als Belege für fortschrittsfeindliche Diskurse herangezogen werden. So legitim beide Typen von Rekurs auf die 1933 durch die Nazi-Diktatur aufgelöste Institution sein mögen – viel spricht dafür, dass sich die universitäre Wissenschaft nicht leichtfertig für die eine oder die andere Seite einspannen lassen soll. Wissenschaft lebt von der kritischen Distanz gegenüber der Welt, sie muss sich dabei dem beständigen Angriff der Gegenwart auf

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nicht nur für die Bewahrung des Erbes, sondern auch für Rekonstruktion und Abriss, für Werbung mit dem berühmten Namen und für distanzierte Bewertung. Das historische Bauhaus bietet heute noch den Stoff für Debatten, die zwischen 1919 und 1933 niemand geführt hat. So im Falle des Begriffs der Utopie, eines Begriffs, der bei der Abwendung von dem Fortschrittsglauben der Moderne etwa seit 1970 und erst recht nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus vor allem in den Ländern des Wohlstands negativ konnotiert und immer wieder als ein ideologisches Instrument der Unterdrückung interpretiert worden ist.

Realgeschichte, Deutungen und Idealbilder. Entfaltungen eines Begriffs

Anmerkungen 1 Reinhart Koselleck zit. nach: Gut gekühlt und 2 Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der doch voll Sprengkraft. Ein Marbacher Kolloquium Union bei der Plenartagung des Europäischen zum Abschluss des ›historischen Wörterbuchs der Parlaments am 16. September 2020. https:// Philosophie‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ 05.09.2007, S. 39. SPEECH_20_1655 (letzter Zugriff 09.03.2021).

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die übrige Zeit, den Alexander Kluge schon 1985 beklagte, entziehen. In diesem Sinne haben wir die unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Stimmen sowie sich gegenseitig ergänzenden Positionen zum historischen Bauhaus, dessen Deutungs- und Wirkungsgeschichte in diesem Band zusammengeführt.

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Realgeschichte, Deutungen und Idealbilder. Entfaltungen eines Begriffs

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Kurzbiografien

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Sektion I

Kurzbiografien

Ines Weizman war von 2013 bis 2021 Direktorin des Bauhaus-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung an der Bauhaus-Universität Weimar, gemeinsam mit Max Welch Guerra. Sie ist zudem Direktorin des Centre for Documentary Architecture (CDA), das sie 2015 gründete. Sie wurde an der Bauhaus-Universität Weimar und an der Ecole d’Architecture de Belleville in Paris als Architektin ausgebildet und studierte an der Sorbonne, der University of Cambridge und an der Architectural Association in London, wo sie 2005 promovierte. 2016 konzipierte sie das XIII. Internationale Bauhaus-Kolloquium mit dem Titel Dust & Data, das 2019 in ihrem gleichnamigen Buch erschien. 2019 war sie Konferenzdirektorin des XIV. Internationalen Bauhaus-Kolloquiums und kuratierte mit dem CDA die Ausstellung The Matter of Data (Weimar, Tel Aviv, Berlin). Seit 2020 lehrt sie am Royal College of Art in London. Tracey Eve Winton ist Architekturhistorikerin und Professorin an der University of Waterloo (Kanada). Sie promovierte in Geschichte und Philosophie der Architektur am Magdalene College an der University of Cambridge. Zu ihren Forschungsinteressen gehören: die Symbolik von Schwellen und Toren, die Geschichte und Ikonografie des Museums, Ruinen, architektonische Beutestücke sowie die adaptive Wiederbenutzung und selbstgebaute Unterkünfte. Sie ist eine Rom-Expertin, lehrte über eine Dekade in dieser Stadt und publizierte umfassend zu Themen italienischer Architektur und Kunst. Zeynep Çelik Alexander ist Professorin für Architekturgeschichte am Department of Art History and Archaeology an der Columbia University, New York. Sie beschäftigt sich vor allem mit Architekturgeschichte und -theorie seit der Aufklärung. Nach ihrem Architekturstudium an der Technischen Universität in Istanbul und der Harvard Graduate School of Design promovierte sie im History, Theory, and Criticism Program am M.I.T. und verfasste zahlreiche Publikationen. Sie ist Mitglied des Aggregate Architectural History Collaborative und Herausgeberin der Zeitschrift Grey Room. Joyce Tsai ist seit 2021 Direktorin des Clyfford Still Museums in Denver. In ihrer kuratorischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sie sich mit Fragen der Technologie, Politik und Philosophie in der modernen und zeitgenössischen Kunst. Sie graduierte mit einem MA in Deutsch und Kunstgeschichte und promovierte am Humanities Center der Johns Hopkins University. Sie verfasste zahlreiche Publikationen. 2015 war sie Gastkuratorin der Ausstellung The Paintings of Moholy-Nagy: Shape of Things to Come im Santa Barbara Museum of Art und 2015 Herausgeberin des gleichnamigen Katalogs. 2018 war sie Co-Kuratorin von Dada Futures im University of Iowa Stanley Museum of Art. Elizabeth Otto ist Professorin für Moderne und Zeitgenössische Kunstgeschichte am Department of Global Gender and Sexuality Studies an der University at Buffalo, State University of New York. Sie verfasste zahlreiche Publikationen. 2019 war sie zusammen mit Patrick Rössler und einem Team des Erfurter Angermuseums Kuratorin und Koautorin des Katalogs für die Ausstellung 4 Bauhausmädels: Von der Lehre ins Leben, Gertrud Arndt, Marianne Brandt, Margarete Heymann, Margaretha Reichardt.

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Max Welch Guerra ist Direktor des Bauhaus-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung an der Bauhaus-Universität Weimar, gemeinsam mit Ines Weizman. Er promovierte 1991 und wurde 1999 habilitiert. Er forscht vor allem zur Geschichte der europäischen Planung im 20. Jahrhundert mit besonderer Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen politischen Herrschaftsformen und der im weiten Sinne verstandenen Gestaltung der Lebenswelt. Seit 2003 hat er den Lehrstuhl Raumplanung und Raumforschung an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar inne, wo er die Bachelor- und Master-Studiengänge im Bereich Urbanistik leitet. Lutz Raphael studierte Geschichte, Romanistik, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Münster und Paris (VIII), promovierte 1984 und wurde 1994 habilitiert. Er lehrt seit 1996 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, war Gastprofessor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris, am IGK Global Labour an der HU Berlin, am St Antony’s College in Oxford sowie Gerda-HenkelGastprofessor an der London School of Economics und dem DHI London. Von 2007 bis 2013 war er Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats, 2013 erhielt er den Förderpreis für deutsche Wissenschaftler*innen im Gottfried Wilhelm Leibniz-Programm der DFG. 2018 hielt er die Adorno-Vorlesungen am Institut für Sozialforschung der Universität in Frankfurt am Main. Karin Wilhelm studierte Kunstgeschichte, Soziologie und Philosophie in Heidelberg, München, Berlin und Marburg an der Lahn. Von 1991 bis 2001 war sie Professorin für Kunstgeschichte an der TU Graz, anschließend Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig. Von 1994 bis 1999 war sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Bauhaus Dessau, seit 1999 gehört sie zum Redaktionsbeirat der Zeitschrift Der Architekt. Von 2001 bis 2010 war sie Mitglied des Kuratoriums der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010. 2011 wurde sie zum Mitglied der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft ernannt. Christa Kamleithner ist Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin und forscht zur Wissens- und Kulturgeschichte des gebauten Raumes. Sie studierte Architektur und Philosophie in Wien und war von 2006 bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur der UdK Berlin. Von 2007 bis 2013 war sie Lehrbeauftragte am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin, im Sommersemester 2011 lehrte sie als Gastprofessorin an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg im Masterstudiengang Architektur und Stadtforschung. 2018 promovierte sie am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin mit einer Arbeit zur Genealogie der »funktionalen Stadt«. 2019/20 forschte sie als PostdocStipendiatin an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit Juli 2020 ist sie akademische Mitarbeiterin für Kunstgeschichte an der BTU Cottbus-Senftenberg.

Kurzbiografien

Sektion II

Eva von Engelberg-Dočkal studierte Kunstgeschichte in München und Bonn und promovierte mit einer Arbeit über Jacobus Johannes Pieter Oud. Sie lehrte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der Hochschule für Bildende Künste und der HafenCity Universität in Hamburg sowie der Bauhaus-Universität Weimar. 2014 bis 2017 war sie Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe »Medien und Mimesis« und 2016 bis 2021 im Kollegium des Graduiertenkollegs »Identität und Erbe«. 2017 hat sie sich an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer Arbeit zur Frage des Staatsstils in der dänischen Architektur um 1800 habilitiert. Von 2017 bis 2019 vertrat sie dort die Professur Theorie und Geschichte der modernen Architektur. Seit 2019 ist sie Professorin für Architekturgeschichte an der Universität Siegen. Donatella Cacciola ist Designhistorikerin und Übersetzerin. Von 1994 bis 1999 studierte sie Conservazione dei Beni Culturali (World Heritage Studies) in Parma mit Schwerpunkt Kunst- und Architekturgeschichte, im Anschluss Kunstgeschichte in Bonn; 2000 war sie Mitarbeiterin im Archiv von Dino Gavina. Von 2002 bis 2003 war sie Lehrbeauftragte der Universität Koblenz-Landau, 2003 bis 2005 wissenschaftliche Volontärin und im Anschluss wissenschaftliche Referentin im LVR Landesmuseum Bonn. 2008 promovierte sie an der TU Delft. Seit 2018 ist sie Lehrbeauftragte für Medien und Design an der Universität Bonn, seit 2003 Fachpublizistin für das Vitra Design Museum und die Zeitschriften Domus, Restauro und Weltkunst. Von 2006 bis 2013 war sie Lektorin in einem britischen Verlag; seit 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der SK-Stiftung Kultur Bonn. Christof Dipper ist Professor emeritus für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. 1972 promovierte er in Heidelberg (bei Reinhart Koselleck), 1980 habilitierte er sich in Trier (bei Wolfgang Schieder) und war Heisenberg-Stipendiat. Zwischen 1980 und 1987 übernahm Dipper Lehrstuhlvertretungen in Stuttgart, Freiburg und Düsseldorf. Von 1987 bis 1990 hatte er die Fiebiger-Professur für Neuere und Neueste sowie Wirtschaftsgeschichte an der Universität Trier inne, von 1990 bis 2008 war er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Hochschule (Universität) Darmstadt, 1998/99 Stipendiat am Historischen Kolleg München, 2000 Gastprofessor an der Hebrew University Jerusalem, 2008/09 Senior Fellow am FRIAS Kolleg Freiburg. Ein aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Konzeption und Geschichte der Moderne.

Kurzbiografien

Sektion III

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Harald Bodenschatz ist Sozialwissenschaftler und Stadtplaner. Er war von 1995 bis 2011 Professor für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin und ist jetzt assoziierter Professor des Center for Metropolitan Studies der TU Berlin und Mitglied des Bauhaus-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung an der Bauhaus-Universität Weimar. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Volkswirtschaftslehre an der LMU München und der FU Berlin, promovierte 1978 und wurde 1986 habilitiert. Seit 1972 lehrte er an der RWTH Aachen und an der TU Berlin. 2004 bis 2009 war er Sprecher des Schinkel-Zentrums für Architektur, Stadtforschung und Denkmalpflege der TU Berlin und 2009/10 Sprecher des Transatlantischen DFGGraduiertenkollegs (Berlin – New York) »Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert«.

Jannik Noeske studierte 2012 bis 2018 Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar und der Università Iuav di Venezia. Er ist Mitglied im Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung. Seine Schwerpunkte liegen auf der Planungsgeschichte der Europäischen Stadt des 20. Jahrhunderts. In seiner Masterarbeit untersuchte er den Städtebau von Universitäten in der Moderne. Noeske beschäftigte sich unter anderem mit dem Quartier der Moderne rund um das ehemalige Gauforum und das neue Bauhaus-Museum sowie mit der politischen Geschichte des Städtebaus der Bauhaus-Universität Weimar. Zurzeit arbeitet er in einem Forschungsprojekt zur Altstadtpolitik in der DDR.

Sektion IV Johannes Warda studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Amerikanistik und Architektur in Jena, Weimar und Berkeley. Als Historiker und Architekturwissenschaftler lehrte und forschte er unter anderem an der Bauhaus-Universität Weimar, der Akademie der bildenden Künste Wien und der TU Dresden. 2014 Promotion mit der Arbeit Veto des Materials. Denkmalpflege, Wiederverwendung von Architektur und modernes Umweltbewusstsein 2016) als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zuletzt lehrte er im Rahmen von Gastdozenturen und als Lehrbeauftragter im Bereich Architekturgeschichte und -theorie an der FH Erfurt. Publizistisch ist er tätig für Wohnungswirtschaft heute und Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden.

Kurzbiografien

Eric Garberson ist Associate Professor für Kunstgeschichte an der Virginia Commonwealth University in Richmond, Virginia. Er veröffentlichte Artikel zur universitären Ausbildung und zum Berufsweg von Ernst Heinrich Toelken, Gustav Heinrich Hotho, Franz Kugler und Ernst Guhl. In anderen Artikeln untersuchte er die Ausbildung und Lehre von Wilhelm Stier an der Bauakademie / Allgemeinen Bauschule. Diese Forschung setzt sich in einem Buch über Kugler und seinen Text Handbuch der Kunstgeschichte (1842) fort, das derzeit in Arbeit ist.

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Annika Eheim studierte von 2012 bis 2019 Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihr Masterstudium schloss sie mit einer wissenschaftlichen Arbeit zur SchirnKunsthalle in Frankfurt am Main ab. Sie arbeitet in Berlin an der Schnittstelle von Architektur, Baukulturvermittlung und Denkmalpflege, dabei sind ihre Interessensschwerpunkte das bauliche Erbe des 20. und 21. Jahrhunderts. Für TICKET B koordiniert sie Programme der Bundesstiftung Baukultur und ist in der Koordinierungsstelle des Gestaltungsbeirats der Berliner Senatsverwaltung tätig. Sie konzipiert Führungen für Architekturausstellungen in der Berlinischen Galerie und arbeitet freiberuflich im Bereich Architektur und Denkmalpflege.

Agnes Cameron studiert im Graduiertenprogramm des Media Lab am M.I.T. und ist als Forschungsassistentin Teil der Viral Communications Group. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen: Bildung lokaler und heterogener Formen von Netzwerken, dezentralisiertes Internet sowie Organisation und Infrastruktur vernetzter Gemeinschaften. Sie hat einen Abschluss als MEng in Informatik und Computertechnik der University of Cambridge, wo sie an Schleimpilzen, Robotik und selbstorganisierenden Systemen arbeitete. Ihr Beitrag wurde von Kalli Retzepi, Sam Ghantous und Gary Zhexi Zhang mitverfasst. Florian Bengert studierte Architektur am KIT und war Gaststudent an der HfG Karlsruhe. Seine Abschlussarbeit über das Smartphone als Architekturmaschine des 21. Jahrhunderts wurde 2017 mit dem Friedrich-Weinbrenner-Preis ausgezeichnet. Während seines Studiums war er für Buchner Bründler Architekten, Basel, sowie in der Berliner Redaktion der ARCH+ tätig. Seit 2019 hat er einen Lehrauftrag für Entwerfen und Darstellen an der HfT Stuttgart inne. Am KIT Karlsruhe, Professur Raum und Entwerfen, ist er seit 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. 2020 gründete er zusammen mit Lukas Bessai und Marcel Schaaf das Büro CURIOUS ABOUT in Karlsruhe. Seine Arbeiten wurden etwa im Rahmen der Ausstellung 40.000 hours (Architekturbiennale Venedig, 2012), der Future Architecture Platform (2017), im MAXXI (Rom 2017) und im Zuge der Biennale of Architecture and Urbanism (Seoul, 2017) ausgestellt.

Kurzbiografien

Daniel Grenz studierte Architektur an der Bartlett School of Architecture, London, und am KIT. Der Fokus seiner Arbeiten liegt auf Studien und spekulativen Entwürfen, die den Einfluss technologischer Veränderungen auf Architektur und Stadt untersuchen. 2016 koinitiierte er in Karlsruhe das Symposium »Simulation«, das sich mit den Veränderungen des Gestaltungsprozesses durch digitale Werkzeuge auseinandersetzte. Grenz absolvierte Praktika unter anderem bei Herzog & de Meuron, FAR – Frohn & Rojas, Hütten & Paläste und Agence TER. Er war studentischer Mitarbeiter unter anderem in den Fachgebieten Architekturtheorie sowie Internationaler Städtebau und Entwerfen. Hier ist auch das in diesem Band veröffentlichte Projekt als freie Entwurfsarbeit entstanden, betreut von Prof. Barbara Engel und Nikolas Rogge.

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Sebastian Löwe ist Professor für Designmanagement an der Mediadesign Hochschule für Design und Informatik Berlin. Er forscht, publiziert und lehrt interdisziplinär zu theoretischen und praktischen Fragen des Designs an den Schnittstellen zu Medientechnologien und -kulturen, Ästhetiktheorie sowie Management. Löwe war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft, Berlin, und hat dort zum Thema Critical Design Thinking geforscht. Vor seiner interdisziplinären Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Thema Kitsch studierte er Medienkunst an der Burg Giebichenstein in Halle und der Geijutsu Daigaku in Tokio. Zuletzt organisierte er die internationale Konferenz »Designing with Artificial Intelligence« an der Mediadesign Hochschule Berlin. 

265 Kurzbiografien

Marie Rosenkranz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Lehrbereich Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie von Prof. Andreas Reckwitz an der Humboldt Universität zu Berlin. Zuvor war sie Koordinatorin am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft und wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektmanagerin im European Democracy Lab und beim Grassroots-Thinktank Polis180. Im Zuge des European Democracy Lab beteiligte sie sich am European Balcony Project – einer europaweiten Kunstaktion, bei der 2018 insgesamt 150 Theater und Kulturinstitutionen zeitgleich die europäische Republik ausriefen. Marie Rosenkranz forscht zu Bildpolitik, Aktivismus und künstlerischem Protest. Sie studierte Kommunikation, Kulturmanagement und Europawissenschaften in Friedrichshafen, Maastricht und Granada.

Abb. 1: Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 2: Standbild von Anders als die Andern (Regie: Richard Oswald), 1919 Abb. 1: Harvard Art Museums  /  Busch-Reisinger Abb. 3: Werbung für Damenklub Violetta, Berlin 1929 Museum; Geschenk von Frau Walter Gropius Abb. 4: Mit freundlicher Genehmigung von Martini © Giorgio und Isa de Chirico Foundation / Artists & Ronchetti / Archives Florence Henri Rights Society (ARS), New York / Italian Society of Abb. 5: Aus: Photographie 1931. Paris 1931, S. 81 Authors and Publishers (SIAE), Rome Private Sammlung Foto: © President and Fellows of Harvard College © Archiv Peiffer Watenphul. Abb. 2: © 2021, Studio Fotografico Luca Carrà / Scala, Abb. 6: © Archiv Peiffer Watenphul [GALERIE Florenz BERINSON, BERLIN] Abb. 3: Metropolitan Museum of Art, New York; Abb. 7: Bauhaus-Archiv Berlin Nachlass Florene M. Schoenborn, 1995 © Archiv Peiffer Watenphul © The Metropolitan Museum of Art / Art Resource / Abb. 8: Bauhaus-Archiv Berlin Scala, Florenz © Galleria Martini & Ronchetti, mit freundlicher Abb. 4: Sammlung Carlo F. de Angeli Genehmigung von Archives Florence Henri © Bildarchiv Foto Marburg Abb. 9: Ré Soupault Archive, Heidelberg © Galleria Martini & Ronchetti, mit freundlicher Genehmigung von Archives Florence Henri Zeynep Çelik Alexander Abb. 10: Aus: Ausstellungskatalog Millon et Associes, 1919: Der Wendepunkt, an dem die Geschichte Paris 2008 keine Wendung mehr nahm © Galleria Martini & Ronchetti, mit freundlicher Genehmigung von Archives Florence Henri Abb. 1: Aus: J. Liberty Tadd: New Methods in Educa- Abb. 11: Privatsammlung tion: Art, Real Manual Training, Nature Study. Springfield, MA / New York 1899, S. 73. Nachdruck in: Rudolf Schulze: Aus der Werkstatt der experimentellen Psycho- Ines Weizman logie und Pädagogik. Leipzig 1909, S. 85 Dokumentarische Architektur: Die Spanische Abb. 2: Aus: Wilhelm von Debschitz: »Eine Metho- Grippe und die Bauhaus-Moderne beiderseits de des Kunstunterrichts«. In: Dekorative Kunst, Nr. 7, der Sykes-Picot-Linie 1904, S. 213 Abb. 3: Bauhaus-Archiv Berlin, Inv. nr.: 991 Abb. 1: © und Foto: Ines Weizman Abb. 4: Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 2: © Hebrew University of Jerusalem, Aerial Foto: Bauhaus-Archiv Berlin, Inv. 10855/133, 134 Photography Archive, Department of Geography (links), und Inv. 603 (rechts) Abb. 3: Foto: Barak Brinker Abb. 5: Aus: Wassily Kandinsky Papers (850910) und © Centre for Documentary Architecture Bauhaus Student Work, 1919–1933 (850514), Getty Re- Abb. 4: Foto: Barak Brinker search Institute, Los Angeles) © Centre for Documentary Architecture Abb. 6: Foto: Hans G. Conrad Abb. 5: Foto: Amelie Wegner Abb. 7: Aus: Walter Gropius: Idee und Aufbau des © Centre for Documentary Architecture Staatlichen Bauhauses Weimar. München 1923, S. 46 Abb. 6: Foto: Ortrun Bargholz Abb. 8: Aus: László Moholy-Nagy: Vom Material zur © Centre for Documentary Architecture Architektur (Bauhausbücher, Band 14). München 1929, Abb. 7: Foto: Ortrun Bargholz S. 10 © Centre for Documentary Architecture Joyce Tsai Epochale Spur: László Moholy-Nagy, Zeichnung und die Aufgabe des Künstlers

Christa Kamleithner Dessau, das Bauhaus und die Ästhetik der Rationalisierung

Abb. 1: © 2021 Estate of László Moholy-Nagy Abb. 2: Aus: The New Vision and Abstract of an Artist. New York 1947, S. 68 © 2021 Estate of László Moholy-Nagy Abb. 3: © 2021 Estate of László Moholy-Nagy Abb. 4: © 2021 Estate of László Moholy-Nagy Abb. 5: © 2021 Estate of László Moholy-Nagy Abb. 6: Abbildung aus Artillerieunterricht. Wien 1916, S. 105

Abb. 1: Stiftung Bauhaus Dessau (I 18084 L) / Image by Google Abb. 2: mit freundlicher Genehmigung des Technikmuseums »Hugo Junkers« Dessau Abb. 3: Collection Het Nieuwe Instituut / EEST 4.361/362 Abb. 4: Aus: Landesplanung im engeren mitteldeutschen Industriebezirk Merseburg. Merseburg 1932, Blatt 21 Abb. 5: Aus: Landesplanung im engeren mitteldeutschen Industriebezirk Merseburg. Merseburg 1932, Blatt 26 Abb. 6: Aus: Martin Pfannschmidt: »Landeskunde und Landesplanung«. In: Die Baupolitik, Nr. 2, 1929, S. 51–55, hier: S. 54

Abbildungen

Tracey Eve Winton Giorgio de Chiricos metaphysische Stadt: Mystische Fragen zu Raum und Zeit

Elizabeth Otto Queeres Bauhaus

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Abbildungen

Abb. 1: Archiv Dino Gavina, Bologna Fotograf unbekannt Abb. 2: Courtesy Fa. Tecta, Lauenförde Grafikdesign: Walter Kinzling; Arrangement: Peter Maly; Foto: Winfried Nörenberg Abb. 3: Umschlaggestaltung des Buches Moderne Klassiker. Möbel, die Geschichte machen von Klaus-Jürgen Sembach in der italienischen Ausgabe (Rozzano 1985); Coverdesign: Atelier Schöner Wohnen, Hamburg Abb. 4: Switch Modern in Atlanta, Georgia, 2019 Quelle: Dedalo1972, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons; https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/4/4a/Marianne_brandt_ ashtray_1924_and_shallow_basket_1928_produced_ under_license_by_alessi_italy.jpg (letzter Zugriff: 10. 01. 2021)

Annika Eheim & Jannik Noeske Bauhaus im Hörsaal, Bauhaus im Museum? Abb. 1: Archiv der Moderne, Bauhaus-Universität Weimar (AdM), Archiv des Lehrstuhls Entwerfen und Architekturtheorie, nicht katalogisiert, Mikrofiche rückvergrößert Entwurfsverfassende: Petra Kertscher und Torsten Lieberenz

Daniel Grenz Welt ohne Arbeit. Eine Utopie zwischen Stadtplanung und Science-Fiction Abb. 1–5: © Daniel Grenz

Florian Bengert A Smarthome is Not a Smart Home. Über das zukünftige Zuhause Abb. 1: © Florian Bengert

Marie Rosenkranz Das ikonografische Defizit beheben? Kunstaktivismus zur Zukunft Europas Abb. 1: Image Courtesy OMA Abb. 2: Photography by Hans Werlemann, Courtesy OMA Abb. 3: © European Democracy Lab e.V. Abb. 4: © European Democracy Lab e.V. Abb. 5­–7: Courtesy Alfredo Jaar, New York

Abbildungen

Donatella Cacciola Zeitgenössisch? Historisch? Modern? BauhausEntwürfe und ihre Reeditionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

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Abb. 7: Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 2: AdM, Archiv des Lehrstuhls Entwerfen und Abb. 8: Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Architekturtheorie, nicht katalogisiert, Mikrofiche Moderne rückvergrößert Abb. 9: Collection Het Nieuwe Instituut / EEST 4.361/362 Entwurfsverfassende: Petra Kertscher und Torsten Abb. 10: Aus: Ludwig Hilberseimer: The New City. Lieberenz Principles of Planning. Chicago 1944, S. 134 Abb. 3: AdM, Archiv des Lehrstuhls Entwerfen und Architekturtheorie, nicht katalogisiert, Mikrofiche Abb. 11: gta Archiv / ETH Zürich, CIAM rückvergrößert Entwurfsverfassende: Petra Kertscher und Torsten Lieberenz Harald Bodenschatz Abb. 4: AdM, BBA 856 Das Bauhaus von Walter Gropius Abb. 5: Quelle: https://flic.kr/p/7MUtNH (letzter Zuund der Städtebau griff: 15.01.2020) Abb. 1: Aus: Wettbewerb Groß-Berlin 1910. Die preis- Lizenz: CC BY-SA 2.0 gekrönten Entwürfe mit Erläuterungsberichten. Berlin Abb. 6: Foto: Hannes Heitmüller, 2019 1911, Teil I, Tafel 5 Abb. 7: Foto: Hannes Heitmüller, 2019 Abb. 2: Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Abb. 8: Foto: Hannes Heitmüller, 2019 Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium Abb. 9: Foto: Tobias Adam / Weimar, 2009 (C 1480, Bl. 124v) Abb. 3: Aus: Klaus-Jürgen Winkler: Die Architektur am Bauhaus in Weimar. Berlin / München 1993, S. 80 Sebastian Löwe Abb. 4: Aus:Klaus-Jürgen Winkler: Die Architektur am Dystopische Weltentwürfe. Zu einem kulturellen Bauhaus in Weimar. Berlin / München 1993, S. 157 Wahrnehmungsmuster und seiner Verwendung Abb. 5: Archiv der Moderne (BBA/I/11) im Speculative Design und Unternehmenskontext Abb. 6: Stiftung Bauhaus Dessau (I 1617 G) © (Lotte Collein) Ursula Kirsten-Collein Abb. 1: Victoria and Albert Museum, Furniture and WoodAbb. 7: Stiftung Bauhaus Dessau (I 7713 F) Abb. 8: Stiftung Bauhaus Dessau (I 43384) work Collection (Inventarnummer: W.674:1–4-2001) Mit freundlicher Genehmigung der Künstler*innen © (Emil Theiß) Andreas Elze Abb. 9: Stadtarchiv Weimar (Nr. 306/52) und des Victoria and Albert Museum © Dunne und Raby, 1995

Impressum

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This publication is an outcome of urbanHIST, a project that has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Skłodowska-Curie grant agreement No 721933.

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Lektorat: Miriam Seifert-Waibel Gestaltung und Satz: Felix Holler, Stoffers GraphikDesign, Leipzig Lithografie: Stefan Rolle, Stoffers Graphik-Design Gedruckt in der Europäischen Union Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

jovis Verlag GmbH Lützowstraße 33 10785 Berlin www.jovis.de jovis-Bücher sind weltweit im ausgewählten Buchhandel erhältlich. Informationen zu unserem internationalen Vertrieb erhalten Sie von Ihrem Buchhändler oder unter www.jovis.de. ISBN 978-3-86859-693-9 (Softcover) ISBN 978-3-86859-970-1 (PDF)

100+ präsentiert neue Zugänge zur Geschichte und Bedeutung des Bauhauses: Das Jahr 1919 wird zum Ausgangspunkt einer mikrohistorischen Betrachtung der globalen Verflechtungen der Institution sowie bisher verdrängter Stimmen insbesondere queerer Protagonist*innen. Die Avantgarde wird in ihrem Widerspruch zwischen Fortschrittsglauben und dem Anspruch auf eine überzeitliche Gültigkeit beleuchtet. Ein Blick auf die radikalen Manifeste und Positionen der Bauhäusler*innen zur Gestaltung der Lebenswelt eröffnet neue Perspektiven, etwa auf deren Verhältnis zu staatlicher Intervention und der Wirkmacht privatwirtschaftlicher Interessen. Auf Basis dieser Überlegungen werden die soziotechnologischen Utopien des Bauhauses in all ihrer Ambivalenz auf ihre Nachhaltigkeit für die architektonischen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen des 21. Jahrhundert überprüft.